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Full text of "Beiträge zur Religionswissenschaft hrsg. von der Religionswissenschaftlichen Gesellschaft im Stockholm 1.1913/14"

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BEITRÄGE ZUR = 
RELIGIONSWISSENSCHAFT. 


HERAUSGEGEBEN VON DER 


RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHEN 
GESELLSCHAFT IN STOCKHOLM 


I. JAHRGANG (1913/14) 


— 0 4+-— 


ALBERT BONNIER J. C. HINRICHS’SCHE 
STOCKHOLM BUCHHANDLUNG 
LEIPZIG 


STOCKHOLM 


DRUCK VON ALBERT BONNIER 1914 


Inhalt des |. Jahrgangs. 


Seite. 
Mitteilungen über die religionswissenschaftliche Gesell. 
schaft in Stockholm von S. A. Fries ........................ II—VII 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 
von Nathan Söderblom. 


Einleitung uses anssseneeene 1 

I. Vorbereitung zur natürlichen Theologie ........................... 2 

II. Die formulierte Lehre _................cesesesssessssessseneneeeeseennn 25 

HI. >Alle Religion ist natürliche Religion» ........................... 33 

IV. Es giebt keine natürliche Religion ...................ec scene. 42 
V. An Stelle der natürlichen Theologie tritt die allgemeine 

Religionsgeschichte ..................sesssesesssesseneneneneeene nn 68 

VI. Allgemeine und besondere Religionsgeschichte .................. 80 

Register ..................c0eeeee BREI NUR Re Ce re 111 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam. 
Vortrag, gehalten in der Festversammlung am Fehr-Rydberg-Tage, 
21. September 1913, von Ignaz Goldziher, Budapest ............ 115 


Jahvetempel ausserhalb Palästinas. Vortrag, gehalten auf 
dem religionshistorischen Kongresse in Leiden 1912 von 8. A. 
Fries; Stockholm 3... E E A 143 

„Ich bin das Licht der Welt.‘ Eine Studie zur Formelsprache 
des Johannesevangeliums von Gillis P:son Wetter, Uppsala ... 166 


Literatur: 
E. Reuterskiöld, De nordiska lapparnas religion. Von E. Reuter- 
BRIOIG ers 202 
J. Stadling, Shamanismen ı Norra Asien. Von Torgny Seger- 
BOO OG en erkenne 209 


Erling Eidem, Pauli bildvärld. Bidrag till belysande af apustelns 
omgifning, uttryckssätt och skaplynne. Von Erling Eidem. 212 


Chronik. 


I. Sitzungen der Gesellschaft ..................uzusseseseeeenesneeenennn 223 
II. Religionswissenschaftliche und religiöse Verhältnisse in 
Schweden 1913 ae su 227 


BEITRÄGE ZUR RELIGIONSWISSENSCHAFT 
HERAUSGEGEBEN VON DER 
RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT 
IN STOCKHOLM 


1. JAHRGANG (1913/14) HEFT 1 


NATÜRLICHE THEOLOGIE 


UND 


ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 


NATHAN SÖDERBLOM 


vs 
PROFESSOR DER RELIGIONSG ESCHICHTE 


ALBERT BONNIER J. C. HEINRICHS SCHE 
STOCKHOLM BUCHHANDLUNG 
LEIPZIG 


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Copyright. Albert Bonnier 1913. 


STOCKHOLM 


DRUCK VON ALBERT BONNIER 1918 


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Die religionswissenschaftliche 
Gesellschaft in Stockholm. 


Vorstand. 


D. Fries, S. A., Präses der Gesellschaft, Konsistorialrat und 
Hauptpastor der Oscars-Gemeinde in Stockholm. 

Dr. Wantstrom, Lypia, Studiendirektor des Ählin-Gymna- 
siums in Stockholm. 

Dr. Bratt, A., Schriftführer und Kassierer der Gesellschaft, 
Hauptlehrer der Geschichte in Anna Sandströms Lehrer- 
innen-Seminar in Stockholm. 


Wissenschaftlicher Ausschuss. 


D. Fries, S. A., Erster Vorsitzender und verantwortlicher 
Herausgeber der „Beiträge zur Religionswissenschaft“. 

Dr. Sarın, B. Zweiter Vorsitzender, Reichsantiquar, Stock- 
holm. 

D. AHLBERG, A., Lektor der Theologie am Königl. Höheren 
Lehrerinnen-Seminar in Stockholm. 

D. Göransson, N. J., Professor der Dogmatik und Ethik 
in Uppsala. 

Dr. Kreın, G., Professor, Oberrabbiner in Stockholm. 

Dr. Lıinpserg, O. E., Professor der orientalischen Sprachen 
in Gothenburg. 

D. PFANNENSTILL, G. M., Domprobst und Professor der 
Dogmatik und Ethik in Lund. 


IV Die religionswissenschaftliche Gesellschaft in Stockholm 


D. SEGERSTEDT, T., Professor der allgemeinen Religions- 
geschichte an der Hochschule in Stockholm. 

D. SÖDERBLOM, N., Professor der Theologischen Prenotio- 
nen und der theologischen Encyklopädie in Uppsala 
und der Religionsgeschichte in Leipzig. 

Dr. WAHLSTRÖM, Lybıa, siehe oben. 

Dr. Wipe, S., Professor der klassischen Altertumskunde 
in Uppsala. 

Schriftführer: Dr. A. BRATT, siehe oben. 


Ehrenmitglieder der Gesellschaft. 


D. Harnack, A., Excellenz, Geheimrat, Berlin. 

D. Leymann, E., Professor, Lund. 

D. SöpERBLoM, N., Professor, Leipzig und Uppsala. 
Dr. GoLDZIHER, I., Professor, Budapest. 

Dr. MonTEuius, O., Reichsantiqvar a. D., Stockholm. 


Ein Verzeichnis der etwa 160 Mitglieder der Gesellschaft 
wird in einem späteren Hefte folgen. 


Die religionswissenschaftliche Gesell- 
schaft in Stockholm und ihre wissen- 
schaftliche Publikationen. 


Die religionswissenschaftliche Gesellschaft in Stockholm 
wurde am 30. März 1906 gegründet. Die Gesellschaft leitet 
indessen indirekt ihren Ursprung von einem im Jahre 1892 
in Stockholm gebildeten theologischen Leseverein her, als 
dessen interessierteste Teilnehmer hier erwähnt sein mögen: 
der Oberrabbiner Professor Dr. G. Klein, der Pfarrer der 
deutschen Gemeinde Dr. G. Sterzel und der später im Jahre 
1908 in Weimar verstorbene Julius von Eckardt, deutscher 
Generalkonsul in Stockholm 1892 — 1897. 

Nach der Uebersiedelung des letzgenannten nach Zürich 
1897 wurden die Zusammenkünfte des Lesevereins immer 
spärlicher und man stand beinahe vor der Auflösung des- 
selben. 

Indessen haben zwei wichtige Umstände das Interesse 
an der Religionswissenschaft in diesem kleinen Kreise 
wieder wach gerufen. Zunächst der glückliche Ausgang 
des ersten religionswissenschaftlichen Kongresses in Stock- 
holm 1897 (später fortgeführt durch die religionshistorischen 
Kongresse in Paris, Basel, Oxford und Leiden). Nicht minder 
war es aber die edle Persönlichkeit des im Jahre 1895 ver- 
storbenen Pastor Primarius in Stockholm D. Fredrik Fehrs, 
dessen theologisches Lebenswerk man nach seinem Tode 
zu verstehen und zu schätzen anfing. Nach solchen An- 


VI Die religionswissenschaftliche Gesellschaft in Stockholm 


regungen sammelte man sich aufs neue mit der Absicht 
etwas lebenskräftiges auf dem Gebiet der Religionswissen- 
schaft zu schaffen. 

Nach mancherlei preliminären Versuchen und zunächst 
in der Absicht sich an eine’ältere Gesellschaft in Stockholm 
„Pro fide et christianismo“, gegründet im Jahre 1771,' an- 
zuschliessen, ein Versuch, der doch nicht das gewünschte 
Resultat halte, beschlossen indessen die für die Sache Interes- 
sierten eine gänzlich neue Gesellschaft zu bilden. So 
kam die religionswissenschaftliche Gesellschaft in Stockholm 
zu Stande. Nach den am 23. Okt. 1906 angenommenen 
Statuten hat sie „den Zweck in der Weise wie die Gesell- 
schaft ihren Statuten gemäss zu bestimmen hat, die reli- 
gionswissenschaftliche Forschung in Schweden zu fördern.“ 
Die Gesellschaft hat einen Vorstand und einen wissen- 
schaftlichen Ausschuss. Ersterer leitet die allgemeine 
Tätigkeit derselben und speziell ihre Ökonomie. Letztere 
hat hauptsächlich die wissenschaftlichen Publikationen der- 
selben zu leiten. 

Diese Publikation „Beiträge zur Religionswissenschaft“ 
ist ermöglicht worden teils durch das Entgegenkommen 
eines schwedischen und eines deutschen Verlegers, teils 
durch eine grössere Donation, von welcher Verfasser- und 
Uebersetzungshonorare bestritten werden, teils durch private 
Schenkungen. Der Zweck derselben ist nicht mit bereits 
vorhandenen Zeitschriften ähnlicher Art zu konkurrieren, 
sondern sie ist vielmehr als eine Jahrespublikation der Gesell- 
schaft anzusehen, die entweder in einem Bande oder in zwei 
oder drei Heften von wechselndem Umfang ohne Post- 


1 Zu der schwedischen Gesellschaft kann die holländische Gesellschaft 
„Haagsch Genootschap tot verdediging van de christelijke Godsdienst“ (1785) als 
Tochtergesellschaft gerechnet werden. Nunmehr ist jedoch die Art der Titig- 
keit der beiden Gesellschaften eine ganz verschiedene. 


und ihre wissenschaftliche Publikationen VII 


abonnement erscheinen soll. Es ist nämlich für die schwe- 
dische Religionswissenschaft ein immer dringenderes Be- 
dürfnis geworden zur internationalen Religionswissenschaft 
ihre Beiträge in so zu sagen gesammelter Form zu liefern. 
Dieser Weg schien der Gesellschaft sowohl aus wissenschaft- 
lichem als auch aus patriotischem Gesichtspunkt, als der 
beste. Demnach werden nur schwedische Verfasser an dieser 
Publikation mitwirken. Ausnahmen hiervon werden indessen 
gemacht für ausländische Ehrenmitglieder und für solche 
Vorträge in der Gesellschaft, die auf ihren Wunsch von aus- 
ländischen Wissenschaftsmännern gehalten werden, wie auch 
für eventuelle Repliken. 

In die Publikation werden neben den rein wissenschaft- 
lichen Abhandlungen, die den Hauptinhalt bilden, kurze 
zusammenfassende Referate von den bedeutendsten religions- 
wissenschaftlichen Publikationen in schwedischer Sprache, 
wie auch kürzere Notizen über die eigene Tätigkeit der 
Gesellschaft und die wichtigsten Daten und Ereignisse auf 
dem Gebiet der Religionsentwicklung hier zu Lande auf- 
genommen werden. Die letztere Aufgabe hat sich als 
notwendig erwiesen, da die Kenntnis der schwedischen 
Leistungen besonders auf dem religionswissenschaftlichen 
Gebiete wenig bekannt zu sein scheint. 

Im grossen Ganzen kann man sagen, dass sich die 
Gesellschaft an die bedeutende, theologische, religionshisto- 
rische und religionsphilosophische Tätigkeit anschliesst, die 
durch die Namen Fredrik Fehr und Viktor Rydberg reprä- 
sentiert wird. Ersterer war, wie schon oben gesagt ist, Pastor 
Primarius in Stockholm, letzterer einer der hervorragendsten 
Dichter, Religions- und Kulturforscher des Landes in 
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Diese in 
Schweden hochgeschätzten Männer starben beide im Jahre 
1895. Am Todestage Rydbergs, dem 21. Sept., ist seit dem 


VIII Die religionswissenschaftliche Gesellschaft in Stockholm 


Jahre 1901 ein öffentlicher Vortrag in Stockholm über ein 
religionswissenschaftliches Thema von in- und ausländischen 
Wissenschaftsmännern gehalten worden. Die Religions- 
wissenschaftliche Gesellschaft hat seit 1906 diese Aufgabe 
übernommen und sieht den Tag als ihren besonderen 
Gedenktag an. 

Stockholm in Oktober 1913. 


Samuel Fries. 


NATURLICHE THEOLOGIE 


ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 


NATHAN SÖDERBLOM 


Professor der Religionsgeschichte. 


Die sogenannte natürliche Theologie hat im Christen- 
tum vier Perioden erlebt. In der ersten, vorbereitenden 
Periode gewann keine fest formulierte Anschauung von 
der natürlichen Religion allgemeine Anerkennung. Das 
geschah erst in der mittelalterlichen Scholastik, welche 
die kirchliche, im grossen und ganzen bis zur Aufklärung 
herrschende Lehre von der natürlichen als der Vorstufe zur 
geoffenbarten Religion zeitigte. „Alle wahre Religion ist 
natürliche Religion oder Vernunftreligion‘“ — durch dieses 
Losungswort ist die dritte, von den radikalen Aristotelikern 
des Mittelalters vorbereitete Periode bezeichnet, die mit der 
Aufklärung zusammenfällt und die durch Schleiermacher 
von der gerade entgegensetzten Ansicht abgelöst wurde: es 
gibt keine natürliche Religion, nur positive Religionen. So 
hat der alte Satz von der natürlichen Religion während 
der zwei letzten Jahrhunderte gewaltsame Veränderungen 
erfahren. Das achtzehnte Jahrhundert wollte in ihm die 
gesammte Gotteserkenntnis unterbringen, das neunzehnte 
hat ihn getilgt. Wird nun der seit einem Jahrhundert in 
der Dogmatik leer gewordene Platz der natürlichen Religion 
auch weiterhin leer bleiben? Oder stehen wir schon am 
Ende der vierten Periode in der Geschichte der sogenannten 
natürlichen Theologie? Diese rundweg verneinte oder 
auch vielfach unklar umgangene, aber unentrinnbare und 
durch die Forschung eines Jahrhunderts in eine neue 
Lage gebrachte Frage entbehrt nicht prinzipieller Bedeutung 
für jeden, der sich mit dem Studium der Religion oder 


1. — Beiträge zur Rel. Wiss. 1, L 


2 Nathan Söderblom 


des Christentums beschäftigt. Wir werden versuchen, 
heute eine Antwort darauf zu geben und sie zu begründen. 
Aber wir müssen erst ziemlich weit zurückgehen. 


I. 
Vorbereitung zur naturlichen Theologie. 


Der Unterschied zwischen natürlicher Religion, d. h. 
einer der menschlichen Vernunft erreichbaren und daher 
allgemeinen Gotteserkenntnis, und geoffenbarter Religion 
wurde vom Judentum wahrscheinlich schon in der vor- 
christlichen Zeit gemacht. Unter den wechselnden Bedeu- 
tungen des talmudischen Ausdruckes „derek’eres“, in Bibel- 
Hebräisch ,,derek ha’ares“, das freilich im Alten Testament 
in dieser Bedeutung nicht vorkommt, dürfte wohl diejenige 
die bedeutsamste sein, die G. Klein mit folgenden Worten 
widergibt: „die mittels der Vernunft erkannte und vom 
Gewissen eines jeden Menschen bezeugte Norm der 


* Sittlichkeit“.! Dieser „irdische Weg“ wurde als Vorbereitung 


zum „Wege Gottes“, derek Jahve betrachtet. 

Ähnliche Gedanken finden sich bekanntlich im Neuen 
Testament, und zwar in Beziehung zu zwei der vornehm- 
sten Kulturzentren der Zeit, nämlich im Römerbrief und, 
ebenfalls im Munde des Paulus, in der Rede der Apostel- 
geschichte auf dem Areopag. Das Heidentum sollte nach 
Paulus, Römer 1, 19—23, eigentlich eine höhere Gottes- 
erkenntnis besitzen als es tatsächlich besitzt. Denn Gottes 
unsichtbares Wesen ist von der Schöpfung an jedem sicht- 
bar gewesen, der es nur wahrnehmen wollte. Aber man 
erkannte Gott nicht, man dankte ihm nicht wie Gott. So 


! Der älteste christliche Katechismus und die jüdische Propaganda- 
Literatur. Berlin 1909. S. 53. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 3 


trübte sich der Blick. Die Herrlichkeit Gottes wurde in 
Götzenbilder von Tier- und Menschengestalt verwandelt. Das 
Heidenvolk hat eine schwere Schuld auf sich geladen. 
Sein Zustand ist für Paulus kein Schicksal, sondern ein 
unentschuldbarer Verfall. 

„Denn was von Gott zu erkennen ist, das ist unter 
ihnen offenbar, weil Gott selbst es ihnen offenbart hat: seine 
unsichtbaren Eigenschaften und seine ewige Macht und 
Göttllichkeit kann man ja doch seit der Weltschöpfung 
an dem Geschaffenen durch die Vernunft erblicken, sodass 
sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie Gott 
kannten, haben sie ihn nicht als Gott geehrt oder ihm 
Dank gesagt, sondern sind in ihren Gedanken auf Nichtig- 
keit verfallen und ihr unverständiges Herz ist finster ge- 
worden. Während sie sich einbildeten weise zu sein, wurden 
sie zu Toren und vertauschten die Herrlichkeit des un- 
vergänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt des ver- 
gänglichen Menschen oder eines Vogels, Vierfüsslers und 
Gewürms.“ 

Wenn wir genau lesen, so sehen wir, dass Paulus nicht 
von einem vollendeten Vollkommenheitszustand ausgeht, 
sondern dass er von versäumten Möglichkeiten und von 
fressender Verderbnis spricht. Das goldene Zeitalter im 
Anfang der Geschichte ist ein hellenischer Gedanke, zuerst 
bei Hesiodus bezeugt, nicht ein biblischer Gedanke. Jedoch 
man hat die Bibel durch die griechische Brille gelesen. 
Von einer „Wiederkehr der Urzeit‘‘ weiss die Bibel eigent- 
lich nichts. Nur brauchen wir eine gewisse Anstrengung, 
um uns von dem, besonders durch den hellenistischen 
Einfluss nahegelegten, als selbstverständlich betrachteten 
Gedanken der ursprünglichen Vollkommenheit beim Lesen 
der biblischen Schriften loszumachen. Die Bibel spricht 
von einem reinen Anfang, der durch die Sünde, näher ge- 


4 Nathan Söderblom 


sagt: durch den Ungehorsam gegen ein göttliches Tabu- 
Verbot vernichtet wurde. Paulus’ älterer Zeitgenosse und 
Stammesverwandter, der vom Hellenismus stark beeinflusste 
Denker Philo in Alexandria, stellte die Vollkommenheit an 
den Anfang. Ihm steht „der himmlische Mensch“ im Be- 
ginn der Geschichte. Erst nach dem ganz vom göttlichen 
Logos herrührenden himmlischen Menschen wurde dann 
„der irdische Mensch“ hergestellt. Paulus dagegen lehrt, 
dass der erste Mensch von der Erde und irdisch war, der 
zweite Mensch aber von Himmel. ‚Nicht das Geistliche 
kommt zuerst, sondern erst das Seelische und hernach das 
Geistliche.“ Somit dürfen wir nicht ohne weiteres Pauli 
Worte in das geläufige Schema Vollkommenheit — Ver- 
derbnis hineinzwängen, sondern der Eigenart seiner jüdisch- 
christlichen Auffassung gerecht werden. In dieser Auf- 
fassung aber gehört unverkennbar auch die Lehre von 
einem selbstverschuldeten Verfalle in der ausserbiblischen 
Religionsgeschichte. 

Neben dieser Betrachtung findet sich im Römerbrief 
die andere, die darauf das Gewicht legt, dass die Heiden 
noch immer eine wirkliche Wahrheitserkenntnis besitzen. 
Unabhängig von der besonderen Offenbarung an Israel, 
d. h. ohne Gesetz, haben sie doch ein Gesetz. Trotz Ver- 
derbnis und Unkenntnis sieht Paulus im Heidentum ein 
natürliches Vermögen, das Gute und Rechte zu erkennen, 
Römer 2,14. Sie sind sich selbst Gesetz. Des Gesetzes 
Werk ist ihnen ins Herz geschrieben. Diese Stelle im 
Römerbrief betrifft die Moral. Von der Erkenntnis Gottes 
werden in der Apostelgeschichte analoge Ansichten dem 
Paulus zugeschrieben. Wir vernehmen dort aus Pauli Mund 
Ausserungen, die selbst dem Gottesdienste der Heiden einen 
gewissen Wahrheitsgehalt zusprechen. Wir denken da gleich 
an die Scene auf dem Areopag, Apostelgeschichte 17, wo 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte - 5 


der Gottesdienst der Athener ohne Umschweif als ein un- 
bewusstes Hinstreben zu dem wahren Gott ausgelegt wird. 
Paulus fand bei den Athenern viel Frömmigkeit, und er 
entlehnt einem griechischen Verfasser eine Aussage über 
Gottes Verhältnis zu den Menschen. Er macht das Wort 
eines Aratus oder Kleanthes oder irgend eines anderen: 
„Wir sind vom Geschlechte Gottes“ zu dem seinigen. Zum 
Ausgangspunkt seiner Verkündigung nimmt er eine Inschrift 
an einen unbekannten Gott, oder vielleicht, wenn Norden 
mit seiner scharfsinnigen Deutung Recht behält: an den 
unergründlichen Gott. | 

Vermutlich ist Paulus auch in Lystra von der konkreten 
Beschaffenheit des Gottesdienstes an diesem Orte ausgegangen. 
Wir erinnern uns der Scene Ap. 14, 17. Dass das Volk 
Paulus und Barnabas als Götter verehren wollte, ist für 
antike Auffassung nichts Unglaubliches. Paulus sprach 
zu der Menge vom „lebendigen Golte“, dem Schöpfer, „der 
in den vergangenen Zeitaltern alle Völker ihre Wege wan- 
deln liess“. Doch, fährt Paulus fort, hat er sich nicht un- 
bezeugt gelassen als „Wohltäter, da er euch vom Himmel 
Regengüsse gab und fruchtbare Zeiten und erfüllte eure 
Herzen mit Nahrung und Freude“. Gerade in jenen Ge- 
genden hat man neulich merkwürdige Funde gemacht, 
welche unsere Kenntnis auch von der ehemaligen Religion 
Lykaoniens beträchtlich bereichert haben. Bei Ibris steht 
die Riesengestalt des Ackerbaugotles im Felsen ausgehauen. 
In der einen Hand hält er eine Weintraube, in der andern 
wahrscheinlich eine Ähre oder einen Maiskolben. Zu seinen 
Füssen liegt etwas, das ein Pflug zu sein scheint. Die 
Gestalt stellt die Gottheit vor, die diesen vor der türkischen 
Misswirtschaft so gesegneten Ländern Regen und frucht- 
bare Zeiten gab und den Menschen Speisen und Freude 
schenkte. Sir Ramsay, der beste Kenner Kleinasiens heut 


6 Nathan Söderblom 


zutage, hat vielleicht Recht mit seiner Vermutung, dass 
Paulus auch hier sogar von dem, was er vor Augen sah, 
ausgegangen ist, nicht von einem allgemeinen Satz. 

In diesen Aussagen, die dem Paulus beigelegt werden 
ist festgestellt: 1) dass die Menschen auch ausserhalb der 
biblischen Offenbarung Verwandtschaft mit Gott haben, 
die sich teils in dem sittlichen Bewusstsein, teils in dem 
Hinstreben zu Gott äussert, 2) dass der Lauf der Natur 
Gottes Macht und Giite offenbart. Diese Gedanken finden 
wir in der ganzen Geschichte der Kirche wieder. Sie lassen 
sich leicht in dem Sinne weiterbilden, dass die Gottes- 
erkenntnis der natirlichen, in der Schopfung dem Menschen 
mitgegebenen Vernunft einen allen Menschen zugänglichen 
Tempel ausmacht, durch den man in das Aller- 
heiligste der geoffenbarten Wahrheit hineingelangt. Eine 
solche Lehre von der natürlichen Religion wurde aber 
erst im Mittelalter ausgebildet. 

In der alten Kirche dürfen wir eine feste und all- 
gemein anerkannte Formulierung im Sinne der paulinischen 
Aussagen nicht erwarten. Vielmehr bietet uns die alte 
Kirche das fesselnde Schauspiel einer sich unter Reibungen 
und Gegensätzen allmählich vorbereitenden Lehre. Dass 
keine bestimmte Anschauung von der natürlichen Religion 
ausgebildet wurde, und dass nicht einmal eine prinzipielle 
Anerkennung eines Wahrheitskerns in der Antike allgemein 
zu Tage trat, das kann umsomehr als auffallend erscheinen, 
als das Christentum in seiner Frömmigkeit und in der 
Dogmenbildung doch wesentliche Momente hellenischer 
religiöser Ideale und griechischen Denkens aufnahm. Dass 
das Christentum mit seiner düsteren Predigt von Schuld 
und Sühne die herrliche antike Kultur verdorben und 
vernichtet hat, kann auch unter dem grössten Vorbehalt 
kaum behauptet werden. Mit grösserem Rechte kann man 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 7 


sagen, dass die antike Kultur durch die Kirche vor dem 
vollen Untergang gerettet wurde. Ohne die Kirche wäre wenig- 
stens das Geschick der antiken Zivilisation nnvergleichlich 
verhängnisvoller geworden. Die Legende von der schlimmen, 
glücklicherweise jetzt endlich aufgegebenen christlichen 
Parenthese, nach der nun die Antike sich wieder fortsetzen 
soll, mag eine gewisse Berechtigung haben, wenn man an 
die freie, von keinen klerikalen Rücksichten und von keiner 
kleinmütigen Sündenstimmung beeinträchtigte Forschung 
und an das Ideal der innerhalb der Grenzen der Hybrisfurcht 
vollzogenen persönlichen Kraft und Harmonie denkt. Aber 
die griechische Religiosität hatte auch andere Gedanken 
und Ideale gezeitigt, die man nicht als fremdartige Bestand- 
teile im geistigen Organismus der hellenischen Antike ab- 
fertigen sollte. Eben diese in Plato und Plotinus am 
reinsten vorkommenden Gedanken fanden dann in der 
Kirche ihre authentische Weiterbildung. Das Befremdende 
ist, dass die Kirche sich der Schuldnerschaft nicht klarer 
bewusst wurde. Zugeständnisse über den Grad des sittlich- 
religiösen Wahrheitsgehaltes der antiken Bildung sind in der 
alten Kirche überhaupt selten und waren in der Regel 
nicht unumwunden, noch weniger freigebig, sondern höch- 
stens erzwungen und dann möglichst knapp gehalten. Be- 
sonders für die griechischen Väter musste sich die Frage nach 
der ausserbiblischen Gotteserkenntnis durch jene unentrinn- 
bare Einsicht, dass die vom Christentum aufgenommene und 
angewandte griechische Philosophie Wahrheitselemente 
enthielt, zuspitzen. Den geschichtlichen Tatbestand haben 
hier die Alexandriner erkannt und ausgesprochen, indem 
sie das Judentum und das griechische Denken als zwei im 
Christentum zusammenlaufende Erzeugnisse des einen Logos 
betrachteten. Klemens wenigstens hat diese Antwort der 
Geschichte auf die Frage nach dem ausserbiblischen Gottes- 


8 Nathan Söderblom 


glauben gegeben. Schon Origenes war vorsichtiger. Kle- 
mens schrieb wirklich von einem einzigen Testament des 
Heils, das von der Grundlegung der Welt her zu uns 
gekommen ist und je nach verschiedenen Geschlechtern 
und Zeiten seiner Übergabe verschieden angesehen wurde.' 

Aber eine solche Auffassung steht ziemlich vereinzelt 
da. Sonst sind die Urteile über die griechische Weisheit 
verschieden und werden immer ungünstiger. 

Schon die Apologeten gingen in dieser Hinsicht weit 
auseinander.” Auf der einen Seite steht die Auffassung 
Justins vom Christentum als der wahren, vollkommenen 
Philosophie, auf der anderen Seite die rasende Wut eines 
Tatian gegen die Weltweisheit. Aber auch Justinus be- 
hauptete, dass griechiscbe Lehren, Mythen und Riten Ent- 
lehnungen oder selbst teuflische Karikaturen der von Moses 
und den Propheten bezeugten geoffenbarten Wahrheit seien. 
In der Vorstellung von dem Logos spermatikos besass die 
alte Kirche eine Form, in der die ausserbiblische Wahrheits- 
erkenntnis Platz und Erklärung finden konnte. Aber sie 
wurde nie klargelegt und auch immer mehr beschränkt. 

Eine Ursache dafür haben wir in dem Wettstreit mit 
dem Heidentum zu suchen. Dass die Kirche wesentliche 
Stücke von der Antike als Erbe übernahm, konnte sie 
schwerlich im Prinzip klar anerkennen und aussprechen, 
so lange sie noch auf Tod und Leben gegen das Heiden- 
' tum im römischen Reiche zu kämpfen hatte. Es galt Waffen 
zu schmieden, nicht zu untersuchen. 

Wir wollen bei zwei wegen ihrer griechischen Bildung 
hervorragenden Kirchenmännern, bei Justinus und Eusebius, 


! Stromata VI,13 (Migne IX, Kol. 328) Mia uv yay tw ovri ĝia- 
Ian 7) omthgios, ano xataposys xóouov eis ras dizaoroa, xara ġia- 
Yyouors yevreas Te nal yuurors, Oitgogos sivas THY duo txodnyOsioa. 

3 Vgl. A. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in 
den ersten drei Jahrhunderten. Leipzig 1902. S. 213 f. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 9 


sehen, wie ärmlich sich auch bei ihnen die Anerkennung 
ausserbiblischer Wahrheit gestaltete. Justinus gehörte dem 
zweiten, Eusebius dem vierten Jahrhundert an. 

Der fein gebildete Denker Justin, dem die Philosophie 
ihrem alten Begriffe nach ein Weg zu Wahrheit und zum 
Frieden war, hatte im Christentum die wahre Weisheit 
gefunden Seine christliche Philosophie besiegelte er mit 
dem Märtyrertode um das Jahr 165. Der Logos sperma- 
tikos spielt in seiner Beurteilung der Griechen eine Rolle. 
Gegenüber der dem Sokrates zugeschriebenen Opposition 
gegen die in Justins Phantasie allzu häufig auftretenden 
elenden Dämonen schreibt er die schönen Worte I Apol. 
5, 4 von der parallellen Wirksamkeit des Logos unter den 
Griechen durch Sokrates, unter den Barbaren aber in der 
menschgewordenen Gestalt mit Namen Jesus Christus. „Nicht 
allein in Griechenland durch Sokrates hat der Logos sie (die 
Dämonen) entlarvt, sondern der verkörperte und mensch- 
gewordene Logos selbst, der sich Jesus Christus nennt, 
hat es auch unter den Barbaren getan.“ Auch sonst, II, 
7,3; II, 10,5 und 8, spricht Justinus mit Achtung von 
Sokrates, der, wie Harnack in seiner Rektoratsrede über 
„Sokrates in der alten Kirche“ gezeigt hat, sich im Ansehen 
der griechischen Kirchenmänner behauptete, im Abend- 
lande aber, wie in den Klementinischen Homilien, freilich 
trotz abgenötigter Anerkennung zuweilen schimpflich be- 
handelt wurde. I, 46 stellt Justin Sokrates, Heraklit und 
ihresgleichen unter den Griechen als Christianen und 
„Atheisten“ mit Abraham, -Ananias, Azarias, Misael und 
Elias unter den Barbaren zusammen. ,,Wer mit Logos 
(Vernunft) gelebt hat, ist Christ, auch wenn er für einen 
Atheisten gehalten werden sollte.“ Die elhischen Erkennt- 
nisse der Stoiker und Dichter werden II, 8 von dem im 
Menschen eingepflanzten Samen des Logos hergeleitet. 


10 Nathan Söderblom 


Heraklit und Musonius gehörten zu den Menschen, die sich 
um ein Leben gemäss dem Logos abmihten und dabei von 
den Dämonen bekämpt wurden. Hier im Kontext findet 
sich der Terminus Spermatikos Logos. 

Nicht nur die Sittenlehrer von der Art der Stoiker, 
sondern auch die Dichter haben sich in etlichen Stücken 
in der Ethik als ehrbar erwiesen kraft des dem ganzen 
Menschengeschlecht eingepflanzten Samens des Logos. Zu 
diesen werden Heraklit und Musonius gerechnet. Kein 
Wunder, wenn die Dämonen, die ja schon solche nur von 
einem „Teile des in Keimen ausgestreuten Logos‘ beein- 
flussten Männer gehasst und verfolgt haben, nun noch 
eifriger danach strebten, die Menschen, die nicht nur einem 
Teile des Logos spermatikos, sondern der Erkenntnis und 
Betrachtung des ganzen Logos (d. h. des Christus) gemäss 
lebten, verhasst zu machen. Denselben Unterschied macht 
Justinus in der zweiten Apologie noch einmal geltend II, 
10. Vom Logos wird alle Wahrheit hergeleitet, sowohl die 
unter den Griechen vorhandene, wie die christliche. Aber 
da die edlen Wahrheilssucher der Griechen nur eines Teiles 
des Logos teilhaft geworden waren, erklären sich daraus 
auch ihre Irrtümer und Widersprüche „Alles was die 
Philosophen und Gesetzgeber schön und richtig ausge- 
sprochen haben, ist von ihnen als von einem Teile des 
Logos beeinflusst durch Forschung und Betrachtung mit 
Mühe erworben. Da sie aber nicht alle Wahrheiten des 
Logos, welcher Christus ist, gekannt haben, haben sie sich 
auch gegenseitig oftmals widersprochen.“ Demgemäss wird 
ausdrücklich hinzugefügt, dass „Christus zum Teil auch 
von Sokrates gekannt war“, denn Christus „war und ist 
der im jedem Menschen vorhandene Logos, der durch die 
Propheten die künftigen Ereignisse voraussagte‘“ und der 
unsre Natur annahm und der Heilslehrer wurde Der 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 11 


Text scheint hier schlecht überliefert zu sein. Aber der 
Sinn ist klar. Die vielzitierte kühne Äusserung „Alles 
Wahre, das von allen ausgesprochen worden ist, gehört uns 
Christen“! wird in der Regel, der unten zu besprechenden 
Anschauung des Justin und dem Zusammenhang gemäss, 
als die Behauptung einer Entlehnung der im Heidentum 
vorhandenen Wahrheiten aus der Bibel aufgefasst. Aber 
es ist auch möglich, sie auf die Wirkung des Logos unter 
den Heiden zu deuten. Denn von Plato, den Stoikern und 
den griechischen Prosaikern wird vorher gesagt: „Ein jeder 
äusserte Wahres in demselben Masse, als er in kraft seines 
Anteils an dem göttlichen in Keimen ausgestreuten Logos 
sah, was diesem Logos verwandt war.‘“? Und nach der 
kühnen Behauptung erklärt Justin die Ähnlichkeiten der 
griechischen Verfasser durch den in ihnen vorhandenen 
Samen des eingepflanzten Logos. Sie hatten freilich nur 
einen Samen von Logos, nicht einen wirklichen Anteil an 
ihm. 

In der Tat scheint mir Justins Äusserung sich hier 
nicht auf eine direkte oder durch die Dämonen vermittelte 
Entlehnung zu beziehen, sondern vielmehr auf eine Ein- 
wirkung des Logos auch auf die Heiden. Die Dämonen 
spuken freilich im Beginn des Stückes, scheinen aber im 
Folgenden kaum etwas zu tun zu haben. Vielmehr wird 
die Annäherung der platonischen, stoischen und anderen 
Lehren an das Christentum daraus hergeleilet, dass ein jeder 
das nahm, was ihm vom göttlichen samenhaften Logos passte. 
Aber von einer Entlehnung aus der Schrift kann hier kaum 
die Rede sein. Auch nicht weiter in v. 5, wo vom „inne- 


4 y a ~ a e ~ ~ ~ 
! 11,13,4 “Oca ovv napa naoiw xake tiyntat yummy tov ygıorıavıv 
sort. 
3° m ’ > ‘ ~ ~ N [2 ` , 
Exaoro¢ yao tes ano uigovs tov onsouatixov Perov kuyov tu gıyyevis 
€ ~ ~ N 
opuv xahus sgPiygaro. 


12 Nathan Söderblom 


wohnenden Samen des eingepflanzten Logos“ ausdrücklich 
gesprochen wird. Die „Nachahmung“, w/unne, heisst v. 6 
demgemäss keine Entlehnung im eigentlichen Sinne, sondern 
eine unvollkommene (sera Örranır) Mitteilung und Aneig- 
nung des nur als zerstreute Keime ‚in der Heidenwelt vor- 
handenen Logos“ gegenüber einer wirklichen Teilhaftigkeit 
und Ähnlichkeit des von den Christen gekannten, verehrten 
und geliebten Logos selbst. 

Die bedeutsamsten Zugeständnisse einer unabhängigen 
Wahrheitserkenntnis der Griechen durch den Logos finden 
sich somit in der zweiten wie in der ersten Apologie. Wenn 
wir sofort eine andere Erklärung von wirklichen oder ver- 
meintlichen Übereinstimmungen bei Justin kennen lernen 
werden, kann man das nicht als eine Entwicklung in der 
einen oder anderen Richtung bei dem Verfasser deuten- 
Auch was einzelne Traditionen betrifft, scheint Justin bis- 
weilen parallelle Erkenntnisse anzunehmen. Noah wurde 
z. B. von den Griechen Deukalion genannt II, 7,2. Die 
Damonentheorie, die wir weiterhin näher zu besprechen 
haben werden, konnte sogar als Entschuldigung der Heiden 
gebraucht werden. Warum erzählen die Griechen von ihren 
Göttern so viele schlimme Züge? Weil sie das Treiben 
der Dämonen nicht kennen. Infolge der Unkenntnis der 
ungehorsamen Engel und ihrer Söhne, der Dämonen, 
schreiben die Dichter ihr Werk den Göttern zu II, 5, 5. 
Bemerkenswert und mit den Paulusworten verwandt ist, 
dass noch nicht, wie später, alles bei den Heiden von Dä- 
nıonen hergeleitet wird. Das ganze Menschengeschlecht 
hat an dem Logos Anteil I, 46, 2, dem die Christen als dem 
Christus, Gottes Eingeborenen, huldigen. So lautet der gross- 
zügige Gedanke, der sich dem Justin und der alten Kirche 
als Grundlage einer Lehre von der ausserbiblischen Offen- 
barung darbot. Aber eine solche Lehre konnte aus ver- 


Natürlicbe Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 13 


schiedenen Ursachen nicht ausgebaut werden. Erst heute 
ist die Theologie dazu reif. Bei Justin selbst trübte sich 
die Idee vom Logos spermatikos. Ein Offenbarungscharakter 
der bei den Griechen sich findenden Wahrheiten wird von 
ihm nicht konsequent behauptet. Daneben stellt Justin 
eine Anleihetheorie auf, die in der alten Kirche grossen 
Anklang fand. Die Griechen haben alle Wahrheit aus 
Moses und den Propheten geschépft. Die Entlehnungs- 
theorie und die Beschuldigung der Griechen wegen teuflischer 
Nachahmung nehmen in seinen Apologien einen breiteren 
Raum ein als die oben genannten Zugeständnisse eines 
direkten Wirkens des Logos spermatikos. 

Die Anleihetheorie war nicht neu. Hier wie sonst 
hatte das alexandrinische Judentum für die Auseinander- 
setzung des Christentums mit dem griechischen Denken 
Vorarbeit getan. Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert 
hatte Aristobul — nach den Zeugnissen von Klemens Alex- 
andrinus! und Eusebius? — zeigen wollen, dass die Dichter 
und Denker der Heiden dem Moses viel entlehnt hatten. 
Pythagoras verdankte ihm wesentliche Stücke seiner Lehre. 
Plato hätte eine frühere Übersetzung der Tora als die LXX 
gekannt. Spätere hellenistische Juden haben ebenfalls den 
mosaischen Ursprung der griechischen Wahrheitserkennt- 
nisse behauptet, vor allen Philo. Durch Justin gewann 
dieser bequeme Ausweg Anwendung in der Kirche. 

An und für sich war eine Erklärung von vorhandenen 
oder vermeintlichen Ähnlichkeiten, d. h. Wahrheiten, durch 
Anleihe bei der biblischen Offenbarung in dieser Zeit sehr 
erklärlich und natürlich. Wir müssen hier mit dem Ein- 
drucke rechnen, welche die heiligen Schriften des alten 
Testaments auf einen gebildeten Griechen machen mussten, 


1 Stromata I, 22, 150. V, 14, 97. 
3? Praep. Ev. XII. 


14 Nathan Söderblom 


wenn er sich einmal ihrer Einwirkung hingab. Er fand 
in der Bibel z. B. kosmologische Aussagen. Von der Ent- 
stehung der Welt hatte er in Hesiod, bei den Ioniern, im 
tiefsinnigen Timäus bei Plato und auch sonst gelesen. 
Im ersten Kapitel der Genesis war auch der Ursprung der 
Welt erzählt, aber in einer schlichten Einfachheit und aus 
einem beherrschenden göttlichen Willen einheitlich her- 
geleitet. Dem gegenüber besass die griechische Literatur 
nichts Entsprechendes. Wie sollte sich der Leser die 
Ähnlichkeiten erklären? Eine exakte Chronologie der be- 
treffenden Schriften, welche eine richtige Formulierung des 
Problems der Abhängigkeit ermöglicht hätte, besass man 
ja nicht. Man hatte unbestimmte Vorstellungen vom Alter 
der alttestamentlichen Literatur, man wusste nur, dass Moses 
einer uralten Vergangenheit angehörte. Kein Wunder, wenn 
der Schluss gezogen wurde: die Griechen haben ihre Lehren 
der Bibel entliehen. 

Am allerwenigstens sollte man sich über diese Ansicht 
in der alten Kirche in solchen Kreisen wundern, in denen 
noch heutzutage, sogar mit dem Anspruch auf Wissenschaft- 
lichkeit oberflächliche, zufällige oder in der Sache be- 
gründete Ähnlichkeiten als Beweise für historische Ab- 
hängigkeitsverhältnisse geltend gemacht werden. Dem da- 
maligen Gebildeten lag nichts näher, als die Griechen 
als Schuldner der Bibel anzusehen. Dem Justin war es 
selbstverständlich, dass die Griechen von dem viel älteren 
Moses und seinen Nachfolgern gelernt hatten I, 23. Immer 
und immer betont er Moses Alter I, 54,5; 44, 8; 59 etc. 
Die Bekanntschaft der Griechen mit dem Alten Testa- 
ment war durch die in Ägypten hergestellte griechische 
Übersetzung ermöglicht worden I, 31. So sollte Plato 
von Moses direkt entlehnt haben I, 44,8; ein zur Welt- 
erklärung gehörender Satz im Timäus wird I, 60,1 als 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte | 15 


von Plato aus Moses entlehnt dargestellt. Alles was 
Philosophen und Dichter von Unsterblichkeit, von Strafen 
im Jenseits, von der Anschauung der himmlischen Dinge 
und dergleichen geschrieben haben, verdanken sie den 
Propheten I, 44,9. Die Lehre im Timäus von der Schöpf- 
ung der Welt aus der formlosen Materie stammt von 
Moses I, 59. 

Leider blieb Justin bei der Annahme solcher anstän- 
digen Entlehnungen nicht stehen, sondern der Teufel und 
sein Anhang wurden zu Hilfe genommen in geradezu un- 
heimlicher Weise. Die Dämonen hatten ihr Spiel getrieben. 
Was sie bei Moses und den Propheten von dem kommenden 
Heiland aufschnappen konnten, dass haben sie in heidni- 
schen Mythen im Voraus entstellt, um den Christen Ver- 
druss zu machen I, 23, 3. Diese sonderbare, später in der 
Kirche, ja in der katholischen Mission bis auf die Neuzeit 
so beliebte Erklärung mehr oder weniger auffallender 
Ähnlichkeiten wird von Justin besonders in Betreff Christi 
übernatürlicher Geburt ausführlich dargestellt I, 22; 54, 2 
ff., aber auch bei anderen Beispielen angewandt. So ent- 
stammt nach I, 54, 6 Dionysus als Erfinder des Weinstocks 
den auf Christus hinzielenden Worten in Gen. 49, 10 ff.: 
„Er wird sein Füllen an den Weinstock binden und seiner 
Eselin Sohn an den edlen Reben“. Der dort erwähnte 
mohos, „Füllen“, soll der Prototyp des Pegasus des Bellero- 
phon sein. Als die Dämonen in Jesaja von der Jungfrau- 
geburt lasen, erfanden sie die Sage von Perseus. Die Worte 
des Psalmisten 19 (18), 6: „Er freut sich wie ein Held zu 
laufen den Weg“, gaben ihnen den Stoff zur Sage von Hera- 
kles. Als die Dämonen erfuhren, dass der Heiland alle 
Krankheit heilen und Tote auferwecken sollte, führten sie 
den — in der hellenistischen Zeit erfolgreichen und be- 
rühmten Heilgott — Asklepius vor. Auch Reinigungsriten 


16 Nathan Söderblom 


haben die Dämonen dem mosaischen Gesetze entlehnt 
I, 62. Kores Verbindung mit dem Wasser I, 64 soll der 
Genesisstelle vom Schweben des Geistes über dem Wasser 
entnommen sein — wohl der geschraubteste unter Justins 
Beiträgen zu der vergleichenden Mythologie. 

Diese gesammte Teufelstheorie eignete sich zu gut als 
Waffe gegen das Heidentum, um nicht allgemein angewandt 
zu werden. Die Lateiner, die im Allgemeinen nicht das 
lebendige Gefühl der griechischen Kirchenmänner vom 
Zusammenhange mit dem griechischen Denken hatten, 
waren noch mehr als die griechischen Theologen gewillt, 
die absprechenden Urteile und Erklärungen betreffs grie- 
chischer Lehren, Mythen und Gebräuche zu billigen und 
zu vermehren. 

Die Unterschätzung der Griechen und das allmähliche 
Verschwinden der Anerkennung eines direkten Wirkens 
des Logos im Heidentum sind deutlich zu erkennen, wenn 
wir uns in die Zeit versetzen, in der Eusebius seine Kirchen- 
geschichte abfasste, also etwa 200 Jahre nach Justin, 100 
Jahre nach Origenes. Eusebius von Cäsarea war kein 
originaler Kopf. Er vertrat in Nicäa die mittlere, semi- 
arianische Anschauung. Wir können in ihm den reprä- 
sentativen Typus eines hervorragend gelehrten griechischen 
Kirchenmannes erkennen. Wie viel er und die Kirche 
dem Griechentum verdankten, zeigt er unbewusst selbst 
am besten grade in dem Stücke der Einleitung, das uns 
beschäftigen wird. Spricht er doch vom Sabbat und von 
der Beschneidung als von Bildern und Symbolen. Die 
deutlichen Mystagogien, die wirklichen Einweihungen in die 
göttlichen Geheimnisse, erhielten nach Eusebius noch nicht 
die Hebräer, sondern erst die Christen. Die biblische Offen- 
barung wird somit von diesem hochgebildeten Christen 
wie von so vielen vor ihm bis zur Unkenntlichkeit entstellt 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 17 


und in eine Art Mysterienreligion mit Unterscheidung 
zwischen Esoterischem und Exoterischem verwandelt. So 
lässt auch Eusebius in seiner gedrängten Skizze vom Gange 
der Offenbarung einer direkten Wirkung des Logos unter 
den Griechen auch nicht den geringsten Raum übrig. 

In der Einleitung zu seiner Kirchengeschichte verbindet 
er den paulinischen Gedanken vom Verfalle der ursprüng- 
lichen Gotteserkenntniss mit der oben genannten Ent- 
lehnungstheorie (I, 2,17 ff). Die Vorzeit konnte Christi 
Lehre nicht erfassen. Denn die Menschen waren vom 
ersten seligen Leben abgefallen, sie erstickten die ihnen 
von der Natur eingepflanzte Vernunft und lebten in Kanni- 
balismus, grober Barbarei und Gottlosigkeit. Die Roheit 
der niedrigeren Stadien der Menschheit wird realistisch 
geschildert, und Gottes Strafgerichte über das sündige Ge- 
schlecht werden mit Anlehnung an die Genesiserzählungen 
berichtet. Dann aber offenbarte sich der präexistente Logos 
gottesfürchtigen Männern durch Engelsvisionen oder in 
menschlicher Gestalt. Allem Anschein nach sind hier die 
Gottesoffenbarungen an die Patriarchen gemeint. Durch 
diese Männer wurde der Same der Religion unter vielen 
Menschen ausgestreut; und dem von den alten Hebräern 
abstammenden Volke, welches sich der wahren Gottesver- 
ehrung zugewandt hatte, gab der Logos durch den Propheten 
Moses Symbole der Religion, nämlich den Sabbat und die 
Beschneidung, aber noch nicht die deutliche Einsicht in 
die Geheimnisse der Religion. Das mosaische Gesetz ver- 
breitete sich wie ein Wohlgeruch über alle Menschen, indem 
es durch die von ihm beeinflussten Gesetzgeber und Philo- 
sophen Denkweise und Sitten der Völker milderte. Am 
Ende offenbarte sich derselbe göttliche Logos im Beginn 
des römischen Kaisertums als wirklicher Mensch. 

In eklektischer Weise werden hiermit mehrere der alt- 


2. — Beiträge zur Rel. Wiss. 1,1. 


18 Nathan Söderblom 


kirchlichen Erklärungsweisen der ausserbiblischen Wahrheit 
verbunden: zuerst die Vollkommenheit der Urzeit und 
die darauf folgende Entartung, dann die Erscheinungen 
des Logos den Männern des Ältertums, die somit Samen 
der Wahrheit unter die Menschen ausstreuten, wobei es 
jedoch, wie wir gesehen haben, mehr als fraglich erscheint, 
ob eine direkte Wirkung des Logos spermatikos in der 
Welt gemeint ist. Gesetze und Weisheit des Heidentums 
werden nicht aus dem Logos spermatikos erklärt, sondern 
die alten Gesetzgeber und Philosophen hatten vom jüdischen 
Gesetz gelernt, und werden somit als unmittelbare oder 
mittelbare Schüler des Moses angesehen. Für eine direkte 
Einwirkung des Logos wird ausserhalb der Bibel kein 
Raum gelassen. 

In der Kirchengeschichte ist die Frage nach der Her- 
kunft der ausserbiblischen Wahrheit lediglich eine zufällige. 
Ausführlich, und prinzipiell beschäftigt sich Eusebius mit 
der Sache in seiner ooragaoxevn svayyehixy. Dort wird 
auch von diesem Manne, der doch die aufgeklärteren Ele- 
mente der Kirche vertrat, den Griechen jede Originalität 
abgesprochen — abgesehen von einer frechen Räuberei. 
Der Zweck der Praeparatio evangelica ist, die Meinung 
zu widerlegen, dass die evangelische Lehre nicht durch 
Beweise gestützt werden kann (I, 1). Eusebius will zeigen, 
dass die Christen mit gutem Rechte die heiligen Schriften 
der Juden den väterlichen (griechischen) Urkunden vor- 
gezogen haben (VII, 1). Nicht ohne gute Gründe zogen sie 
die Theologie der Hebräer der Philosophie der Griechen 
vor (IX, 1). Drei Hauptgründe durchziehen das ganze kom 
pilatorische Buch des Eusebius: einmal die Wirksamkeit 
der Dämonen (IV, 23), auf welche eine beträchtliche Menge 
der Orakel zurückgeführt wird V, zweitens das Älter der 
Hebräer (VII, 1; IX, 1, 14; XII, 43) und endlich die Räuberei 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 19 


der Griechen, der ein ansehnlicher Teil des Werkes gewidmet 
wird. Der Verfasser ergibt sich einer ausführlichen Beweis- 
führung des schönen Satzes, dass die Griechen Diebe gewesen 
sind (XI, 3). Wie die griechische Literatur von Plagiaten aus 
älteren hellenischen Werken wimmelt, wird mit Auszügen 
aus Klemens und Porphyrius nachgewiesen (IX, 2). Auch den 
Barbaren haben die Griechen viel entlehnt (IX, 5). Und 
zwar den Hebräern, deren Lehren und Gesetze uralt sind 
(VII, 1). Das Zeitalter der griechischen Philosophen fällt 
später als die gesammie Geschichte der Hebräer (IX, 14). 
Damit sind die zwei Voraussetzungen gegeben: die Griechen 
sind überhaupt Diebe, das ist durch ihre eigenen Zeugnisse 
dargelegt worden (XI Vorrede); und sie folgten den Hebräern. 
Demgemäss besteht keine Schwierigkeit, die Ähnlichkeiten 
zu verstehen. Was die Furcht vor dem einzigen und all- 
mächtigen Gott und die für den Nutzen der Seele wichtig- 
sten Lehren betrifft, d. h. die vornehmsten aller Lehrsätze, 
sind bei den Griechen ausschliesslich von den Hebräern ge- 
nommen worden (IX, 1). Tatsächlich stimmen nämlich die 
Philosophen in gewissen Momenten mit den Hebräern über- 
ein. Der Jude Aristobul hätte schon gezeigt, meint Eu- 
sebius, dass die Griechen ihre Philosophie aus jüdischen 
Quellen geholt haben (XIII, 12). Nach dem Grundsatz a 
potiori behandelt Eusebius nur den vornehmsten von allen, 
Plato, drei ganze Bücher XI—XIII und Teile der zwei 
letzten XIV, XV sind ihm gewidmet. Etliche seiner Lehren, 
lesen wir bei Eusebius, zeigten mit der Bibel auffallende 
Ähnlichkeiten (XI, 37). Selbst in der Form soll Plato 
bisweilen von den hebräischen Schriften abhängig sein 
(XII, 43). Es ist unverkennbar, dass auch dieser neidische 
Apologet nicht umhin kann, sich für den Meister des 
philosophischen Scharfsinns und für seinen noch grösseren 
Lehrer zu erwärmen, wenn er sich in beide vertieft. So- 


20 Nathan Söderblom 


krates glaubte die dreiste Fabel von den griechischen Gott- 
heiten nicht, daher musste er sterben. Eusebius gehört 
nicht zu den Wahrheitszeugen, die es fertig brachten, So- 
krates zu beschimpfen. Auch des Sokrates Verhöhnung 
der Naturforschung und seiner Vorliebe für die Ethik gibt er 
seine Zustimmung (XV, 62). Es scheint sogar dem Eusebius 
daran gelegen zu sein, Übereinstimmungen mit Plato auf- 
zuweisen, wie auch Platos Vorschlag im Staate V, 459, 
dass die Gräber von ehrenvoll gefallenen und göttlichen 
Menschen gepflegt und angebetet werden sollen, bei den 
Christen seine Erfüllung fände, denn sie machten es schon 
so mit ihren Heiligen, den Stoikern der Frömmigkeit, den 
Märtyrern, sie huldigten ihren Grabstätten. Man kann nicht 
verkennen, dass Eusebius die dem Christentum bedenklicHen 
oder abscheulich erscheinenden Sätze bei Plato nicht mit 
der möglichen und sonst geübten apologetischen Rücksichts- 
losigkeit ausgenützt hat, obwohl Fehler (XIII, 14) und un- 
sittliche Ansichten (XIII, 19. 20) in diesen Schriften erwähnt 
werden. Die innere Verwandtschaft des platonischen Geistes 
mit der biblischen Religion im Gegensatz zu Aristoteles hat 
Eusebius richtig empfunden: Aristoteles weicht von Moses 
ebensowohl als von Plato ab (XV, 3 f). Überhaupt wider- 
sprächen sich die Philosophen gegenseitig (XIV) und zeigten 
dadurch ihre Unterlegenheit gegenüber der Schrift. Trotz 
der Anerkennung des Sokrates und des Plato wird von 
dem griechisch gebildeten Verfasser jede direkte Einwirk- 
ung des Logos auf die hellenische Welt ausgeschlossen. 

Freilich beurteilen wir leicht die Art der alten Kirchen- 
lehrer, von der ausserbiblischen Wahrheit zu sprechen, 
allzu abstrakt, indem wir uns nämlich nicht in ihre ge- 
schichtliche Situation hineinversetzen. Die Konkurrenz der 
heidnischen Religionslehren und Mysterien war doch allzu 
ernst und unmittelbar zu empfinden, die Schuldnerschaft der 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 21 


Kirche dem griechischen Denken gegenüber war eine allzu 
vieldeutige und bedenkliche Tatsache, als dass allgemein 
und offen eine von-der biblischen Offenbarung unabhängige, 
religiöse und sittliche Erkenntnis hätte zugestanden werden 
können. Den Männern der Kirche war auch bei aller 
Trübung der evangelischen Art doch wenigstens das Bewusst- 
sein aus der Bibel ungetrübt geblieben, was ihre vielleicht 
wichtigste historische Aufgabe ausmachte, nämlich die Not- 
wendigkeit die Absolutheit des Christentums allen Relati- 
vismen der wetteifernden Kulte und Lehren gegenüber fest- 
zuhalten. 

Neben diesen aus der geschichtlichen Lage sich er- 
gebenden Hindernissen für das Emporkommen einer Lehre 
von der später sogenannten natürlichen Religion, kann noch 
eine andre Ursache erwähnt werden: der grosse Lehr- 
meister der aus dem Weltbestand hergeleiteten Theologie, 
Aristoteles, beherrschte noch nicht die kirkliche Denkweise 
jener Zeit. 

In der karolingischen Zeit kamen jene Hemmnisse, die 
aus der geschichtlichen Konkurrenz des Christentums mit 
den antiken Religionen erwachsen waren, nicht mehr in 
Betracht. Der karolingischen Renaissance drohte von seiten 
der antiken Kulte und des klassischen Heidentums längst 
keine Gefahr mehr. Wer es wollte, konnte sich der Be- 
geisterung für die Antike ruhig hingeben und Rede und 
Schrift mit Zitaten aus einer vergangenen Herrlichkeit nach 
Belieben schmücken, aber freilich nur, soweit es das be- 
scheidene Mass der vorhandenen Kenntnisse über jene Zeit 
und die ärmlichen Vorbilder aus den letztvergangenen Jahr- 
hunderten gestatteten. Vor einiger Zeit sah ich im Stephans- 
dom in Halberstadt Karls des Grossen Bild neben dem Hoch- 
altare hängen. In das prächtige Gobelin haben die Nonnen 
Sokrates und Plato, Kato und Seneka in den Ecken des 


22 Nathan Söderblom 


Kaiserbildes eingewebt. Das ist ehrlich verdient. Alkuin 
kam nach dem Frankenreich als Repräsentant der christ- 
lich-klassischen Bildung Englands’, die das klassische 
Heidentum nie als praktisches Problem für das Christentum 
empfunden hatte. Ihn beseelte ein hohes kirchliches Bild- 
ungsideal, für das er bei seinem Herrscher Verständnis 
fand. Bei aller Entschiedenheit in der Überordnung des 
Christentums, welche die nicht seltenen tadelnden Worte 
gegen Männer der Antike völlig erklärt, konnte Alkuins 
aufrichtige Schätzung der antiken Literatur sich vereinzelt 
zu Aussagen versteigern wie die folgende im Dialogus de 
Rhetorica et virtutibus? esist: Alkuin nennt die Tugenden 
und sagt seinem königlichen Herrn, dass die Philosophen 
diese Tugenden mit dem grössten Eifer gepflegt hätten. 
Karl fragt dann nach dem Unterschiede zwischen einem 
solchen heidnischen Philosophen und einem Christen, wor- 
auf Alkuin antwortet: Der Glaube und die Taufe” Den 
tugendhaften Heiden wird bald danach eine hohe An- 
erkennung gezollt, sie beschämen die Christen? 

„Die Vermählung der antiken Bildung mit dem christ- 
lichen Geist“ war die Signatur der karolingischen Zivilisa- 


1 Vgl. A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands I? 429; II’ 131. 
176 f., 138, 140. 

3? Migne CI 943 f. (Alcuinus II, 329). 

3 Die Tugenden sind „virtus, scientia, veritas, amor bonus.“ Karl der 
Grosse fragt: „Nunquid (non) has Christiana religio apprime laudat? Al- 
binus magister (= Alkuin): „Laudat et colit.“ — Carolus: „Quid philosophia 


cum iis?“ — Alb.: „Has intellexerunt in natura humana, et summo studio 
coluerunt.“ — Carolus: „Quin tune distat inter philosophum talem et Chri- 
stianum?“ — Alb. : „Fides et baptisma.“ 

4 Temperantiæ partes sind continentia, clementia, modestia ... — Car.: 


„Honor eximius est coram hominibus hanc servanti, et laus apud Dominum. 
Sed miror nos Christianos, si filli} philosophi has virtutes ob illarum tantum 
dignitatem vel landem vitae servaverunt, cur nos ab iis in multis devio errore 
declinamus, cum haec nune in fide et charitate servantibus aeternae gloriae 
ab ipsa veritate Christi Jesu praemia pollicentur.“ Col. 945 S. 330. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 23 


tion.’ Auch für die zweite paulinische Quelle der ausser- 
biblischen Wahrheitserkenntnis, die Natur, hatte Alkuin 
einen offenen Sinn. Hauck bemerkt, dass seine tiefe Über- 
zeugung, die Welt sei eine Offenbarung Gottes, ihm den 
Gedanken eingab, Abraham habe Gott durch die Betrachtung 
der Gestirne erkannt. Schon in Alkuins Schule sind Ver- 
nunft und göttliche Autorität der geoffenbarten Schrift als 
die zwei sich gegenseitig stützenden Quellen der Erkenntnis 
nebeneinander gestellt worden.’ 

Unter den kirchlichen Antikenverehrer der Folgezeit 
seien hier nur drei genannt. 

Der grosse Pabst Gerbert, Silvester II (+ 1003), holte 
für sich selbst geistige Erhebung und Nahrung aus Horatius, 
Vergilius und Cicero. Abälard (} 1142) suchte in seiner 
Introductio ad Theologiam Beweise für Gottes Existens 
und für die Dreieinigkeit in der Heiligen Schrift. bei Hermes 
und Plato, den er unter den Philosophen dem christ- 
lichen Glauben am nächsten stellt; dann bei den Dichtern, 
besonders Vergilius; endlich bei der Sibylle. Er fand für 
den christlichen Glauben auch bei Pythagoras und Cicero, 
Varro und Seneka und anderen manche Beweise. Plato 
stellt er über Aristoteles, weil dieser jünger war.‘ Als König 
Heinrich I. von England seinen Sohn nebst vielen Edel- 
männern auf dem Meere im Jahre 1120 verloren hatte, 
tröstete ihn Hildebert, später Erzbischof von Tours, mit 
Zitaten aus Vergil und stoischen Gedanken, die den bekannten 
Brief mehr kennzeichnen als die dort angeführten Bibel- 
sprüche. „Während aller Jahrhunderte des Mittelalters 


1 Hauck, IIIS, 307. 

2 II, 140. 

3 l. c. 155. 

4 F. Picavet, Esquisse d'une Histoire générale et comparée des Philo- 
sophies médiévales, Paris 1905. S. 158, 201. 


24 Nathan Söderblom 


näherte man sich den antiken Schriftstellern mit der Er- 
wartung von ihnen zu lernen.“ 

Ehe wir zu der durch Alexander von Hales (F 1245) 
eingebürgerten, auf Aristoteles aufgebauten scholastischen 
Methode und damit zu einer neuen Periode der sogenannten 
natürlichen Theologie übergehen, darf man hier mit einigen 
Worten der Anerkennung gedenken, welche antiken Gestalten 
und Motiven in der kirchlichen Kunst zu Teil wurde, sei es 
direkt, indem Vergilius und Seneka als Kirchenväter oder 
die Sibyllen und Hermes Trismegistos als Vorboten Christi 
dargestellt wurden, oder sei es indirekt, indem man 
Mythen, wie die vom Tode des Herakles, durch symbolische 
Deutung auf Christus übertrug. Als Michelangelo in der 
Sixtinischen Kapelle die fünf Sibyllen unter die Propheten 
setzte — über dem Altar Jonas, dann links Libica, Daniel, 
Cumaea, Esaias, Delphica, auf der Wand dem Altar gegen- 
über Zacharias, dann auf der rechten Wand zurück bis 
zum Altar Joel, Erithraea, Ezechiel, Persicha, Hieremia — 
tat er nichts Neues. Freilich hat sich die Renaissance in 
dieser Hinsicht viel zugetraut. In einem Saale der Wohn- 
ung Borghia hat Pinturicchio Szenen aus der ägyptischen 
Mythe von Isis und Osiris neben der Maria mit dem Chri- 
stuskinde, dem Besuche der Elisabeth und neben Heiligen- 
bildern dargestellt”? Die heidnischen Motive sind an und 
für sich nicht befremdend, zumal es sich nicht um einen 
heiligen Raum handelt, sondern um die Sala delle nozze 
dette diAldobrandini. Das Sonderbare liegt in der Zusammen- 
stellung mit den christlichen Bildern, welche den Gedanken 
an ebenbürtige religiöse Ereignisse nahelegt. In den Kirchen- 
malereien ist das Ansehen antiker Persönlichkeiten und 


1 H. O. Taylor, The Mediæval Mind II. London 1911. S. 107, 146. 
? Er. Pistolesi, Il Vaticano descritto ed illustrato Roma 1829 III, 86 f., 
93 ff. Tavola XXIX, XXXI, XXX. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 25 


Vorstellungen bezeugt, von den Katakomben an bis zum 
Rundfenster im Westminster Abbey, wo Christus in der 
Mitte thront, umgeben von Patriarchen, Propheten, Aposteln 
und den grossen Lehrern der ausserchristlichen Welt. 

Der Respekt des Christentums vor der Antike im Mittel- 
alter und noch später, insbesondere vor Sokrates' und dem 
Stoizismus, unter den Stoikern am meisten vor Seneka und 
neben den*Stoikern besonders vor Plutarch, war grösser‘ 
und wirksamer als wir uns jetzt recht vorstellen können. 
in einer Zeit in der die Bildung, zu ihrem Nachteil und z 
Gunsten des Materialismus, sich nicht von dem Studium 
der antiken Schriftsteller, mit ihrem idealen Geiste und ihrer 
vornehmen Zucht wie früher nährt. ,,Fortasse latius se 
fundit spiritus Christi quam nos interpretamur, et mult; 
sunt in consortio sanctorum, qui non sunt apud nos in 
catalogo“ (Erasmus). 


IT. 


Die formulierte Lehre. 


Als die Araber dem christlichen Mittetalter eine nähere 
und erweiterte Kenntnis von Aristoteles’ Schriften ver- 
mittelten, eröffneten sich den begeisterten Blicken neue 
reichere Gebiete der Kenntnis und des Denkens. Gleich- 
zeitig als gefährlicher Modernismus gefürchtet und mehr 


1 Noch ein katholischer Prelat wie Francois de Sales (1567—1622, 
kanonisiert im Jahre 1665) rechnete bekanntlich Sokrates unter die Christen. 
Und der berühmte lutherische Pfarrer Johann Friedrich Oberlin in Ban de 
la Roche im Elsass (1740—1826) sagte, dass „Sokrates zur Rechten Gottes 
sitzen wird‘. 


26 Nathan Siderblom 


als einmal von kirchlicher Seite verpönt und verdammt,' 
wurde der Aristotelismus, freilich nicht in seiner Reinheit, 
sondern mit platonischen und neuplatonischen Elementen 
durchwoben, von Albert dem Grossen nur in vorsichtig 
referierender Weise dargestellt, von seinem Schüler, dem 
grossen Thomas, zu einem im Verein von Kühnheit und 
Konservativismus, Denkkraft und eklektischer Kunst un- 
vergleichlichen System des kirchlichen Christ¢ntums ver- 
wertet. Hier war die Unterscheidung zwischen natürlicher 
und geoffenbarter Religion in Prinzip vollzogen, obwohl die 
Durchführung in Einzelheiten verhängnisvolle Schwierig- 
keiten bot. Damit ist eigentlich keine Neuerung geschehen. 
Von der lex naturalis, von Vernunft und Schriftautorität 


I Gregorius IX schrieb an die Pariser Theologen d. 7ten Juli 1228 in 
der Ep. „Ab Aegyptiis“: Quidam apud vos, spiritu vanitatis ut uter distenti, 
positos a Patrıbus terminos profana transferre satagnnt novitate, coelestis 
paginae intellectum, SS. Patrum studiis certis expositionum terminis limitatæ, 
quos transgredi non solum est temerarium, sed profanum, ad doctrinam 
philosophicam naturalium inclinando.“ Diese Worte der Epistola ad magistros 
theologie parisienses werden in der Enzyklika Pascendi dominici gregis 
vom 8 September 1907 „De modernistarum doctrinis“ angeführt. (Die püpst- 
liche Enzyklika gibt nach einem, im Register bei Denzinger freilich berich- 
tigten, Druckfehler in der damaligen Auflage von Denzingers Enchiridion 
Symbolorum Definitionum et Declarationnm de rebus fidei et morum, Würz- 
burg 1900, das Jahr 1223 anstatt 1228. In der 12ten Auflage von 1913 ist 
das Jahr auch im Texte berichtigt worden). Soll man es als unbewusste 
Prophezeiung deuten, dass der jetzige Papst, indem er die heutigen „Mo- 
dernen“ gründlichst verdammt, sie mit den damals häufig sogenannten “Mo- 
dernen‘“ zusammenstellt, deren Modernismus eben bald nachher zum glänz- 
enden Sieg durch Thomas ab Aquino verholfen wurde als massgebende 
Darstellung der Kirchenlehre für Jahrhunderte? Die zitierten Worte des 
Gregorius IX richteten sich gegen die Aristoteliker. 

In ganz anderem und „modernem“ Sinne hat Roger Baco, der englische 
Franziskaner, einige Jahrzehnte später Einspruch gegen den damaligen Mo- 
dernismus erhoben, nämlich im Namen der Spezialwissenschaften und des 
Empirismus der übertriebenen Autorität des Aristoteles gegenüber. Vgl. 
Fr. Picavet, Essais sur l'histoire ete. Paris 1913. S. 275. Baco fand dass 
„die Modernen sich irren“, wenn sie Aristoteles immer und immer erweitern 
und übertreiben. 


- 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 27 


als einander nicht widerstreitenden, sondern ergänzenden 
oder bekräftigenden Erkenntnisquellen, war in der Kirche 
seit mehr als einem Jahrtausend viel verhandelt worden.! 
Aber dass dennoch eine massgebende Lehre von der na- 
türlichen Theologie doch erst von Thomas geschaffen 
wurde, hat zwei Hauptgründe, einmal die Weiterbildung 
des Aristoteles, der betreffs der Schlüsse auf die Gottesidee 
aus der Welterkenntnis bestimmtere Anknüpfungspunkte 
bot, weiter den durchgeführten Intellektualismus des Aqui- 
naten, durch welchen er natürliche Welterkenntnis und 
wunderbare Glaubenserkenntnis auf dieselbe Ebene setzte, 
um dann jede in ihrer Tragweite schärfer als früher zu unter- 
scheiden.” Durch Addition der zwei Grössen: natürlicher 
und übernatürlicher Erkenntnis, kommt die Theologie zu- 
stande. Die natürliche Gotteserkenntnis umfasst nicht die 
Artikel des Glaubens, sondern ist als eine Einleitung 
zu ihnen aufzufassen. In der Behauptung der Unfähigkeit 
der Vernunft, die Dreieinigkeit und die Inkarnation zu 
erfassen, ging Thomas weiter als z. B. Anshelm vor ihm. 
Aber die Vernunft gibt doch eine wirkliche Gewissheit 
von Gott. Fünf Gottesbeweisen mass Thomas Denk- 
notwendigkeit zu. In seiner kürzeren, früheren und per- 
sönlicheren Darstellung des Christentums, der Summa 
contra Gentiles? sind nicht weniger als drei von den 
vier Büchern der natürlichen Religion gewidmet.” Zu der 


! Von der grundsätzlichen Übereinstimmung in dieser Hinsicht zwischen 
mittelalterlichen Theologen wie Anshelm und Hugo S:t Victor, und Augustin | 
siehe R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte LI’, 154, 179 f. 

? Seeberg 1. c. 353, 619. 

3 P, H. Wicksteed, Dante and Aquinas. London 1913. S. 97 f. 

í Gegen die Heiden konnte sich nämlich Thomas nicht auf die Auto- 
rität der Offenbarung stützen. Sancti Thome Aquinatis de veritate 
catholice fidei contra gentiles. Opera omnia V Parma 1855. Liber I, 
Caput 2; Quia qnidam eornm (Gentilium), ut Mahumetiste et Pagani, non 
conveniunt nobiscum in auctoritate alicuius scripture, per quam possint convinci; 


28 Nathan Söderblom 


Offenbarung wurde mit Material aus Aristoteles ein Vorhof 
gebaut, der bis vor hundert Jahren auch in der evangelischen 
Theologie da stand, und ehe er niedergerissen wurde, durch 
den Deismus das Heiligtum selbst in sich aufgenommen 
hatte. Aristoteles, schon von Monophysiten als Heiliger 
und dreizehnter Apostel angesehen, wurde jetzt der mittel- 
alterlichen Theologie „ein Vorläufer Christi in den natürlichen 
Dingen, wie der Täufer es in den Dingen der Gnade war.“ 

Trotz der Einsprüche der Nominalisten, welche die 
Gültigkeit der Gottesbeweise leugneten, und nur die Auto- 


sicut contra Judaos disputare possumus per Vetus Testamentum; contra 
haereticos, per Novum. Hi vero neutrum recipiunt. Unde necesse est ad natura- 
lem rationem recurrere, cui omnes assentire coguntur; qua tamen in rebus 
divinis deficiens est. Die Verteilung der Offenbarung und der natürlichen 
Religion wird folgendermassen vollzogen. Cap. 3: Est autem in his, quæ de 
Deo confitemur, duplex veritatis modus. Quaedam namque vera sunt de Deo, 
qua omnem facultatem humane rationis excedunt, ut Deum esse trinum et 
unum. Quædam vero sunt, ad quæ etiam ratio naturalis pertingere potest, 
sicut est Deum esse, Deum esse unum, et alia huiusmodi; que etiam 
philosophi demonstrative de Deo probaverunt, ducti naturalis lumine rationis. 
IV, 1: In precedentibus de divinis sermo est habitus, secundum quod 
ad cognitionem divinorum naturalis ratio per creaturas pervenire potest; im- 
perfecte tamen et secundum proprii possibilitatem ingenii, ut sic possimus 
dicere cum Job: Ecce hee ex parte dicta sunt viarum eius. 

Restat autem sermo habendus de his, que nobis revelata sunt divinitus 
ut credenda excedentia intellectum humanum. 

Schon bei Thomas findet sich der Gedanke, dass die Fähigkeit der 
Vernunft Gott zu erkennen keineswegs die Universalität der Gotteserkenntnis 
verbürgt. Im Gegenteil bringt die Offenbarung eine allgemeinere Gottes- 
erkenntnis hervor. I, 4 wird von den Misslichkeiten gesprochen, welche 
folgen würden, wenn die Offenbarung nicht da wäre. Unum est quod paucis 
hominibus Dei cognitio inesset. A fructu enim studios® inquisitionis, qui 
est veritatis inventio, plurimi impediuntur tribus de causis. 1. Multi naturaliter 
sunt indispositi ad sciendum. 2. Quidam impediuntur necessitate rei familiaris. 
3. Quidam pigritia. Vgl. J. Butler, The Analogy of Religion (Methuen's 
Standard Library 1906 S. 30): Gott zeigt in seiner Weltregierung, dass sie 
gerecht und sittlich ist. Das leuchtet freilich nur wirklich denkenden Menschen 
ein, nicht demjenigen, der der Sache eine flüchtige Aufmerksamkeit widmet. 
Somit treffen die gegen die offenbarte Religion gerichteten Einwände, dass 
sie nicht universell ist, ebensowohl die natürliche Religion. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 29 


rität der Schrift und der Kirche anerkannten, und ihres 
Schüler Luthers, behauptete sich Thomas’ Schema in 
grossem und ganzem bis zur Aufklärung; in der katholischen 
Theologie herrscht es noch heute, von dem Papst, d. h. 
von der Kirche, feierlicher als je als authentische Auslegung 
des Glaubens anerkannt und festgestellt. Die folgenden 
Jahrhunderte reproduzierten die Lehre von natürlicher und 
geoffenbarter Theologie, freilich mit dem Unterschied, dass 
bei Melanchthon und den lutherischen Dogmatikern die 
heilige Schrift als Text der Wahrheitserkenntnis eine 
absolute Stellung einnahm.! In Hollazii Examen theo- 
logicum? lesen wir z. B., dass die Theologie zweifach ist, 
natürliche und geoffenbarte. Die Übereinstimmung aller 
Heiden bekräftigt den Gottesglauben. Cicero, die Platoniker 
und Andere werden angeführt. In solcher Weise gehörten 
bis vor hundert Jahren die heidnischen Autoren zu dem 
Beweismaterial der Dogmatik betreffs der natürlichen Theo- 
logie. 

Zu jeder Zeit hat in der Kirche das starke Gefühl für 
die Übernatürlichkeit des Heils Einspruch gegen die Fähigkeit 
der Vernunft erhoben, selbst in dem beschränkten Masse, 
das die Kirchenlehre nach Thomas ihr zuerkannte. Die 
Anfänge der modernen Philosophie sind mit einem der- 
artigen Widerstreit gegen die Tragweite der Vernunft ver- 
bunden. Als Descartes es unternahm, die Wahrheiten der 


! E. Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und 
Melanchthon 1891. 

2 Prol. I Quest. 11: Quotuplex est theologia viatorum? Theologia via- 
torum est duplex, naturalis et revelata. Illa est, qua Deus tum ex notitiis 
insitis, tum ex intuitu rerum creatarum innotescit. Hæc est notitia de Deo 
et rebus divinis, quam Deus vel per immediatam revelationem, sive inspira- 
tionem; vel per revelationem mediatam, seu verbum divinum litteris con- 
signatum hominibus viatoribus communicat. In Articulo de Deo wird die 
natürliche Gotteserkenntnis weiter ausgeführt (Quest. 5). Dividitur in insitam 
et acquisitam. Accedit gentilium omnium consensus. 


30 Nathan Söderblom 


natürlichen Religion: die Existenz Gottes und die Un- 
sterblichkeit, zu beweisen, wusste er sich in Übereinstimm- 
ung mit der kirchlichen Anschauung. Aber man kennt 
die derben Worte, welche sein jüngerer Zeitgenosse Pascal, 
der sonst sein Werk hoch schätzte, gegen ihn gerichtet hat. 
Er wollte ,,écrire contre ceux qui approfondissent trop les 
sciences. Descartes.“' Er schreibt: „Je ne puis pardonner 
a Descartes: il aurait bien voulu, dans toute sa philosophie, 
pouvoir se passer de Dieu, mais il na pu s'empêcher de 
lui faire donner une chiquenaude, pour mettre le monde 
en mouvement; après cela il n'a plus que faire de Dieu.“? 
„Tous ceux qui ont prétendu connaitre Dieu et le prouver 
sans Jésus-Christ n’avaient que des preuves impuissantes.““ 
Er zürnt denjenigen die wollen, dass man die Wahrheit 
glaubt, wenn sie sie beweisen, was Jesus Christus nie getan 
hat. Nun sind die Ansprüche der Vernunft, Gott zu be- 
weisen, eigentlich eine Lästerung.* Aber derartige Wider- 
sprüche haben die natürliche Theologie nicht zerstört. Im 
Gegenteil hat sie nach Pascal ihren Höhepunkt erreicht. 

. Gegenwärtig nach Schleiermacher wird die Diskussion 
über die natürliche Religion im althergebrachten Sinne 
eigentlich nur noch von der katholischen Theologie fort- 
gesetzt. Man streitet wie im Mittelalter darüber, ob die 
ersten Menschen eine Zeitlang der gratia sanctificans ent- 
behrten, um eine solche übernatürliche Gottesgabe eventuell 
später sich zu verdienen und zu bekommen, oder ob sie 
die gratia sanctificans vom Beginn an besassen. Die letztere 
Ansicht gelangte durch Thomas ab Aquino zu Herrschaft, 
ohne jedoch jemals kirchlich festgestellt zu werden. Die 


1 Éd. Astie. S. 269. 

* 1. c. 276. 

3 1. e. 507. 

* Vgl. L. Brunschvieg in Foi et Vie XVI, S. 336 ff. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 31 


andere Ansicht, dass die Ubernatur nicht von Anbeginn 
den ersten Menschen zu Teil wurde, hatte schon vor Thomas 
namhafte Vertreter, wie Hugo von St. Victor und Petrus 
Lombardus, und ihr schliessen sich mehrere katholische 
Theologen der Gegenwart an. So schreibt Pater C. Pesch,' 
dass die Kirche erklärt, „dass der übernatürlichen Offen- 
barung eine natürliche Gotteserkenntnis, wenigstens dem 
Begriffe nach, vorausgehen müsse“. Dabei ist die Bestrebung 
nicht zu verkennen, die Lehre von der Uroffenbarung in 
möglichste Übereinstimmung mit den von der Ethnographie, 
der Religionsgeschichte und der Archäologie gegenwärtig 
herbeigeführten Tatsachen und Schlussfolgerungen zu 
bringen. 

Als offizielle katholische Lehre wird immer behauptet 
und wiederholt: ,,Rationatio Dei existentiam cum certitudine 
probare valet.“ Verneinung dieser natürlichen Gottes- 
gewissheit wurde noch neuerdings in den Massregeln wider 
die Modernisten in feierlichster Weise abgewiesen und 
verurteilt. 

Als das reifste und noch heute lesenswerteste Erzeugnis 
der kirchlichen Unterscheidung zwischen natürlicher und 
geoffenbarter Religion darf wohl das klassische Buch vom 
anglikanischen Pfarrer Joseph Butler, später Bischof von 
Durham, The Analogy of Religion natural and revea- 
led to the Constitution and Course of Nature, zum 
ersten Mal erschienen im Jahre 1736, angesehen werden. Das 
Buch hat zwei Teile, einer behandelt die natirliche Religion, 
der andere das Christentum. Dieser Unterschied fallt far den 
Verfasser mit der Ordnung der Glaubensartikel zusammen. 
Der erste Artikel von Gott gehört der natürlichen Erkenntnis, 


1 Gott und Götter, Freiburg in B. 1896. S. 78, nach Pater W. Schmidt, 
Der Ursprung der Gottesidee I, Münster 1912. S. 151. 


32 Nathan Söderblom 


der zweite und der dritte der Offenbarung.’ Die Offenbarung 
im Christentum hat einen doppelten Zweck, erstens als 
„eine Republikation und äussere Einsetzung der natürlichen 
oder wesentlichen Religion, den gegenwärtigen Verhältnissen 
der Menschheit angepasst, beabsichtigend natürliche Fröm- 
migkeit und Tugend zu fördern; und zweitens als eine Er- 
zählung von Dingen, die nicht von der Vernunft entdeckt 
werden können, und infolge welcher eine Anzahl besonderer 
Gebote uns auferlegt sind.“ Nur die erste dieser Aufgaben 
der positiven Religionseinrichtung, nämlich als Mittel der 
Vernunftreligion zu dienen, hat Kant in seiner Religion 
innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft in etwas 
anderer Weise anerkannt. Darin liegt der Unterschied 
dieser Periode und der folgenden. 

Butlers Schrift erschien als Widerlegung von längst in 
England vernommenen, mehr oder weniger offenen Angriffen 
gegen die Offenbarung. Der Verfasser hat in seiner Vor- 
rede darüber Worte, die uns sehr modern anmuten. Die 
Falschheit des Christentums sei nach der Ansicht des ge- 
bildeten Publikums endlich entdeckt und als selbstverständ- 
lich hingenommen.” So viel hatte Butler von den Zweifeln 
und den erkenntnistheorelischen Diskussionen seiner Zeit 
gelernt, dass er die religiösen Wahrheiten nicht förmlich 
beweisen, sondern nur als in höchstem Grade wahrscheinlich 
erscheinen lassen wollte. 


! In Methuen’s Standard Library, London 1906. S. 97. 

2 „It is come, I know not how, to be taken for granted, by many 
persons, that Christianity is not so much as a subject of inquiry; but that it 
is, now at length, discovered to be fictitious. And accordingly they treat it, 
as if, in the present age, this were an agreed point among all people of 
discernment; and nothing remained but to set it up as a principal subject 
of mirth and ridicule, as it were by way of reprisals, for its having so long 
interrupted the pleasures of the world.“ 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 33 


II. 


„Alle Religion ist natürliche Religion“. 


Zwei bedeutende Religionsforscher der Gegenwart mit 
sehr verschiedenen persönlichen Anschauungen haben 
neuerdings beweisen wollen, dass die neue Zeit auch für 
die Religionsauffassung nicht mit Luther und der Re- 
formation, sondern mit der neuen Denkweise anhebt, die 
in 17ten Jahrhundert sich zu verbreiten begann. Ich meine 
Francois Picavet in „Esquisse d’une histoire generale et 
comparée des philosophies médiévales Paris 1905“! und 
Ernst Troeltsch in seiner grosszügigen Geschichte des 
Protestantismus in der „Kultur der Gegenwart“. Was das 
Weltbild und die wissenschaftliche Anschauung betrifft, ist 
das selbverständlich zutreffend, somit auch für die Frage, 
die wir hier behandeln, aber nicht, wenn man das innere 
Gemütsleben der Religion ansieht. Mit der Epoche des 
Deismus und der Aufklärung beginnt für den Begriff 
natürliche Religion eine neue Zeit. Die alte Distinktion 
zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion wurde in 
der Tat auch weiterhin inne gehalten. Aber die Grenze 
zwischen Vernunft und Offenbarung verschob sich zu Gunsten 
der menschlichen Vernunft. 

Das war schon bei den frühen radikaleren Aristoteli- 
kern des Mittelalters wie bei etlichen Männern der Re- 
naissance der Fall gewesen. „Schon die von Thomas be- 
kämpften lateinischen Averroisten des 13ten Jahrhunderts 
vertraten heterodoxe Thesen über den Intellect, dessen 
Schlussverfolgerungen der Vernunft denknotwendig sind; 


1S. 87. Vgl. Essais sur l'histoire générale et comparée des theologies 
et des philosophies médiévales, Paris 1913. 


3. — Beiträge zur Rel. Wiss. I, 1. 


34 Nathan Söderblom 


doch behielten sie im Namen des Glaubens die orthodoxen 
Antithesen bei: sie geben aber zu verstehen, dass die Ver- 
nunft von sich selbst aus die vom Glauben entschiedenen 
Fragen beantworlen kann».' Jedoch erst im englischen 
Deismus, in Frankreich und in der deutschen Aufklärung 
gewann diese Anschauung entscheidende Bedeutung. 
Während der zwei langen ersten Perioden — wenn man 
nicht vorzieht den schon von uns behandelten Zeitraum in 
der Geschichte der natürlichen Theologie als eine einzige, 
durch die Vorbereitung und dann die fertige Formulierung 
dieses Begriffes gekennzeichnete Periode, zusammenzufassen 
— hatten sich Vernunftreligion und Offenbarung wenigstens 
im Allgemeinen im Prinzip gut oder doch leidlich ver- 
tragen. Am Ende war jeder ein eigenes, hinreichendes 
Gebiet zugewiesen worden. Jetzt trat mit dem Deismus, 
der englischen religiös-radikalen Schriftstellerei und der 
Aufklärung ein anderes Verhältnis ein. Zunächst blieb 
es oft unklar, wie verhängnisvoll diese neue Theorie für 
den Glauben an eine übervernünftige oder irrationelle Offen- 
barung sei. Denn die Verschiebung zwischen Vernunft 
und Offenbarung zu Gunsten der ersteren vollzog sich aus 
verschiedenen, sogar entgegengesetzten Absichten. Wurde 
die Offenbarung als unnölig hingestellt, so konnte das zur 
vermeintlichen Unterstützung des Christentums geschehen, 
was ja auch hauptsächlich der Fall gewesen ist. Alle die 
christlichen Wahrheiten, so meinte man, lassen sich von 
der Vernunft beweisen. Um so unverantwortlicher, dem 
Christentum nicht zu huldigen. Man nahm sich vor, das 
Christentum als vernunftnotwendig zu erweisen, sei es 
elwa durch Ausmerzung einiger besonders unbequemer 
Erzählungen und Lehren oder durch symbolische oder 


1 Picavet, Esquisse, S. 39. Cfr 212, 220. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 35 


rationalistische Umdeutung. Oder man spielte das ur- 
sprüngliche, reine, echte Christentum gegen das spätere, 
von Wundern und Dogmen und anderem unvernünftigem, 
angehängtem Kram entstellte Lehrsystem und Kirchenwesen 
in scharfer Polemik aus. | 
Dabei hat man auch im siebzehnten Jahrhundert den 
Platonismus als eine Entstellung des echten Christentums 
aus der Kirche ausscheiden wollen. Das wichtigste Zeugnis 
ist Souverain’s Platonisme devoile, im Jahre 1700 nach 
dem Tode des gelehrten und scharfsinnigen Verfassers 
erschienen. Schon die ältesten Väter haben nach ihm Jesus 
Christus „theologisiert“.! Schon bei Justinus und Irenäus 
kann man kaum “die reine Lehre der Apostel von ihren 
platonisierenden Spekulationen trennen“.? Gefährlich wurde 
diese Vergötterung erst, als Klemens von Alexandria und 
seine Nachfolger dem Platonismus zur Herrschaft in der 
Kirche verhalfen. „Le dogme platonicien n’est pas entré 
de plein saut dans la Religion Chretienne. Cela sentirait 
trop innovation. Il s'est glissé peu-A-peu par voie d’ex- 
plication et dillustration. On n’a pas voulu changer la 
religion; on n’a prétendu autre chose que de l’embellir, 
et de l’accommoder au goût des philosophes.“® Und zwar 
nahm man nicht den gereinigten, schlichten Platonismus‘, 
sondern der „grobe Platonismus“,° der die göttlichen Eigen- 
schaften hypostasiert hatte, überwucherte das Christentum, 
und wurde allmählich ‚die einzige Regel, nach der man 
Wahrheit und Irrtum unterschied“. Souverain scheute sich 
nicht die stattliche Reihe der platonisierenden Väter 
1 Die grösste Schuld hatten infolge 
ihres Einflusses Origenes und Augustinus, welche nicht 


Gnostiker zu nennen. 


nur die Masse sondern auch alle nach ihnen kommenden 


1 S. 293 ff. ? S. 83. 3 316 f. * 199. ĉ 119. č 176, 382. 7 83. 


36 Nathan Söderblom 


Gelehrten in ihre Ansichten einbezogen. In dieser Weise 
bekam die Kirche über Jesus Christus eine heidnische 
Lehre.! Die allegorische Auslegung, welche allein ermög- 
lichte, dass man sogar in den schlichten Worten der Bibel 
platonische Spekulationen erkannte, kann Souverain nicht 
ausdrücklich genug verpönen.? 

In einer, gegen die supranaturale Anschauung durchaus 
freundlichen Weise wurde eine Verteidigung des Christen- 
tums von dem grossen Philosophen des siebzehnten Jahr- 
hunderts John Locke (} 1704) ausgeführt in seinem ano- 
nymen Buche: Reasonableness of Christianity 1695, 
in dem er die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit des 
Christentums den auseinander gehenden Dogmen und 
Kirchenlehren gegenüber wiederherzustellen versuchte. 
Bedeutsam ist in diesem Werke auch des Verfassers Beur- 
teilung der nichtbiblischen Religionen. 

Kirchlicherseits verteidigte man bisweilen das Christen- 
tum in einer Weise, welche seinem Offenbarungscharakter 
hätte tödlich sein können. P. Berranger veröffentlichte im 
Jahre 1728 seine Histoire du peuple de Dieu jusq au 
Messie? und fünf und zwanzig Jahre später die Fortsetzung: 
Histoire du peuple de Dieu depuis la venue du 
Messie, 1758 erschien ein Appendix in Latein. Die Bücher 
wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erlebten mehrere 
Auflagen, die letzte 1851. Im Vorworte zum ersten Teile 
äusserte Berranger den Gedanken, dass es eine natürliche 
Religion wohl geben könne, und dass diese Religion auch 
ausreiche. Die Offenbarung sei eigentlich überflüssig, eine Art 
von verschwenderischer Güte Gottes. . Ein alter beliebter Ge- 
danke wurde hier in radikaler Weise weitergeführt. So hatte 
. schon der grosse Thomas“ gelehrt, Gott habe in seiner 


1243. *Z. B. 119, 195, 199 ff. 3 1734 auf den Index gesetzt. * Sum- 
ma contra gentiles, I 4. 


Nattirliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 37 


Barmherzigkeit in der Offenbarung auch der Vernunft zu- 
gängliche Wahrheiten mitgeteilt, um dem gemeinen Mann 
die Gewissheit zu erleichtern. Das im Grunde überflüssige 
gute Werk Gottes wird von Berranger auf die ganze Glaubens- 
lehre ausgedehnt. Das hebräische Volk ist erwählt worden, 
um ein wenig besser als die anderen Völker die ihm anver- 
traute Wahrheit zu bewahren, welche die anderen Nationen 
beinahe ebensogut bewahrten. Der Verfasser wurde natür- 
lich verdammt, aber die Jesuiten haben die Sache sehr 
milde behandelt. Für die liberale Anschauung, die auch in 
kirchlichen Kreisen den anderen Religionen gegenüber zur 
Geltung kam, sind seine Bücher charakteristisch. 

Noch einen Schritt weiter, und dieselbe Grundanschau- 
ung konnte sich auch gegen das Christentum richten. Die 
radikalere Richtung der Vernunftgläubigen stellte die schlichte 
und erhabene Religion der natürlichen Vernunft als die 
ewige Wahrheit dem Zerrbild des angeblich übernatürlichen 
und übervernünftigen christlichen Religionssystems gegen- 
über. Der Wahn des Wunders und der Offenbarung sollte 
vor der aus Natur- und Weltbetrachtung hergeleiteten Ueber- 
zeugung von den hellen Vernunftwahrheiten über Gott und 
Unsterblichkeit wie Nebel vor der Sonne, weichen. Die 
positive Religion und der Offenbarungsglaube wurde sogar 
für eigennützige Erfindung der Priester erklärt, die den 
ewigen, in der alten Weisheit Asiens, oder bei den unver- 
dorbenen Naturkindern in seiner Reinheit fortlebenden Ver- 
nunftglauben verdorben hätten. In England, wo man die 
geistigen, wie die sozialen Strömungen des Kontinents in 
der Regel vorweggenommen hat, hatte man, wie wir in 
dem angeführten Passus aus J. Butler's Vorwort zu der 
Analogy gesehen haben, schon am Ende des siebzehnten 
und zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts alles gesagt 
— und noch etwas mehr — was bei einem solchen Stand- 


38 Nathan Söderblom 


punkte gegen positive Religion und Offenbarung überhaupt 
gesagt werden kann und gesagt worden ist. Bedeutsam ist, 
dass man schon damals weitgehende Parallellen und Schlüsse 
aus fremden Religionen heranzog. Weniger interessiert uns 
hier die Weise, in welcher nicht-christliche Kulte und Mythen 
angeführt wurden, sei es, um die ewigen, allen vernünftigen 
Wesen gemeinsamen Wahrheiten zu bestätigen, oder um 
die biblischen Wundererzählungen und Einrichtungen der 
Kirche durch Analogien aus dem Heidentum zu entkräften. 
In allen Zeiten sind Parallellen und Ähnlichkeiten in dieser 
entgegengesetzten Weise ausgebeutet worden. Man findet 
es sehr erfreulich, dass ähnliche Vorstellungen und Vor- 
schriften wie die biblischen und christlichen sich auch 
anderwärts finden und somit neue Beweise für deren Wahr- 
heit darstellen. Oder man findet es im Gegenteil ver- 
hängnisvoll; denn, sagt man sich, wenn ähnliche Dinge 
und Lehren auch anderswo vorkommen — wo bleibt dann 
der Vorzug des Christentums? In diesem Zusammenhange 
ist für uns bemerkenswert das überaus lebhafte Interesse 
für andere Religionen und Völker, das das siebzehnte und 
noch mehr das achtzehnte Jahrhundert zeigte. 

In einem Falle gewann dieses Interesse eine gewisse, 
obgleich vorübergehende, positive Bedeutung für die abend- 
ländische Zivilisation. Ich meine die zu einem grossen 
Teil durch die Jesuiten vermittelten Kenntnisse von China 
und die Begeisterung für seine altehrwürdige Kultur. 
Leibniz teilte mit seinem Zeitalter die Schwärmerei für 
Chinas Weisheit ebensowohl wie den Glauben an die natür- 
liche Religion. Wie Locke und so viele andere noch in 
dieser Epoche hegte er aber nicht die antisupranaturale 
Denkweise, welche sonst stark hervortritt. Einem Leibniz 
hatte das Abendland vor den Chinesen den unvergleichlichen 
Vorzug der Offenbarung. Aber auf der anderen Seite schlug 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 39 


er die Ueberlegenheit der Chinesen in der natürlichen Re- 
ligion so hoch an, dass er bei einer zunehmenden Ver- 
schlechterung der Sitten eine Belehrung Europas in der 
natürlichen Religion durch chinesische Missionare in Aus- 
sicht nahm.! 

Aber es fehlte auch unter den Chinaverehrern nicht an 
solchen, die den Offenbarungsglauben unter die abergläu- 
bischen Vorstellungen rechneten, die durch die chinesische 
Weisheit beseitigt werden sollten. Es ist in der Tat sehr 
bezeichnend gewesen, dass die exotischen Sympathien sich 
nicht einer positiven Religion, sondern eher einem ziemlich 
abgeblassten Deismus und Moralismus zuwandten. 

Einen wärmeren Anstrich und reicheren Inhalt erhielt 
die natürliche Religion bei Rousseau. Nicht den verstandes- 
mässigen Chinesen, sondern dem eingebildeten Glück der 
kulturlosen Naturmenschen widmete er seine Bewunderung. 
In seinem Discours sur cette question: Le retablis- 
sement des sciences et des artsa-t-il contribué a 
épurer les moeurs, schrieb er: „Ilesten Asie une contrée 
immense où les lettres honorées conduisent aux premières 
dignités de l’Etat. Mais — il n’y a point de vice qui ne 
les domine, point de crime qui ne leur soit familier.“ 
Und in der Nouvelle Héloïse gab er von dem so 
bewunderten Chinesen die folgende grausame Beschrei- 
bung: „lettré, lâche, hypocrite et charlatan“. Glücklicher- 
weise ist Rousseau doch auch in dieser Sache nicht 
konsequent geblieben, sondern zollt an anderer Stelle 
der Gerechtigkeit des chinesischen Staatswesens seinen 


! Er schrieb im Vorworte zu Novissima sinica 1697: ,,Talis nostrarnm 
rerum mihi videtur conditio, glissentibus in immensum corruptelis, ut prope- 
modum necessarium videatur, Missionarios Sinensium ad nos mitti, qui Theo- 
logie naturalis usum praxingue nos doceant, quemodmodum nos illis mittimus, 
qui theologiam eos doceant revelatam“, 


40 | Nathan Söderblom 


Respekt! Was die bald mit den Chinesen in der Be- 
geisterung des gebildeten Europas erfolgreich wetteifernden 
Naturmenschen betrifft, so muss man hinzufügen, dass die 
allen verschiedenen Religionsformen zu Grunde liegende 
eine, einfache Naturreligion,? die Rousseau mit den Grund- 
lehren des von Wundern gereinigten Evangeliums identi- 
fizierte, für ihn ebensosehr ein Idealbild war, wie eine wirklich 
bei den Wilden vorhandene Tatsache. Aber man lebte 
nicht umsonst im Zeitalter von Daniel Defoe’s 1719 er- 
erschienem Robinson Crusoe und der bis auf Chateaubriand 
fortgesetzten romantischen Reiseliteratur. Rousseaus Nach- 
folgern war es vorbehalten, die unverdorbene Reinheit der 
primitiven Gottesverehrung zu preisen, bis die Forschung 
dieser Liebhaberei im vorigen Jahrhundert ein unbarın- 
herziges Ende machte. 


Drei Umstände haben allmählich den schönen Wahn 
der natürlichen Religion aufgelöst: die Vernunftkritik eines 
Bayle, eines Hume und Anderer, die inhaltliche, psycho- 
logische und historische Erneuerung des Religionsbegriffes 
durch Schleiermacher und die nähere Kenntnis der wirk- 
lichen ausserbiblischen Religionen. 

David Hume (t 1776) wird gewöhnlich als der Be- 
endiger der deistischen Denkweise angesehen. Mit ihm 
begann durch seine psychologischen Erklärungsversuche, 
durch die Vorstellung von niedrigen Anfängen der Religion, 
und durch seine theoretische Untergrabung des Deismus 
eine neue Zeit für die Religionsforschung. Aber seine 


1 Vgl. H. Cordier, La Chine en France au XVIII:e siècle, Paris 1910. S. 121 f. 

2? Siehe Profession de foi du vicaire savoyard: „Vous ne voyez dans 
mon exposé que la religion naturelle: il est bien étrange qu'il en faille une 
autre?“ „Les plus grandes idées de la divinité nous viennent par la raison 
seule. Voyez le spéctacle de la nature, écoutez la voix intérieure.“ Émile, 
Paris Garnier, nouv. éd. S. 332 f. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 41 


Stellung zur natürlichen Theologie ist alles andere als klar. 
Troeltsch schreibt von ihm,' dass „er sich von dem an 
die natürliche Theologie der Dogmatik angelehnten ratio- 
nalen Gottesbegriff endgiltig befreit“ habe. Es mag im 
Prinzip wirklich so sein. Man denke an seine in den (1751 
geschriebenen, aber erst nach seinem Tode veröffentlichten) 
Dialogues on Natural Religion an den landläufigen 
Beweisen von Gottes Existenz geübte Kritik, oder an den 
skeptischen Schluss seiner Natural history of religion 
1757,der uns ganz modern anmutet: „Das Ganze ist ein Rätsel, 
ein unerklärliches Mysterium. Zweifel, Unsicherheit und 
die Erkenntnis, dass wir in diesen Fragen kein Endurteil ab- 
geben können, scheinen das einzige Resultat unsrer genauesten 
Forschungen auf diesem Gebiete zu sein. Aber so schwach ist 
die menschliche Vernunft und so unwiderstehlich die be- 
stehende Macht der geläufigen Meinungen, dass dieser ver- 
ständige Zweifel kaum aufrecht erhalten werden könnte, 
wenn wir nicht unsern Blick durch die Zusammenstellung 
eines Aberglaubens mit dem andern und durch die Wahr- 
nehmung ihrer Streite unter einander erweiterten, während 
wir selbst, so lange der Streit rast, zufrieden sind, unsre 
Zuflucht zu dem ruhigen wenn auch dunklen Gebiet der 
Philosophie zu nehmen.“ Aber auf der anderen Seite haben 
wir in dem selben Buche Äusserungen wie diese:. „Die ganze 
Beschaffenheit der Natur weist auf einen vernünftigen Ur- 
sprung hin, und kein vernünftiger Forscher kann nach 
ernstlicher Überlegung den Glauben an die Lehrsätze 
des echten Theismus und der Religion auch nur für einen 
Augenblick aufgeben.“ Das schöne Reden des Verfassers 
vom echten Theismus mag mit einem gewissen Rechte als 
Verbeugungen? des vorsichtigen Weltmannes vor der herrsch- 


ı P. R. E IV, 548. 
3 Vgl. A. Thomsen, David Hume I, Copenhagen 1911, und David Hume, 
Religionens naturlige Oprindelse og Udvikling, Copenhagen 1906. 


42 Nathan Söderblom 


enden Denkweise der Zeit und vor seiner Kirche bezeichnet 
werden. Solche Versicherungen hindern uns jedoch, Hume 
als den endgiltigen Beseitiger der natürlichen Theologie 
zu bezeichnen. Es fehlte ihm eben, bei allem Scharfsinn, 
psychologischem Blicke und bei allen Kenntnissen allzusehr 
das kongeniale Gefühl für den Geist der Religion, um die 
Auffassung des Deismus durch einen konkreteren und exak- 
teren Religionsbegriff ersetzen zu können. Eine nur negative 
Kritik hat nie eine Anschauung aufzuheben vermocht. 
Tiefer griff Schleiermacher. 

Aber ehe wir zu ihm und der modernen Auffassung 
übergehen, müssen wir an das klassische und unvergäng- 
liche Erzeugnis der stolzesten Periode der natürlichen Theo- 
logie wenigstens erinnern. Sechs Jahre vor dem Erscheinen 
der Reden über die Religion hatte Kant 1793 Die Religion 
innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft ver- 
öffentlicht, ein Buch das neben der Profession de foi du 
vicaire savoyard den höchsten Ausdruck des Vernunft- 
glaubens darstellt. Rousseaus Bildnis schmückte Kants 
Arbeitszimmer. Der Offenbarung liess auch Kant nur 
den pädagogischen Zweck, den der blossen Vernunft 
erreichbaren Erkenntnissen der allein wahren natürlichen 
Religion frühere Anerkennung und weitere Ausbreitung zu 
verschaffen. 


IV. 


Es giebt keine natürliche Religion. 


Was die Kritik eines Hume nicht vermocht hatte, das 
tat Schleiermacher in seiner fünften Rede über die Religion 
ein halbes Jahrhundert später. Der Wert von Schleier- 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 43 


machers Kritik liegt in ihrem positiven Gehalt. Es genügte 
nicht, die Schwächen der sog. Beweise für das Dasein 
Gottes und die abgeblasste Haltlosigkeit der natürlichen 
Religion aufzudecken. Das Wesen der Religion musste 
tiefer begründet werden. Und das wurde in Schleiermachers 
zweiter Rede geleistet. Aus dem so gewonnenen neuen 
Ausgangspunkte, einer tieferen und religiösen Auffassung 
der Frömmigkeit, wurde eine religiöse Kritik der Vernunft- 
religion hergeleitet, unvergleichlich wirksamer als jede nur 
negative Kritik Religion muss ihrem Wesen nach immer 
positiv sein. „Erinnert euch, was die Dichter von einem 
Zustande der Seelen vor der Geburt reden; wenn sich eine 
solche gewaltsam wehren wollte in die Welt zu kommen, 
weil sie eben nicht Dieser oder Jener sein möchte, sondern 
ein Mensch überhaupt; diese Polemik gegen das Leben ist 
die Polemik der natürlichen Religionen gegen die positiven, 
und dies ist der permanente Zustand ihrer Bekenner.‘“ 
„Das Wesen der natürlichen Religion besteht ganz eigent- 
lich in der Negation alles Positiven und Charakteristischen 
in der Religion, und in der heftigsten Polemik dagegen.‘ 
Die Vielheit der Religionen ist im Wesen der Religion 
begründet.” (Schleiermacher beweist die Notwendigkeit 
dieser Mehrheit in einer Weise, welche einigermassen an 
die Apologie des Thomas Aquinas in der Summa für die 
diversitas religionum, d.h. für die Vielheit der Ordensregel, 
erinnert.) Nur das konkrete, lebendige Gebilde einer posi- 
tiven Religion kann dem Geiste genügen. „Die sogenannte 
natürliche Religion ist gewöhnlich so abgeschliffen, und 
hat so philosophische und moralische Manieren, dass sie 
wenig von dem eigentümlichen Charakter der Religion durch- 
schimmern lässt, sie weiss so artig zu leben, sich ein- 


1 W., Otto's Jubiläum-Ausgab. S. 152. 2? l, e. 151. >” 182. 


_ 


44 Nathan Söderblom 


zuschränken und sich zu fügen, dass sie überall wohl 
gelitten ist: dagegen jede positive Religion gar starke Züge 
und eine sehr markierte Physiognomie hat, so dass sie 
bei jeder Bewegung, welche sie macht, und bei jedem Blik, 
den man auf sie wirft, unfehlbar an das erinnert, was sie 
eigentlich ist.“ Eine positive Religion bedeutet eine in 
einem besonderen ursprünglichen Bewusstsein des Univer- 
sums begründete geistige Individualität” Nur in einem 
solchen charaktervollen geistigen Leben kann der fromme 
Mensch selbst zu einiger fest gezeichneten religiösen Er- 
scheinung auswachsen. „Sowie kein Mensch als Individuum 
zur Existenz kommen kann, ohne zugleich durch denselben 
Aktus auch in eine Welt, in eine bestimmte Ordnung der 
Dinge und unter einzelne Gegenstände versetzt zu werden; 
so kann auch ein religiöser Mensch zu seiner Individualität 
nicht gelangen, er wohne denn durch dieselbe Handlung 
sich auch ein in irgend eine bestimmte Form der Religion.“@ 
Die „magre und dünne“* natürliche Religion leidet unter 
einer lebensunfähigen Allgemeinheit und Vieldeutigkeit, 
welche übrigens einem Zeitalter gut passt, dessen Stecken- 
pferd gine erbärmliche Allgemeinheit und eine leere Nüch- 


5 „Zweierlei hassen sie ganz vorzüglich: sie 


ternheit war. 
wollen nirgends beim Ausserordentlichen und Unbegreif- 
lichen anfangen.“ Diese natürliche Religion ‚ist keine be- 
stimmte Form, keine eigene individuelle Darstellung der 
Religion“. Ihre Bekenner haben keinen bestimmten Wohn- 
sitz im Reiche der Religion, sondern sie „sind Fremdlinge, 
deren Heimat, wenn sie eine haben, woran ich zweifle, 
anderswo liegen muss. Sie kommt mir vor, wie die Masse, 
welche zwischen den Weltsystemen dünn und zerstreut 


schweben soll.“ Die gerühmte natürliche Religion vermag 


1134 Vgl. 133. * 146, * 148. 4 150. ° 151. ° 149. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 45 


keine Mannigfaltigkeit stark gezeichneter religiöser Persön- 
lichkeiten zu erzeugen und zu erziehen. Die Religion spielt 
im Gemüte ihrer Bekenner „eine gar zu dürftige Rolle“. Wenn 
unter ihnen kräftige religiöse Charaktere vorkommen, findet 
man bei näherer Betrachtung, dass sie, „schon etwas von der 
ursprünglichen Reinheit der Vernunftreligion abgewichen 
und einiges Willkürliche und Positive in die ihrige auf- 
genommen“ haben.’ Zur Charakterlosigkeit der natürlichen 
Religion gehört auch, dass sie keine Geschichte hat, und 
keine eigene Geschichte der Religion und keine Denk- 
würdigkeit ihrer Anfänge zulassen will, während „religiöse 
Menschen durchaus historisch“? sind und „eine Wunder- 
geschichte vom Ursprung“ ihrer Religion erzählen können 
Seine Auffassung vom Verhältnis einer jeden positiven Reli- 
gion zum Wesen der Religion überhaupt, d.h. zum Überwältigt- 
sein von der Anchauung des Universums, fasst Schleier- 
macher in den folgenden Worten zusammen. „Die Grund- 
anschauung jeder positiven Religion an sich ist ewig, wie sie 
ein ergänzender Teil des unendlichen Ganzen ist, in dem Alles 
ewig sein muss; aber sie selbst und ihre ganze Bildung ist 
vergänglich“, insofern sie von besonderen geschichtlichen 
Bedingungen abhängig ist.‘ 

So herzhaft Schleiermacher in seiner Kritik der natür- 
lichen Religion für die lebendigen Gestalten der geschicht- 
lichen positiven Religionen eintritt, so wenig ist seine Dar- 
stellung an der Mannigfaltigkeit der wirklichen Religionen 
orientiert. Er geht nicht von einer Betrachtung der Religions- 
geschichte aus, sondern von einer vertieften Erfahrung 
und von einem reicheren Ausdrucke des frommen Innen- 
lebens. Das ist die Stärke seiner Kritik, aber auch seine 
Schwäche. Denn aus dem Wesen der Religion sollen eigent- 


1150. 2 154. 3 147. * 167. 


46 Nathan Söderblom 


lich die verschiedenen möglichen Typen der Religion her- 
geleitet werden, um dann in der wirklichen Geschichte auf- 
gesucht und wiedererkannt zu werden. ,,Der Mensch ist 
endlich und die Religion ist unendlich; aber Euch kann 
das auch nicht fremd sein, dass sie nicht etwa nur teilweise, 
so viel eben Jeder zu fassen vermag, unter den Menschen 
zerstükelt sein kann, sondern dass sie sich in Erscheinungen 
organisieren muss, welche mehr von einander verschieden 
sind.“ 

Ein verhängnisvolles Apriori ersetzt bei ihm noch die 
Kenntnis der verschiedenen Religionsgebilde. Die Karrikatur 
ist auch nicht ganz ausgeblieben. So hat ein schwedischer 
Schüler Schleiermachers, der spätere Kirchenhistoriker und 
Erzbischof Reuterdahl, als junger Theologe wirklich allen 
Ernstes den Satz vertreten: ,,Religio muhammedana mea 
quidam sententia non ita incommoda est hominibus, qui 
mansiones suas cum pascuis mutant, utpote formulis con- 
tenta simplicibus ac tali ratione vitae ambulantiae ac- 
commodata“, was freilich seinen Freund Thomander zu 
der scherzhaften Frage veranlasste, ob nicht den Lappen 
als Nomaden der Islam die angemessenste Religion sei. 

Von einer realistischen Betrachtung der Religions- 
geschichte war Schleiermacher noch weit entfernt, so tief 
und sicher er auch ins Wesen der Frömmigkeit hinein- 
blickte. Die romantische Vorstellung von der heiligen, 
reinen Urzeit war auch ihm nicht fremd. Aber trotz alle 
dem: die natürliche Religion war ein für allemal abgetan. 
Das gilt für die ganze nachfolgende Entwicklung und für 
alle Richtungen. Die natürliche Religion kommt z. B. in 
Thomasius’ Dogmatik nicht vor. Denn es ist etwas anderes 
wenn Thomasius eine gratia praeveniens im Heidentum 


1132, vgl. 137, 169. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 47 


anerkennt und eine Wahrheitserkenntnis, welche, bei einem 
Schüler von Hofmanns, nicht nur wie wir früher bei Paulus 
und in der Scholastik gesehen haben, Gewissen und Natur, 
sondern auch Geschichte zur Quelle hat! Wir brauchen 
uns hier nicht mit den wertvollen späteren Auseinander- 
setzungen über die „natürliche Religion“ zu befassen. Wir 
konstatieren nur, dass der Platz der natürlichen Religion 
leer darsteht. ,,Theologia naturalis nulla est.“ Wird er 
leer bleiben müssen? 

Die vierte, von Schleiermacher eingeleitete, Periode der 
Begriffe: natürliche Religion und natürliche Theologie, ist 
charakterisiert durch ein intensives Studium der positiven 
Religionen. Die Theologie ihrerseits hat mit Weglassung 
der Vernunftreligion die Eigenart des Christentums zu 
würdigen versucht, sie ist seinen Voraussetzungen, seinem 
Ursprung und seiner Geschichte eingehender als jemals 
nachgegangen. Eine schärfere Beobachtung nicht nur dessen, 
was Religion heisst, sondern zumal was innerhalb der Religion 
Christentum heisst, hat die gesammte evangelische Theo- 
logie des letzten Jahrhunderts seit Schleiermacher gelernt. 
Auf der anderen Seite sind die ausserbiblischen heiligen 
Urkunden, Religionssysteme und Kulte, unabhängig von 
der Theologie oder ohne klare Beziehung zu ihr und ohne 
anerkannten Platz im theologischen Studium, begünstigt 
durch die Zufuhr neuen Stoffes und angespornt durch 
nähere Beziehungen zu den indischen und fernasiatischen 
Kulturen, erfolgreicher und selbständiger als jemals von 
Philologen, Missionaren, Kolonialbeamten und Reisenden 
erforscht worden. Das Spezialistentum hat auch auf dem 
Gebiete der Theologie grosse Dinge geleistet. Der positive 
Charakter des Christentums als geschichtliche Religion in 


1 Christi Person und Werk. 1°. Erlangen 1886. S. 316, 309. 


48 Nathan Söderblom 


prägnanterem Sinne als irgend eine andere Religion, und 
die Merkmale des genuinen biblischen Glaubens und Lebens- 
idealsim Unterschiede von anderswoher stammenden Lehren 
und Sitten innerhalb der Christenheit wurden besonders 
von Ritschl und den grössten Namen seiner Richtung: 
Herrmann und Harnack, scharf hervorgehoben. Ich brauche 
nicht zu sagen, was die Theologie diesen Männern verdankt. 

Solche wirklichen oder vermeintlichen Unterschiede sind 
nicht nur als wichtige Errungenschaften der Forschung für 
die Erkenntnis unserer Religion geltend gemacht worden, 
sondern sie sind auch als ein Programm aufgestellt worden, 
nach dem insbesondere das mannigfaltige hellenische Erbgut 
im Dogma, in der religidsen Stimmung und der Lebens- 
führung ausgemerzt werden muss, um die evangelische 
Heilslehre in ihrer Reinheit zu rechter Geltung kommen zu 
lassen. Der in der alten Kirche schon schroff ausgepragte 
Unterschied in der Beurteilung der höheren im Christentum 
wirksamen religiösen Erzeugnisse des Hellenismus ist durch 
die ganze Geschichte der Kirche geblieben oder vielmehr 
in neuen Variationen immer wieder auferstanden.' Aber 
die Opposition gegen die Hellenisierung ist nie früher 
wissenschaftlich so tief und genial begründet und so frucht- 
bar geworden wie im letzten Jahrhundert. 

Man kann den religiösen Wert eines streng und ex- 
klusiv evangelischen Heilsweges und den wissenschaftlichen 
Wert einer scharfen Analyse der verschiedenen Bestandteile 
des Christentums völlig würdigen und doch einem der- 
artigen Purismus das geschichtliche und im Namen der 


! Vgl. W. Glawe, Die Hellenisierung des Christentums in der Geschichte 
der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart, Berlin 1912; besonders den 
Abschnitt über J. L. Mosheim, der den Fintluss des Platonismus sowohl auf 
das asketische mystische Ideal als auf die Dogmenbildung stark hervorgehoben 
hat und das Studium der Platoniker für die Kenntnis der alten Kirche warm 
empfiehlt. S. 171 f., 153. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 49 


Mannigfaltigkeit der religiösen Temperamente zum Teil auch 
das religiöse Recht absprechen. Das Christentum ist eine sehr 
complizierte Erscheinung. Ist es wünschenswert, diese seine 
Eigenart zu tilgen — wenn es auch irgendwie möglich wäre? 
Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, die verschiedenen 
Typen der Religion in ihrem Wesen scharf und klar zu unter- 
scheiden. Aber im wirklichen Leben erscheinen sie nicht rein, 
sondern treten in mannigfachen Verbindungen mit einander 
auf. Das beruht nicht nur auf Inkonsequenz und Un- 
entschiedenheit, welche ein jedes gehaltvolles Menschen- 
leben in sich zu tilgen zur Aufgabe hat. Sondern es hängt 
nicht selten damit zusammen, dass die Wirklichkeit Ver- 
bindungslinien aufweist, welche die Wissenschaft im Inter- 
esse der scharfen Ausprägung der Erkenntnis vorläufig bei 
Seite lässt. Sollen wir, um die Typen rein zu erhalten, 
die positiven Elemente der Frömmigkeit bei Plotinus und 
Meister Eckehard ignorieren, oder die Verbindungslinien 
abschneiden, welche von der Mystik des Dualismus von 
Geist und Materie und von der Mystik der Brautsymbolik 
zu Luther führen? Man könnte sich im Gegenteil versucht 
fühlen, dem paradoxen Satze beizustimmen, dass die ganz 
Grossen am Ende Recht haben, auch wenn sie sich gegen- 
seitig widersprechen. Wenigstens muss die Kirche der 
Mannigfaltigkeit der Wege des religiösen Ergriffenseins und 
dem übermenschlichen, in den einzelnen Leben nur fragmen- 
tarisch und verschiedentlich dargestellten Reichtum der 
geistigen Wirklichkeit Rechnung tragen. Die Tatsachen 
und Ideale des Evangeliums brauchen dadurch nicht ihre 
führende Stellung zu verlieren. 

Bezeichnenderweise kommt der entschiedenste und 
kräftigste Protest gegen das antihellenische Reinigungs- 
programm von Lehre und Frömmigkeit heutzutage aus 
England, wo der Platonismus und der Neuplatonismus noch 


4, — Beiträge zur Rel. Wiss. I.1. 


50 Nathan Söderblom 


im siebzehnten Jahrhundert eine schöne Nachblüte erlebten 
und noch heute im religiösen Leben und Denken einen 
breiteren Platz einnehmen als in irgend einem anderen Teil 
der Kirche. Der originellste jetzt lebende Denker der 
anglikanischen Theologie, Ralph Inge, früher Professor in 
Cambridge, jetzt Domprobst von St. Pauls in London, 
schreitet in seiner Opposition gegen den Purismus der 
neueren protestantischen Theologie bis zu dem entgegen- 
gesetzten, unvergleichlich bedenklicheren, Extrem fort." Ihm 
ist die Entscheidung bei einer Wahl zwischen Judentum 
und Griechentum, wenn sie notwendig wäre, keinen Augen- 
blick zweifelhaft. Auf der einen Seite, in Israel und im 
Judentum, sieht er einen fanatischen, eigentlich nur auf 
irdische Güter gerichteten Patriotismus. Auf der anderen 
Seite, bei den Griechen, die Entdeckung der Seele, die 
Sehnsucht nach dem Ewigen und die Überzeugung von 
der überweltlichen Unendlichkeit. Mit schuldiger Ehrfurcht 
vor den grossen, auch nach ihm einzigartig schöpferischen 
Gedanken der Propheten findet er in Evangelium mehr 
Verwandschaft mit dem Platonismus als mit dem alten 
Testament. Das ist nicht paradox gemeint — eine un- 
geheure Übertreibung, jedoch als Reaktion bemerkenswert. 

Ich bedaure nur, dass Inge der Versuchung anheim- 
gefallen ist, die nicht-semitische Bevölkerung Galiläas zu 
einem erfreulichen Bestandteile seiner Theologie zu machen, 
um Jesus eine arische Herkunft sichern zu können. Ein 
derartiger Rassenglaube ist jedenfalls der inhaltlichen Be- 
deutung von nges Anschauung kaum würdig. Die so- 
genannte „arische Religion“ hat in diesem genialen Kirchen- 
manne wohl ihren in religiöser und philosophischer Hin- 


1 Vgl. seine einleitende Abhandlung in F. J. Foakes Jackson, The Parting 
of the Roads, London 1912, und seinen Vortrag in The Summer School of 
Theology in Oxford 1912. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 51 


sicht bedeutendsten Prediger. Er identifiziert sie mit dem 
echten Evangelium und einer recht verstandenen Kirchen- 
lehre, in welcher der Logos mehr bedeutet als der Christus 
der Evangelien! und wo die Geschichtstatsachen der Offen- 
barungsreligion ewige Wahrheiten symbolisieren. Diesem 
Theologen ist es eine Freude zu wissen, dass man kaum 
„orthodoxer Theologe sein kann, ohne Platonist zu sein“.? 
Der Antiintellektualismus und Antimystizismus eines Herr- 
mann und der Ritschlschen Schule und die moderne Be- 
tonung der Persönlichkeit sind ihm ein Greuel. Es kann 
nicht Wunder nehmen, dass ihm auch die eschatologische 
Deutung der Gottes-Herrschaft im Evangelium besonders 
anstössig erscheint,’ da die biblisch-jüdische Eigenart Christi 
in keinem zweiten Zuge deutlicher zu Tage tritt. 

Ich habe dieses in seiner Einseitigkeit doppelt wirkungs- 
volle und bewusste Eintreten für den Offenbarungsgehalt 
des Platonismus erwähnt, weil es eine symptomatische Re- 
aktion gegen die Unterschätzung des hellenischen Erbgutes 
im Christentum ausmacht und geeignet ist, der theologischen 
Diskussion einen weiteren Horizont zu verschaffen. Jeden- 
falls muss die christliche Theologie infolge der komplizierten 
Beschaffenheit des Christentums weit ausholen. Und es 
wird ihr doch unmöglich sein, andere Quellen der religiösen 
Wahrheit als die biblischen als gleichgültig oder wertlos 
zu betrachten. In seinem 1266 vollendeten Opus magnum 
schrieb Roger Baco von seinem Wunsche nach einem fort- 
schrittlichen Papsttum, dass „in zusammenhängender und 
harmonischer Entwicklung das Werk fortsetzt, welches 


! ‚The Christ whom the Church has worshipped is a fuller and richer 
revelation of the Son of God than the Jesus whom the Evangelists have 
depicted.“ Personal Idealism and Mysticism, London 1907. S. 87 vgl. 63. 

2 l. c. 67. 

3 W. R. Inge, Transformation of the Messianic Hope in the New 
Testament, in The Constructive Quarterly I (1913) 306 ff. 


52 Nathan Söderblom 


mosaisches Gesetz und griechische Vernunft begonnen 
haben.“ Eine solche Betrachtung kann schon an die Pro- 
pheten und Paulus und besonders an die genannten Ge- 
dankenreihen der alten Kirche anknüpfen und besitzt noch 
heutzutage ein relatives Recht. 


Was die Kritik der Gottesbeweise begann und der in- 
tuitive Reichtum der Religionsauffassung bei Schleiermacher 
vollbrachte, hat die religionsgeschichtliche Forschung voll- 
auf bestätigt und präzisiert, nämlich, dass es keine natür- 
liche Religion gibt. Im letzten Jahrhunderte haben die 
Theologie einerseits und die Erforschung der ausserbibli- 
schen Religionen andererseits zwar ohne klar erkannten 
wissenschaftlichen Zusammenhang, aber auf beiden Linien 
mit ungeheuerem Erfolge, gearbeitet. Jetzt liegen über die 
ausserbiblische Religionsgeschichte Einsichten vor, welche 
die vernichtende Kritik der natürlichen Religion noch nicht 
kannte. Sie müssen für das Verhältnis der allgemeinen 
Religionsgeschichte zur besonderen Religionsgeschichte oder 
zur Theologie verwertet werden. 

Wie wir schon bemerkten, hat die nähere Bekanntschaft 
mit dem Heidentum zunächst das Idealbild zerstört, welches 
man von der natürlichen Religion hatte. Die Religions- 
entwicklung ausserhalb der biblischen Offenbarung, ist, 
wenn wir sie in der Wirklichkeit betrachten, weder natür- 
lich noch vernünftig. Die primitive Religion und ihre 
barbarische Nachkommenschaft strotzt von Unnatur und 
Unvernunft. Wenn die Religion jener Menschen irgend 
einen unzweideuligen Eindruck bei dem Beobachter erregt, 
so ist es der, dass ihre Anhänger sich nicht vernünftig 
und frei in der Natur bewegen können, sondern die sakrale 
Einrichtung und Gewohnheit als eine bindende geheimnis- 
volle Macht über sich empfinden und jeden Augenblick 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 53 


die Fesseln von Vorschriften und Vorsichtsmaszregeln 
fühlen, von denen das Mitglied einer höheren Religion und 
einer höheren Kultur sich kaum eine Vorstellung machen 
kann. Wenden wir uns zum Kultus, so stimmt es schlecht 
zum Bilde der aus der Vernunft hergeleiteten Gotteserkennt- 
nis, dass man Blut in Strömen zum Dienste der Gottheit 
fliessen lässt und derartiges mehr. Und solche Unverninftig- 
keiten des Kultus lassen sich auch nicht als ein Verfall 
einer früheren Vernunftreligion erklären. 

Aber die Zerstörung des Idealbildes des Wilden und 
der sich selbst überlassenen Kultur ist doch nur ein nega- 
tives Resultat. Bedeutsamer sind drei positive Erkennt- 
nisse, an welche wir hier kurz erinnern: die Mannigfaltig- 
keit der ausserbiblischen Religionsgeschichte, die Positivität 
jeder Religion und ihr Charakter der Unbedingtheit. 


Keine allgemeine Theorie vermag olıne Gewaltsamkeit 
den Reichtum der ausserbiblischen Religionsgeschichte zu 
bewältigen. Man kann sie, auch dem Christentum gegen- 
über, nicht mit irgend einem Schlagwort zusammenfassen. 
Dazu ist sie zu mannigfaltig, dazu sind die geistigen Ent- 
fernungen innerhalb ihres Gebietes allzu gewaltig. In 
meiner Kindheit hing zu Hause eine Karte, auf welcher 
die gesammte ausserchristliche Menschheit mit derselben 
schwarzen Farbe bezeichnet war. Das Evangelium — Licht, 
das Heidentum — Finsternis. So sieht das Christentum die 
Sache. Und im Prinzip ist es so, wenn wir das Wesen 
des Christentums und das Wesen des Heidentums als 
Heil und Verzweiflung einander gegenüber stellen. Aber 
wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Wie viel von heid- 
nischem Aberglauben, Mythologie und nationaler Be- 
schränktheit — Nationalreligion anstatt Christentum — 
steckt nicht in der Christenheit, auch in dem evangelischen 


54 Nathan Söderblom 


Teil der Kirche. Wird man wirklich mit derselben 
schwarzen Farbe die Lehren eines Lao-tse, eines Kung-fu- 
tse, eines Zarathuschtra, eines Jadjnavalkja, eines Buddha, 
eines Sankara, eines Ramanuja, eines Manikka-vasagar, 
eines Nichiren übermalen dürfen, wie die barbarischen 
Riten und die primitive Magie? Vor allen Anderen werden 
sich die betreffenden Missionare dagegen sträuben. Ich 
kenne in dieser Hinsicht kein eindrucksvolleres Dokument 
als der vierte unter D. S. Cairns’ Leitung hergestellte 
Teil der vorbereitenden Reports zu der Missionskonferenz 
in Edinburgh 1910. F. W. Steinthal in Calcutta hatte 
in seinem Bericht der Kommission geschrieben: „Unter 
günstigen Umständen der allgemeinen Bildung bin ich 
unter Hindus und Brahmanen einem ebenso tiefen, echten 
und geistigen religiösen Leben begegnet wie es sich bei 
den meisten Christen findet; ihr Glauben ist aufrichtig, 
obgleich falsch gerichtet.““ Nach einem anderen Mis- 
sionar? bekommen die meisten Missionare eine veränderte 
Auffassung vom Sinne des Wortes „Heiden“ und von den 
Möglichkeiten der Gnade Gottes, gleichzeitig mit einer 
wahreren Auffassung der Hilflosigkeit der Welt ohne Christus. 
Man wird die Farbe nüanzieren müssen. Denn ungezählte 
Jahrtausende materieller Kulturarbeit und geistiger Ent- 
deckungen und Mühen, Sehnsucht und Gotteserkenntnis 
liegen zwischen Erscheinungen, welche wir unter dem 
Namen Heidentum zusammenfassen. Und doch können 
wir mit den Bezeichnungen ,,niedriger“ und „höher“ auch 
hier den Tatsachen noch nicht gerecht werden. Es ist 
wahr, dass wir im „Heidentum“ neben dem grausamsten 
Aberglauben unvergängliche Erzeugnisse tiefer Frömmigkeit 


1 World missionary Conference 1910 IV, S. 172. 
2 Dr. Murray l. c. S. 119. Vgl. die Äusserung des Bischofs von La- 
hore l. e. S. 175 ete. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 55 


und hoher Ideale finden. Aber so einfach liegt die Sache 
nicht, dass die Erscheinungen der ausserbiblischen Religions- 
geschichte sich ohne weiteres auf einer Entwicklungslinie 
unterbringen lassen. Was wir betreffs der Offenbarungs- 
religion in ihrem Verhältnis zu den anderen höheren Re- 
ligionstypen unten sehen werden, dass es sich im Grunde 
nicht um einen Gradunterschied, sondern um einen Ärt- 
unterschied handelt, das gilt auch von der ausserbiblischen 
Religionsgeschichte. Wer unter den Sachkündigen würde 
es unternehmen, den prophetischen Mazdaglauben, die 
Brahman-Atman-Mystik, die Bhakti-Erlösung durch Hin- 
gabe ohne Werke im Hinduismus und im Mahayana und 
den Tao-glauben eines Lao-tse oder eines Kung-fu-tse unter 
eine gemeinsame Formel stellen zu wollen oder ihnen 
verschiedene Stufen desselben Entwicklungs-Schemas an- 
zuweisen? So kompliziert liegt die Sache. Allgemeine 
Theorien über das Heidentum genügen nicht mehr. Es 
muss jeder einzelnen Religion genau nachgegangen werden. 
Anstatt der früheren „natürlichen Religion“, die freilich 
durch die Unterscheidung zwischen dem reinen Urbilde 
und Verfall dürftig nüanziert war, treten jetzt allmählich 
konkrete Gestalten hervor, hässlich, grinsend, ekelhaft, blut- 
triefend, hohl — oder hehr, weich, rührend, bieder, sublim. 
Wir beginnen sie kennen zu lernen, operieren aber noch 
immer mit verallgemeinernden Hypothesen, welche bald 
wirklichen Kenntnissen den Raum lassen werden. Um den 
Wahrheitsgehalt der Gebilde der Religionsgeschichte zu 
bestimmen, ist genaues Studium jeder einzelnen Religion 
nötig. Werden sie mit dem Christentum zusammengestellt, 
so darf das nicht mehr in der üblichen ungerechten Weise 
geschehen, dass man schlimme Auswüchse einer heidnischen 
Religion mit dem idealen, im Evangelium bezeugten Ge- 
halt des Christentums vergleicht. Mit derselben Methode 


56 Nathan Söderblom 


kann man leicht beweisen, wie überlegen die Ethik der 
Bhagavad-Gita mit ihrer Vereinigung von weltfremder Geistes- 
freiheit und Berufstreue dem Leben und Treiben in der 
Christenheit ist. Weicht die schwarze Farbe über dem 
Heidentum einem sehr bunten Gebilde von Licht und 
Schatten, so muss auch davon erinnert werden, wie viel 
von heidnischer Mythologie und Magie noch dem Christen- 
tum, auch in der protestantischen Religion, beigemischt 
bleibt. Diesen Gesichtspunkt habe ich nie stärker hervor- 
heben gehört als von Missionaren, und zwar hervorragend 
begabten und gründlich bewährten Missionaren. Vor einigen 
Monaten wohnte ich einer Diskussion an einer Missions- 
konferenz bei, wo eben Missionare aus China und Indien 
eine ebenso scharfe wie treffende Kritik an der vulgären 
Vergleichsmethode übten, die die Übelstände in den heid- 
nisehen Ländern mit dem idealen Inhalt des Evangeliums 
zusammenstellt. Überhaupt ist es auffallend und noch 
wenig beachtet, in wie hohem Grade wir der Mission 
eine gerechtere Schätzung des Heidentums verdanken. 
Werden dem Heidentum ein gewisses sittliches Gefühl und 
eine gewisse Gotteserkenntnis zugeschrieben, erkennt man 
in Chinas klassischen Urkunden Ausdrücke eines relativ 
reinen Monotheismus, findet man bei den Indern eine hohe 
Gewissheit von dem, was nicht gesehen wird, ja, sieht 
man sogar unter Naturvölkern, wie bei den sogenannten 
Fetischverehrern in Westafrika, Ansätze zu einer besseren 
Religion, so hängt eine derartige Auffassung wesentlich von 
den Missionaren ab. Das ist leicht zu erklären. Man 
muss das Volk lieben, unter dem man wirkt. Und die 
Liebe hat eine wunderbare Fähigkeit auch hinter Hüllen 
das Wertvolle in dem geliebten Gegenstande zu entdecken 
oder zu vermuten. Es hängt damit zusammen, dass Missio- 
nare bisweilen nicht ohne dogmatische Voreingenommenheit 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 57 


den Gottesglauben besonders des niedrigeren Heidentums 
idealisiert haben. Aber im Allgemeinen hat, neben der 
abendländischen Erforschung der Urkunden, kein Faktor 
mehr als die Mission dazu beigetragen, frühere allgemeine 
Theorien durch eine realistischere Betrachtungsweise der 
ausserbiblischen Religionsgeschichte zu ersetzen. Das 
kommt vor allem daher, dass die Missionare in der 
Regel eine gründlichere Bekanntschaft mit dem Heidentum 
als andere Abendländer gewinnen. Die Meisten von den 
Anderen kommen und gehen. Der Missionar bleibt. Fison, 
ebenso berühmt als Forscher wie als Missionar, erzählt 
von seiner Erfahrung in Ozeanien, dass ein Europäer nach 
ein Paar Jahren alles über die Religion der Eingeborenen 
zu wissen glaubt. Nach etwa zehn Jahren findet er, dass 
er nichts gewusst hat. Dann beginnt er vielleicht etwas 
zu lernen. Haben demgemäss die Missionare sehr viel zu 
einer gerechteren Beurteilung des Heidentums in seinen 
Greueln und andererseits in seinen edlen Gestalten bei- 
getragen, so sei nebenbei noch darauf hingewiesen, dass 
eben die Schätzung der Wahrheitselemente ausserhalb der 
biblischen Offenbarungslinie eine nicht unbeträchtliche Rolle 
als Missionsmotiv gespielt hat und noch spielt. Treibt die 
Christenheit Mission, weil die Heiden Gotteserkenntnis 
enibehren? Oder treibt die Christenheit Mission, weil 
die Heiden — eine freilich ungenügende — Gottes- 
erkenntnis besitzen? Die Frage ist hinterlistig formuliert. 
Weder das eine noch das andere kann mit einem Ja oder 
einem Nein beantwortet worden. Aber es dürfte nicht 
völlig unnütz sein, die Frage einmal zu bedenken. Be- 
schäftigt man sich eingehend mit den abendländischen 
Aussagen über die übrigen Religionen während der letzten 
Jahrhunderte, dann ist kaum etwas auffallender, als, neben 
dem soeben genannten Anteil der Mission an der höheren 


58 Nathan Söderblom 


Schätzung der Religionen, die Bedeutung einer solchen Ein- 
sicht als Missionsmotiv. In demselben Masse, in welchem 
das Christentum bei anderen Kulten und Heilslehren Keime 
oder Ausdrucksformen wahrhafliger Frömmigkeit und 
Gotteserkenntnis gefunden hat, wurde die Pflicht ihnen das 
Evangelium zuzusenden wie auch die Möglichkeit für eine 
solche Aussaat den geeigneten Boden zu finden, tiefer 
empfunden. Derselbe Leibniz, den wir als Befürworter 
der „natürlichen Theologie“ der Chinesen kennen gelernt 
haben, wurde gleichzeitig, wie C. H. Chr. Plath' gezeigt 
hat, einer der Erwecker des Missionstriebes. Sein Eifer, 
den Chinesen die geoffenbarte Religion mitzuteilen, wirkte 
bekanntlich bei der Gründung der Berliner Akademie im 
Jahre 1700 mit. Nach Leibniz’ Absicht sollte diese gelehrte 
Gesellschaft sich besonders um die Erforschung der chine- 
sischen Kultur und die Übermittelung der Wahrheiten des 
Christentums an sie bemühen. Der Beispiele giebt es viele 
aus der Entstehungszeit der modernen Weltmission. Soviel 
über die konkrete Mannigfaltigkeit der wirklichen Religions- 
geschichte. 


Im dem Gesagten liegt nun auch schon die zweite 
wichtige Erkenntnis der Forschung, dass die „natürliche 
Religion“ nie natürlich, sondern immer posiliv ist. Hat die 
Religionsforschung im letzten Jahrhundert etwas gelernt, 
so ist es die, dass alle Religion positiv ist, d. h. ein kon- 
kretes Ganze von Riten, Sitten und Traditionen, nicht eine 
Schlussfolgerung der Vernunft. Bis dahin hatte man über- 
sehen, dass die Lehren der griechischen Philosophen vom 
Göttlichen nicht originale Schöpfungen waren, sondern eine 
verfeinerte Bearbeitung der positiven Religion, vielleicht 
noch bereichert durch die eigne Mystik tiefer Geister. 


I Die Missiousgedanken des Freiherrn von Leibniz, Berlin 1869. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 59 


Die Idee von einer natürlichen Religion ist nämlich 
nicht im Hinblick auf die Primitivität gebildet worden, 
noch in Hinblick auf die Riten und Mysterien der heidni- 
schen Religionen, welche vielmehr als teuflische Nach- 
ahmung des Christentums oder als Entartung oder exoterische 
Vergröberung der reinen Gotteserkenntnis der Urzeit gedeutet 
wurden. Vielmehr dürfen wir die Vorstellung einer Ver- 
nunftreligion, soweit wirkliche Beobachtung dahinter steckt, 
teils aus der Anerkennung einer Gesittung (moralischer 
Ordnungen und Regeln) in der Antike und anderen nicht- 
christlichen Gesellschaften herleiten, teils und noch mehr 
aus der Bekanntschaft mit den Religionslehren der griechi- 
schen Philosophie. Man deutete in der alten Kirche und 
noch mehr, seitdem Äristoteles im Mittelalter durch Thomas 
aus einem gefährlichen Modernisten zum Normalphilo- 
sophen der Kirche verwandelt worden war, das griechische 
religiöse Denken wie das eigene Philosophieren über die 
Religion als ein Erzeugnis der Vernunft. Man sah nicht, 
dass die Vernunft in der Religion nichts schafft. Der mono- 
theisierende Eklektizismus der hellenischen und der Kaiser- 
zeit wie der Vernunftglauben der Aufklärung, der chinesi- 
sche Deismus und die abendländische theistische Philo- 
sophie sind in der Tat Bearbeitungen und Verfeinerungen 
der positiven Religionen, allerdings auch, besonders was 
die Antike betrifft, durch persönliche religiöse Erfahrungen 
der grossen griechischen Denker und Dichter vertieft und 
bereichert. Man besass nicht die Voraussetzungen um zu er- 
kennen, dass der philosophische Gottesglauben eine positive 
Religion immer voraussetzt. Sondern man glaubte, dass 
die Denker durch die blosse Betrachtung der Natur die 
Existenz eines guten und allmächtigen Gottes entdecken 
müssten. „Il est donc constant que c'est par la contemplation 
de ces ouvrages qu'on en a trouvé l’auteur, et que lon a 


60 Nathan Söderblom 


découvert qu'ils étaient l'effet d'une infinie Bonté, d'une 
infinie Sagesse et d'une infinie Puissance. Et on n’est 
pas allé plus loin parce qu'avec ces trois principes le sys- 
tème de la bonne philosophie se trouve complet par rapport 
à la création, comme nous l'avons déjà dit. En effet, pour 
peu qu'on s'applique à considerer l'existence de cet univers, 
son ordonnance si bien entendue, ses parties si exactement 
assorties lune à l'autre, son ordre si admirable, son mouve- 
ment si reglé, sa grandeur, sa forme, ses loix et ses pro- 
portions, ses corruptions et ses productions, sa constance et 
ses variétés, et en un mot toutes les merveilles qui le rem- 
plissent, on conclut necessairement sa méditation par cet 
aveu, qu'une Bonté immense en a fait naître le dessein, 
qu'une Sagesse profonde en a tracé le plan et la figure, 
qu'une Puissance infinie a executé ce grand projet, et que 
ces trois vertus ensemble le conservent et en font mouvoir 
tous les ressorts.“ Diese Erwägung Souverain’s in seinem 
1700 nach seinem Tode anonym erschienenen Buche Le 
platonisme devoilé’ ist so typisch wie möglich Heute 
könnte eine gewisse Berechtigung dieser Auffassung in dem 
„Urheberglauben‘“,? der Primitiven und seiner Fortsetzung 
gefunden werden. Aber die philosophische Idee einer all- 
mächtigen und allguten Gottheit setzt eine lange und hohe 
Entwicklung der positiven Religion voraus. Suchte man 
damals für die ausserbiblischen Gotteserkenntnisse eine 
andere Ursache als die eigene Vernunft, so griff man nach 
einer noch ungeschichtlicheren Erklärung, welche, der pri- 
mitiven Unterscheidung von Esoterischem und Exoterischem 
und den alten Mysterienreligionen entstammend, immer fort- 
gelebt hat und noch heute in theosophischen Kreisen beliebt 
ist. Ich meine die Vorstellung von einer Geheimlehre, die 


'S. 53 f. 
* Vgl. Gudstrons uppkomst, Stockholm 1913, Kap. IV. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 61 


als heilige Tradition fortgelebt hat und auf geheimnisvollen 
Wegen gewissen Eingeweihten bekannt wurde. Wir haben 
es hier mit einem Überbleibsel der primitiven Anschauung 
zu tun. Der Unterschied zwischen Esoterischem und Ex- 
oterischem ist kein Kennzeichen der höheren Religion, 
sondern findet sich schon in den Mysterien der Naturvölker, 
und ist, erst spät in der Entwicklung, von der biblischen 
Offenbarungsreligion, wahrscheinlich auch vom ursprüng- 
lichen Buddhismus, von Sokrates oder der griechischen Philo- 
sophie und anderswo prinzipiell überwunden worden. Den 
höchsten Erscheinungen der Religion ist er fremd. Mit Recht 
zeigte sich Souverain misstrauisch gegen jene verlockende 
Lehre von einer geheimen uralten Weisheit. Von Plato 
und anderen vor ihm und ihrer vermeintlichen Kenntniss 
einer Dreiheit von göttlichen Eigenschaften schrieb er': 
„ils lont tous vue, non seulement par voie de Cabale et de 
Tradition, comme on le prétend aujourd’hui, mais comme 
une chose naturelle, et comme une vérité, qu'ils devaient 
à leurs recherches.“ Er beruft sich auf folgende Worte 
des protestantischen Theologen Jean Graverol?: ,,Tout ce 
qu’on dit touchant l'origine de la philosophie parmi les 
Egyptiens, les Caldeens et les Grecs est une tradition tres 
incertaine... elle était le fruit de leurs études et de leurs 
expériences.“ 

Anstatt der rationalistischen und theosophischen Erklä- 
rungen bietet die moderne Forschung eine historische: Alle 
Religion, auch diejenige welche unabhängig von der bibli- 
schen Offenbarung sich vorfindet, ist vom Hause aus positive 
Religion. | 


1 l. e. 55. 

3 Moses vindicatus, Amsterdam 1694, S. 89. 

® Und alle idealistische Metafysik hat ihren Grund in der Religion 
„La métaphysique ne profite à la longue qu'aux abbés.“ 


62 Nathan Séderblom 


Dienen die jetzt erwähnten Erkenntnisse dazu, die Re- 
ligionsgeschichte, einer älteren Auffassung gegenüber, scharf 
in konkreten Einzelerscheinungen zu differenziieren und 
an die Stelle von Erzeugnissen einer vernünftigen Erwägung 
schwerzubewältigende positive, aus unzähligen historischen 
Faktoren entstandene Gebilde der Wirklichkeit zu setzen, 
so gehört es meines Erachtens ebenfalls zu dem bleibenden 
Gewinn der neueren Forschung, eine neue innere Einheit 
aller echten Religion entdeckt zu haben. Nichts scheint ein 
gesicherteres Resultat unsrer Wissenschaft zu sein, als die 
Erkenntnis, dass die positive Religion, d. h. jede wirkliche 
Religion, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, unter 
dem Banne der unbedingten Verpflichtung steht. ‚Der 
kategorische Imperativ“ ist nicht erst im Christentum oder 
in der höheren Zivilisation vorhanden, sondern liegt schon 
in der Tabufurcht der Primitiven und offenbart sich in 
stärkerer oder abgeschwächter Gestalt als ein konstitutives 
Merkmal der echten Religion überhaupt.‘ Vom Beginn an 
bleibt durch die ganze Geschichte der Charakter der Heilig- 
keit und absoluten Verbindlichkeit das sicherste Kenn- 
zeichen echter Religion. Ist diese schwer zu erklärende 
Eigenschaft der Religion, die auch das religiöse Element 
der Moral ausmacht, ein von unseren vorgeschichtlichen 
Vorfahren begangener Irrtum, so muss man gestehen, dass 
er sich ungemein zäh erhalten hat. Und der Gewinn, den 
die Menschheit durch Aufklärung und Entfernung jenes 
vermeintlichen Aberglaubens der Unbedingtheit und Über- 
natürlichkeit sich leisten sollte, scheint recht fraglich zu 
sein. Jedenfalls giebt es in der Religion keinen uni- 
verselleren Zug. Wir haben hier, in dem Gefühle der Un- 
bedingtheit des Heiligen, also eine neue Einheit in der 
wissenschaftlichen Auffassung der Religion, und freilich eine 


UN. Söderblom, Art. Holiness in Encyclopaedia of Religion and Ethics. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 63 


solche, die dem Begriffe der natürlichen Religion schnur- 
stracks entgegenläuft. Denn das Gemeinsame der Religions- 
geschichte entpuppt sich nicht als ein Minimum von 
Vernunftwahrheiten, die im Heidentum vergessen oder 
getrübt wurden, und auf die die Offenbarung weiterbaut, 
sondern das Gemeinsame liegt im Gegenteil in dem, was 
an der Religion vorzugsweise als irrationell erscheint, und 
was nie von der konkreten Gestaltung der jeweiligen sakralen 
Einrichtung oder Religionsanschauung losgelöst werden kann. 
In Sätze lässt sich das Tabu oder die Heiligkeit nicht 
fassen, dann der Inhalt wechselt. Aber es liegt darin doch 
immer das Bewusstsein, einer grösseren Welt angehörig 
zu sein und unter einer übermenschlichen, unbedingt ver- 
bindenden Macht oder Regel zu stehen. In diese Einheit 
der Religion wird das Christentum miteingeschlossen und 
zwar nicht etwa nur eine Seite des Christentums, die man 
erhält, wenn man das Charakteristische der Offenbarungs- 
religion ausscheidet, sondern zu dieser Einheit der Religion 
gehört gerade etwas von dem was der Offenbarungsreligion 
als solcher unveräusserlich ist und in keiner anderer höherer 
Frömmigkeit sich in derselben Stärke vorfindet. So scheint 
der Schluss unvermeidlich zu sein, dass alle Religionen eine 
Einheit bilden, zu der auch die biblische Religion gehört. 
Und anstatt zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion 
zu unterscheiden, muss zunächst, soweit man an eine 
göttliche Selbstmitteilung als Grundlage der Religion glaubt 
— was freilich keine geschichtliche Untersuchung feststellen 
kann — das Mass religiöser Wahrheit, das sich eventuell 
in der nicht-christlichen Welt findet, ebenfalls auf göttlichen 
Ursprung zurückgeführt werden. 

Das entscheidende Wort ist schon vom späteren Kardi- 
nal John Henry Newman (1801— 1890) ausgesprochen worden: 
auch die „natürliche“ Religion d. h. die ausserbiblische, 


64 Nathan Söderblom 


insofern sie Bestandteile echter Religion enthält, ist ge- 
offenbart. Unter denjenigen, welche die wirkliche Art der 
ausserbiblischen Religion, positive, nicht natürliche Religion 
zu sein, wahrgenommen und doch ihren theoretischen und 
inhaltlichen Zusammenhang mit dem Christentum aufrecht 
erhalten haben, nimmt er eine interessante Stelle ein. In 
dem bedeutsamen Kapitel über „Natural Religion“ in seiner 
Grammar of Assent bedeutet natürliche Religion’ genau 
betrachtet nicht das, was man gemeinhin unter dem Aus- 
drucke versteht. Denn Newman erhebt Einspruch gegen 
die rationalistische Lehre von der vernünftigen Gottes- 
erkenntnis, die eigentlich, wie wir gesehen haben, von der 
Orthodoxie übernommen und vom Rationalismus erweitert 
worden ist, und urteilt über die heidnischen Volksreligionen 
mit dem bemerkenswerten Worte, dass auch die natürliche 
Religion geoffenbart ist. „Die Naturreligion“ (= natürliche 
Religion) „war nicht eine Schlussfolgerung der Vernunft 
noch eine gemeinsame freiwillige Abmachung einer Menge 
von Menschen, die zusammen gekommen waren und sich 
verbanden, wie man heutzutage Beschlüsse über politische 
oder soziale Zwecke fasst, sondern sie war eine Tradition 
oder eine Vermiltelung (interposition), einem Volke von 
oben verliehen.“ Die Menschen haben immer ihre bürger- 
lichen Einrichtungen Göttern (dit minores) oder Heroen 
zugeschrieben, und ihren Ursprung als von Wundern be- 
gleitet angesehen und durch Orakel und Augurien geschützt. 
„Das beweist, wie kongenial die Idee von einer Offenbarung 
dem menschlichen Geiste ist, so dass deren Erwartung 
als integrierender Teil der natürlichen Religion betrachtet 
werden kann“. Gegen die geläufigen Theorien konnte New- 
man nicht stark genug den düsteren, finsteren, furchtbaren 


! A Grammar of Assent, new impression 1906, S. 391 ff. — Vgl. Re 
ligionsproblemet I, Stockholm 1910, S. 58. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 65 


Ernst im Heidentum betonen, den er aus dem Gefühle 
von Gebrechen und Schuld herleitete. Freilich ging er 
dabei mehr von seinem eigenen tiefen und finsteren re- 
ligidsen Temperament als vom Studium der Primitiven aus. 
Aber die Einsprüche gegen die Möglichkeit und Wirklich- 
keit der Vernunftreligion machten ihn an den Wahrheits- 
momenten auch ausserhalb der von ihm mit besonders 
scharf ausgeprägtem Supranaturalismus behaupteten bibli- 
schen Offenbarung nicht irre. Im Gegenteil findet er in 
jeder Religion etwas von Offenbarung. 

Wird mit dieser Überzeugung Ernst gemacht, so folgt 
daraus schon, dass die Theologie sich mit dem gesammten 
Gebiete der Religion befassen muss. Denn insofern als die 
Theologie sich von der allgemeinen Religionswissenschaft 
unterscheidet, und sich nicht damit begnügen kann, ihre 
Eigenart ganz äusserlich als Wissenschaft vom Christentum 
im Unterschied von der Wissenschaft von den anderen 
Religionen aufzufassen, muss sie als ihr Kennzeichen und 
als ihre zusammenhaltende und gestaltende Einheit den 
Offenbarungsglauben angeben. Die Theologie macht dar- 
auf aufmerksam, dass jeder Forscher Voraussetzungen hat, 
und dass die voraussetzungsfreie Forschung eben so un- 
wirklich und unmöglich ist, wie die Tabula rasa der Seele. 
„Es gibt keinen geistig Arbeitenden, der nicht „subjektiv“ 
ist. Ein leerer Topf und ein leerer Kopf geben nichts von 
sich.“ (M. Hartmann.) Ein Forscher kann von der Über- 
zeugung beseelt sein, dass hinter den Erscheinungen der 
Religion eine überweltliche Wirklichkeit steckt, oder er 
verneint den für die Religion grundlegenden Glauben an der 
Wirklichkeit des Geistes, oder er kann vor der Frage nach 
der Offenbarung ungewiss stehen, oder er geht von der 
Gewissheit aus, dass man von dem Übersinnlichen nichts 


5. — Beiträge zur Rel. Wiss. 1,1. 


66 Nathan Söderblom 


wissen kann, oder er empfindet wenig Interesse für das 
Problem von der Wahrheit der Religion — Gedankenlosigkeit 
und völligen Mangel an persönlicher Überzeugung darf man 
kaum einem Manne zumuten, der auf dem Gebiete der 
Religionsforschung etwas taugliches ausrichten soll. Ein 
fanatischer Anarchist eignet sich ebenso wenig für das Be- 
greifen und Beschreiben der Geschichte des Staates als ein 
Religionshasser für die Religionsforschung, ein eingebildeter 
Chauvinist vermag andere Völker ebensowenig zu verstehen, 
wie ein engherziger Konfessionalist andere Gemeinschaften 
und Religionen richtig einschätzen kann. Auf der anderen 
Seite wird es der Musikgeschichte oder der Musiktheorie nicht 
schaden, wenn der Forscher selbst musikalisch oder sogar 
Musiker ist. Aber verschiedene allgemeine Voraussetzungen 
können sich mit ernster historischer Wissenschaft gut ver- 
einigen und zwar unter den zwei selbstverständlichen Be- 
dingungen wirklicher wissenschaftlicher Begabung und des 
ernsten Geistes des Suchens und der Wahrhaftigkeit. Kein 
Dogmatismus nach der einen oder anderen Richtung darf auf 
die Akribie und die Allseitigkeit der Untersuchung einwirken 
und die Sittlichkeit der Wissenschaft auch nur im geringsten 
Masse gefährden. Keine bejahende oder verneinende Recht- 
gläubigkeit macht in der Forschung selig, wenn die Fähigkeit 
zu wissenschaftlicher Erkenntnis nicht da ist. Und keine 
Leistung darf von vornherein wegen der allgemeinen Theo- 
rien des Verfassers verdammt werden, wenn sie unsere 
Kenntnisse fördert. Mythologische Vorstellungen von Äther 
und Atomen brauchen nicht zu verhindern, dass der Be- 
treffende der Naturwissenschaft gute Dienste leistet. Und 
trotz Voreingenommenheit betreffs der Religion kann ein 
Forscher in einzelnen Untersuchungen die Religionswissen- 
schaft gut fördern. Wer Eselinnen sucht, kann ein König- 


reich finden. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 67 


Der Theologie ist der Gedanke der Offenbarung wesent- 
lich. Sie ist davon überzeugt, durch diese Voraussetzung 
des Offenbarungsglaubens dem Gegenstande ihrer Forschung 
am besten gerecht zu werden. Es liegt in der Natur jeder 
Wissenschaft, dass sie bei ihrem Gegenstande auch dessen 
Wirklichkeit voraussetzt. Die Wirklichkeit der Religion 
beruht für die Theologie im Grunde auf einer Offenbarung. 
Wie diese Offenbarung dann näher aufgefasst werden soll, 
ist ein Problem für die Religionsphilosophie, für die Re- 
ligionspsychologie und die Dogmatik und bleibt wohl eine 
wenigstens bei der Höhe des christlichen Gottesbegriffes 
immer nur annähernd lösbare Aufgabe. Aber der theo- 
logischen Wissenschaft ist der Offenbarungsgedanke ebenso 
selbstverständlich als Ausgangspunkt, wie etwa für die 
im engen Zusammenhange mit der antiindividualistischen 
Richtung der Zeit stehende soziologische Schule in der 
Religionsforschung die Gesellschaft die äusserste Erklärung 
der Religion darstellt. Kann demgemäss der Offenbarungs- 
gedanke als das wesentliche, obwohl nur in prinzipiellen 
Fragen an den Tag tretende Merkmal der theologischen 
Forschung bezeichnet werden, und erheischen die Fort- 
schritte unserer Erkenntnisse, dass die Gesammterscheinung 
der Religion und nicht nur ein Teil davon unter den Ge- 
sichtspunkt der Offenbarung gestellt wird, so folgt daraus, 
dass die Theologie sich mit dem gesammten Gebiete der 
Religion grundsätzlich befassen muss. 


68 Nathan Söderblom 


V. 


An Stelle der natürlichen Theologie tritt 
die allgemeine Religionsgeschichte. 


Die natürliche Theologie hat gründlich abgewirtschaftet. 
Wird sie in der Wissenschaft ohne Nachfolge bleiben? Diese 
Frage ist bisher nur in vorläufiger Weise beantwortet 
worden. Wir wollen sie aber jetzt noch weiter beleuchten. 

Betreffs der Zugehörigkeit der allgemeinen Religions- 
geschichte zur Theologie kommen zuerst einige weniger 
grundsätzliche Erwägungen in Betracht. Zum Hellenisie- 
rungsprozess im Christentum z.B. kann man sich in ver- 
schiedener Weise verhalten, wie ja auch dieser Prozess im 
Laufe der Geschichte verschieden beurteilt worden ist. Aber 
einem jeden muss die Notwendigkeit einleuchten, dass die 
Theologie die hellenische religiöse Welt in ihr Arbeitsgebiet 
hereinzubeziehen habe. Gerade von der Ritschlschen 
Richtung und besonders von Harnack sind neue frucht- 
bringende Impulse für das Studium der antiken Welt aus- 
gegangen. Es kann der Theologie nicht gleichgiltig sein, dass 
die lebenskräftigste religionsgeschichtliche Schule in Deutsch- 
land die klassisch-philologische ist, zumal die Theologie 
notwendigerweise sich wenigstens mit der griechischen Re- 
ligionsentwicklung eingehend beschäftigen und dabei auch 
erwägen muss, ob und inwiefern die Aufname hellenischen 
Stoffes das Christentum bereichert hat. Ist es auch fraglich, 
wieviel die alten vorderasiatischen Religionen und die aus 
ihnen hervorgegangenen Mysterienkulte und Geheimlehren 
für das Christentum bedeutet haben, so kann ihr Studium 
doch aus der Theologie nicht ausgeschaltet werden. 

Zweimal in der Geschichte ist die biblische Offenbarungs- 
religion in engere Beziehung zu Kulturen getreten, die 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 69 


höher und reicher waren als die von ihr selbst in diesem 
Augenblick vertretene, nämlich der mosaische Prophetismus 
trat der babylonischen Bildung und das junge Christentum 
der antiken Welt gegenüber. Aber auch sonst erhielt die 
biblische Religion bei ihrer Ausbreitung eine besondere 
Färbung, indem sie sich einem neuen Volkstum und einer 
neuen geistigen Welt verständlich machen musste, sodass 
sie von ihr aufgenommen werden konnte. Ich brauche 
des weiteren nur an das eigentümliche Gepräge zu erinnern, 
das die biblischen Begriffe und Vorstellungen wie auch 
der Heiland und seine Jünger im Heliand und in den 
älteren germanischen Bibelübersetzungen erhalten haben. 
Es ist ja ein Gemeinplatz, zu sagen, dass auch jetzt auf 
indischem und ostasiatischem Boden eine ähnliche Ver- 
schmelzung der Vorstellungen und Begriffe erfolgen müsse, 
wie einst in der hellenischen Welt, ehe das Christentum 
ein wirkliches Eigentum der zwei von seiner Herrschaft 
noch nicht durchdrungenen grossen Zivilisationen werden 
kann. Aber lediglich durch Kompromisse kommt keine 
organische Neuschöpfung zustande. Die Verschmelzung 
der Offenbarungsreligion mit kongenialen Elementen der 
indischen und ostasiatischen religiösen Erfahrung, Sittlich- 
keit und Weltanschauung kann überhaupt nicht als Pro- 
gramm aufgestellt werden. Das war der verhängnissvolle 
Fehler der früheren Jesuitenmission in China. Der Prozess 
des Ausscheidens und gegenseitigen Durchdringens kultureller 
Elemente geschieht mit innerer Notwendigkeit, die von 
selbst ihr Recht behauptet und keine geschäfligen Anwälte 
braucht. So muss auch die abendländische Mission als die 
vornehmste Vermittlerin! geistiger Werte in der gegen- 


! Als einen hohen und reinen Exponenten des weltgeschichtlichen geistigen 
Wettstreits kann man freilich die Mission nur dann bezeichnen, wenn sie ihrem 
supranaturalen Charakter treu bleibt. Es ist wahr, dass die Kolonialpolitik, 


70 Nathan Söderblom 


wärtigen Weltgeschichte aufs ernsteste sich mit der ein- 
heimischen Denkweise des betreffenden zu missionierenden 
Volkes beschäftigen. Jede Übertragung charakteristischer 
Ausdrücke der Religion zwingt geradezu dazu. Bisher ist 
die hellenische Sprache von allen die reichste gewesen, 
denn sie wurde zur vollendeten Form für zwei tief ver- 
schiedene geistige Inhalte der abend- und morgenländ- 
ischen Zivilisation, für die Welt Homers, Sophokles’ und 
Platos und für diejenige der Propheten und der Apostel. 
Die Kultursprachen Indiens und Ostasiens stehen vor dem- 
selben Prozess, oder vielmehr sie sind schon in ihm be- 
griffen. Es gilt nicht nur für die spezifisch religiösen Worte, 
sondern überhaupt für jeden aus der Offenbarungsreligion 
emporgewachsenen Begriff wie Persönlichkeit, Entwicklung, 
Zweck, Ideal u. s. w. einen dem betreffenden Volke und 
seinem Empfinden entsprechenden Ausdruck zu finden.' 
Die Mission muss in jedem Augenblicke an das Gegebene 
anknüpfen. Sie findet dabei vielleicht, dass die südindische 
Gottesliebe die religiöse und sittliche Kraft des Glaubens 
Luthers besonders braucht und dass Kant der chinesischen 
Ethik einverleibt werden sollte” Aber dies Werk, das ich 


wenn sie ihre Aufgaben tief genug auffasst, der Mission nicht entbehren kann, 
und dass jede sittlich berechtigte Wirksamkeit unter den nicht-christlichen 
Völkern der Mission Dank schuldig ist und vice versa. Aber wenn rein 
weltliche Zwecke wie Kolonialinteressen oder sogar der politische Wetteifer 
der Grossmächte als Missionsmotiv die selbstlose Christianisierung der Ein- 
zelnen und Völker ersetzen oder auch nur ergünzen sollen, dann vertritt die 
Mission nicht den geistigen Wetteifer und Austausch zwischen den universal 
gerichteten Religionen, sondern macht einen Teil des politischen Kampfes aus, 

! Vgl. A. J. Brown, The new Life in China, in „The East and the West“ 
X, S. 19. „There is one new word that everybody glibly recites to the in- 
quiring newcomer; it is the word for an ideal, meaning literally „the thing 
you have your eye on“. A fit companion to this is a new way of speaking 
of a man’s purpose in life: „his magnetic needle points in such and such a 
direction.“ 

3 Bezeichnenderweise sind die Werke des Willensphilosophen Eucken 
ins Japanische übertragen worden. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 71 


hier meine, kann nur von Eingeborenen vollzogen werden. 
Schon der feine und verwöhnte literarische Geschmack, in 
dem Europa der chinesischen Bildung kaum gleichkommt, 
erheischt einheimische Übersetzer. Man erinnert sich der 
Bemerkung des edlen und für die abendländische Kultur 
offenen Tuan-fang, der sagte: „Jener Christus mag für die 
abendländischen Völker ein ausgezeichneter Lehrer gewesen 
sein, aber er schreibt ein schlechtes Chinesisch.“ . Das Ge- 
heimnis der Fortschritte des Buddhismus im himmlischen 
Reiche lag zum guten Teil an der hervorragenden Über- 
setzertätigkeit gelehrter chinesischen Buddhisten. Nur Mit- 
glieder des eigenen Volkstums können also auch die Offen- 
barungsreligion gründlich einbürgern und ihr die nötigen 
Ausdrücke und Formen verleihen." Eine Ahnung von dem 
Aussehen des künftig ausgebildeten christlichen Systems in 
Indien und Japan können wir etwa dem von P. C. Mozoom- 
dar nach den Evangelien gezeichneten Christusbilde? und den 
Schriften Utschimura’s® entnehmen. Es hiesse die Universa- 
lität des Christentums verneinen, wenn man dächte, dass in 
diesen neuen Verbindungen das Spezifische an dem Evan- 
gelium weniger zu seinem Rechte käme als in der hellenisch- 
römisch-germanischen Tracht. Die Stellung des Christentums 
zu dem Gegebenen ist dialektisch. Der alte Mensch muss 
sterben — es giebt keine leichtere Methode — damit der 
neue Mensch erstehen kann. Aber in ihm gewinnen nach 
der Ansicht des Christentums natürliche Anlagen und Mög- 
lichkeiten eine reichere Verwendung als in dem Alten. 


I Chenting F. Wang in Constantinople Conference 1911. Vgl. Söder- 
blom, Tre heliga veckor, Upsala 1911. 

2 The oriental Christ, Boston 1898. Schon die Überschriften der Ka- 
pitel sind beredt: Der badende Christus, der fastende Chr., der betende Chr., 
der lehrende Chr., der rügende Chr., der weinende Chr., der pilgernde Chr. ete. 

® Wie ich ein Christ wurde? Stuttgart 1905, Japanische Charakterköpfe 
Stuttgart 1908. 


12 Nathan Söderblom 


Pauli Stellung zu seiner alten Religion, dem Judentum, ist 
in dem Worte ausgedrückt: „Was mir Gewinn war, das 
habe ich um Christi willen für Schaden geachtet.“ Gleich- 
zeitig sah er im Gesetz einen Zuchtmeister auf Christus 
und im alten Testament die Vorbereitung des Evangeliums. 
Dem religiösen Denken und der Frömmigkeit der Antike 
gegenüber nimmt die Kirche eine in gewisser Weise ähnliche 
Stellung ein, sei nun der Gegensatz mehr betont wie von 
Tatianus, Tertullianus, Souverain, Ritschl, oder der Zu- 
sammenhang wie von Klemens Alexandrinus, Gerbert, dem 
englischen Platonismus, Hegel, obgleich das antike Erbe 
für die Kirche weit unwesentlicher war als das alttestament- 
liche. Vielleicht wird in ähnlicher Weise Indien eines 
Tages verstehen, warum es Jahrtausende lang die Aufgabe 
vom Weh des Lebens und von der hilflosen Vergänglichkeit 
des Zeitlichen buchstabieren musste — nämlich nicht, um 
in den Frieden der grossen Stille einzulaufen, sondern um 
in einem Willen zum Heil und zum Leben die Grundmacht 
des Daseins zu erkennen. Der in seinen Anfängen ver- 
borgene, immer mächtiger werdende Strom von Bhakti 
„Hingabe“, „Glaube“ (an eine persönliche Gottheit), der sich 
über die Religion Indiens und über den Buddhismus in 
Östasien ausbreitet und der in der japanischen Schin- 
sekte seine grösste Kraft entfaltet, wird die Entdeckung 
der Jesuitenpatres in Japan im 16len Jahrhundert bestätigen, 
dass „die lutherische Häresie‘“‘ nach Japan vorgedrungen 
sei’ und in dem himmlischen Vater Jesu Christi auch 
seine ersehnte Gottheit erkennen. Die klassischen Urkunden 
Chinas werden in ihrer Ordnung eine Art von Altem Tes- 
tament bilden, das erst dadurch seine volle Bedeutung 
gewinnt, indem das Neue ihm hinzugefügt wird. Derartige 
Zukunftbilder sind, wenn wir die Kirchengeschichte be- 


' H. Haas, „Amida unsre Zuflucht" Leipzig 1910, S. 6. f. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 73 


trachten, keineswegs phantastisch. Aber ehe das alles ge- 
schehen kann, müssen Apostel und Kirchenväter in jenen 
Ländern an ihrem eigenen geistigen Erbe Pauli Erfahrung 
machen: Alles achte sich für Schaden um Christi willen. 
Denn im Christentum gibt es keinen Weg, der nicht durch 
das Ärgernis des Kreuzes führt. 

Die biblische Religionslinie und ihre Propaganda hat 
es somit veranlasst und wird es veranlassen, dass die Theo- 
logie sich mit allen diesen Religionen einigermassen be- 
fassen muss. Sie ist ja in ihrer Geschichte in irgend einer 
Weise mit allen Religionen früher oder später in Berührung 
gekommen, was den Anlass auch zu theoretischer Befassung 
mit den betreffenden heidnischen Riten und Vorstellungen 
gegeben hat. Die Geschichte der biblischen Religionen, heute 
noch von der Mission fortgesetzt, veranlasst die Theologie, 
die anderen Religionen kennen zu lernen. Jene Erwägun- 
gen werden wir hier nicht weiter verfolgen, sondern werden 
von einem mehr prinzipiellen Gesichtspunkt Ausschau halten. 
Die geschichtliche Tatsache, dass Prophetismus und Kirche 
ım Laufe ihrer Geschichte mit den verschiedenen niedrigeren 
und höheren Religionen in Berührung gekommen sind, er- 
klärt noch nicht wissenschaftlich die Zusammengehörigkeit 
dieser Erscheinungen mit dem Christentum. Die Not- 
wendigkeit, sich mit andern Religionen für apologetische 
und Missionszwecke auseinanderzusetzen, bedeutet eine 
praktische Aufgabe und vermag ebensowenig wie die ge- 
schichtliche Berührung eine wissenschaftliche Zusammen- 
gehörigkeit zu begründen. Jene apologetische Aufgabe kann 
freilich in eine rein wissenschaftlich-theoretische verwandelt 
“werden, dem Begriffe nach, den Schleiermacher der Disziplin 
Apologetik zuwiess, doch nicht in Schleiermachers apriori- 
schem Sinne. Die Theologie muss die andern Religionen 
kennen, um sich der eigenen Art des Christentums klarer 


74 Nathan Söderblom 


bewusst zu werden. In der Tat ist das Wesen des evan- 
gelischen Christentums durch die Zusammenstellung mit 
anders gearteter Frömmigkeit schärfer als früher erfasst 
worden. Eine wissenschaftliche Aufgabe liegt hier vor, der 
sich die Theologie nicht entziehen kann. Aber die Sache 
lässt sich noch näher begründen. 

Es muss wissenschaftlich als eine Absurdität erscheinen, 
die altehrwürdigen Gebete des Schi King und die leiden- 
schaftlichen Unglückspsalmen an Ischtar nicht als mit den 
alttestamentlichen Hymnen verwandte Erscheinungen zu 
behandeln. Die Gottesergebenheit in der Bhagavad Gita, 
dem „Lied von dem Hohen“, oder bei den persischen Mysti- 
kern, den Sufis, sollten für das Studium der Gottergeben- 
heit des heiligen Bernhard und Luthers kein wissenschaft- 
liches Interesse haben? Sollte sich die Theologie mit dem 
kirchlichen Gesangbuche beschäftigen, aber z. B. den in- 
brünstigen Gebeten der Dichter des Tamulenvolkes in Süd- 
indien, das der Leipzigermission besonders nahe steht, und 
von denen Manikka Vasagar der bedeutendste und Tajuma- 
naver der populärste ist, nicht befassen wollen? 


„Gering wird in der Blumenhandlung Gras geachtet. 
Als Gras wird alles neben Dir, mein Herr und Gott, von mir betrachtet.“ 


Diese Worte von dem letztgenannten! dürften dem Bibel- 
leser nicht ganz fremd anmuten. Wenn Tulsidas in Indien 
am Ende des 16ten Jahrhunderts bat: „Herr, sieh erst auf 
Dich selbst und gedenke Deines Erbarmens und Deiner 
Macht! Wirf dann Deine Augen auf mich, und nimm mich 
zu Deinem Sklaven, Deinem Eigentum! Denn des Herren 
Macht ist eine sichere Zuflucht, und wer sie nimmt, wird 
erlöst“, so sollte das nur die Sache des Indologen, nicht 
auch die des Theologen sein? Gewiss, der Fachmann der 


1 Nach Missionar Frykholms handschriftlicher Übersetzung. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 75 


Religionskenntnis wird in solchen Sachen immer ein 
Schuldner des berufsmässigen Philologen bleiben. Aber er 
kann nicht umhin diese Erscheinungen in sein eignes 
spezifisches Material mit aufzunehmen. Als Pascal durch 
die schauerliche Stille der Nacht die göttliche Stimme ver- 
nahm: „Du würdest mich nicht suchen, wenn Du mich 
nicht schon känntest“, dann gehört das selbstverständlich 
der theologischen Fakultät. Aber als vierhundert Jahre 
früher der persische Mystiker Djelal Eddin Rumi berichtet, 
wie der Teufel einen frommen betenden Mann versucht 
und ihm eingibt: „Du erhältst ja keine Antwort auf deine 
Bittrufe“, und wenn der von Gott gesandte Engel dann 
dem Frommen sagt: „In jedem Ruf, o, mein Gott, den 
du erhebst, liegt leise eingeschlossen Gottes Antwort: „Hier 
bin ich, mein Kind“, dann würde das mit der Theologie 
nichts zu tun haben? Die Kritik der landläufigen Gottes- 
vorstellungen und Gebräuche bei Heraklit, Plato und den 
Stoikern erheischt eine Zusammenstellung mit derjenigen 
der Propheten. Wenn im buddhistischen Kanon Kassapa 
sagt: „Weder Fischnahrung noch Fasten, noch Nacktheit, 
noch Tonsur“ etc. „reinigen einen Sterblichen, der nicht den 
Zweifel überwunden hat“, oder wenn der Meister sagt: „Wer, 
o Mönche, mich pflegen würde, der soll den Kranken pfle- 
gen“, oder „Wer mich sieht, sieht die Lehre“, liegt ein 
Vergleich mit evangelischen Worten nahe — ohne dass 
irgendeine historische Abhängigkeit dadurch bewiesen wäre. 
Buddhas Mönchsorganisation und die chinesischen Eremiten 
gehören natürlich derselben Wissenschaft an. Der Mönchs- 
orden des heiligen Franz und die christlichen Eremiten 
jedoch einer andern? Das ist vom sachlichen und wissen- 
schaftlichen Standpunkte aus ein unleidlicher Zustand. Hei- 
ligenkultus und Festkalender im Christentum werden schon 
längst von der Kirchengeschichte durch heidnische Ge- 


76 Nathan Söderblom 


bräuche beleuchtet. Schon längst (wohl am gründlichsten 
im Knobel-Dillmann Kommentar zum Hexateuch) hat die 
Bibelerklärung analoge Riten und Vorstellungen anderer 
Völker herangezogen. 

Ich verhehle mir nicht die Schwierigkeiten, die ein 
derartiges Programm bedeutet. Ohne die nötigen Sprach- 
kenntnissen können die verschiedenen Religionen nicht 
mit hinreichender wissenschaftlicher Sicherheit behandelt 
werden. Auch die hohe methodische Schulung, die auf dem 
am besten bearbeiteten Gebiete der Religionswissenschaft, 
nämlich der Geschichte der biblischen Religionen, erreicht 
ist, kann keineswegs von den sprachlichen Kenntnissen 
bei der Bearbeitung anderer Religionsgebiete dispensieren. 
Die Misslichkeit ist natürlich hier mindestens dieselbe wie 
in anderen analogen Wissenschaften, ja sogar grösser, da 
die Religionsgeschichte eine so junge Disziplin ist, und da 
für die verständnissvolle Auffassung des Geistes einer Re- 
ligon das Studium der Urkunden noch wichtiger ist als 
für andere Erscheinungen der Geschichte. Auf weiten Ge- 
bieten allerdings wird der Religionshistoriker, wenn er 
einen Überblick gewinnen will, auf Spezialuntersuchungen 
der Berufsphilologen und auf Übersetzungen angewiesen 
bleiben. Ebensowenig wie von dem Vertreter der politischen 
Geschichte, der Kulturgeschichte, der Literaturgeschichte, der 
Sittengeschichte kann doch schliesslich von dem Religions- 
historiker gefordert werden, dass er die Sprachen aller Ur- 
kunden kennt. Nur ist es notwendig, dass er an etlichen 
Stellen durch Untersuchungen von erster Hand festen Boden 
unter den Füssen hat. Ebensowenig wie die politische Ge- 
schichte, die Kultur-, Sitten- und Literaturgeschichte kann 
die Religionswissenschaft einer freilich von der Forschung 
immer zu modifizierenden und zu berichtigenden Gesammt- 
orientierung entbehren. Solche Schwierigkeiten im Aufbau 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 77 


der Religionswissenschaftkönnen jedoch daran nichts ändern, 
dass die Religion wissenschaftlich eine Einheit ausmacht. 

Alles als wir Religion nennen, bildet trotz der 
Unterschiede und Gegensätze eine zusammenhäng- 
ende Grösse, die von der Wissenschaft einheitlich 
bearbeitet werden muss.’ Der Beweis für diese These 
kann eigentlich erst mit einer ausführlichen Darstellung 
der Religionsgeschichte gegeben werden. Aber der Beweis 
braucht in Wahrheit nicht mehr geführt zu werden. Schon 
in dem Wort Religion und Religionsgeschichte liegte ine 
solche Erkenntnis. Schon in diesem Begriff liegt die deut- 
liche Anerkennung der Zugehörigkeit der Religionsgeschichte 
zu den Disciplinen, die sich mit der christlichen Religion 
beschäftigen. Die Religion ist eine zusammenhängende 
Reihe von Erscheinungen, zu der auch das Christentum zu 
rechnen ist. Pehr Eklund hatte guten Grund das Studium 
anderer Religionen in seiner Ganzheit in den Plan für die 
kirchliche Wissenschaft aufzunehmen 

Stellt man sich auf den Standpunkt der Selbstbeur- 
teilung der christlichen Religion, so kommt man zu dem- 
selben Resultat. Jedes Misstrauen gegen ein rein wissen- 
schaftliches Programm enthält bei dem Christentum ein 
Misstrauen gegen sich selbst und gegen die Macht der 
Wahrheit, sich geltend zu machen. Das Christentum emp- 
findet sich nicht bloss als eine von den Religionen der 
Welt, sondern in seinem Wesen als die Religion par pré- 
ference. Der Gesichtspunkt des Christentums ist also uni- 
versell. Es heisst in Hases Hutterus Redivivus, der im 


1 Vielleicht ist es ganz unnötig hinzuzufügen, dass ich durch solche 
Bemerkungen gar nicht einer „Methode“ das Wort rede, die sich durch 
allerhand, oft in ungeheuerlicher Weise Zeit und Raum verachtende Vergleiche 
die einzig wissenschaftlich sich bewährende Mühe ersparen will, eine Er- 
scheinung aus ihren eigenen Voraussetzungen zu begreifen. 

2 Den teologiska vetenskapen, Stockholm 1885. 


78 Nathan Söderblom 


neunzehnten Jahrhundert jahrzehntelang sehr verbreiteten 
Darstellung der lutherischen Dogmatik, von der Religion: 
„Der historische Begriff umfasst das Gemeinsame in den 
religiösen Erscheinungen, welche die Geschichte aufweist. 
Die älteren Dogmatiker der Kirche erheben sich selten zu 
diesem Begriff in seiner Allgemeinheit, da sie als Gegensatz 
zu ihrer Religion nicht anderes zu finden glaubten, als die 
falsche, uneigentlich sogenannte Religion.“ Um so not- 
wendiger ist es, dass das theologische Studium, wenn das 
Christentum eine höhere Auffassung und Würdigung der 
Religion in all ihren Offenbarungen gewonnen hat, die Re- 
ligion in ihrem ganzen Umfang zum Gegenstand ihrer 
Untersuchungen macht. Nur in dem Masse, in dem das 
Christentum den andern Religionen volle und unbedingte 
Gerechtigkeit erweist, kann es allgemeingültig seinen An- 
spruch erheben, dem religiösen Bedürfnis der Menschheit 
zu entsprechen. Wenn man die Religion als Gegenstand 
der theologischen Fakultäten aufstellt, knüpft man so- 
mit an gute Traditionen an und nimmt Rücksicht auf 
die dem Christentum inhärente Betrachtungsweise von sich 
selbst und von anderen Religionsformen. Die Wissenschaft 
vom Christentum kann von der Religionswissenschaft im 
allgemeinen nicht isoliert werden. Der Gegenstand der 
Theologie darf nicht enger umschrieben werden als das 
Gebiet der Religion. Die biblische Offenbarung muss ihre 
Sonderstellung innerhalb dieses generis proximi dann erst 
wissenschaftlich beweisen. 

Dass die Religion für die wissenschaftliche Betrachtungs- 
weise eine Einheit bildet, ist ein Seinsurteil, kein Wert- 
urteil. Nichts ist damit über den Wert oder die Wahrheit 
der einzelnen religiösen Erscheinungen ausgesagt. Inner- 
halb dieser gemeinsamen Bezeichnung „Religion“ bergen 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 79 


sich weite Unterschiede auch prinzipieller Art: Entartung 
und Fortschritt, niedrigere und höhere Form, geistige Ärm- 
lichkeit und Neuschöpfung, Heil und Unheil, Wahres und 
Unwahres. 

Mit einer solchen Auffassung des Gegenstandes der 
theologischen Forschung bin ich weit entfernt davon, etwas 
Neues zu sagen. Vielmehr verhelfe ich damit nur der 
alten Tradition von der sogenannten natürlichen Theologie 
wieder zu ihrem Rechte, freilich in einer durch die neueren 
Einsichten von Grund aus berichtigten und veränderten 
Fassung. Denn im Begriff der natürlichen Religion und 
der natürlichen Theologie liegen eigentlich für die theo- 
logische Wissenschaft zwei Erkenntnisse eingeschlossen, 
die nicht vernachlässigt werden dürfen, nämlich erstens, 
dass alle Religion irgendwie zusammenhängt, also die 
Theologie eine universelle Aufgabe hat und die gesammte 
Religion der Menschheit irgendwie umfassen muss, zweitens, 
dass in aller Religion, wie elend, primitiv oder verkommen 
sie auch sei, doch etwas von Wahrheit und demnach von 
göttlichem Ursprung steckt. 

Die Geschichte der natürlichen Theologie und der Tat- 
bestand der Religionsgeschichte veranlassen uns zu der 
These: an die Stelle der Lehre von der natürlichen Theo- 
logie der älteren Dogmatik soll nunmehr die allgemeine 
Religionsgeschichte treten. Sobald sich die allgemeine 
Religionsgeschichte auf dem Grunde der Angaben und 
Einzelforschungen der Fachphilologen, der Untersuchungen 
von Missionaren, Reisenden, Kolonialbeamten und anderen 
als selbständige, zusammenhaltende, überblickende und 
methodische Disziplin konstituiert, lässt sich die Frage 
nach ihrem Verhältnis zur theologischen Erforschung des 
Christentums nicht vermeiden. Sie wird dann allerdings 


80 Nathan Söderblom 


im Sinne der alten Erkenntnis vom Zusammenhange aller 
Religion, die im Begriffe der „natürlichen Religion“ vor- 
läufig, aber noch nicht sachgemäss ausgedrückt war, be- 
antwortet werden müssen. 


VI. 


Allgemeine und besondere Religions- 
geschichte. 


Damit, dass wir an die Stelle der natürlichen Theo- 
logie die allgemeine Religionsgeschichte in ihr gutes Recht 
eintreten lassen, ist aber unsere Aufgabe noch nicht er- 
ledigt. Vielmehr fragt sich nun: Besteht zwischen der 
allgemeinen Religionsgeschichte und der biblischen Re- 
ligionsgeschichte irgend ein Unterschied, gewissermassen 
analog zu dem, den die früheren Darstellungen der Re- 
ligion zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion 
machten? Hatüberhaupt die Sonderstellung des Christen- 
tums im Studium einen wissenschaftlichen Grund? 

Das Christentum ist das nächste und wichtigste Gebiet 
für das Studium der Religion. Denn es ist klar, dass der 
Ausgangspunkt und gleichzeitig der Mittelpunkt für un- 
ser Studium der Religion gegeben ist in der religiösen Bil- 
dung, die uns am nächsten liegt und für uns bei weitem am 
meisten bedeutet: im Christentum. Wenn es die Aufgabe 
der Wissenschaft ist, uns in unserer Welt, das heisst in un- 
serer gegenwärtigen geistigen und zeitlichen Welt, zu orien- 
tieren, dann muss man mit dem Nächsten beginnen und 
sich vor allem an das Wichtigste halten. In der Geschichte 
des Staatslebens und der Kultur widmen wir den Schick- 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 81 


salen des Vaterlandes mehr Zeit als etwa denen Chinas, 
obwohl dieser Staat an sich umfangreicher, älter und 
bedeutungsvoller ist. Die Sprachen, denen unsere Sprach- 
forscher die meiste Arbeit widmen, gehören unserer Kul- 
turwelt an. In den juristischen Fakultäten an unseren Uni- 
versitäten beschäftigt sich die überwiegende Anzahl der 
Lehrstühle mit unserem eigenen Recht, dessen Geschichte, 
Prinzipien und Inhalt. Das römische Recht wird im Ver- 
gleich zu dem einheimischen Recht in der Regel knapper 
behandelt, obwohl ihm in der Entwicklung der Menschheit 
eine grössere Bedeutung zugemessen werden muss, und ob- 
wohl es auch stark auf die Geschichte des einheimischen 
Rechts eingewirkt hat. Dem alten babylonischen Recht 
oder dem heutigen japanischen Recht kann verhältnismäs- 
sig nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet werden, wie in- 
teressant die Dinge für die Rechtsforschung auch sein mö- 
gen. Es wäre unvernünftig hierüber zu klagen. 

Schon aus ähnlichen Gründen ist es klar, dass das Stu- 
dium des Christentums den Löwenanteil des Studiums der 
Religion für uns bilden muss — sofern auch hier das Stu- 
dium den reellen Inhalt haben soll, uns unser geistiges In- 
ventar klar zu machen und die Welt aufzuklären, in der 
wir historisch stehen — und nicht vom Dilettantismus 
oder einer unwissenden und zufälligen Moderichtung ge- 
lenkt wird. In den der Religion gewidmeten Fakultäten 
an unseren Universitäten ist das Studium vor allem auf 
die Religion gerichtet, die die Religion der deutschen und 
abendländischen Geschichte und Kultur ist. Wir müssen dies 
Verfahren für richtig halten, weil das Christentum unserm 
geistigen Horizont weit näher liegt und für unser geistiges 
Leben unvergleichlich mehr bedeutet als die Mazda-Vereh- 
rung, der Islam, der Buddhismus, die Brahman-Atman- 


6. — Beiträge zur Rel. Wiss. 1,1. 


82 Nathan Söderblom 


Lehre, die indische oder buddhistische Bhakti, Laotses und 
Kungfutses Tao, Schinto u. s. w. zusammengenommen. 
Aber ausser dem lokalen und historischen Faktum, 
dass das Christentum unsere, des Abendlandes Religion ist, 
sprechen für seine beherrschende Stellung im Studium der 
Religion andere, sachliche Gründe, die nicht in gleicher 
Weise auch für die andern Gebiete des Wissens, für die 
politische Geschichte, die Kultur- und Literaturgeschichte, 
die Sprachwissenschaft und Rechtwissenschaft gelten, die 
oben als erläuternde Analogien angeführt worden sind. 
Vor allem ist das Christentum reicher an Material für 
das Religionsstudium als jede andere Religion, und zwar, 
wenn eine solche Ausdrucksweise der Kürze halber erlaubt 
ist, sowohl der Breite wie der Tiefe und der Länge nach. 
Das erste — was die Breite anbetrifft — hat Adolf Harnack 
mit Recht geltend gemacht (damals freilich richtete er diese 
Erkenntnis gegen die Einführung der allgemeinen Religi- 
onsgeschichte als Universitätsfach). Im Christentum findet 
sich alles. In seiner religiösen Vorgeschichte in Israel be- 
gegnet uns der Gegensatz zwischen den heidnischen Bräu- 
chen und Vorstellungen des Volksglaubens und der mosai- 
schen Prophetenreligion, die durch alle Jahrhunderte ihren 
Kampf gegen jene führte. Und auch das Christentum selbst 
kam mit allerlei Volksreligionen in Berührung, die sich eng 
mit ihm verbanden und in seiner Entwicklung eine bedeu- 
tende Rolle spielen. Wir können in der sehr zusammen- 
gesetzen Erscheinung, die man Christentum nennt — die Ge- 
schichte kennt keine kompliziertere Gestaltung — Bilderkul- 
tus und Magie studieren, ekstatische Epidemien und Vielgötte- 
rei. Erhabene Mystik hellenischen Ursprungs tritt hier auf, 
aber auch die Gott-Vater-Verehrung und der Christusglaube 
des Evangeliums. Hierarchische Welterobererprogramme 
gedeihen neben der heiligen Gleichgültigkeit des Eremiten. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 83 


Luthers Berufsideal hebt sich von der Mönchsfrömmigkeit 
ab. Ein ganzes Orchester von Rassentemperamenten spielt 
hier — Juden in der Bibel, ein Paulus und Petrus, spekulative 
Griechen, gefühlvolle, empfangliche Syrer und fromme Aegyp- 
ter, weltenordnende Römer und Germanen mit ihrem eigen- 
tümlichen Rechtsleben und Sinn für persönliche Selbstän- 
digkeit, gallische Begriffsklarheit, deutscher und nordischer 
Tiefsinn, englische Mischung von praktischem Blick und 
schwärmerischer Hingebung. 

Hier muss nun auch ein andrer Punkt, der besonders 
die Religionspsychologie betrifft, hervorgehoben werden, 
ich meine die Tiefe inneren persönlichen Lebens innerhalb 
des Christentums. Es ist bereits trotz der neuen Begeiste- 
rung für die indischen und ostasiatischen Religionen ein- 
gesehen worden, dass kein Religionskomplex so viel Mate- 
rial für das Studium des inneren Lebens der Religion auf- 
weist, wie das Christentum. Das beruht auf dem Zusammen- 
treffen zweier Umstände. Das Christentum hat den Blick 
des Menschen nach innen gerichtet. Zwar gilt das auch 
von den mystischen indischen und altgriechischen Heils- 
lehren, aber im Christentum geschieht es nicht nach so festen 
und uniformierenden Richtlinien wie bei jenen. Es bedeutet 
hier nicht eine gewisse dem Einzelnen mitgeteilte Erkennt- 
nis und die schrittweise, für alle gleiche Übung nach einer 
gegebenen, wohl erwogenen und richtig befundenen psycho- 
logischen Regel. Sondern es bedeutet Selbstprüfung und 
Vertiefung, freie, individuell nüanzierte Gestaltung der Per- 
sönlichkeit durch die Erkenntnis des göttlichen Waltens in 
der heiligen Geschichte und in ihrer Zentralgestalt Jesus Chris- 
tus, und in den Geschicken des eigenen Lebens. Auf der 
einen Seite, d. h. in den indischen und hellenischen Heils- 
lehren, wie in anologen Arten der Mystik innerhalb der 
Christenheit und des Islams, steht eine ferlige, im Detail 


84 Nathan Söderblom 


ausgearbeitete Selbstdisziplin, um dem Leid des Lebens zu 
entgehen und seliger Empfindung teilhaft zu werden. Auf 
der anderen Seite findet sich ganz einfach die Forderung 
innerer Wahrhaftigkeit — ein Zeitgenosse will sogar das 
Wesen der Religion so bestimmen. Diese Andeutungen dürf- 
ten die überraschende Tatsache begreiflich machen, dass 
die indischen Religionen und Buddhas Ordenslitteratur, die 
sich mit grossartiger Konzentration auf das innere Leben 
richten und in unzähligen Beschreibungen den in sich bestän- 
dig gleichen Seelenzustand der Versenkung und des Nach- 
innengerichtetseins schildern, doch ärmer sind an religions- 
psychologischem Material als das Christentum, und trotz all 
der Feinheiten und Schönheiten einförmig dastehen neben 
den nach dem Reichtum des Lebens selbst mannigfaltig aus- 
geprägten Bildern des inneren Lebens, wie die Offenbarungs- 
religionen sie besitzen. Die Autobiographien des Christen- 
tums, denen nicht einmal der Stoizismus! etwas ähnliches an 
die Seite stellen kann, sind in ihrer Weise ein Ausdruck, 
nicht nur der christlichen Innerlichkeit und ihrer mannig- 
falligen Verbindungen mit der Philosophie, sondern auch 
des Sinnes für persönliches Leben, der das Evangelium 
auszeichnet. Es sind christliche Impulse, die in späterer 
Zeit Asiaten zu lebensvollen, individuell ausgeprägten und 
für die Religionswissenschaft ergiebigen Schilderungen ihrer 
eigenen inneren Geschichte veranlassten, wie die Japaner 
Nisima und Utschimura. 

Wir kommen nun zu dem, was ich die Reichhaltigkeit 
der biblischen Religionsentwicklung an Länge nannte. Die 
biblische Religionsentwicklung von Moses — oder vielleicht 
noch früher von Abraham — an, beschreibt auf dem ganzen 
Wege einen langen, dramatisch lebensvollen, in einer Reihe 


! Vgl. G. Misch, Geschichte der Autobiographie I Leipzig 1907 S. 184, 
229 ff., 330. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 85 


von Persönlichkeiten fortschreitenden religiösen Zusammen- 
hang. Hier können wir, wie nirgends sonst, eine an Inhalt 
reichhaltige und durch die ganze Länge der Zeit sich er- 
streckende religiöse Kontinuität studieren. Das einzig Ver- 
gleichbare, was die Religionsgeschichte aufweisen kann, 
ist die indische Linie von den Vedagesängen durch die 
Opferspekulation, die Brahman-Atmanlehre, das Mönchs- 
leben, die buddhistische Selbsterlösung und die Bhakti, 
(Gottesergebenheit, Heil durch liebevolles Verlrauen), bis zu 
dem verwickelten Gebilde des Hinduismus der Gegenwart 
— mit seinem einfachen Fazit. Diese indische Linie ist 
unentbehrlich als das vollständige Bild einer Religionsent- 
wicklung, die uns in den hohen und höchsten Natur-, 
Kultur- und Versenkungs-Religionen in Aegypten und Baby- 
lonien, im frühen Griechenland, im mittelalterlichen, su- 
fischen Persien und in der Unendlichkeitsmystik innerhalb 
der Christenheit nur in Fragmenten entgegentritt, und sie 
ist ebenso unentbehrlich als ein Gegenstück der biblischen 
Religionslinie. Die abendländische Forschung hat die ver- 
schiedenen Gebilde der indischen Religionsentwicklung und 
des indischen Denkens noch nicht in ihrer lehrreichen Man- 
nigfaltigkeit verwertet. Aber eins fehlt der indischen Reli- 
gionsgeschichte. Das Christentum mit seiner Vorgeschichte 
im Judentum besilzt, was Indien entbehrt: eine Propheten- 
oder Offenbarungsreligion, und zwar eine solche, die 
durch eine Reihe von Neuschöpfungen prophetischer Art 
fortschreitet. Die im Christentum vorhandene Offenbarungs- 
religion behält ihren Charakter bis in die hohe Kultur hinauf 
bei. So durchläuft die biblische Religionsentwicklung mehr 
Stadien, besitzt ein gewaltigeres, schicksalsreicheres drama- 
tisches und historisches Leben und beschreibt einen an Inhalt 
und positiven Einsätzen von Persönlichkeiten und Gedanken 
reichhaltigeren, aufklärenderen und ergiebigeren Prozess. 


86 Nathan Söderblom 


Man hat gesagt: wer eine Religion kennt, kennt keine. 
Niemand stimmt dem wärmer zu als ich mit Bezug auf die 
Notwendigkeit für die Religionsforschung, den Blick über die 
eigene Religion hinaus zu erstrecken. Auch biblische Fragen 
warten auf eine völlig befriedigende Behandlung, die nur 
auf einem weiteren religionsgeschichtlichen Hintergrund 
möglich ist. Aber mit Rücksicht auf die biblichen Religi- 
onen muss zugegeben werden, dass ihrer bereits zwei sind: 
Judentum und Christentum, und dass die mannigfache und 
verwickelte Geschichte des Christentums allein uns schon 
ein Recht, ein grösseres Recht als irgend eine andere Reli- 
gion, gibt zu sagen: wer diese Religion kennt, kennt mehr 
als eine Religion. 

Der grosse Raum des Christentums im Religionsstudi- 
um wird ausserdem noch dadurch bedingt, dass es, welt- 
historisch gesehen, die wichtigste Religion ist. Erst in un- 
sern Tagen hat der europäische Gesichtskreis sich zu einem 
wahrhaft welthistorischen zu erweitern begonnen, indem 
wir Ostasien im vollen Ernst in die abendländische Welt- 
politik eintreten sehen. Gleichzeitig hat man allgemein 
eingesehen, welche ausserordentliche Rolle der Buddhis- 
mus gespielt hat als ein Faktor in Asiens Machtkämp- 
fen und Verkehr und, welche Wunder er ausgerichtet hat vor 
allem in der Erziehung und Milderung der Gemüter und 
Sitten der asiatischen Völkerschaften. Aber dennoch kann 
jetzt selbst bei einem überzeugten Buddhisten, der die gros- 
sen Linien und die gegenwärtige Lage der Weltkultur zu 
verfolgen vermag, kein Zweifel darüber herrschen, dass das 
Christentum für die Weltgeschichte mehr bedeutet als der 
Buddhismus, wie hoch man auch seine Einwirkung in den 
einzelnen Fällen einschätzen mag. Die beherrschende Stel- 
lung, die das Christentum in der abendländischen Kultur 
als Gottesglaube, als Christusmystik oder Moralgesetz, als 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 87 


leitende Gedanken, Lebensorientation und Kraftquelle ein- 
nahm und noch einnimmt, kann der Buddhismus für die 
asiatische Welt nicht beanspruchen. Das liegt tief begrün- 
det in der Art der Religionen. 


Für die Kirche steigert sich die erstgenannte Tatsache, 
dass das Christentum unsere Religion ausmacht, zu der Er- 
fahrung, dass sie in Christus und in keinem Anderen das 
Heil besitzt. Nach Schleiermachers Anschauung genügte das 
genannte Faktum ohne jeden weiteren Vergleich, um die 
Selbständigkeit der Wissenschaft vom Christentum zu be- 
gründen. Seitdem die Religionsgeschichte uns gezeigt hat, 
dass auch der Anspruch absolut zu sein, d. h. die Exklu- 
sivität, der biblischen -Religion eigentümlich ist, muss nun 
auch diesem Gesichtspunkte mehr Gewicht beigelegt werden. 
Für die Kirche ist das Christentum nicht nur anderen Heils- 
wegen überlegen, sondern sogar im Prinzip die Wahrheit 
und somit der unvergleichliche Gegenstand ihrer Forschung. 
Da wir es hier mit einer Schätzung zu tun haben, die nicht 
ohne weiteres einem jeden denkenden Menschen einleuch- 
tend zu beweisen ist, werden wir diesen Gesichtspunkt in 
unserer Darstellung, wo es rein wissenschaftliche Erkennt- 
nis gilt, ausser Acht lassen. 


Ist der Zusammenhang von allem, was Religion heisst, 
anerkannt und wissenschaftlich zu begründen, so fragt es 
sich nun weiterhin, inwiefern die wissenschaftliche Bearbei- 
tung der Religion einerseits in einer besondern Religions- 
geschichte, der Theologie als der Wissenschaft von der 
biblisch-christlichen Offenbarungsgeschichte, anderseits in 
einer allgemeinen Religionsgeschichte, nicht nur durch ge- 
wisse äussere Umstände — wie die praktischen Zwecke 
der Kirche und die geschichtliche Tatsache unsrer Zugehörig- 


88 Nathan Söderblom 


keit zum Christentum — veranlasst, sondern auch in der 
Sache selbst wissenschaftlich begründet ist. 

Schon die Besonderheit der biblischen Religion als 
unser Glaube und als religiöse Grundlage der geistigen 
Kultur des Abendlandes rechtfertigt es ja völlig, aus dem 
Gebiete der Religion einen Ausschnitt zu machen und auf 
ihn das Hauptgewicht zu legen. 

Aber auch abgesehen von der geschichtlichen Bedeu- 
tung des Christentums, abgesehen von seinem Reichtum, 
seiner Überlegenheit und seiner Absolutheit im Glauben 
seiner Bekenner, abgesehen von jeder. Wertung bringt eine 
von apologetischer, antitheologischer und sonstiger Vorein- 
genommenheit befreite Forschung einen prinzipiellen Unter- 
schied zur Geltung, welcher in verschiedener Weise be- 
wertet werden kann und auch in der Tat verschieden be- 
wertet worden ist, der aber der Religionswissenschaft eine 
Distinktion aufnötigt, die gewissermassen die Unterschei- 
dung einer besonderen und einer allgemeinen Religions- 
geschichte vorwegnimmt. Nur eine gründliche und um- 
sichtige Analyse kann diese Grundfrage der Philosophie der 
Religionsgeschichte annähernd aufklären. Ich werde hier 
nur einen einzigen Gesichtspunkt andeuten um zu zeigen, 
dass es sich hier in der Tat um eine in der Sache theo- 
retisch begründete, d. h. um eine wissenschaftliche Not- 
wendigkeit und nicht etwa um eine praktisch berechtigte 
oder gar um eine ganz unmotivierte Willkür handelt. 

Ich muss hier in einer Anmerkung darauf hinweisen, 
dass „Offenbarung“ in der Religionswissenschaft und in 
dieser Darstellung in zwei verschiedenen Bedeutungen ge- 
braucht wird. „Offenbarungsreligion“ ist ein von Hermann 
Usener und Anderen gemünzter Terminus technicus, der 
sich in der Religionsgeschichte eingebürgert hat. Damit 
wird die Eigenart der prophelischen Religion in treffender 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 89 


Weise bezeichnet. Das Wort sagt nichts von Offenbarung 
im Sinne einer göttlichen Selbstmitteilung, enthält über- 
haupt kein metaphysisches Urteil, sondern bringt zum 
Ausdruck, dass in der Religionsgeschichte ein Typus sich 
durch den Anspruch Offenbarung zu sein und durch den 
eindringlichen Charakter seiner Gottesvorstellung aus den 
übrigen Formen heraushebt. Offenbarungsreligion ist dem- 
gemäss von „geoffenbarter Religion“ genau zu unterscheiden. 
Denn im Ausdrucke „geoffenbarte Religion‘ bedeutet Offen- 
barung eine metaphysische Aussage, während Offenbarungs- 
religion einen besonderen Typus der Religion bezeichnet. 
Nach dieser Bemerkung gehen wir weiter. 

Nichts scheint deutlicher zu sein als der Name unsrer 
Wissenschaft: Geschichte der Religion. Aber hinter diesem 
Namen verbirgt sich eine Fülle von Fragen. Hat über- 
haupt jede Religion eine Geschichte? Welche Religion hat 
keine Geschichte? Wie ist die Religion dazu gekommen, 
eine eigene Geschichte zu haben? Bedeutet Geschichte für 
jede Religion dasselbe? Hat jede Religion dieselben Be- 
ziehungen zum sonstigen geschichtlichen Leben der mensch- 
lichen Gesellschaft? 

Man hat vielfach von geschichtslosen Völkern ge- 
sprochen wie auch von unzivilisierten oder kulturlosen 
Völkern. Nun kann aber nach Ratzel „kulturlos“ doch 
nicht etwa bedeuten, dass die betreffenden Völker jeder 
Kultur entbehren, sondern „kulturlos“ ist hier nur im 
Sinne von „kulturarm“ gebraucht. Dasselbe aber gilt auch 
von der Bezeichnung ‚geschichtslos“. Eigentlich entbehrt 
kein noch so armseliger Stamm einer Geschichte. Wie R. 
Lasch? bemerkt, hat die Lehre von der völligen Geschichts- 
losigkeit der Naturvölker mit dem Erscheinen des Helmolt- 


' Das Fortleben geschichtlicher Ereignisse in der Tradition, Globus 
1908, I, 287 ff. 


90 Nathan Söderblom 


schen Geschichtswerkes (1899) eine starke Erschütterung er- 
fahren. Näher betrachtet enthalten die Sagen und Mythen 
der sogenannten Naturvolker Erinnerungen an Wander- 
ungen, Veränderungen in Gebräuchen und Organisationen 
und sonstige geschichtliche Verhältnisse. Wir dürfen nie, 
wozu man immer geneigt ist, die sogenannten Primitiven als 
ein treues Abbild der ältesten Menschen betrachten, denn 
die vielen Jahrtausende sind nicht spurlos an ihnen vorü- 
bergegangen. In ihren Verhältnissen und Anschauungen 
haben vielmehr im Laufe der Zeit Veränderungen statt- 
gefunden. Freilich besitzen diese Menschen kein oder nur 
ein sehr geringes, auf Einzelkeiten beschränktes geschicht- 
liches Bewusstsein.’ Die unterscheidende Grenze zwischen 
Primitiven und Kulturvölkern, zwischen Völkern ohne ein 
geschichtliches Leben und Völkern mit einem solchen, bildet 
für unsere Betrachtung die Tatsache, dass erst die letzteren 
eine eigene Zeitrechnung haben schaffen können. Wie jede 
Grenze in der Geschichte kann auch diese Grenze nicht 
scharf gezogen werden. Man kann hinzufügen, dass die 
Mentalität im Grunde immer dieselbe bleibt. In diesem 
Sinne können wir von einer Religion der Primitiven oder 
von einer primitiven Religion sprechen, freilich doch nur 
in uneigentlichem Sinne, zumal die wirklichen Religionen 
der Primitiven auch charakteristische Unterschiede unter 
einander aufweisen. 


1 R. Stübe bemerkt hierzu, dass das Bewusstsein der Kontinuität. den 
Naturvölkern fehlt. Einzelkeiten werden oft lange bewahrt (Australier). Auch 
die Dakota, die Chroniken besitzen, scheinen nur einzelne Tatsachen zu er- 
fassen. Das Continuum scheint durch genealogische Tradition entstanden zu 
sein — so bei den Irokesen und Kirgisen, die Geschlechtsregister über Jahr- 
hunderte führen. Sollten die genealogischen Partien im A. T. und bei Homer 
nicht Nachklänge des beginnenden Verständnisses für geschichtlichen Zusam- 
menhang sein? Dieses Continuum lässt sich ja nur an irgend einer konkreten 
Reihe anschaulich erfassen; das Bewusstsein erfasst nicht sogleich den inneren 
Zusammenhang des Geschehens, sondern die sichtbaren Grössen, in denen er 
sich darstellt. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 91 


Fragen wir jetzt: Wie ist denn die Religion zu einer 
Geschichte gekommen, so ist die erste Antwort selbstver- 
ständlich diese: Hat das Volk eine Geschichte, so gilt das 
gewissermassen von allem, was zum Volksleben gehört, 
also auch von den sakralen Einrichtungen. Aber diese 
Antwort ist nicht die einzige. Dass die heiligen Institutionen 
und Vorstellungen der natürlichen Gesellschaft sich mit 
der Gesellschaft selbst entwickeln, bedeutet doch für die 
Religion noch keine selbständige Geschichte. 

Im Grossen und Ganzen können wir drei Hauptwege 
unterscheiden, auf denen die Religion zu einer Geschichte 
wird. Der erste Weg ist die allmähliche kulturelle, öko- 
nomische und politische Entwicklung eines Volkes, die 
auch die Entwicklung der sakralen Institutionen einiger- 
massen in sich begreift. Das Charakteristikum des zweiten 
Weges liegt in der Sonderstellung eines gewissen Religions- 
typus gegenüber der menschlichen Gesellschaft und ihren 
Angelegenheiten. Der dritte Weg, auf dem die Religion zu 
einer Geschichte wird, liegt in dem Wirken prophetischer 
Persönlichkeiten. 

Diese drei Entwicklungsformen der Religion hängen 
eigentlich von Unterschieden im Gottesbegriffe ab. Es gibt 
Gottheiten, die bei aller Machtentwicklung ihrer Verehrer 
doch die Grenzen ihres Wesens nie zu überschreiten ver- 
mögen und universal werden können. Andrerseits kann ein 
universeller Charakter der Gottesidee mit der Entfremdung 
von den sonstigen Interessen und Werten des Menschen- 
lebens verbunden sein oder selbst in einer solchen Ent- 
fremdung begründet sein. Die Selbständigkeit der Religion 
wird dann durch ihre Loslösung von der Geschichte bewirkt. 
Endlich kann der Wille der Gottheit als eine das gesamnile 
Dasein und die ganze Menschengeschichte beherrschende 
Macht aufgefasst werden. 


92 Nathan Söderblom 


Wenn die Völker zu einem geschichtlichen Leben ge- 
langen, dann entwickeln sich die Götter mit. Je nach den 
veränderten Verhältnissen eines Volkes verändern sich auch 
die Götter. Schon in ihrem Namen spiegeln mehrere Götter 
die Geschichte ihres Volkes wieder. Amon-Re bezeugt z.B. 
die Vereinigung zweier ursprünglich getrennter Götter- 
gestalten als die Folge der sich erweiternden Autorität der 
Sonnentheologie der gelehrten Priester des Re zu On und 
der politischen Hegemonie Thebens, der Stadt des einst 
'unbedeutenden Gottes Amon. Marduks beherrschende Stell- 
ung in der babylonischen Schöpfungsgeschichte und in 
andren Mythen sowohl wie im Kultus hängt mit der durch 
Hammurabis Reichsgründung herbeigeführten Herrscher- 
stellung der Stadt Babel zusammen. Mit dem Reiche wächst 
der Gott. Pharao bittet im Gebet um Sieg, damit das 
Gebiet des Gottes sich erweitere. Wird das Reich als Welt- 
reich aufgefasst, so erhebt auch sein Gott universelle An- 
sprüche. Eine andre Frage ist, ob die betreffende Gottheit 
auch immer die Voraussetzungen erfüllt, um solchen, eigent- 
lich politisch begründeten Ansprüchen religiös zu genügen. 
Sehr charakteristisch war in dieser Beziehung die Taktik 
des römischen Imperiums. Der Hauptgott des Weltreiches, 
Juppiter, schloss in sich keineswegs auch den entsprechen- 
den religiösen Universalismus ein. So hat man mit dem 
Vordringen der römischen Weltmacht auch nicht versucht, 
durch den Kultus des Juppiter andre Kulte zu verdrängen. 
Wohl aber hat man fremde Gottheiten mit Juppiter identi- 
fiziert. Ferner schaffte sich das Weltreich im Kaiserkultus 
einen der politischen Gesellschaft sich so eng wie möglich 
anschliessenden religiösen Ausdruck. 

Soweit die politische Geschichte. Auch die ökonomische 
Entwicklung und die allgemeine Kultur beeinflussen die Re- 
| R, Kittel, Geschichte des Volkes Israels, 1°, Leipzig 1912, S. 624. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 93 


ligion und geben ihr eine Geschichte. Mit dem höheren ma- 
teriellen Gewinn werden die Opfer und die Riten grossartiger 
als vorher. Wenig erfreuliche Beispiele solcher Entwicklung 
haben wir in den Hekatomben von Vieh und Menschen, 
die im alten Mexico und in den Negerreichen West- 
afrikas geopfert wurden. Aber ein verfeinerter Geschmack 
fühlt sich am Ende doch abgestossen durch das Gebrüll des 
Schlachtviehs und das ekelhafte Blut. Das Schlachten wurde 
daher im alten Aegypten und in China niedrigeren Beam- 
ten anvertraut. Die altägyptische Gottheit erheischt die- 
selbe Nahrungsweise wie der Pharao. Ihr wurden auserle- 
sene Gerichte als Opfer dargereicht, und zwar nach dem- 
selben Menu und mit derselben Etikette wie dem Pharao.' 
Man kennt aus dem alten Aegypten feine Weinmarken, die 
für die Götter bestimmt waren — wohl aber den Priestern 
besser schmeckten, die in allen Zeiten solchen Sachen nicht 
wenig Verständnis entgegengebracht haben. Dem alten Ri- 
tus gemäss sollte die Statue der Gottheit durch Bestreichen 
ihrer Lippen mit Blut belebt werden. Aber allmählich 
wurde alles nur symbolisch. Mit der höheren Entwick- 
lung der Kultur traten an die Stelle der Speisen und der 
sorgfältigen Toilette des Gottes u. s. w. nur Worte. In 
China sollte früher der König-Priester (=Priester-König) 
selbst, wie in anderen Religionen, das Opfertier erwürgen.? 
Jetzt ist diese barbarische Sitte bei diesem verfeinerten 
Teile der Menschheit selbstverständlich schon längst nicht 
mehr in Übung. Bei dem grossen Opfer (ta-tsi) in der 
südlichen Vorstadt von Peking bei der Wintersonnenwende 
wurden die Opfertiere im Voraus von zwei Zensoren und 


1G. Foucart, Histoire des religions et méthode comparative Paris 1912, 
S. 151. 

2 Charles de Harlez, La Religion et les Cérémonies impériales de la 
Chine moderne Bruxelles 1893, S. 80. 


94 Nathan Söderhlom 


Mitgliedern der Opferdirektion in den Ställen besichtigt und 
von Dienern getötet. Ihr Blut und ihre Häute wurden in 
einem Loche im Boden ausserhalb der Mauer begraben. 
Was dem Schang Ti und den sonstigen Gottheiten wie den 
Vorfahren ałs Opfer dargebracht wurde, waren feine Gerichte, 
nach allen Regeln der kulinarischen Kunst zubereitet mit 
Sauce, Wein, Kuchen und Früchten serviert. In China neh- 
men auch bekanntlich Seidenstoffe unter den Opfergaben eine 
beträchtliche Stelle ein — alles Zeugnisse einer allmählichen 
Verfeinerung des Geschmackes. 

Schon diese dürftigen Beispiele zeigen, wie die politische 
Geschichte und die allgemeine Kulturentwicklung dazu bei- 
tragen, auch der Religion eine Geschichte zu geben. 

Aber das Einflussgebiet der Religion bleibt doch hier 
überall auf die Nation begrenzt, der sie ursprünglich ange- 
hört. Auch als im alten Griechenland und in China die 
persönliche Frömmigkeit und das ethische Denken gewisse 
Selbständigkeit errangen, blieb doch die Religion wesent- 
lich eine Einrichtung des Staates. Ihre Grenze fiel mit 
derjenigen der Staatsmacht zusammen. Wird der Gesichts- 
kreis über den eigenen Staat oder Staatskomplex hinaus 
erweitert, wie in der altorientalischen, astralen Welt- 
anschauung oder wie in der chinesischen Morallehre und 
in der Stoa, so haben solche Erscheinungen wenig 
religionsbildende Kraft. Der Kultus bleibt jedenfalls an 
die natürlichen Gesellschaftsformen, an Familie, Stadt, Staat, 
Zunft, Kaste u. s. w. in der Hauptsache gebunden. 

Wir verlassen die Volksreligionen und wenden uns den 
höheren und selbständigeren religiösen Gebilden zu. Eine 
eigene Geschichte, unabhängig von der politischen, gewinnt 
die Religion? erst dann, wenn sie selbst eine Gesellschaft, 


* Vgl. Religionsproblemet. S. 448 ff. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 95 


einen Tabubund oder eine Kultgemeinschaft, wie im 
Orphismus, einen Mönchsorden, wie im Jinismus, bildet 
und nicht mehr nur eine der Äusserungen der natürlichen 
oder politischen Gesellschaft ist. Ein derartiges Durch- 
brechen der natürlichen Gesellschaft fand nun im Chri- 
stentum und auch im Islam statt. Aber zuvor wenden 
wir uns zwei früheren Bildungen zu, einer innerhalb der 
griechischen Kultur, nämlich den orphischen und pythago- 
reischen Kultvereinen und Ordensgesellschaften, und dann 
der andern auch innerhalb der arischen Kultur, den ortho- 
doxen und heterodoxen Bettelorden in Indien. 

Die ersten Ansätze zu selbständiger Gemeinschafts- 
bildung innerhalb der Religion treten schon auf einer sehr 
niedrigen Kulturstufe auf, wie in den Geheimbünden oder 
Geheimtänzen und Ordensgesellschaften’ Afrikas, wo sie 
besonders unter den Negern am Guineagolf eine grosse 
Rolle spielen, ebenso in den Geheimbünden der Ozeanier 
und der nordamerikanischen Indianer. Aber erst in den 
asketischen Heilslehren der Inder und Griechen tritt diese 
gemeinschaftbildende Fähigkeit der Religion in vollstem 
Masse hervor. Hier finden wir klassische Beispiele einer 
Frömmigkeit, die es versucht hat, die Menschen ungeachtet 
der Bande des Blutes und Staates zusammenzuschhessen. 
In der Gestalt des buddhistischen Bettelordens mit zu- 
gehörigen Laien hat die indische Heilslehre den grösseren 
Teil der asiatischen Menschheit erobert: oder wenigstens 
überschwemmt. Der Orphismus hat eine beinahe ebenso 
mächtige Geschichte. Von Plato und Plotinus veredelt und 
bereichert hat die orphische Frömmigkeit als Neuplato- 
nismus durch die wahrscheinlich im fünften Jahrhundert 
in Syrien abgefassten Schriften des sogenannten Areopagiten 
weithin und lange Zeit Einfluss gehabt. Der eine der zwei 


! H. Webster, Primitive Secret Societies. New-York 1908. 


96 Nathan Söderblom 


im Christentum immer fortlebenden Frömmigkeitstypen, die 
Unendlichkeitsinystik, stammt aus dieser neuplatonischen 
Richtung. Auch die sufische Frömmigkeit des ketzerischen 
Islam verdankt dem Neuplatonismus viel. Diese zwei grossen 
Ströme der Mystik aus Indien und aus Griechenland können 
in strengem inneren Zusammenhang aus ihren eigenen 
Voraussetzungen begriffen und beschrieben werden, ohne 
dass das Staatsleben und die politische Geschichte als 
wesentliche Faktoren dabei herangezogen werden müssten. 
So läuft von den Brahmanas und Upanischaden mit ihrer 
Atman-Brahman Lehre in selbständiger Linie die Ent- 
wicklung der Lehre vom Seelenheil bis zum Hinduismus 
und Buddhismus unserer Zeit. Wenn man von der Bhakti- 
Frömmigkeit, d. h. von der Lehre über die Erlösung 
durch die Goltesliebe, die sich zur Atman-Brahman-Lehre 
hinzugesellt hat, absieht, so bildet das akosmische Heil der 
unpersönlichen indischen Mystik eine in sich abgeschlossene 
Einheit. Allerdings haben geschichtlich politische Verhält- 
nisse bei der Verbreitung dieser Lehre eine Rolle gespielt. 
Das Reich Tschandragupta’s und seines grossen Enkels 
Asoka (gest. 222 v. Chr.) bedeutete für den schnellen Erfolg 
der indischen Bettelorden das, was das römische Reich für 
die christliche Mission bedeutete. Ich erinnere weiter an die 
Verwickelung des Buddhismus mit der Politik verschiedener 
chinesischer und japanischer Machthaber. Ihrem Wesen 
nach ist aber sowohl die Erlösung durch das Aufgehen 
ins Brahman, wie der Buddhismus, gegen die Geschichte 
der Völker und die natürlichen menschlichen Angelegen- 
heiten völlig gleichgiltig, Das Leben der Staaten und 
die Geschichte liegen ausserhalb der Sphäre sowohl der 
indischen wie der griechischen Erlösungsmethoden. Viel- 
mehr gilt es gerade bei dieser Erlösung von allem Staat- 
lichen und Geschichtlichen loszukommen. In ihrem Prinzipe 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 97 


ist jede Mystik zeitlos, und nicht nur zeitlos, sondern auch 
raumlos, sodass Zeit und Raum für sie nicht existieren. 
Sie lebt überall und in allen Epochen in einer stillen 
Ewigkeit. Eigentlich hat also diese Religionsform keine 
Geschichte." Die Mystiker verstehen einander durch die 
Entfernungen der Länder und der Geschichte hindurch, 
denn sie sagen und empfinden im Grunde alle dasselbe. 
Sie sind dem Drama der Geschichte enthoben und kämpfen 
in ihm nicht mit. Aber durch ihre Verbreitung, durch 
Veränderungen in ihrer Organisation, infolge verschiedener 
Methoden bekommt doch endlich diese der Geschichte 
feindliche Frömmigkeit auch eine Art eigener Geschichte. 

Anders liegt nun aber die Sache bei den prophetischen 
Religionen des Moses und des Zarathuschtra. Vielleicht, ja 
wahrscheinlich bedeutete schon der Auszug der Terahiden 
aus Mesopotamien eine gewisse Verbindung des Gottes- 
glaubens mit der Geschichte. Moses und die anderen 
Propheten nahmen die Geschichte in die Religion selbst 
auf, denn ihnen offenbarte sich Gott in der Geschichte. 
Der entwickelte Mazdaismus lehrt eine fortschreitende Ent- 
wicklung, bei der jede Periode das menschliche Geschlecht 
der Weltvollendung näher bringt. Das Stichwort der Eschato- 
logie ist Fraschokereti, d. h. ,, Vorwartsmachen“, Fortschritt, 
Vollendung. Der Jahve des Moses war der Gott, der das Volk 

1 Schon längst hat man beobachtet, wie wenig Interesse die Inder für 
die Geschichte gehabt haben und noch haben. Ich lese z. B. in den Briefen 
der Jesuitenmissionare, ,,Lettres edifiantes et curieuses“, Recueil XXVI. 
Paris 1743 p. 22%: „De toutes les parties de la belle littérature, l'histoire est 
celle que les Indiens ont le moins cultivé“. Nur einmal schien es, als ob 
Indien unter einheimischen Herrschern zu einer geschichtlichen Einheit 
vereinigt werden sollte — im vierten und dritten vorchristlichen Jahrhundert. 
Aber das politische Werk der grossen Herrscher der Maurya-Dynastie blieb 
nicht besteben. Seitdem haben Ausländer und zwar nur zweimal die Einheit 
Indiens annähernd oder vollständig zustande gebracht: die Mogul-Kaiser des 
16. und 17. Jahrhunderts und die Engländer seit der Mitte des vorigen 


Jahrhunderts. 
7. — Beiträge sur Rel. Wiss. 1,1. 


98 Nathan Söderblom 


aus Ägypten gerettet und der seinem Volke die Eroberung 
Kanaans versprochen hatte. Die Propheten wurden in den 
politischen Umwälzungen der Wirkungen Jahves gewahr. 
Der patriotische Partikularismus wurde von ihnen durch 
eine sittliche Betrachtung durchbrochen, die in Tragik 
auslaufen musste, aber gleichzeitig eine neue persönliche 
Innigkeit zeitigte. Als ein Jeremias sich in seinen Hoffnungen 
und Bestrebungen bitter enttäuscht sah, verfiel er doch keinen 
Augenblick in einen egoistischen ınystischen Individua- 
lismus, sondern drang nur tiefer in Jahves Wesen ein. 
Die geschichtliche Solidarität zeitigte in der Zeit der 
Verbannung in den Ebed-Jahve Liedern, den Liedern vom 
„Knechte des Herrn“, eine neue Deutung des Leidens, die 
für Jesu Selbstbeurteilung von Bedeutung wurde Auch 
Jesus lebte mit seinem Volke und für sein Volk in dem 
unendlich wichtigen Zeitraum vor der erwarteten Kata- 
strophe, d. h. in der Zeit vor dem Beginne der vollkommenen 
Gottesherrschaft. Der Inhalt seiner Heilsbotschaft betraf das 
Wesentlich-Menschliche. Keine Bewegung in der Geschichte 
hat dieselbe Kraft gezeigt, alle Grenzen des Blutes, des 
Staates, der Bildung und der Klasse überschreiten und 
somit völlig universell werden zu können, wie die von 
Jesus ausgehende. Aber Jesus selbst wusste sich nur für 
die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel bestimmt 
und sandte auch seine Jünger nur zu ihnen. Nichts kann 
deutlicher die geschichtliche Solidarität in dem Evangelium 
zeigen als dieser scheinbare Gegensatz zwischen der na- 
tionalen Begrenzung der Aufgabe Jesu und ihren universellen 
Wirkungen. Im nun folgenden Christentume kreuzen sich 
die neuplatonische, akosmische, zeitlose Heilserfahrung und 
das prophetisch-evangelische Heilsbewusstsein. In den 
Glauben der zu einer formulierten Lehre fortgeschrittenen 
Offenbarungsreligionen wird die Geschichte dadurch hinein- 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 99 


genommen, dass ihre Bekenntnisse in die Erwartung des 
Endziels auslaufen. Denn Gott ist ihnen auch der Herr 
über die Geschichte, obwohl seine Herrschaft sich nur im 
Gegensatz und Kampf verwirklicht, und obwohl sein Handeln 
der menschlichen Vernunft unbegreiflich bleibt. Ausgeführte 
Zukunftshoffnungen erinnern leicht an die bekannte Eschato- 
logie der Katze. Sie hat Anfechtungen wegen der Unge- 
rechtigkeit des Weltlaufes zu erleiden. Denn die Vögel 
haben Flügel, und wenn die hungrige Katze ihre Beute 
ergreifen will, so ist sie schnell fort. Aber im tausend- 
jährigen Reiche werden die Vögel keine Flügel haben. So 
rettet die Katze ihre Theodizée. Heikel kann es sein, die 
göttlichen Absichten im Einzelnen deuten zu wollen. Aber 
zum Gottvertrauen d. h. zum persönlichen Glauben in der 
Offenbarungsreligion gehört dennoch die Gewissheit vom 
göttlichen Endziel der Geschichte. Nur die Propheten- 
religion Zarathuschtras und die des Moses mit ihren Ab- 
zweigungen haben eine Eschatologie im eigentlichen Sinne, 
d.h. eine Lehre von der göttlichen Besiegelung der Geschichte. 
Diese Religionen können, wenn sie sich selbst treu bleiben 
wollen, ihre Schicksale nicht von denen der menschlichen 
Gesellschaft absondern, sondern fassen im Gegenteil ihre 
übernatürlichen Ziele als den Kern der gesamten Geschichte 
und als ihren eigentlichen Sinn auf. 

Wir sehen also schon an diesem Punkte in der Religi- 
gionsgeschichte einen inhaltlich begründeten Unterschied, der 
der Religionswissenschaft die Unterscheidung einer beson- 
deren und einer allgemeinen Religionsgeschichte nahe legt 
oder der wenigstens innerhalb des Gebietes des Gottesglau- 
bens einen besonderen Gottesglauben bezeugt, einen Glau- 
ben, der auch die Geschichte in das göttliche Wirken und in 
die Sphäre der Religion einbezieht. 


100 Nathan Söderblom 


Vielleicht gestattet uns der soeben eingenommene Stand- 
punkt einen Einblick in wesentliche Unterschiede der Reli- 
gion. Die höheren Religionen, die früher oder später selb- 
ständige Gemeinschaften bilden, geben die lokale Gebunden- 
heit der Volksreligionen und des Staatskultes auf und wer- 
den Wanderer, lösen sich also von den nationalen Grenzen. 
Dem Juppiter wurden neue Tempel gebaut in Gegenden, in 
denen früher sein Kultus nicht geübt wurde. Aber darin 
lag noch nicht eine selbständige Geschichte. Denn diese be- 
deutet ja Veränderung aus eigenen, inneren Bedingun- 
gen. Die Volksreligionen werden höchstens geführt, selbst 
bewegen sie sich nicht, sondern bleiben an Gau oder Stadt, 
an Volk oder Reich gebunden. Eine neue Zeit bricht an, 
wenn die Seele ihre himmlische Herkunft erkennt und sich 
in der Welt fremd fühlt. Wohl kennt auch die Volksreligion 
übermenschliche, himmlische Mächte und ruft sie um Regen 
und Sonnenschein, um Erfolg und Gesundheit an. Aber es 
kommt ein Tag, an dem die Seele andre Güter verlangt. 
Kennt sie an diesem Tage keine Gottheit, die solche Güter zu 
verleihen vermag, so werden die Götter, die Wachstum, 
Erfolg, Glück und Macht geben können, selbst mit unter die 
Heilsbedürftigen gerechnet wie im alten Indien. 

Mysterienträger, Wanderprediger und Bettelmönche zeig- 
ten im Süditalien und Griechenland wie im vorchrist- 
lichen Indien eine neue Epoche der Frömmigkeit an. Ky- 
nische Volksprediger und orientalische Wundertäter schienen 
in den Propheten und Exorzisten des Urchristentums fort- 
gesetzt zu sein. Wir brauchen einen näheren Blick auf das 
neue Kerygma zu werfen, um zu finden, dass sein Ursprung 
auf jüdischem Boden wirklich einen tiefergehenden Unter- 
schied von den früher vorkommenden, wandernden Asketen 
erzeugte. Auch die zwei prophetischen Bewegungen der Re- 
ligionsgeschichte, die Zarathuschtras und Moses’, hiessen wie 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 101 


die zwei akosmischen Strömungen in Indien und Griechen- 
land, eigentlich ewige Bewegungen, wenn es zunächst auch 
nicht so zu sein schien. Mosaismus und Zoroastrismus sind 
trotz ihrer zeitweiligen Propaganda wesentlich an die Bluts- 
verwandschaft gebunden geblieben, doch war etwas Neuesin 
ihnen vorhanden. An die Stelle der Starrheit und Sterilität der 
Volksreligion trat selbständige geislige Geschichte. An Abra- 
ham erging der Befehl, sein Land und sein Geschlecht zu ver- 
lassen. Die Religion wurde durch Moses zu einer selbständigen 
Macht. Aber der Unterschied ist so auffallend wie möglich. Ich 
sagte, in der höheren Entwicklung sei die Religion ein Wan- 
derer geworden. Aber während in den zwei grossen mystischen 
Richtungen die Seele gleichsam aus Raum und Zeit auswan- 
dert, wird in den zwei prophetischen Bewegungen die Geschich- 
te selbst zu einer Wanderung. Während die Asketen und My- 
stiker aus dem kreisenden, ewig gleichen Geschehen und al- 
len menschlichen Angelegenheiten sich retten wollen, bedeu- 
tet den Propheten das Geschehen selbst eine Wanderung, 
nicht einen Kreislauf, sondern einen Weg, der durch Gefahren 
und trotz Abweichungen zu einem Ziele führt. Denn den Pro- 
pheten offenbarte sich Gott als Wille und Macht. In der Ge- 
schichte wie im Innenleben tat er sich ihnen kund. Er war 
kein weltenferner Gott, sondern er war nahe, brauchte nicht 
gesucht zu werden. Mit eindringlicher Gewalt packte er den 
zitternden Propheten, der sich ihm nicht entziehen konnte. 
Nicht einmal im Reiche der Todes fühlte sich der Psalmist vor 
Gott sicher. Die indischen und hellenischen Mystiker über- 
schritten alle Grenzen, um weit hinter ihnen das All-Eine 
zu geniessen. Sichversenken, Eintauchen in die ewige Gottheit 
war ihr einziges Ziel. Dem Prophetismus aber war. Gott eine 
unentrinnbare persönliche Macht, Offenbarung ist sein Wesen. 
Das besagt nun nicht, dass die prophelische Religion der Kon- 
templation entbehrt, oder dass Offenbarung, im psycho- 


102 Nathan Söderblom 


logischen Sinne als plötzliches Emporleuchten einer Erkennt- 
nis oder im metaphysichen Sinne als göttliche Wahrheit, der 
arischen Mystik fremd sei. Aber die Eigentümlichkeiten der 
beiden werden durch die genannten Charakteristika an- 
nähernd umschrieben. Zunächst scheint die prophetische Of- 
fenbarung einem einzelnen Volke anzugehören und partikula- 
ristisch zu sein. Der Prophetismus unterliegt auch der beson- 
deren Gefahr, in Gesetzesreligion zu erstarren. Zarathuschtras 
und Moses’ Religionen haben in einer späteren Periode eine 
Zeit lang eifrige Propaganda getrieben, die freilich längst der 
Vergangenheit angehört. Das Judentum, das einst im Alter- 
tum und noch im Mittelalter einzelne Menschen, Städte und 
Länder bekehrte, ist jetzt längst nur eine Religion der Rasse 
geworden. Der Parsismus, die Nachkommenschaft des ehemals 
mächtigen Mazdaglaubens in Iran, ist gegenwärtig so sehr 
davon entfernt, eine Weltreligion sein zu wollen, dass vor 
einigen Jahren, als eine Anzahl Amerikaner Mazdaanbeter 
und Zarathuschtra-Jünger werden wollten, diese Wünsche 
von der parsischen Gemeinde in Bombay abgelehnt wurden. 
Von Zeit zu Zeit finden wir wohl in der Geschichte des Par- 
sismus, dass einzelne Fremde mit dem heiligen Hemd 
und der heiligen Schnur bekleidet worden sind. Aber das 
sind doch Ausnahmen. „Die Parsen haben nie versucht, Pro- 
selyten zu machen.“ Dies Zeugnis von D. Menant’ stimmt 
sicherlich mit der Absicht der Parsen selbst überein. Nur im 
Christentum ist die Geschichtsmystik Weltreligion geworden. 

Durch das Einbeziehen der Geschichte in die Religion 
entstand für das Christentum das Problem, das ihm charak- 
teristisch ist und seine vornehmste theoretische Schwierigkeit 
ausmacht. Wie kann das Zufällige des geschichtlichen Ge- 
schehens die absolute Gewissheit ausmachen, die die Fröm- 


!Les Parsis I, Annales du Musée Guimet, Bibl. d'Études VII Paris 
1898. S. 258. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 103 


migkeit für ihr Heil und ihren Frieden fordert? Auch in an- 
deren Stiftungsreligionen taucht dann, wenn sie zu einem 
höheren Stadium der Selbstbesinnung gelangt sind, der Ge- 
gensatz zwischen der Einmaligkeit und Ungewissheit der ge- 
schichtlichen Tatsache oder Persönlichkeit einerseits und der 
ewigen Heilswahrheit anderseits auf. Man hat neuerdings be- 
hauptet',die mahayanische Lehre von den drei Körpern Budd- 
has (trikäya)’ sei aus dem spekulativen Bestreben hervorge- 
gangen, den absoluten Wert der Verkündigung Buddhas mit 
dem kontingenten Charakter seines Menschenlebens aus- 
zugleichen. Die altindische, jetzt besonders in Japan 
blühende Verehrung des Buddha Amitabha, jap. Amida, 
„des ewigen Lichtes“, baut die Seligkeit auf eine Heilstat- 
sache auf, nämlich auf Buddhas vorzeitliches Gelübde, nicht 
die vollkommene Erleuchtung an sich zu nehmen, ehe alle 
Wesen, die an ihn glauben, das Heil erreicht hätten?. 


1 P, Masson-Oursel in Actes du IV Congrès intern. d’Hist. des Rel. Lei- 
den 1913. S. 83. 

3L. de la Vallée Poussin, in J. R. A. S. 1906, 943 ff. 

8 Es gibt mehrere Formulierungen des Geliibdes. Siehe das Sukha- 
vati-vyüha-Sutra, übers. v. Max Müller S. B. E. XLIX; Übersetzungen 
und Studien von dem allzufriih dahingeschiedenen phantasie- und kenntnis- 
reichen Arthur Lloyd, Buddhist Meditations from Japanese Sources, Tokyo 
1905; The Praises of Amida, Tokyo 1907; Shinran and his work, ibid. 
1910; The Creed of Half Japan, London 1910; D. T. Suzuki, Outlines of 
Mahayana Buddhism, London 1908; Yejitsu Okusa, The principal teachings 
of the true sect of Pure land, Tokyo 1910; J. Troup, On the tenets of the 
Shinshiu or „True Sect of Buddhists in Transactions of the Asiatic Soc. 
of Japan XIV, 1. Die beste Einführung in die buddhistische Lehre vom 
Heil durch Glauben ohne Werke verdanken wir Hans Haas’ aufkliirendem 
und mustergiltig eingerichtetem Buch: „Amida Buddha unsere Zuflucht‘, 
Leipzig 1910, in dem Texte von Honen (1133—1212), dem sogen. japanischen 
Franziskus, und von Shinran (1173—1262), dem grösseren Schüler Honens, 
wie von den andern Nachfolgern iibersetzt und mit Einleitung und Kommen- 
tar versehen sind. Siehe auch H. Haas in „Die orientalischen Religionen“ 
in der „Kultur der Gegenwart“. Zu Honen vgl. noch: M. Anesaki, Honen 
the Pietist Saint of Japanese Buddhism in „Trans. of IIL int. Congress for 
the Hist. of Rel.“ Oxford 1908 I, S. 122 ff. 


104 Nathan Söderblom 


Wer im Gefühl seiner Sünde und unter völligem Ver- 
zicht auf eigenes Verdienst und eigene Kraft dem Gelübde 
vertraut, wird durch Amitabha’s Gnade erlöst. Die Predigt 
vom Heil durch Gnade wird auf Nagarjuna im zweiten Jahr- 
hundert zurückgeführt. Das Bestreben der Theologie ist 
unverkennbar, diesen geschichtlichen Grund des Heils der 
Zufälligkeit der Geschichte zu entrücken. Das Gelübde 
(pranidhi) wird weit zurück in die Zeit versetzt und ver- 
vielfältig. Wie wir schon bemerkt haben, begnügt man 
sich nicht mit weniger als 46 oder 48 Gelübden. Und 
nicht nur der eine Buddha hat ein solches gnadenverbür- 
gendes Gelübde abgelegt. Der Gläubige hat, nach anderen 
Gnadenlehren, um sich eine schützende Schaar von Heiligen, 
die durch das Gelübde auf die Buddhaschaft verzichten, 
um den armen Geschöpfen zu helfen. Es ist die Pflicht 
eines jeden Frommen, als Bodhisattva, künftiger Buddha, 
in der Gegenwart aller Buddhas und Bodhisattvas das Ge- 
lübde abzulegen.! 

Aber in ganz anders zugespitzter und wesentlicher 
Gestalt beschäftigt dieses Problem das Christentum, weil 
diese Religion der Offenbarungsgeschichte und der ge- 
schichtlichen Person Christi eine grundlegende Bedeutung 
für den Glauben beimisst. Schon Paulus empfand das 
Problem.” Nicht selten drohte die Lösung der gedanklichen 
Schwierigkeit auch den Heiland aus der Geschichte zu ent- 
fernen, wie z. B. wenn die Gnostiker Worte und Taten des 
Evangelium in die Zeit nach der Auferstehung versetzten, 


1 Z. B. Santideva, Bodhicaryavatira, übers. von L. de la Vallée Poussin: 
Introduction à la pratique des futurs Bouddhas, Paris 1907, aus Revue d'his- 
toire et de littérature réligieuses X—XII. 

2? Vgl R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, Leipzig 
1910 S. 194 ff; W. Bousset, Kyrios Christos, Göttingen 1913 S. 144 et 
passim. Freilich muss ich bei Paulus dem geschichtlichen Bewusstsein und 
der Eschatologie eine grössere Bedeutung beimessen. 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 105 


oder die Logosidee massgebender als die Bibel wurde, oder 
die Ereignisse der Offenbarung nur als Symbole ewiger 
Wahrheiten galten. Aber die Kirche hat sich besonders in 
der evangelischen Christenheit immer dagegen gesträubt, das 
Problem auf Kosten des Geschichtlichen sich zu erleichtern. 
Auch die mildeste Abstumpfung jener Antinomie durch 
den Verweis auf die Überlieferung als ein Eigentum der 
Gemeinde, hinter dem man die Gestalt des tatsächlichen 
Geschehens nicht zu suchen braucht, scheint mit dem 
Wesen der biblischen Offenbarungsreligion kaum vereinbar, 
wie es Sören Kierkegaard und Wilhelm Herrmann! in 
dieser Hinsicht am schärfsten formuliert haben. 


Die Hauptlinien der höheren und höchsten Religions- 
geschichte, die ich vom Gesichtspunkte der Bedeutung des 
Geschichtlichen für die Religion kurz skizziert habe, brin- 
gen einen Unterschied zum Vorschein, der unabhängig von 
jedweden metaphysischen und religiösen Ansichten dem Be- 
obachter einleuchten muss. Denn diese Unterscheidung 
zweier Religionstypen ist ein Ergebnis der rein geschicht- 
lichen Untersuchung.” Knüpfen wir aber hier die klassi- 
sche Betrachtung der Theologie an, und stellen wir die 
gesammte Religionsgeschichte unter den Gesichtspunkt der 
Offenbarung oder göttlicher Selbstmitteilung, so scheint mir 


! Religion och historia i den evangeliska kristendomen, Stockholm 
1912. | 

2 Auch andere Gesichtspunkte kommen in Betracht, besonders der 
Platz der Ethik in der Religion (als Gottesdienst oder als Weg zum Frieden), 
der damit zusammenhängende mehr positive oder mehr negative Charakter 
der Ethik in der Religion, und die Bedeutung der Persönlichkeit, vor allem 
die Art des Gottesglaubens. An allen diesen Punkten tritt ein Unterschied 
zu Tage, den ich in folgender Weise bezeichnen möchte: In der biblischen 
Religionslinie — und zum Teil auch im Mazdaismus — hat die Gotteserfahrung 
und alles was damit zusammenhängt einen stärkeren, eindringlicheren Offen- 
barung-charakter. Vgl. Uppenbarelsereligion, Upsala 1903, und Art. Com- 
munion with Deity in E R E. 


106 Nathan Söderblom 


der Offenbarungsglaube der skizzierten historischen Er 
kenntniss einigermassen Rechnung tragen zu müssen. Auf 
dem Gebiele der Religionsgeschichle hebt sich eine Ent- 
wicklungsreihe — mit etlichen sporadischen oder nicht voll- 
zogenen Ansätzen zu Parallellen anderswo — von den 
anderen ab, und zwar so deutlich, wi® man überhaupt in 
dem unmerklichen und komplizierten Ineinandergehen und 
in den Übergängen der historischen Erscheinungen Grenzen 
ziehen kann. Ich gebe gern zu, dass eine derartige Ungleich- 
förmigkeit in der Offenbarung dem Gottesglauben und der 
Theodizée verhängnissvoll scheinen kann. Warum sollte 
nicht die ganze Menschheit derselben Offenbarung gleich- 
zeitig teilhaflig gewesen sein? u. s. w., u. s. w. Freilich ist es 
anstössig. Und wer lieber bei seinen heben Gedanken bleibt 
als der Derbheit der Wirklichkeit nachzugehen, den soll 
man in Ruhe Jassen, in der Hoffnung dass er nicht durch 
irgend welche zudringliche Erfahrung aus seiner schön ge- 
ordneten Welt gerissen wird. Es ist hier nicht meine Aufgabe 
von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung 
überhaupt und wie man sie dann zu denken hat, zu sprechen. 
Ihr im Namen der göttlichen Gerechtigkeit und apriorischer 
logischer Wahrscheinlichkeiten oder Notwendigkeiten Ge- 
setze vorzuschreiben, ist mir innerlich fremd Die Theo- 
dizée scheint mir, von Hiob an, irreligiös zu sein. Ich 
rede hier ganz einfach und bescheiden als Historiker. Aus 
dem, was ich in der Geschichte der Religion wahrgenommen 
habe, glaube ich dem christlichen Offenbarungsglauben 
sagen zu dürfen: Beruht Religion auf Offenbarung, so lässt 
uns die Geschichte nicht bloss von Niedrigerem und Höherem 
sprechen, sondern zeigt uns einen Arlunterschied, ein Ge- 
biet, das sich neben den anderen durch die Erfahrung 
von der Aktivität des Göltlichen hervortut. Ich kann 
mich dem Schlusse nicht entziehen, das der geschichtliche 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 107 


Tatbestand dem Offenbarungsglauben eine Unterscheidung 
zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Offen- 
barung aufdrängt. Der alten Distinktion zwischen natür- 
licher und geoffenbarter Religion entspricht diese Auffassung 
nicht. Aber sie erscheint mir eine durch die neuen Er- 
gebnisse der Forschung nahegelegle Weiterbildung des alten, 
seit lange leer gebliebenen Lehrsatzes de religione naturali 
zu sein. 

Es soll hier nicht untersucht werden, inwiefern es zu- 
trifft, dass echte Religion den Glauben an eine göttliche 
Selbsterschliessung bedeutet. Das Zeugnis der Religions- 
geschichte besagt wenigstens, dass die höhere Religion in 
ihren schaffenden Epochen in der Regel von der Gewissheit 
einer übermenschlichen Selbstmitteilung ihre neue Kraft 
holte. Nimmt man dort seinen Ausgangspunkt, d. h. 
wird die Religionsgeschichte in Bezug auf die Idee einer 
Offenbarung untersucht, so muss man, wie bemerkt, ohne 
weiteres einsehen, dass sich die biblische Religionslinie — 
nebst der von keinem weiteren schöpferischen Geiste fort- 
geführten altiranischen Prophetenreligion — von der 
sonstigen höheren Religion deutlich abhebt. Sonst nie 
sind in geschichtlich und inhaltlich vergleichbaren Situa- 
tionen solche Offenbarungsansprüche vorhanden, wie sie 
hier nicht vereinzelt, sondern in mehr als tausendjähriger 
Kontinuität auftreten. Nirgendwo wird sonst das göttliche 
Tun als so überwältigend empfunden und geschildert. Der 
Unterschied von dem ich spreche, kann nicht in einem 
Werturteil ausgedrückt werden, sodass man das Höhere 
dem Niedrigeren obwohl in sich sehr Erhabenen gegen- 
über bevorzugt und hervorhebt. Hier spreche ich keiner 
Schätzung das Wort, sondern nenne eine Tatsache, der die 
wissenschaftliche Erkenntnis nicht entgehen kann. Der 
fragliche Unterschied, um den es sich hier handelt, kann 


108 Nathan Söderblom 


mit grösserem Rechle ein Artunterschied als ein Grad- 
unterschied genannt werden. Denn innerhalb des Genus 
Religion tritt im grossen und ganzen eine Zweiteilung zu 
Tage. Diese Spezies, welche im Christentum am höchsten 
entwickelt vorliegt, ist durch eine Hervorhebung der gött- 
lichen Selbstmitteilung und Aktivität gekennzeichnet, welche 
der hohen Mystik der anderen Religionstypen sehr fremd 
bleibt. Nichts kann die Sache besser beleuchten als die 
Erwägung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis des ge- 
nannten prinzipiellen Unterschiedes keineswegs eine Zusage 
an die Offenbarungsreligion bedeutet. Im Gegenteil kann 
der Untersucher sich zu dem allgemeinen Typus der voll- 
endeten Gottinnigkeit hingezogen fühlen und vom packen- 
den und unheimlich eindringlichen Geiste und positiven 
Glaubensgehalt der Offenbarung, der Sündenvergebung 
und der Berufsmystik sich abgestossen fühlen. Das Fazit 
der Forschung, wenn ich es richtig gezogen habe, heisst 
hier nicht Apologetik oder Überredung, sondern es stellt 
wohl am Ende den Menschen, wenn er, von der Rolle 
des blossen Beobachters nicht befriedigt, das Ringen um 
das religiöse Gut zu seiner menschlichen Würde rechnet 
und sein inneres und äusseres Leben folgerecht und ein- 
heitlich gestalten will, vor eine Wahl. Aber nicht eine 
zwischen Gott und die Welt; gibt es in der ganzen Re- 
ligionsgeschichle eine Literatur, die länger und eindring- 
licher von der Nichtigkeit des Weltlichen und von der ein- 
zigen Wirklichkeit des Geistes zeugt als die indische? Auch 
nicht eine Wahl zwischen Höherem und Niedrigerem. Son- 
dern die Wahl zwischen einer Änsicht, welche in Gefahr ist, 
jede beslinnmende Einwirkung des Göfttlichen auf die 
Welt aus Frömmigkeit zu leugnen, und einer anderen An- 
sicht, welche Gott unter dem unvollkommenen und wie 
alle menschlichen Worte und Symbole missverständlichen, 


Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte 109 


aber prinzipiell von dem ersteren verschiedenen Gesichts- 
punkte des Willens zu erfassen bestrebt ist. Man hat ver- 
sucht, diesen Unterschied als Suchen und Finden, Wahn 
und Wahrheit zu bezeichnen. Dem Religionshistoriker fällt 
es schwer, einer mehr realistischen Anschauungsweise nicht 
den Vorzug zu geben. Gibt sich der Historiker den Zeug- 
nissen, dem Wechsel und dem Fortgang der Religionen 
hin, so empfängt er den Eindruck, dass die Menschen 
immer unter dem Einfluss einer zugleich unzugänglichen 
und doch unumgänglichen göttlichen Wirklichkeit gestan- 
den haben. In höheren Stadien vermag die religiöse 
Reaktion deutlichere und bewusstere Ausdrücke abzugeben. 
Dann glaubt man zu merken, dass bald die eine, bald 
die andere Eigenschaft des Glaubensgegenstandes herr- 
schend wird, und infolge der -Begrenztheit des mensch- 
lichen Erkenntnisvermögens ihr Komplement zu verdrängen 
droht. Ausserhalb der Offenbarungsreligion führt die Reini- 
gung der Gottesidee in der Regel dahin, dass die Un- 
zugänglichkeit des Göttlichen das letzte Wort behält. Der 
Zusammenhang der Religion mit der sonstigen Wirklichkeit 
löst sich auf. Auch Ehrfurcht und Weihe verflüchtigen 
sich leicht.‘ Der Offenbarungsreligion im eigentlichen Sinne 
liegt die Versuchung nahe, die sich aufdrängende lebendige 
Wirklichkeit des Göttlichen durch Handgreiflichkeit der Vor- 
stellungsweise verbürgen zu wollen anstatt sie aus dem 
religiös-sittlichen Leben zu erfahren.’ 


! Auffallend ist immmer dem abendländischen religiösen Bewusstsein 
der Mangel des Hinduismus an Ehrfurcht vor dem Göttlichen gewesen. In 
diesem Punkt besitzt der Islam in Indien einen entscheidenden Vorrang, indem 
bei ihm das Heilige Furcht und Andacht einflösst. Vgl. F. H. Barrow in 
The East and the West 1910. S. 182. 

% Indem ich die gütigst angebotene Gastfreundschaft in diesen fort- 
laufenden »Beiträgen» der religionsgeschichtlichen Gesellschaft in Stock- 
holm dankbar annehme, erlaube ich mir zwei Bemerkungen. Das hier — 
nach einem Meissener Vortrag erweiterte — Programın eines engeren und 


110 Nathan Söderblom 


prinzipiell begründeten Zusammenhanges der allgemeinen Religionsgeschichte 
mit der altbewährten Forschungsarbeit der wissenschaftlichen Theologie ist 
natürlich in keiner Weise für diese Publikation noch für ihre Mitarbeiter 
verbindlich. Weiter ist auch dieser Aufsatz nicht für diese „Beiträge“ cha- 
rakteristisch, die ja in der Regel kurzgefasste Einzeluntersuchungen und 
Quellenmaterial aus dem Gebiete der Religionsgeschichte bieten werden. — 
Wenn der Ausdruck etwas von seiner undeutschen Art eingebüsst hat, ver- 
danke ich es den gütigen Bemühnngen das Herrn Cand. rev. min. R. Lehmann 
um das Manuskript. Dr. R. Stübe hatte die mir besonders wertvolle Freund- 
lichkeit eine Korrektur zu lesen. Für seine Bemerkungen bezeuge ich ihm 
auch hier meinen herzlichen Dank. Die Anmerkung Seite 90 stammt von ihm. 


Leipzig 19 Okt. 1913. 
N. S. 


Register. 


Abälard 23 
Abraham 9, 84 
Ackerbaugott 5 
Alexander von Hales 24 
Alkuin 22 
Altorientalische Welt- 

anschauung 94 
Amitabha 103 
Amon-Re 92 
Augustinus 35 
Antihellenismus 35, 49 
Ap. G. 14: 17, F 
Areopagrede 2 

vel Heinrici, Beiträge | Jeremias 98 

zur Geschicte und Erklä- . Jesus 98 

rung des N. T. 111. Leipzig Jungfraugeburt 15 

1905. B. 15 ff. Juppiter 92, 100 
“Arische Religion“ 50 Justinus Martyr 8 ff. 
Aristoteles 20, 25, 27 ff. 


' Herakles 24 

ı Hesiodus 14 
Heraklitus 10, 75 
Hildebert 23 
Hollazius 29 

Horatius 23 

Hume, D. 40 ff. 

| Hutterus Redivivus 77 
Hybrisfurcht 7 


Inge, Ralph 50 f. 
Isis 24 


Artunterschied 107 ‘Kant 42, 70 
Asklepius 15 Karolingische Zeit 21 
Asoka 96 Kassapa 75 
“Atheisten“ 9 Kato 21 

Averroisten 33 Klein, G. 2 


Klemens Alexandrinus 7, 72 
Klementinischen Homilien 9 


Baco, R. 
Berranger, P. 36 


26, 51 


Bhagavad-Gita 56, 74 eg = 
Bhakti, Gottesliebe 55, 70, : 

72, 96 Tno.tas 54 f. 
Butler, J. 28, 31 f., 37 Leibniz 38, 58 
Buddha 54, 61, 84, 86, 108 f. Lloyd, A. 103 
Brahman- Atman 55, %85, 96 . Logos 9 ff. 

tik 

Cairns, D. S. 54 En spermatikos 8, 10, 


Chinesen 58, 93 
Cicero 23, 29 


Defoe, D. 40 
Derek’eres 2 
Descartes 29 f. 


Locke, rae 36, 38 
Luther 49, 74 


| Manikka-vasagar 54, 74 

| Marduk 92 

Mexico 93 

Melanchton 29 

Mission 54, 56 f., 73 

| Modernismus 26, 59 

Moses 13 ff., 97 

Mozoomdar 71 

Musonius 10 

Monchsorden 75, 95 

Mysterien 20, 60 f., 68, 100, 

Mystik 82 f., 97, 101. 
Unendlichkeitsmystik 85 
Christusmystik 86 


Deukalion 12 
Dionysius 15 
Dämonen 11 f. 


Eklund, Pehr 77 
Erasmus 25 
Eusebius 8 f., 16 f. 


Franz, der heilige 75 


Gerbert 23, 72 
Goldenes Zeitalter 3 
Neuplatonismus 49, 96 
Newman, J. H. 63 f. 
Noah 12 


Haas, H. 72, 103 
Harnack A. me 48, 68, 82 


Hauck, A. 2 Norden, E. 5 
Hegel 72 
Heliand 69 | Oberlin, Friedrich 25 ` 


Herrmann, W. 48, 51 
Hermes Trismegistos 24 


| Offenbarung 17, 32 f., 37, 
42, 65, 67, 88 f., 105, 107 Zarathuschtra 54, 100, 102 


Offenbarungsreligion 61,85, 
98, 104, 108 f. 

Opfer 93 f. 

Origenes 8, 35 

Orphismus 95 

| Osiris 24 


ı Pascal 30, 75 

| Pesch, C. 31 

Philo 4 

Picavet, Fr. 23, 26, 33 f. 

Plato 7, 11, 14 f., 20 f., 23, 
35, 51, 61. 70, 72, 75, 95 

Plotinus 7, 95 

Plutarch 25 

Praeparatio evangelica 18 

Prophetismus 101 

Pythagoras 13, 23 


Ramsay, Sir 5 
Religionstypen 105 
Ritschl 48, 51, 68, 72 
Römer 1:19- 23, 2 
Römer 2:14, 4 

Rumi 75 


Schinto 82 

Schleiermacher 40, 43, 45 ff., 
52, 73, 87 

Seneka 21 

Sibyllen 24 

Sokrates 9 ff., 20 f., 25, 61 

' Souverain 35, 60 f. 

Stoa 9, 11, 25, 75, 84, 94 

| Stübe, 'R. 90, 110 

Sufismus 74, 96 

Supranaturalismus 62, 65 


Tabufurcht 62 

Tajumanaver 74 

Tao 55, 82 

Tatianus 8, 72 

| Tertullianus 72 

Thomas ab Aquino 27, 33, 
36, 59 

| Thomasius 46 

Troeltsch, E. 29, 33 

Tulsidas 74 


Unbedingtheit, des Tabu, 
des Heiligen, der Pflicht 
53, 62 

| Usener, H. 88 

| Utschimura 71, 84 


Vergleichsmetode 56 
Vergilius 23 
Westminster Abbey 25 


Inhaltsverzeichnis. 


Mitteilungen über die rel.-wiss. Gesellschaft in Stockholm von ne 
SA E eT ee HI—VIH 
Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte. 

Einleitung Ri A a a Cente acinar gg 1 

I. Vorbereitung zur natürlichen Theologie ..................cccccee eee eee: 2 

IH. -Die formulierte. Lehre zn. ne ei 25 

III. »Alle Religion ist natürliche Religion» .............cscceeessseeceneenne nn 33 

IV. Es giebt keine naturliche Religion ...............2e022sssseeeseeeeesene nenn 42 
V. An Stelle der natürlichen Theologie tritt die allgemeine Religions- 

Beschiehle: ass was Na 68 

VI. Allgemeine und besondere Religionsgeschichte _................er..0... 80 


Repister- as n E E A E NE 111 


BEITRÄGE ZUR RELIGIONSWISSENSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN VON DER 
RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT 
IN STOCKHOLM 


I. JAHRGANG (1913/14) HEFT 2 


INHALT: 


IGNAZ GOLDZIHER: Katholische Tendenz und Parti- 
kularismus im Islam. 


S. A. FRIES: Jahvetempel ausserhalb Palästinas. 
GILLIS P:SON WETTER: „Ich bin das Licht der Welt“. 


Literatur. — Chronik. — Mitgliederverzeichnis. 


ALBERT BONNIER J. C. HINRICHS’SCHE 
STOCKHOLM . BUCHHANDLUNG 
LEIPZIG 


Herausgegeber der Beiträge zur Religionswissenschaft: 


Konsistorialrat Doct. Theol. S. A. FRIES. 
Adresse: Fredrikshofsgatan 3. Stockholm. 


STOCKHOLM 


DRUCK VON ALBERT BONNIER 1914 


Katholische Tendenz und Parti- 
kularismus im Islam. 


Vortrag, gehalten in der Festversammlung am Fehr-Rydberg- 
Tage, 21. September 1913, 


von 


Ignaz Goldziher. 


Budapest. 


Bei der Betrachtung der Entstehungs- und ältesten 
Entwicklungsgeschichte des Islams kann eine allgemeine 
Tatsache unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen; ihre 
Erkenntnis ist für das Verständnis der Gestaltung des 
Islams von entscheidender Bedeutung: ich meine den voll- 
ständigen Mangel eines dogmatischen Triebes. Trotz aller 
hin und wieder auftauchenden Neigung zur Einheitlichkeit, 
dringt doch immer die Tolerierung „berechtigter Eigentüm- 
lichkeiten“ durch. 

Dieser, einer uniformierenden Tendenz entgegenstrebende 
Partikularismus kommt innerhalb der Orthodoxie auf den 
verschiedensten Gebieten zur Geltung. Er bewährt sich von 
der Frühzeit bis in die späteren Perioden der Entwicklung 
des Islams an sehr markanten Erscheinungen der religiösen 
Ausbildung. Die selbst auf sehr wichtigen Gebieten der- 
selben hervortretenden Verschiedenheiten geben keinen An- 
lass zur Sektenbildung. Sie erscheinen und werden an- 
erkannt als normale Nuancierungen der islamischen Ka- 
tholizität. 

Vor einigen Tagen hatte ich in Ihrer altehrwürdigen 
Universität Upsala Gelegenheit, diese Erscheinung an einem 


116 Ignaz Goldziher 


einzelnen hervorragenden Moment der religiösen Attribute 
des Islams, an der Gestaltung des Korantextes zu 
prüfen. Heute erbitte ich Ihre nachsichtige Geduld für 
eine umfassendere Betrachtung dieser Tatsache der Islam- 
entwicklung. 


Der Islam verbreitet sich durch äussere Gewalt in alle 
Welt, ehe sich in seinem Zentrum die Grundgedanken seiner 
Lehre aus einer nebelhaften Allgemeinheit und Unbestimmt- 
heit emporhoben, ehe sich auch nur die ersten Linien seiner 
praktischen Betätigung in bestimmten Formen ausgestalteten. 
Die ausziehen, um ihn zu verbreiten, oder besser gesagt, um 
alle Welt seiner Macht zu unterwerfen, sind Muslime, ohne 
eigentlich den Islam in ihr Bewusstsein einverleibt zu haben. 
Der Islam war eher eine Kriegsparole als eine Doktrin zu 
nennen. Der Koran selbst war ja nur einer Minderheit 
jener bekannt, die für den Sieg des Wortes Gottes in Syrien, 
Babylonien, Persien und Aegypten so erfolgreich kämpften." 
Durch die in die Sitze des Islams ausgehende Redaktion 
des heiligen Buches sollte. ja dieser Unkenntnis durch den 
dritten Nachfolger des Propheten erst gesteuert werden. 

Es konnte keine Rede davon sein, dass die Riten des 
Islams sich einheitlich entwickeln. Als die Massen, die 
zumeist aus religiös gleichgültigen Leuten aus allen Stämmen 
Arabiens bestanden, auf ihre Eroberungsunternehmungen 
auszogen, hatten sie ja keine feste Norm mitgenommen. 
So blieben nun die formellen Momente der Islambetätigung 
noch lange Zeit ohne jede Disziplinierung. Diese bereits 


1 vgl. Caetani, Annali dell’ Islam I 46. Wie wenig auch nur die 
fatiha gekannt war, dafür ein Beispiel bei Usd al-ghaba IV 307. 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 117 


früher festgestellte Anschauung von der Entwicklung des 
muhammedanischen Ritus hat an Sicherheitswert gewonnen 
durch die überraschenden Untersuchungen des Prinzen 
Leone Caetani und des P. Henri Lammens über 
die Ursprünge des Islams. Ich will die Beispiele nicht 
wiederholen, die ich selbst in einer älteren Studie’ zur Il- 
lustrierung der hier berührten religionshistorischen Tat- 
sache angeführt habe. Wohl aber darf ich die Gelegenheit 
benutzen, für dieselbe einige ergänzende Beispiele anzu- 
führen. In der unerschöpflichen Dokumentensammlung des 
Ibn Sa‘d?, in einem der vom Upsalaer Professor Zetterstéen 
edierten Bände, ist eine Schilderung davon erhalten, wie der 
Chalife ‘Omar I das Maghrib-salät verrichtete. Die in dieser 
Nachricht geschilderten Formalitäten unterscheiden sich in 
ihren Einzelnheiten davon, was wir aus späterer Zeit von 
den Formen des Salät wissen. 

Bis tief in die Omajjadenzeit sind sehr wichtige Mo- 
mente des islamischen Ritus noch ohne alle Regelung?. 
Dies leuchtet besonders aus einem rituellen Momente hervor. 
Man sollte nämlich voraussetzen, dass der Ritus der Wall- 
fahrt, weil er doch an einem Zentrum sich betätigt und auf 
feste Tradition gestützt in allen Einzelnheiten einheitliche 
Modalitäten bedingt, solche auch sehr früh aufweisen werde. 
Nun werden wir durch eine Nachricht überrascht, die uns 
zeigt, dass noch zur Zeit des Chalifen ‘Abdalmalik* (684— 
705) — nach einem andern Bericht sogar noch zur Zeit des 
Chalifen Sulejmän? (715—717) — die Details der Haddsch- 
Liturgie nicht festgelegt waren. 


! Muhammed. Studien II 29 ff. 

3 Jbn Sa'd V 47, 15. 

+ vgl. Pseudo-Ibn Kutejba, Kitab alimāma wal-sijasa II 173. 

* Ibn Sa'd V 170—171. 

5 Jakabi, Historiae ed. Houtsma II 358. Uber die Entwicklung der ' 
Haddsch-Riten s. besonders C. Snouck Hurgronje, Het Mekkaansche Feest 
(Leiden 1880). 


118 Ignaz Goldziher 


Und gibt es im islamischen Leben etwas Sym- 
bolischeres als den Text des heiligen Koranbuches? Nun, 
es war ja eben Gegenstand des ersten Vortrages, den ich 
vor wenigen Tagen die Ehre hatte in Upsala im Olaus 
Petri-Institut zu halten, daran zu erinnern, dass auch in- 
bezug auf diesen Text, trotz seiner offiziell festgelegten 
Redaktion, Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit nicht erzielt 
werden konnte. | 

Die Attribute des islamischen Lebens gestalten sich im 
Anfang eben nicht fest in einem Zentrum aus, von wo seine 
Regeln in die Diaspora ausstrahlen, sondern gerade um- 
gekehrt. Ritus und Gesetz schlagen einen provinziellen Ent- 
wicklungsgang ein. Auch als die Festsetzungen dieser 
Dinge Gegenstand schulmässiger Behandlung zu werden 
beginnen, betätigt sich neben einer leicht verständlichen Be- 
strebung zur Schablonisierung das Recht der örtlichen Varie- 
täten. Ja selbst die Dokumente, auf welche die Legitimität 
der Varietäten schulmässig gegründet wird, haben Anteil 
an dieser örtlichen, provinziellen Nuancierung. Man bestrebt 
sich, ihre Berechtigung auf normative Aussprüche des Pro- 
pheten zurückzuleiten. Die schulmässigen Vertreter der von 
einander verschiedenen Übungsarten können immer diese 
Verschiedenheiten rechtfertigende Sprüche des Propheten 
beibringen. Die Prophetensprüche, die wir Hadith nennen, 
haben in diesem Sinne provinziellen Ursprung und sie lassen 
sich nach diesem ihrem Entstehungscharakter schichten: es 
giebt küfische, basrische, medinische u. s. w. Traditionen, 
die auf denselben Gegenstand sich beziehend, einander wider- 
sprechende Thesen zu begründen berufen sind.” Dem- 

' Muhammed. Stud. II 175. Vgl. über Provinzialhadithe Ibn Tejmijja. 
Raf al-malam 28, wo er sich auf die Schrift einer der sechs grossen Anto- 
ritäten des Hadith, Aba Dawid al-Sidschistani (st. %7®/ses) über diesen 


Gegenstand beruft: ft mafärid ahl al-amsar min al-sunan (über die Einzel- 
sunnas der Leute der Provinzen). 
8 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 119 


gemäss strebt die Feststellung der rituellen und gesetzlichen 
“Praxis in vielen Einzelheiten ihrer Formen und Bestim- 
mungen auseinander. 

Sobald die islamische Theologie den Anlauf dazu nimmt, 
aus spärlichen Materialien für alle Vorkommnisse des Lebens 
Normen festzustellen, tritt eine Verschiedenheit in den Me- 
thoden der Bewertung und Benutzung der Quellen hervor. 
Diesen theoretischen Dissens begleiten, demselben entspre- 
chend, die Differenzen in den praktischen Fesstellungen. 

Ich erzähle nichts neues, wenn ich darauf hinweise, 
dass infolge der Kodifizierung dieser Verschiedenheiten, be- 
reits im zweiten Jahrhundert des Islams vielerlei Richtungen 
in der praktischen Betätigung des Islamgesetzes sich heraus- 
gebildet und in verschiedenen Gebieten Geltung erlangt 
hatten, von denen nach dem Gesetz des survival of the 
fittest vier bis zum heutigen Tag sich in die Herrschaft 
über die Bekundung des islamischen Lebens teilen. Ihre 
Schulgelehrten haben nicht aufgehört, über jene Verschieden- 
heiten in der scharfsinnigsten Weise zu disputieren, so dass 
nüchterne islamische Beurteiler dieser Verhältnisse die 
Existenz der Grundwurzel des islamischen Lebens, das 
idschmä (Konsens) als ein der Wirklichkeit nicht entspre- 
chendes, täuschendes Phantom hinstellen können." Und 
diese vier Richtungen erschöpfen bei weitem nicht in vollem 
Masse die Differenzierung des Islamgesetzes. Es hat in alter 
Zeit deren noch andere gegeben, die sich nicht durchbringen 
und behaupten konnten. So z. B. hatte der uns mehr durch 
seine geschichtswissenschaftliche Bedeutung bekannte grosse 
Historiker und Theologe al-Tabari eine eigene Schulrichtung 
begründet, die man nach dem Namen seines Vaters (Tabari 
hiess Muhammed b. Dscharir) Dscharirijja benannte, die 
aber bald zu den verschollenen gerechnet werden konnte. 


1 Manar (in Kairo erscheinende arabische Monatsschrift) IV 458 ff. 


120 Ignaz Goldziher 


Dies Schicksal, das sie mit anderen teilt, hat sie nicht 
elwa deswegen ereilt, weil sie von den kirchlichen Auto- 
ritäten nicht gebilligt wurde, sondern nur weil es ihr nicht 
gelang oder weil sie nicht Gelegenheit fand, in einem grös- 
seren örtlichen Kreise Popularität zu erlangen und daher 
von populär mehr begünstiglen Strömungen verdrängt wurde. 
Die vier konkurrierenden Richtungen, die sich in verschie- 
denen Gebieten der Islamwelt behaupteten, sind trotz der 
zwischen ihnen obwalltenden Verschiedenheiten, alle vier 
als orthodox anerkannt, und kein Anhänger einer derselben 
dürfte es ungerügt wagen, an ihrem rechtgläubigen Werte 
zu mäkeln, wenn auch die freie theoretische Kritik ihrer 
divergierenden Regeln und Normen jedem unbenonmen ist. 


I] 


Vor diesen Verhältnissen in der Entwicklung des is- 
lamischen Religionsgesetzes haben theoretische Theologen, 
denen eine restlose Uniformilät des religiösen Lebens mehr 
nach dem Geschmack gewesen wäre, sich beugen müssen. 
Ein hervorragender Zug der islamischen Theologie ist die 
Anerkennung des historisch gewordenen, des fait ac- 
compli, wodurch infolge fortgesetzler langer Übung und 
allgemeiner Verbreitung mit der Zeit oft sogar auch Islam- 
widriges zum religiösen Brauch, zur Sunna, zur verpflich- 
lenden Tradition umgestempelt wird. Die Tatsache des 
Dissensus war ein solches unvertilgbares fait accompli. 
Seine Berechtigung musste demnach religiös legitimiert; die 
Aussöhnung mil dem ichttläf (Dissens) musste sanktioniert 
werden. Die höchste Form der religiösen Sanktion ist im 
Islam ein bezeugender Spruch Muhammeds. Also musste 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 121 


der Prophet selbst die Billigung des Dissensus ausgesprochen 
haben. Man gab ihm dafür folgenden Spruch in den Mund: 
„Die Verschiedenheit in meiner Gemeinde ist Barm- 
herzigkeit.“ Nicht nur nicht islamwidrig sei der Dis- 
sensus in der Religion, er sei vielmehr ein durch Gottes 
Barmherzigkeit verliehenes Recht." Es könne nicht allen 
Bäumen dieselbe Rinde wachsen. 

Mit diesem Prophetenspruch sind wir zugleich Zeugen 
einer für die Quellenkritik des Islams ungemein interes- 
santen Tatsache. Was hier nämlich als Prophetenspruch 
erscheint, wird anderwärts als Dictum von verschiedenen 
Chalifen bis auf Omar II angeführt. Als ersten treffen 
wir Abü Bekr, dem die Meinung zugeschrieben wird: „die 
Meinungsverschiedenheit unter den Gefährten Muhammeds 
sei Barmherzigkeit für die Menschen“ und so herab bis 
‘Omar II, dem dies Dietum zugeeignet wird, ohne dass es 
dabei in irgend welche Beziehung zum Propheten gebracht 
würde.” Es drängt sich demnach einer kritischen Betrachtung 
die Annahme auf, dass sich diese Anschauung im Laufe der 
Beurteilung der tatsächlichen Entwicklungen als Urteil über 
dieselben, vielleicht eben als Meinung des für die religiösen 
Zustände interessierten Chalifen Omar II und seines Kreises 
herausgebildet habe und dann immer weiter zurückdatiert 
worden sei, bis sie letzlich dem Propheten selbst zugeeignet 
wurde, wodurch sie als im Hadith-Spruch festgelegte An- 
schauung die höchste, unantastbare Sanktion erhielt. Ein 
Ausnahmefall ist dies nicht. Bei Untersuchung der Ur- 
sprünge dessen, was alles als Prophetenspruch aufbewahrt 
ist, begegnen wir auf Schritt und Tritt Beispielen dafür, 
dass solche Sprüche in ihren frühesten Bezeugungen an die 
Namen späterer Autoritäten angelehnt waren. 


t Vorlesungen über den Islam, 52. 
3 Ibn Sa'd V 140, 27; 281, 25; 282, 9; Sunan al-Darimi 79; [bn al-Dschauzi, 
Manakib ‘Omar ed. C. H. Becker 137, 15. 


122 Ignaz Goldziher 


In die Gruppe von Äusserungen, welche jenen Propheten- 
spruch vorbereiteten, aber möglicherweise auch bereits die 
Anwendung desselben darbieten, gehört die Erzählung über 
ein Zwiegespräch zwischen dem Chalifen Ma’mün und 
einem zum Islam bekehrten Christen, der jedoch wieder 
vom Islam abfiel. Um die Ursache seiner Apostasie þe- 
fragt, gibt dieser als Grund seines Misbehagens an seiner 
neuen Religion eben den Mangel an Einheitlichkeit in den 
religiösen Dingen an. Darauf lässt man den Chalifen eine 
Auseinandersetzung über die Verschiedenheit in der Gesetz- 
übung und in der Erklärung des Korans führen. Jene sei 
ein von Gott gewährter Vorzug, eine den Gläubigen bewilligte 
Latitude, eine Erleichterung, um nicht durch den Zwang 
einer bestimmten Form in die Versuchung der Gesetzüber- 
tretung zu geraten (tachajjur wa-tausia wa-tachfif min al- 
mihna). Die Vieldeutigkeit der Religionsurkunden hänge mit, 
den Tatsachen der Sprache zusammen und sei im Islam 
nicht vereinzelt. Sie bekunde sich in ebensolcher Weise 
und aus denselben Ursachen in den Erklärungen der Thora 
und des Evangeliums. Sie könne demnach — meint der 
Chalife — nicht Ursache zum Unbehagen am Islam zu- 
gunsten einer anderen Religion sein.’ 


IM. 


Wir können auf dem Gebiete des Gesetzes die Dissensus- 
erscheinungen noch um einen Schritt weiter führen. Neben 
dem von den religiösen Autoritäten im Sinne des eben 
angeführten angeblichen Prophetenspruches rezipierten ka- 
nonischen Dissensus besteht in vielen Gebieten der Islam- 


! Tajfür, Kitab Baghdad ed. Keller 61 Das Zwiegespriich wird vom 
Mutaziliten Thumäna (b. al-Aschras) mitgeteilt. 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 123 


kirche ein von den Organen der religiösen Gesetzgebung 
schliesslich gleichfalls toleriertes, dem kanonischen Schul- 
recht zuwiderlaufendes Gewohnheitsrecht (äda), das in der 
Regel mit den vorislamischen Institutionen und Rechts- 
bräuchen des betreffenden Gebietes identisch ist. Neben 
den pia desideria des religiösen Rechtes — welcher Schule 


immer — gilt für das wirkliche Leben als tatächliches, eth- | ° 


nisches Recht die dda. In neuerer Zeit ist eine grosse An- 
zahl solcher lebendiger volkstümlicher Rechtstraditionen, vor 
denen das kanonische Recht trotz des Machteinflusses seiner 
Organe sich bescheiden muss als religiöses Desiderium in 
die tote Welt der Bücherweisheit zurückzuweichen, be- 
sonders aus Nordafrika und Ostindien gesammelt und ver- 
öffentlicht worden. Sie werden dadurch gleichsam auf das 
Geltungsniveau des jus scriptum, der leges scriptae empor- 
gehoben. In Nordafrika ist es altes Gewohnheitsrecht der 
berberischen Unterschicht, in Ostindien das der vom Islam 
politisch überwundenen indonesischen Heidenvölkerschaften, 
womit die Organe der islamischen Gesetzkunde rechnen 
mussten. Dieser interessanten rechtshistorischen Tatsache 
verdanken wir durch den erleuchteten historischen Sinn 
der Männer, denen die Leitung des Kulturlebens der nieder- 
ländischen Kolonien und die Handhabung ihrer Institutionen 
anvertraut ist, in den letzten drei Jahren eine Sammel- 
publikation von unschätzbarem Werte. Das „Koninklijke 
Instituut voor de Taal-, Land- en Volkenkunde van Nederl. 
Indië“ hat eine eigene Fachkommission für das Studium 
und die Sammlung des Ädatrechtes eingesetzt. Dieselbe hat 
bis zur Stunde 6 stattliche Bände ‘Adatsammlungen (Adat- 
rechtbundel) aus den verschiedenen Teilen des nieder- 
ländischen Kolonialgebietes herausgegeben, und wie wir aus 
dem Jahresbericht des Instituts für 1912 ersehen, sind auch 
bereits weitere Bande unter der Presse. 


124 Ignaz Goldziher 


Diese ‘Adat-Rechte sind, allerdings mit einiger is- 
lamischer Anpassung, im ganzen schroffe Negierungen der 
islamischen: Rechtsnormen, häufig auch in so wichtigen 
Rechtsbeziehungen, wie es das Familien-, das Erb- und 
Strafrecht sind." Diese Zustände haben schon seit alter 
Zeit zu einem Dualismus der Rechtsprechung geführt: zu 
weltlichen Gerichtsinstanzen auf der einen, zu religiösen 
auf der anderen Seite. Die Kompelenzsphären dieser beiden 
rechtsprechenden Stellen sind gegen einander genau ab- 
gegrenzt; man kann sie nicht als gegnerische Faktoren der 
Rechtspflege betrachten. 

Unter denselben Gesichtspunkt gehört die Zweiteiligkeit 
der Judikatur, wo unter anderen Einflüssen, wie in den os- 
manischen Landen, neben dem religiösen, oder wie man es 
nennt, neben dem Scharia-Recht weltliche Gesetzcodices 
(Känün) zur Geltung gekommen sind, deren Urheber freilich 
das nicht durchzuführende Bestreben verfolgten, schlecht 
und recht mit der Scharia in Einklang, oder mindestens 
mit derselben nicht in allzugrellem Widerspruch zu stehen. 

Dieser Dualismus datiert nicht erst aus neuerer Zeit, 
wo er durch den Einfluss und die nötigende Forderung euro- 
päischer Rechtsanschauungen zu erklären wäre. Er ist viel- 
mehr seit Jahrhunderten in bezug auf verschiedene Teile 
des Islams, Syrien, Aegypten, Mittelasien literarisch bezeugt.” 
Die theologische Stubengelehrsamkeit ignoriert natürlich 
die wirklichen Verhältnisse, oder nimmt von ihnen Kennt- 
nis in protestierender Weise, ohne für einen solchen Pro- 
test mehr Bedeutung in Anspruch zu nehmen, als die der 
Gewissensberuhigung im Sinne des dixi et salvavi animam 
meam. Die Praxis des islamischen Lebens aber musste sich 


! vgl. ZDMG. XLI 38 f. RHR LII, 236, Artikel “dda in der Enzy- 
klopädie des Islam. 
2 S. meinen Artikel Fikh in der Enzyklopädie des Islam IT. 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam . 425 


vom Anfang an mit den Tatsachen abfinden und über den 
Dogmatismus des kanonischen Gesetzes ohne Erschüt- 
terung hinwegsehen. Und dies war nicht im Widerspruch 
mit der allgemeinen Tendenz der Entwicklung der is- 
lamischen Institutionen, die auch auf diesem Gebiet, wie 
wir sehen konnten, wenig von strammer einheitlicher Dis- 
ziplin zeigen. 


IV. 


Dieselbe Erfahrung wie am Gesetz und Ritus wird der 
Religionshistoriker machen, wenn er einen Blick in die 
Tiefen des Dogmatismus im Islam wirft. Welch breiter 
Spielraum auf diesem Gebiete dem Dissensus gewährt ist, 
zeigt uns wieder ein dem Muhammed zugeschriebener 
Lehrsatz, der auch hinsichtlich der Wandlungen der Hadith- 
Interpretation überaus lehrreich ist. Nach diesem Lehrsatz 
soll Muhammed gesagt haben: Das Judentum spalte sich in 
71, das Christentum in 72, sein Islam in 73 Lehrparteien, mit 
dem Zusatz, dass alle diese Parteien in die Hölle kommen, 
bis auf eine; deren Anhänger kommen ins Paradies, sie 
sei die alleinseligmachende (al-firka al-nädschija). 

Die Beweiskraft dieses Spruches für die Tatsache des 
als normale Erscheinung gewürdigten dogmatischen Dis- 
sensus tritt durch die exegetische Abbiegung zutage, deren 
Resultat die definitive Anwendung des Hadith ist, wie wir 
es soeben angeführt haben. Ursprünglich ist nämlich, wie 
ich bereits seit 1874 darzulegen versucht habe, in dem 
Spruch gar nicht von Lehrparteien oder Sektenverzwei- 
gungen die Rede; was für Ruhm bedeutete es denn für den 
Islam, in eine oder zwei Parteien mehr als das Judentum 
und Christentum gespalten zu’ sein? Der ursprüngliche 


126 Ignaz Goldziher 


Terminus, den man zuletzt in firka (Spaltung) verändert 
hat, lautet schu ba (Zweige) und bezieht sich nicht auf Par- 
teien oder Sekten, sondern auf ethische Verzweigungen; 
deren habe der Islam um eins-zwei mehr als die ihm 
vorangehenden Religionen; darin liege sein überragender 
Vorzug gegen jene Vorgänger. In der ursprünglichen Fassung 
des Spruches lautet der der statistischen Summierung der 
islamischen Tugenden hinzugefügte Nachsatz: Der bedeu- 
tendeste jener Zweige sei das Bekenntnis zu dem Einzigen 
und seinem Propheten, der geringfügigste bestehe in der 
Wegräumung schädigender Dinge, worüber man leicht strau- 
cheln könnte, aus dem Wege; also das Grösste und Ge- 
ringste, mittendrin nehmen die den Menschen obliegenden 
Pflichten Platz, wie deren auch in der Litteratur der schu ab 
al-iman (Zweige des Glaubens) aufgezählt und erörtert 
werden. 

Hatte man nun in diesem Hadith, angesichts der tat- 
sächlichen dogmatischen Verhältnisse, die 73 Pflichten- 
zweige in 73 Lehrparteien verändert, deren Entstehen der 
Prophet vorhergesehen haben sollte, wurde auch der für diese 
Anwendung unpassende Nachsatz in den oben zitierten von 
der einzigen alleinseligmachenden verändert. Wir werden 
bald sehen, dass diese Fassung des Nachsatzes nicht un- 
angefochten geblieben ist. Denn die in ihr sich kundgebende 
Anschauung widerspricht der tatsächlichen orthodoxen 
Islamlehre. Nach derselben kommt kein Muslim definitiv 
in die Hölle, wenn er seine Zugehörigkeit zur rechtgläubigen 
Gemeinde bekundet, wenn er, wie sie sagen, zu den ahl 
al-salät oder al-kibla gehört, wenn er denselben Gott an- 
ruft und sich zur selben Kibla wendet, wie die dogmatisch 
korrektesten Glaubensbrüder.! Differenzen in dogmatischen 
Minutien kommen in der Beurteilung seiner Fähigkeit zur 


! Vorlesungen 181. 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 127 


Erlangung der Seligkeit nicht in Betracht. Nur eine 
fanatische Minorität hat die Dinge anders angesehen 
und aus dem Kreise solcher Exklusivisten ist der Nach- 
satz von der ausschliesslich seligmachenden firka hervor- 
gegangen. 

Um jene statistische Summierung der 73 dogmatischen 
Lehrparteien in concreto darzutun, hat nun der Propheten- 
spruch in seiner missverständlichen Deutung als Ausgangs- 
punkt und Grundlage der innerislamischen Dogmengeschichte 
gedient, deren Systematiker in den Werken, aus denen wir 
zumeist die Kenntnis der islamischen Dogmenverzweigungen 
schöpfen, ihre Darstellung derselben, wenn auch nicht in 
identischer Weise,' auf das in dem Hadith festgesetzten 
Zahlenverhältnis aufbauen. Es müssen die 73 Parteien 
herauskommen; ein Beweis für die Ungebundenheit und 
Zügellosigkeit, die im Islam in Fragen der Dogmatik sehr 
früh überhand nehmen konnte, ohne dass es je zu einer 
wirklich autoritativen dogmatischen Fixierung gekommen 
ware. Für eine solche hat es bei dem völligen Mangel 
einer strammen Kirchenorganisation, im orthodoxen Islam 
niemals ein institutives Organ oder Forum gegeben, weder 
eine unfehlbare persönliche Lehrautorität (die gibt es nur 
in schiitischen Islam), noch eine in ihren Formulierungen 
verpflichtende Instutition, wie etwa ein Konzil oder eine 
Synode der als kompetent anerkannten Lehrautoritäten. 
Es gibt nur individuelle akida’s, Bekenntnisformeln, 
die die grossen Theologen als Selbstzeugnis verfasst 
haben. Es fehlen also die äusseren Bedingungen dog- 
matischer Uniformierung; hingegen bekunden sich von 
allem Anfang die Zeichen dogmatischer Tolerierung. In 
der Tat wird das Geltungsgebiet des Lehrsatzes vom Barm- 


! ZDMG. LXI, 73 Le Monde oriental V, 209. 


128 Ignaz Goldziher 


herzigkeitscharakter des Dissensus nicht blos auf das ichtila/ 
al-fukahä (Dissensus der Gesetzeslehrer) beschränkt, sondern 
auch auf dogmatische Unterschiede ausgedehnt." 


V. 


Die im Islam zu herrschender Geltung gelangte Uber- 
zeugung von der Berechtigung des gesetzlichen und dog- 
matischen Dissensus hat sich litterarisch in sehr bemerkens- 
werten Erscheinungen ausgepragt. Wir meinen damit nicht 
die Menge von konstatierenden Werken, in welchen die 
Dissensusfälle, mit oder ohne Anfiihrung der von den 
Parteien beigebrachten Argumente, systematisch aufgezählt 
werden,” sondern Schriften, in welchen von der prinzipiellen 
Seite der Frage ausgegangen wird. Da ist vor allem der 
sonst zumeist auf philologischem Gebiete arbeitende Anda- 
lusier “Abdallah ibn al-Sid aus Badajoz (st. *?!/1127) zu 
nennen. Von dem Grundsatz ausgehend, dass Verschieden- 
heit der Ansichten in der Naturanlage der Menschen be- 
gründet, daher auch berechtigt ist — wofür erreichlich Koran- 
stellen anführt — und dass die Meinungsverschiedenheit in- 
bezug auf den Weg, der zur Wahrheit führt, nicht die 
Ausschliesslichkeit der Wahrheit in Frage stellt, untersucht 
er in einem sehr interessanten kleinen Buche, das den Titel 
führt „Billigkeil in Betreff der Ursachen, welche 


! Tabarı II 19, ult. “Ali al-Kari, Komment. zu al-Fikh al-akbar (Kairo 
1323) 99 unten. Die Sūfis betonen, dass aus dem weiten Kreise des zulässigen 
Dissensus die absolute Fassung des monotheistischen Dogmas auszunehmen 
sei; darin ist keine Meinungsverschiedenheit zulässig, Kuschejri, Risala fi-l- 
tasawwuf 17 = Hudschwiri, Kaschf al-mahdschüb (übers. von Nicholson, 
Gibb Memorial) 106, 4 v. u. 176, 12. 

3 Vorlesungen 76 (7:6). 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 129 


die Meinungsverschiedenheit unter den Menschen 
notwendig hervorgerufen haben“, die in diesem Titel 
aufgestellte Frage. Es sind hauptsächlich philologische 
und hermeneutische Momente, die er in zweckmässiger 
Weise zusammenstellt und mit passenden Beispielen aus den 
profanen Sprachdenkmälern (alte Poesie u. s. w.) erläutert. 

Während al-Bataljüsi in der Betrachtung der Dis- 
sensuserscheinungen philologische Gesichtspunkte her- 
vortreten lässt, wird die Gleichberechtigung der gesetz- 
lichen und dogmatischen Unterscheidungslehren von theo- 
logischen Gesichtspunkt aus dargelegt von einer sehr be- 
rühmten, in Aksarä lehrenden orthodoxen Autorität, Abu-l- 
Fadä’il Ahmed b. Muhammed al-Razt. Er schrieb etwas 
vor 630/1232? ein Buch u. d. T. Hudschadsch al-Kur’än 
(Beweisargumente des Korans), in welchem er in ganz 
objektiver Weise die von den verschiedenen dogmatischen 
Parteien aus dem Koran, zum Teil auch aus dem Hadith 
beigebrachten Beweisstellen zusammenträgt. Ohne die 
Beweisfähigkeit derselben kritisch zu prüfen, stellt er zu- 
sammen, was gegenüber den Beweisen der Orthodoxie, 
Murdschi’ten, Muftaziliten u. a. m. für jede ihrer Thesen 
aus dem Koran als Argumente beibringen, für ihre Lehre 
vom liberum arbitrium, vom. Erschaffensein des Korans, 
der Definition des Glaubens und seines Umfanges im Ver- 
hältnis zu den Werken, von den Bedingungen der Selig- 
keit, von den göttlichen Attributen und der Zurück wei- 
sung des. Anthropomorphismus und anderen Lehrstücken, 
in denen die dogmatischen Partcien vom orthodoxen Begriff 


! herausgegeben von Ahmed “Omar al-Mahmasäni, Kairo (matba ‘at 
al-mausü ‘át 1319/1901. Ungefähr denselben Titel (al-intisaf fi bajān 
sabab al-ichtiläf) wählte für eine dasselbe Thema in mehr spezieller Weise 
behandelnde Schrift Schäh Wali al-din al-Dihlawi (st. 1180/1766); lith. Bom- 
bay o. J. 20 pp. ; 

3 Ungenau bestimmt bei Brockelmann, Gesch. d. arab. Literatur I 414. 


9. — Beiträge zur Rel. Wiss. I, 2. 


130 Ignaz Goldziher 


in wesentlicher Weise abweichen. Der Verfasser selbst 
steht auf dem Standpunkte der ascharitischen Ortho- 
doxie; er macht jedoch keine Miene, die Beweisfähigkeit 
der von den Parleien angeführten Argumente polemisch 
zu entkräften. Vielmehr stellt er in seiner Vorrede als 
Zweck seines Buches auf: „Wir beabsichtigen in diesem 
Buche die Koranargumente, die jede Partei in alter und 
neuer Zeit aufbringt, in erschöpfender Weise aneinander 
zu reihen, damit es niemanden beifalle, sie voreilig an- 
zugreifen oder in tbermtitiger Weise zu verurteilen und 
dass jeder wisse, dass diese Argumente einander gegen- 
überstehen nach dem vorgesehenen Plane Gottes hinsicht- 
lich der Spaltung dieser Religionsgenossenschaft ın 73 Par- 
teien.“ Ebenso betont er in seinem Schlusswort, dass sein 
Buch „als Widerlegung derer dienen möge, die jene, die 
von der ihrigen verschiedener Meinung sind, des Irrtums, 
der Sündhaftigkeit und des Unglaubens zeihen... den 
Leuten der Kibla die Zugehörigkeit zur rechtgläubigen 
Gemeinde aberkennen“.! 

So fremdartig es auch im Sinne mancher herrschenden 
Vorausselzung erscheinen sollte, so kann dennoch þe- 
hauptet werden, dass im Islam, mit Ausnahme einer fana- 
tischen Minorität, Ketzerriecherei und Verfolgung irriger 
Meinungen, solange sich diese auf dem breiten Boden des 
Bekenntnisses bewegen, doch seltener vorkommen als sie 
in einer auf dogmatische Formeln festgenagelten Gemein- 
schaft zu beobachlen wären. Die zumeist als Häretiker 
gebrandmarkten Mu laziliten werden äusserlich nicht beun- 
ruhigt. Unruhige Köpfe wie Nazzäm und Dschähiz werden 
von den Gegnern nur litterarisch beschimpft; im übrigen 


1 Das Buch ist nach einer einzigen Handschrift der Chedivialbibliothek 
in Kairo durch Ahmed “Omar al-Mahmasänt herausgegeben worden (Kairo, 
matbaat al-mausüät, 1320/1902). 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 131 


können sie, in ihrer Sicherheit unbehelligt, ihre wahrlich 
wenig orthodoxen Lehren kultivieren. Philosophen wie 
Alfarabi, Avicenna, die mit ihren aristotelischen Thesen 
sich nicht bloss auf formale Logik beschränken, sondern 
ihrem Meister in der Physik und Metaphysik bis zu einer 
Linie folgen, die hart an die Negation der Grundlehren 
des Islams streift, können der Darlegung ihrer Theorien 
völlig freien Lauf lassen. Averroés, der extremste Vertreter 
des Aristotelismus, der die Umbiegungen verwarf, mit denen 
noch seine Vorganger Alfarabi und Avicenna Ausgleichungen 
der Philosophie mit den Islamlehren anstrebten und die 
Herstellung der reinen Lehren des Aristoteles, den er den 
vollkommensten Menschen nennt, als seinen Philosophen- 
beruf betrachtete, — dieser Averroés konnte seine Denker- 
werkstätte in der Umgebung des Almohadenhofes errichten. 
Der Herrscher dieser wegen ihres Fanatismus berüchtigten 
Dynastie entzog ihm seine Gunst nicht wegen der Hetero- 
doxie seiner Denkresultate, sondern weil er in einer Schrift 
angeblich dessen Herrschereitelkeit verletzt habe. Und um 
ein konkretes Beispiel für die Indifferenz gegen dogma- 
tische Heterodoxie anzuführen, möchte ich erwähnen, 
dass der Mu tazilite Zamachschari, der in seinem Korankom- 
mentar, dem wir in unserer vierten Olaus Petri-Vorlesung 
näher treten, nicht nur seine dogmatischen Lehren ent- 
wickelt, sondern zuweilen mit heftiger Aggressivität gegen 
die Anthropomorphisten und Deterministen (so nennt er 
stets die herrschende Orthodoxie), eifert, von einem hoch- 
orthodoxen Historiker als Imam al-dunja d. h. Lehr- 
autorität der Welt, doctor universalis gerühmt wird.’ 

Es sind dies Zeichen davon, dass man sich in den 
verschiedenen Zeitaltern nicht viel um den dogmatischen 
Stand der Leute kümmerte, wenn man auch in de 


l Abulmahäsin, Annales ‘II, 2, ed. Popper 380, 5. 


132 Ignaz Goldziher 


Litteratur heftige Polemik führte. Man wird es vielmehr 
als sehr bemerkenswert und zugleich als die Erfahrung 
bestätigend finden, die wir auch im aussermuhamme- 
danischen Religionsleben machen können, dass es eben die 
von den religiösen Tatsachen ernstlich ergriffenen Kreise 
sind, die sich gegenüber den dogmatischen Subtilitäten 
ablehnend verhalten, ihnen mit edler Antipathie gegen- 
überstehen und es zurückweisen, die feinen subjektiven 
Regungen ihres religiösen Sinnes über einen dogmatischen 
Leisten zu forcieren. So verhielten sich die alten Frommen 
zu Beginn der ihnen in der Seele befremdlichen Streitig- 
keiten über die bunten Materien der Glaubenslehre. Diese 
schossen gerade in den Kreisen der Skeptiker einerseits 
und der intellektuellen Fanatiker anderseits in die Halme. 
Den kindlich Frommgläubigen gruselte es sogar vor dog- 
matischen Definitionen, selbst wenn diese der Orthodoxie 
unter die Arme griffen. Und die Gesinnung der alten 
Frommen vom VII. Jahrhundert ist es, die sich im 
Klassiker des antidogmatischen Religionsbewustseins im 
XI. Jahrhundert, Abū Hamid al-Ghazäli erneute, der die 
Negation des exklusiven Dogmatismus zum Range einer 
theologischen Doktrin erhöhte und den ein tastender 
Mystizismus sympatischer anmutete als ein abgezirkeltes 
Dogmentum, unter das die wirklich fromme Seele sich 
nicht beugen kann. In seinem Gemüte hat sich auch der 
verketzernde Nachsatz des Prophetenspruches von der allein- 
seligmachenden Partei in das gerade Gegenteil davon ver- 
ändert, wie ihn die Fanatiker formulierten. Er lautet in 
der von ihm empfohlenen Fassung nicht so, dass 72 von 
jenen 73 Lehrrichtungen der Hölle gewärtig sind und nur 
eine die Anwartschaft auf die Seligkeit besitzt; sondern: 
72 von ihnen kommen ins Paradies und nur eine in die 
Hölle, nämlich die die Religion als Menschenwerk betrachtet, 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 133 


nicht als von Gott den Menschen geoffenbarte Lehre, son- 
dern als etwas bloss Konventionelles, von tugendhaften 
und klugen Menschen zur Förderung der gesellschaftlichen 
Wohlfart (maslaha) ersonnene und behufs Zügelung der 
Unreifen fälschlich unter göttliche Autorität gestellte Ein- 
richtung; eine Auffassung, die bereits im griechischen 
Rationalismus verbreitet war und mit der sich bekanntlich 
schon Plato im zehnten Buch der „Gesetze“ auseinander- 
gesetzt hat.’ 

Der Nachweis des Mangels eines dogmatischen Triebes 
im Islam könnte auch auf dem Gebiete des Staatsrechts 
(Chalifat) nachgewiesen werden, wo die Uniformierung 
nicht Resultat theoretischer Erwagungen, sondern zumeist 
das äusserer Gewalt und weltlichen Zwanges war, für den 
dann die Theologen — nach dem oben erwähnten Gesetz 
vom fait accompli — hinterher ihre Theorie zu zimmern 
pflegten, gleichsam gute Miene zum bösen Spiele machend. 
Jedoch werde ich mich bei dieser Gelegenheit mit dieser 
Andeutung begnügen, da die religiösen Beziehungen doch 
zumeist in den hier genug weitläufig berücksichtigten Ge- 
bieten des Gesetzes und des Dogmas liegen. 


VI. 


Hingegen werden wir wieder einigen Raum bean- 
spruchen für die Darlegung der Reaktion gegen die bisher 
nachgewiesene Anerkennung und Sanktionierung des Dis- 
sensus. Denn für ganz selbstverständlich hielt man es 
nicht allenthalben, dass der Gläubige im Islam eine Religion 


~ 4 vgl. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen 
zu Judentum und Christentum (2. u. 3 Aufl. Tübingen 1912) 102. 


134 Ignaz Goldziher 


besitzt, deren innere Einheit lediglich in einem allgemeinen 
Symbol besteht, dass hingegen in den Formen der Be- 
tätigung der äusseren Pflichten, ja sogar in der Deutung 
der Grundlehren des Glaubens — dazu gehören ja die 
Lehre von den göttlichen Attribulen, von der Willensfreiheit, 
von den Bedingungen der Seligkeit u. a. m. — ein hoher 
Grad der Gedankenfreiheit zulässig sei. Es war ja bei 
solcher Weitherzigkeit die Zersplitterung, vielleicht auch 
der Zerfall des Islams zu befürchten. Und dies letztere 
konnte man ja um so mehr besorgen, als ja durch 
das Emporkommen provinzieller Machthaber mit auto- 
nomischen Bestrebungen die politische Einheit des Islams 
immer mehr in Frage gestellt und nur noch durch die 
theokratische, immer nur scheinbare Einheit des Chalifats- 
gedankens zusammengehallen wurde. 

Die tolerante Anschauung von der Billigung des Dis- 
sensus hat sich unter jenen Richtungen der islamischen 
Theologie entfalten können, die im Gegensatz zu den 
streng traditionellen Schulen, in der Ausbildung des Ge- 
setzsystems subjektiv spekulative Methoden zuliessen. Sie 
-wollten damit gleichsam die Zumutung ihrer bedingungs- 
losen Unfehlbarkeit ablehnen und die relative Berechti- 
gung ihnen widersprechender spekulativer Ergebnisse zu- 
gestehen. Es gab aber neben ihnen breite Schichten der 
Islambekenner, die sich in allen Dingen der religiösen 
Lehre und des religiösen Lebens auf den Boden unver- 
brichlicher Autorität stellen. Diese mochten natürlich mit 
dem Latitudinarismus der Dissensus-Tolerierung nicht 
Schritt halten. Da sind zunächst die Schtiten, deren 
Prinzip die Zulässigkeit der Lehr- und Ubungsver- 
schiedenheit schon aus dem Grunde mit aller Entschie- 
denheit zurückweisen muss, weil sie die Richtigkeit jeder 
Meinung einzig und allein an der autoritativen Lehre des 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 135 


unfehlbaren Imam abmessen. Dieser höchsten Autorität 
gegenüber kann von der Zulassung einer berechtigten 
Meinungsverschiedenheit von vorn herein keine Rede 
sein.‘ Dann sehen wir auch hervorragende Mu taziliten, 
deren Rationalismus sich mit der äussersten Intoleranz 
verbindet, unter den Gegnern des Dissensusprinzips.” 

Eine starke Verurteilung des Dissensus prägt sich in 
einem dem Bahnbrecher der arabischen Prosalitteratur, in der 
abbäsidischen Frühzeit, Abdallah b. al-Mukaffa (st. 140.757) 
zugeschriebenen Sendschreiben an seinen Chalifen aus, in 
welchem er diesem Ralschläge über die Regierungskunst 
erteilt. Wenn auch die Zugehörigkeit dieses Schriftwerkes 
an ‘Abdallah b. al-Mukaffa‘ nicht mit Sicherheit ange- 
nommen werden kann, macht es jedenfalls den Eindruck, 
der Zeit nahe zu stehen, aus der zu stammen es sich ein- 
führt. Unter den Zuständen, die der besonderen Beachlung 
und Prüfung des Chalifen empfohlen werden, werden vor- 
nehmlich auch die Verhältnisse der Rechtspflege und der 
Gesetzhandhabung und -erschliessung besprochen. Es wird 
besonders getadelt, dass in den wichtigsten Teilen der 
gesetzlichen Praxis in benachbarten Orten, ja in einem 
und demselben Orle kein einheitliches Vorgehen herrscht. 
In Kriminalfällen, in eherechtlichen und Eigentumsfragen 
wird man in Hira für verboten erklären, was in Küfa 
als erlaubt beurteilt wird, ja selbst in Küfa selbst werden 
verschiedene Rechtsgelehrte einander entgegengeselzte Ent- 
scheidungen treffen. Man ersinnt Traditionen und Prae- 
zedenzfälle aus der Chalifenzeit zur Rechtfertigung der 
einander entgegengesetzten Rechtspraxis und macht von 
der analogistischen Gesetzergründung den willkürlichsten 


1 Vorlesungen 224 ff. 
2 Zahiriten 101 ff. 


136 Ignaz Goldziher 


Gebrauch. Der Verfasser des Sendschreibens erteilt dem 
Chalifen Ratschläge zur Schaffung eines einheitlichen 
Vorgehens in der Rechtspflege und Gesetzeshandhabung.' 
Es ‚spiegeln sich in diesen Darlegungen jedenfalls die 
Verhältnisse der Zeit, in welcher im ‘Irak die ersten 
tastenden Versuche gemacht wurden, die Varietäten der 
gesetzlichen Praxis rechtswissenschaftlich zu motivieren. 
Die Resultate dieser Bestrebungen hatten nicht den Bei- 
fall des Verfassers, der — wenn er wirklich der vom 
Perserlum hergekommene Ibn al-Mukaffa gewesen sein 
soll — nicht eben mit den Gesichtspunkten der Orthodoxie 
harmonierte. 

An dieser Missbilligung sind übrigens nicht nur mehr 
oder weniger dissentierende, vom Orthodoxismus abbie- 
gende Gruppen beteiligt. Gerade unter den orthodoxen 
Lehrrichtungen können wir die Ablehnung des Dissensus- 
prinzipes von jenen erwarten, die in ihren Entschei- 
dungen ausschliesslich den authentischen Schriftbeweisen 
(Koran und Tradition) lehrende Autorität zuerkennen und 
die spekulativen Methoden möglichst zurückweisen; also 
in entschiedenster Weise von der Richtung der Zähiriten.? 
Auch die Hanbaliten sind in demselben Lager anzutreffen. 
Ein Hanbalite des VII. Jahrhd’.s d. H. Nadschm al-din al- 
Taufi (st. 716/1316) hat in einer besonderen Schrift über 
Grundlagen des Religionsgesetzes (usül) die Einwürfe gegen 
die Authentie des auf den Propheten zurückgeführten ichtiläf- 
Spruches erneuert.” Wir haben sehen können, wie sehr 
er im Rechte ist, die Echtheit desselben als Propheten- 
spruch zurückzuweisen. 


1 Rasa’ıl al-bulagha (Kairo 1908, Separatabdruck ans Muktabas HT) 54. 

2 Zahiriten 99 ff. 

3 In der in Kairo 1324/1906 gedruckten Sammlung von Usül-Schriften 
(vgl. Manär x 763). 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 137 


Charakteristisch ist folgende, wie die Umgebung zeigt, 
einem hanbalitischen Kreise in Südarabien, ' ungefähr um 
dieselbe Zeit entstammender Bericht. Man lässt den übri- 
gens der hanefitischen Richtung angehörenden Gesetzes- 
gelehrten Abü Bekr b. Jüsuf al-Mekki (st. 677/1278) kurz 
vor seinem Tode berichten: Ich sah im Traume, als ob 
der Gerichtstag eingetreten wäre; es standen die Imame 
(die Stifter der verschiedenen Schulrichtungen) vor Gott; da 
sprach der Schöpfer zu ihnen: „Ich habe zu euch einen 
Propheten gesandt mit einem Gesetz und ihr habt daraus 
vier gemacht.“ Dreimal wurde ihnen diese Anklage wieder- 
holt, und keiner von ihnen konnte sich verantworten, bis 
Ahmed b. Hanbal vortrat und durch seine die Anklage 
freilich nicht entkräftende Apologie Gnade von dem All- 
mächtigen erwirkte. ? 

Wir sehen in allen diesen Daten Zeichen des Wider- 
willens gegen die sonst so hochbelobte Theorie vom Dis- 
sensus, der sich besonders in den traditionstreuen Richt- 
ungen kundgibt. | 

Man kann sich dabei natürlich auf Traditionssätze be- 
rufen — Hadith gibt es ja für alles —; jedoch auch Koran- 
beweise fehlen nicht. Wenn der Prophet vor Spaltungen 
in seiner Gemeinde warnt — freilich dem ursprünglichen 
Sinne nach nicht eben Parteiungen mit religiöser Beziehung 
— wird die Warnung auf solche letzterer Art bezogen. 
Schon in alten mekkanischen Offenbarungen warnt der 
Prophet vor Zwiespalt in der Gemeinde ‚(Seid nicht von 
jenen) die ihren Glauben spalteten und zu Parteien (— das 
Wort ist schijaan, Plur. von shia —) wurden, deren jede 


1 Aus al-Khazrajiyy, The Pearl-Strings, a History of the Resüliyy Dynasty 
of Yemen ed. by Muhammad Asal (Gibb Memorial III) IV 66, 6 v. u. ist 
die Verbreitung der hanbalitischen Richtung im VI. Jhd d. H. in Süd- 
arabien ersichtlich. 

2 ibid. 206. 


138 “Ignaz Goldziher 


Gruppe sich dessen freut, was bei ihr ist“ (30 v. 3D. Hier 
wird,’ wie wir sehen, die Spaltung in früheren Religionen 
als warnendes Beispiel vorgeführt; ebenso in 42 v. 11. 13. 
wo die Einheitlichkeit im Glauben (,,Erfallet den Glauben 
und spaltet euch nicht“) als durch Noah, Abraham, Moses 
und Jesus (und auch Muhammed) geoffenbarte Lehre er- 
wähnt wird „und sie spalteten sich, nachdem ihnen das 
Wissen kam, nur aus Widersetzlichkeit gegeneinander“. So 
wird auch später immer .aus dem: Beispiel der früheren 
Religionen auf die Verwerflichkeit der Spaltungen hin- 
gewiesen (2 v. 209). „Haltet euch fest an Allahs Seil 
allesamt und trennet euch nicht. Gedenket der Gnade 
Gottes an euch; da ihr Feinde wart und er verband eure 
Herzen und ihr seid durch Goltes Gnade Brüder ge- 
worden“... „Und seid nicht wie jene, die sich spalteten 
und uneinig wurden nachdem ihnen die deutlichen (Lehren) 
gekommen waren; und jenen wird schwere Strafe“ (3 v. 
101). Und aktuelle Verhältnisse in seiner Gemeinde scharf 
beurteilend: „Fürwahr, die ihren Glauben (dinahum) 
spalten und zu Parteien (auch hier: schijaan) wurden — 
mit denen hast du nichts zu tun. Ihre Sache gehört nur 
zu Allah. Er wird sie schon darüber belehren, was sie 
verübt hatten“ (6 v. 160). Unter din ist hier nicht eben 
der religiöse Glaube zu verstehen, als ob in der alten 
Islamgemeinde dogmatische Differenzen hervorgetreten 
wären, sondern im allgemeinen die Islamsache, die Disziplin 
des durch Muhammed geleiteten Gemeinwesens nach allen 
seinen inneren Beziehungen. Da herrschte, wie wir aus 
dem Koran selbst wissen, nicht immer die vom Propheten 
gewünschte Finstimmigkeit; er hatte ja gegen manches 
störende Element (z. B. die munäfikün) sich zu schützen. 

Die Theologen, die das religiöse ichtiläf ablehnen, 
haben die Stellen gern als Stütze ihres Standpunktes he- 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 139 


nutzt. Und sie werden in unserer neuesten Zeit gerade von 
einer modernistischen Theologie, die auf Abstreifung 
aller Unterschiede im Islam ausgeht', zur Stützung ihrer 
Lehren ausgenutzt. Natürlich stimmt sie auch in die 
Unechtheitserklärung des Traditionssatzes ein, der den 
gottgewolten Charakter des Dissensus sanktioniert, und be- 
zieht ihn im allgemeinen nicht auf das religiöse, sondern 
auf das gesellschaftliche Gebiet. Was in jenem Traditions- 
spruch als Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit anerkannt 
wird, sei nicht die religiöse Meinungsverschiedenheit, son- 
dern die Tatsache, dass nicht alle Menschen, in ihren 
gesellschaftlichen Wirkungen und ihrer Berufsbetätigung 
(al-hiraf wal-sanäi) über einen Kamm geschoren sind. ? 

Dies sind jedoch, in alter ebenso wie in der neuen 
Zeit, alles nur theoretische Erwägungen. Die tatsächliche 
Entwicklung des Islams hat, wie wir ja oben reichlich 
gesehen haben, die Varietäten hervorgebracht, und ihrer 
Berechtigung mit jenen Koranargumenten, traditionskriti- 
schen Bedenken und Traumgesichtern sich entgegensetzen, 
war ja nichts anderes als die Kundgebung. eines frommen, 
der Praxis vor den Kopf stossenden Wunsches. 


VII. 


Je mehr aber im wirklichen Leben die Betatigung des 
Dissensus zur Geltung kam, desto kräftiger drängte sich 
ein mit ihr in engem Zusammenhang stehender, aus ihr 
gleichsam logisch folgender Gedanke auf. Je mehr Be 


! Diese Bestrebungen behandle ich eingehend in dem achten und neunten 


meiner Olaus Petri-Vortriige. 
= Manär XIV 343. 


140 Ignaz. Goldziher 


rechtigung einerseits den Verschiedenheiten zuerkannt 
wurde, desto mehr Warheitswert musste anderseits darin 
gefunden werden, worin die Gesamtheit der islamischen 
Glaubensgemeinde übereinstimmt. 

Aus dieser Erwägung stellte sich von selbst die Lehre 
vom Konsensus (idschmä) als Prüfstein der religiösen 
Korrektheit heraus. Der Dissensus — so denkt man — 
ist wohl zulässig; die Entscheidung darüber, auf welcher 
Seite das Recht sei, ist unsicher, aber auch nicht wesenl- 
lich. Hingegen müsse es als sicher anerkennt werden, 
dass worin alles übereinstimmt, über alle Bemäkelung 
erhaben sei. Es sei unstatthaft, dem gegenüber einen in- 
dividuellen Standpunkt einzunehmen. Dies soll ein Kor- 
rektivum bilden gegenüber der Freiheit, die mit der Zu- 
lassung des Dissensus gewährt war. Es ist ein Symbol 
der islamischen Katholizität und findet seine Anwendung 
sowohl auf dem Gebiete der Glaubenslehre, als auch dem 
des Gesetzes und dem des Staatsrechtes. Der Konsensus 
ist mit der Zeit zum Grundpfeiler der Orthodoxie und der 
Loyalität erhoben worden. Ehe man dies Prinzip auf die 
auch auf dem Wege der Litteratur erreichbare Konstan- 
tierung der Übereinstimmung der grossen Lehrautoritäten 
der Vergangenheit bezog, hat man es auf die grosse Kol- 
lektivität der Bekenner bezogen, und die Möglichkeit seiner 
Durchführung war manchem Zweifel ausgesetzt. Dadurch 
wäre auch der Geltungswert des Prinzipes selbst leicht 
erschütlert worden. Es ist merkwürdigerweise wieder der 
rigoroseste Flügel der Orthodoxie, aus welchem uns Zei- 
chen der Skepsis an diesem theologischen Kriterium ent- 
gegentreten. Kein kleinerer als der Imam Ahmed b. 
Hanbal, die Autorität der intransigentesten Partei des sun- 
nitischen Islams, stellt den Grundsatz auf, dass es eine 
Unwahrheit sei von irgend einer Lehre als im Konsensus 


Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam 141 


begründet zu sprechen; bei der Weite des Islamgebietes 
lasse sich ein solcher nicht eruieren; man könne höchstens 
in negativem Sinne und mit Vorbehalt behaupten, dass 
über dies und jenes ein Dissensus nicht zur Kenntnis gelangt 
sei.’ Und aus demselben Lager hören wir noch im 13. 
Jhd. den bereits früher erwähnten hanbalitischen Lehrer 
Nadschm al-din al-Taufi den auffallenden Grundsatz aus- 
sprechen, dass die Rücksichten der Wohlfart (maslaha) dem 
Konsensus, ja sogar dem ausdrücklichen Textbeweis vor- 
zuziehen seien. °? 

Während Ibn Hanbal durch die Belonung der Un- 
möglichkeit der Konstalierung eines Konsensus den Wert 
desselben, sofern er in sicherer Weise nachgewiesen werden 
könnte, nicht antastet, greifl der Mutazilite Nazzäm das 
Prinzip in seiner Wurzel an. Es sei an sich nicht wahr, 
dass die Kollektivität der Gemeinde immer das Richtige 
befolge und dem Irrtum nicht unterworfen sei.” Es gäbe 
der Beispiele genug, die uns das Gegenteil zeigen. Dies 
versteht sich ganz gut von einem Philosophen, der sich 
dessen bewusst war, dass seine Lehre in grellem Wider- 
spruch damit stand, was zu seiner Zeit als Konsensus der 
islamischen Gemeinde gelten konnte. 

Es ist endlich in dem Wesen der Sache begründet, 
dass dies Prinzip schwere Schäden erleiden werde in einer 
Gemeinschaft, deren Lebensnerv die ausschliessliche Aner- 
kennung der persönlichen Autorität und Unfehlbar- 
keit bildet, der sich die Gesamtheit blindlings zu unter- 
werfen habe, ihr gegenüber also nicht koordinierle Wertung 
beanspruchen dürfe. In diesem Falle ist die gesamte schi- 


! bei Ibn Kajjim al-Dschauzijja, [lam al-muwakkain (Kairo 1325, ed. 
al-Kurdi) I 32, II 335. 

3 Zitiert im Manar XIV 26 vgl. X 745—770.  . 

3 vgl. Muhammed. Studien If 87 Anm. Baghdadi, Fark 129. 


142 Ignaz Goldziher 


itische Sekte des Islams mit ihrem Glauben an die un- 
fehlbare Lehrautorität der Imame. ! 

Auch die dissentierende Sekte der Chäridschiten 
verwirft die Autorität des Konsensus.* Sie hat ja mit 
ihrem Protest gegen die historische Gestaltung des Chali- 
fats ihren Standpunkt ausserhalb desselben gesetzt. 

Dies Prinzip als Grundpfeiler des orthodoxen Islams hat 
in diesem selbst eine wechselvolle Entwicklungsgeschichte. 
Erst in seiner letzten Formulierung ist es ihm gelungen, 
die an seiner Geltung geübte Skepsis zu überwinden. In 
seiner gegenwärtig und schon seit langer Zeit gültigen 
Definition wird sein Wesen nicht in die aktuellen Le- 
bensverhältnisse der islamischen Welt, sondern vielmehr 
in eine abgestorbene Vergangenheit verlegt. Die lebens- 
fähige Reform des Islams hängt in theologischem Sinne 
nicht zum geringsten von einer Neugestaltung dieses Be- 
griffes ab. 


! Vorlesungen 225. 
? Fark 337, 9. 


Jahvetempel ausserhalb 
Palästinas. 


Vortrag, gehalten auf dem religionshistorischen Kongresse in ~ 
. Leiden 1912 


von 


S. A. Fries, 


Stockholm. 


In seiner apologelischen Schrift auf den Angriff der 
jüdischen Religion durch den alexandrinischen Grammatiker 
Apion äussert Flavius Josephus bei der Besprechung des 
Tempels zu Jerusalem: „ein einziger Tempel für einen 
einzigen Gott (denn Wechselbeziehung ist immer von Vor- 
teil) gemeinsam für den gemeinsamen Gott Aller“ (II, 23). 

Als Josephus nach dem Jahre 93 diese Worte schrieb, 
war nicht nur der Tempel von Jerusalem in Trümmer 
zerfallen, sondern auch der denkwürdige Jahvetempel 
in Leontopolis in Ägypten durch die Römer im Jahre 73 
n. Chr. geschlossen worden. Vielleicht war dem Josephus 
von dem Vorhandensein noch anderer Jahvetempel ausser- 
halb Palästinas nichts bekannt, oder ignorierte er sie. 
Fin Gleiches gilt von der ‚jüdischen Literatur im All- 
gemeinen. Nicht unmöglich, : dass man diese Tempel für 
mehr oder weniger illegitim hielt. Die deuteronomische 
Gesetzgebung in 5. Mose 12 forderte, wie schon 1. Klem. 41 
die Sache aufgefasst hat, dass Brandopfer, Gelübdopfer, 
Sündopfer und Schuldopfer' in einem einzigen Jahvetempel, 


! Man beachte, dass über ,,Schlachtopfer nichts erwähnt wird. (Vgl. 


S. 163 f.) 


144 S. A. Fries 


demjenigen von Jerusalem, dargebracht werden sollten, auf 
den das alte Siloheiligtum aus der Richterzeit und das 
mosaische Offenbarungszelt aus der Wüstenperiode über- 
gegangen war. Auch die Denkweise der Rabbiner zeigt, 
dass die Gesetzesauslegung dahin tendierte, den Tempel 
von Jerusalem zum einzigen Opferplatz zu machen.‘ 

Trotz dieses anscheinend unweigerlichen Gebotes hat 
indessen der ebenerwähnte Jahvetempel in Ägypten existiert. 
Josephus berichtet von der Entstehung und dem Aussehen 
desselben an mehreren Stellen in seinen Schriften. Ueber 
die Zeit der Grundlegung dieses Tempels, den Grund der 
Erbauung desselben und den Ort desselben sind die An- 
sichten ziemlich geteilt. Es steht indessen fest, dass der 
Grundleger ein Priester aus Jerusalem namens Onias war, 
der durch Intrigen seiner rechtmässigen Stellung als Hoher- 
priester im Tempel von Jerusalem im 2. Jahrh. v. Chr. 
beraubt wurde und aus Rache für diese Ungerechtigkeit 
den Tempel in Ägypten erbaute. Wie bereits erwähnt, 
wurde derselbe von den Römern im Jahre 73 n. Chr. ge- 
schlossen. Es ist jedoch möglich, dass man noch im 2. 
Jahrh. n. Chr. an der Stätte opferte, und Ontaspriester gab 
es noch im 4. Jahrh. n. Chr. Das Tempelgebäude hatte 
mehr Ähnlichkeit mit einem Turm als mit einem Hause 
und wich in vielen Stücken von dem Jerusalem-Tempel 
ab — man ist u. a. nicht sicher, ob der Oniastempel ein 
Allerheiligstes hatte — war aber im übrigen ein wirklicher 
Tempel mit Altar, Opfern, Priesterschaft und allem, was 
zu einem regelrechten Tempelkultus gehört. 

Von besonders grossem Interesse ist es, die Urteile zu 
beobachten, welche jüdische Gesetzeslehrer über die Le- 


! Vergl. Scholander, Det israelitiska offrets upplösning, 1909, S. 
176 ff. 

2 Ant. XII, 9, 7; XII, 3, 1—3; 10,4; XX, 10; B.J. 1,1; VH, 
10, 2—4. 


Jahvetempel ausserhall, Palästinas 145 
@e 


gitimität dieses Heiligtums abgegeben haben. Unsere mo- 
dernen Kritiker aus der Wellhausenschen Schule, welche in 
5. Mose 12 nicht nur ein Verbot gegen mehr als einen 
Tempel, sondern sogar ein Verbot gegen jeglichen Privat- 
kultus, der den Charakter des Opfers hatte, sehen, finden, 
dass der QOniastempel der Ausdruck einer unbegreiflichen 
Nonchalance gegen die deutlichen Vorschriften des Gesetzes 
war — „eine merkwürdige Erscheinung bei der strengen 
Centralisation des jüdischen Kultus“, sagt Schürer'. Aber 
jüdische Gesetzeslehrer haben diese Meinung nicht geteilt. 
Die älteren Gesetzausleger sprachen dem Opfer und Golles- 
dienst des Oniastempels volle Gültigkeit zu, wenn auch 
das Jerusalemsopfer und der Jerusalemkultus für wert- 
voller gehalten wurden. Doch konnte es vorkommen, dass 
die angesehensten Juden geradezu nach dem Oniastempel 
wallfahrleten, um dort das Passahfest zu feiern anstalt in 
Jerusalem”. Die sibyllinischen Orakel kennen und er- 
wähnen an mehreren Stellen den Tempel in Jerusalem 
mit der grössten Ehrerbietung, aber erwähnen auch mit 
ebenso grosser Anerkennung den Oniastempel (1V, 501 ff). 
Andrerseits wallfahrtelen ägyptische Juden, die auf ihr Hei- 
lıgtum hielten, nach Jerusalem, und die Priester des Onias- 
tempels liessen in Jerusalem die Richligkeit des Slamm- 
baumes ihrer Ehefrauen prüfen, um sich nur mit aaro- 
nitischen Priestertöchlern zu verehelichen. Demnach emp- 
fand man weder in Palästina noch in Ägypten eine solche 
Spannung zwischen den beiden Tempeln, dass sie nicht 
nebeneinander bestehen konnten. Erst im 2. Jahrh., nach- 
dem der Oniastempel bereits zerstört war, tralen ein paar 
Rabbiner gegen die Legitimität desselben auf. Aber diese. 


1 Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, 1901, 
III, S. 97. 
2 Ant. XIV, 2, 1. 


10. — Beiträge zur Rel. Wiss. IT, 2. 


146 S. A. Fries 


Opposition scheint daher gerührt zu haben, dass der Tempel 
an der Stätte eines Götzentempels angelegt worden war. 
Schon Josephus erwähnt diese Tatsache mit einer ge- 
wissen Reservation gegen den Tempel, ohne doch die Legi- 
timität desselben in Abrede zu stellen. Erst im dritten 
Jahrhundert wurde er von den Schriftgelehrten vollständig 
verworfen !. 

Nach Josephus soll Onias als Grund dafür, dass er 
seinen Tempel gründete, die Weissagung in Jes. 19:19: 
„Zu derselbigen Zeit wird des Herrn Altar mitten in Agypten- 
land sein“ angeführt haben. Bei näherer Erwägung be- 
weist dies jedoch nur, dass Onias sich auf ein prophetisches 
Wort als Stütze dafür berufen wollte, dass er den Tempel 
gerade in Ägypten und nicht in irgend einem anderen 
Lande anlegle, keineswegs aber als Entschuldigung dafür, 
dass er überhaupt einen neuen Jahvetempel gründete. 
Onias hat in einem Schreiben, das Josephus in Ant. XIII, 
3, 1 wiedergibt, als Motiv für seinen Tempelbau angeführt, 
dass „die meisten Juden (in Ägypten) Heiligtümer im 
Widerspruch zu dem haiten, was vorgeschrieben war, 
und hierüber miteinander stritlen“. Durch eine, im Jahre 
1902 in Schedia bei Alexandria gefundene Inschrift wissen 
wir, dass die Juden Synagogen d. h. opferfreie Kultus- 
häuser bereits zur Zeit Ptolemäos III d. h. 247—221 v. Chr. 
hatten. Man kann also annehmen, dass die Synagogalinsti- 


L Folgende Beobachtung ist interessant: Nach dem hebräischen Urtext 
zu 2. Chron. 32:12 wird die Kultusreform des Hiskias so aufgefasst, 
dass man den Jahvekultus an einem einzigen Altar in Jerusalem ausübt. 
Die Septuaginta kennt indessen diese Lesart nicht, sondern die ältere, die 
sich auch in 2. Kön. 18:22 und Jes. 36:7 findet: an diesem Altar, ohne 
spezielle Betonung der Einheit. Vergl. Fries, Den israelitiska kultens cen- 
tralisation, 1895, 8. 63. Eine Möglichkeit könnte doch vorhanden sein, dass 
die Sept. mit Rücksicht auf den Jebtempel (siehe unten) den Text weändert 
hat. Dieser Teil der Sept. ist nämlich erst im dritten Jahrh. v. Chr. re- 
digiert. 


Jahvetempel ausserhalb Palästinas 147 


tulion in Ägypten bereits im 3. Jahrh. v. Chr. entstanden 
ist. Jedenfalls dürfte Friedländer’ das Richtige getroffen 
haben, wenn er die Ansicht ausspricht, dass die ungeselz- 
lichen Heiligtümer in Ägypten, gegen welche Onias durch 
seinen Tempelbau protestieren wollte, die Synagogen waren. 
Solche gab es noch kaum ausserhalb Ägyptens. Für Pa- 
lästina werden sie möglicherweise erst in den Psalmen 
Salomos aus dem Jahre 63 v. Chr. erwähnt.” 

Sollte diese Ansicht Friedländers die richlige sein, so 
tritt die Legitimität des Oniastempels in eine ganz andere, 
neue Beleuchtung: Onias glaubte nicht nur, das formelle 
Recht zu haben einen Tempel zu gründen, sondern er tat 
es auch wirklich in der Absicht, anstatt eines nach seiner 
Meinung ungesetzlichen Kultus ohne Opfer einen gesetz- 
lichen mit Opfern einzuführen. 

Ein anderes ist es, wie er diese Auffassung mit den 
Vorschriften in 5. Mose 12 von einem einzigen Central- 
heiliglum vereinigen konnte. Man darf indessen nicht ver- 
gessen, dass dieses Gesetz ausdrücklich nur von der Woh- 
nung Jahves in Palästina redet und nicht von ausser- 
israelitischen Verhältnissen.” Nach 5. Mose 28:36 ist es 
kaum möglich, Jahve ausserhalb des Landes Kanaan zu 
dienen. In der Gefangenschaft soll nämlich Israel ge- 


! Synagoge und Kirche in ihren Anfängen, 1908, S. 56. 

? Die Vorstellung in Ap. Gesch. 15:21 und bei späteren Rabbinern 
von dem hohen Alter der Synagogen ist vollkommen tendenziös. Wenn der 
74. Psalm (V. 8 „Hiüuser Gottes“) zur Maccabäerzeit gehörte, könnte hierin 
ein Beweis gefunden werden für das Vorkommen derselben in Palästina im 
2. Jahrh. Aber ein so spätes Alter für diesen Teil des Psalmes (für V. 
9—23 kann möglicherweise die macenbäische Zeit angenommen werden) hat 
man nicht nachweisen können. Den historischen Hintergrund bilden viel- 
mehr die Ereignisse des Jahres 586 v. Chr. Fries, Den isr. kultens cen- 
tralisation, 1895, S. 80. 

> Vgl. Halévy, Revue semitique, 1908, S. 238 f. Hoonacker, 
Theologie und Glaube, 1909, S. 443. 


148 S. A. Fries 


zwungen werden, fremden Göttern zu dienen. In der 
deuleronomischen Gesetzessammlung, die auf jeden Fall der 
Zeit nach der Teilung des Reiches angehört und aller Wahr- 
scheinlichkeit nach die Verhältnisse nach dem Fall von 
Samaria 722 n. Chr. betrifft, war es notwendig, die Einheit 
des Centralheiligums in Palästina gegenüber dem ‚von 
Jerobeam I gegründelen neuen Centralheiligtum für Nord- 
israel in Bethel festzustellen.” Aber die rabbinische Schrift- 
forschung deutet die Schriften in einer Weise, welche die 
wunderbarsten Ueberraschungen darbietet. Der Rabbi 
Jischak aus dem 2. Jahrh. gibt in b. Megillah 10a eine 
solche Deutung von 5. Mose 12:9, dass man daraus sowohl 
einen Hinweis auf Silo als auch Jerusalem und schliesslich 
eine Verteidigung gerade für den Oniastempel entnehmen 
kann.” Andere Rabbiner haben 5. Mose 12:13 eine solche 
Nutzanwendung gegeben, dass ein prophetisches Wort die 
Centralisalionsforderung aufheben kann. Schon „im fünften 
Jahrhundert muss die Vorschrift des Priestergesetzes und 
des Deuteronomions von der Einheit des öffentlichen Kultus- 
plaizes in anderer Weise gedeutet worden sein, als man 
später angenommen hat“, sagt mit Recht Professor Peters 
in Paderborn in seiner Schrift „Die jüdische Gemeinde von 
Elephantine-Syene und ihr Tempel im 5. Jahrhundert vor 
Christi Geburt“ (1910, S. 36). Zu einer Untersuchung dieses 
religionshislorisch wichtigen Tempels will ich nun über- 
gehen. 

Im Jahre 1904 wurden bekanntlich in Ägypten 
einige aramäische Papyri angetroffen, die allem Anschein 
nach von Elephantine nach Assuan, zwei zu beiden Seiten 
des ersten Nilkataraktes gelegenen Ortschaften, gebracht 
waren. Sie stammten von einer jüdischen Kolonie, deren 


I Fries, Die Gesetzesschrift des Königs Josia, 1903, S. 74 f. 
2 Siehe Scholander, Det israelitiska offrets upplösning, 1900, NS. 1 


-~ 
4 


N. 


Jahvetempel ausserhalb Paliistinas 149 


Ansiedelung in Agypten mit der Gründung einer jüdischen 
Militärkolonie in Ägypten unter Psammetich II (594 - 589) 
zusammenhängt. Sie wurden von Sayce und Cowley in 
Aramaic Papyri discovered at Assuan 1906 herausgegeben. 
Später sind neue aramäische Texte in Elephantine von 
dem deutschen Forscher Rubensohn ausgegraben worden, 
herausgegeben 1911 von Sachau unter dem Titel: Aramäische 
Papyrus und Ostraka aus Elephantine. Endlich ist eine 
zusammenfassende Untersuchung der sowohl kultur- als 
auch religionshistorisch wichtigen Funde ausgeführt worden 
von E. Meyer in Berlin: Der Papyrusfund von Elephantine, 
1912, anderer Literatur hier zu geschweigen.' 

Aus diesen merkwürdigen Texten, die uns einen Ein- 
blick gewähren sowohl: in die inneren wie die äusseren 
Verhältnisse der jüdischen Kolonisten während eines Zeit- 
raumes von nahezu 60 Jahren (470—411 v. Chr.), geht 
hervor, dass die Juden in Jeb — so wurde ehemals das 
heutige Elephantine genannt — ein Jahveheiligtum hatten, 
erbaut vor dem Jahre 525, als Kambyses Ägypten eroberte. 
Der Tempel wurde von den Priestern des ägyptischen 
Gottes Chnum im Jahre 411 zerstört. Er war aus gehaue- 
nen Steinblöcken und Cedern(?)-Balken erbaut und hatte 
sowohl Gold- als Silbergefässe zu Kultuszwecken. Ebenso 
erfährt man mancherlei von den dort gebräuchlichen 
Opfern und von dem Vorhandensein einer Priesterschaft. 
Ob diese von aaronitischem Stamme war, geht aus den 
Akten nicht hervor; da aber der Oberste der Jeb-Priester 
Jedonjah sich selbst und seine Priester in derselben Weise 
aufführt wie den Hohenpriester und die Priester in Jeru- 
salem, dürfte es sehr nahe liegen, die Priester in Jeb 
als den Jerusalempriestern d. h. Aaroniden ebenbürtig an- 


! Bedeutende Textverbesserungen in ZAW, 1912, S. 128 ff. und 1913, 
S. 222 ff. von I. N. Epstein in Bern. 


150 S. A. Fries 


zusehen. Beachtenswert ist auch, dass die Priester in 
Jeb sich ausdrücklich kahana nennen zum Unterschied 
von kumara, ein Wort, das im Alten Testament Priester 
von nicht levitischer Herkunft bezeichnet, während das 
andere Wort levitische resp. aaronitische Abstammung 
voraussetzt. Unter denjenigen, die nach Jer. 43:5 nach 
Agypten auswanderten, können sich auch Priester be- 
funden haben. Uebrigens war Jeremia selbst ein Priester. 

Die gelehrte Kritik ist durch diesen Fund vor dieselbe 
Schwierigkeit gestellt worden wie diejenige, die die Errich- 
tung des Oniastempels und seine Legitimität unerklärlich 
gemacht hat bei Aufrechthaltung der allgemein gebräuch- 
lichen Auffassung, dass 5. Mose 12 und 3. Mose 17 eine 


absolute Centralisation des Opferkultus gefordert haben.’ 
Die Schwierigkeit ist in diesem Falle um so grösser, als 


die Erbauung des Jebtempels — nach gewöhnlichen kri- 
tischen Zeitbestimmungen — der Zeit nach der Promulga- 
tion der ebenerwahnten Gesetze verhältnismässig nahe liegl, 
deren Bedeutung daher auch mehr in Fleisch und Blut 
übergegangen sein musste, wenn überhaupt die landläufige 
Auslegung von Deul. 12 und Lev. 17 richtig gewesen ist. 
Die Vorstellung, dass diese Schriftstücke in Ägypten unbe- 
kannt waren, ist nur ein Beweis für die Schwierigkeit, ein 
historisches Dogma zu revidieren, das sich mit historischen 
Tatsachen nicht reimt. Es liegt dann die Behauptung 
näher, dass einer der aramäischen Texte geradezu die 
Worte in 5. Mose 24:13: „das wird dir vor dem Herrn, 
deinem Gott, eine Gerechtigkeit sein“ in dieser Form citiert: 
„du sollst so gerecht dastehen vor Jahu, dem Gott des 


'Tehmann-Haupt, Israel. Seine Entwicklung im Rahmen der 
Weltgeschichte, 1911, S. 181: „War schon die Grundlegung des Jahvetempels 
in Elephantine ein Widerspruch gegen das Deuteronomion, so war der 
Wiederaufbau desselben ein direkter Schlag ins Gesicht für den Priester- 
kodex.“ i 


Jahvetempel ausserhalb Paliistinas 151 


Himmels“, sofern nicht die Ausdrucksweise einer gewöhn- 
lichen Phraseologie angehörte." 

Als Stütze für die Behauptung, dass der Tempel doch 
als illegitim anzusehen ist, hat man angeführt, dass die an 
die Priesterschaft von Jerusalem und speziell den Hohen- 
priester Jochanan gerichtete Bilte der Jeb-Juden um Hilfe 
zum Wiederaufbau des Jahve-Tempels zu keinem Resultat 
führte, was sich daraus erklären sollte, dass die Priester 
von Jerusalem den Jeb-Tempel für illegilim hielten.” Aber 
auch dies entbehrt jeglichen Grundes. Mit Recht hat 
Sachau zur Erklärung der Unfähigkeit Jochanans zu helfen 
an die schwierige Stellung dieses Hohenpriesters zu dem 
persischen Statthaller Bagohi erinnert, der gleichzeitig um 
Hülfe angerufen worden war. Dieser hatle nämlich dem 
Tempel in Jerusalem eine bedeutende Steuer auferlegt, 
weil der Hohepriester Jochanan einen Brudermord im 
Heiligtum begangen hatte. Er war demnach ausser Stande 
zu helfen, und dürfte schwerlich mit dem Stalthalter auf 
gulem Fusse gestanden haben. Es sind übrigens noch 
andere Erklärungsgründe denkbar.” Ob sich der Tempel 


! Man hat gesagt (z. B. Steuernagel, ZDPV, XXXY, S. 91, 101 f.), 
dass das Mazzoth-Fest in der Gemeinde in Jeb unbekannt war. Es 
scheint hier (nach Pap. No 6) im Jahre 419 eingeführt worden zu sein. 
Das ist möglich, beweist aber nichts gegen mangelnde Kenntnis von Deut. 
und Priesterkodex seitens der. Juden in Jeb, denn Deut. 16:3 f, 8, 16 f. 
und Ex. 12: 15—20 (PC) sind spätere Glossen. Ex. 34:18 war offenbar 
unbekannt, da es zu der Gesetzesschrilt gehört, die meines Erachtens bei 
Josias Reformation wiedergefunden wurde und schwerlich grössere Nachach- 
tung fand; Fries, Die Gesetzesschrift des Königs Josia, 1903, S. 51 ff. Das 
Mazzoth-Fest an und für sich kann alt sein, aber es ist erst spät als offi- 
zielles Jahvefest anerkannt worden. Ex. 34: 18 und 23: 15 sind m. E. die ültesten 
Versuche. Aber erst später ist das Fest durch Deut. und PC in späterer 
Redaktion festgestellt worden, in Jeb durch königl. Edikt erst im Jahre 
419 v. Chr. 

~a Lehmann-Haupt, S. 178. 

3 Peters, 8. 34 f. 


152 S. A. Fries 


auf Grund einer späteren Verwendung bei Bagohi, der 
formell seine Erlaubnis zum Wiederaufbau desselben er- 
teille, wenngleich mit einer gewissen Beschränkung des 
Opferkultus, vermutlich um neuen Ausbrüchen des Fana- 
lismus der Chnumpriesler vorzubeugen,’ tatsächlich aus 
seinen Ruinen wiedererhob, geht aus den in Rede stehen- 
den Texten nicht hervor. Dahingegen steht fest, dass die 
Juden in Jeb mehr als 115 Jahre hindurch einen Opfer- 
tempel für Jahve gehabt haben. 

Nach dieser bemerkenswerten Entdeckung ist es nahe- 
liegend, die Frage zu stellen, ob es nicht vielleicht noch 
andere Jahvetempel gegeben hal. Tacitus redet in der Tat 
in’ seinen Historiae V, 5 von jüdischen Tempeln in der 
Mehrzahl, aber es ist schwer zu entscheiden, ob hiermit 
wirkliche Tempel oder möglicherweise nur die jüdischen 
Synagogen gemeint sind. Auf dieser Bemerkung lässt sich 
demnach nicht weiterbauen. 

Aber im Jahre 1910 veröffentlichte der glückliche Ent- 
decker des hebräischen Textes des Sirachbuches, der 
Präsident des jüdisch-theologischen Seminars in New-York, 
Schechter, ein in einer Genizah in Kairo gefundenes 
hebräisches Manuskript, das in der Universitatsbibliothek 
von Cambridge aufbewahrt wird. Es zeigt sich, dass das 
Manuskript, das in manchen Teilen defekt ist, eine jüdische, 
vielleicht eine Jeremias-Elisa-Apokalypse mit messianischen 


! Die Texte erwähnen folgende Opfer in dem zerstörten Tempel: 
Speisopfer, Rauchopfer, Brandopfer und Schlachtopfer. In dem Zugeständnis, 
den Tempel wiederaufzubauen, werden nur die unblutigen Opfer Speisopfer 
und Rauchopfer erwähnt, mutmasslich weil die Tieropfer die Wut der iigyp- 
tischen Priester hervorgerufen hatten (Peters, Lehmann-Haupt). 

® Man hat behaupten wollen, dass der Jeb-Tempel für andere Götter 
als Jahve [in den Dokumenten mit “mM (von unsicherer Aussprache) bezeich- 
net] bestimmt war. Aber wie Epstein in ZAW, 1912, S. 139 ff. nach- 
gewiesen hat, handelt es sich in der betreffenden Stelle um drei Privat- 
personen, von denen der eine Jhv (z. B. Jehu) heisst. 


Jahvetempel ausserhalb Paliistinas 153 


Ideen, Reinheits- und Sabbatsvorschriften einer Zadoki- 
dischen Richtung(?) innerhalb des Judentumes des I. Jahr- 
hunderts wiedergibt." In mehreren Gemeinden bewohnten 
die Leser dieser Apokalypse eine Anzahl Ortschaften 
im „Lande Damaskus“. Man hat noch nicht mit Sicher- 
heit den religionshistorischen Stammbaum dieser interes- 
santen Erscheinung feststellen können,? aber einzelne Auf- 
schlüsse sind bemerkenswert genug. Nach diesen Texten 
hatte die jüdische Diaspora im Lande Damaskus an mehre- 
ren Orten „Anbetungs-Häuser“ d. h. Synagogen. Aber in 
einer Stadt befand sich ein Heiligtum genannt mikdasch 
d. h. Heiligtum — ein Wort, das besonders von grösseren 
Heiligtümeın angewendet wurde. Da ferner von Altären, 
Opfern, Priestern aaronitischer Abstammung und Leviten 
die Rede ist, kann man kaum umhin, das erwähnte Heiligtum 
gerade als ein solches Opferheiligtum mit dazu gehörigem 
Kultuspersonal anzusehen. 

Durch diese neuen Aufschlüsse über einen jüdischen 
Opferkultus im Lande Damaskus wird ein eigentümliches 
Verhältnis in einer anderen syrischen Stadt Antiochia auf- 
gehelll, welche ebenso wie Damaskus eine zahlreiche 
jüdische Gemeinde aufzuweisen hatte. Josephus? berichtet, 
dass die antiochenischen Juden bereits im 2. Jahrh. v. Chr. 
eine grosse und prachtvolle „Synagoge“ besassen. Merk- 
würdigerweise nennt er diese auch soo” d. h. Heiligtum, 
eine Benennung, die sonst nur dem Tempel in Jerusalem, 


1 Vgl. Gressmann Zeitschrift der deutschen Morzenländischen Gesell- 
schaft 1912, S. 491—503. l 

2 Nach Büchler, Jewish Quarterly Review, 1913, S. 429 ff. gehören 
diese Fragmente einer aus 7—8 Jahrhundert stammender Tendenzschrift einer 
allerdings noch nicht genau bestimmten jüdischen Sekte. Vgl. Margoliouth, 
The Zadokites. The Expositor, 1913, S. 157 ff. 

3 B. J. VII, 7, 3. 


154 S. A. Fries 


aber nicht den Synagogen gebührt.” Josephus erwähnt im 
Anschluss hieran, dass Antiochus Epiphanes dem Heiligtum 
in Antiochia die kupfernen Gefässe übergab, die er vom 
Tempel in Jerusalem erobert hatte. Diese Gefässe hatten 
dort zur Anwendung für den Opferkultus gedient. Unleug- 
bar ist die Annahme naheliegend, dass sie für denselben 
Zweck dem Heiligtum in Antiochia überlassen wurden. 
Indessen wissen wir hierüber nichts, ebenso wie uns auch 
nichts über die Priesterschaft desselben bekannt ist. Aber 
dass jüdische Priester und Leviten in der Diaspora lebten, 
geht schon aus dem Neuen Testament hervor. In Ap. 
Gesch. 19:14 wird ein jüdischer Hoherpriester Skevas und 
seine sieben Söhne, die in Ephesus lebten, erwähnt, und 
von Cypern stammte der Levit Barnabas (Ap. Gesch. 4: 36). 

Die aufgezählten Beispiele von Jahvetempeln ausser- 
halb Palästinas gehören einer entschwundenen Zeit an. Es 
kann indessen die Frage aufgeworfen werden, ob nicht solche 
Heiligtümer noch bis auf den heutigen Tag zu finden sein 
könnten an solchen Orten, wo das Jugentum so zu sagen 
getrennt worden ist von der Entwicklung, die als der voll- 
ständige Sieg des Rabbinismus oder Schriftgelehrtentums 
über den Sadduzäisnus oder die Ideen der Priesteraristo- 
kratie bezeichnet werden kann. 

Ich habe keine Gelegenheit gehabt, dieses Problem in 
seinem ganzen Umfang zu untersuchen, aber prinzipiell 
wichtig ist immerhin schon das, was ich an zwei Stellen 
gefunden habe: in Nordafrika (Tunis und den Nachbar- 
gebieten) und in Abessinien. In diesen beiden Ländern 
wohnen zahlreiche Juden in so zu sagen. vollständiger 
Isoliertheit von ihren übrigen Glaubensgenossen und bielen 


1 Wenn die „Synagogen“ in Agypten, gegen welche Onias mit seinem 
Tempelbau protestierte, ‘sod genannt wurden, so rührt dies m. E. gerade von 
diesem Gegensatzverhältnis her. 


Jahvetempel ausserhalb Palästinas 199 


daher auch für den Religionshistoriker neues und ausser- 
ordentlich reiches Material. Bezeichnend für die Isoliertheit 
der abessinischen Juden ist die Äusserung derselben in 
einem offenen Schreiben an ihre Glaubensgenossen durch 
einen jüdischen Lehrer Dr. Faitlovitch, der zweimal (in 
den Jahren 1904—1905, 1908—1909) Abessinien durchreist 
und seinen Glaubensgenossen schriftliche Grüsse der 
angesehensten Rabbiner in der ganzen Welt überbracht 
hat. Die abessinischen Juden versichern, dass sie bis 
dahin alle Nachrichten von dem Vorhandensein anderer 
Juden als sie selber für eitel Fabeln gehalten haben, 
„aber nun haben wir feste Gewissheit hierüber erhalten“! 
fügen sie hinzu, indem sie grosse Hoffnungen für die 
Zukunft durchblicken lassen, wenn sie durch ihre neuent- 
deckten Brüder in Europa Bücher und Lehrer erhalten. 
Die tunesischen Juden sind neuerdings Gegenstand einer 
Entdeckungsreise im Jahre 1906 und des Studiums des 
Franzosen M. N. Slouschz gewesen, der in einem Werke 
vom Jahre 1909, betitelt „Un voyage d’eludes juives en 
Afrique, herausgegeben von l'Académie des inscriptions et 
belles-lettres“, besonders interessante Beobachtungen mit- 
geteilt hat. Es scheint indessen diesem Gelehrten ent- 
gangen zu sein, dass das jüdische Heiligtum auf der Insel 
Gerbe bei Tunis bereits im Jahre 1835 von dem Missionar 
C. F. Ewald beschrieben worden ist. Seine Beobachtungen 
sind später im Jahre 1837 von P. Ewald veröffentlicht 
worden unter dem Titel: „C. F. Ewalds Reise von Tunis 
über Soliman, Nabal etc. zurück nach Tunis 1835“. : Auf 


' Die gleiche Auffassung hegte man in tonangebenden jüdischen 
Kreisen von der Existenz der abessinischen Juden, als Halevy nach einer 
Reise im Jahre 1868 in Abessinien die Juden in Paris für ihre Landsleute 
in Äthiopien interessieren wollte Faitlovitch, Quer durch Abessinien, 
1910, S. 2. 


156 S. A. Fries 


Seite 123—124 wird ein Jahvetempel auf Gerbe beschrieben. 
An einem Orte, genannt Chraba, befindet sich dieses 
Heiligtum mit Vorhof, dem Heiligen und dem Allerheiligsten. 
Dass der Ort als Heiligtum sehr alt ist, geht daraus hervor, 
dass sich dort ein Grabstein aus dem 6. Jahrh. n. Chr. 
belindet.‘ Die Juden selber sagen, dass das Heiligtum 
nach der Zerstörung des ersten Tempels von Juden erbaut 
wurde, die von Ägypten nach Gerbe übersiedelten. Aus ver- 
schiedenen Teilen Afrikas wallfahrten Juden hierher und 
bringen Beiträge zum Unterhalt desselben. In der Nähe 
dieses Heiliglumes, das etwas näher wenngleich leider 
nicht vollständig von Slouschz beschrieben wird, wohnen 
die Priester, nach der Tradition von Esra abstammende 
Aaroniden. Sie dürfen niemals die Insel verlassen und 
geniessen wie andere Priester ein hohes Ansehen unter 
diesen nordafrikanischen Juden, ein höheres als die Rab- 
biner und andere Religionsdiener. Das Gerbe-Heiligtum 
ist nämlich nicht das einzige, sondern es gibt mehrere 
solche. Slouschz erwähnt des weileren mehrere von ihm 
besuchte. Sie werden „Ghriba“ genannt, ein Wort, das so 
viel bedeutet wie „alleinstehend‘“, „bewundernswert“. Aus- 
serdem gibt es gewöhnliche Synagogen. Im 7. Jahrh. zur 
Zeil der Invasion der Araber in Nordafrika gab es noch 
mehrere solche Priesterheiligtümer, wie gleichfalls zer- 
streute Priesterfamilien aus der Geschichte oder durch die 
Tradition bekannt sind. Slouschz vergleicht diese Heilig- 
tümer, ihre Priester und ihren Kultus mit den entsprech- 
enden Verhältnissen des Elephantine-Tempels und des 
Onias-Tempels. Ebenso findet er mit Recht ein Seitenstück 
hierzu bei den sog. Falaschas in Abessinien, zu welchen 
ich nun übergehe. 


* Slouschz spricht auf 5. 24 nur von einem Grabe aus dem 10—11. 
Jahrhundert. 


Jahvetempel ausserhalb Palistinas 157 


Die abessinischen Juden, von den Abessiniern gewöhn- 
lich, von sich selber zuweilen „Falaschas“ d. h. Fremd- 
linge, Einwanderer, genannt, leben in nicht sicher bekannter 
Anzahl, die immerhin auf viele tausend Familien! geschätzt 
werden kann, über ganz Abessinien zertreut, Handwerk, 
speziell das Schmiedehandwerk, und Ackerbau treibend. 
Sehr oft wechseln sie ihren Aufenthaltsort. Sowohl in ethno- 
graphischer als historischer Hinsicht ist die Kenntnis von 
ihnen sehr liickenhaft. Auch ihre Literatur bietet viel 
Neues, Unbekanntes: und Interessantes. Mit bewunderns- 
werter Zähigkeit halten sie indessen an dem Gesetz Moses 
und ihren heiligen Traditionen fest, deren Pfleger und 
Hüter teils Priester, teils Schriftgelehrle sog. Debteras sind. 
Die Priester können auch Schriftgelehrte sein, ebenso auch 
umgekehrt. Was über ihre religiösen Verhältnisse bekannt 
ist, muss aus Reiseschilderungen zusammengesucht werden, 
von welchen die wichtigsten von Martin Flad?, Halevy?, 
Nahum* und Faitlovitch’ sind. Da diese Falaschas in- 
dessen in mancher Hinsicht uralte jüdische Gebräuche 
z. B. am Versöhnungstage bewahrt haben, deren ehe- 
maliges Vorhandensein in weiteren Kreisen zum Teil durch 
den Talmud, das Jubiläenbuch und den Kirchenvater 
Chrysostomus bezeugt wird, ist ein Studium ihrer heutigen 
Religionsgebräuche von Bedeutung für die jüdische Re- 


! Die Angaben über die Zahl der Falaschen sind sehr wechselnd. Mit 
Sicherheit scheinen sie doch 200,000 Personen zu zählen. 

3? Kurze Schilderung der bisher fast unbekannten abessinischen Ju- 
den, 1869. 

3 Excursions chez les Phalaschas (Bull. de la Soc. de Geogr. de 
Paris), 1869. 

4 Missions chez les Falachas d’Abvssinie (Bull. de l’Alliance isra¢lite 
universelle), 1908. 

b5 Notes dun vovage chez les Falachas 1905. Quer durch Abes- 
sinien, 1910. 


158 S. A. Fries 


ligionsgeschichte’. Stelle ich nun die zerstreuten Angaben 
zu einem Gesamtbild mit Rücksicht auf das nun vor- 
liegende Problem zusammen, so erhält man ungefähr fol- 
gendes Bild”. 

Die abessinischen Juden unterscheiden zunächst zwi- 
schen Opfern, die ein jeder darbringen kann, und rein 
priesterlichen Opfern. Ein privates Laienopfer findet u.a. 
jedesmal statt, wenn ein essbares Tier geschlachtet werden 
soll. Gewöhnlich wird doch das Tier von dazu aus- 
ersehenen Schlächtern geschlachtet, die den bezeichnenden 
Titel Kähen d. h. Priester führen, obgleich sie nicht als 
eigentliche Priester angesehen werden. Sie werden von 
den Mönchen zu ihren Funktionen ernannt. Wir haben 
es demnach hier mit den alten privaten Sebachim-Opfern 
zu tun, in Mischna Chullin genannt zum Unterschied von 
den Sebachim, die im Tempel dargebracht wurden. Denn 
das Wort Chullin bedeutet nicht das profane Schlachten, 
wie man zuweilen annimmt, sondern Opfer, die nicht im 
Heiligtum vor sich gehen und daher so zu sagen all- 
gemeine Opfer sind’. Auch das hebräische Wort SF be- 
deutet nicht profan in unserem Sinne, sondern das, was 
der Öffentlichkeit angehört. Die priesterlichen Opfer bei 
den Falaschas finden nur bei solchen grösseren ,,mesgid“ 


! Merkwürdig ist, dass die Falaschas beide Geschlechter beschneiden. 
kein Purim- und Tempeleinweihungsfest auch nicht die sog. Gebetsriemen 
‚Fhephillm) baben. Möuche, Nonnen und Zauberer gibt es. Auch Pro- 
pheten treten hin und wieder auf. 

* Für die Zuverlässigkeit desselben in den Details muss ich meine 
Reservation aussprechen. 

* Dass Mischna dieses Schlachten nicht als etwas profanes in un- 
serem Sinne, sondern als Opfer ansieht, geht nicht nur aus den skrupu- 
lösen Ceremonien und Bestimmungen hervor, die auch für Chullin festgelegt 
sind, sondern auch aus dem Platz des Traktats in dem Seder im Mischna, 
das nur von Opfern oder heiligen Institutionen handelt und als >heilim- 
Dinge» betitelt ist. 


Jahvetempel ausserhalb Palästinas 159 


(Bethäusern) mit Prieslerschaft statt. Was diese Gemeinde- 
häuser anbelangt, so sind sie, ebenso wie die abessinischen 
christlichen Kirchen in der Regel von besonders primi- 
fiver Art und unterscheiden sich eigentlich nur als etwas 
grösser von den gewöhnlichen Wohnhütten. Aber das 
Gehäude selbst ist abgeleilt in das Heilige und das Aller- 
heiligste. In diesem liegt auf einem Tisch das Alte Testa- 
ment oder wenigslens die fünf Bücher Mose. In manchen 
Fällen kann eine solche „mesgid“ mit einer jüdischen 
Synagoge identificiert werden. Aber wenn sich vor dem 
Heiligtum ein Altar von unbehauenen Steinen für den 
priesterlichen Opferkultus befindet, umgeben von einer auf 
Steinen errichteten Einfriedigung, so haben wir es mit 
einem wirklichen Tempel zu tun. Es finden sich viele 
solche in Abessinien. Der hauptsächlichste und nunmehr 
älteste liegt auf einem hohen Berge, dem Hoharua, mit 
grossartiger Aussicht und bildet den heiligsten Platz für 
die Juden von Abessinien. Das dortige Heiligtum ist ein 
wirklicher grosser und prachtvoller, aus Steinen erbauter 
Tempel mit zahlreichen Wohnungen für die amtierende 
Priesterschaft. Ein anderes Heiligtum von grossem An- 
sehen liegt in Guraba. Der Kultus wird daselbst von acht 
höheren Priestern unter der Leitung eines eigenen Ober- 
priesters verrichtet. Diese wohnen in Hütten bei dem 
Tempel innerhalb einer besonderen Einfriedigung, nehmen 
den Zehnten ein und geniessen grosse Autorität. Jede 
Provinz hat ihren Oberpriester, ernannt von dem höchsten 
Leiter der Mönche, der seinen Wohnsitz in Qwara hat. 
Diese Oberpriester führen den Titel Abba. 

Die abessinischen Juden sind sich des Kultusortes 
Jerusalem ihrer Vorfahren sehr wohl bewusst und hoffen 
noch heute, dass der Messias, genannt Theodorus, von 
dort kommen soll um sein in Verbannung und Drangsal 


160 | Sh Tries 


lebendes Volk zu befreien. Die Idee von einer absoluten 
Centralisation des Opferkultus nach dem Tempel von 
Jerusalem scheint nicht für ihren Opferkultus massgebend 
zu sein. Flad bemerkt in seinem Buch S. 55, dass die 
Falaschas keine ,,Gewissensskrupel“ gegen das Opfern zu 
haben scheinen trotz 5. Mose 12, wo nach Flads Meinung 
Opfer ausserhalb des Tempels verboten werden. „Sie be- 
haupten“ — fährt er fort — „weil der Tempel zerstört ist, 
dürfen sie gleich den Kindern Israel in der Wüste an 
allen Orten, wo sie wohnen, dem Herrn eine Statte hei- 
ligen und ihm Opfer bringen.“ Wir sehen hier wiederum 
eine Probe von jüdischer Gesetzesauslegung, wenn man diese 
Stelle überhaupt höher werten soll als eine von den vielen 
Streitfragen, die in den religiösen Gesprächen zwischen 
den Christen und den Falaschas nichts seltenes sind. Das 
letztere ist das wahrscheinlichere, denn sowohl die Fa- 
laschas als auch Flad haben offenbar vergessen, dass 3. 
Mose 17 den Opferkultus in der Wüste ebensosehr cen- 
tralisiert wie jemals 5. Mose 12. 

Bei der Betrachtung der nun angeführten Tatsachen 
von dem Vorkommen ausserpalästinensischer Jahvetempel, 
treten ungesucht zwei Hauptfragen von fundamentaler 
Bedeutung hervor: 

1) Welches war die eigentliche Hauptbedingung für die 
Entstehung eines Jahvetempels? 

2) Wie gehl es zu, dass die Anzahl dieser Tempel 
jedenfalls nur klein war, während die Synagogen so zu 
sagen unzählbar sind? 

Zur ersten Frage ist folgendes in Erinnerung zu bringen. 
Kin Jahvelempel kann nur entstehen, wenn eine legitime 
Priesterschaft zu Gebole steht, sei es nun dass die aaroni- 
tische Abstammung wirklich oder fingiert ist. Dass jeder 
beliebige einen Jahvetempel hätte errichten Können, isl 


Jahvetempel ausserhalb Palästinas 161 


undenkbar. Schon in den Büchern der Könige (1. Kön. 
12: 31) wird an dem Tempel Jerobeams in Bethel getadelt, 
dass die Priesterschaft desselben nicht legitim, nicht einmal 
vom Stamme Levis war. Andererseils hat man nicht ge- 
wagt die Legitimität des Orakelheiligtums anzufechten, das 
ein Enkel Mosis in Dan gründete und das bestehen blieb, 
bis die Bundeslade zur Zeit Samuels’ zu den Philislern in 
die Gefangenschaft geführt wurde. 

Die Legitimität des Oniastempels basierte vollkommen 
auf der Berechtigung des Onias und seiner Priester zum 
Priesteramt im Tempel von Jerusalem. In gleicher Weise sind 
die Priester im Heiliglum der ,, Damaskus-Sekte“ zu beurteilen. 
Die Priester im Gerbe-Tempel erheben Anspruch auf dieselbe 
Legitimilät, vermutlich auch die Priester des Jeb-Tempels. 
Was die wirklichen Priester der Falaschas anbelangt, so 
habe ich keine bestimmte Angabe über die Qualifikalionen 
derselben finden können. Die Schächter brauchen nur 
Personen zu sein, die sich nicht durch Essen mit anderen 
Religionsbekennern verunreinigt haben; der höchste Leiter 
der Religionsgemeinschaft der Falaschas istein Mönch und 
braucht keine aaronilische Abstammung nachzuweisen; wie 
es sich mit.den Provinzoberpriestern verhält, ist mir nicht 
bekannt. Ursprünglich scheint man sich indessen an aaro- 
nitische Priesterschaft gebunden gefühlt zu haben. Wenig- 
stens nach einer Tradition bei den Falaschas befanden sich 
unter den Juden, die zur Zeit Salomos nach Abessinien 
auswanderten, auch 12 Priester vom Stamme Aarons. Von 
diesen war einer, Asarja, Zadoks Sohn, Hoherpriester. Ver- 
mutlich hat die ursprüngliche Forderung auf aaronitische 
Abstammung nicht aufrechterhalten werden können, nach- 
dem der aaronilische Priesterstamm (wirklich oder fingtert) 


! Wegen der Lesart, siehe Fries, Den isr. kult. centr., S. 25. 


ll. — Beiträge zur Rel. Wiss. J. 2. 


162 S. A. Fries 


ausgestorben war. Man hat sich stattdessen mit dem 
reinen Tradilionsprineip begnügen müssen, wie es auch 
bei den Samaritern der Fall ist, deren angeblich aaronitisch 
legilimer Priesterstamm im Jahre 1658 ausstarb. 

Es verdient in diesem Zusammenhang bemerkt zu 
werden, dass der samarilanische Gottesdienst im Heiligtum 
auf dem Garizim von den Juden nicht völlig verurteilt 
werden konnte. Denn nachdem ein Jerusalemspriester 
namens Manasse im +. Jahrh. Hoherpriester auf dem 
Garizim geworden war, konnle dieses Heiligtum auf Legi- 
timilät Anspruch erheben. 

Schon die Schwierigkeit, eine legilime Priesterschaft 
für einen Jahvetempel zu finden, muss die Möglichkeit 
solche Heiligtümer anzulegen beschränkt haben. Hierzu 
kommt des weiteren eine Nachwirkung der alten Vorstel- 
lung, dass der Jahvekultus in Opferform nirgends anders 
als in Palästina stattfinden konte. Denn ein heidnisches 
Land ist nach Am. 7: 17; Hos. 9: 3 unrein. Als Naeman, 
der durch Elisa von seinen Aussatz geheilt wurde, aus 
Dankbarkeit gegen Jahve ihm fort und fort seine Ver- 
ehrung widmen wollte, glaubte er, dass dies nicht in anderer 
Weise geschehen könne, als indem er zwei Mauleseltrachten 
Erde vom Lande Israel mitnahm. Auf dieser Erde wollte 
er dem Jahve auch in Syrien opfern. 

Das Exil scheint eine andere Auffassung erzeugt zu 
haben. Schon die Exulanten aus dem Reiche Ephraim 
nach dem Fall von Samaria 722 v. Chr. haben möglicher- 
weise einen Jahvelempel in Kannu in Mesopolamien er- 
richtet, wovon gewisse Keilschrifttexte aus dem 7. Jahrh. 
v. Chr. zu sprechen scheinen.’ Die jüdischen Exulanten 


I Siehe N. Schiffer Keilimschriftliche Spuren der in der zweiten 
Hälfte des 8. Jahrhunderts von den Assyriern nach Mesopotamien deportierten 
Samarier. 1907, s. 20—28. 


Jahvetempel ausserhalb Palästinas 163 


nach 586 werden in Jes. 43: 22 getadelt, weil sie im Lande 
der Gefangenschaft nicht dem Jahve geopfert haben; die 
Seeleute des Jonabuches brachten Schlachtopfer fern von 
Palästina (1: 16), ebenso der fromme Hiob in Uz (1: 5; 42: 8). 
Der Prophet Maleachi (1: 11) weissagt von der Zeit, wo 
man vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang dem 
Namen Jahves Rauchopfer und reine Opfergaben darbringen 
wird. 

Aus solchen Gründen war es freilich möglich, Jahve- 
tempel ausserhalb Palästinas zu bauen, aber es war nir- 
gends gesagt, dass solche zu Stande kommen mussten. Die 
Synagogalinstitution "trat an die Stelle des Tempelkultus, 
und die Rabbiner wussten auch den Wert dieses Gottes- 
dienstes auf Kosten des Opferkultus zu rechtfertigen. H. 
Scholander' hat in seiner vorzüglichen Studie „Det israeli- 
tiska offrets upplösning“ 1909 gezeigt, wie sich diese Ten- 
denzen mehr und mehr steigerten, so dass das Judentum 
bei der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 durch das 
Aufhören des Tempelkultus in Jerusalem keine tiefere 
Erschütterung erfuhr, selbst wenn man möglicherweise 
nicht ganz mit den Opfern aufhörte? und jedenfalls niemals 
den Gedanken an die Wiederaufrichtung des Opferwesens 
im Tempel offiziell aufgegeben hat. 

Man darf sich indessen nicht vorstellen, dass der Opfer- 
kultus ganz und gar hat ausgerottet werden können bei 
den Juden. Wir haben gesehen, wie derselbe mit 
ungeschwächler Kraft in Tunis und in Abessinien fortlebt. 
5. Mose 12 hatte ausdrücklich die gewöhnlichen Schlacht- 
opfer in den Häusern von der Forderung des Central- 
heiligtumes auf alle anderen hochheiligen Opfer ausgenom- 
men. Sebachim (Schlachtopfer) konnten sowohl im Tempel 


' Vgl. auch Schmitz, Die Opferanschauung des späteren Judentums, 1910. 
4 Klein, Der älteste christliche Katechismus, 1909, S. 106 f. 


164 S. A. Fries 


als auch im eigenen Hause eines jeden dargebracht werden.’ 
Jedes Schlachten war ein Opfer. So ist es noch im 
Sprachgebrauch des Neuen Testaments, wo man aus 
althergebrachtem Vorurteil geflissentlich „schlachten“ über- 
setzt hat, wo „opfern“ die richtige Uebersetzung gewesen 
wäre z. B. Lk. 15: 23; Mt. 22: 4; Ap. Gesch. 10: 13 (vergl. 1. 
Macc. 1: 47). Wenn nämlich das griechische Wort vor- 
kommt, ist es vollkommen willkürlich, es mit etwas anderen 
zu übersetzen, als was es sonst immer bedeutet: opfern’. 
In der Bergpredigt wird ein gewöhnliches Privatopfer 
erwähnt. „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, 
und wirst da eingedenk, dass dein Bruder etwas wider 
dich habe, so lass da vor dem Altar deine Gabe und 
gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, 
und alsdann komm und opfere deine Gabe“ (Mt. 5: 23—24). 
Dass es sich hier in einer Ansprache an Galiläer nicht um 
den Altar im Tempel von Jerusalem handeln kann, dürfte 
sich von selbst verstehen. Die sinnlosesten Vorstellungen 
würden bei einer solchen Annahme entstehen. Sowohl in 
Palästina als auch ausserhalb des heiligen Landes nahmen 
Privatopfer ihren ungestörten Fortgang, z. B. bei den heiligen 
Mahlzeiten der Juden’, und haben von da zurückgewirkt 


1 Fries, Den israelitiska kultens centralisation, 1895, S. 76 f. Har 
Deut. XII velat absolut centralisera offerkulten? 1902. Die Gesetzesschrift 
des Königs Josia, 1903, S. 16 ff. 

3 Nur in Joh. 10: 10 steht ein Mew, das nicht mit opfern übersetzt 
werden kann. Aber So an dieser Stelle ist zurückzuführen auf $ = rasen, 
einherstiirmen, lärmen, eine Bedeutung, die in diesem Zusammenhang die 
emzig richtige ist. In derselben Bedentung kommt das Wort vielleicht in 
dem defekten Text zu 1. Macc. 7:19 vor. Das Johannes-Evangelium hat 
andere Wörter, denen die gewöhnliche Exegese eine falsche Deutung gr- 
geben hat. So bedeutet doSa in 5: 41—44, 12: 43, ersichtlich » Lehrmeinung- 
und nicbt Ehre, Ruhm; sue in 7: 34, 36 bedeutet „ich werde gehen“ und 
nicht „ich bin“; ó @aoyer Too xoouov in Joh. nicht den Tenfel, sondern Mitatron 
(Fries, ZN W. 1905. S. 159 ff... f 

3 Goetz, Die heutige Abendmahlsfrage, 1907, s. 221, 243 ff. 


Jahvetempel ausserhalb Palistinas 165 


auf die urchristliche Auffassung von Abendmahl als einem 
Opfermahl'. Die sibyllinischen Orakel Ill, 562—730 er- 
mahnen, Gott zu opfern um Versöhnung mit ihm .zu er- 
langen, und zwar nicht nur in „dem grossen Tempel des 
grossen Gottes“, sondern ersichtlich (V. 626—628) überall 
in der Welt. Tatsächlich nehmen die jüdischen Opfer 
noch heutigen Tages inmitten der europäischen Christen- 
heit, ihren Fortgang. Denn das jüdische Schächten oder 
das rituelle Schlachten ist nichts anderes als das letzte 
Ueberbleibsel des Schlachtopfers. Das Ganze ist eine, von 
Gebet begleitete, religiöse Ceremonie von solcher Wichtig- 
keit, dass der Schachter sich als solcher „Religionslehrer“ 
nennen kann, wie dies in Stockholm vorgekommen ist, 
und religiöse Kontroversen entstanden sind, welche die ganze 
jüdische Welt in Harnisch gebracht und eine Flut von 
Schriften und Eingaben gezeitigt haben zu Gunsten eines 
Ritus, dessen ganzer Wert darin besteht, dass er der letzte 
Ueberrest des Tieropfers im israelitischen Hause ist. 


I Goltz, Tischgebete und Ahendmahlisgebete, 1905. Goetz 1. e. 


„Ich bin das Licht der Welt.” 


Eine Studie zur Formelsprache des Johannesevangeliums 
von 


Gillis P:son Wetter 
Uppsala. 


Wer das vierte Evangelium näher studiert, kann nicht 
umhin, von der Monotonie und dem formelhaften Charakter 
mancher Wendungen stark berührt zu werden. Man fühlt 
sich oft vor einer schon festgeprägten, ich möchte fast sagen 
liturgischen Sprache stehen, oder die Worte lassen uns 
ahnen, dass die Terminologie unserm „Johannes“ schon 
fertig dargeboten worden. ist, dass er sie nur auf Jesus 
transponiert. Durch ein näheres Studium eben dieser 
Formeln kann man m. E. neues Licht auf manche dunklen 
Stellen werfen, und besonders das Milieu des Evangeliums, 
auf das doch so viel für sein Verständnis ankommt, wird 
uns dadurch lebendig und greifbar. Diese Seite ist bis 
jetzt m. E. zu wenig ausgebeutet worden, und als Vor- 
arbeit einer solchen grösseren Untersuchung, mit der ich 
jetzt beschäftigt bin, wird diese Studie jetzt der Öffentlich- 
keit übergeben. 

Ihr Gegenstand ist eines der Symbole im Jhev, und zwar 
das, wo Jesus mit dem Licht verglichen wird. Ich will 
es versuchen, Herkunft und Sinn dieses Ausdrucks zu er- 
= klären. Und doch will ich schon von vornherein bemerken, 
dass das, was wir unter Symbol verstehen, für den anliken 
Menschen kaum existierte, vielleicht am allerwenigsten, 


„eh bin das Licht der Welt“ 167 


wenn es sich um religiöse Wirklichkeiten handelte. Seine 
konkrete Anschauungsweise setzte sogleich alles, was wir 
psychologische Erscheinungen des Seelenlebens nennen, 
in äussere, konkrete völlig greifbare Wirklichkeiten, in 
Kräfte’ und ‘Mächte’ um, deren Erwerb der religiöse Mensch 
mit allen seinen Wünschen umkreiste. 

Blicken wir uns auf dem grossen religiösen Schauplatz 
der damaligen "Welt? um, so können wir nicht umhin, uns 
darüber zu wundern, wie oft wir der Vorstellung vom Lichte 
begegnen, und gehen wir nur einige hundert Jahre weiter in 
der Zeit nach der Zeit, in welche mit grösster Wahrschein- 
lichkeit die literäre Formulierung des 4:ten Evangeliums 
verlegt werden kann, so wird dieser Eindruck noch über- 
wältigender. Ich brauche nur die Pistis Sophia und die 
mit derselben zusammenhängenden gnostischen und mani- 
chäischen Systeme zu erwähnen, dann wird man ver- 
stehen, um was es sich hier handelt. 

Wir dürfen uns freilich nicht einbilden, dass ‚das 
Licht“ im Johannesevangelium eine bedeutendere Rolle 


spielt; es kommt — ausser im Prolog — nur an drei oder 
vier Stellen vor, und mit dem Bilde vom Licht wechseln 
viele andere: Ich bin der Weg... Ich bin die Tür (zu 


den Schafen)... Ich bin das Brot des Lebens... Ich 
bin das lebendige Wasser. In gewissem Grade sind diese 
Bilder auch Synonyma zu dem vom ‘Licht, wie wir 
bald sehen werden, hier sei nur erwähnt, dass sie alle in 
dasselbe Milieu hineingehören und oft zusammengestellt 
sind. | 

Indessen zeigt sich wie überhaupt bei der Auffassung 
des Jhev, dass die verschiedensten Ansichten vorliegen in 
Bezug auf die wirkliche Bedeutung dessen, was diese For- 
meln und Sätze uns sagen wollen. Schon die Geschichte 
der Exegese legt untrügliche Zeugnisse dafür ab, und zwar 


168 Gillis P:son Wetter 


von den ältesten Tagen der Kirche her bis in unsere wissen- 
schaftlich geschulte Zeit. Der eine, ein Weinel z. B., sieht 
im Johannesevangelium einen Ausdruck für echte mystische 
Frömmigkeit und meint, dass wir, um es zu verstehen, 
alles logische Denken über Bord werfen und statt dessen 
die Gedanken direkt auf uns einwirken lassen, unser Gefühl, 
nicht unsern Kopf, reden lassen müssen.'! 


Es kann vielleicht als Gegengewicht dagegen am 
Platze sein, an das gerade entgegengesetzte Urteil eines 
der schärfsten Theologen Deutschlands, Wredes?, zu er- 
innern: der Verfasser zeigt die ganze Kühle dessen, der 
fortwährend reflektiert, und der es überall mit dem Lehr- 
satz und der dogmatischen Formel zu tun hat an Stelle der 
lebendig "geschauten und herzlich umfassten menschlichen 
Persönlichkeit... — Das allerverkehrteste wäre es, diese 
Darstellung des Lebens Jesu innig zu nennen. 

Andere Forscher meinen, dass nur ein tieferes Ein- 
dringen in rabbinische Literatur uns die Möglichkeit des 
Verständnisses unseres vierten Evangeliums gewähren kann, 
und zu diesen gehören gerade die wenigen, die die jüdische 
Literatur tatsächlich genauer kennen.® 

Schon unser eigenes Problem zeigt, welchen Unter- 
schied diese verschiedenen Auffassungen mit sich bringen. 
Typisch jüdisch ist die Anwendung des Lichtes als Symbol 
für das Gesetz: Debarim rabba 7 heisst es: „Wie Öl 


1 Weinel, Biblische Theologie des Nenen Testaments, Tübingen 1911, 
bes. S. 472 ff. 

? W. Wrede, Charakter und Tendenz des Johannesevangeliums, Tii- 
bingen und Leipzig 1903, S. 68. Es ist an der Zeit, dass diese kleine, von 
treffenden Bemerkungen volle Schrift mehr von der Wissenschaft beachtet 
wird und besonders die Vertreter der 'Mystik’ im Johannesevangelium sich 
mit ihr auseinandersetzen. l 

° Vgl. z. B. Abelson, The immanence of God in rabbinical literature, 
London 1912, S. 25; vgl. für weitere Beispiele unten. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 169 


der Welt Licht bringt, so bringen auch die Worte der 
Thora der Welt Licht“, und die Worte in Num. 6: 25: 
„Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir“, sind 
(Sifre 12a) gedeutet als Hinweis auf das Licht der Thora 
aber schon im A. T. kann dieselbe Verwendung vom „Licht“ 
beobachtet werden: Ps. 119: 105 heisst es: „Dein Wort ist 
meines Fusses Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“; 
Prov. 6:23: „Denn das Gebot ist eine Leuchte und das 
Gesetz ein Licht; und die Strafe der Zucht ist ein Weg des 
Lebens“, und Ba. Syr. 59: 2 heisst es charakteristisch: 
„Denn zu jener Zeit leuchtete die Lampe des Gesetzes, das 
für immer gilt, allen denen, die in der Dunkelheit sassen, 
dass es denen, die gläubig waren, die Verheissung ihres 
Lohnes kundtue und denen, die ungläubig waren, die Feuer- 
pein, die für sie aufbewahrt ist.“ 

Aber ist das Gesetz ein Licht, so sind es auch alle 
diejenigen, die den Schein desselben in der Welt ausbreiten 
(Ba. Syr. 77:13): „Denn es sind ihnen abhanden gekommen 
die Hirten Israels, und verlöscht sind die Lampen, die einst 
leuchteten.... wir aber sind in der Dunkelheit...15 Die 
Hirten und die Lampen und die Quellen stammten aus 
dem Gesetz. Und wenn wir fortgehen, so bleibt doch das 
Geselz bestehen.“ Und dies ist wohl der Grund, weshalb 
Jesus in der Bergpredigt seine Jünger „das Licht der Welt“ 
nennt und davon spricht, dass alle ihre guten Werke sehen 
mögen (Mt. 5: 16). 

Wieviel anders wird das Licht von den Hellenisten auf- 
gefasst!’ 


„am letzten Tage, dem grossen des Festes stand Jesus 
da und rief also: Wenn jemand dürstet, der komme zu 
mir und trinke. Wer an mich glaubt, wie die Schrift 


1 Vel. unten. 


170 Gillis P:son Wetter 


gesagt hat: Ströme werden aus seinem Leibe fliessen leben- 
digen Wassers. — Das sagte er aber von dem Geist, welchen 
empfangen sollten, die an ihn glaubten. — Und die Diener 
kamen und berichteten über ihn: Noch niemals hat ein 
Mensch so geredet... Da redete Jesus wieder zu ihnen, 
und sprach: Ich bin das Licht der Welt; wer mir folgt, 
der wird nimmermehr in der Finsternis wandeln, son- 
dern das Licht des Lebens haben.“ (Jh. 8:12). — Durch 
ihre ganze Stellung in der Konzeption des Evangeliums 
und durch aes (8:12) sind die beiden Erzählungen eng 
verknüpft. Und was Jesus an ersterer Stelle sagt, scheint 
mit dem eng verbunden zu sein, was wir an der letzteren 
hören. Doch hören wir niemals, dass Jesus sich selbst 
das Wasser des Lebens nennt, nur dass er Wasser gibt 
oder andere, diejenigen die an ihn glauben, lebendiges 
Wasser geben lässt. 

Schon die Stilart selbst ist rein hellenistisch, wir be- 
gegnen ihr im babylonischen und ägyptischen Sakralstil 
seit langen Zeiten, und in der Kaiserzeit lebt sie noch 
fort in den feststehenden Riten der Zauberformeln." Aber es 
wäre doch immer möglich, dass die Gedanken jüdisch sein 
könnten. So meinen auch z. B. Oesterly and Box?, dass 
hier Jesus in Kontrast zum Gesetz gestellt wird. Aber was 
bedeutet dann das, dass wer ihm folgt, das Licht des 
Lebens haben soll? Handelte: es sich hier um Jüdische 
Gedanken, dann würde es bedeuten, dass wer Jesus 
folgt, die rechte ethische Aufklärung erhalten soll, wo- 
durch er das (ewige) Leben erwerben könnte, und in 
ähnlicher Weise wäre dann 12:36: „Glaubet an das Licht, 
auf dass thr des Lichtes Kinder werdet“, zu verstehen. 


ı Vgl. E. Norden, Agnostos Theos, Tüb. u. Leipzig 1913, bes. S. 177 ff. 
? Oesterley and Box, The religion and worship of the synagogue, London 
1911. S. 166. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 171 


Und doch muss wohl ein jeder einsehen, dass diese Ge- 
danken sich mit denen schlecht zusammenreimen, die uns 
sonst im Evangelium zu begegnen pflegen. Und noch 
weniger stimmen damit die Worte des Prologs: „Und das 
Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint 
in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen“: 
ebenso heisst es von Johannes: „Er war nicht das Licht, 
sondern er sollte von dem Licht zeugen. Das wahre Licht, 
das jeden Menschen erleuchtet (porle), war nun im Begriff, 
in die Welt zu kommen.“ 

Von einer ethischen oder philosophischen „Erleuchtung“ 
kann hier nicht die Rede sein. Wer die Worte so zu ver- 
stehen sucht, dem können sie nicht ihren wahren Inhalt 
enthillen. Zwar sind die kurzen, wuchtigen Phrasen’ der- 
artig formuliert, dass man vielleicht sowohl die eine als die 
andere Meinung in sie hineinpressen könnte, aber schon 
dies sollte uns zum Vorsicht mahnen. Vielleicht ist schon 
die Fragestellung falsch, der Verfasser hat sich vielleicht 
gar nicht mit derartigen Gedanken beschäftigt, wenigstens 
nicht ganz bewusst. 

Nun glaube ich, dass dies wirklich der Fall ist und 
dass es uns daher nicht möglich ist, die Bedeutung des 
Lichtes im Johannesevangelium zu verstehen, wenn wir 
nicht vor allem einsehen, dass wir es hier mit einem fertig- 
geprägten Terminus, ja ich möchte noch weiter gehen 
und sagen: nahezu einem Eigennamen zu tun haben. 
Dies ist es, was zuerst in die Augen fällt, wenn von dem 
Lichte im Jhev. die Rede ist. Dann ist leicht zu verstehen, 
dass von Johannes gesagt wird, dass er nicht das Licht 
ist, von Jesus, dass er in Wahrheit das Licht ist. Dann 
werden auch Gedanken, wie „die an das Licht glauben“, 
„dem Lichte folgen“, „zum Lichte kommen“, und noch mehr 


172 Gillis P:son Wetter 


die Stellen, wo das Licht offenbar auf den historischen 
Jesus abzielt, u. s. w., deutlich und klar. 


Und nun ist es uns tatsächlich möglich, in helle- 
nistischer religiöser Literatur das Licht als Namen 
angewendet nachzuweisen. In gnostischen Schriften finden 
wir z. B. Jesus als Licht! angerufen. So finden wir Pap. 
Mim. das Licht als eine Gottheit angerufen und B. G. U. 
954 (4'® Jahrh.) lesen wir: „Licht vom Lichte, wahrhaf- 
liger Gott, begabe mich, deinen Knecht, mit dem Lichte !“? 
So wird auch nach Irenäus (I. 21. 3) in den gnostichen 
Taufformeln das Licht als die erlösende Macht angerufen, 


1 Als Beispiele führe ich folgende an: Act. Phil. 124: 749: nor u 
diydewor gü; 'Inoors (vgl. bald nachher tov Pwrswor abris ’Iyao3, oder 18 
’Inaos, 70 yoy gas, vgl. auch Act. Andr. 1. — Dass diese Schriften Zeug- 
nisse einer Frömmigkeit sind, die weit vor der Zeit, in der sie in der uns 
jetzt vorliegenden schliesslichen Redaktion vorliegen, gelebt hat, halte ich 
für unbestreitbar. Wie weit man dabei gehen darf, ist selbstverstindlich 
eine schwierige Frage, die nicht generell gelöst werden kann. Von späteren 
Aufzeichnungen auf ültere Vorstellungen zurückzuschliessen, kanu nicht als 
ein methodologischer Fehler angesehen werden. Ich kann jetzt in dieser Hin- 
sicht auf die Einleitung in Wilh. Boussets Arbeit: Kyrios Christos, Göttingen 
1913 (mir erst nach der Drucklegung zugänglich) verweisen. — Beachte auch 
S. 313 und vgl. damit meine Untersuchung Charis, Leipzig 1913, S. 13Q, 
134 u. a. 

Bousset hat auch seine Aufmerksamkeit auf die Verwendung vom Licht 
in hellenistischer Religiositüt gerichtet und betont (S. 210), dass "auf diesem 
Gebiet die Gestalt der rettenden Gottheit (der Soter) geradezu den Titel 
oder den Eigennahmen Pòs bekommt; B. bringt dafür eine Reihe von Bei- 
spielen, die also zu den oben angeführten hinzuzufügen sind; vgl. auch Exc. 
ex Theod. 41: zò £üs 0 znaros zpoųyayzy Toursor zur ‘qoos ... (B:s Re- 
sultat stimmt also mit dem meinigen ganz überein). 

? Z. B. P. Par. 2. 978: opxegw os ispo» 
Ogos #74. Z. 1068, vgl. unten; B. G. U. 
zinao, 8u zus doyiuy aou tò gòs, P. Par. Z. 2242: yawns tspov gws TanTanory: 


Für, tend AIH, RÄArOS, Paos, BF, 203. 
9 


öl: ó Eis èx Qwrus Neos AAT SOS 


ewrorinz JUPE izpa AYY EX 0r0TOUS snus... xahzo() zar axonay noi 
twy pwy Joyas; die Schlussworte des Auyos téłeeos (vgl. Reitzenstein in 
Arch. f. Rel. Wiss. VII 393): pwataansy oz, © gs... , Ejvwptaayızv of w 
toy, C. H. XII, 18, 19 u. a. oft. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 173 


die auf die Initianden herabgefleht wird.’ (Vgl. auch die 
Kultworte Firm. Mat. de error. prof. rel. XIX: 1, vgl. auch 
Clemens Al. Protrept. XI. 11.4: gaioe gwc) Handelt es sich 
auch nicht an allen diesen Stellen um einen reinen Eigen- 
namen, so sehen wir doch hier wenigstens einen Schritt 
in dieser Richtung getan mit der Hypostasierung, 
denn so zum mindesten kann man das nennen, womit wir 
es hier zu tun haben. 

Es ist vor allem das heilbringende Prinzip, 
welches Licht genannt wird; dafür haben wir, zumal in 
gnostischen Schriften, die sprechendsten Zeugnisse. Pistis 
Sophia (116, 18) heisst es: „Und in meiner Bedrängnis 
pries ich das Licht, und es rettete mich aus all meinen 
Bedrängnissen. Und es hat ferner zerrissen alle meine Bande 
und mich heraufgeführt aus der Finsternis und der Be- 
drängnis des Chaos“; Jeü 258, 30: „O Licht, das in dem 
Lichte, das unsere Herzen erleuchtet hat, bis wir das Licht 
des Lebens empfingen“ (hier können wir sicher Joh. 8: 12 ff. 
vergleichen) und Sal. Ode 11: 10 hören wir: „Der Herr 
erneuerte mich in seinem Kleide und nahm mich in Besitz 
in seinem Licht.“ Die Beispiele könnten beinahe ins 
Unendliche vervielfältigt werden, aber das bereits Gesagte 
möge genügen. 

Deutlich tritt das Licht als Eigenname in rab- 
binischen Spekulationen hervor, und hier finden wir 
sogar die Formel: „Das Licht der Welt.“ So hören wir 
Jer. Schabbath II, 3, dass der erste Mench „das Licht der 


R t lr. 1.21. 3 Srp zaas dovamey 705 zatpòs Erirakoönar EWS Gronazausvoy 
zat meöna dyador zal Zur (dieselbe Zusammenstellung von gas, %wn und 
zvejua kommt auch C. H. XIII: 9 und 19 vor); vgl. auch die folgende Formel: 

. ô &usdvoaro 'Iyooss ó Nalapyvos è» tais {wais 709 gurzig toù Aptazoi. 
Vgl. auch besonders Ir. I. 9. 3 sòs yap xat ron aùtoŭ deivunsson Adyou xat 
Movoyevods zal Luis xat Dwrüs xat Swrinos zat Aptaros zat Ytos Ozon u.s. w., 


“ht 
Clem. Al. Paidag. I 26. 


174 Gillis P:son Wetter 


Welt" genannt wird, und dieselbe Tradition begegnet uns 
auch in Bereschith rabba (Cap. 11), und an beiden Stellen 
ist es klar, dass wires mit uralter Tradition zu tun haben. 
An letzterer Stelle haben wir sogar einen Versuch, die 
Formel zu erklären: „auf Grund seiner grossen Weisheit, 
die die der Engel übertraf, und die ihn das Wesen der Tiere, 
sein eigenes und das Wesen Gottes verstehen liess, und 
mit der er der Welt die Grundbegriffe alles Wis- 
sens überlieferte, wurde Adam das Licht der Welt ge- 
nannt“ (vgl. dazu auch Philo de op. mundi 148, auch 144, 
143 u. a.) Zu wiederholten Malen hören wir auch in der 
rabbinischen Tradition davon, dass Adam vor seinem Fall 
mit Licht! ausgerüstet war, dass es ihm aber bei seinem 
Fall geraubt wurde, ebenso wie wir auch hören, dass 
dieses Licht vom Tage des Falles her von Gott für die 
zukünftige Welt aufbewahrt worden ist.” 

Aber die Vorstellung vom Licht als einem integrierenden 
Teil des ersten Menschen ist nicht allein bei der jüdischen 
Tradition zu finden. Zosimus, ein heidnischer Schrift- 
steller, wenn auch nicht ganz frei von christlichem Ein- 
fuss, macht darauf aufmerksam, dass „nicht nur hebräische 
sondern auch hermetische Schriften von dem erleuchteten 
Menschen und seinem Führer, dem Sohne Gottes, und von 
dem irdischen Adam und seinem Führer (der eigenen 
Vernunft)? reden“. Er gibt uns hier eine Variante von 


' Vgl. Ferdinand Weber, Jüdische Theologie, S. 214, 219 u. a. 

? Vgl. Weber, a. A. S. 222; Oesterley and Box a. A. S. 267; J. Abel- 
son, The immanence of God in rabbinical literature, S. 72, Hargigah 12 a. 
Diese Gedanken werden im rabbinischen Judentum öfter durch andere, mit 
dem Lichte sehr nahe zusammenhängende Ausdrücke bezeichnet, wie Sche- 
khina, Weisheit u. a., vgl. z. B. Abelson, S. 58 ff. und oft. 

9 zat ağza poor "Läoaior xa ai isnat "Innod For zen 709 Ewrzuo 
pozovu zat Tod GOYYOS auzob vlod 420% xat Ton yeou Aoun xat 705 ddyj-05 
abrod drrutpov Tob Övagrıta JEY0orTos tantos strat utoy 9200 (zat) wider. oF 
dè "LAdyves xahodbat (Tür) pitrov Acon Ezy hia aufovdsvansroy 20 Tod (toy 


„ich bin das Licht der Welt“ 175 


der in der damaligen Welt so weit verbreiteten Mythe 
vom Urmenschen und sagt dabei u. a.: „sein Rufname war 
Licht, weshalb auch die Menschen Licht genannt werden“, 
und dann spricht er vom „Licht“ (ro ®wc) im Paradies.’ 
Von diesem wird gesagt, dass es „die Vernunft eines jeden 
‘erleuchtet und ihn in das Land des Glückes führt, wo er 
war, bevor das Körperliche ins Dasein trat, und zwar jeden 
der ihm folgt und von ihm geleitet und zum Lichte geführt 
wird.” Auch hier begegnen wir also der Vorstellung von 
der ursprünglichen Lichtnatur des Menschen, und das 
Ziel wird deutlich als eine Wiedergewinnung derselben 
angegeben. Aber hier wird des weiteren ein Urmensch 
erwähnt, der Licht genannt wird und dessen Aufgabe es 
ist, die Menschen zum Lichte zurückzuführen. 


Es darf uns daher nicht in Staunen setzen, dass wir 
auch in gnostischen Schriften „Licht“ als direkten Name des 
Krlösers finden können. So heisst der Soter Exc. ex. Theod. 
34, 40, 41 ständig yac, und Epiphanius 31, 4 wird dasselbe 
von dem von Maria geborenen Erlöser ausgesagt (vgl. auch 
Ir. 1. 29. 1%. 

In den gnostischen Schriften ist es oft gerade dieses 
Thema vom Licht als erretienden Prinzip, das uns in 


10, Tonrson Tod anzign) azo, 17 hapsiv za Öana 705 Js. (Berthelot, 
Alchimistes Grecs, Paris 1888, S. 232.) 

I u 02 znoonyopmzim azo wona gun zassizat, dp OF zat PÒTAS RUP 
zoho yas Jeyzadar Ton ipozons, “Ore Tv Dog è» zw Rapadsiaw ...(S. 231). 

? zal OFT CTO, voraus xal rohrznodnzros edor Toy soð viov (wir 
haben diesen Ausdruck auch im 4. Ev.) misa pwousrov tay mws guya 
fysxsy, GM any zamiar 22 705 yopo Ths SNAMETE ER Tov Gawpazoy... 
TUITA YAp OuvdnsvOs TUTA 00a West FETA, XAL RATM Onaxovse Jute Tarts 
owas ÒT zwy, (za) gwrw tov Eruoron von» zig Tov sudainOva yüpos üvey 
HYDE, HROUTED 77 zat Be TO) owyatmoyv yzvšořat... zat GOTzoUNsrOr Btls 
éxztvo Tu gus (S. 230), 

3 Diese letzten Beispiele nachträglich hinzugefügt nach Bousset, Kyrios 
Christos S, 210, Anm. 4. 


176 Gillis P:son Wetter 


zahlreichen Variationen begegnet. Nur ein Beispiel aus 
den gnostischen Gedanken mag angeführt werden, und 
zwar Ir. I. 30. 1:... esse quoddam primum lumen in 
virtute Bythi... esse autem hoc patrem omnium, et in- 
vocari primum hominem. Dann ist von einem zweiten 
(secundum hominem) und einem dritten Prinzip,dem heiligen 
Geist, die Rede. Vom ersten und zweiten Menschen zu- 
sammen mit dem Geist wird Christus geboren (et illuminante 
eam, generavil ex ea lumen incorruptibile, tertium mascu- 
lum, quem Christum vocant) Adam und Eva, ursprüng- 
lich mit dem Lichtglanz begabt, werden bei dem Sünden- 
fall dessen beraubt, die Aufgabe Christi ist, alle zerstreuten 
Lichtelemente wieder mit der Lichtsubstanz zu vereinigen: 
Ad ipsum enim universam humectalionem luminis con- 
currisse dicuni, et descendentem Christum in hunc mun- 
dum, induisse primum sororem suam Sophiam, et exul- 
lasse utrosque refrigerantes super invicem (12, vgl. auch 11 
und 14). Auch hier finden wir dieselben Hauptzüge wieder, 
wie Zosimos sie erwähnt: der Mensch ursprünglich mit 
Licht begabt, durch den Fall ist es ihm verloren gegangen, 
Christus wird es ihm wieder herstellen. Und mit diesen 
Gedanken befinden wir uns mitten in Vorstellungen, die 
der ganzen hellenistischen Frömmigkeit bekannt waren, 
auch wenn sie nicht immer in diese mehr spekulativen 
oder mythischen Formen gekleidet sind. 

Da wir es hier aber mit einer Peripherie hellenistischer 
Frömmigkeit zu tun haben, die noch dazu der johan- 
neischen ziemlich fern liegt, wollen wir lieber der An- 
weisung Zosimos folgen und einen flüchtigen Blick auf die 
hermetische Literatur werfen. Hier hören wir C. H. XHI: 18 
dieses Gebet in „dem heimlichen Lobgesang“: „Heilige 
Gnosis, entzündet (gweoa%efs) durch dich, wer durch dich 
das vernünflige (ro voytor ges) Licht preist... Licht und 


„Ich bin das Licht der Welt“ 177 


Leben, von euch zu euch geht der Lobgesang.“ Auch in den 
hermetischen Schriften (in Poimandres) begegnen wir der 
Vorstellung vom Urmenschen als ursprünglich nur aus 
göttlichem Stoff, aus Licht unt Leben (= x/rnoıc) bestehend, 
der aber dann durch die Liebe zu seinem eigenen Bilde, 
das er im Wasser erblickte, auch einen sterblichen Leib 
erhielt. So ist denn der Mensch ein Doppelwesen, sterblich 
nach dem Leibe, aber unsterblich nach seinem eigentlichen 
Menschen (I: 12—15). Aber wenn er nun erkennt, dass er 
von Licht und Leben ist, dann kehrt er zum Licht und 
Leben zurück (I: 21). Es ist also die Einsicht, das Wissen 
— das seinerseits an vielerlei Stellen Licht genannt wird — 
das den Menschen wieder zu seiner Lichtnatur führen soll. 

Wir haben also gesehen, dass nach jüdischer sowohl 
wie nach hellenistischer Spekulation der Mensch ursprüng- 
lich — entweder als Urmensch oder historisch gedacht --- mit 
einer Lichtnatur ausgerüstet war, durch den Fall aber — 
entweder historisch oder bei der Geburt gedacht — dieselbe 
verloren hat, und dass sein Ziel ist, dieselbe wiederzuge- 
winnen. Aber wir haben auch gehört, dass es gerade das 
Licht ist, also gerade das für diesen Urmenschen Charak- 
teristische (er wird ja, wie überhaupt das errettende Prinzip, 
schlechtweg Licht genannt), was dem gefallenen Menschen 
dazu verhelfen soll. Wir haben also feststellen können, 
dass uns das Licht als Eigenname sowohl in hellenistischen 
wie hebräischen Spekulationen begegnet, und ähnliche 
Gedanken haben wir nicht selten in hellenistischer Fröm- 
migkeit, auch wo nicht der Eigenname ausdrücklich 
erwähnt worden ist, spüren können, wie wir auch Spuren 
davon in den rabbinischen und gnostischen Spekulationen 
über Adam gefunden haben. 

Indessen ist es für die spälere jüdische Spekulation 
charakteristisch, dass sie, was sich an zahlreichen Punkten 


12. —- Beiträge zur Rel. Wiss. I, 2. 


178 Gillis P:son Wetter 


in den Erwägungen der jädischen Apokalyptik bestätigt, 
nicht selten die Eigenschaften des Urmenschen auf den 
erwarteten Erlöser, auf den Messias tibertragt. Bei Paulus 
schon begegnen uns derartige Gedanken (1. Kor. 15: 45). 
Als ein Faktum steht nun fest, dass z. B. Ba. Syr. 53:9 
Messias als ein Licht beschrieben wird, das die ganze Welt 
erleuchtet: „Und darnach sah ich, wie der Blitz, den ich 
am oberen Rande der Wolke gesehen hatte, sie packte 
und bis zur Erde herabschleuderte. Um so heller aber 
leuchtete der Blitz, so dass er die ganze Erde er- 
leuchtete; und er heilte die Lander... und er nahm 
die ganze Erde in Besitz und herrschte über sie“ (vergl. 
Test. XII Lewi 18 und Le 17: 24), und Pesikta rabbati 36 
ist davon die Rede, wie der Messias vor der Schöpfung 
unter dem Throne Gottes lag und Satan dann Gott fragte, 
„was für ein Licht unter dem Throne Gottes sei“. In dieser 
Hinsicht scheint also die jüdische Messiasdarstellung Züge 
aus der weit verbreitelen Erlöser- oder Urmenschengestalt 
des Orients geliehen zu haben. Die Frage ist nun die, ob 
möglicherweise das Christusbild des Johannesevangeliums 
zum Teil geformt worden ist nach, oder wenigstens die 
Terminologie, die hier angewendet wird, entnommen ist 
aus diesen Vorstellungen.‘ Bousset hat unter anderen 
Gesichtspunkten versucht, einen solchen Einfluss glaub- 
würdig zu machen, und ich will wenigstens die Frage 
olfen lassen. Sicher scheint mir wenigstens zu sein, dass 
das Licht ein Eigenname oder Ausdruck für eine Art 
göltlichen Prinzips oder Hypostase ist, der in damaliger 
Zeit weit verbreitet war als Bezeichnung für die heils- 
bringende oder offenbarende Macht. 


"Vgl. Abelson, a. A. S. 74; vel. auch von Hügel, The Mystical Fle- 
ment of religion, IT S. 68 ff. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 179 


Aber schon dieses Resultat kann uns einen Einblick 
in das Rätsel des Johannesevangeliums gewähren, das die 
Ausserung von Wrede, die wir zu Anfang unserer Unter- 
suchung zitierten, zum Teil rechtfertigen würde. Denn trifft 
es zu, dass „das Licht“ ein Titel oder Eigenname war, der 
(allgemein?) sowohl der hellenistischen als der jüdischen 
Erlösergestalt zugeschrieben wurde, so zeigt sich also, dass 
der Ausdruck „Jesus als das Licht der Welt“ eine in erster 
Linie stark polemische Färbung hat. Was der Hellenist 
oder der Jude von seinem erwarteten Heiland (oder Gott) 
ausgesagt hat, das wird hier von Jesus ausgesagl, und 
zwar in exklusivem Sinne: er allein ist das Licht der Welt, 
bringt Licht. In diesem Lichte erhalten sicher viele der 
Aussagen des Evangeliums ihre rechte Beleuchtung — was 
näher zu erörtern jedoch ausserhalb des Rahmens der mir 
hier gestellten Aufgabe liegt. 

Ist dies richtig, so verstehen wir leicht, warum so 
markant betont wird, dass Johannes nicht „das Licht“ 
war, — dies hatten wohl seine Jünger von ihm gesagt.’ 


! Auch Ode Sal. 36:3 können wir diese Gedanken vom Licht als 
ligennamen spüren: 

Er (der Geist) hat mich erzeugt vor dem Angesicht des Herrn 

Und obwohl ich ein Mensch war, bin ich das Licht, der Sohn Gottes, 

genannt worden. 

Vgl. auch die Worte Midrasch Echa fol. 68 d: R. Bibi sagte: Der Name 
des Messias ist Licht, wie es Dan. 2:22 heisst: Das Licht wohnt bei ihnen 
(Wiinsche, Erl. z. d. Ev. S. 530). | 

Vielleicht gehören hierher die Worte Jh. 5: 35: ‘Jener (der Täufer: war 
der Leuchter ‘vgl. Apk. Jh. 22:16), der brennt und scheint nur voriiberze- 
hend (auf Zeitfrist), und ihr wolltet euch an seinem Licht ergötzen. Ich 
nehme also hier die Konjektur von Schwartz auf. (Beachte, dass die Stellung 
von apes pay nicht ganz gesichert zu sein scheint: vor oder nach dem 
ayashayivay. Dann passen die Worte sehr gut in den Zusammenhang. 
Jesus beruft sich auf Johannes nur um der Hörer willen, da sie ja seine 
Schüler sein wollten (35a). Die Verse sind dann deutlich ein Ausdruck der 
das ganze Evangelium durchziehenden. Polemik gegen den Täufer: er war 
nur das bald erlöschende Licht, das wahre Licht ist Jesus (vgl. 1: 8). 


180 Gillis P:son Wetter 


Wir verstehen dann auch, dass „die Lehre“ von Jesus als 
„dem Licht“ gerade in dem eigentümlichen stereotypen 
Sakralstil éyo «fur... (vergl. Norden) ausgedrückt wird, wie 
auch, dass der Gedanke zuweilen so scharf und streng 
hervorgehoben wird, und gleichfalls dass er zum Teil eine 
ganze Abteilung im Evangelium 7:1 — 10: 21 beherrscht 
(vergl. Heitmüller, S. N. T. S. 782). 


Indessen haben wir die Aufgabe unserer Untersuchung 
nicht durch dieses Resultat erfüllt, das ja gewissermassen 
doch nur die formelle Seite berührt. Es erübrigt uns noch 
der Versuch zu erforschen, was das Licht eigent- 
lich bedeutet, was zunächst mit der Phrase bezweckt 
wird. Diese Untersuchung ist nicht leicht, wie es immer 
mit formelhaften Phrasen der Fall ist. Zunächst haben 
wir, wenn der Beweis für den formelhaften Charakter als 
erbracht anzusehen ist, das Johannesevangelium selbst 
ausser Acht zu lassen und uns seiner religiösen Umwelt 
zuzuwenden, um zu erforschen, ob wir vielleicht dort einen 
durchgängigen Sinn des Wortes finden können. Ist dies 
möglich, dann ist ja die Erstarrung des Wortes als fest- 
geprägler Terminus uns leicht erklärlich, und wir können 
dann den Schlusssatz ziehen, dass die Phrase auch 
in unsern Evangelium dieselbe Bedeutung habe. Zwar 
muss diese Methode stets mit Vorsicht verwendet werden, 
und wir haben immer mit der Möglichkeit zu rechnen, 
dass wir es im Jhev. mit einer ihm eigenartigen Verwen- 


Es wäre dann hier ursprünglich eine Anspielung auf die herkömmliche Be- 
zeichnung gm; aber um den Täufer nicht das Licht zu nennen, führt der 
Verf. das 4,70; ein und, um dies noch schärfer zu betonen, das zoos mar. 
Der jetzige Text ist gut aus der Tendenz, das 4. Ev. mehr in Übereinstim: 
mung mit den Synoptikern zu bringen, erklürlich (vgl. ev. auch Rm. 2:19 
und die Verwendung des altestamentlichen Zitates Jes. 49:6 in Act. 13:47, 
Le. 2:32). 


„Ich bin das Licht der Welt‘ 181 


dung des Wortes zu tun haben, aber dann müssen dafür 
klare und unzweideutige Aussagen des Evangeliums reden, 
was ja schon der formelhafte Charakter unglaublich macht. 
Eben dieser verweist uns darauf, die Erklärung ausser- 
halb des Evangeliums, in seiner Umwelt zu suchen. 

Wir können dann zu allererst auf eine Tatsache auf- 
merksam machen, die schon ein erster Blick uns klar 
macht, nämlich die häufig vorkommende Verbindung 
zwischen yoac und yrwcıc in der Bedeutung dessen, 
was wir am besten durch „Offenbarung“ wiedergeben 
könnten, also das Licht als die offenbarende und 
daher auch, wie wir später sehen werden, nach helleni- 
slischer Vorstellungsweise heilbringende Kraft. Nach- 
dem der Fromme, so erzählt uns ein antiker Text, von 
dem Gott der Offenbarung die liefen und kostbaren Ge- 
heimnisse zu hören bekommen ‘hat, nimmt er von der 
Macht der Offenbarung init diesen Worten Abschied: 
yuiper, iog eyy, wage, zaor zei ieoor goc roù Öurlorov Deol 
(P. Par. Z. |= Grosser Pariser Zauberpap.] 1065 ff), und zu 
Anfang desselben Papyrus ruft er „den lebendigen Gott an, 
den Feuerlräger, den unsichtbaren Schöpfer des Lichtes — 
möge das Haus des allmächtigen Gottes mir in diesem und 
durch dieses Licht aufgetan werden, zai yercha pag, rA«drag, 
Buitos, uyzos, pog, avyn“. Diese letzten Worte sind ein 
terminus technicus, so zu sagen die Grundbegriffe der Er- 
kenntnis von dem innersten Wesen der Dinge, das mystische 
` Wissen repräsentlierend, das dem 'Wissenden’ (dem yrwotixos), 
dem Aufgeklärten (dem gwreGoueros) die Synthese von seiner 
yroor repräsentiert, durch welche er seine bevorzugle 
Stellung ‘seine Macht’ oder sein ‘Heil besitzt. So wird 
das Licht P. Par. Z. 983 (vgl. 978) beschworen: „Bleibe bei 
mir in dieser Stunde, bis ich... zu wissen bekomme, was 
ich will“ (uto megi wv Bothoucs; P. Lond. 121, 556, wo 


182 Gillis P:son Wetter 


der Beschworer betel, „das Licht möge sich diesem Kinde 
zeigen... und das Kind umarmen und es alle die Götter 
sehen lassen, die mit der Weissagungskunst zusammen- 
gehören“, und P. Par. Z. 539 ist davon die Rede, dass ,,der 
Mensch zum Lichte aufsteigen... und keinen Menschen 
und kein lebendes Wesen hören und nichts sehen soll von 
dem Sterblichen auf Erden in dieser Stunde, sondern alles 
Unsterbliche sehen soll... und dessen göttliche Lage, die 
Götter, welche umhergehen und zum Himmel aufsteigen.“ 
Insonderheit derartige Ausführungen wie diese letzte ent- 
hüllen uns die Bedeutung des Lichtes. Hier handelt es 
sich nicht um theoretisches Wissen oder Philosophie, son- 
dern um Gnosis in der Bedeutung von mystischer Kenntnis, 
von der Gottesoffenbarung der Exstase. Sehr typisch sind 
auch die Worte des Paulus 2 Kor. 4:6: „Denn Gott ist es, 
der gesagt hat: ’Aus der Finsternis soll Licht leuchten’, 
und er hal es in unsern Herzen Tag werden und die Er- 
kenntnis von der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz 
Christi aufleuchten lassen“ (meos gwrıouor THE YrWoswc iie 
Josie roù Beat èr Qoooro Agıorot). Die Beispiele liessen 
sich in grosser Anzahl vermehren, aber es sei mit dem hier 
Gesagten genug, um unsere These vom Lichte als dem 
erkenntnisoffenbarenden Prinzip zu beweisen. 

Dass diese Kombination zwischen Licht und Erkenntnis 
gleichwohl eine spätere Entwicklung ist, dürfte als un- 
zweifelhaft anzusehen sein. Wie schon mehrere von unseren 
Beispielen uns ahnen lassen, war ursprünglich eine völlig 
konkrete Vorstellung vorhanden, die zu Grunde lag, eine 
Frucht alter orientalischer (babvlonisch-persischer) Spekula- 
tionen über das Licht als die göttliche „Materie“, den 
„Stoff, aus welchem die himmlische Welt geschaffen 
worden ist. Aber es kam eine Zeit, und diese ist es, die 
wir in den hellenistischen Mysterien wiedergespiegelt sehen 


„Ich bin das Licht der Welt“ 183 


ebensowohl wie in den Texten, mit denen wir uns hier 
zunächst beschäftigt haben, wo es mit dieser äusseren 
Anschauungsweise vorbei war, wo die äusseren konkreten 
Tatsachen’ in ‘psychologische religiöse Wirklichkeiten 
umgesetzt, vergeistigt wurden. Doch müssen wir uns dabei 
stets vergegenwärtigen, dass wir es mit antiker Psychologie 
zu tun haben, und dass diese eine ganz andere ist als die 
unsrige; etwas rein Geistiges, Psychisches existierte nicht 
für den antiken Menschen, wenigstens nicht in den Schichten, 
zu denen unsere Texte und zwar das Jhev. ohne Zweifel 
gehören (den Mittelschichten). Wenn er an sich selbst die 
umgestaltende Macht der Religion erlebte, glaubte er eines 
neuen Stoffes teilhaftig geworden zu sein, eine neue reale, 
völlig greifbare Kraft erfüllte sein Inneres, in ihn war ein 
göttlicher Samen eingepflanzt. Auch dieses letzte Bild 
dürfte einmal völlig konkret-realistisch gedacht gewesen, 
aber in eine neue Tonart transponiert worden sein. Und 
unter den vielen Ausdrücken, zu denen der antike 
Mensch gegriffen hat, um seine religiösen Erlebnisse zunı 
Ausdruck zu bringen, lag ja auch das Licht nahe zur 
Hand, nachdem es einmal ein allgemeiner Ausdruck für 
die göttliche „Materie‘“ gewesen war. 

Aber dieses: „das Licht als die heilsbringende Kraft“ 
wird noch deutlicher, wenn wir das betrachten, was als 
das Werk desselben in der Welt angesehen wird. Seine 
Mission ist, wie der Prolog des 4:ten Ev. es so kurz aus- 
drückt: alle Menschen zu erleuchten, ywrfceı 
tavra &r$owror. Die neue Bedeutung, die das Verbum 
hier erhalten hat, ist für die hellenistische Religions- 
mischung typisch. Im klassischen, ja auch in allem 
profanen Griechisch bedeutet es erleuchten, beleuchten 
(trans.) oder leuchten (intr.), aber hier baben wir statt 
dessen die Bedeutung: zu Licht, zu yac machen, mit Licht 


184 Gillis P:son Wetter 


ausriisten. Diese Verbalform ist mil mehreren anderen 
analog, auf die wir gleichfalls innerhalb hellenistischer 
Frömmigkeit hinweisen können: xapfseoya == mit yaoıc, 
mit Gnade, Kraft ausrüsten; doS«@sen: mit dose ausrüsten, 
ja wir treffen Formen der Art wie zrevuarfser, o0S8ır 
u. s. w. in dieser Bedeulung, welche alle eine äussere, 
reale Veränderung des Menschen besagen (vergl. z. B. 
cC. H. XH: 19 u. a.). 

Einige Worte des Irenäus, die vielleicht sogar in 
Anlehnung an die Worte des Jh.-Prologs geschrieben sind, 
lassen uns die antike Denkweise deutlich fühlen: ,,... Verbum 
‘aro’ factum est... ut in carne Domini nostri occurrat 
paterna lux, et a carne ejus rulila veniat in nos, et sic 
homo deveniat in incorruptelam, circumdatus paterno 
lumine (Ir. IV. 20.2; vgl. auch IV. 20.5: worreg of BAfntorıes 
TO Ys, ervog sot 100 guros xà TiS Jaumgaıyros «vro? 
ueı£jovom otra ot BlEtorres ror Hór, èrróg elot Tod teot, 
wer&yorisc «čio tis Zaurgoryios. Das Lichtwerden ist 
also hier deutlich das Unvergänglichwerden, das Gott- 
werden. 

Diese Bedeutung von gyoriceır zeigt sich besonders 
deutlich an einer Stelle wie Asklepios 23 (Pseudoapuleius‘, 
wo von dem Adeplen gesagt wird: ef non solum illu- 
minalur verun eliam illuminat, nec solum ad deum proficil 
verum etiam conformal deos, wo wir also den Sinn von 
Vergollung deutlich sehen. Es ist dann nichts Über- 
raschendes, in Apuleius und später in der christlichen Lite- 
raturdas Wort ganz in technischer Bedeutung wiederzufinden 
(vgl. Metam. XI 29, 27, 28, wo gorfeodyaı augenscheinlich 
technisch für das Eingeweihtwerden steht, so auch schon 
Justin, Apol. 161: x«zeircen 0% toŭðro ro hovroor Yywrıayos 


! Vgl. für diese Auffassung des Irenäius vom Heil meine Untersuchung 
Charis 160 fi., bes. 166, u. a, 


wich bin das Licht der Welt“ 185 


os yarıcoukerer ir Orava tor reie urdarorıor. zei 
» >» >) 7 i ta > ~ - ~ c nr r 

èn orouarog Oè Iyooŭ Agıcrod... o gorızousvos Lovett). 
Es bedeutet also die Veränderung, die mit dem Neuein- 
geweihten geschehen ist, die wie wir manchmal kon- 
statieren können in sehr realer, konkreter Weise gedacht 
wurde: als eine Veränderung seines Wesens, als seine 
Vergöttlichung, seine Entrückung aus der Heimarmene 


S wW. 


In diesem Zusammenhang müssen die Worte in Jh. 
12:36: „Glaubet an das Licht, auf dass ihr des Lichtes 
Kinder werdet“, gesehen werden, und damit können wir die 
Worte im Prolog vergleichen: „So viele aber ihn auf- 
genommen haben, denen hat er Macht (@Sovof«) verliehen, 
Gottes Kinder zu werden (rT£xr« Jod), den an seinen Namen 
gläubigen, die nicht durch Blut und nicht durch Fleisches- 
willen und nicht durch Manneswillen, sondern durch 
Gott erzeugt sind.“ So ist es denn das Werk des Lichts, 
die Menschen zu Licht zu machen. 


So hören wir Jeü 258, 30 von Jesus: „O Licht das in 


dem Lichte, das unsere Herzen ’erleuchtet’, bis wir das 


Licht des Lebens empfingen“ u. s. w.' So hören wir 


an vielen Stellen, dass der Erlöste die Finsternis abgeworfen 
und Licht angezogen hat (Ode Sal. 21:2). „Wir leben 


' Vel. z. B. auch Act. Thoma 7: zò» azuroy zat zo “iama sty Tür 
srtov EYOVTES, WA, Oth zo) Yeanaros auto) wuy . . . ÖOZUL0U TOY 
zarina tiv Gw». 0b Tb Kür Th yalnor sdisavt0, zal Erwriaimoar & rn Ed 
70) zazoo ara». Dass das Schauen Gottes, des Lichtes zum Licht macht, 
ist eine sehr gewöhnliche Vorstellung; vgl. noch Corp. Herm. X 6 ovre yap 
KILO U dianat vo7aat Ó 7070 voroas, OUTS dio Te Nsdaaoat. .. mapanga” 
OF rer Tov 0y zat Thy GAY foyi dvabanzeı zat Awsirst ATO TO) OWNATOS 
AME OLOY QNTO Sty oma, NEO) PETAIAAAZ. Önzarız YUP oo THY PJY ARONS, 
‚ar... Ysaaapseys To 70% ayatos zilos und Corp. Herm, IV 11 4440, oè 
aT% GF 7, sizis OORO Syst yap Te tos % Hia. TOMS gildoustes Yzuaaadat 
ANTES zat AVELATL, AAU gaa i NaJ TS Aos Tay adrpor, — Vgl. jetzt 
auch Bousset, Kyrios Christos S. 197 fi, 419 ff. 


186 Gilles P:son Wetter 


in dem Herrn durch seine Gnade, Leben empfangen wir 
in seinem Gesalbten, Denn ein grosser Tag hat uns Licht 
gebracht, Und unser Antlitz strahlte durch sein Licht“ (Ode 
Sal. 41 :3—6)! Wohl sind oft die Züge so konkret, die 
Farben so grell, dass wir uns versucht fühlen, keine andere 
Deutung als die rein realistische anzuerkennen. Aber wir 
müssen uns dann gegenwärtig halten, dass diese realistische 
Auslegung überall möglich ist, auch wo wir — wie viel- 
leicht in mehreren gnostischen Schriften u. s. w. — nicht 
dazu so stark geneigt wären. Für den antiken Menschen 
hängen diese beiden Seiten allzu nahe zusammen, als dass 
die eine die andere ganz ausschliessen kénnte. Wir müssen 
uns hüten, hier moderne Kalegorien einzulegen. Für den 
Hellenisten — wenigstens dieser Mittelschichten, in die 
gewiss auch das Jhev gehört (wer es als philosophische 
Schrift verstehen will, verschliesst sich m. E. sein Ver- 
standnis) -—- existierte tatsächlich nichts rein Inneres, 
rein Geistiges. Die religiösen Kräfte, die er seine Seele 
erfüllen fühlte, dachte er sich stets auch als in gewissem 
Sinne äussere, „stoffliche“, wenn auch von einer feineren, 
mehr unsichtbaren Materie. 

Diese Auslegung von „Licht“ und „Erleuchtung“ wird 
des weiteren bestärkt, wenn wir eine neue, aber den 
vorhergehenden parallele Wendung vom Lichte ins Auge 
fassen, nämlich: das Licht haben. „Wer mir nach- 
folget, der wird nicht in Finsternis wandeln, sondern wird 


! Vgl. auch Rabba zu Num. 2:5, wo die Worte: Der Herr lasse sein 
Gesicht über dich leuchten, ausgelegt werden: der Herr gehe in dich von 
dem Lichte des Schekhina (Abelson, a. A. S. 57). 


? Daher hören wir so oft Ausdrücke wie “mein Licht“, u. s. w.. also 
das Licht, das der Mensch als ein sein Eigentum besitzt, z. B. Pistis Sophia 
60, 2: Die welche “mein Licht“ von mir zu nehmen wünschen, mögen kraft- 
los werden, und bekleidet mögen werden mit Chaos und Finsternis. die da 
sprechen: Wir wollen “ihr Licht“ und ihre Kraft nehmen. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 187 


das Licht des Lebens haben,“ möglicherweise auch 11 : 10: 
„Wer aber des nachts wandelt, der stösst sich, denn es 
ist kein Licht — in ihm,“ wenn diese Worte nicht als 
reines Gleichnis zu deuten sind. Damit hängt der Ausdruck: 
das „Kleid“ des Lichtes zusammen; Act. Phil. 75, 13 heisst 
es, dass „die Christen die himmlische Herrlichkeit und Selig- 
keit des Liichtes haben,“ Act. Tho. 153, 9: „Gott hält uns 
Licht in Bereitschaft.“ ! 


Es ist uns also möglich gewesen festzustellen, dass 
das Licht eine bestimmte Veränderung beim Menschen 
herbeiführt, ihm so zu sagen einen neuen Stoff einflösst, der 
ihn zu einem neuen Menschen macht: er wird Licht oder 
hat Licht. Dieser ganze Gedankengang stimmt völlig mit 
der Art und Weise des antiken Menschen, die Religion zu 
betrachten, überein: in ihr und durch sie will er eine 
„übernatürliche“ Ausrüstung erhalten, neue „Kräfte“ und 
Hülfsmittel in seinem Kampf mit den bösen Mächten. 

Indessen ist es uns nicht nötig, bei dieser allgemeinen 
Seite der hellenistischen Religiosität länger zu verweilen. 
Wir werden statt dessen durch eine neue Untersuchung 
des weiteren feststellen, dass das Licht tatsächlich dieses 
Neue bedeutet, was der Mensch in der Religion zu erwerben 
sucht, seine geistige Ausrüstung ` (ich möchte es eine 
„subjektive“ Bedeutung nennen), gerade wie es mit roc, 
zmreüne, yaos, Soy und anderen derartigen hellenistischen 
Begriffen der Fall ist. Keine Phrase ist in hellenistischer 
Frömmigkeit gewöhnlicher als ro ı7c yracsas pag = das 
Licht der Gnosis, der Erkenntnis, sagt mit Recht 
einer der besten Kenner dieser religiösen Strömungen, 


! Vgl. Kore Kosmou (Stobai Ant., ed. Wachsmuth) Aie yan zurszun- 
Inn zat zu Werzw Wir oùz asrang yapin, art punts To) gaTig Fike 


TH opis obz EDO], ROpOt Tons zat ONZETE zimny OAL 


188 Gillis P:son Wetter 


Richard Reitzenstein. C. H. VIE: 2: „Sucht Euch einen 
Wegweiser, der Euch zu den Türen der Erkenntnis 
(Tas the yrwoswms Vtoas) führen kann, wo das helle Licht 
(To Acustgor gos) ist... wo keiner trunken ist, sondern alle 
nüchtern sind“ — auch aus dem N. T. wohlbekannte 
Ausdrücke — u.s.w. Wir hören, C. H. X: 21, dass „Nous 
in die fromme Seele herabsteigt und sie zum Lichte der 
Erkenntnis führt.“ Die Neugeburt Crahiyyernoia) wird C. H. 
XII: 9 folgendermassen geschildert: „Wir sind gerechtfertigt 
worden, die ungerechte Gesinnung ist ihres Weges gegangen 
... Die Leidenschaft ist geflohen, die Wahrheit ist an ihre 
Stelle getreten... Der Neid ist entflohen, und der Wahrheit 
hat sich das Gute mit Leben und Licht beigesellt‘“; 
und deutlich hören wir dieselben Laute aus der durwdr« 
zovatın (C. H. XII, 18 u. 19). So finden wir auch Sal. Ode 
12: 3 Erkenntnis’ und ‘Licht’ synonym angewendet: Er hat 
in mir seine Erkenntnis gemehrt, Denn der Mund des 
Herrn ist das wahre Wort und das Tor seines Lichtes. 
Aber nicht nur mit der "Erkenntnis (yrworc) steht das 
Licht synonym, sondern auch mit einer ganzen Reihe 
anderer religiöser, typisch hellenistischer Begriffe. Wir 
hören z. B. Pistis Sophia (79, 30) vom ‘Geist des Lichts‘, 
und an mannigfachen Stellen wird hier Licht und Geist 
synonym gebraucht (z. B. Pistis Sophia 55, 34; 57, 32: 
Eph. 5: 9 schwanken die Handschriften zwischen gwe und 
ztreöue; vgl. auch S. 8 Anm.1),' das Licht wird der Weisheit 
gleichgestellt (so schon im A. T., Sap. Sal. 7: 26 u. a)? 


! So ist auch im Judentum der Fall; der heilige Geist wird das Licht 
der Lichter genannt (Oesterley and Box S. 212), und wie oft der Geist und 
die Schekhina als Licht eben unter den Rabbinen gedacht wird, kann schon 
ein oberfliichliches Studium der rabbinischen Literatur uns lehren; vgl. Abel- 
son, a. A. S. 82 ff, S. 216 Ñ. u. a. 

? Dass diese Gedanken schon in Sap. Sal. zum Ausdruck gekommen 
sind und dass hier die ‘Weisheit’ die Rolle der 7:@erz gespielt hat, ist mehr- 


„Ich bin das Licht der Welt“ 189 


der Wahrheit (z. B. Ode Sal. 38: 1, Ign. Philad. 2: 1), dem 
Leben (vgl. S. 7 Anm. 2 und S. 33 Anm. 1); so wird ja auch 
das Eintreffen des Geistes bei dem Menschen als eine Feuerer- 
scheinung geschildert (vergl. die erste Pfingstgemeinde Act. 1 
und die Erzählung von Jesu Taufe im Ebioniterevangelium),. 
und dasselbe begegnet uns in rabbinischen Erzählungen. 
Aber auch als Bezeichnung für Nous und noch 6fter für 
Logos, bisweilen auch für Leben, und im allgemeinen 
für Kraft treffen wir immer wieder das Licht.’ Und alle 
diese Worte verweisen uns auf ein ganz bestimmtes Gebiet 
des menschlichen Wesens, das für alle antike Psychologie 
besonders charakteristisch ist (vgl. z. B. Philo de op. mundi 
30 und 55, Ogor ?Aozlhynioù 8, vgl. auch den Lichtzauber 
Kenyon, Greek Pap. Cat. p. 65, Reitzenstein, Poimandres, 
S. 280 f, u. a.) Alle diese Termini bezeichnen, aller- 
dings vielleicht unter etwas verschiedenen Gesichtspunkten, 
das neue Leben im Menschen, sind ein Ausdruck für das 
Neue, das durch seine Religion in seinen Besitz gelangt ist. 
Das ist nicht so zu verstehen, dass er dies als etwas 
Psvchologisches auffasste, nein, für ihn war auch die Religion 
etwas rein äusserlich Greifbares, sie war eine Kraft oder 
Macht, die in ihn eingepflanzt war, und die ein Teil des 
himmlischen Stoffes war, eingegossen in den menschlichen, 
irdischen Körper. Mit allen diesen Gedanken werden wir 
auf ein Gebiet eingeführt, wo die lebendigsten, charak- 
teristischsten Züge des damaligen Frömmigkeitslebens vor 
uns auftauchen. „Gott zu kennen und den er gesandt“ 


mals beobachtet worden, wenn auch nie ausdrücklich betont; vgl. z. B. Abel- 
son, a. A. S. 56 fi. 

1 Vgl. z. B. die sehr alte christliche (vielleicht schon aus der Zeit 
des Irenius stammende) Grabinschrift zu Autun, wo vom Abendmahl ge- 
sagt wird: ©) e500: ným p, a: Aerizonz, Eu To #avústen (Dilger, Ichthys 1910 
S. 13%. Dies ist sehr charakteristisch: das Abendmalıl wird reichtumverlei- 
hendes Licht genannt. 


190 Gillis P:son Wetter 


ist ja auch für den Verf. des Jhev. „das ewige Leben“, 
das grosse Ziel, zu welchem alle wahren Jünger Jesu 
gelangen müssen. In diesem Worte — wenn auch der 
term. techn. bemerkenswert genug fehlt — liegt die re- 
ligiöse Anschauung, die das 4. Ev. repräsentiert, so zu 
sagen eingeschlossen. Und ebenso wie dieses Wort in dem 
vielseitigen Religionssystemen des Synkretismus nicht nur 
der Inbegriff des mystischen, lebendigen Elementes der 
Religion war, sondern auch die Kenntnis von heiligen 
Formeln und Namen, von uralter Tradition und kos- 
mologischen Spekulationen umfasste, so scheint dies auch 
gewissermassen im Johev. der Fall zu sein (ebenso wie mil 
dem mil yıyıwozer" parallelen Ausdruck more). Ich 
kann hier nur in allergrösster Kürze dieses bisher so wenig 
beachtete Verhältnis andeuten; aber gerade dies ist es wohl, 
was einen solchen Forscher wie Wrede dazu gebracht hat, 
das Urteil zu fällen, das ich am Eingang dieser Studie 
zitierte. 

So ist nun das Licht im Johannesevangelium ein Aus- 
druck für das Heil, die Religion im Menschen: das Licht will 
alle Menschen ’erleuchten‘, „die dem Lichte folgen, werden 
das Licht des Lebens haben“, “die an das Licht glauben, 
werden Kinder des Lichtes werden“.! Dies sind dieselben 
Gedanken, die die hellenistische Frömmigkeit in unzähligen 
Variationen zum Ausdruck gebracht hat: das Licht will 
die Menschen zu Licht machen. Alles dies zielt hier im 
Jhev. auf die religiösen Kräfte im Menschen ab: das Licht 
will sie in ihn einpflanzen und wecken. Aber wie wir 
bereits oben gesagt haben, bedeutet dieses auch eine voll- 


"Vel. zu diesem Ausdruck, der weit verbreitet zu sein scheint, Eph. 
5:8 (1 Thess. 5:5), Le. 16:8, und besonders Aussagen wie Ir. I. 6. 1, auch 
IV. 38. 4, [IEL 19. 1 (wor 9205), Justin Dial. 124; vel. auch z. B. Philo 
de conf. ling. 142 f., 2 Pt. 1:4 u. a. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 191 


ständige Veränderung des Menschen, seine ‘Vergottung’, 
'Gottwerden‘. Wer vom Göttlichen berührt, erfüllt wird, wird 
selbst zu Gott, er wird über den Alltagsmenschen erhoben, 
erhöht über die irdische Materie, ist nicht länger der 
Sklave des Schicksals, der Heimarmene, sondern ist frei 
geworden. Und eben diese Veränderung des Menschen 
bringt das Licht zum Ausdruck; denn Licht ist, nach alten 
orientalischen Spekulationen, der göttliche Stoff, und mit 
dem Lichtwerden ist daher die Vergottung gemeint. Diese 
beiden Gedanken — der mehr religiöse und der mehr 
physisch-naturgemässe — sind für hellenistische Frömmig- 
keit eins; sie hängen unzertrennbar zusammen, wenn 
auch mitunter der eine, mitunter der andere mehr in den 
Vordergrund tritt. Es ist eben etwas für diese Zeit charak- 
leristisches, dass sie gewissermassen alle diese orientalischen, 
ursprünglich rein sinnlichen Vorstellungen aufgenommen 
und vergeistigt hat, und zwar in der Art, dass wir ofl 
nicht sagen können, ob der grob-sinnliche oder der mehr 
spiritualisierte Sinn der vorherrschende ist. Das ist mit 
einer Reihe von Vorstellungen der Fall, z. B. nas4ıyyer note, 
tredur, oča, or£gue u. s. Ww., um nur einige wenige zu 
nennen. Zu ihnen gehört auch das Licht. Dass Jesus das 
Licht der Welt ist, bedeutet also, dass er die Menschen’ 
„erleuchtet“, der Erlöser ist, der welcher die an ihm 
glauben von Tod und Verdammnis in das ewige Leben 
hinüber errettet. — 


Mit dem oben Ausgeführten ist nicht gesagt, dass diese 
Verwendung des Lichtes im jüdischen Denken fehlen sollte. 
Freilich findet sie sich nicht in den Gedanken, die nach 
dem Schema Sünde-Vergeltung, Gesetz u. s. w. gehen, also 
in dem, was man gewöhnlich als das Typische für das mit 
dem Christentum gleichzeitige Judentum ansieht. Was 


192 Gillis P:son Wetter 


das Licht dort bedeutet, haben wir schon am Anfang 
unsrer Untersuchung festgestellt. Gehen wir aber zu den 
mehr rein religiösen Gedankenfolgen über, so können wir 
ja auf eine nicht geringe Anzahl von Beispielen aufmerk- 
sam machen, wo auch in rabbinischen Kreisen das Licht 
in ähnlicher Weise wie im Hellenismus angewendet wird. 
Es handelt sich dann nicht mehr wie im klassischen 
Judentum um das ’Erleuchten’ des Gesetzes, sondern um 
Schekhina, Memra, die Weisheit, den Geist u. dgl. damit 
kongruente Begriffe, die als „Licht“ bezeichnet werden. 
Und wenn man einen Blick auf die wahrscheinlichen 
Wurzeln der Vorstellung vom „Lichi“ wirft, muss man es 
als besonders naheliggend ansehen, dass gerade eine solche 
Vorstellung wie Schekhina in guter Weise für uns die 
Entwicklung illustriert, die „das Licht“ durchgemacht hat. 
Aus diesem Begriff leuchtet noch oft die ursprüngliche, 
konkrete Bedeutung hervor; wir hören, wie ein Moses 
den Glanz derselben nicht ertragen konnte, oder wie sie 
zerstörend auf das Menschliche einwirkt. Da es uns aber 
in spälerer rabbinischer Literatur an mannigfachen Stellen 
möglich ist, einen Wechsel, ja Synonymität aller dieser 
oben angeführten Begriffe: Schekhina, Geist u. s. w. zu 
konstatieren, . und wir finden können, dass sie Ausdrücke 
für die mystischen Erfahrungen der frommen Juden, For- 
meln der von ihnen erlebten Religion sind, dann sind diese 
Ausdrücke freilich ‘hellenisiert’, und ihre Bedeutung ist, wie 
es so oft mit religiösen Vorstellungen der Fall ist, mehr 
und mehr vergeistigl worden. Damit ist doch nicht, wie 
schon häufig betont, gesagt, dass sie unter antikem Gesichts- 
punkt gesehen psychologisiert sind. Sie bezeichnen nach 
wie vor etwas wenigstens für den antiken Menschen 
konkretes Reales, dieses Neue, das seit seiner religiösen 


Erneuerung in ihn hineingelegt worden ist, den göttlichen 


wich bin das Licht der Welt‘ 193 


Stoff, den er an sich selbst konstatieren zu können meinte 
und der für ihn das Wesentliche der Religion war. Aber 
der Grund, weshalb er dabei zum „Licht“ als Ausdruck 
dafür gegriffen hat, schimmert gerade hier in der spat- 
jüdischen Vorstellungswelt so deutlich durch: es ist die 
uralte Vorstellung von Gott als Licht, von Schekhina und 
Kabod, die noch in diesen sei es auch elwas veränderten 
Formen fortlebt, von dem Göltlichen als Licht und daher 
die Verbindung des Menschen mit demselben als eine 
„Erleuchtung“, ein „mit-Licht-begabtwerden“. 

Etwas kommt im Judentum relativ wenig zum Vor- 
schein, nämlich eine nähere, mehr intime Verbindung 
zwischen dem Licht und der Erkenntnis. Wohl hat 
Sap. Sal. in der Weisheit analoge Vorstellungen, aber 
von diesem Begriff kann nicht gesagt werden, dass er in 
jüdischen Kreisen mehr allgemein ist. Und typisch genug 
fehlt diese Verbindung auch im Johannesevangelium, wir 
haben wenigstens keine direkte Beziehung darauf. Dies 
kann nicht ganz ohne Bedeutung sein, zumal wenn man 
beachtet, wie allgemein sie in hellenisticher Religiosität 
ist. Hierin liegt ein gewisser Unterschied zwischen Juden- 
tum und Christentum einerseits und den Mysterienre- 
ligionen andererseits. 

Diese redeten gern von Erkenntnis, ja im Gnostizismus 
ist die Gnosis zumal in unsrer Zeit zum charaklerisieren- 
den Terminus für diese ganze Richtung gewählt worden. 
Im „katholischen“ Christentum sträubte man sich doch 
lange Zeit dagegen, die Erkenntnis als den springenden 
Punkt aufzunehmen. Denn seine Betrachtungsweise war 
doch anderer Art. Man lenkte den Blick nicht auf den 
Menschen sondern auf Gott; Gott ist es, der mit dem 
Menschen handelt, ihn mit den göttlichen Kräften füllt, ihn 
zu einem unvergänglichen Wesen macht (man beachte, wie 


13. a. — Beiträge zur Rel. Wiss. I, 2. 


194 . Gillis P:son Wetter 


ganz die Kirche von der Terminologie der hellenistischen 
Frömmigkeit beherrscht ist, auch wenn in der oben ange- 
deuteten Weise eine gewisse Differenz festzustellen ist).’ 

Die Christen behielten stets die Souveränität des objek- 
liven, äusseren, historischen Gesichtspunktes über den des 
subjektiven bei. Für sie ist es doch immer in letzter 
Linie ein Handeln Gottes mit dem Menschen — damit 
natürlich nicht ausgeschlossen, dass der Mensch in diesem 
und durch dieses Handeln verändert, verwandelt wird. — 
Die Hellenisten wiederum richten sich hauptsächlich auf 
die subjektive Seite: dass der Mensch neue Kräfte, neue 
Stärke, Hilfsmittel im Kampf gegen das Böse erhält; und 
dies ist es, was sich so oft in der Verbindung zwischen 
gac und yrworc einen Ausdruck sucht. Es braucht wohl 
kaum gesagt zu werden, dass diese beiden Gesichtspunkte 
sich gegenseitig nicht ganz ausschliessen, dass sie oft 
ineinander greifen und ineinander hinübergleiten, und 
doch repräsentieren sie entschieden verschiedene religiöse 
Typen. — 


Der vorstehenden Beweiskette will ich nun zum Schluss 
nur noch ein Glied hinzufügen, aus den Schlussworten 
des Gespräches Jesu mit Nikodemus entnommen. Es 
geschieht eigentlich, um schon von Anfang an die „jüdische“ 
Auslegung abzuweisen, die sich vor allem in derartigen 
Worten geltend zu machen pflegt. Jesus betont hier, dass 
er nicht gekommen ist, die Welt zu richten: „Wer an ihn 
glaubt, wird nicht gerichtet. Wer nicht glaubt, ist schon 
gerichtet, weil er nicht an den Namen des eingeborenen 
Sohnes Gottes glaubte. Und dies ist das Gericht, dass das 
Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten 
die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Werke waren 


1 Vel. das über ysm ausgeführte Charis S. 165 ff., bes, S. 167. 


„Ich bin das Licht der Welt“ 195 


böse. Wer Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht 
‘zum Licht, damit seine Werke nicht offenkundig werden. 
Wer die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit 
offenbar werde, dass seine Werke in Gott getan sind.“ 
Mit diesen Worten wird hier ein intimes Verhältnis 
zwischen dem „Licht“ und den „Werken“ angedeutet. 
Aber doch ist das Verhältnis nicht das, wie wenn das 
Gesetz z. B. im klassischen Judentum dargestellt wird als 
die Menschen erleuchtend und dadurch sie vor die Wahl 
stellend, den Geboten der Thora zu gehorchen oder nicht 
zu gehorchen. In diesem Sinne ist das Licht hier nicht 
genommen. Nicht einmal Jh. 7: 7 ist dies richtig, wo wir 
doch nach dem Wortlaut zu urteilen viel grössere Ursache 
dazu hätten. Jesus sagt dort: „Die Welt kann euch nicht 
hassen, mich aber hasst sie, weil ich über sie Zeugnis 
ablege, dass ihre Werke böse sind.“ Aber auch hier ist 
Jesus als das religiöse Prinzip genommen, von welchem 
freilich die Unmoralischen sogleich abgestossen werden, 
und das sie hassen. „So euch die Welt hasst, so wisst, 
dass sie mich vor euch gehasst hat. Wenn ihr aus der 
Welt waret, würde die Welt das ihrige lieben; weil ihr 
aber nicht aus der Welt seid, sondern ich euch erlesen 
habe aus der Welt, deshalb hasst euch die Welt“ (Jh. 
15: 18 ff). Auch Jh. 3: 17 ff. begegnen wir dem Gedanken, 
dass die bösen Menschen nicht zum Jesus als zum Licht 
als dem heilsbringenden Prinzip kommen wollen, als der 
„erleuchtenden“ Macht in dem Sinne, den es uns vorstehend 
gelungen ist zu konstatieren. Wir hören dann hier den 
Gedanken ausgesprochen, dass Religion und Moral aufs in- 
timste zusammengehören, dass der Unmoralische auch 
stets irreligiös ist, dass der Moralische (wie es hier ausge- 
drückt ist: „wer die Wahrheit tut“, liegt es schon im 
Ausdruck selbst) auch religiös ist, mit Notwendigkeit zu 


196 Gillis P-son Wetter 


den Kräften der Religion gezogen wird (vgl. Eph. 5: 13). 
So hören wir hier die typischen Prädestinationsgedanken, 
die so charakteristisch für alle mystische Frömmigkeit 
sind, und die einen der vorherrschenden Züge der johan- 
neischen Religiosität repräsentieren (vgl. Ir. V. 28.1). 

In dieser Hinsicht aber steht das vierte Evangelium 
gar nicht allein da. Wie wir da hören, dass nur der Gute 
zum Lichte kommt, so hören wir in der hermetischen 
Literatur, dass das Licht, dass Nous nur zu den Guten 
geht I: 22: „Ich Nous bin nahe den Heiligen und Guten 
und Reinen und Barmherzigen, denen die gottesfürchtig 
leben. Und meine Anwesenheit wird ihnen zu einer Hülfe, 
und sogleich „erkennen“ sie (yraefsovor) alles... Aber von 
den Unvernünftigen und Bösen und Schlechten bin ich 
fern und gebe Raum dem furchtharen Damon, der sie dann 
aufs schrecklichste quälen wird.“* C. H. I: 28 werden die 
Menschen darum getadelt, weil „sie sich selbst dem Tode 
übergeben haben, da sie doch Macht hatten, Unsterblichkeit 
zu erlangen, so bekehret euch (ueraæarojoær:), ihr die ihr 
wandelt mit der Verirrung, und die ihr mit der Unwissen- 
heit (&yros@) umgeht, emahdayyre Tod oxotenrot gourds, 
ustahaßers to artaraolac, zarahelvarres tyr gIogar.“ 

In diesem Falle hat auch rabbinische Spekulation vom 
Gesetz als Licht entsprechende Gedanken aufzuweisen. 
Midrasch Bereschith rabba c. 3 sagt R. Simon: „Fünfmal 
heisst es hier (Gen. 1 ff.) Licht, entsprechend den fünf 
Büchern der Thora. Und es sprach Gott ‘es werde Licht’, 
dies entspricht dem ersten Buch, denn mit diesem beschäf- 


1 Diese Gedanken kommen auch anderswo im Jhev. zum Vorschein. 
Ich erinnere z. B. an 7: 16: „Wenn jemand seinen Willen tun will, wird er 
erkennen, ob die Lehre aus Gott ist, oder ob ich von mir aus rede.“ — Diese 
Vorstellung von dem engen Zusammenhang zwischen Religion und Moral wird 
im späteren Judentum oft scharf betont, vgl. z. B. Lev. Rabba 30. 2, Tanna 
Debe Eliahu 2, Sap. Sal.1: 4, 5; vgl. auch Abelson, a. A. S. 98 ff., 159 u. a. 


* Ich hin das Licht der Welt“ 197 


tigte sich der Heilige, als er seine Welt schuf. ‘Und es 
ward Licht’, dies entspricht dem zweiten Buch, denn durch 
dieses zog Israel von der Finsternis zum Licht. ‘Und es 
sahe Gott, dass das Licht gut war’, dies entspricht dem 
dritten Buch, denn es ist voll grosser Halachoth. ‘Und es 
schied Gott zwischen dem Licht und der Finsternis’, dies 
entspricht dem vierten Buch, denn es macht eine Scheidung 
zwischen denen, die aus Ägypten ausgezogen sind, und 
denen, die in das Land Kanaan einziehen. ‘Und es nannte 
Gott das Licht Tag’, dies entspricht dem fünften Buch, 
denn es ist voll von grossen Halachoth.“ Das Gesetz ist 
also hier als das heilsbringende Prinzip dargestellt, aber 
dessenungeachtet ist es gleichzeitig die Wasserscheide, die 
den Menschenstrom in zwei Teile teilt: es macht einen 
Unterschied zwischen denen, die in das Land Kanaan 
einziehen, und denen, die aus Ägypten ausgezogen sind. 
Dass es voll grosser Halachoth ist, bedeutet nicht, dass es 
grosse Anforderungen an den Menschen stellt, sondern ist 
statt dessen ein Teil des Evangeliums der Thora: denn so 
können die Menschen ein um so viel herrlicheres Los 
erwerben. | 


Die Vorstellung vom Licht pflegt vielleicht mehr als 
andere zu den ,,mystischen“ Seiten des Johannesevangeliums 
gezählt zu werden. Wir haben gesehen, dass dies eine 
Wahrheit mit Modifikation ist. Wir haben finden können, 
dass „das Licht der Welt“ ein fertiggeprägt aufgenom- 
mener terminus technicus ist, der nach der Meinung des Verf. 
mit Recht nur Jesus zukommt. Hierin liegt also Polemik 
und demnach auch „Dogmatik“. Aber dies hindert nicht, 
dass durch diese Formeln eine starke und innige Religiosi- 
tät zum Ausdruck zu kommen sucht, auch wenn sie sich 
schon fertiggepragter Formeln bedient. Dass dies auch 


198 ` Gillis P:son Wetter 


der Fall ist, denke ich der letzte zu sein, der es leugnen 
wollte, aber die Tendenz, die sich in der letzten Zeit gel- 
tend gemacht hat — ich brauche nur die Namen Kreyen- 
bühl, Loisy, Heitmüller, Weinel zu nennen — das Haupt- 
gewicht ausschliesslich auf die ‘mystischen’ Seiten des 
Evangeliums zu legen, es als ein grosses ‘Transparent’ zu 
erklären, ist für das richtige Verständnis desselben gefähr- 
lich. Hier gibt es doch Stücke, die die nüchternste Dog- 
matik atmen, Stücke, die noch ihrer Erklärung harren, 
deren Rätsel aber keine Mystik’ oder Symbolik der Welt 
uns lösen kann. — 

Dass indessen grosse Differenzen zwischen dem Jo- 
hannesevangelium und der hellenistischen Frömmigkeit 
vorhanden sind, lässt sich nicht leugnen, wenn auch 
die beiden Gedankenwelten sich oft in gleichen Bahnen 
bewegen. Ein grosser Unterschied liegt schon darin, dass 
das Jhev alle Versuche zu einer quasi-wissenschaftlichen, 
quasi-philosophischen Erklärung der Art, wie sie sich wohl 
die hellenistischen Religionssysteme fast ohne Ausnahme 
geleistet zu haben scheinen, über Bord geworfen hat, um 
sich ganz von der Religion her zu orientieren. So sind 
Licht und Leben für Jh nahe verbunden." Der Hellenist 


' Bousset weist in seinem Kyrios Christos (X. 211 f.) darauf hin, dass 
so, und eos sich als Begriftspaar auch in den Hermetischen Schriften wieder- 
finden lassen und die Darstellung hier beherrschen. Die Ähnlichkeit ist doch 
oft mit grossem Vorsicht zu nehmen, da die Zusammenstellung nicht selten 
gar nichts mit der im Jhev. zu tun hat. Wird doch fast immer wy dort 
mit xerzars gleichgesetzt, eos dagegen mit soss (vgl. XI: 16, Xf: 17, XIV: 10, 
IX:6, XII:21 und bes. I: 17: 6 92 dulnamos zè guy» zat vody, èx nès Swis 
zis Qingyy, èz DE ewros sts vos; m. B. entspricht hier fw, wenn wir die mehr 
bekannten Termini benützen, am nächsten 4,77 in der trichotomischen Psv- 
chologie, obgleich doch der Unterschied vorliegt. dass {wý etwas göttliches 
ist. Die Ähnlichkeit mit Jh scheint also ziemlich oberflächlich zu sein, we- 
nigstens in mehreren von den von B. angeführten Beispielen, und kaum was 
mit der johanneischen Zusammenstellung zu tun zu haben. — Mehr bedeuten 


„Ich bin das Licht der Welt‘ 199 


legt oft wenigstens das Hauptgewicht auf das Leben als 
Unvergänglichkeit, die physische Seite desselben. Für Jh 
bedeutet das Leben viel mehr, etwas, was mit seiner ganzen 
religiösen Mystik aufs innigste zusammenhängt; dass auch 
das physische Leben darin eingeschlossen liegt, bin ich 
der erste anzuerkennen, aber dies hängt auf das intimste 
mit der ganzen Ansicht des Hellenisten von der Religion 
zusammen: dass der Mensch durch dieselbe Kräfte, Mächte, . 
“gdaogote erwerben soll, und dieses Wort ist es zunächst, 
das, was die physische Seite anbelangt, dem Jhneischen 
Go entspricht. 

Und noch wichtiger ist wohl die Beobachtung, die für 
ein an das Dunkel der Mystik gewöhntes Auge leicht zu 
machen ist, dass die myslischen Formeln bei Johannes 
ihrem Wesen nach nicht analog mit diesen Parallelen 
sind, die es uns gelungen ist, in reichlicher Menge zur 
johanneischen Sprache aufzuweisen. Es ist, das dürfte 
als das Resultat der Untersuchung anzusehen sein, ein 
schon fertiggepragter Terminus, der jetzt von den Gläubigen 
auf Jesus überführt worden ist. In der johanneischen 
Umwelt hat man die Heilandsgestalten und Götter als 
‘Licht’ dargestellt, Jh behauptet von dem historischen 
Jesus, dass er das Licht der Welt’ sei. Vielleicht haben 
die Johannesjünger dasselbe von ihrem Meister gesagt, die 
Formeln des vierten Evangeliums wären dann in direkter Po- 
lemik vielleicht gegen sie geformt. Weil aber der Terminus so 
festgeprägt übernommen worden ist, ist es uns nicht möglich, 
das näher zu charakterisieren, was in ihn von den johanne- 
ischen Gläubigen hineingelegt worden ist; liegt es doch im 


die schon früh vorkommenden, kreuzförmig geschriebenen Zeichen für Christus 
(p 

AH; vgl. auch die oben S. 172 f. zitierten gnostischen Formeln, Or. 
qt 


Sib. II 316, und einige der von B. zitierten Beispiele, 


200 Gillis P:son Wetter 


Wesen eines formelhaften Ausdrucks, dass er seine Prägnanz 
verloren hat und gewissermassen nur als eine abgenülzte 
Münze dasteht. Aber zo viel lässt sich doch sagen, dass 
auch das Jhev. das Licht als Terminus für die heil- 
bringende Kraft (oder wie man es nennen will) wie die 
ganze hellenistische Umwelt benutzt, nur dass wir es deutlich 
bei ihm fühlen, dass das Wort eine lange Geschichte 
‚ durchgemacht hat und als technischer Ausdruck, ja als 
Eigenname und zwar für eine geschichtliche Person ver- 
wendet worden ist. Daher hat das Licht im Jhev. einen 
anderen Ton als gewöhnlich im Hellenismus: denn hier 
ist es doch ein Ausdruck einer wirklich mystischen Re- 
ligiosität, dort aber finden wir nie diese direkte Mystik auf 
den Heiland, auf Jesus überführt. In der Mystik schmelzen 
der Erlöser und der Erlöste in eins zusammen, beide 
werden in ein unbestimmtes Etwas aufgelöst. Aber dies 
ist nicht mit Johannes der Fall. Man sieht es deutlich 
z. B. an dem „Licht“. In hellenistischer Mystik erhält der 
Mensch Teil am Licht, wird Licht, wird eins mit der Goll- 
heit; bei Jh. erhalt der Mensch auch Teil am Licht, wird 
„erleuchtet“ — aber dies ist nur die Bezeichnung seiner 
religiösen Umwandlung, des Neuen, Revolutionierenden in 
ihm, das statigefunden hat, als er 'gläubig wurde, seines 
neuen Verhältnisses zu Gott. Mit Jesus wird er niemals 
im myslischen Sinne eins: darum hören wir nur Worte 
der Art wie: dem Lichte folgen, an das Licht glauben, ja 
mehrere andere Wendungen, die alle darauf hindeuten, 
dass wir es hier, auch unter diesem von der Mystik 
entlehnten Namen im 4% Ev. nach wie vor mit einer 
historischen Person zu tun haben. 

Und fragen wir, warum diese beiden niemals zusammen- 
liessen konnten, so ist die Antwort einfach: es liegl an 
Jesus von Nazareth. Wir haben es im Christentum mil 


oleh bin das Licht der Welt“ 201 


einem historischen Erlöser zu tun. Und vielleicht 
ist es auch eine Wirkung des eigenen Gottesbewussiseins 
Jesu, dessen was er von Gott gesagt hat, und dessen was 
seine Jünger von seinem Verkehr mit Gott gesehen haben. 

Der historische Charakter des Christentums ist auch 
hier siegreich durchgebrochen. 


13.b. - Beiträge zur Bel. Wiss. L 2 


ir 


Literatur. 


E. REUTERSKIÖLD, De nordiska lapparnes religion, 149 S. 
Cederqvists grafiska aktiebolag. Stockholm 1912. 


Die Erforschung und Darstellung der lappischen Re- 
ligion ist eine rein historische Aufgabe, denn das Heidentum 
als Religion verschwand schon zu Anfang des 18. Jahr- 
hunderts völlig. Es ist natürlich, dass wir bei einem Volk, 
welches in so unmittelbarer Abhängigkeit von der Natur 
lebt, reichlichere Reste von alten Vorstellungen finden als 
bei andern. Dass wir jedoch bei den Lappen keine lebende 
heidnische Religion studieren können, sondern auf die 
Durchforschung eines historischen Quellenmaterials an- 
gewiesen sind, bietet uns gewisse Vorteile. Wir können 
die verschiedenen Stadien ihrer Religion je nach dem Alter 
der Quellen mehr oder weniger kritisch kennen lernen. 
Hierzu kommt, dass die Lappen, ohne ihre Wohnsitze zu 
ändern, vom Jägerleben zum Nomadenleben übergegangen 
sind. Die lappische Renntierkultur ist unabhängig von der 
sibirischen entstanden. Wenn wir daher gewisse religiöse 
Riten von rein primitiver Natur finden, die nicht in den 
Bedingungen des nomadischen Lebens begründet sind, so 
haben wir Ursache zu der Annahme, dass diese während 
des Jägerlebens entslanden seien. Ein solcher Ritus ist 
das Bärenfest. Obwohl wir in diesem Fest ein cha- 
rakteristisches Element der Jägerreligion besitzen, dürfen 
wir doch nicht glauben, dass es alle Riten dieses Stadiums 
in sich einschliesse. Wir haben natürlich keine Aussicht, 


Literatur 203 


diese Religion vollständig rekonstruieren zu können, son- 
dern müssen uns mit einzelnen Spuren derselben begnügen. 
Das Bärenfest weist eine ganze Reihe von Zügen auf, die 
einer rein primitiven Religion angehören. So sollte der 
Bär ursprünglich auf dem Platze, wo er gefallen war, ver- 
zehrt werden. Späler wurde dies dahin geändert, dass die 
Mahlzeit in einer eigens zu diesem Zweck erbauten Hütte 
stattfand. Nach der Bärenjagd mussten sich die Männer 
drei Tage lang von ihren Frauen fernhalten. Nach dieser 
Frist wurden gewisse Reinigungszeremonien vorgenommen; 
ehe man wieder zum Alltagsleben zurückkehren durfte. 
Die Frauen durflen nur gewisse Teile des Bären essen, 
und zwar unter Beobachtung strenger Vorsichtsmassregeln. 
Der ganze Bär musste an einem Tage verzehrt werden. 
Die Knochen durflen nicht beschädigt werden, sondern 
wurden in ihrer natürlichen Ordnung begraben. Mit diesen 
Zeremonien hatten sich im Lauf der Zeit verschiedene 
Vegetationsriten verbunden, die die Lappen von ihren 
ackerbautreibenden Nachbarn übernommen hatten. Es war 
ja auch ganz natürlich, dass der Winterschlaf des Bären, 
sein Verschwinden im Herbst und sein Wiedererscheinen 
im Frühling, mit dem Aufhören und Wiedererwachen der 
Vegelation in Verbindung gesetzt wurde, und es ist nicht 
ganz ausgeschlossen, dass wir in derartigen Erscheinungen 
eine der vielen Wurzeln zu suchen haben, aus denen sich 
die bei vielen Völkern vorkommenden Mythen vom ster- 
benden und auferstehenden Gott entwickelt haben. Die 
Erklärung dafür, dass die Bärenzeremonien ihren primitiven 
Charakter beibehalten haben, liegt nicht etwa darin, dass 
der Bär heiliger gewesen wäre, als andere Tiere, denn alles 
Wild ist für die Lappen heilig, sondern darin, dass die 
Lappen ursprünglich alles Grosswild in Gruben fingen. 
An diesen Gruben wurden verschiedene Riten ausgeführt. 


204 Literatur 


Diese Mahlzeiten an den für die Jagd des Grosswilds 
bestimmten Gruben waren die ersten religiösen Riten. Es 
sind dies die primitivsten Gemeinsamkeitsopfer, die wir 
kennen. Und wenn wir uns versucht fühlen sollten, von 
dem ersten Ritus zu sprechen und nach dem Ursprung des 
Opfers zu forschen, so müssten wir ihn hier suchen. Aber 
weiler können wir nicht gehen. Wir können in diesen 
Mahlzeiten durchaus keinen Zug desjenigen Verhältnisses 
zwischen einer Menschengruppe und einer Tierart entdecken, 
das man Totemismus nennt. Von Totemismus kann nur 
dort die Rede sein, wo an Verwandtschaft zwischen der 
Gruppe und der Tierart geglaubt wird, derartiges wird aber 
bei diesen Mahlzeiten keineswegs vorausgesetzt. Die Speise- 
opfer bestehen unabhängig von solchen Vorstellungen, und 
haben mit der Entstehung derselben nichts zu schaffen. 
Die Entwicklung dieser gemeinsamen grossen Mahlzeit beim 
Fang des Grosswilds zu einer religiösen Gemeinsamkeits- 
mahlzeit und weiter zu einer Opfermahlzeit lässt sich un- 
schwer verfolgen. Wegen der grossen Vorkehrungen, die 
die Tötung eines solchen Tieres erforderte, wurde es Sitte, 
alle diejenigen, die an diesen Vorkehrungen teilgenommen 
hatlen, zum Verzehren der Beute zusammenzurufen. Dass 
es sich dabei um eine Gruppe einander nahestehender 
Menschen handelte, ist natürlich. Diese grossen Mahlzeiten 
wurden also zu einem äusseren Ausdruck für die Zusammen- 
gehorigkeit. Es konnte auch geschehen, dass die grosse 
Festesfreude dort, wo die sonstigen Voraussetzungen vor- 
handen waren, dazu führen konnte, dass man das Tier 
selbst als dasjenige Element betrachtete, das den Klan 
eigentlich zusammenhielt. Dies ist jedoch bei den Lappen 
nie der Fall gewesen. Hier waren die Mahlzeiten das Zen- 
irale, und die Riten gaben nur der allgemeinen Freude 
Ausdruck, wo sie nicht mit Elementen fremden Ursprungs 


Literatur 205 


verquickt waren. Es war auch die Mahlzeit, die sich als 
das Bleibende erwies, als sich die Lebensweise der Lappen 
geändert hatte. 

Auch als man aufhörte, Grosswild in Gruben zu fangen, 
konnten diese Riten fortleben und sich in Verbindung mit 
der Jagd am Winterlager des Bären weiterentwickeln, 
zumal da ja dieses eine von dem Bären selbst hergestellte 
Jagdgrube war. Zu diesen Zeremonien bildeten sich dann 
auf dem Stadium des Nomadenlebens Seitenstücke in Ge- 
stalt der Mahlzeiten beim grossen Herbhbstschlachten. Aber 
während dieser Periode kam ein neues religiöses Element 
hinzu, der Steingott („Seite“). Dieser war eine Konzentra- 
lion der dem Boden innewohnenden Macht, ursprünglich 
nur ein Stein von ungewöhnlicher Form. Später suchte 
man in diesen Steinen die Formen von Vögeln zu erkennen. 
Schliesslich, als die Götter der Lappen infolge von aller- 
hand Einflüssen anthropomorphisiert worden waren, gab 
wman diesen Steinen menschliche Gestall, um in ihnen zu- 
letzt, als der Glaube an die alten Götter schwand, zu Steinen 
verwandelte Menschen zu erblicken. 

Von Bedeutung für die lappische Religion ist ferner 
der Schamanismus. Die hauptsächliche Aufgabe des Scha- 
manen war, Kranke vom Tode zu erretten. Nach der An- 
schauung der Lappen entstand die Krankheit dadurch, 
dass einer von den verstorbenen Verwandten des Kranken 
ihn in das Totenreich wünschte. Es galt also, die Toten 
zu versöhnen. Dies tat der Zauberer, indem er sich in 
einen traumartigen Zustand versetzte, während dessen er 
sich in das Totenreich begab, um mit den Toten die Opfer 
zu vereinbaren, die sie erhalten sollten. Die Vorstellungen 
der Lappen von dem Zustand nach dem Tode haben 
verschiedene Entwicklungsstadien durchgemacht. Zuerst 
meinten sie, dass der Tote nur seinen Aufenthaltsort ver- 


206 Literatur 


andere, und begruben ihn an der Stelle, wo er gestorben 
war. Unter der Erde setzte er seine Lebensweise fort. 
Dann entstand die Vorstellung von geographisch bestimmien 
Totenreichen. Hierauf kamen die christlichen Einflüsse 
und bewirkten eine schärfere Scheidung zwischen Leben 
und Tod. Aber aus der gewohnten Vorstellung, dass unter 
der Erde menschenähnliche Wesen wohnten, entstand nun 
der Glaube an das unterirdische kleine Volk. Dieser Glaube 
bildet den Übergang zu dem dritten Stadium in der re- 
ligiösen Entwicklung der Lappen. Es entsteht nunmehr 
eine ausgebildete Mythologie. Die Quellen, die wir der 
Tätigkeit des norwegischen Missionärs Thomas von Westen 
(1714—1727) verdanken, berichten alle von einer reich ent- 
wickelten Götterwelt. Dies kommt daher, dass v. Westen 
es sich angelegen sein liess, von den Lappen Deutungen 
der Bilder auf ihren Trommeln zu erhalten. Auf diese 
Weise lernte er alle ihre Götter kennen. In dieser My- 
thologie können wir verschiedene Schichten von Göttern 
unterscheiden. Die älteste besteht aus solchen, die eigent- 
lich nur durch Deifizierung des unterirdischen kleinen 
Volkes entstanden sind. Diese Gottheiten helfen den Lappen 
bei ihren täglichen Geschäften. Am populärsten ist die 
Göttin Saracka, die den Kindbetterinnen und den Renntier- 
kühen beim Gebären hilft. Sie hat mehrere Schwestern, 
die den Sondergöttern anderer Völker entsprechen. In Ver- 
bindung mit diesen Gottheilen stehen verschiedene Wesen, 
die eigentlich nie zu wirklichen Göttergestalten geworden 
sind, eine Art von hilfreichen Geistern, an die sich die 
Lappen in allen möglichen Lagen, gelegentlich auch um 
andern zu schaden, wenden. Je mehr Geister dieser Art 
ein Lappe hatte, ein umso mächtigerer Zauberer war er. 

Späler kamen die Götter für das Wetter, die Winde, 


u. dgl., die aber alle von den germanischen Nachbarn ent- 


r 


Literatur | 207 


lehnt sind. Besonders haben die Lappen den nordischen 
Gott Tor übernommen. Ebenso sind die Spuren eines 
Sonnen- und Mondkults, die wir bei den Lappen finden, 
von ihren ackerbautreibenden Nachbarn entlehnt. 

Wenn wir überhaupt versuchen dürfen, uns eine sche- 
matische Vorstellung von der Entstehung der Götter zu 
bilden, so würde diese etwa so aussehen: Zuerst, auf dem 
Jägerstadium, erhält die Beute einen in gewissem Sinne 
göttlichen Charakter. Da aber der Mensch auf dem No- 
madenstadium Herr über die Tiere ist, geht dieser Cha- 
rakter der Göttlichkeit auf dasjenige über, wovon die Tiere 
abhängig sind, nämlich den Boden. In beiden Fällen kon- 
zentriert sich die Macht in einem bestimmten Gegenstand, 
dem Grosswild oder dem Seite. Erst nachdem der Mensch 
als Ackerbauer auch Herr über den Boden geworden ist, 
erhalten die Himmelskörper usw. göttlichen Charakter. 
Neben dieser Entwicklung geht indessen eine andere einher, 
die von den Vorstellungen von den Toten ausgeht. Durch 
Einflüsse von dieser Seite her können Bäume und Steine 
personifiziert werden. Von dieser letzteren Entwicklungs- 
linie müssen wir ausgehen, wenn wir gewisse mono- 
theistische Tendenzen bei niedrig stehenden Völkern ver- 
stehen wollen. 

Schliesslich haben dann die Lappen eine höchste Gott- 
heit, die direkt aus der christlichen Religion entlehnt ist. 
Die Dreieinigkeit finden wir hier als Vater, Mutter und 
Sohn wieder, eine in der Kirchengeschichte nicht unbekannte 
Auffassung. Ferner hat der Glaube an die Hölle und das 
Fegefeuer einen Einfluss auf die Auffassung vom Leben 
im Jenseits ausgeübt, indem man ihnen entsprechende 
Totenreiche schuf, deren jedes seinen eigenen Herrscher hat. 

Die lappischen Zaubertrommeln, auf denen wir Ab- 
bildungen dieser Götter finden, gehören in der Hauptsache 


208 Literatur : 


zwei verschiedenen Typen an. Auf dem einen Typus sind 
die Götter längs des Randes abgebildet, die Mitle nimmt 
ein Sonnenbild ein. Auf dem andern sind sie in mehreren 
Etagen übereinander angeordnet. Es können bis fünf sol- 
cher Stockwerke vorhanden sein, das Gewöhnlichste ist 
jedoch eine Zweiteilung durch einen Querstrich, der das 
Gebiet des Himmels von dem der Erde trennt. Wollte 
man opfern, so legte man einen Ring auf die Trommel 
und schlug das Trommelfell mit einem kleinen Hammer. 
Dem Gotte, bei dessen Bild der so in Bewegung gesetzte 
Ring halt machte, opferte man. Gewöhnlich war das Opfer 
mit einer dem Bärenfest entsprechenden Mahlzeit verbunden. 
Mit der Übernahme der fremden Götter drangen auch 
allerlei fremde Opfergebrauche ein. 

Es bleibt nun noch die Frage zu beantworten, wann 
diese Enllehnungen stattgefunden haben. Die nordischen 
Götter haben die Lappen nicht einer in Blüte stehenden 
nordischen Mythologie entlehnt, sondern einem Heidentum, 
das entweder über das Stadium des Volksglaubens noch 
nicht hinausgekommen oder wieder in dieses zurückgesunken 
war. Ebenso haben sie das christliche Lehngut von ihren 
in den Einöden wohnenden christlichen Nachbarn über- 
nommen, was die Eigentümlichkeit der entlehnten Vor- 
stellungen erklärt. Diese christlichen Elemente aber machen 
den Eindruck, als ob sie nicht assimiliert worden wären, 
weil ihnen direkte Anknüpfungspunkte in der Religion der 
Lappen fehlten, während die nordischen Elemente voll- 
ständig asstmiliert worden sind. 

Uppsala. E. Reuterskiöld. 


Literatur 209 


J. STADLING, Shamanismen i Norra Asien. Nägra drag ur 
shamanväsendets utveckling bland naturfolken i Sibirien. 
135 S. Cederquists grafiska aktiebolag. Stockholm 1912. 


Die Darstellung des Verfassers beruht im wesentlichen 
auf der russischen Literatur bezüglich des religiösen Lebens 
und der Anschauungsweise der sibirischen Völker wie auch 
auf eigenen Beobachtungen unter einem Teil dieser Stämme. 
Er schildert einleitend die animistische und animatistische 
Weltanschauung dieser Völker und darauf basierte religiöse 
Vorstellungen. Bei ihnen allen trifft man diesen primi- 
tiven Dualismus mit guten und bösen Geistern und jenen 
mehr oder weniger ausgestalteten Schöpfungsmythen, welche 
die Anschauungsweise der Völker auf diesem Entwicklungs- 
stadium zu kennzeichnen pflegen. Einige dieser Stämme 
haben die Sitte der Leichenverbrennung, andere begraben 
die Leichen oder hängen sie eingesargt in Bäumen oder an 
’ Pfählen auf, während wieder andere sich damit begnügen die 
Leichen in die Wildnis hinauszutragen oder sie den Hunden 
als Nahrung vorzuwerfen. Noch heute kommt es bei 
den Jakuten vor, dass die Leiche ganz hinten in der Hütte 
niedergelegt wird, worauf diese verlassen wird. Besondere 
Sorgfalt wird stets auf das Begräbnis der Schamanen ver- 
wendet. Verf. schildert alsdann die Hauptzüge des Opfer- 
wesens und der Verehrung der Verstorbenen und geht dann 
zum Hauptteil seiner Arbeit, der Beschreibung des Scha- 
manenwesens über. 

Der Schamane fungiert als Mittler zwischen den Men- 
schen und den Geistermächten. Die Exstase ist das Mittel, 
durch welches er selbst mit den Geistern in Verbindung 
tritt. Eine gewisse Neigung zu abnormen psychischen 
Gemütszuständen ist bei diesen Völkern durch die äusseren 
Lebensverhältnisse erzeugt worden. Die Tschuktschen sagen 


14. — Beiträge zur Rel. Wiss. I, 2. 


210 Literatur 


selber von sich, dass sie „gegen den Tod empfindlich“ 
sind, und diese Empfindlichkeit ist vor allem psychischer 
Art. Dass Menschen am Schreck sterben, ist nichts un- 
gewöhnliches unter diesen Völkern. Es ist auch nicht 
seltenes, unter den Schamanen Personen mit völlig aus- 
gebildeten Wahnsinn anzutreffen. 

Das Schamanieren war ursprünglich individuell, spontan 
“und unorganisiert. Es ist später zu einer Institution aus- 
gewachsen. Wer zum Schamanen berufen wird, zeichnet 
sich gewöhnlich bereits von Kindheit an durch psychische 
Abnormität aus. Er sieht für andere unsichtbare Dinge, 
„die Augen des Schamanen sind licht“. An und für sich 
ist es nichts so ohne weiteres Angenehmes, als Schamane zu 
leben, und die Berufung trifft oft Personen, die durchaus 
nicht gewillt sind sich dem Berufe zu widmen, die aber dazu 
gezwungen werden durch den Geist, der sie ausersehen hat. 
Die Geister sind nämlich sehr ,jahzornig“ gesinnt und 
strafen den geringsten Ungehorsam mit Krankheit und Tod. 
Während der Vorbereitungszeit wird der künftige Schamane 
zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergeworfen, er 
wird geängstigt und leidet Anfechtungen wie andere Pro- 
phelen. Die künfligen Schamanen werden oft menschen- 
scheu, verlieren das Interesse für das alltägliche mensch- 
liche Leben und fallen leicht in einen lelargischen Schlaf. 
In der Regel trifft die Berufung im Pubertätsalter ein; 
ältere Personen werden berufen, wenn eine schwerere Trüb- 
sal oder Krankheit sie trifft. Dass eine spezielle Berufung 
erforderlich ist, schliesst nicht aus, dass Unterricht von 
älteren Amtsbriidern auch vorkommt. Dies ist eine natür- 
liche Folge davon, dass das Schamanenwesen in eine In- 
stitution übergegangen ist. Zuweilen ist die Schamanen- 
gabe erblich. Im übrigen aber können bei der Berufung 
eines Schamanen allerlei Zufälle mitspielen. 


Literatur 211 


Verf. beschreibt ausführlich die Instrumente, die beim 
Schamanieren angewendet werden, die Trommel mit dazu 
gehörigen Geräten und die Tracht. Der Zweck der Musik, 
die Exstase hervorzurufen, tritt besonders deutlich bei den 
nordasiatischen Schamanen hervor. Grosse Sorgfalt wird 
auf die Anfertigung der Trommel verwendet. 

Starke Gründe sprechen dafür, .dass das weibliche 
Schamanenwesen früher entstanden ist als das männliche. 
„Weiber sind von Natur Schamanen.“ Die Tradition be- 
hauptet, dass die Frauen vor den Männern als Schamanen 
tätig gewesen sind, und diese Tradition wird dadurch 
bestärkt, dass mongolische, mongolotürkische und turko- 
tatarische Stämme eine gemeinsame Bezeichnung für weib- 
liche Schamanen haben, während sie für die männlichen 
verschiedene Wörter haben. Man hat hieraus die Schluss- 
folgerung gezogen, dass es vor der Auswanderung dieser 
Stämme aus der gemeinsamen Heimat nur weibliche Scha- 
manen gegeben hat und dass männliche erst nach ihrer 
Zersplitterung aufgetreten sind. Unter den Tschuktschen 
und anderen altasiatischen Stammen haben die männlichen 
Schamanen keine eigene Trommel oder Tracht, sondern 
erhalten diese bei ihren Verrichtungen aus den Händen 
der Hausmutter geliehen, benutzen Frauentracht als Priester- 
gewand und tragen ihr Haar wie die Frauen. 

Dies würde dann wohl auch die eigentümliche Ge- 
schlechtsverwandlung erklären können. Wenn es nur 
Frauen gewesen sind, die ursprünglich als Schamanen auf- 
traten, so war es ganz natürlich, dass die Männer, wenn 
sie sich diesem Beruf widmeten, weibliche Attribute an- 
legen sollten. Diese in Frauen verwandelten Männer kön- 
nen eine Ehe eingehen und vermeintlich auch Kinder 
gebären und zuweilen Tieren verschiedener Art das Leben 
geben. 


212 Literatur 


Der Verfasser schliesst seine Darstellung mit der Be- 
schreibung konkreter Falle von Schamanierung und mit 
Proben schamanischer Poesie. 


Djurshohn. Torgny Segerstedt. 


ERLING EIDEM: Pauli bildvärld |= Die Bilderwelt des 
Paulus). Bidrag till belysande af apostelns omgifning, 
ullryckssätt och skaplynne. 1. Athletae et milites Christi. 
Lund 1913. A.-B. Ph. Lindstedts Univ.-bokhandel. 


VIII + 251 S. 


Wenn man sich von der wunderbaren Fülle und Schön- 
heit der Bildersprache Jesu der bildlichen Ausdrucksweise 
seines grössten Apostels zuwendet, wird man dem Gefühl 
eines überaus starken Kontrastes kaum entgehen können; 
der Abstand im Gemüt zwischen den beiden wird oft eben 
durch diese Beobachtung veranschaulicht. Es ist darum 
nicht zu verwundern, dass bei der reichen Literatur über 
die Parabeln des Herrn — mit oder ohne wissenschaft- 
lichen Wert — die Bildersprache des Apostels verhältnis- 
mässig wenig bearbeitet worden ist. In den Kommentaren 
(besonders der Lietzmannschen Sammlung) finden sich 
zwar wertvolle Beiträge zum Verständnis gewisser Bilder- 
gruppen, einige Bilderkreise sind monographisch behandelt 
worden, und die Paulusbiographien enthalten öfters Zu- 
sammenstellungen einzelner Bildworte und deren Aus- 
nutzung für die Kenntnis der inneren und äusseren Lage 
des Apostels, aber eine einigermassen erschöpfende Gesamt- 
darstellung des ganzen Gebietes gibt es noch nicht. In- 
wiefern die Füllung dieser Lücke wünschenswert ist, dar- 
über werden die Forscher verschieden urteilen; nach Mei- 


Literatur 213 


nung des Verf:s dürfte eine solche zusammenfassende 
Untersuchung einen nicht ganz wertlosen Beitrag zur Klärung 
einiger Hauptfragen der gegenwärtigen Paulusforschung 
gewähren können: der jüdischen (Schweitzer) oder hel- 
lenistischen (Reitzenstein) Bestimmtheit des Apostels und 
seiner konkret-prophetischen (Deissmann) oder abstrakt- 
scholastischen Art. Verf. hat sich deshalb entschlossen, 
eine Darstellung der paulinischen Bildersprache nach 
Kräften zu geben, und macht den Anfang mit dem eben 
erschienenen Teil über die zwei nahe zusammenhängenden 
Bildergruppen ,,athletae et milites Christi“; er beabsichtigt 
demnachst die Opfer- und Rechtsbilder folgen zu lassen. 

Der eigentlichen Untersuchung der paulinischen Bild- 
worte sind zwei Kapitel allgemeineren Inhalts voraus- 
geschickt. Im ersten (S. 1—59) werden die geschichtliche 
Situation des Apostels und die Einflüsse, die für ihn in 
Betracht kommen können, kurz skizziert. Der Unterschied 
zwischen dem uns wohl bekannten Typus des talmudischen 
Juden und dem Rabbiner zur Zeit des Paulus wird hervor- 
gehoben. Der palästinensische Jude, auch der Schrift- 
gelehrte, ist aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Falle 
Jerusalems nicht so exclusiv gegen fremde Einflüsse ge- 
wesen, wie man es sich im allgemeinen vorstellt (z. B. war 
die Stellung der Palästinenser zu Theater, Circus u. s. w. 
nicht immer so streng wie nach dem grossen jüdischen 
Kriege, S. 95 f). Es ist deshalb keineswegs unglaublich, 
dass der Apostel, obgleich er im Ganzen als hellenistischer 
Jude zu beurteilen ist, doch auch von den Schriftgelehrten 
seines Heimatlandes nachhaltige Einflüsse empfangen hat. 
Unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in 
Tarsus, wie wir sie uns vorzustellen haben (Ramsay), wer-' 
den die allgemeinen Merkmale der hellenistischen Juden 
angedeulet. Zuletzt kommen die kynisch-stoische Diatribe, 


214 Literatur 


die „Mysterienfrömmigkeit und der Herrscherkultus mit 
ihren heute vieldiskulierten Problemen im Hinweis auf 
die einschlägige Literatur kurz zur Sprache. Die Frage 
nach der formalen oder auch zugleich realen Einwirkung 
dieser Erscheinungen auf den Apostel kann zur Zeit weder 
a priori verneinend noch als blosse Arabesken betreffend 
behandelt werden. — 

Im zweiten vorbereitenden Abschnitt (S. 60—89) stellt 
Verf. einige Prinzipien für Untersuchungen der Bilder- 
sprache überhaupt, aber mit besonderer Berücksichtigung 
des Apostels Paulus, fest. Die Bildersprache eines Autors 
kann hauptsächlich unter drei Gesichtspunkten bearbeitet 
werden. Die Rhetorik und Stilistik wählt eine in erster 
Linie formale Betrachtungsweise. Wird das Hauptgewicht 
auf das Material der Bilder gelegt, so kann dies einen 
doppelten Zweck haben: man will entweder die Umgebung 
und Umstände des betreffenden Autors oder seine Eigenart 
durch die Wahl eben dieser Bilder veranschaulichen. Die 
vorliegende Untersuchung verfolgt die sachlichen Gesichts- 
punkte. daher der Titel dieser Skizze: „die Bilderwelt des 
Paulus“. 

Eine besondere Schwierigkeit bei der so gestellten Auf- 
gabe hängt damit zusammen, dass das in Frage kommende 
Material zum grössten, Teil in Metaphern und metapho- 
rischen Ausdrücken besteht. Wir werden auf Schritt und 
Tritt dem Problem begegnen: anschaulich oder nicht? 
Die Metaphern (es ist natürlich weder möglich noch richtig, 
die unumgänglichen Grundmetaphern einer Sprache oder 
Sprachperiode zu berücksichtigen) schwingen bekanntlich 
zwischen den Polen der vollständigen Verblassung und der 
lebendigsten Konkretion. Es ist bisweilen überaus schwierig, 
den Punkt auf dieser Scala, wo ein bestimmter bildlicher 
Ausdruck bei einem bestimmten Verfasser liegt, sicher 


Literatur | 215 


anzugeben, eine Schwierigkeit, die doch öfters in praxi 
nicht genug beachtet wird. — Von besonderer Wichtigkeit 
sind die metaphorischen Ausdrücke, die zur Veranschau- 
lichung oder Bezeichnung religiöser Verhältnisse und Vor- 
gänge gebraucht werden. Hier haben wir noch eine voll- 
kommen reale Auffassung in Betracht zu ziehen. Man ist 
durchaus berechtigt, solche primitive Vorstellungen bei 
einem Autor, dessen allgemeine religiöse Lage eine hohe 
ist, als unwahrscheinlich zu bezeichnen (gegen Heit- 
miller). Interessant ist die Gruppe der „schlafenden“ 
Metaphern, die derselbe Verfasser bisweilen blass, bisweilen 
anschaulich oder wenigstens mit einer Tendenz zur An- 
schaulichkeit anwendet. — Bei der Feststellung des Bild- 
wertes einer Metapher im N. T. muss man sich davor 
hüten, wie es öfters geschieht, die altkirchliche Exegese 
als ausschlaggebende Instanz zu behandeln. Es ist immer 
im Auge zu behalten, wie gern die Exegese jedes Wort so 
beziehungsreich wie möglich deutet; das Allegorisieren der 
Parabeln hat hier sein Gegenstück. Dazu kommt noch 
die weitere Gefahr, dass man sich in einer fremden Sprache 
der etymologischen Zusammenhänge kräftiger bewusst ist 
als der Einheimische selbst. 

Ein anderes Hauptproblem hat Bezug auf den Ursprung 
der Bilder. Rühren sie aus eigener Anschauung bezw. Er- 
innerung her, oder stammen sie aus Tradition, entweder 
schriftlicher oder mündlicher Art? Diese Frage ist von 
Bedeutung, besonders um die Umgebung des Verfassers 
und den Grad seiner Selbständigkeit dieser gegenüber zu 
bestimmen. Die religiöse Bildersprache ist von Natur sehr 
konservativ geartet; die Errungenschaften der Heroen der 
Religion bestehen zum grossen Teil eben in der Prägung 
neuer, ausdrucksvoller Bilder oder in der Auffrischung der 
alten. — Es versteht sich von selbst, dass die persönlich 


216 Literatur 


erfundenen Bilder für die Charakterisierung des Betreffen- 
den grösseren Wert haben als die der Tradition entnoın- 
menen; letztere sind aber auch in dieser Beziehung nicht 
so helanglos, wie man beim ersten Anblick meinen sollte. 
Wir können bisweilen beobachten, wie die persönliche 
Veranlagung die Wahl eben dieser Bilder aus dem gemein- 
samen Vorrat beeinflusst. Für das Feststellen der kul- 
turellen und gesellschaftlichen Umgebung, in der der Autor 
gelebt hal, sind die konventionellen Bildworte öfters 
sogar von höherem Werte. — Die aus der Tradition ge- 
schöpften Bilder stammen, was Paulus betrifft, in erster 
Linie aus den LXX und der jüdischen Religion und Um- 
gebung. Dabei wollen einerseits die verschiedene Tonfarbe 
zwischen dem hebräischen Texte und der griechischen 
Übersetzung (Deissmann), andererseits die Offenheit der 
spätjüdischen Religion für fremde Elemente (Gunkel, Bous- 
set) in gehöriger Weise beachtet sein. Die hellenistische 
Umwelt muss aber auch ernstlich in Betracht gezogen 
werden. Es werden besonders der Reichtum und die 
Volkstümlichkeit der Bildersprache bei den kynisch- 
stoischen Wanderpredigern und die tiefempfundenen Bild- 
worte der hellenistischen Mysterienreligionen hervorge- 
hoben. 

Die Frage von der Bedeutung der Bildforschung für 
die Literarkritik der paulinischen Briefe wird S. 81 gestellt. 
Verf. bestimmt sich sowohl aus praktischen Rücksichten, 
als auch um möglichst volle Gerechtigkeit üben zu können 
dafür, alle Paulinen zuerst in einer Linie zu behandeln, 
um dann zur Aufdeckung etwaiger Differenzen fortzuschrei- 
ten. (Seine prinzipielle Stellung zur Quellenfrage hat er 
S. 2 IT. angegeben: die Paulus-Reden der Apostelgeschichte 
scheiden ganz aus.) 


Zum Schluss werden noch einige anschauungsmässige 


Literatur 217 


Momente der paulinischen Diktion kurz gestreift. Die Per- 
sonifikation bei Paulus im Zusammenhang untersucht, 
dürfte ein schönes Thema für eine Spezialarbeit abgeben. 
Mit einigen Worten wird das A. T. als das grosse Bilder- 
buch des Apostels angedeutet. — 

Der erste paulinische Bilderzyclus, der zur Behandlung 
gelangt, ist derjenige, der seinen Stoff von Stadion, Theater 
und Amphitheater entnimmt (S. 90—186). Nach einer all- 
gemeinen Orientierung über die Verbreitung und Beurteilung 
der in Frage kommenden Einrichtungen in der hellenistisch- 
römischen wie in der jüdischen Welt zur Zeit des Apostels 
werden die betreffenden paulinischen Stellen zunächst aus- 
führlich durchgenommen, wobei speziell ihr Anschauungs- 
wert nach Möglichkeit geprüft und das (wenigstens ur- 
sprünglich) dahinter liegende Konkrete scharf beleuchtet 
wird. Die Hauptstelle, I Kor. 9: 24 ff., mit ihrer für Paulus 
charakteristischen Gebrochenheit in der Durchführung des 
Bildes, zeigt keinen spezifisch isthmischen Zug; in Phil. 3 
beginnt das Bild vom Wettlauf erst mit V. 13 b. Bei den 
Stellen II Tim. 4: 7 f, I Tim. 6: 12 werden einige Vor- 
schlage zur konkreteren Fassung vom Verf. zur Diskussion 
gestellt. Die in den Kommentaren übliche Ausnutzung der 
freistehenden metaphorischen Ausdrücke sieht er sich da- 
gegen genöligt im allgemeinen abzulehnen. Dies gilt sowohl 
Boaßeveır Kol. 3: 15 als auch zaraßgaßersır Kol. 2: 18; das 
erstere wird als „herrschen“, das letztere als „verurteilen“, 
ohne jede bewusste Anspielung auf Wettkampf, gedeutet. 
Ebenso wird der or£garos I Thess. 2: 19, Phil. 4: 1 schwer- 
lich mit Recht oft auf den Siegeskranz der Agonen be- 
schränkt. Bei der überaus vielseitigen Anwendung des 
Kranzes im Altertum ist ein bestimmtes Lebensgebiel, wor- 
auf der Gedanke des Apostels gerichtet sein sollte, kaum 
zu ermitteln. Auch den freistehenden «yus, aywı (cedar, 


218 Literatur 


orrayarllscodaı, ovvadksir vermag Verf. keinen wirklichen 
Agonklang abzulauschen. Einen grösseren Bildwert hat 
wahrscheinlich das metaphorische ro£yeır, wenigstens Gal. 
5:7; man dürfte jedenfalls nicht bestreiten, dass der Wett- 
lauf hier ursprünglich beabsichtigt ist. Interessant ist II 
Thess. 3:1, wo das „laufende Wort“ als alttestamentliche 
Reminiscenz aufzufassen ist und man daher beobachten 
kann, wie der alttestamentliche Ausdruck und die echt- 
griechische Redeweise zusammenklingen. Der Apostel ent- 
nimmt seine Agonvergleiche dem Wettlauf, von den übrigen 
Arten des Wettkampfes wird mit Sicherheit nur der Faust- 
kampf gennant, I Kor. 9: 26. Vorschläge, noch andersartige 
Anspielungen zu entdecken, erweisen sich als verfehlt. — 
Die berühmte Stelle vom Tierkampf des Apostels zu Ephe- 
sus, I Kor. 15: 32, muss nach Meinung des Verf:s figürlich 
aufgefasst werden. Dass mit dem ähnlichen Bilde I Kor. 
4: 9 ein bestimmtes Ereignis im Leben des Paulus oder 
gar dasselbe wie in 15: 32 beabsichtigt sei, ist nicht glaub- 
haft zu machen. — Die neuen Entdeckungen von Theater- 
termini, die Daechsel gemacht hat, sind unbegründet, 
aber auch der gewöhnlichen Erklärung von I Kor. 7: 31 
als Anspielung auf einen Scenenwechsel kann Verf. nicht 
beipflichten. 

| Nach der Spezialexegese werden die allgemeineren 
Fragen behandelt. Die Bilder und Ausdrücke vom Agon- 
wesen, die im N. T. auf die paulinischen Briefe (und Ebr.) 
fast beschränkt sind, kommen in diesen ziemlich gleich- 
mässig vor. Ein Unterschied im Ton ist nicht mit Sicher- 
heit festzustellen, doch verdient der Umstand Beachtung, 
dass eine Tendenz dieses Bildmotiv für die Lehrer zu 
reservieren, in den späteren Briefen hervorzutreten scheint. 
(Ebenso bei den Kriegsbildern.) 

Woher hat der Apostel die Anregung zur Aufnahme 


Literatur 219 


des in Frage stehenden Bilderzyclus bekommen? Die 
ältere Auffassung, die noch immer, besonders in England 
(Ramsay), vertreten ist, weist auf persönliche Erlebnisse 
und Beobachtungen des Paulus hin und spricht ihre Be- 
wunderung für seinen für alles echt Humane offenen Sinn 
aus. Eine Bestreitung der Annahme bezw. Wahrscheinlich- 
keit davon, dass der Apostel Wettkämpfen beigewohnt 
habe, wäre zwar unstatthaft. Andererseits aber spricht 
der relative Mangel an Anschaulichkeit am ehesten für 
einen Ursprung aus der Tradition. Es ist hier die von 
mehreren namhaften Gelehrten (Norden, Wendland, Lietz- 
mann) verfochtene These näher zu prüfen, dass die Bilder- 
wahl des Paulus aus dem reichlichen Vorkommen eben 
dieses Bildes in der kynisch-stoischen Diatribe erklärt 
werden muss. Für die hier gewöhnliche spezielle Aus- 
formung des Bildmotivs: „der Weise als der wahre Ath- 
let“, gibt Verf. mehrere Proben besonders aus Seneca und 
Epiktet. Das grösste Gewicht wird auf das Vorkommen 
dieses Bildes in der hellenistisch-jüdischen Literatur gelegt, 
nicht nur massenhaft bei Philo (Norden) sondern auch in 
Sap. Sal. und IV Makk. Ebenso wird darauf hingewiesen, 
wie leicht derartige Ausdrücke in die allgemeine Umgangs- 
sprache übergehen konnten. Verf. muss der Auffassung 
Recht geben, dass die paulinischen Agonbilder durch die 
kynisch-stoische Redeweise bedingt sind, dagegen sucht er 
zu zeigen, dass Bonhöffer darin im Recht ist, dass er den 
stoischen Ursprung für I Kor. 4: 9 ablehnt. 

Die Wettkampfbilder liefern auch einen Beitrag zur 
Charakteristik der inneren Art des Apostels. — Als Zeichen 
von der Volkstümlichkeit dieses Bilderzyclus wird u. a. 
auf das Vorkommen desselben bei den apostolischen Vätern 
(ausführlich) und in der altchristlichen Kunst (andeutungs- 
weise), hingedeutet. Die Bezeichnung „athleta Christi“ wird 


220 Literatur 


mehr und mehr auf Märtyrer und Asketen beschränkt. 
Eine agonistica Christi nach dem Muster von Harnacks 
militia Christi (oder noch weiter ausgeführt) dürfte eine 
lohnende Aufgabe sein. — 

Die Kriegsbilder bei Paulus behandelt Verf. im folgen- 
den Kapitel (S. 187—240) nach derselben Aufstellung. Also 
zunächst eine Spezialexegese, wobei die Stellen wegen der 
umfassenderen Probleme, die später zu berühren sind, in 
drei Gruppen vorgeführt werden. Zuerst die allgemeinen 
z. B. I Kor. 14:8. Owarıa II Kor. 11:8, Röm. 6: 23 wagt 
Verf. nicht als Soldatenterminus zu verstehen; die in 
den Papyri gewöhnliche Bedeutung „Lohn“ (für Dienst) 
scheint zutreffender zu sein. Noch weniger darf man das 
cryuakarfsen MI Tim. 3: 6 pressen; es bezeichnet hier ganz 
allgemein „bestricken“. — In einer zweiten Gruppe werden 
die Stellen durchgenommen, wo Christus bezw. Gott als 
Streiter dargestellt ist: I Kor. 15: 24 ff., II Thess. 2: 8, 
Eph. 4:8. Ausführlicher wird bei dem merklichen II Kor. 
2:14 verweilt. Die gewöhnliche Ausnutzung des Bildwertes 
bei dem aktivisch zu fassenden Yoraußevan ist kaum be- 
fugt: Lietzmanns Wiedergabe „herumführen“ zu schwach. 
Die folgende voou7 hängt wahrscheinlich mit den Geruchs- 
sensationen, die mit dem Geiste verbunden wurden, zu- 
sammen (nicht mit Räuchern bei den Triumphzügen). — 
Eine dritte Abteilung handelt von den Stellen, wo der 
Apostel bezw. der Christ als Soldat auftritt. Bei der weil 
ausgesponnenen Allegorie von der geistlichen Waffenrüstung 
in Eph. 6 braucht man nicht an eine literarische Abhängig- 
keit von Sap. Sal. 5 zu denken. Die &roruaola Tod avayyerfov 
bleibt u.a. dunkel. Ob der autor ad Ephesios den evayyazıco- 
usroc Jes. 52: 7 messianisch verstanden hat (anders Röm. 
10:15)? Weder I Thess. 5: 8 noch Röm. 13: 12 sieht der 
Apostel einen Wachtposten vor dem inneren Auge (gegen 


Literatur 221 


v. Dobschütz): die Ausdrücke sind gewiss recht formelhaft 
gebraucht. Zu II Tim. 2:3 ff. schlägt Verf. vor, oç und 
roayuarte (V. 4) als „Vermögen“ bezw. „geschäftliche Ver- 
waltung“ zu deuten, um das die Bildertrilogie beherr- 
schende zaxorr« Yeir (hier = „Verluste machen“) etwas schär- 
fer hervortreten zu lassen. Das eigentümliche Epitheton ov- 
cıyud)wros bezeichnet ,,Milgefangener“ im eigentlichen Sinne, 
wobei die ursprüngliche, spezielle Bedeutung von einem im 
Kriege Gefangenen verblasst ist (Mommsen). Einige weitere 
Vorschläge, militärische Termini (z. B. r«#£ıs, oreg&wue) in 
den paulinischen Briefen zu finden, werden abgewiesen. 
Woher stammen die Christus-victor-bezw. miles-Christi- 
Kreise? Der erstere natürlich aus alttestamentlich-jüdi 
schem Boden. Bemerkenswert ist der Wechsel zwischen. 
dem noch ausstehenden und dem schon gewonnenen 
Siege Christi. Die kriegerische Farbe ist mit grosser 
Sparsamkeit aufgelegt. Ob das auch als eine Nachwirkung 
der Umprägung des Messiasideales durch Jesus zu be- 
trachten ist? Ein Zusammenhang zwischen den beiden in 
Frage stehenden Bildergruppen wird von Harnack kate- 
gorisch verneint. Es scheint aber dem Verf. glaubhaft, 
dass wir jedenfalls Spuren eines ursprünglichen Zusammen- 
hanges noch nachweisen könnten. I Thess. 5: 8, Röm. 13: 12 
zeigen deutliche apokalyptische Merkmale. Irgendwie liegt 
der Gedanke zu Grunde, dass der kommende Herr seine 
Gläubigen als bereitstehende, wohlgerüstete Soldaten zu 
finden erwartet. Einige weitere Anzeichen, die diese Hypo- 
these des Verf:s zu erhärten scheinen, werden angeführt. 
Man hat öfters den römischen Soldaten für Paulus 
Modell stehen lassen, wie aus Einzelheiten der Zeichnung 
hervorgehen sollte. Diese Deutung kann Verf. nicht als 
berechtigt ansehen. Desgleichen will er überhaupt nicht 
das Vorkommen kriegerischer Bildworte auf das Zusam- 


222 Literatur 


mensein des Paulus mit Militär zurückführen, ebenso wenig 
wie er aus dem zweimaligen Gebrauche von JSorapBetesr 
auf den civis Romanus zu schliessen wagt (gegen Ramsay). 
— Danach wird der Gebrauch des Kriegsbildes für das 
Leben des Weisen in der kynisch-stoischen Diatribe durch 
Proben veranschaulicht. Von besonderem Interesse ist die 
sancta militia der Mysterienfro6mmigkeit. Verf. glaubt an- 
nehmen zu dürfen, dass das miles-Bild in der Philosophie 
und in den Myslerien unabhängig von einander entstanden 
sind. Was das betreffende paulinische Bild angeht, wird 
es dem Apostel wahrscheinlich durch seine hellenistisch- 
jüdische Umgebung (bezw. Literatur) wenigstens haupt- 
sächlich vermittelt sein (Norden); der Ursprung liegt wohl 
eher bei der Populärphilosophie als in den Mysterien. — 
Zuletzt wird mit einigen Worten die Bedeutung der Kriegs- 
bilder für die Erforschung des inneren Wesens des Paulus 
berührt; seine «rögof« spiegelt sich klar ab. — Für die 
weitere, hochbedeutsame Entwicklung des Bildmotivs vom 
Christen als Soldaten muss auf Harnacks meisterhafte 
„militia Christi“ verwiesen werden. | 

Ein Verzeichnis der angeführten Literatur ist dem 
Buche beigegeben (S. 241—251); Sach- und Stellenregister 
werden einem folgenden Teile angeschlossen. 


Lund. ; Erling Eidem. 


Chronik. 


l. Sitzungen der Gesellschaft. 
Am Fehr-Rydbergs-Tage, 21. Sept. 1913. 


An diesem Tage feierte die Gesellschaft im Hörsaal der 
Königl. Akademie der Wissenschaften ihren achten, wie ge- 
wöhnlich dem Andenken von Viktor Rydberg und Fredrik Fehr 
gewidmeten, Gedenktag. Der Präses der Gesellschaft hielt eine 
einleitende Ansprache, in der er u. a. mitteilte, dass der Gesell- 
schaft dank einer grösseren Donation die Möglichkeit geboten 
sei, eine religionswissenschaftliche Publikation in deutscher 
Sprache unter dem Titel: Beiträge zur Religionswissenschaft, 
herauszugeben, und die Hoffnung aussprach, dass die Gesell- 
schaft fort und fort in der Richtung weiterarbeiten werde, die 
für Viktor Rydberg und Fredrik Fehr massgebend gewesen sei. 

Die Festvorlesung hielt Professor Dr. I. Goldziher aus Buda- 
pest über das Thema: ‚Katholische Tendenz und Partikula- 
rismus im Islam.“ Der von etwa 300 Personen angehörte Vor- 
trag, der in diesem Heft wiedergegeben ist, wurde mit lebhaftem 
Beifall aufgenommen. 

Die Gesellschaft wählte darauf ihren seitherigen Vorstand 
(siehe das vorhergehende Heft) wieder und gewährte demselben 
auf Antrag der Revisoren volle Entlastung. 

Zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft wurden Professor I. 
Goldziher und der Reichsantiquar a. D. O. Montelius ernannt. 


23. Sept. 


Der Präses machte bekannt, dass er als Mitglied des wissen- 
schaftlichen Ausschusses der Gesellschaft den Professor der 
Religionsgeschichte in Stockholm Dr. T. Segerstedt berufen babe. 
Als Revisoren wurden gewählt den Kantor O. Sandberg und 
` Fräulein Rosengren. 

Professor Dr. F. Hommel aus München hielt einen Vortrag 
über „die Grundlage der babylonischen und ägyptischen Kultur’. 
Der Inhalt war kurz folgender: ! 


1 Das Referat ist von Prof. Hommel durchgesehen. 


224 Chronik 


Dass die altbabylonische und die altaegyptische Kultur, die zwei 
ültesten der Welt, die wir kennen, eine gemeinsame Grundlage haben, ist 
ein Satz, den der Vortragende seit mehr als zwanzig Jahren verficht wnd für 
welchen immer neue Beweise zu Tage treten. Eine übel beratene Skepsis, 
die vor allem von den Aegyptologen ausgeht, nennt alle derartigen Vergleiche 
Phantasien, und ihre Devise ist „störe meine Kreise nicht!" Aber von jeher 
haben sich neue Gesichtspunkte mühsam «durchsetzen müssen, bis endlich 
nach errungenem Siege alle Welt die Sache als selbstverständlich ansah; 
so wird es, wofür bereits verschiedene Anzeichen sprechen, auch hier gehen. 


Der Vortragende führte nun eine Reihe solcher Vergleichungen, von 
welchen ein Teil schon in seinem Grundriss der Geogr. u. Geschichte des 
alten Orients kurz behandelt war und die meisten religionsgeschicht- 
licher Natur sind, den Zuhörern vor. Dahin gehören u. a. der ganz gleiche 
Aufbau «der ältesten Göttergenealogie: a) Himmels-ocean, b) Luftgott, 
mit den ihn begleitenden beiden Löwen, in deren Mitte die Lichtscheibe 
(Mond oder Sonne) gestellt ist, ce) Erdgott mit seiner Gemahlin, dem weiblich 
personificierten Himmel (babyl. DAM-GAL-NUNNA, d. i. grosse Gemahlin 
des Himmelsoceans, aegvptisch Nut, Femininum von Nu Himmelsocean), 
d) das hinter der Erde allmorgentlich aufsteigende Licht, bei den Babyloniern 
Marduk von Eridu, bei den Aegyptern Osiris, wobei das beiderseitig ganz 
gleiche Ideogramm „Wohnsitz“ mit darunter gestelltem: „Auge“ und der 
ganz gleiche Beiname, babylonisch „guter Mensch“, ägyptisch „gutes Wesen“ 
noch besonders zu beachten ist und allein schon jeden Zufall ausschliesst. 
Dieser Marduk-Osiris hatte nun aber bei beiden Völkern eine Gemahlin 
(babyl. Istar, aeg. Isis) und eine manchmal mit ihr verwechselte Schwester, 
resp. Schwägerin (babyl. Es-ghanna oder Gula, aeg. Nephthys oder Hat-hor), 
deren Gemahl der böse Gott Nergal oder Seth war und aus deren Liebes- 
verbindung mit Marduk-Osiris ein junger Lichtgott entspross, der bei den 
Babyloniern Nebo oder Nusku, bei den Aegyptern Horus hiess und dessen 
Symbol ein Falke war. Auch hier bei den Göttinnen weisen die Ideogramme 
(oder Bild-zeichen) eine überraschende Ähnlichkeit auf. Wenn dieser Horus- 
vogel auf eine Stange gesetzt wurde, so bedeutete er bei beiden Völkern 
den Anfang des Tierkreises zwischen Zwillingen und Krebs, was auf eine Zeit 
etwa um 6000 vor Chr. zurückweist. Ausserdem war der alten Muttergöttin 
Es-ghanna-Hathor der Skorpion, dessen Stachel man sich im Schützen dachte. 
heilig, und in ihrer Erscheinungsform als Istar-Isis war sie ausserdem noch 
die Göttin des Sirins-gestirns bei beiden Völkern. Ferner gab es bei beiden 
Völkern ausser dieser neun-gliedrigen Göttergenealogie noch vier vorkosmische 
Götterpaare, also zusammen acht Götter, die sog. Ogdoas, welche auf baby- 
lonisch wie auf aegvptisch binitu hiessen. 


Eine grosse Rolle spielte bei den Babyloniern und bei den Aegyptern 
der heilige als ein längliches Dreieck dargestellte Lichtkegel, das sogenannte 
Zodiakallicht, babyl. dul, ägypt. sopd. Aus (diesem Symbol hat sich bei 
den Babyloniern der Stufenturm und bei den Aegyptern die Pyramide und 
der Obelisk entwickelt. Auch der Stufenturm galt ursprünglich als Götter- 


Chronik 225 


grab, und ebenso hatten die ältesten Pyramiden Stufenform. Dass sie in 
Aegypten Konigagriber (statt Göltergräber) waren, hängt mit der beiden 
Kulturen gemeinsamen Anschauung von der sog. Deificierung oder der 
Vergottung der Könige zusammen. Der Lichtgott stirbt, wenn er hinter dem 
Horizont verschwindet, der König aber ist die irdische Incarnation des Licht- 
gottes. Auch die Tierköpfe der Götter, die sonst menschlich dargestellt 
wurden, z. B. Stier, Widder, Schakal, Löwe (letzterer besonders für Gött- 
innen), Falke etc., sind eine bei den Babyloniern und den Aegyptern sich 
findende Auffassung, die dann besonders bei den letzteren bis in die römische 
Kaiserzeit sich als stehende Sitte erhulten hat; das gleiche gilt von den bei 
den Götterfesten gebräuchlichen heiligen Schiffen, aus welchen die Baby- 
lonier dann sogar Schiffswagen mit Rädern (vgl. car navale, unser Karneval) 
machten. Auch die Form der Laube, unter welcher das Bild des auf dem 
Thron sitzenden Sonnengottes sich befand, war ganz die gleiche; sie wurde 
durch eine Säule (einen Palmenstamm) mit einer darüber sich biegenden 
Schlange gebildet, wie überhaupt der heilige Baum und die Schlange schon 
in ältester Zeit eine grosse Rolle spielten. 

Diesen Beispielen, die sich noch sehr vermehren lassen, gesellen sich 
nun noch eine ganze Reihe gleiche Ideenreihen in den ältesten religiösen 
Texten heider Völker zu. Davon führte der Vortragende noch einiges 
besonders interessante an, so u. a. das Gebet des Königs an seine Schutz- 
göttin, welches sowol in den Pyramidentexten als in den babyl. Gudea- 
Inschriften: „Ich habe keinen Vater, ich habe keine Mutter, du, o Göttin, 
bist mein Vater und meine Mutter“ lautet. Er schloss seine Ausführungen 
mit dem Hinweis auf die das von ihm Vorgebrachte noch weiter bestätigende 
Tatsache, dass in der ältesten Epoche der ägyptischen Kultur statt der später 
üblichen Skarabiien als Siegel sich die gleichen kleinen Siegeleylinder finden, 
welchen wir in Babylonien von den ältesten Zeiten an bis in die Perserzeit 
begegnen. 


An der Diskussion beteiligten sich der Graf Dr. Carlo 
Landberg, Pastor J. Matthes und der Präses der Gesellschaft. 
Letzterer machte auf die Kritik des Domprobstes Pfannenstill 
über das Buch von Prof. Lidforss (f 1913): „Kristendomen 
förr och nu“ aufmerksam. 


7. Okt. 


Professor Dr. Amelung aus Rom hielt Vortrag über das 
Thema: ‚Die Bedeutung der Religion für die griechische Kunst.“ 
Redner legte zunächst die Anforderungen dar, die von religiösem 
Gesichtspunkt an die Auffassung des Künstlers gestellt werden 
müssen in Bezug auf das, was Gegenstand seiner Kunst werden 
soll: die Götter und die Abgeschiedenen. Der griechische 
Künstler kannte das Ernsthafte in seiner Kunst, und er, wie 
auch die Griechen im allgemeinen, wusste genau zu unter- 


15. — Beiträge zur Rel. Wiss. I, 2. 


226 Chronik 


scheiden zwischen der Gottheit selbst und ihrer Offenbarung 
im Bilde Sie fühlten sich als freie Wesen auch den Göttern 
gegenüber und krochen nicht vor ihnen wie die Orientalen vor 
ihren Göttern. Redner verweilte am längsten bei der Auffas- 
sung der griechischen Kunst von Zeus, Apollo und Athene im 
fünften und vierten Jahrh. v. Chr. nach dem politischen und 
kulturellen Aufschwung in Griechenland, der auf die Perser- 
kriege folgte, dehnte aber seine Untersuchungen aus auf die 
Zeit nach den Feldzügen Alexanders noch bis in die römische 
Kaiserzeit hinein. Mit Hülfe einiger 40 Skioptikonbilder ver- 
anschaulichte Redner die verschiedenartigen Einflüsse, die in 
markanter Weise in der Auffassung der griechischen Kunst von 
der Götterwelt zum Ausdruck gekommen sind und illustrierte 
seine Auslegung der Kunstwerke durch zahlreiche Zitate aus 
Pindaros und den grossen Tragikern. 

Pastor B. O. Aurelius referierte über das ins Schwedische 
übersetzte Buch von Exz. Adolf Harnack, betitelt: „Religiös tro 
och fri forskning,“ enthaltend ausgewählte Stücke von ‚Aus 
Wissenschaft und Leben.“ 


23. Nov. 


Der Präses hielt eine Gedächtnisrede auf Professor H. 
Winckler in Berlin. Ferner machte er die Mitteilung, dass er 
als zwölftes Mitglied des wissenschafllichen Ausschusses der 
Gesellschaft den Intendanten des Nordischen Museums Dr. N. 
Hammarstedt berufen habe, mit welcher‘ Berufung der Aus- 
schuss nunmehr vollzählig sei. 

Professor Dr. T. Segerstedt hielt einen Vortrag über .,die 
beiden Acvins in der vedischen Religion.” Nach einer erschöpfen- 
den Kritik der bisher vorgetragenen Erklärungen der ursprüng- 
lichen Bedeutung des Götterpaares (zwei vergötterte Heilige, 
Sonne und Mond, Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Morgen- 
und Abendstern u. s. w.) zeigte Redner, ausgehend von den in 
der Mythe beständig vorkommenden Vorstellungen von einem 
Wagen, gezogen von zwei Pferden, auf dem ‚die Tochter der 
Sonne“ dahinfuhr, dass man es hier teils mit einer ätiologischen 
Mythe aus der Zeit der beginnenden Anwendung des Pferdes 
durch die Arier sowohl als Zugtier als auch als milcherzeugen- 
des Haustier (die Milch wurde mit Honig gemischt zu Met, 
teils mit einer Reminiszenz von Sonnenkultus aus der frühen 
Epoche, wo noch die Sonne weiblich gedacht wurde, zu tun 
habe. Die Tochter der Sonne war die jeden Tag neugeborene 
Sonne. O. Montelius fügte eine Bemerkung ein über das erste 
Auftreten des Pferdes in wildem und zahmem Zustand. 

Der Präses machte Mitteilung von dem Beschluss der „könig- 
lichen Gesellschaft der Wissenschaften‘ in Göttingen, das grosse 


Chronik 227 


Sammelwerk „Quellen der Religionsgeschichte‘ herauszugeben. 
Präses referierle über die Prinzipien der neuen Textedition 
Prof. v. Sodens vom neuen Testament, deren eminenter Wert 
anerkannt wurde, dessen Auffassung von Tatians Einfluss auf 
die Textgestallung aber kritisiert wurde. Ferner wurde Lic. 
Wetters Abhandlung., Charis’ 1913 und Lic. Eidems Buch über 
„Pauli bildvärld‘ «siehe dieses Heft S. 212 ff referiert. 


16. Dez. 


Der Docent Dr. J. Lindblom hielt Vortrag über die sog. 
hermetischen Religionsspekulationen in den ersten drei Jahr- 
hunderten n. Chr. Redner meinte, man habe es in diesen Spe- 
kulationen mit einer Art allgemeiner, hellenistischer Philosophie 
zu tun, die weit verbreitet war, vor allem in Ägypten, und die 
von einer noch nicht hinreichend gewürdigten Bedeutung für 
das Verständnis der Ausbreitung des Christentums in der an- 
tiken Welt gewesen sei. Hr. J. Stadling referierte über V. M. 
lonovs in russischer Sprache erschienene Abhandlung über die 
Heiligkeit des Adlers bei den Jakuten. 


ll. Religionswissenschaftliche und religiöse Ver- 
haltnisse in Schweden I9I3. 


l. Eine theologische Professur in Lund und eine 
philosophische in Stockholm für Religions- 
geschichte. 


Im Jahre 1912 wurde eine Professur ‚der theologischen 
Pränotionen und der theologischen Encyklopadie™ in der theo- 
logischen Fakultät Lund errichtet. Zu den Pränotionen zählen 
Religionsgeschichte und Religionsphilosophie. 

Im Aug. 1912 beschloss die Fakultät in Lund, praliminare 
Massnahmen zu treffen, um als Inhaber der Professur den Do- 
centen in Lund Dr. T. Segerstedt zu berufen. Die Sachverstän- 
digen, Prof. Lehmann in Berlin. Prof Söderblom in Leipzig 
und Prof. Liljeqvist in Lund, erklärten ihn einstimmig und vor 
jedem anderen denkbaren schwedischen Bewerber für kompe- 
tent für das Amt. Als die Fakultät im Sept. ihresteils die Sache 
entscheiden sollte, war indessen die Majorität der Meinung, dass 
das Amt nicht durch Berufung sondern durch Bewerbung zu 
besetzen sei. Dies geschah auch. Im Nov. meldeten sich 
sowohl der Docent Segerstedt als auch der Docent Dr. E. 
Reuterskiöld als Bewerber. Zu Sachverständigen wurden die 


228 Chronik 


früheren nebst Professor Martin Person-Nilsson in Lund cer- 
nannt. 

Während der Zeit, die diese der Prüfung der Schriften und 
Meriten der Bewerber widmelen, wurde in der Presse ein hitziger 
Kampf ausgefochten betreffs der allgemeinen Kompetenz des 
Docenten Segerstedt, weil das schwedische Grundgesetz vor- 
schreibt, dass ein Professor der Theologie der reinen evange- 
lischen Lehre angehören soll, eine Qualifikation, die auf Grund 
dieser und jener Äusserung in seinen Schriften, die selbst als 
Gottesleugnung ausgelegt wurde, von ellichen Pressorganen be- 
stritten wurde, während seine allgemeine Kompelenz von anderen 
bejaht wurde. Die endgültige Entscheidung der Angelegenheit 
durch den König, die mit grosser Spannung erwarlet wurde 
und sogar in der ersten Kammer des Reichstages eine Prinzipien- 
debatte über die wissenschaftliche Lebrfreiheit verursachte, sollte 
indessen eine unvorhergesehene Wendung nehmen. Anfang Mai 
1913 wurde der Stockholmer Hochschule durch den Reichs- 
antiquar B. Salin, den Rabbiner G. Klein und den Konsistorialrat 
S.A. Fries von Privatpersonen eine Donation von 175,000 Kronen 
überreicht für die Gründung einer Professur in allgemeiner 
Religionsgeschichte in der philosophischen Fakultät an der 
Hochschule. Ende Mai wurde Segerstedt zum Inhaber derselben 
ernannt. Ungefähr gleichzeitig zog der Doc. Reuterskiöld seine 
Bewerbung für Lund zurück. 

Die theologische Fakullät in Lund war nun ganz ohne 
Aspiranten für die Professur. Die Fakultät beantragte und er- 
hielt im Sommer 1913 das Recht, von neuem einen kompetenten 
Mann für die Professur in Lund zu berufen. Ende August 
wurde der Vorschlag gemacht, zum Inhaber der Professur den 
Professor E. Lehmann in Berlin zu berufen, der auch in Sept. 
verordnet wurde, der Professur während des Herbsttermines 
1913 vorzustehen. Gegen diese Verordnung wurde bei der 
Königl. Regierung Einspruch erhoben von dem Reichstagsbiblio- 
thekar Lic. R. Höckert, welcher meinte, dass die Verordnung 
im Widerspruch stehe zu der Vorschrift des Grundgesetzes, dass 
Ausländer — Lehmann war nämlich dänischer Staatsangehöriger 
— nicht Inhaber theologischer Professorenämter sein dürften. 
Der Reichsjustizkanzler erklärte auch, dass der Universitäts- 
kanzler, welcher Lehmann für die Professur verordnet hatte, 
ungesetzlich verfahren sei. Dieser verteidigte seine Massnahme 
u. a. damit, dass das Grundgesetz nicht direkt von anderen als 
festen Inhabern spreche, nicht von provisorisch verordneten, 
eine Auffassung, die der König später im Dez. 1913 für richtig 
erklärt hat. 

Während diese Frörterungen stattfanden, war Lehmann 
indessen auf eigenen Antrag als schwedischer Untertan aufgenom- 


Chronik 229 


men worder, und nach befürwortenden Gutachten von den 
Professoren Söderblom, Liljekvist, Martin Person-Nilsson und 
Dr. Theol. S. A. Fries von Fakultät und Konsistorium in Lund 
berufen worden, worauf er im Dezember 1913 von dem König 
für die in Rede stehende Professur in Lund ernannt wurde. 


2. Professur in Dogmatik und Ethik in Lund. 


Für die durch den Tod des Dompropstes Pehr Eklund in 
1912 erledigte Professur in Dogmatik und Ethik an der Uni- 
versität Lund meldeten sich der Dr. Theol. und Phil. Bensow 
in Öster-Äker, der Docent Aulen in Uppsala und der l.egations- 
geistliche Lindskog in London als Bewerber. Die Sachver- 
ständigen, der Domprobst Pfannenstill, die Professoren N. J. 
Göransson und Rosenqvist (Finnland) und der Dr. Theol. Krarup 
(Dänemark) waren verschiedener Meinung über die Kompetenz 
wie auch die Rangordnung der Bewerber. Die gleiche Ungewiss- 
heit herrschte in der theologischen Fakultät zu Lund und im 
Konsistorium der Universität. Indess wurde der Legationsgcist- 
liche Lindskog obenan gestellt. Die beiden anderen legten 
Beschwerde ein. Der Universitätskanzler stellte sich auf Auléns 
Seite. Den 31. Dez. 1913 wurde dieser von dem König ernannt. 
Dieser Streit kann in gewissem Sinne als eine Kraftprobe 
angesehen werden zwischen lundensischer und upsaliensischer 
Theologie, die indessen beide modernen Typus tragen. 


3. Bibelübersetzung. 


Neujahr 1913 erschien die von der Königl. Bibelkommis- 
sion, hauptsächlich bestehend aus Bischuf J. Personne in Lin- 
köping, den Professoren E. Tegner in Lund und W. Rudin in 
Uppsala, ausgearbeitete Übersetzung des neuen Testaments, der 
Hauptsache nach auf dem sog. ägyplischen Text basiert. Die 
Übersetzung war zum voraus sanktioniert vom Kirchenconcilium 
1908 und von dem König. Nachdem die Übersetzung des alten 
Testaments — ausschliesslich auf dem masorelischen Text 
basiert — im Jahre 1900 erschienen und für den Gebrauch in 
Kirche und Schule im Jahre 1903 sanktioniert worden war, 
erübrigte nur noch die Übersetzung der apokryphischen Bücher. 
Der König hat im Jahre 1913 dem Konsistorialrat in Linköping 
Dr. B. Risberg und dem Docenten in Uppsala Dr. J. Lindblom 
den Auftrag erteilt eine Übersetzung der apokryphischen Bücher 
auszuarbeiten. 

In Schweden haben z. Z. vier offizielle Übersetzungen Gül- 
tigkeit: 

1) die sog. Bibel Karls XII vom Jahre 1703; 

2) die Übersetzung des neuen Testaments vom Jahre 1883; 


230 Chronik 


3) die Übersetzung des alten Testaments vom Jahre 1903; 
4) die Übersetzung des neuen Testaments vom Jahre 1912. 


4. Vorlesungen (ausserhalb der Universitäten). 


Während der sog. Sommerkurse in Stockholm im Juli 
1913 wurden sieben Vorlesungen gehalten über ‚Israel im 
Lichte archäologischer und ethnographischer Forschungen in 
Palästina“ von Dr. S. A. Fries und neun Vorlesungen über Aus- 
grabungen in Mesopotamien von dem Docenten Pr. D Myhr- 
man aus Uppsala. Beide Vortragsserien waren von mehreren 
hundert Zuhörern besucht. Die letztgenannten Vorträge sind 
im Druck erschienen unter dem Titel: „Entdeckungen in Baby- 
lonien und Assyrien“. Die erstgenannten Vorträge erscheinen 
im Druck im Frühjahr 1914. 

Professor Goldziher aus Budapest hielt in Uppsala im Sept. 
1913 auf Kosten der ,‚Olaus-Petri-Stiftung‘‘ cine Anzahl Vor- 
lesungen über den Islam. 

Professor Fritz Hommel hielt im Sept. einen Vortrag in 
Stockholm über den Ursprung des Alphabets. 

Professor Segerstedt hat während des Herbstes 1913 im 
Stockholmer Arbeiterinstitut regelmässige Vorträge gehalten über 
die Grundzüge der religiösen Entwicklung vor einer nach 
mehreren hundert Köpfen zählenden Zuhörerschar. 


5. Habilitationen. 


Lic. Eidem ist auf Grund seiner Arbeit über die Bilderwelt 
Pauli (verteidigt in Lund) zum Docenten an der theologischen 
Fakultät in Lund berufen. 

Lic. Wetter ist auf Grund seiner in deutscher Sprache 
herausgegebenen Abhandlung ‚Charis‘ (verteidigt in Uppsala: 
zum Docenten an der theologischen Fakultät in Uppsala berufen. 


6. Grössere wissenschaftliche Unternehmen. 


Der Dompropst Lundström in Uppsala und Prof. Holm- 
qvist in Lund planen ein gross angelegtes Werk über die Ge- 
schichte der schwedischen Kirche, das im Lauf der nächsten 
Jahre im Verlag der schwedischen Diakonieleitung in Stockholm 
erscheinen soll. 

Mit Beihülfe des schwedischen Reichstages, der Antiquitäts- 
akademie u. a. m. erscheint seit dem Jahre 1912 ,,Sveriges 
kyrkor“ (die Kirchen Schwedens) von Prof. Curman und Doc. 
Roosval. Es ist die Absicht, vollständige Beschreibungen anter 
archäologischem, kunsthistorischem und kirchengeschichtlichem 


Chronik 231 


Gesichtspunkt von sämtlichen Kirchen Schwedens herauszugeben 
mit Abbildungen der Aussen- und Innenansicht der Kirchen 
und der wichtigsten Inventarien derselben, ein Unternehmen, 
das die Arbeit von Jahrzehnten in Anspruch nehmen wird. 
Zwei Teile liegen schon fertig vor: 1 Erlinghundra in Uppland 
1912 und 2. Källand in Westergötland 1913. 


7. Pädagogisches. 


Im Jahre 1911 setzte der König ein sog. „Katechismus- 
Komitee“ ein zu dem Zweck, Lehrbuchentwürfe zum Unterricht 
in der Christenlehre in Schule und Kirche zu prüfen. Das 
Komitee, das aus dem Bischof Lindström in Wexiö, Prof. E. 
Billing in Uppsala, dem Hofprediger K. Leijonhufvud in Söder- 
telje, dem ehem. Kanzleirat I. Lyttkens u. a. m. zusammen- 
gesetzt war, hat 1913 eine kritische Prüfung von fünf Entwürfen 
von den eingesandten 32 Arbeiten abgegeben. 

Für die Volksschulen der Stadt Stockholm ist ein neuer 
Unterrichtsplan für den Religionsunterricht ausgearbeitet worden 
vom. Präses der Oberschulbehörde für die Volksschulen der 
Stadt Stockholm Dr. Theol. S. A. Fries, der den obligatorischen 
Religionsunterricht in den städtischen Volksschulen in histo- 
rischer Richtung umzuändern bezweckt. Der Lehrplan ist von 
der Oberschulbehörde angenommen. Ein derartiger Unterricht, 
aber fakultativ, ist in den städtischen Fach- und Fortbildungs- 
schulen, die unter der Leitung der Oberschulbehorde stehen, 
bereits eingeführt. 

Auf Antrag der Regierung hat der Reichstag des Jahres 
1913 neue Entwürfe für den Religionsunterricht der Volk- 
schulseminarien gutgeheissen. Nach dem neuen Lehrplan soll 
der Unterricht hauptsächlich in historischer Richtung be- 
trieben werden in moderner Bibelforschung, Kirchen-und Reli- 
sionsgeschichte und etwas Dogmatik im Zusammenhang mit dem 
historischen Lehrstoff. Sämtliche Domkapitel des Reiches bis auf 
zwei (Uppsala und Wisby) haben diesen Lehrplan befürwortet. 


8. Staat und Kirche. 


Ein Antrag im Reichstage 1913 wegen allgemeiner Aner- 
kennung der sog. Laientaufe, wonach nicht nur die Taufe der 
Staatskirche und der staatlich anerkannten Sekten nicht alleinige 
gesetzliche Gültigkeit haben sollte, sondern auch die von jeder 
beliebigen Person vollzogene Taufe, wurde mit grosser Majorität 
von beiden Kammern abgelehnt. Im Reichstag des Jahres 1912 
hatte ungefähr der gleiche Antrag eine Majorität in der zweiten 
Kammer und eine starke Minoritat in der ersten gesammelt. 
Der Umschlag dürfte durch die Energie zu erklären sein, mit 


232 Chronik 


der die Verteidiger der Staatskirche seit der allgemeinen Geist- 
lichenkonferenz in Stockholm Sept. 1912 die öffentliche Meinung 
zu beeinflussen gewusst haben. 

Ein Antrag auf Regelung einer legalen Zusammenarbeit 
zwischen den Freikirchen und der Staatskirche wurde vom 
Reichstag abgelehnt. 

Ein Antrag auf Aufhebung der Vorschrift des Grund- 
gesetzes, wonach die Staatsräte an die reine evangelische Lehre 
gebunden sind, wurde vom Reichstag abgelehnt. 

Die Christian Science ist vom König 1913 für berechtigt 
erklärt worden, eine vom Staate anerkannte Sekte in Schweden 
zu bilden. Das Domkapitel in Stockholm hatte dieses Gesuch 
abgelehnt, aber das Oberstatthalteramt in Stockholm hatte dasselbe 
befürwortet. 

Gegen den Antrag, die Behandlung der kirchlichen Ange- 
legenheiten vor dem König dem Justizdepartement zu übertragen 
anstatt wie bisher zusammen init den Fragen des höheren und 
niedrigeren Unterrichts dem Ecclesiastikdepartement zu belassen, 
sind von Seiten der Geistlichkeit energische Proteste .eingelegt 
worden mit dem Hinweis auf das Herabsetzende und Nach- 
teilige für die Wirksamkeit der Kirche bei einer solchen Regelung. 
Der Antrag ist noch nicht der Entscheidung der Staatsbehörden 
unterbreitet worden. 


9. Religiöse Versammlungen. 


Der Sommer ist in Schweden die Zeit der religiösen Ver- 
samlungen. Die Anzahl derselben hat in den letzten Jahren 
ganz bedeutend zugenommen. Die meisten widmen sich der 
Mission, andere praktisch-kirchlichen oder erbaulichen Zwecken. 
Eine Versammlung sollte das Inleresse für Kirchenmusik beleben. 
Die grösste scheint die Stiftsversammlung in Lund gewesen zu 
sein mit etwa 500 Teilnehmern, Geistlichen und Laien. Eine 
Versammlung mit rein wissenschaftlichen Aufgaben ist in diesem 
Jahre nicht in Schweden abgehalten worden. Von den im 
Kirchengeselz vorgeschriebenen Geistlichenversammlungen ist 
eine in Wisby abgehalten worden, die das Problem ,,Staat und 
Kirche’ behandelte. 

In letzterer Versammlung, wie gleichfalls in der Konferenz 
des allgemeinen Geistlichenvereins in Gäfle im August haben 
ein Pastor der lutherischen Kirche in Frankreich Henri Bach 
und der Inspektor der französischen-lutherischen Kirche J. Meyer 
(beide in Paris) einen näheren Zusammenschluss ihrer Kirche 
und der schwedischen Staatskirche angeregt, wobei u. a. die 
Bischofsinstitution in der lutherischen Kirche in Frankreich 
eventuell eingeführt werden soll. 


Chronik 233 


An der Einweihung der englischen Legationskirche in Stock- 
holm im September beteiligten sich am Weiheakt ausser dem 
englischen Lordbischof von London der Erzbischof von Schwe- 
den und Bischof Lönegren aus Hernösand nebst den Mitgliedern 
der Domkapitel in Uppsala und Stockholm. Das Ereignis muss 
im Lichte der Bestrebungen der letzten Jahre gesehen werden, 
die Staatskirchen Schwedens und Englands einander näherzu- 
hringen. 

Zwei internationale Kongresse, der eine der der Theosophen 
auf Wisingso im Wettersee um Johanni, der andere der der 
Baptisten im Juli in Stockholm, haben grössere Aufmerksamkeit 
erregt. Der erstere Kongress hat bei der Bevölkerung auf 
Wisingö und in den umliegenden Gegenden grosses Ärgernis 
erregt auf Grund einiger Massnahmen, die als herausfordernd 
angesehen wurden, und durch die Absicht Katherine Tingleys, 
eine Raja-Yoga-Schule nach dem Muster der Schule auf Point 
Loma (Kalifornien) auf der schönen und historisch denkwürdigen 
Insel zu gründen. Die Bevölkerung und die religiöse Presse 
haben einstimmig gegen die Einführung ‚des neuen Heiden- 
tumes“ protestiert. Auch ein allgemeines kulturelles Interesse 
hat mit Hilfe der Presse kräfligen Widerstand geleistet gegen 
die theosophische Bewegung, deren Unterrichtsprinzipien auch 
in der Pädagogischen Gesellschaft in Stockholm kritisiert worden 
sind. 


10. Personalien. 


Der Bischof des Stiftes Kalmar Dr. Theol. und Jur. H. W. 
Tottie verschied den 11 Juni 1913. Am gleichen Tage verschied 
auch der Dompropst in Kalmar Dr. Theol. und Phil. C. A. A. 
von Engeström. Laut einem schon früher von König und 
Reichstag gefassten Beschluss soll das Stift Kalmar. das seit 
dem Jahre 1603 bestanden hat, nunmehr mit dem Stift Wexiö 
unter demselbem Bischof vereinigt werden. Bischof Tottie 
hatte sich auf dem Gebiete der Wissenschaft als Missions- 
theoretiker und kirchenrechtlicher Verfasser und als Förderer 
einer Annäherung zwischen den episkopalen Staatskirchen Schwe- 
dens und Englands einen Ruf erworben. Der Dompropst von 
Engeström war einer der Ersten, der durch seine Arbeit aus 
dem Jahre 1876 „Om judarne i Rom under äldre tider och 
deras katakomber“, den Aufenthalt der Juden im antiken Rom 
zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung machte. 

Am 30. Nov. verschied der Erzbischof von Schweden Dr. 
Theol. und Phil. Johan August Ekman in einem Alter von 68 
Jahren. Er war ein Anhänger der Theologie J. T. Becks und 
von Hofmanns in der Form, wie sein Lehrer der verstorbene 
Professor Myrberg sie in Schweden eingeführt hat. In den 


234 Chronik 


Jahren 1887—1899 war Ekman Professor in Uppsala. kr 
wirkte besonders eifrig für die Einführung der Religions- 
geschichte als Studiengegenstand für die Theologen. Zum Erz- 
bischof wurde er im Jahre 1900 ernannt. Die neue Erzbischofs- 
wahl ist für den 18. März 1914 in Aussicht genommen. An 
der Wahl sind die Geistlichen des Stiftes Uppsala, die akade- 
mische Gemeinde der Universität Uppsala und die sämtlichen 
Domkapitel des Reiches beteiligt, zusammen 15 Korporationen. 
Der König ernennt einen von den Dreien, die auf die end- 
sütlige Vorschlagsliste kommen. 


Mitglieder der Gesellschaft. 


Die mit * bezeichneten sind beständige Mitglieder der Gesellschaft, die 
mit f bezeichneten sind vom wissenschaftlichen Ausschuss eingeladene 
Mitarbeiter der "Beiträge". Die Ehrenmitglieder der Gesellschaft sind im 
ersten Heft verzeichnet. 


Ahlberg, A., Oberschulrat, Mitglied des wissenschaftlichen 
Ausschusses der Gesellschaft, Stockholm. 

Ahlström, Anna, Schulvorsteherin, Stockholm. 

Algärd, N., Pastor, Stockholm. 

Almgren, O., Professor, Uppsala. 

Andersson, Sofia, Seminarvorsteherin, Stockholm. 

Ankar, G., Pastor, Stockholm. 

Arne, T. J:son, Antiquar, Stockholm. 

Aurelius, B. O., Pastor, Stockholm. 

TAurelius, E., Professor, Lund. 

Beijer, P., Erster Bibliothekar a. D., Stockholm. 

Bergius, C. Y., Pastor, Stockholm. 

Bergman, J., Lektor, Stockholm. 

Bergquist, B. J:son, Oberdirektor, Stockholm. 

Bergquist, J., Arzt, Stockholm. 

Bergstrém, L., Lektor, Uppsala. 

Bjorklund, Sigrid, Lehrerin, Stockholm. 

Bokander, G., Pastor, Stockholm. 

Boman, Anne Sophie, Fraulein, Stockholm. 

Bratt, A., Seminarlehrer. Schriftfürer und Kassierer der 
Gesellschaft und des wissenschaftlichen Aus- 
schusses, Mitglied des Vorstands, Stockholm. 

Bratt, Hanna, Lehrerin, Stockholm. 

Breitholz, T., Pastor, Stockholm. 

Broman, Elsa, Amanuens, Stockholm. 

Broms, Anna, Frau, Stockholm. 

Brusewitz, Maria, Lehrerin, Stockholm. 

Carr, A., Verfasser, Stockholm. 

Cederblom, Gerda, Amanuens, Stockholm. 

Cederström, Matilda, Lehrerin, Stockholm. 


236 Mitglieder der Gesellschaft 


Corneliusson, E., Pastor, Stockholm. 

Dahl, C., Amanuens, Stockholm. 

Danell, G., Rektor, Stockholm. 

Didring, A., Stockholm. 

Didring, W., Kaufmann, Stockholm. 

Ditzinger, Fanny, Frau, Stockholm. 

Djurberg, Hanna, Vorsteherin am Königl. Höheren Lehrerinnenseminar, 
Stockholm. 

Edborg, Ingrid, Lehrerin, Stockholm. 

Edling, E. G., Lektor, Stockholm. 

Ekberg, E. V., Piarrer, Biskopskulla. 

Ekelund, C. T., Pfarrer, Karlskoga. 

Ekman, E. J., Missionsdirektor a. D., Stockholm. 

Ernberg, J., Regierungsrat, Stockholm. 

Fant, Fr., Rektor, Södertälje. 

Fehr, Annie, Frau, Stockholm. 

Fischier, P. E. M., Rektor, Stockholm. 

Fock, Malin, Fräulein, Stockholm. 

°Fries, Anna, Frau, Stockholm. 

*Fries, S. A., Konsistorialrat, Präses der Gesellschaft und des 
Vorstands zugleich erster Vorsitzender des wis- 
senschaftlichen Ausschusses, Stockholm. 

Frölen, H., Oberlehrer, Stockholm. 

Fulton, Magnhild, Lehrerin, Stockholm. 

Fahraus, G. R., Oberschulrat, Stockholm. 

Gyllencreutz, Sigrid, Fräulein, Stockholm. 

Göransson, N. J., Professor, Mitglied des wissenschaftlichen 
Ausschusses der Gesellschaft, Uppsala. 

Hagberg, Louise, Amanuens, Stockholm. 

Hagelin, A., Civilingenieur, Stockholm. 

Hallberg, H. E., Hofprediger, Konsistorialrat, Stockhotm. 

Hallen, G., Pastor, Reichstagsabgeordneter, Torrskog. 

Hallendorff, C., Professor, Stockholm. 

Hammarstedt, N. E., Intendent, Mitglied des wissenschaft- 
lichen Ausschusses der Gesellschaft, Stockholm. 

Hartman, C. V., Professor, Stockholm. 

Hazelius, Maria, Frau, Stockholm. 

Hedén, E., Redakteur, Stockholm. 

Hedenborg, L., Bergvik. 

Hellerström, A., Pastor, Oberlehrer, Stockholm. 

Herlin, Mürta, Lehrerin, Stockholm. 

tHerner, S., Professor, Lund. 

Hesselgren, Kerstin, Inspectrice des Gesundheitsamtes in Stockholm, Stock- 
holm. 


Mitglieder der Gesellschaft 237 


Hofsten, G., Kaufmann, Stockholm. 

Holm, J. M., Lektor, Stockholm. 

Holm, N., Oberlehrer, Stockholm. 

Héckert, R., Amanuens, Stockholm. 

Hök, A., Gutsbesitzer, Stockholm. 

Hök, Augusta, Frau, Stockholm. 

Janse, O., Antiquar, Stockholm. 

Jonsson, A., Kaufmann, Stockholm. 

Josephsson, O., Rektor, Stockholm. 

Kempff, H., Lektor a. D., Stockholm. 

Klefbeck, E., Pastor, Reichstagsabgeordneter, Stockholm. 

Klein, G., Oberrabbiner, Professor, Mitglied des wissenschaft- 
lichen Ausschusses der Gesellschaft, Djursholm. 

Kristoffersson, E., Handwerker, Stockholm. 

Kuxvlenstjerna, O., Hauptmann, Stockholm, 

Lagerkranz, J. L., Pastor, Stockholm. 

Lauritzen, Dagmar, Lehrerin, Stockholm. 

Lewenhaupt, Elin, Gräfin, Carlsberg, Västeräs. 

Levin, H., Lektor, Stockholm. 

Liljecrantz, Mdrta, Freiherrin, Stockholm. 

Lindberg, O. E., Professor, Mitglied des wissenschaftlichen 
Ausschusses der Gesellschaft, Göteborg. 

Lindblom, A., Rektor, Stockholm. 

Lindblom, A., Amanuens, Stockholm. 

tLindblom, J., Docent, Uppsala. 

Lindbohm, L. R., Sekretär a. D. der Königl. Arméeverwaltung, Djursholm. 

Lindh, A., Pastor, Stockholm. 

Lindholm, Hj., Pfarrer, Stockholm. 

Linné, Karin, Schulvorsteherin. 

Liungner, H., Oberlehrer, Stockholm. 

Lychou, Anna, Fräulein, Stockholm. 

Lychou, Eva, Fräulein, Stockholm. 

Mannström, O., Redakteur, Lidingön. 

Marklund, H., Pastor, Skellefteä. 

Matthes, J., Pastor, Stockholm. 

Milow, Cecilia, Fräulein, Stockholm. 

Molin, O. E., Pastor, Stockholm. 

Montan, G., Pastor, Stockholm. 

Munck af Rosenskiöld, Clara, Fräulein, Stockholm. 

Myhrman, D., Docent, Uppsala. 

Norberg, G., Oberlehrer, Stockholm. 

Nordblad, K., Rektor, Stockholm. 

Nordgren, Eva, Fräulein, Stockholin. 

Nyström, Vendla, Lehrerin, Stockholm. 


238 Mitglieder der Gesellschaft 


Odencrantz, G., Kronvogt, Vimmerby. 

Perseus, E., Stockholm. 

tPersson-Nilsson, M., Professor, Lund. 

Pfannenstill, G. M., Dompropst und Professor. Mitglied des wissen 
schaftlichen Ausschusses der Gesellschaft, Lund. 

Prawitz, Alma, Frau, Stockholm. 

Prawitz, J., Rektor, Stockholm. 

*Reuterskiöld, E., Docent, Uppsala. 

Ring, E., Pastor, Stockholm. 

Risberg, B., Lektor, Linköping. 

Roos, Anna Maria, Verfasserin, Stockholm. 

Roosval, J., Docent, Stockholm. 

Rosen, Ingegerd, Fräulein, Stockholm. 

Rosen, Helen, Frau, Stockholm. 

Rosenberg, Lilly, Lehrerin, Stockholm. 

Rydberg, Lina, Lehrerin, Stockholm. 

Salin, K. B., Reichsantiquar, Zweiter Vorsitzender des wis 
senschaftlichen Ausschusses der Gesellschaft, 
Stockholm. 

Sandberg, O. T., Musikdirektor, Stockholm. 

Santesson, C. G., Professor, Stockholin. 

v. Schéele, F., Professor, Erster Inspektor der Volksschulen in Stockholm. 

Schlachter, W., Oberlehrer, Stockholm. 

Schnittger, B., Docent, Stockholm. 

‘Schröderheim, Anna, Fräulein, Stockholm. 

Segerstedt, T., Professor, Mitglied des wissenschaftlichen 
Ausschusses der Gesellschaft, Djursholm. 

Selander, N., Oberst a. D., Stockholm. 

Silfversvärd, E., Revisor, Stockholm. 

Skarin, Elisabeth, Schulvorsteherin, Stockholm. 

Skoglund, Alexandra, Lehrerin, Stockholm. 

Sonden, Anna, Lehrerin, Stockholm. 

Sparre, Signe, Gräfin, Stockholm. 

Stade, F. S., Pfarrer, Öfver-Selö. 

Stadling, J., Schriftsteller, Stockholm. 

Stenberg, Hj., Pastor, Stockholm. 

Sterzel, G. F., Konsistorialrat, Stockholm. 

Strandell, K. E. A., Konsistorialrat, Stockholm. 

Stridsberg, G., Redakteur, Stockholm. 

Stridsberg, Laura, Amanuens, Stockholm. 

Stridsberg, Maria, Frau, Stockholm. 

*Strömman, G., Kaufmann, Göteborg. 

Svensen, E., Schriftsteller, Stockholm. 

" Söderberg, E., Oberlehrer, Stockholm. 


Mitglieder der Gesellschaft 239 


Sörensen, Anna, Seminarlehrerin, Stockholm. 
*Tamm, Elisabet, Fräulein, Äs. 

Terserus, Ellen, Lehrerin, Stockholm. 

Theel, Elisif, Frau, Stockholm. 

Thomæus, Andrea, Lehrerin, Stockholm. 

Thordeman, J. V., Probst, Spånga. 

Toll, H., Arzt, Stockholm. 

Torstenson, Emilia, Lehrerin, Stockholm. 

Trapp, Hilda, Lehrerin, Stockholm. 

Törnell, E., Kanzleisekretär, Stockholm. 

Törnell, Gertrud, Frau, Stockholm. 

Wahlström, Clara, Fräulein, Stockholm. 

Wahlström, Lydia, Mitglied des Vorstands und des wissen- 
schaftlichen Ausschusses der Gesellschaft, Stock- 
holm. 

Wall, A., Oberregierungsrat, Djursholm. 

Wall, G., Pastor, Äs. 

Wall, Kerstin, Fräulein, Djursholm. 

TWalles, J., Lektor, Hudiksvall. 

Warburg, K., Professor, Stockholm. 

Westman, K. B., Docent, Uppsala. 

Wetter, G. P:son, Docent, Uppsala. 

Wibelius, O., Schriftführer des Vorstands der Volkschulen in Stockholm. 

Wide, S., Professor, Mitglied des wissenschaftlichen 
Ausschusses der Gesellschaft, Uppsala. 

Widmark, Maria, Fräulein, Stockholm. 

1Wiklund, K. D., Professor, Uppsala. 

Wern, Greta, Frau, Stockholm. 

Wern, L. M., Lektor a. D., Stockholm. 

Ahfeldt, C., Lektor, Hofprediger, Stockholm. 

Akerberg, Anna, Lehrerin, Stockholm. 


Inhalt. 


Beite. 
Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam. 


Vortrag, gehalten in der Festversammlung am Fehr-Rydberg-Tage, 
21. September 1913, von Ignaz Goldziher, Budapest ............ 115 


Jahvetempel ausserhalb Paldstinas. Vortrag, gehalten auf 
dein religionsbistorischen Kongresse in Leiden 1912 von S. A. 
Fiies, Stockhon ses ee 143 


‚Ich bin das Licht der Welt“ Eine Studie zur Formelsprache 
des Johannesevangeliums von Gillis P:son Wetter, Uppsala ... 166 


Literatur: 
E. Reuterskiold, De nordiska lapparnas religion. Von E. Reuter- 


PISTOL, Sekte een ea 202 
J. Stadling, Shamanismen i Norra Asien. Von Torgny Seger- 
REBEL a E AE 209 


Erling kidem, Pauli bildvärld [= Die Bilderwelt des Paulus]. 
bidrag till belysande af apostelns omgifning, uttryckssätt och 


skaplynne. Von Erling Eidem iaaea 212 
Chronik. 
I. Sitzungen der Gesellschaft ...00000.0 ccc ccc ccc eee cece een eas 223 
Il. Religionswissenschaftliche und religiöse Verhältnisse in 
Schweden Io N at ee 227 


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BEITRÄGE 


ZUR 


RELIGIONSWISSENSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN VON DER 


RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT 
IN STOCKHOLM 


ERSTER JAHRGANG 


INHALT: 
SÖDERBLOM: Natürliche Theologié und Allgemeine 
Religionsgeschichte 


GOLDZIHER: Katholische Tendenz und Partikularısmus 
im Islam ` 


FRIES: Jahvetempel ausserhalb Palästinas 
WETTER: ‚Ich bin das Licht der Welt“ 


Literatur — Chronik — Mitgliederverzeichnis | 
i 
ALBERT BONNIER J. C. HINRICHS’scHE 


ck BUCHHANDLUNG 
F 1914 LEIPZIG 


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Beiträge zur Religionswissenschaft 


herausgegeben von der 


Religionswissenschaftlichen Gesellschaft 
in Stockholm. 


»Der Zweck dieser Publikation ist nicht mit bereits 
vorhandenen Zeitschriften ähnlicher Art zu konkurrieren, 
sondern sie ist vielmehr als eine Jahrespublikation der Gesell- 
schaft anzusehen, die entweder in einem Bande oder in zwei 
oder drei Heften von wechselndem Umfang ohne Post- 
abonnement erscheinen soll. Es ist nämlich. für die schwe- 
dische Religionswissenschaft ein immer dringenderes Be- 
dürfnis geworden zur internationalen Religionswissenschaft 
ihre Beiträge in so zu sagen gesammelter Form zu liefern. 
Dieser Weg schien der Gesellschaft sowohl aus wissenschaft- 
lichem als auch aus patriotischem Gesichtspunkt, als der 
beste. Demnach werden nur schwedische Verfasser an dieser 
Publikation mitwirken. Ausnahmen hiervon werden indessen 
gemacht für ausländische Ehrenmitglieder und für solche 
Vorträge in der Gesellschaft, die auf ihren Wunsch von aus- 
ländischen Wissenschaftsmännern gehalten werden, wie auch 
für eventuelle Repliken. 

In die Publikation werden neben den rein wissenschaft- 
lichen Abhandlungen, die den Hauptinhalt bilden, kurze 
zusammenfassende Referate von den bedeutendsten religions- 
wissenschaftlichen Publikationen in schwedischer Sprache, 
wie auch kürzere Notizen über die eigene Tätigkeit der 
Gesellschaft und die wichtigsten Daten und Ereignisse auf 
dem Gebiet der Religionsentwicklung hier zu Lande auf- 
genommen werden. Die letztere Aufgabe hat sich als 
notwendig erwiesen, da die Kenntnis der schwedischen 
Leistungen besonders auf dem religionswissenschaftlichen 
Gebiete wenig bekannt zu sein scheint. > 


(Auszug aus dem Vorwort.) 


Im Verlag der J. C. Hinrichs’schen Buchhandlung in 
Leipzig erschienen soeben: 


HANDBUCH DER ALTORIENTALISCHEN GEISTESKULTUR. 
Von Alfr. Jeremias. (XVI, 366 S. Mit 215 Abbildungen 
u. 2 Sternkarten.) M.10.—, geb. M. 11.20. 


Eine zusammenhängende Darstellung der altorientalischen Geistes- 
kultur auf Grund der Quellen ist von Gegnern wie von Freunden des 
Babylonismus dringend verlangt worden. 


DIE BIBLISCHE UND DIE BABYLONISCHE GOTTESIDEE. 
Die israelitische Gottesauffassung im Lichte der alt- 
orientalischen Religionsgeschichte. Von Joh. Hehn. 
(XII, 436S. Mit 11 Abbildungen.) M.9.—, geb. M. 10.— 


DAS POPOL WUH, die mythische Geschichte des Kice- 
Volkes von Guatemala nach dem Original-Texte über- 
setzt u. bearb. von N. E. Pohorilles. (XVI, 123 S.) M. 5.26. 


Einleitung dazu von Wolfg. Schultz. (116 S.) M. 4.50. 


Im Jahre 1912 erschienen : 


DER CAIVA SIDDHANTA, eine Mystik Indiens. Nach den 
famulischen Quellen bearbeitet von H. W. Schomerus. 
(XI, 444 S.) M.12.—, geb. M. 13.— 


Junod, Henri A.: SIDSCHI. Kultur, Christentum und das 
Problem der schwarzen Rasse. Deutsch von Georg 
Buttler. Bevorwortet von C. v. Orelli. (IV, 276 S.) 
M. 3.50, geb. M. 5.— 


— THE LIFE OF A SOUTH AFRICAN TRIBE. I. The Social 
Life. (500 S.) II. The Psychic Life. (574 S.) Geb. M. 30.— 


Gemeinsam mit Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen in den 
im Auftrage der religionsgeschichtlichen Kommission bei der König- 
lichen Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen herausgegebenen 


QUELLEN DER RELIGIONSGESCHICHTE: 
DIGHANIKAYA. Das Buch der langen Texte des buddhisti- 


schen Kanons. Von R. Otto Franke. M.14.—, geb. 
M. 15.20. 


LIEDER DES RGVEDA. Von A. Hillebrandt. M.5.—, geb. 
M. 6.20. 


Ausführlicher Prospekt mit genauer Inhaltsangabe steht kostenfrei 
zur Verfügung. 


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Druck von August Pries in Leipzig. 


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