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Full text of "Beiträge zur Aesthetik der bildenden Künste"

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AUGUST  SCHMARSOW 

BEITRÄGE  ZÜR  AESTHETIK  DER  BILDENDEN  KÜNSTE 
in. 


PLASTIK  MALEREI 

UND 

RELIEFKUNST 

IN  IHREM  GEGENSEITIGEN  VERHÄLTNIS 

UNTERSUCHT 
VON 

AUGUST  SCHMARSOW 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  S.  HIRZEL 
1899. 


Ulrich  Middeldorf 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2014 


https://archive.org/details/beitragezuraesth03schm 


AUGUST  SCHMARSOW 

BEITRÄGE  ZÜR  AESTHETIK  DER  BILDENDEN  KÜNSTE 

in. 


PLASTIK  MALEREI 

UND 

RELIEFKUNST 

IN  IHREM  GEGENSEITIGEN  VERHÄLTNIS 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  S.  HIRZEL 
1899. 


PLASTIK  MALEREI 

UND 

RELIEFKUNST 

IN  IHREM  GEGENSEITIGEN  VERHÄLTNIS 

UNTERSUCHT 
VON 

AUGUST  SCHMARSOW 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  S.  HIRZEL 
1899. 


Das  Recht  der  Übersetzung  ist  vorbehalten 


TO  GFTTY  CLNTER 


Auf  die  ,, Frage  nach  dem  Malerische?i" ,  die 
hauptsächlich  durch  Max  Klingers  Versuch,  Malerei 
und  Zeichnung  als  zwei  verschiedene  selbständig 
nebeneinander  bestehende  Künste  zu  erweisen,  ver- 
anlasst war,  und  auf  die  Auseinandersetzung  über 
das  Malerische  in  der  Architektur ,  die  dem  Be- 
streben fakob  Burckhardts  und  Heinrich  Wölfflins 
galt ,  den  Charakter  des  Barockstils  als  eine  Ten- 
denz zum  Malerischen  zu  erklären,  folgt  hier  eine 
letzte  -kritische  Abhandlung ,  die  noch  dazu  gehört. 
Sie  sticht  das  Wesen  der  Plastik  im  Unterschied 
von  dem  der  Malerei ,  sowie  von  dem  Übergangs- 
gebiet der  Reliefkunst  zu  fassen  und  vor  der  Ver- 
ivechslung  unter  einem  gemeinsamen  ,,Problem  der 
Form  in  der  bildenden  Kunst<(  zu  wahren,  wie  es 
Adolf  Hildebrand  unter  eben  diesem  Titel  verfolgt. 

Das  Ringen  mit  den  künstlerischen  Ansichten 
eines  Bildhauers  auf  seinem  eigenen  Gebiete  hat 
die  gewissenhafte  Erörterung  seiner  Worte  und 
einen  möglichst  engen  Anschluss  an  seine  Atis- 
drucksweise  erfordert.  Wer  Eigenes  in  eigner  Form 
zu  bieten  weiss,  versteht  auch  die  geduldige  Ent- 


VI 


sagung  zu  schätzen,  die  darin  liegt,  sich  dem  Ge- 
dankengang eines  Andern  anzuschmiegen  tind  auf 
alles  Übrige  zu  verzichten.  Aber  diese  bescheidnere 
Aufgabe,  fast  nur  einen  Kommentar  zu  der  kleinen 
Schrift  zu  liefern,  —  von  der  selbst  sachkundige 
Gelehrte  gemeint  haben,  sie  müsse,  wenn  sie  wirken 
solle,  ganz  und  gar  umgeschrieben  werden,  —  habe 
ich  mich  diesmal  um  so  weniger  verdriessen  lassen, 
als  in  solcher  Feuerprobe  vielleicht  am  zwingendsten 
die  Haltbarkeit  der  eignen  Überzeugung  erhärtet 
wird.  Eine  zwanzigjährige  Lehrtätigkeit  hat  mir 
nicht  allein  das  Bedürfnis  solcher  Klärung  der  Be- 
griffe, sondern  auch  die  Fruchtbarkeit  der  hier  ver- 
fochtenen  so  mannichfach  bewährt,  dass  die  Mei- 
nungen der  Recensenten  bisher  nicht  vermocht 
haben,  mich  auch  nur  einen  Augenblick  daran  irre 
zu  machen. 

Nur  gegen  ein  beliebtes  Misverständnis  möchte 
ich  von  vornherein  noch  ausdrücklich  Verwahrung 
einlegen:  es  soll  im  Folgenden  nirgends  eine  histo- 
rische Konstruktion  versucht  werden,  so  sehr  den 
geschichtlichen  Tatsachen  überall  Rechnung  ge- 
tragen werden  musste.  Im  Gegenteil,  die  psycho- 
logische Bedeutsamkeit  der  Erscheinungen  wird  be- 
vorzugt, kerne  andre  Rücksicht,  wie  etwa  Stil,  Mo- 
numentalität, Archaismus  eher  zugelassen;  denn  nur 
so  war  ein  Ergebnis  möglich ,  das  für  alle  Perioden 
der  Kunstentwicklung  verwertbar  bleiben  muss. 


Schmarsow. 


INHALT 


Seite 

Einleitung :  Kritische  Vorbemerkungen     .    .     .    .        i  —  15 

I.  Malerei  und  Plastik   16—56 

E[.  Mimik  und  Plastik   57 —  79 

Thonbildnerei  und  Steinskulptur. 

III.  Isolierte  Rundplastik  80 — 117 

Unter  freiem  Himmel  oder  im  geschlossenen  Innen- 
raum. 

IV.  Die  plastische  Gruppe   118  — 141 

V.  Relief-Anschauung   142  —  165 

VI.  Die  Relief kunst   166  —  187 

VII.  Reliefanschauung  und  Dekoration     ....  188 — 217 

Schlussbetrachtung:  Das  Reich  der  Kunst     .     .     .  218 — 232 


DRUCKFEHLER  UND  VERBESSERUNGEN 


27 
38 
39 
42 

57 

76 


BAND  I 

10:  bleibt  lies  bleibt  für  die  Plastik 

9 :  um  ist  zu  streichen 
25  :  seiner  lies  ihrer 

3  :  das  den  Schatten  lies  der  .  .  . 
1 4 :  Ausdruck  lies  Austrag 
14/15  :  nicht  lies  Töne 
Töne  lies  nicht 
16:  Sie  lies  Die  Farbe 


BAND  II 

64     ,,     I  :  Zeichenreich  lies  Zwischenreich 
138     ,,     4  :  wenigstens  lies  wenigsten 
146     ,,   12:  Pilasterstellung  lies  Säulenstellung 
170     ,,     1  :  sind  7  Zeilen  auf  S.  171  geraten  und  hierher 
zu  nehmen 

196     ,,   12:  veränderten  lies  verändernden 


BAND  III 


2 

17: 

war ;  lies  war : 

10 

„  26: 

so  wie  lies  sowie 

1 1 

,1  9: 

sein  lies  ihr 

66 

„  20: 

Raumvolumnen  lies  Raumvolumen 

95 

Anm.  1 

Z.  5  :  ausgestattet  lies  ausgestaltet 

99    Z.     6  :  streng  lies  scharf 
174     ,,  20:  in  dem  lies  indem 

211     ,,     7  f. :  weiteren  Recessen  lies  weitere  Recesse 


EINLEITUNG 


KRITISCHE  VORBEMERKUNGEN 

eine  Kunst  ist  dem  modernen  Menschen  so  ent- 
fremdet wie  die  Plastik.  Selbst  der  Versuch 
eines  hochbegabten  Bildners,  wie  Adolf  Hilde- 
brand, uns  ,,das  Problem  der  Form  in  der  bildenden 
Kunst"  wieder  nahe  zu  bringen1),  bezeugt  nicht  allein 
in  wolbegründeten  Klagen  und  in  der  Motivierung 
seiner  Schriftstellerei,  welcher  Mangel  an  natürlichem 
Verständnis  für  die  Plastik  schon  bei  uns  eingerissen, 
sondern  er  bestätigt  es  unbewusst  auch  durch  den 
Weg,  den  er  selbst  zu  deren  Betrachtung  einschlägt, 
und  durch  die  Folgerungen,  zu  denen  er  im  Verlauf 
dieses  Weges  gedrängt  wird. 

Was  er  beklagt,  ist  bezeichnenderweise  vor 
allem  Eins:  „unter  Plastik  denkt  sich  der  moderne 
Mensch  nur  noch  runde  Figuren,  die  in  der  Mitte 
eines  Platzes  stehen." 


i)  Strassburg  1893,  2.  Auflage  1897. 
Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Reliefkunst. 


2 


Einleitung 


Der  Ausgangspunkt,  den  er  selber  wählt,  liegt 
nicht  auf  dem  Boden  der  reinen  Plastik,  den  man 
beim  Bildhauer  zuerst  voraussetzt,  sondern  auf  dem 
Übergangsgebiet,  der  Reliefkunst,  ja  —  eigentlich 
ganz  auf  dem  Boden  der  Malerei. 

Sei  es  nun,  dass  dieser  Weg  aus  Rücksicht  auf 
den  modernen  Menschen  und  sein  viel  näheres  Ver- 
hältnis zur  malerischen  Anschauung  bevorzugt  wird, 
weil  von  hier  aus  am  ehesten  eine  Verständigung 
erreichbar  scheint;  sei  es,  dass  eben  diese  Auf- 
fassungsweise auch  dem  modernen  Bildner  selbst 
schon  so  sehr  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen 
ist,  weil  auch  er,  ein  Kind  seiner  Zeit,  sich  der  all- 
gemeinen Verschiebung  des  Verhältnisses  zu  den 
einzelnen  Künsten,  die  einen  psychologischen  Grund 
und  eine  geschichtliche  Ursache  haben  muss,  nicht 
zu  entziehen  imstande  war;  —  genug,  diese  Tatsache 
verbindet  sich  mit  der  erstgenannten  zu  einem  Selbst- 
zeugnis, das  nicht  ausser  Betracht  bleiben  darf. 

Die  Rücksicht  auf  den  geläufigen  Vorstellungs- 
kreis der  Leser,  mit  dem  man  zu  rechnen  hat,  dürfen 
wir  ohne  Zweifel  als  zweckmässig  anerkennen  und 
wollen  aus  diesem  Grunde  auch  unsererseits  diesem 
Wege  nachzugehen  versuchen,  soweit  wir  dem  Führer 
darauf  zu  folgen  vermögen,  selbst  da,  wo  es  nur  der 
redlichen  Absicht  noch  dienen  sollte,  seinen  Uber- 
zeugungen vorurteilsfrei  gerecht  zu  werden.  Wir 
dürfen  uns  um  so  unbedenklicher  ihm  anbequemen, 
als  wir  bei  früherer  Gelegenheit  wiederholt  den  ent- 
gegengesetzten Weg,  von  der  Architektur  zur  Pla- 
stik, als  gleichwertigen  scharf  genug  vorgezeichnet 


Einleitung 


3 


haben3),  und  unserer  eigenen  Überzeugung  vom  Kern 
ihres  Wesens  als  Körperbildnerin  oft  genug  Aus- 
druck gegeben. 

Auf  die  strenge  Unterscheidung  des  innersten 
Wesens  jeder  einzelnen  Kunst  war  dabei  unser  Augen- 
merk in  erster  Linie  gerichtet,  vor  allem  in  der  Reihe, 
die  wir  unter  dem  Namen  der  ,, bildenden"  zusammen- 
zufassen gewöhnt  sind,  also  auch  gegen  die  Meinung 
Hildebrands,  als  könne  der  Architektur  nur  dasselbe 
Gestaltungsprineip  innewohnen  wie  der  Plastik  und 
Malerei  (S.  82).  Auf  der  anderen  Seite  jedoch  suchten 
wir  dem  lebendigen  Zusammenhange  zwischen  ihnen, 
als  Betätigungen  des  Menschen,  das  Recht  zu  wahren, 
das  ihm  natürlich  gebührt,  d.  h.  sie  zunächst  als  naive 
Äusserungen  hinzunehmen,  die  erst  allmählich  den 
Keim  ihres  besonderen  Wesens  vollkommen  entfalten 
und  dann  erst  sich  deutlich  voneinander  unter- 
scheiden, stets  aber  durch  zahllose  Fäden  miteinander 
verknüpft  bleiben.  Es  kam  uns  deshalb  gerade  auf 
eine  genauere  Beobachtung  der  Übergänge  von  dem 
einen  Grundprincip  zum  anderen  an ;  die  Zwischen- 
regionen geben  uns  in  ihren  mannichfaltigen  Er- 
scheinungen über  die  geschichtlich  fortschreitende 
Verschiebung  des  Standpunktes  und  über  deren  ge- 
setzliche Beziehung  zum  psychologischen  Charakter 
einer  Zeit  oft  den  wertvollsten  Aufschluss.    Da  dieser 


1)  Zur  Frage  nach  dem  Malerischen,  sein  Grundbegriff  und 
seine  Entwicklung.  Beiträge  zur  Ästhetik  der  bildenden  Künste  I, 
Leipzig  1896,  S.  20  ff.  Barock  und  Rokoko,  eine  Auseinandersetzung 
über  das  Malerische  in  der  Architektur  (Beiträge  II,  1897),  S.  7  ff. 


4 


Einleitung 


Wechsel  im  Verhältnis  einer  Generation,  eines  Zeit- 
alters zu  den  Hauptkünsten  nicht  allein  die  Reihe 
der  bildenden,  sondern  auch  ihre  Schwestern  auf  der 
Seite  der  zeitlichen  Anschauungsform,  d.  h.  Poesie, 
Mimik,  Musik,  ebenso  betrifft  wie  Malerei,  Plastik 
und  Architektur,  so  wurden  auch  jene,  besonders 
als  jeweilige  Ergänzungen  Einer  Weltauffassung,  mit 
in  Betracht  gezogen  und  das  Schicksal  der  einzelnen 
stets  im  Zusammenhange  der  ganzen  Reihe  darge- 
stellt. Das  liegt  in  unserer  Überzeugung,  stets,  auch 
in  besonderen  Abzweigungen  des  Kunstlebens,  mit 
dem  ganzen  Menschen  rechnen  zu  müssen.  Nur  von 
diesem  Standpunkte  aus,  der  die  Gesamtheit  der 
Menschenkunst  als  Einheit  überschaut,  glaubten  wir 
die  Auffindung  psychologischer  Gesetze  möglich,  die 
den  Gang  der  künstlerischen  Auseinandersetzung 
zwischen  Innenwelt  und  Aussenwelt  erklären  helfen, 
—  und  glauben  es  noch,  ganz  abgesehen  von  der 
Frage ,  ob  diesem  wechselnden  Schauspiel  der  Ent- 
wicklung ein  erkennbarer  Sinn  oder  eine  natürliche 
Notwendigkeit  innewohne,  oder  ob  die  Antwort  dar- 
auf nur  einer  höheren  Intelligenz  gegeben  sei,  die 
über  menschliche  Begriffe  hinausreicht. 

Mit  der  Prüfung  der  Gränzen  und  der  Vermitt- 
lungen zwischen  Malerei  und  Plastik  nehmen  wir  das 
Thema  zugleich  von  der  Seite  auf,  wo  sich  dieser 
Beitrag  zur  Ästhetik  der  bildenden  Künste  in  die 
ganze  Reihe  einzuordnen  und  an  die  beiden  voraus- 
gehenden anzuschliessen  hat.  Ebenso  aber  ergreifen 
wir  damit  den  Faden  der  Erörterungen  an  dem  Ende, 
wo  der  letzte  vollauf  beachtenswerte  Vorgänger,  ein 


Einleitung 


5 


Künstler  selbst,  sie  gelassen  hat.  Tatsächlich  er- 
kennen wir  in  seinem  Standpunkte  die  charakteristi- 
schen Merkmale  des  modernen  Menschen,  der  einer- 
seits durch  naturwissenschaftliche  Schulung  längst 
der  naiven  Ausbildung  seiner  Vorstellungswelt  ent- 
rückt ist,  andererseits  aber  in  dem  geschichtlichen 
Entwicklungsgange,  den  unsere  Sinnesorgane  durch- 
gemacht, und  in  dem  notwendig  damit  verbundenen 
Wechsel  in  der  Vorherrschaft  des  besonderen  An- 
schauungskreises, die  sich  im  ganzen  geistigen  Leben 
geltend  macht,  ebenso  befangen  bleibt,  wie  alle 
anderen  Kinder  seiner  Zeit.  Dies  nachzuweisen,  aus 
den  eigenen  Werken  wie  aus  dem  gedruckten  Be- 
kenntnis, wäre  die  Aufgabe  des  Historikers,  der 
Adolf  Hildebrand  als  Künstler  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts charakterisiert.  Wir  würden  uns  anheischig 
machen,  die  psychologische  Übereinstimmung  auf- 
zuzeigen. Hier  jedoch  ist  es  nicht  unseres  Amtes. 
Eine  Argumentatio  ad  hominem  bleibt  aus  dem  Spiele, 
wo  wir  es  lediglich  mit  den  ausgesprochenen  An- 
sichten und  deren  sachlicher  Begründung,  nicht  mit 
der  persönlichen  Anlage  als  Künstlerindividualität  zu 
tun  haben. 

An  einer  Stelle  des  Büchleins  begegnet  uns  indes 
ein  so  frappanter  Ausdruck  persönlichen  Empfindens, 
dass  ich  mir  nicht  versagen  darf,  den  überraschen- 
den Wink  herauszuheben,  ja  davon  auszugehen ;  denn 
er  giebt  dem  Leser  meines  Erachtens  auf  einmal  den 
Schlüssel  zum  Verständnis  der  Lösung  in  die  Hand, 
die  Hildebrand  für  das  Problem  der  Form  in  der 
bildenden  Kunst  uns  allen  angeboten  hat. 


6 


Einleitung 


„Die  Plastik  hat  nicht  die  Aufgabe,  den  Be- 
schauer in  dem  unfertigen  und  unbehaglichen  Zu- 
stande gegenüber  dem  Dreidimensionalen  oder  Kubi- 
schen des  Natureindrucks  zu  lassen,  in  dem  er  sich 
abmüht,  eine  klare  Gesichtsvorstellung  sich  zu  bilden, 
sondern  sie  besteht  gerade  darin,  ihm  diese  Gesichts- 
vorstellung zu  geben  und  dadurch  dem  Kubischen 
das  Quälende  zu  nehmen"  (S.  78). 

Der  Laie,  der  auf  diesen  Ausdruck  subjektiven 
Gefühles  stösst,  wird  sich  erstaunt  darob  befragen, 
ob  auch  ihn  das  Kubische  quäle.  Die  dreidimensio- 
nale Körperlichkeit  der  Dinge  dieser  Welt  sollte  für 
uns  Menschenkinder,  die  nun  einmal  hineingestellt 
sind,  eine  Qual  sein?  Das  wäre  ja  neuer  Zuwachs, 
einer  ganz  raffinierten  Erfindung,  für  dies  Jammertal. 

Der  Philosoph  aber,  der  die  dreidimensionale 
Raumvorstellung  als  die  notwendige  Anschauungs- 
form unseres  menschlichen  Intellekts  betrachtet,  wird 
doch  eher  geneigt  sein,  in  der  Klarheit  und  Schärfe 
des  Kubischen  die  vollendete  Konsequenz  dieser 
Vorstellungsarbeit  zu  erblicken,  d.  h.  die  höchste 
Leistung  der  Anschauungsform,  —  eine  Errungen- 
schaft, die  uns  befriedigen  muss,  je  mehr  sie  unserer 
Anlage  entspricht. 

Sollten  wirklich  alle  Menschen,  für  die  der 
Bildner  schafft,  ja  nur  alle  Liebhaber  der  Plastik,  die 
gern  der  Woltat  teilhaftig  würden,  die  nur  der 
Künstler  ihnen  angedeihen  lassen  kann,  —  sollten 
sie  wirklich  sich  dem  Natureindruck  gegenüber  ab- 
mühen, ja  vergeblich  abmühen,  eine  klare  Gesichts- 
vorstellung zu  bilden? 


Einleitung 


7 


Doch  lassen  wir  diesen  Zweifel  dahingestellt. 
Die  Voraussetzung  Hildebrands  ist  tatsächlich  die, 
dass  der  Beschauer  eines  dreidimensionalen  Gegen- 
standes zunächst  durch  den  Eindruck  des  Kubischen 
beunruhigt  werde,  dass  er  durch  das  Entgegendringen 
der  dritten  Dimension  in  einen  unbehaglichen  Zu- 
stand gerate,  und  dass  nur  die  Kunst  imstande  sei, 
aus  dieser  Qual  zu  befreien,  indem  sie  —  an  ihrem 
Werke  für  das  glatte  Zustandekommen  einer  ein- 
heitlichen Gesichtsvorstellung  sorgt,  während  die 
Dinge  dieser  Wirklichkeit  allerdings  so  störend 
bleiben  wie  sie  sind.  Die  erlösende  Verwandlung 
durch  die  Kunst  vollendet  sich  erst,  wenn  sie 
,,der  natürlichen  gegenständlichen  Vorstellung  zum 
Trotze  den  Beschauer  zwingt"  (S.  53),  zu  sehen, 
wie  der  Künstler  sich  die  Erscheinung  zurecht- 
gelegt. „Solange  eine  plastische  Figur  sich  in  erster 
Linie  als  ein  Kubisches  geltend  macht,  ist  sie  noch 
im  Anfangsstadium  ihrer  Gestaltung;  erst  wenn  sie 
als  ein  Flaches  wirkt,  obschon  sie  ku- 
bisch ist,  gewinnt  sie  eine  künstlerische  Form, 
d.  h.  eine  Bedeutung  für  die  Gesichtsvorstellung" 
(S.  79). 

Es  ist  also  nicht  nur  eine  persönliche  Empfin- 
dung, zu  der  erst  der  moderne  Mensch  durch  die 
einseitige  Ausbildung  der  Ansprüche  seines  Seh- 
organs herangereift  ist ;  sondern  der  Mangel  an  dieser 
Empfindungsweise  bedeutet  einen  „Mangel  an  künst- 
lerischem Verhältnis  zur  Natur,  eine  Unfähigkeit, 
unser  wahres  Verhältnis  zu  ihr  zu  verstehen  und 
konsequent   zu    entwickeln"    (66).    Ja,    die  ganze 


s 


Einleitung 


Kunstphilosophie,  die  Existenzberechtigung  der  bil- 
denden Kunst  ist  auf  diese  Voraussetzung  von  der 
Qual  des  Kubischen  gegründet. 

Jedenfalls  schliesst  sich  Hildebrand  der  Lehre 
unsrer  früheren  Ästhetiker  an,  welche  die  Begriffs- 
bestimmung der  schönen  Künste  im  Unterschied 
von  den  übrigen  dadurch  zu  gewinnen  suchten, 
dass  diese  höheren  Künste  sich  von  jeder  Be- 
ziehung zu  den  sogenannten  niederen  Sinnen  fern 
halten  und  immer  reiner  mit  dem  ausschliesslichen 
Kapital  der  höheren  Sinne,  Gesicht  und  Gehör, 
allein  auskommen  sollten.  So  arbeite  die  bil- 
dende Kunst  lediglich  für  das  Auge ;  in  Gesichts- 
eindrücken müssten  also  ihre  eigensten  Leistungen 
gesucht  werden. 

Indes  auch  Hildebrand  ist  bereits  weiter  ge- 
diehen. Er  weiss ,  dass  die  Kunst  nicht  für  die 
Wahrnehmung  unsres  Sehorgans ,  sondern  vielmehr 
für  die  Vorstellung  schafft.  Er  erklärt  sich  gegen 
,,die  sogenannte  positivistische  Auffassung"  der  Künst- 
ler, „welche  die  Wahrheit  in  der  Wahrnehmung  des 
Gegenstandes  selber  sucht,  nicht  in  der  Vorstellung, 
die  sich  von  ihm  in  uns  bildet"  und  demgemäss 
,,das  künstlerische  Problem  nur  in  der  genauen 
Wiedergabe  des  direkt  Wahrgenommenen  sieht"  (29). 
Er  ist  sich  ebenso  klar  darüber  geworden,  dass  ,,die 
Kunst  gerade  darin  besteht  einen  abstrahierten  Vor- 
stellungsbesitz wieder  einzukleiden"  und  dass  sie 
eben  „dadurch  einen  Eindruck  schafft,  welcher  beim 
Beschauer  ohne  Rest  in  Vorstellungswerte  auf- 
geht,   während'  der  Natureindruck  noch   kein  aus 


Einleitung 


9 


diesem  Gesichtspunkte  gereinigtes  Vorstellungsbild 
ist"  (27). 

Dennoch  verfällt  er,  begreiflicherweise,  sehr  bald 
in  das  Bemühen  zurück,  die  künstlerische  Leistung, 
das  Empfangen  der  Einheit,  doch  wieder  in  einem 
Wahrnehmungsakt  zu  suchen.  Und  der  Wert,  den 
das  Fernbild  für  ihn  gewinnt,  liegt  eben  darin,  wie 
er  meint,  dass  es  die  einzige  Einheit  für  den  Wahr- 
nehmungs-  wie  für  den  Vorstellungsakt  darstelle. 
Von  der  Gesichtsvorstellung  kommt  er  doch  auf  den 
Gesichtseindruck,  der  sie  vermittelt,  zurück,  weil  es 
sich  in  künstlerischen  Dingen  immer  um  die  sinn- 
liche Anschauung  handelt. 

Weil  aber  eben  die  psychologisch  überlegene 
Ansicht  bei  ihm  selber  bereits  vorhanden  und  aus- 
gesprochen ist,  gebe  ich  auch  die  Hoffnung  nicht 
auf,  dass  eine  befriedigende  Verständigung  erreicht 
werden  kann,  und  nur  deshalb  richte  ich  die  folgende 
Auseinandersetzung  so  direkt  darauf  ein. 

Lassen  wir  die  Frage  nach  der  wertvollen  Lei- 
stung der  Kunst  und  nach  der  Existenzberechtigung 
der  Plastik  vorerst  auf  sich  beruhen,  um  vielleicht 
am  Ende  unsrer  kritischen  Erwägungen,  von  selbst 
darauf  zurückgeführt,  eine  Antwort  bereit  zu  finden. 
Vorerst  betrachten  auch  wir  das  Problem  der  Form 
für  den  bildenden  Künstler,  wenigstens  wie  es  sich 
selber  stellt. 

Um  jenen  Reinigungsprozess  aller  durch  unser 
Augenpaar  vermittelten  Wahrnehmungen  zur  einheit- 


10 


Einleitung 


liehen  Gesichtsvorstellung  hindurch  zu  ermöglichen, 
geht  Hildebrand  von  einer  weiteren  Unterscheidung 
aus.  Den  künstlerisch  durchgebildeten  „Flächenein- 
druck", in  dem  dies  Heil  gefunden  wird,  soll  ,,das 
ruhig  schauende  Auge  ohne  Bewegungstätig- 
keit aufzunehmen  im  stände  sein"  (S.  68),  —  also 
muss  auch  das  Auge  im  Zustande  ruhigen  Schauens 
von  der  beweglichen  Tätigkeit  unsers  sonstigen 
Sehens  unterschieden  und  isoliert  werden.  „Das 
ruhig  schauende  Auge  empfängt  ein  Bild ,  welches 
das  Dreidimensionale  nur  in  Merkmalen  auf  einer 
Fläche  ausdrückt,  in  der  das  Nebeneinander  gleich- 
zeitig erfasst  wird"  (io  f.). 

Gegen  die  Trennung  unsrer  Wahrnehmungen 
durch  das  Sehorgan  ,,in  eine  rein  schauende  und  in 
eine  sich  rein  bewegende  Augentätigkeit"  regt  sich 
nun  aber  das  stärkste  Bedenken,  besonders  wenn  sie 
mehr  bedeuten  soll  als  eine  wissenschaftliche  Hilfs- 
konstruktion, die  unser  logisches  Bedürfnis  behufs 
begrifflicher  Klarheit  aufstellen  und,  solange  sie  ihrer 
nicht  entbehren  kann,  in  abstracto  aufrecht  erhalten 
mag.  Zugegeben ,  dass  der  Einzelne  zum  Behuf 
experimenteller  Beobachtung  recht  weit  in  dieser 
Scheidung  auch  tatsächlich  gelangen  könne ,  so 
bleibt  sie  doch  im  natürlichen  Verkehr  mit  der  um- 
gebenden Welt,  so  wie  der  freie  Wechsel  dieser 
Möglichkeiten  aufgehoben  und  die  eine  bevorzugt 
werden  soll ,  etwas  Erzwungenes ,  vielleicht  Unkon- 
trollierbares. Es  erhebt  sich  also  von  vorn  herein 
der  Zweifel,  ob  ein  gesundes  Kunstschaffen  auf  dieses 
künstliche  Princip   gegründet  werden  darf,  dessen 


Einleitung 


I  l 


Ergebnis  allein  die  Lösung  des  Formproblems  er- 
geben soll. 

Folgen  wir  jedoch  Hildebrand  und  fassen  unser 
Auge  einmal  in  ruhigem  Zustand,  ohne  Bewegungs- 
tätigkeit schauend ,  dann  lässt  es  sich  wol  nur  mit 
einer  photographischen  Camera  vergleichen,  und  die 
Retina  verhielte  sich  wie  die  empfindliche  Platte,  das 
heisst  —  rein  passiv,  den  chemischen  Veränderungen 
ausgesetzt,  die  sich  ohne  sein  Zutun  vollziehen. 
Aber  eben  deshalb  kann  dieser  Zustand  nur  sehr 
kurze  Zeit  dauern ,  die  chemische  Zersetzung  durch 
das  einfallende  Licht  würde  bei  längerem  Stillstand 
der  Retina  zerstörend  wirken.  Sie  selber  löst  die 
Reflexbewegung  aus,  die  durch  neue  Zufuhr  das 
Organ  rettet  und  wieder  für  chemische  Einwirkung 
empfänglich  macht.  Der  Moment  der  ,,Ruhe"  wird 
zwangsweise  durch  eine  Bewegung  abgelöst ,  und 
diese  beschränkt  sich  bei  der  sonstigen  Verbindung 
des  Augapfels  mit  äusseren  Muskeln  nicht  auf  das 
Innere,  die  Retina  und  ihre  Gefässe,  sondern  bringt 
Drehungen  des  Augapfels  hervor.  Das  Auge  ist  also 
nicht  mehr  ,,ohne  Bewegungstätigkeit",  wie  es  sein 
sollte. 

Nun  aber  hinkt  der  Vergleich  der  Retina  mit 
dem  empfindlichen  Häutchen  der  photographischen 
Platte  und  deren  passivem  Verhalten ,  das  die  Ein- 
wirkung des  Lichtes  nur  so  über  sich  ergehen  lässt, 
bekanntlich,  nach  mehr  als  einer  Seite.  Unser  Sehen 
ist  Aktivität  schon  im  Empfangen  des  Sinnesein- 
druckes selber.  Sowie  wir  demgemäss  das  Auge 
etwa    als    verfeinertes  Tastorgan   zu  erklären  ver- 


\  2  Einleitung 

suchen,  mit  zahlreichen  vibrierenden  Nervenendi- 
gungen in  und  neben  den  Zäpfchen  der  Retina ,  so 
haben  wir  fortwährende  unausgesetzte  Bewegungs- 
tätigkeit, nicht  allein  chemische  Reaktion,  sondern 
mitwirkende  Empfängnis,  ja  ein  Entgegenkommen, 
das  bis '  zum  feinsten  innerlich  vollzogenen  Abtasten 
sich  steigern  mag.  Nur  so  scheint  sich  zugleich 
eine  Erklärung  anzubieten ,  wie  unser  Sehen  wieder 
auf  die  motorischen  Centren  übertragen  zum  Nach- 
formen des  Gesehenen  durch  die  Tastorgane  der 
Finger  zu  werden  vermag. 3) 

Doch  lassen  wir  diese  Erklärungsversuche  der 
physiologischen  Optik,  mit  denen  wir  doch  nicht 
auskommen ,  ganz  aus  dem  Spiel ,  bis  auf  die  eine 
Tatsache ,  die  wir  berücksichtigen  müssen :  bei  der 
Kleinheit  der  Stelle  schärfsten  Sehens  im  Auge  bleibt 
ja  schon  die  Mitwirkung  des  beweglichen  Apparates 
der  Augenmuskeln  unentbehrlich ,  und  der  Appell 
vom  sinnlichen  Wahrnehmen,  mit  dem  sich  die 
Physiologen  beschäftigen,  an  den  Vorstellungsakt,  in 
dem  der  Psycholog  die  Synthesis  sich  vollziehen 
lässt,  bleibt  unausweichlich. 

Doch  sei  auch  dem,  wie  ihm  wolle:  die  An- 
nahme eines  ruhigen  Schauens ,  das  sich  ohne  Be- 
wegungstätigkeit vollzöge,  ist  eine  Fiktion,  und  der 


i)  Wir  haben  diesen  Bedenken  schon  in  den  beiden  früheren 
Heften  dieser  Beiträge  durchweg  Rechnung  getragen,  soweit  dazu 
Veranlassung  war  (vgl.  z.  B.  II,  1 1  f.).  Vgl.  neuerdings  auch  E. 
te  Peerdt,  Das  Problem  der  Darstellung  des  Momentes  der  Zeit. 
Strassburg  1899. 


Einleitung 


L3 


Versuch  dem  alten  Unterschied  der  simultanen  und 
der  successiven  Auffassung  eine  naturwissenschaft- 
liche Unterlage  zu  geben,  muss  doch  noch  anders 
angestellt  werden,  wenn  wir  wirklich  seiner  be- 
dürfen. 

„Wir  stehen  der  Natur  ja  nicht  nur  als  Augen- 
geschöpfe gegenüber,  sondern  mit  allen  unseren 
Sinnen  zugleich,"  schreibt  Hildebrand  selbst  einmal 
zu  Anfang  seines  Weges  (33).  Aber  beim  Kunst- 
werk soll  dies  eben  durchaus  anders  werden;  da 
wird  das  Augengeschöpf  möglichst  isoliert,  um  den 
Gesichtseindrücken  allein  die  Führung  zu  überlassen, 
weil  wir  durch  ihren  ungestörten  Ablauf  allein  zu 
der  befreienden  Woltat  gelangen,  die  uns  die 
künstlerische  Darstellung  zu  bieten  vermag.  Und 
diese  ,, geheimnisvolle  Woltat"  wäre  wieder  nur 
eine  klare  Gesichtsvorstellung,  —  also  ein  Er- 
trag aller  vorangehenden  Arbeit  an  dem  Material, 
das  der  höhere  Sinn,  das  Auge,  allein  uns  liefert.  — ■ 
Weshalb? 

Wenn  nun  gerade  durch  die  verborgenste  Be- 
wegungstätigkeit unsres  Auges  dafür  gesorgt  wäre, 
dass  die  Verbindung  mit  unsern  andern  Sinnen 
nicht  aufgegeben  werde  und  verloren  gehe,  das  heisst 
eine  Isolierung  der  Gesichtsvorstellungen  Platz  greife, 
die  nur  menschliche  Weisheit  sich  als  begehrens- 
werten Vorzug  ausgeklügelt. 

Wir  stehen  auch  den  Werken  der  Kunst  nicht 
allein  als  Augengeschöpfe  gegenüber,  sondern  mit 
allen  unsern  Sinnen  zugleich ,  ob  sie  nun  bei  der 
Wahrnehmung   beschäftigt   sind    oder   nicht.  Wir 


14 


Einleitung 


dürfen  nicht  vergessen,  „dass  der  Mensch  gar  nicht 
im  stände  ist,  seine  Vorstellungen  ganz  abzustreifen, 
weil  er  eben  mit  ihnen  sieht",  schreibt  auch  Hilde- 
brand selber  (S.  30).  Woher  stammen  sie?  —  aus 
allen  Sinnen.  Und  der  Gegenstandsvorstellungen 
können  wir  ja  ohnehin  beim  Anschauen  eines  Bild- 
werkes nicht  entraten.  Unsre  Formvorstellungen 
müssen  uns  zu  Hilfe  kommen,  wenn  es  gilt,  irgend- 
welche ungewohnte  Ansicht  zu  enträtseln.  Sollten 
wir  nicht  froh  sein,  wenn  zwischen  Gesichtsvorstel- 
lungen und  Bewegungsvorstellungen  auch  schon  eine 
natürliche  Verbindung  angebahnt  läge ,  durch  die 
auf  unsre  anschaulichen  Erfahrungen  eine  stetige 
und  unbeirrte  Übertragung  aus  den  Erfahrungen  der 
Tastregion  stattfindet ,  der  wir  die  Greifbarkeit 
unsrer  konkreten  Anschauungen  verdanken  ?  Ohne 
die  innige  Verquickung  der  Tastgefühle  und  der 
mannichfaltigen ,  aus  den  Erlebnissen  unsres  ganzen 
Körpers  stammenden  Bewegungsvorstellungen,  be- 
sässen  wir  auch  wol  keine  bildende  Kunst,  in  erster 
Linie  jedenfalls  keine  Plastik. 

Nach  dieser  Verwahrung  im  voraus  dürfen  wir 
gern  die  Ausdrücke  Hildebrands  beibehalten,  um 
seinen  Gedankengängen  in  ihrem  lehrreichen  Wert 
für  das  Einzelne  gerecht  zu  werden.  Wir  teilen  ja 
mit  ihm  als  Kinder  seiner  Zeit  die  einseitige  Be- 
vorzugung der  höheren  Sinne  und  des  abstrakten 
Geisteslebens.  Es  gehört  ein  redlicher  Anteil  kri- 
tischer Selbstbesinnung  dazu ,  wenn  wir  uns  be- 
wusst  werden,  wo  die  historische  Ursache  zu  suchen 
ist,    dass   unsre  Kunst  nicht  plastisch  gestaltet  in 


Einleitung 


15 


all  ihrem  Dichten  und  Trachten  wie  die  der  Hel- 
lenen, —  weshalb  wir  nicht  einmal  die  italienische 
Hochrenaissance  mehr  völlig  verstehen,  seit  ihr  das 
plastische  Ideal  über  alles  gieng.  Liegt  unser  Mangel 
an  natürlichem  Verständnis  für  die  Bildnerei  nicht 
wesentlich  mit  an  dem  einseitigen  Standpunkt  als 
Augengeschöpfe ,  ja  des  geläuterten  Schauens  aus 
der  Ferne? 


[. 


MALEREI  UND  PLASTIK 


chon  das  grundlegende  Experiment  zur  Son- 
derung des  ruhigen  Schauens  und  des  be- 
weglichen, abtastenden  Sehens,  von  dem 
Hildebrand  ausgeht,  orientiert  uns  über  den  Boden, 
auf  dem  alle  seine  Anschauungen  erwachsen. 

„Es  sei  ein  Gegenstand  mit  Umgebung  und 
Hintergrund  gegeben,  ebenso  die  Richtungslinie  des 
Beschauers,  dessen  Standpunkt  lediglich  in  Nähe  und 
Ferne  verschiebbar  sein  soll." 

Es  wird  also  nicht,  wie  wir  es  beim  Bildner  er- 
warten sollten,  ein  isolierter  Körper  zunächst  be- 
trachtet ,  als  der  einfachste  Fall ,  um  den  es  sich 
handeln  kann,  sondern  sogleich  eine  ganze  Situation, 
in  der  sich  der  Gegenstand  befindet.  Das  Objekt 
besteht  aus  Körper  und  Raum  zugleich ,  die  nicht 
gesondert  für  sich  aufgefasst  werden  können  oder 
sollen,  sondern  in  einem  optischen  Zusammenhang 
stehen.    Für  den  Standpunkt  des  Beschauers,  der 


Das  Fernbild 


17 


sich  nur  auf  einer  gegebenen  Richtungsaxe  annähern 
oder  entfernen  kann,  schränkt  sich  die  optische  Auf- 
fassung noch  mehr  ein.  Als  Sehgemeinschaft  ent- 
spricht der  Gegenstand  in  seiner  Situation  ,,mit  Um- 
gebung und  Hintergrund"  durchaus  dem  Inhalt  des 
„Bildes",  als  Werk  der  Malerei,  wie  wir  es  im  ersten 
Teil  dieser  Beiträge  definiert  haben.  Und  so  nennt 
es  auch  Hildebrand  häufig  genug  selbst,  allerdings 
ohne  die  Unterscheidung  von  „Gebilde",  womit  wir 
das  Körperliche  allein  zu  bezeichnen  pflegen. 

Damit  ist  das  Problem  der  Form  in  der  bilden- 
den Kunst  schon  allein  auf  dem  Boden  der  Malerei 
gestellt,  und  es  bleibt  die  Frage,  wie  weit  aus  diesen 
komplicierteren  Bedingungen  nachträglich  noch  der 
Fall  der  Plastik  zurückgefunden  werde. 

„Ist  der  Standpunkt  des  Beschauers  ein  so  ferner, 
heisst  es  weiter,  dass  seine  Augen  nicht  mehr  im 
Winkel,  sondern  parallel  schauen,  dann  ist  das  em- 
pfangene Gesamtbild  rein  zweidimensional,  weil 
die  dritte  Dimension,  also  alles  Nähere  und  Fernere 
des  Erscheinungsobjektes,  alle  Modellierung  nur  durch 
Gegensätze  in  der  erscheinenden  Bildfläche  wahr- 
genommen wird ,  als  Flächenmerkmale ,  die  ein 
Ferneres  oder  Näheres  bedeuten." 

Dies  Gesamtbild  vom  entfernten  Standpunkt  ist 
die  Hauptsache,  auf  die  es  nach  Hildebrand  bei  allem 
künstlerischen  Schaffen  ankommt :  das  reine  einheit- 
liche Flächenbild,  das  er  Fernbild  nennt.  Es 
stellt  die  einzige  Einheitsauffassung  der  Form  im 
Sinne    des   Wahrnehmungs-   und  Vorstellungsaktes 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Reliefkunst.  2 


IS 


Malerei  und  Plastik 


dar  (13).  Dies  ist  also  die  Erscheinungsform,  welche 
vom  Kunstwerk  festgehalten  werden  muss  (68,  Anm.). 

Wenn  wir  demnach  ,,ein  einheitliches  Bild  fin- 
den dreidimensionalen  Komplex  allein  im  Fernbild 
besitzen"  (12),  so  muss  über  den  Charakter  dieser 
einzig  wertvollen  Erscheinungsform  genaueste  Rechen- 
schaft willkommen  sein.  „Erst  von  einer  be- 
stimmten Distanzschicht  an  sehen  unsere 
Augen  parallel  und  nehmen  die  Erscheinungsobjekte 
mit  einem  Blick  als  einheitliches  Flächenbild  oder 
Fernbild  auf.  Was  in  der  Mitte  unseres  Sehfeldes 
liegt,  wird  am  stärksten  wahrgenommen,  nach  dem 
Rande  zu  verschwindet  der  Eindruck.  Ebenso  wird 
das ,  wTas  direkt  vor  der  Distanzschicht ,  vor  der 
eigentlichen  Bühne  ist,  noch  als  Übergang  mit  wahr- 
genommen. Der  eigentliche  Raum  aber, 
welcher  erscheint,  liegt  hinter  dieser 
Distanzschicht,  fängt  mit  dieser  erst 
eigentlich  an"  (44). 

Das  ist  eine  der  physiologischen  Optik  ent- 
nommene Beschreibung  des  Bildes  als  das  eigent- 
liche Feld  der  Malerei,  nach  unsern  Begriffen  wenig- 
stens nur  dieses.  Verfolgen  wir  also  erst  einmal 
diesen  Weg  und  sehen,  wohin  er  uns  führt,  wie  weit 
wir  damit  kommen. 

Betrachten  wir  von  diesem  Standpunkt  aus  zu- 
nächst die  darstellende  Tätigkeit  des  Malers,  „so 
sind  sein  geistiges  Material  die  Gesichtsvorstellungen 
(die  aus  dem  ruhigen  Schauen  gewonnen  werden) ; 
diese  bringt  er  direkt  auf  der  Fläche  zum  Ausdruck 
und  gestaltet  damit  ein  Ganzes  im  Sinne  des  Fern- 


Die  volle  Formvorstellung 


19 


bildes".  So  weit  vermögen  wir  uns  anzuschliessen. 
Aber  es  folgt  sogleich  ein  Schritt,  der  vorerst  zu 
weit  geht. 

Insofern  diese  Eindrücke  jedoch  Formvorstel- 
lungen erwecken  sollen,  ergiebt  sich  die  Aufgabe,  ein 
derartiges  Flächenbild  darzustellen,  dass  wir  die  volle 
Formvorstellung  von  dem  Gegenstande  empfangen. 
Dies  zu  leisten  ist  er  nur  dadurch  im  stände,  dass 
er  alle  Gesichtseindrücke  auf  ihre  plastische  An- 
regungskraft hin  prüft  und  zu  diesem  Zweck  ver- 
wendet (d.  h.  die  Flächenmerkmale  ausbeutet,  die 
ein  Näheres  oder  Ferneres  bedeuten).  —  Darin  liegt 
das  Problem  des  Malers"  (17). 

Ja,  insofern  er  durch  Gesichtseindrücke  Form- 
vorstellungen erwecken  will.  Dies  ist  aber  durchaus 
nicht  immer  der  Fall,  wenigstens  nicht  derart,  dass 
wir  die  volle  Formvorstellung  vom  Gegenstande 
empfangen.  Ursprünglich  ist  das  Bild  wie  unser 
Sehfeld  eine  Fläche.  Und  in  der  Dynamik  der 
Erscheinungsfaktoren ,  die  darauf  zum  Vorschein 
kommen,  kann  eine  sehr  verschiedene  Ökonomie 
walten,  die  in  mancherlei  Kombinationen  sich  zwischen 
zwei  entgegengesetzten  Polen  bewegt,  der  abstrakten 
Idealität  und  der  konkreten  Realität,  oder  der 
geistigen  Vorstellung  und  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung, deren  eine  im  Reiche  der  Phantasie,  deren 
andre  im  Reiche  der  Wirklichkeit  zu  herrschen  pflegt. 

Es  giebt  im  weiten  Gebiet  der  Malerei  geschicht- 
liche Beispiele  genug,  die  vielmehr  für  die  geistige 
Vorstellung  als  für  die  sinnliche  Anschauung  arbeiten. 
Sie  verwenden  die  Erscheinungsfaktoren  des  Bildes, 


20 


Malerei  und  Plastik 


die  Gegensätze  von  Hell  und  Dunkel ,  also  Farben 
in  Linien  oder  in  Flecken  aufgetragen,  nur  noch  im 
zweidimensionalen  Sinn  des  Sehfeldes  als  Fläche. 
Dahin  gehört  das  Gebiet  der  ägyptischen  Wand- 
malerei wie  das  der  mittelalterlichen  Buchmalerei 
zu  ihrem  grössten  Teile.  Was  sie  auf  der  Bildfläche 
mit  Strichen  oder  Klecksen  hervorbringen ,  sind 
Zeichen,  Anregungen  für  die  Gegenstandsvorstellung. 

Was  ist  aber  ein  Gegenstand  ?  Wie  unsre 
Muttersprache  selbst  uns  lehrt :  etwas,  das  uns  ent- 
gegensteht. Was  entweder  unserm  Leibe  als  Körper 
im  Raum,  oder  unsern  vorgestreckten  Tastorganen, 
oder  nur  unserm  vorwärts  gerichteten  Blick,  oder 
endlich  gar  der  anschaulichen,  über  uns  selbst  hinaus- 
dringenden Vorstellung  einen  Widerstand  leistet. 
Es  kommt  also  auf  ein  dem  Gefühl  oder  der  Vor- 
stellung solches  Widerhalts  entsprechendes  Zeichen 
an,  das  diese  konstitutive  Eigenschaft  der  Dinge  im 
Beschauer  auszulösen  vermag.  Was  wäre  das  ab- 
strakteste Zeichen  dafür?  Nicht  der  Punkt;  er  be- 
zeichnet nur  den  festen  Ort  in  der  allgemeinen  Weite 
des  Sehfeldes.  Nicht  eine  Reihe  von  Punkten  in 
wagerechter  Richtung ;  denn  wir  schreiten  über  sie 
hin ,  wie  unser  Fuss  über  die  Schwelle.  Nur  eine 
senkrecht  aufsteigende  Reihe  von  Punkten  gewinnt 
die  Intensität ;  nur  die  aufgerichtete  Gerade,  die  uns 
gegenübertritt,  bedeutet  ein  Ding  an  seinem  Orte 
vor  uns ,  wie  unsersgleichen ,  die  Körper  rings  um 
uns  selber.  Und  die  Grade  dieser  aufgetragenen 
Intensitätswerte,  die  Mehrzahl  der  übereinander  ge- 
reihten Punkte  giebt  zugleich  die  Abstufungen  für 


Das  Symbol  des  Gegenständlichen  2 1 


den  Grad  der  Gegenständlichkeit,  d.  h.  kurzweg  die 
Grösse  der  Linien ,  in  der  Höhendimension  allein, 
die  wir  ja  deshalb  als  erste  bezeichnen,  weil  sie  uns 
selbst  als  Dominante  unsres  Leibes  innewohnt  und 
den  Mafsstab  für  alle  unsre  Konkurrenten  abgiebt. 

Die  Mehrzahl  dieser  mehr  oder  minder  senk- 
rechten Linien  kann  sich  auf  der  Fläche  nun  aber 
nicht  anders  ausdehnen,  als  in  der  zweiten  Dimension, 
die  noch  übrig  bleibt.  Sowie  es  gilt ,  zwei ,  drei 
und  mehr  Gegenstände  nur  nach  ihrem  Unterschied 
von  uns  einzeln  vorzustellen,  so  ergiebt  sich  auf  der 
Fläche  das  Nebeneinander  in  horizontaler  Richtung. 
Und  soll  gar  das  Grössenverhältnis  dieser  Ob- 
jekte unter  sich  bestimmt  werden,  so  müssen  sie 
sich  vollends  auf  einer  fortlaufenden  Horizontalen, 
als  gemeinsamer  Grundlinie,  aufreihen.  Damit  haben 
wir  die  Elemente  einer  Situation  wieder  beisammen, 
wie  es  für  den  primitivsten  Vorwurf  bildlicher  Dar- 
stellung auf  der  Fläche  gefordert  wird.  Wir  durften 
also  früher  behaupten,  die  Wurzel  der  maleri- 
schen Schöpfung  könne  nur  in  der  zweiten  Di- 
mension gesucht  werden.1)  Die  erste  ist,  wie  wir 
soeben  gezeigt,  für  andere  Funktion  vollauf  in  An- 
spruch genommen.  Die  dritte  Dimension  aber  giebt 
es  vorläufig  in  der  Fläche  nicht;  nur  die  erste  oder 
die  zweite  können  als  Surrogat  verwertet  werden. 

i)  Flüchtige  Scribenten  haben  daraufhin  allerdings  fertig  ge- 
bracht, zu  behaupten:  „dem  Verfasser  sei  das  Malerische  bekannt- 
lich die  Breitendimension!"  Auf  Grund  solcher  Verdrehung  wird 
es  ihnen  dann  leicht,  über  die  Ästhetik  dieses  Verfassers  die  Achseln 
zu  zucken. 


22 


Malerei  und  Plastik 


Und  die  Entstehung  der  Tiefendimension  führt  aber- 
mals auf  uns  selber  zurück;  sie  geht  vom  Subjekt 
aus.  Seine  vorwärts  gerichtete  Organisation,  seine 
ausgreifenden  Arme,  seine  ausschreitenden  Beine  mit 
ihren  Erfahrungen  der  Ortsbewegung,  seine  vorwärts 
gerichteten  Augen,  deren  Sehkraft  sich  erprobt,  in- 
dem der  Blick  in  die  Weite  dringt,  —  seine  all  dies 
zusammenfassende  Vorstellung,  die  ,,in  die  Tiefe 
strebt",  bringen  diese  Ausdehnung  erst  aus  embryo- 
nalem Zustand  zur  vollen  Entwicklung.  Die  Kunst 
der  Malerei  kann  nur  allmählich ,  mit  verfeinerten 
Mitteln  des  Augenscheines ,  nacheifern ,  wenn  das 
Fernbild  sich  für  uns  mit  einem  ,, latenten  Gehalt 
von  Bewegungsvorstellungen  erfüllt  hat",  die  es  nur 
auszulösen  gilt  für  unsre  Anschauungsform. 

Davon  sind  jene  frühen  Perioden  der  Malerei 
noch  weit  entfernt,  eben  weil  sie  unmittelbar  für  die 
poetische  Vorstellung  arbeiten.  Die  Gegenstands- 
vorstellung bleibt  die  Hauptsache.  Ein  lineares 
Zeichen  bis  zum  erkennbaren  Umriss,  ein  dunkler 
Fleck  auf  hellem  Grunde,  oder  umgekehrt  hell  auf 
dunkel ,  bis  zur  wirksamen  Silhouette  genügen ,  um 
in  ihrer  Aufreihung  und  Folge ,  wie  sie  abgelesen 
werden,  nacheinander  die  Beziehungen  zu  vermitteln,, 
einen  Vorgang  zwischen  ihnen  zu  erzählen,  einen 
höheren  Kausalnexus  aufzuweisen.  Die  zeitliche  Auf- 
fassung übernimmt  zu  leisten,  was  Höhe  und  Breite 
für  die  räumliche  Auseinandersetzung  nicht  ver- 
mögen, und  die  successive  Anschauungsform  über- 
wiegt noch,  wie  in  der  Dichtkunst  und  Mimik,  den 
beredteren  Nachbarinnen ,  bei  weitem  die  simultane 


Freiheit  der  poetischen  Vorstellung 


23 


des  Bildlichen  selber.  Meist  bringt  der  Betrachter 
des  letztern  schon  die  Kenntnis  des  geistigen  In- 
halts mit  oder  empfängt  sie  daneben  im  Texte,  so 
dass  als  Aufgabe  nur  die  Veranschaulichung  übrig 
bleibt,  die  der  leicht  erreglichen  Phantasie  allerdings 
auch  mit  wenigen  Mitteln  schon  die  mannichfaltigsten 
Associationen  zur  Stärke  des  eigenen  Erlebnisses 
steigert.  Ihr  höchstes  Anliegen  bleiben  die  Kausal- 
beziehungen, so  dass  sie  sich  um  räumlich -körper- 
liche Verhältnisse  nur  insoweit  kümmern,  als  sie  ihrer 
zum  Verständnis  jener  bedürfen.  Diese  für  den 
poetischen  Zusammenhang  wichtigen  Relationen  liegen 
aber  fast  alle  wieder  auf  der  Seite  zeitlicher  Vor- 
stellungen ,  im  transitorischen  Verlauf,  oder  sie  be- 
ruhen, wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  auf  festgewordenen 
Associationen,  die  wieder  keine  räumliche  und 
körperliche  Auseinandersetzung  in  dreidimensionaler 
Vollständigkeit  erheischen,  sondern  sich  mit  zwei, 
ja  mit  einer  Ausdehnung  begnügen.  Wechselt  doch 
ausserdem  das  vorstellende  Subjekt,  der  Dichter 
sowol  wie  sein  Hörer  oder  Leser  mit  ihm,  beliebig 
den  Standpunkt  zu  seinen  Personen  und  Gegen- 
ständen, bald  aussen  bald  innen.  Ist  es  doch  nie- 
mals konsequent  an  eine  Richtungsxe ,  geschweige 
denn  an  einen  festen  Schnittpunkt  der  Koordinaten 
gebunden,  sondern  erlaubt  sich,  die  Tiefe  entweder 
als  Nebeneinander  in  der  Breite  oder  als  Über- 
einander in  der  Höhe,  ja  ebensowol,  von  seiner 
Warte  herab  oder  in  leichtem  Fluge  dahin,  als 
Untereinander  zu  betrachten,  wie  sein  Schauplatz 
himmlische ,    irdische   und  höllische  Regionen  um- 


24 


Malerei  und  Plastik 


spannt.  Die  Wandelbarkeit  und  Ungebundenheit  des 
poetischen  Standpunktes,  die  ja  Berge  versetzt  und 
durch  die  dicksten  Mauern  in  das  finstre  Turm- 
verliess  eindringt ,  wohin  immer  der  goldene  Faden 
der  Fabel  sich  verliert,  —  sie  überträgt  sich  bis 
zu  einem  starken  Grade  auf  die  primitive  Darstel- 
lungsweise des  Malers ,  nämlich  soweit  nicht  allein 
die  Fläche,  sondern  auch  ihr  Beschauer,  mit  dem 
nötigen  Wechsel  seines  Standpunktes  den  Bildern 
gegenüber,  der  Vorstellung  nachzukommen  vermögen. 
Ihre  Figuren  geben  keine  Auskunft  über  die  dritte 
Dimension  als  Körper ;  ihre  Fläche  bedeutet  den 
Raum,  ohne  Rechenschaft  über  die  ferneren  Distanz- 
schichten, ohne  weitere  Kulissen  auf  der  Bühne,  ja 
ohne  bestimmteren  Hintergrund,  als  die  Farbe  der 
Wand ,  oder  Himmelsblau ,  oder  Goldton ,  oder  ein 
Teppichmuster  gar,  die  immer  nur  als  Folie  dienen 
für  die  Figuren,  wol  den  Kontrast  verstärken  je 
nach  dem  Abstand  des  Beschauers,  aber  selbst  keine 
Gegenstandsvorstellungen  mehr  erwecken  sollen. 

Diese  und  ähnliche  Phasen  der  dekorativen 
Wandmalerei,  wo  mit  der  Ortsbewegung  des  Be- 
trachters wie  im  Bauwerk  selber  gerechnet  wird, 
oder  der  ornamentalen  Buchmalerei,  wo  die  Beweg- 
lichkeit und  Lage  der  Blätter  diesen  Wechsel  ge- 
währen, sind  jedoch  weit  entfernt  von  der  eigen- 
tümlichen Aufgabe  der  Malerei ,  die  sie  als 
selbständige  Kunst  erfasst.  Mag  auch  die  erstere 
sich  zur  monumentalen  Raumkunst,  die  andere  zur 
intimeren  Bildkunst  entwickeln.  Erst  da  reden  wir 
vom  specifischen  Wesen  einer  Kunst,  wo  sie  gerade 


Rein  malerische  Anschauung 


2f> 


diejenige  Auseinandersetzung  des  Menschen  mit  der 
Welt  zu  geben  sucht,  die  keine  sonstige  Nachbarin 
so  zu  geben  vermag  oder  geben  will ,  —  mögen 
diese  nun  Poesie  oder  Baukunst  heissen  wie  hier, 
oder  Mimik  und  sonstwie. 

Wenden  wir  unsern  Blick  dagegen  auf  diese  Zeiten 
in  der  Geschichte  der  Malerei ,  wo  die  Annahme 
eines  festen  Standpunktes  für  das  Bild  längst  zur 
selbstverständlichen  Voraussetzung  geworden  war, 
und  wo  das  echt  malerische  Streben  in  eigenster 
Ausbildung  seinen  Höhepunkt  erreicht,  um  auch 
dort  zu  fragen,  inwiefern  sie  ,,die  volle  Form- 
vorstellung von  dem  Gegenstand  erwecken"  will. 
Nehmen  wir  also  ein  Gemälde  von  Rembrandt  oder 
eine  seiner  Radierungen  beliebigen  Inhalts;  genug, 
wenn  sein  besonderes  Vermögen  für  sich  zum  Aus- 
druck kommt.  Da  tauchen  aus  dem  tiefen  Dunkel 
die  Lichterscheinungen  auf  und  steigen  zur  Höhe 
lebendigster  Wirkung,  ohne  dass  wir  nach  ihrer  kör- 
perlichen Gestalt  für  sich  oder  nach  ihrem  räumlichen 
Verhältnis  genau  zu  forschen  veranlasst  werden.  Ja, 
sobald  wir  die  volle  Formvorstellung  von  allen  Gegen- 
ständen solchem  Bilde  abzufragen  begehren,  so  gehen 
wir  nicht  allein  der  Einheit  des  Ganzen,  sondern 
auch  des  reinen  Genusses  an  der  echt  malerischen 
Leistung  als  solcher  verlustig.  Weshalb?  Doch  wol 
nur,  weil  die  Ökonomie  der  Erscheinungsfaktoren  in 
ein  Gleichgewicht  gebracht  ist,  das  den  Druck  auf 
einen  einzelnen  von  ihnen  nicht  verträgt,  ohne 
Störung  der  Harmonie.  Bildhauer  und  Baumeister 
haben  nicht  mehr  dreinzureden  wie  einst. 


26 


Malerei  und  Plastik 


Oder  deuten  wir  endlich  auf  ganz  moderne 
Richtungen  hin,  die  uns  zunächst  liegen,  auf  die 
durchaus  malerisch  gesonnenen  Stimmungsbilder,  in 
denen  Körper  und  Raum  wie  durcheinander  gewebt 
zum  wesenlosen  Scheine,  nur  Licht  und  Farben  auf 
der  Fläche  festgehalten,  so  weit  verschweben,  dass 
sie  kaum  noch  die  formale  Anregungskraft  eines 
Nebelstreifs  bewahren.  Wie  viele  Übergangsstadien 
liegen  vor  diesen  verschwimmenden,  aus  Duft  nur 
hingehauchten  Erscheinungen.  Wie  viele  Wolken- 
gebilde seit  Correggio,  von  denen  die  Gegenstands- 
vorstellung des  phantasievollen  Beschauers  behaupten 
mag  was  sie  will,  wie  Hamlet  und  Polonius,  der  ihm 
nach  dem  Munde  redet  und  doch  der  Gefoppte 
bleibt,  sind  diesen  modernsten  Bildern  voraus- 
gegangen und  immer  zu  schwer,  zu  materiell,  zu 
formbestimmt  erfunden  worden. 

Da  rühren  wir  von  andrer  Seite  wieder  an  das 
Wesen  der  malerischen  Schöpfung  und  kehren  auf 
neuem  Wege  zu  ihrer  Wurzel  zurück.  Nicht  mehr 
aus  dem  Bedürfnis  der  pragmatischen  Phantasie  ent- 
sprungen ,  nicht  mehr  auf  Gegenstandsvorstellungen 
erpicht  wie  jene  frühen  Versuche  sind  diese 
Äusserungen,  die  ihrerseits  die  reinsten,  eben  dieses 
Wesens  selbst  zu  sein  behaupten.  Aus  den  Sinnes- 
eindrücken des  Auges  allein  möchten  sie  stammen. 
Sie  leiten  also  zurück  zu  dem  Flächeneindruck 
unsres  Sehfeldes  oder  der  unbezeichneten  Weite  des 
Sehraumes  ringsum.  Dort  setzen  sich  die  Dinge 
nicht  mehr  mit  unserm  eignen  Körper  auseinander 
wie  die  der  nähern  Umgebung,  so  aufdringlich  und 


Augenschein  der  Weltweite 


27 


hart,  da  treten  sie  noch  nicht  unter  sich  auseinander 
als  Stücke  der  Welt ,  die  sich  aus  lauter  Einzel- 
bestandteilen wie  ein  Theater  zusammenschiebt ;  son- 
dern der  dreidimensionale  Gehalt  bleibt  latent,  noch 
ungeschieden,  ja  die  Dreifaltigkeit  der  Axen  schwebt 
unsichtbar  wie  über  den  Wassern ,  im  Ocean  der 
Luft,  —  eben  in  der  unendlichen  Weite ,  die  den 
ursprünglichsten  Gegensatz  zu  uns  selber  bildet ,  zu 
dem  so  kleinen,  aber  so  ausdehnungsfähigen  Ich. 

Wenn  ein  Maler  es  versucht,  eben  dieses  Ge- 
fühl zu  veranschaulichen  und  dem  Beschauer  un- 
mittelbar zu  Gemüte  zu  führen,  so  ist  es  wieder  die 
Breitendimension  allein,  die  zum  Träger  dieses  sicht- 
baren Inhalts  werden  kann ;  eben  in  der  Ausdehnung 
unsres  Horizontes  liegt  ja  der  Keim  dieser  male- 
rischen Idee ;  ebenda  wurzelt  auch  die  Möglichkeit 
ihrer  Ausführung.  Freilich,  diese  bleibt  für  die  dar- 
stellende Kunst  immer  eine  Ausnahme,  und  wir 
fragen  nicht  mit  Unrecht  weiter  nach  Analogieen 
mit  einer  Schwesterkunst,  wie  bei  jenen  Anfängen 
der  Wand-  und  Buchmalerei,  in  denen  das  gegen- 
ständliche Interesse  der  Poesie  noch  die  leitende 
Rolle  spielt.  ,, Stimmungsbilder"  haben  wir  sie  von 
vornherein  genannt,  ,, Gefühlsausdruck",  möglichst 
gegenstandslos,  in  ihnen  gesucht.  Und  so  sind  es 
Analogieen  mit  der  Lyrik  allein,  wenn  der  Weg 
durch  die  Vorstellung  gegangen,  mit  der  Musik 
allein,  wenn  die  Gemütslage  und  die  Sinnessphäre 
den  Antrieb  hervorgebracht.  Auch  dies  Symptom 
natürlich  charakteristisch  für  die  Zeit,  in  der  solche 
Malereien  entstehen. 


2S 


Malerei  und  Plastik 


Jedenfalls  also  giebt  es  in  der  Malerei  beachtens- 
werte, weder  historisch  noch  theoretisch  wegzuläug- 
nende  Gebiete,  in  denen  die  Gesichtseindrücke,  die 
das  Bild  gewährt,  nicht  die  volle  Formvorstellung 
von  Gegenständen  erwecken  sollen.  Licht  und  Farben 
sind  die  mächtigen  Faktoren,  die  uns  die  sichtbare 
Erscheinung  des  All  zu  vermitteln  im  stände  sind, 
ohne  irgendwie  zur  Raumform  oder  zum  Körper- 
volumen zu  konkrescieren.  Sie  bestimmen  die  Ökono- 
mie eines  Bildes  als  Kunstwerk  mit  demselben  Recht, 
wenn  nicht  mit  grösserem,  wie  die  linearen  Elemente 
der  Zeichnung,  die  monochrome  Silhouette,  die  schon 
gar  nicht  ohne  die  Hilfe  jener  beiden  zu  bestehen 
und  weiterzukommen  vermögen.  In  unsrer  Alltags- 
erfahrung verbinden  sich  allerdings  die  Farben  zu- 
nächst mit  den  Körpern,  und  das  Licht  erfüllt  den 
Raum,  noch  ohne  sich  als  Medium  geltend  zu  machen, 
indem  es  ihn  für  uns  erhellt.  So  ist  es  nicht  anders 
als  natürlich,  wenn  die  Malerei  von  jenem  gegen- 
ständlichen Interesse  poetischer  Erzählung  aus,  auch 
zur  Schärfe  und  Bestimmtheit  in  der  Wiedergabe 
der  Dinge  und  ihres  Schauplatzes  weiter  drängt. 
Die  Körperlichkeit  mit  ihrem  materiellen  Vollgewicht 
heraufzubeschwören  und  die  Räumlichkeit  mit  all 
ihren  Konsequenzen  in  den  Rahmen  des  Bildes  aufzu- 
nehmen, ist  aber  ein  kühnes  Unterfangen,  das  die  Ein- 
heit der  Flächenwirkung  als  solche  zersprengen  muss. 
Die  elementaren  Mächte  der  Wirklichkeit  zu  bändigen 
und  in  solchem  Ausschnitt  für  den  lautern  Genuss 
des  Schauens  zu  beruhigen,  dazu  gehört  eine  sichere 
Herrschaft  über  sie  alle,  und  mehr  als  ein  feinsinnig 


Monumentaler  Stil 


29 


empfindendes  Auge.  Es  sind  andre  Zeiten,  die  das 
durchführen,  und  der  natürlichen  Leibhaftigkeit  der 
Dinge,  der  allseitig  klaren  Auseinandersetzung  mit 
der  Welt  zur  Befriedigung  ihres  höchsten  künstleri- 
schen Bedürfnisses  nicht  entbehren  wollen. 

Ist  es  noch  nötig,  an  den  weitern  Gang  der 
monumentalen  Wandmalerei  in  Italien  zu  erinnern, 
an  die  perspektivische  Folgerichtigkeit  des  Quattro- 
cento und  die  plastische  Entfaltung  aller  Körper  in 
der  Hochrenaissance,  der  die  Wiedergabe  der  vollen 
Formvorstellung,  sei  es  bei  organischen  Geschöpfen, 
sei  es  bei  tektonischen  Gebilden,  im  klar  umschriebe- 
nen Räume  auch  für  Gemälde  als  Hauptaufgabe  er- 
schien? Diese  Leistungen  der  grossen  Meister  des 
Cinquecento  hat  offenbar  Hildebrand  im  Auge,  wenn 
er  den  Forderungen  der  Raum-  und  Körperdarstellung 
nachgeht  und  auf  sie  das  Problem  des  Malers  zu 
gründen  sucht. 

Die  künstlerische  Darstellung  darf  nicht  ver- 
absäumen, die  Grundlagen  räumlich-körperlicher  Exi- 
stenz mitzugeben,  die  uns  so  selbstverständlich  vor- 
kommen, aber  eben  deshalb  so  notwendig  sind ;  sie 
muss  die  elementaren  Wirkungen,  die  uns  den  all- 
gemeinen Formbegriff  lebendig  machen,  aus  der  Ge- 
samtheit der  Erscheinungen  und  trotz  dieser  zu  stände 
bringen,  wenn  sie  stark  und  natürlich  sein  soll  (26). 
,,Denn  erst  dadurch  wird  das  Kunstwerk  zu  einem 
wahren  Ausdruck  unsres  Verhältnisses  zur  Natur, 
wie  es  sich  in  unsrer  räumlichen  Vorstellung  natur- 
gemäss  bildet."  Und  je  stärker  der  Maler  „den 
Raumgehalt,  die  Raumfülle  im  Bilde  zur  Anschauung 


30 


Malerei  und  Plastik 


bringt,  je  positiver  durch  die  Erscheinung  für  die 
Raumvorstellung  gesorgt  ist,  zu  desto  stärkerm  Er- 
lebnis wird  uns  das  im  Bilde  Dargestellte,  desto 
wesenhafter  stellt  sich  das  Bild  der  Natur  gegen- 
über" (34). 

Der  Künstler  soll  den  Einzelfall,  den  er  als  Vor- 
wurf wählt,  aus  dem  Gesichtspunkte  der  allgemeinen 
Gesetzmässigkeit  auffassen  und  darstellen,  deren  Ge- 
samtvorstellung uns  aus  unendlichem  Erfahrungs- 
austausch unsrer  Gesichts-  und  Bewegungsvorstel- 
lungen erwächst.  ,, Indem  er  die  Natur  von  diesem 
Gesichtspunkte  auffasst,  stellt  er  der  jeweiligen  Natur- 
erscheinung eine  Bilderscheinung  gegenüber,  bei  der 
das  Zurückführen  auf  diese  Gesetzmässigkeit  die 
Naturerscheinung  verarbeitet  und  geklärt  hat,  und 
welche  dadurch  unserm  Vorstellungsbedürfnis  ent- 
spricht" (18). 

Man  kann  das  Grundprincip  der  realistischen 
Malerei,  die  für  ihr  Werk  den  Glauben  an  die  Wirk- 
lichkeit fordert,  auch  ohne  sich  mit  dieser  zu  ver- 
wechseln, nicht  energischer  betonen.  Es  klingt  wie 
die  Überzeugung  eines  Malers,  der  mit  den  grössten 
Meistern  der  Raumkunst  in  der  Renaissance,  wie 
Masaccio  und  Piero  della  Francesca,  Melozzo  da 
Forli  und  Rafael,  gelebt  hat,  und  selbst  als  äQ%iTexTcov 
ävi'iQ  wie  diese  zu  denken  gewohnt  ist.  Deshalb 
haben  seine  Erörterungen  über  die  Kunstmittel,  die 
der  Malerei  hierfür  zu  Gebote  stehen,  zur  Grundlage 
einer  zusammenfassenden  Charakteristik  der  „klassi- 
schen Kunst"  Italiens  dienen  können. 

Ihm  ist  es  nicht  entgangen,  dass  dazu  eine  ganze 


Konstituierung  des  Bildraumes 


31 


künstlerische  Psychologie"  gehört,  die  von  den  un- 
bewussten  Regionen  unsers  Körpergefühls  auszugehen 
hat  und  mit  ihren  alltäglichsten  unbeachteten  Er- 
fahrungen rechnet  (56). 

Für  den  Maler  ist  die  Konstituierung  des  Bild- 
raumes in  seinem  Verhältnis  zum  Beschauer  sozusagen 
das  Lehrgerüst.  „Es  liegt  in  unsrer  senkrechten 
Stellung  zur  Erde,  andrerseits  in  der  horizontalen 
Lage  unsrer  beiden  Augen,  dass  die  senkrechte  und 
wagerechte  Richtung,  als  Grundrichtungen  aller 
andern,  uns  eingeboren  sind.  Enthält  das  Bild  der 
Natur  diese  zwei  Hauptrichtungen,  so  haben  wir  so- 
fort das  beruhigende  Gefühl  eines  klaren  räumlichen 
Verhältnisses  zur  Bilderscheinung"  (37  f.) .  „Um  das 
einfachste  Beispiel  zu  geben,  so  denke  man  sich 
eine  Ebene.  Es  ist  einleuchtend,  dass  sie  deutlicher 
zur  Anschauung  kommt,  wenn  irgend  etwas  darauf 
gestellt  ist,  z.  B.  ein  Baum,  also  ein  Senkrechtes. 
Dadurch,  dass  etwas  auf  ihr  steht,  spricht  sich  so- 
fort die  horizontale  Lage  der  Fläche,  man  könnte 
fast  sagen,  als  räumlich  sich  betätigend,  aus.  Um- 
gekehrt wirkt  aber  der  Baum,  in  seiner  anstreben- 
den senkrechten  Formtendenz  durch  die  horizontale 
Fläche  gesteigert.  Kommt  nun  noch  die  Wirkung 
von  Schatten  und  Licht  hinzu,  so  dass  der  Baum 
einen  Schatten  auf  die  Erdfläche  wirft,  so  wird  das 
räumliche  Verhältnis  beider  nochmals  erwähnt,  noch- 
mals der  Vorstellung  aufgezwungen.  Ziehen  am 
Horizonte  ein  paar  Wolkenstreifen  den  Blick  nach 
hinten,  so  schreiten  wir  auf  der  Ebene  nach  der 
Tiefe  vor  und  erleben  somit  durch  die  einfachsten 


32 


Malerei  und  Plastik 


Erscheinungsmittel  alle  Raumdimensionen  als  eine 
gemeinschaftliche  Anregung.  Damit  lässt  sich  aber 
auch  verstehen,  wie  die  Einzelgegenstände  durch  die 
Stellung  und  Anwendung  an  der  Darstellung  des  Ge- 
samtraumes arbeiten  und  je  nach  ihrer  Verwertung 
die  Raumanregung  des  Ganzen  verstärken,  andrer- 
seits durch  die  Verwendung  an  sich  als  Einzelgegen- 
stände stärker  zum  Ausdruck  kommen,  weil  sie  eben 
im  Ganzen  eine  bestimmte  räumliche  Funktion  haben, 
eine  bestimmte  räumliche  Rolle  spielen"  (36  f.). 

Unsre  Vorstellung  erfasst  nämlich  den  im  Seh- 
felde erscheinenden  Raum,  indem  sie  in  der  vollen 
Ausdehnung  jenes  eine  Bewegung  nach  der  Tiefe 
ausführt,  nach  der  Tiefe  strebt  —  also  auch  beim 
Bildraume  des  Gemäldes.  ,,Wenn  wir  uns  Einzel- 
körper in  diesen  Raum  gestellt  denken,  so  bilden 
sie  sozusagen  Widerstände  gegen  diese  allgemeine 
Tiefenbewegung,  Flächenerscheinungen,  die  nicht 
weichen.  Durch  die  allgemeine  Tiefenbewegung  er- 
halten sie  jedoch  Volumen  und,  je  nachdem  diese 
Flächenerscheinung  bestimmt  präcisierte  Merkmale 
besitzt,  an  denen  die  Tiefenbewegung  hingleitet,  — 
erhalten  sie  ein  präcisiertes  Volumen,  d.  h.  plastische 
Form." 

„Auf  diese  Weise  werden  alle  räumlichen  Be- 
ziehungen und  alle  Formunterschiede  von  einem 
Standpunkte  aus,  sozusagen  von  vorn  nach  hinten, 
abgelesen.  Die  Gesamterscheinung  leistet  dieser  ein- 
heitlichen Tiefenbewegung,  je  nach  ihren  Teilen,  nur 
einen  frühern  oder  spätem  Flächenwiderstand.  Die 
erste  und  zweite  Dimension  steht  als  Flächenerschei- 


Dynamik  des  Bildes 


33 


nung  der  dritten  Dimension  als  Tiefenbewegung  ent- 
gegen. Bei  dieser  allgemeinen  Tiefenbewegung  er- 
fassen wir  den  Raum  als  Einheit"  (45  f.). 

Darin  wäre  mithin  eine  Art  Dynamik  in  der 
ästhetischen  Aufnahme  des  Bildraums  aufgezeigt. 
Damit  sie  richtig  ausgelöst  werde,  kommt  es  also 
einerseits  auf  die  klare  Gegenüberstellung  der  bei- 
den Faktoren ,  der  Flächenerscheinung  und 
der  Tiefenwirkung,  an  und  andrerseits  auf  die 
unfehlbare  Anregung  zum  Vollzug  der  Einheit  in  der 
Tiefenbewegung. 

Demgemäss  könnte ,  was  zunächst  die  Fläche 
betrifft,  unmittelbar  an  das  früher  über  die  Gegen- 
standsvorstellung Gesagte  angeknüpft  werden,  da  die 
Zeichen  für  diese  sich  schon  in  der  Flächenpropor- 
tion auszusprechen  pflegen  (51).  Dabei  wird  der  Wert 
der  zwei  Grundrichtungen,  nach  der  wir  alle  andern 
verstehen,  beurteilen  und  messen,  der  Senkrechten  und 
der  Wagrechten  sich  von  selbst  geltend  machen.  Im  « 
Grossen  und  Ganzen  vertritt  ja  alles ,  was  auf  der 
Erde  steht  und  wächst  —  also  alle  Körper  —  die 
Senkrechte ;  dagegen  überwiegt  in  der  Natur  im  all- 
gemeinen die  horizontale  Richtung,  in  der  sich  also 
die  Gegenstände  ausbreiten  (58).  Hier  aber  kommt 
es  vor  allen  Dingen  darauf  an,  dass  die  Einzel- 
erscheinungen auf  der  Fläche  möglichst  als  all- 
gemeiner Flächeneindruck  geeinigt  werden,  um  der 
Tiefenbewegung  gegenüber  den  nötigen  Zusammen- 
halt und  die  fühlbare  Widerstandsfähigkeit  zu  ge- 
winnen. Diese  Einigung  ist  dadurch  möglich,  dass 
die  einzelnen  Flächenbilder  gruppenweise  in  möglichst 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Reliefkunst.  o 


34 


Malerei  und  Plastik 


gemeinhaftliche  Distanzpläne  geordnet  werden.  Ein 
zweites  Mittel  liegt  in  der  Überschneidung,  die  einen 
Teil  des  Dahinterliegenden  verdeckt,  aber  zugleich 
zu  ihm  überleitet,  also  z.  B.  Figuren  verschiedener 
Distanzschichten  zu  einer  einheitlichen  Flächenwir- 
kung verbindet.  Drittens  kommt  im  selben  Sinne 
die  Lichtführung  zu  Hilfe ,  die  Flächenbilder  von 
verschiedenem  Abstand  doch  als  einheitliche  Licht- 
massen zusammenzuhalten.  Indes  ist  ja  das  Licht, 
das  den  Raum  durchdringt,  ebendadurch  zugleich 
eine  auseinandersetzende  Macht ,  die  Tiefenwerte 
schafft.  Und  ebenso  steht  es  mit  den  Farbentönen, 
die  als  letztes  Mittel  der  Einigung  zum  Flächen- 
schein in  Betracht  kämen,  durch  ihr  Haften  an  den 
Körpern  sowol  wie  durch  ihre  Helligkeitsgrade  je- 
doch ebenso  trennend  als  verbindend  wirken  können. 
Da  gehen  also  die  beiden  Faktoren  Flächeneinheit 
und  Tiefenwirkung  ineinander  über  (54 — 60). 

Dieser  zweite  Faktor  wird  von  Hildebrand  als 
unerlässlich  gefordert.  Von  der  Erscheinung  im 
Bilde  selbst  muss  die  Anziehungskraft  ausgehen, 
welche  die  Vorstellung  stark  nach  der  Tiefe  zieht 
(46).  „Es  darf  nichts  aus  dem  Bilde  auf  uns  zu- 
kommen, sondern  wir  müssen  in  das  Bild  hinein- 
schreiten, um  eine  einheitliche  Tiefenbewegung  zu 
behalten,"  schreibt  der  Künstler  (53)  in  lebendiger 
Ubertragung  der  eigenen  Ortsbewegung  auf  den  still 
stehenden  Beschauer  an  seinem  fest  vorgeschriebenen 
Standort,  und  bekennt  so  unwillkürlich,  wie  selbst 
„im  Erfassen  des  Bildes  in  einem  Blick",  das  unser 
„ruhig  schauendes  Auge  ohne  Bewegungstätigkeit" 


Dynamik  des  Bildes 


35 


vollziehen  soll ,  ein  starkes  Ingrediens  von  Körper- 
gefühlen wirksam  wird ,  die  aus  den  verpönten 
Regionen  unsrer  Tastempfindungen  stammen. 

Auf  diese  unläugbare  Tatsache  wird  gar  das 
Zustandekommen  der  ästhetischen  Bildeinheit  gebaut. 
„Das  Wesen  der  einheitlichen  Darstellung  liegt  darin, 
dass  ihr  eine  einheitliche  Anziehungskraft  nach  der 
Tiefe  innewohnt-'  (46).  Da  muss  selbst  unsre 
Gegenstandsvorstellung ,  die  z.  B.  eine  Verkürzung, 
wo  sie  eine  vornüber  gebeugte  Person  erkennt,  als 
aus  dem  Bilde  uns  entgegenkommend  aufzufassen 
trachtet,  gezwungen  werden,  sich  der  höhern  Macht 
des  Tiefendranges  gefangen  zu  geben !  Das  Auf- 
rechterhalten der  einheitlichen  Tiefenbewegung  soll 
freilich  dadurch  gelingen,  dass  hinter  jeder  Ver- 
kürzung noch  etwas  ist ,  was  den  Blick  und  die 
Tiefenvorstellung  stark  nach  hinten  zieht,  —  also 
irgend  eine  Ferne  (53).  Aber  wenn  einmal  ein 
Konflikt  von  Gegenstandsvorstellung  und  Gesichts- 
oder Bewegungsvorstellung  ausgebrochen  ist,  so  kann 
wol  nur  eine  höhere  Instanz,  die  in  der  Vorstellungs- 
tätigkeit selber  wirkt,  die  Ausgleichung  zur  Ein- 
heit entscheiden.  Doch  folgen  wir  dem  Führer, 
die  wertvollen  Errungenschaften  seiner  Analyse  zu 
sichern. 

Es  ist  ausserordentlich  wichtig,  zu  der  Erkennt- 
nis durchzudringen,  dass  solche  Bilderscheinung  dann 
,,aus  einem  Komplex  von  Gegensätzen  besteht,  welche 
alle  gegenseitig  und  wiederum  im  Ganzen  An- 
regungen für  die  plastische  und  räumliche  Vor- 
stellung in  uns  bewirken   müssen,    wenn  wir  ein 


36 


Malerei  und  Plastik 


wahrhaft  lebendiges  Bild  der  realen  räumlichen 
Natur  erhalten  sollen.  In  diesem  gegenseitigen 
Bedingen  der  Erscheinungsgegensätze  und  in  ihrem 
gemeinschaftlichen  Hervorrufen  eines  Raumganzen 
besteht  eine  Einheit  der  Erscheinung,  welche  nichts 
gemein  hat  mit  der  organischen  oder  der  Vorgangs- 
einheit in  der  Natur"  (39). 

„Gerade  durch  diese  Koncentration  und  Zu- 
sammenfassung im  Bilde  vermag  die  Kunst  die  zer- 
streute Anregung  der  Natur  zu  übertreffen.  Der 
Künstler  beobachtet  auf  diesen  Zweck  hin  die  Natur- 
erscheinung in  ihrem  ewigen  Wechsel,  er  scheidet 
alle  schwächlichen,  nichtssagenden  (!)  Konstellationen 
aus."  —  „Durch  die  Wirkungsgestaltung  des  Einzel- 
falles," heisst  es  an  andrer  Stelle  (28),  „giebt  er  die 
Vorstellung,  die  sich  an  tausend  Einzelfällen  ge- 
bildet hat."  —  ,, Durch  dies  Reinigungssystem  ver- 
mag er  dem  Bilde  die  Kraft  einzuverleiben,  die  es  der 
Natur  gegenüber  wertvoll  macht." 

Darin  liegt  also  die  ideale  Seite  der  italienischen 
Malerei  bei  den  Meistern  der  Hochrenaissance  aus- 
gesprochen, die  den  Realismus  des  Quattrocento,  auf 
dem  sie  einig  weiter  bauen,  durch  diese  Konsequenz 
im  Sinne  des  menschlichen  Intellekts  zu  der  Über- 
legenheit eines  Systems  gesteigert  haben,  vermöge 
deren  eben  diesen  Leistungen  der  Wert  para- 
digmatischer  Bedeutung  gesichert  wird. 

Auch  so  aber  bleibt  dieser  „klassische  Stil"  der 
italienischen  Malerei  eine  historisch  bedingte  Er- 
scheinung, und  es  dürfte  nicht  ratsam  sein,  die 
Theorie  der  Malerei  als  Kunst  auf  sie  allein  so  aus- 


Zeichnung  und  Farbe 


37 


schliesslich  zu  gründen.  Das  Problem  des  Malers 
darf  als  solches  doch  nicht  darin  gesucht  werden, 
dass  er  alle  Gesichtseindrücke  auf  ihre  plastische, 
oder  sagen  wir  umfassender  räumlich-körperliche, 
Anregungskraft  hin  prüft  und  zu  diesem  Zwecke 
verwendet.  Es  ist  nur  ein  Teil  desselben,  der  so- 
gar nicht  immer  zu  den  Hauptbestandteilen  ge- 
rechnet wird.  —  Und  Hildebrand  selbst  bevorzugt 
auf  dieser  Seite  des  Problems  wieder  erklärtermafsen 
die ,, zeichnerischen  Mittel".  ,, Diese  bilden  den  eigent- 
lichen Kern  der  Wirkung  des  Bildes  als  eines  Raum- 
ganzen, sozusagen  die  Architektur  des  Bildes."  — 
,,Es  ist  auf  der  Hand  liegend ,  dass  die  Farbe  in 
einem  dienenden  Verhältnis  zur  räumlichen  Vor- 
stellung steht  und  nur  insofern  beim  Bilde  von  einer 
innern  Einheit  der  Farbe  die  Rede  sein  kann ,  als 
diese  an  der  grossen  Arbeit,  ein  Raumganzes  zu 
bilden,  teilnimmt.  —  Nicht  um  den  Reiz  der  Farbe 
an  sich ,  wie  beim  Teppiche ,  sondern  um  ihr  Er- 
scheinungsverhältnis als  Distanzträger  handelt  es  sich 
in  erster  Linie"  (60).  Das  ist  für  den  grossen  Ab- 
schnitt der  geschichtlichen  Entwicklung,  als  dessen 
Hauptvertreter  wir  die  italienischen  Meister  der 
Hochrenaissance  gewählt  haben,  unzweifelhaft  richtig. 
Das  Helldunkelverfahren  eines  Rembrandt,  so  sehr 
es  sich  auch  bei  ihm  um  raumentwickelnde  Er- 
scheinungsfaktoren handelt,  beweist  jedoch  den  Weg 
zu  einer  malerischen  Einheit,  die  auf  ,, zeichnerische 
Mittel"  im  eigentlichen  Sinne  verzichten  und  all- 
mählich von  der  Absicht,  Gegenstandsvorstellungen 
zu  erwecken,  zurückkommen  kann. 


38 


Malerei  und  Plastik 


Diese  letztern  aber  sind  das  Gemeinsame  der 
ganzen  historischen  Entwicklung  vorher.  Hildebrand 
kennt  selber  das  unauflösliche  Band,  das  jede  auch 
noch  so  künstlerisch  vollendete  Raum-  und  Körper- 
darstellung im  Bilde  mit  unsern  Gegenstandsvor- 
stellungen verknüpft.  „Die  Erscheinungsgegensätze, 
die  der  Maler  auf  seiner  Fläche  verwenden  kann, 
sie  bewirken  doch  erst  dadurch  einen  Raumwert, 
werden  erst  dadurch  wirksam  für  die  Formvor- 
stellung ,  dass  sie  sich  mit  gegenständlichen  Vor- 
stellungen associieren,  dass  wir  sie  auf  gegenständ- 
liche Natur  beziehen"  (46  f.). 

Daraus  aber  geht  hervor,  dass  es  sich  bei  der 
konstitutiven  Arbeit  des  Malers  selbst  nicht  allein 
um  ein  ,,In  Beziehungsetzen  der  Gesichtsvorstellungen 
und  Bewegungsvorstellungen"  handelt,  nicht  nur 
zwischen  ihnen  ein  gesetzmässiges  Verhältnis  ge- 
funden und  vermittelt  wird ,  sondern  dass  es  auf 
eine  viel  kompliziertere  psychologische  Synthese 
hinausläuft.  Und  deshalb  dürfte  auch  der  Wert 
des  Fernbildes  ,,als  reiner  Gesichtseindruck"  über- 
schätzt sein. 

Wo  immer  jedoch  die  letzte  Einheit  des  Kunst- 
werks, ob  schon  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
selbst  oder  erst  in  der  geistigen  Vorstellung  gesucht 
werde ,  es  muss  nach  dem  Bisherigen  einleuchten, 
„welch'  unendlich  anderes  Ding  so  ein  Bild  ist,  als 
das  Dargestellte  in  natura"  (41). 

Die  Antwort  auf  die  Frage  nach  dem  Problem 
der  Form  in  dieser  bildenden  Kunst,  der  Malerei, 
kann  also  nur  lauten :  es  liegt  in  der  Herstellung  der 


Das  Problem  des  Malers 


39 


Bildeinheit,  —  und  zwar  zunächst  für  den  Gesichts- 
sinn oder  die  Gesichtsvorstellung.  „In  dem  gegen- 
seitigen Bedingen  der  Erscheinungsgegensätze  be- 
steht eine  Einheit,  die  nichts  gemein  hat  (oder 
richtiger :  nicht  identisch  ist)  mit  der  organischen 
oder  der  Vorgangseinheit  in  der  Natur"  (39). 

Die  einzelnen  Form-Probleme  für  das  Dar- 
gestellte ergeben  sich  erst  mit  den  Anforderungen, 
die  von  Gegenstandsvorstellung  und  Weltvorstellung 
überhaupt  an  das  Bild  gestellt  werden,  oder  mit  den 
Ansprüchen  an  Vollständigkeit  des  Weltbildes  im 
Einzelnen  (also  auch  in  plastisch  körperlichem  Sinne) 
oder  im  Ganzen  (also  auch  in  räumlich  konsequentem 
Sinne),  die  der  Maler  selbst  erhebt  und  herausfordert. 

Das  Problem  des  Malers  aber  im  allgemeinen 
oder  das  specifisch  malerische  Problem,  der 
Vorwurf  der  Malerei  als  Kunst  im  Unterschied  von 
ihren  Nachbarinnen,  worauf  es  uns  ankam,  ist  etwas 
ganz  anderes. 

Das  Hauptproblem  der  Malerei  ist  die 
Wiedergabe  des  Zusammenhangs  zwischen 
den  Dingendieser  Welt,  also  der  Einheit 
des  Ganzen,  das  uns  umgiebt,  —  und  zwar 
zunächst,  soweit  wir  im  Augenschein 
allein  seiner  habhaft  werden  können. 

Nicht  ein  Gegenstand  an  sich  also,  sondern  in, 
mit  und  unter  einer  Situation,  interessiert  sie.  „Viele 
Gegenstände  sind  ja  an  eine  bestimmte  Situation 
gebunden ;  so  kennen  wir  sie  nur  als  bestimmte 
Wirkungsform ,  und  durch  die  Änderung  der  Situa- 
tion scheint  sich  ihre  Daseinsform  zu  ändern,"  schreibt 


40 


Malerei  und  Plastik 


auch  Hildebrand  gelegentlich  (24).  Das  ist  aber  ein 
einfacher  Fall  für  den  Maler.  „Auf  diese  Weise 
nimmt  der  Gegensatz ,  in  dem  der  Gegenstand  zu 
seiner  Umgebung  steht,  Teil  an  seiner  Charakterisie- 
rung;" aber  auch  umgekehrt,  charakterisiert  der  Gegen- 
stand durch  seine  Gegenwart  die  Umgebung  mit. 
Das  heisst  sie  treten  beide  in  einen  Zusammenhang. 
Und  zwar  giebt  es,  wie  Hildebrand  selber  ausführt, 
normale  Wirkungsaccente,  typische  Situationen,  die 
sich  in  unsrer  Vorstellung  festsetzen ,  und  zufällige, 
exceptionelle ,  transitorische  Zusammenhänge.  ,,Der 
Künstler  bereichert,  je  nach  seiner  individuellen  Be- 
gabung unser  Verhältnis  zur  Natur,  indem  er  die 
Daseinsform  in  Situationen  bringt,  die  ihr  neue  Wir- 
kungsaccente verleihen.  Je  normaler  und  typischer 
die  Wirkungsaccente  in  einem  Kunstwerk  fallen, 
desto  objektivere  Bedeutung  besitzt  es."  Je  transi- 
torischer,  exceptioneller  die  Erscheinungseinheit, 
dürfen  wir  hinzufügen,  desto  subjektiver  wird  sie 
uns  vorkommen ,  auch  wenn  wir  in  der  Malerei  ihre 
Berechtigung  gar  nicht  beanstanden. 

Nicht  die  isolierte  Körperform  also ,  aber  auch 
nicht  die  Raumform  als  solche  ist  der  Vorwurf  des 
Malers,  sondern  wieder  nur  der  Zusammenhang,  der 
innerhalb  der  dargestellten  Gränzen  herrscht.  Im 
Nebelschleier,  in  dem  sich  die  scharfe  Auseinander- 
setzung der  Abstände  ausgleicht  und  die  Form  ver- 
schwimmt, im  schimmernden  Duft  der  feuchten, 
lichterfüllten  Atmosphäre  wird  auch  ein  klarer  Archi- 
tekturprospekt malerisch,  also  Darstellungsgegenstand 
für  den  Maler.    Dieser  sucht  eben  den  Zusammen- 


Der  Augenschein  des  Zusammenhangs  der  Dinge 


4  I 


hang,  der  die  organische  und  die  unorganische  Natur 
verbindet,  durch  beide  hin  waltet,  über  alle  Einzel- 
bildung, und  Distanzteilung  hinweg  geht,  zu  fassen. 
Die  Veränderungen,  die  alle  Formen  und  Farben 
unter  dem  vorübergehenden  Einfluss  der  Tages-  und 
Jahreszeiten,  des  Wetters  und  des  Alters  erleiden, 
die  Abhängigkeit  von  den  allgemeinen  Gesetzen  des 
Alls,  da  liegt  sein  Feld,  auf  dem  keine  andre  Kunst 
mit  ihm  wetteifern  kann.  Begreiflicherweise  mischt 
sich  im  Interesse  des  Menschen  mit  diesem  sicht- 
baren Zusammenhang  sehr  leicht  der  unsichtbare, 
der  nur  durch  andre  Sinne  vermittelt  wird,  wie  der 
hörbare  des  Wortes ,  oder  erst  in  der  Vorstellung 
einleuchtet,  wie  der  Kausalnexus.  So  dringen,  be- 
sonders auf  dem  Wege  der  mimischen  Beziehungen 
zwischen  den  Figuren,  aber  auch  zwischen  Personen 
und  Schauplatz ,  zwischen  Dingen  und  ihrer  Um- 
gebung, —  poetische  Beziehungen  in  den  Darstel- 
lungskreis des  Malers,  und  der  Zusammenhang  mi- 
die Phantasie  verbindet  sich  mit  dem  Zusammenhang 
für  den  Gesichtssinn,  nicht  selten  in  einem  Grade,  der 
die  selbständige  Existenz  des  Bildes  als  eines  Kunst- 
werks für  sich,  als  malerische  Schöpfung  gefährdet. 
Für  die  Malerei  als  Kunst  bleibt  natürlich  die  Bild- 
einheit des  Augenscheines  das  Kriterium  ihrer  Er- 
scheinungsform, und  nur  mit  der  Darstellung  eines 
Zusammenhanges,  den  unser  schauendes  Auge  zu 
erfassen,  zu  gemessen  und  zu  vermitteln  vermag, 
befinden  wir  uns  im  Mittelpunkt  ihres  Reichs ,  wo 
keine  Nachbarin  ihre  Hand  im  Spiele  hat. 


42 


Malerei  und  Plastik 


Nun  aber  haben  wir  die  darstellende  Tätigkeit 
des  Malers  für  sich  allein  verfolgt,  ohne  uns  um  die 
weitere  bildende  Kunst  zu  kümmern,  die  Hildebrand 
damit  zusammenfasst.  Er  geht  von  der  Voraus- 
setzung aus,  die  Aufgabe,  wie  er  sie  formuliert,  — ■ 
,,das  Zutagefördern  einer  allgemeinen  Raumvorstel- 
lung durch  die  Gegenstandserscheinung"  —  sei  fin- 
den Bildhauer  ganz  dieselbe  wie  für  den  Maler.  „Die 
Arbeit  Beider  wird  durch  dasselbe  Vorstellungs- 
bedürfnis geleitet,  mögen  auch  die  zu  verwendenden 
Mittel  noch  so  verschieden  sein."  Auch  für  die 
Plastik  ist  nach  seiner  Uberzeugung  das  ,, Fernbild", 
das  reine  einheitliche  Flächenbild  von  entferntem 
Standpunkt,  wie  es  erst  von  einer  gewissen 
Distanzschicht  an  auf  unserm  Sehfeld  sich  dar- 
bietet, das  einzige  Mittel  zur  Lösung  des  Form- 
problems. 

Nach  unsrer  Ansicht  vom  Wesen  der  Malerei 
kann  ihr  aber  unmöglich  dasselbe  Gestaltungsprincip 
innewohnen  wie  der  Plastik ;  wir  müssen  auch  für 
diese  zu  einem  abweichenden  Ergebnis  gelangen,  so 
schwer  es  werden  mag,  der  Ansicht  eines  Bildhauers 
von  seiner  eigenen  Kunst  entgegenzutreten. 

Wir  müssen,  um  mit  ihm  die  künstlerische 
Tätigkeit  des  Bildners  zu  verfolgen,  zu  dem  grund- 
legenden Experiment  zurückkehren ,  wo  als  Objekt 
für  die  Gesichts  Wahrnehmung  ein  Gegenstand  (in 
bestimmter  Situation)  mit  Umgebung  und  Hinter- 
grund gegeben,  die  Richtungslinie  des  Beschauers 
fest  gelegt,  und  nur  der  Abstand  auf  ihr  verschieb- 
bar gelassen  war. 


Abtastendes  Sehen 


48 


Vom  entfernten  Standpunkt  ergab  sich  für  das 
ruhige  Schauen  das  Fernbild.  Tritt  der  Beschauer 
aber  näher  hinzu ,  so  dass  er  verschiedene  Augen- 
akkomodation braucht,  um  das  gegebene  Objekt  zu 
sehen ,  dann  hat  er  die  Gesamterscheinung  nicht 
mehr  in  Einem  Blick,  und  er  kann  sich  das  Bild  nur 
durch  seitliche  Augenbewegungen  mit  verschiedener 
Akkomodation  zusammensetzen.  Es  teilt  sich  also 
die  Gesamterscheinung  in  verschiedene  Gesichts- 
eindrücke, welche  durch  Augenbewegung  verbunden 
werden.  Je  näher  der  Beschauer  dem  Objekte  tritt, 
desto  mehr  Augenbewegungen  braucht  er  und  desto 
kleiner  werden  die  einheitlichen  Gesichtseindrücke. 
Zuletzt  vermag  er  den  Gesichtseindruck  so  zu  be- 
schränken, dass  er  nur  immer  einen  Punkt  scharf  in 
den  Sehfocus  rückt  und  die  räumliche  Beziehung 
dieser  verschiedenen  Punkte  in  Form  eines  Be- 
wegungsaktes erlebt ;  alsdann  hat  sich  das  Schauen 
in  ein  wirkliches  Abtasten  und  in  einen  Be- 
wegungsakt umgewandelt  und  die  darauf  fussenden 
Vorstellungen  sind  keine  Gesichtseindrucksvorstel- 
lungen (von  nun  an  kürzer :  Gesichtsvorstellungen), 
sondern  Bewegungsvorstellungen,  —  und 
bilden  das  Material  des  Form-Sehens  und  Form- 
Vorstellens." 

„Das  geistige  Material  des  Bildhauers  sind  also 
seine  Bewegungsvorstellungen,  welche  er  teils  direkt 
aus  der  Bewegungstätigkeit  des  Auges  selbst,  teils 
aus  den  Gesichtseindrücken  gewinnt,  und  diese  bringt 
er,  indem  er  sie  mit  der  Hand  wirklich  ausführt,  an 
einem  stofflichen  Material  zur  Darstellung.  Diese 


44 


Malerei  und  Plastik 


so  dargestellten  Bewegungsvorstellungen  geben  als- 
dann wieder  einen  Gesichtseindruck  ab  und  sollen 
in  diesem  Gesichtseindruck  als  Fernbild  ihre 
Einheitsform  gewinnen." 

Wir  überlassen  es  billig  der  Psychologie  zu 
entscheiden,  wie  weit  das  geistige  (oder  psychische) 
Material  des  Bildners  sich  als  Bewegungsvorstellungen, 
wie  das  des  Malers  als  Gesichtsvorstellungen  be- 
stimmen ,  und ,  wie  es  hier  geschieht ,  zur  Unter- 
scheidung beider  Tätigkeiten  beschränken  lässt. 
Das  Schachtelsystem ,  in  das  man  so  gern  wieder 
verfällt,  tut  hier  nichts  zur  Sache,  wenn  wir  ohne 
diese  doch  immer  noch  variablen  Etiquetten  auf  den 
Schubfächern  auszukommen  versuchen.  Nur  auf  Eins 
muss  aufmerksam  gemacht  werden,  dass  wieder  die 
Beziehung  zu  den  ,,niedern  Sinnen"  sorgfältig  ver- 
mieden wird,  obgleich  anfangs  vom  Abtasten  des 
Auges  geredet  worden. 

Lassen  wir  auch  das  ,, Fernbild",  das  weiterhin 
noch  einer  genaueren  Auseinandersetzung  bedarf,  zu- 
nächst bei  Seite,  und  betrachten  den  vollrunden 
plastischen  Körper  erst  einmal  ganz  isoliert. 

Dann  steht  die  Grundtatsache  wenigstens  ausser 
Zweifel,  dass  auch  die  Plastik  in  erster  Linie  für  das 
Sehorgan  des  Menschen  arbeitet.  Sie  stellt  für  das 
menschliche  Subjekt  ein  sichtbares  Gebilde  hin.  Der 
Gesichtseindruck  oder  die  Gesichtseindrücke,  die  wir 
von  dem  Werk  des  Bildhauers  empfangen,  werden 
also  stets  eine  Hauptrolle  spielen.  Sie  beanspruchen 
in  dem  Wahrnehmungsakt  jedenfalls  das  Recht  der 
Priorität.    Das  ist  nicht  anders,  wie  beim  Gemälde, 


Luft  und  Licht  in  der  Plastik 


45 


nicht  anders  auch  beim  Bauwerk,  —  und  jeglichem 
Gegenstande,  dem  wir  irgendwo  begegnen,  d.  h.  am 
hellen  Tage.  Es  ist  das  Licht  des  Tages ,  unter 
freiem  Himmel  oder  im  Innenraum,  oder  gar  künst- 
liche Beleuchtung ,  die  uns  das  Bildwerk  sichtbar 
machen.  Während  aber  der  Maler  die  Beleuchtung 
aller  Gegenstände ,  die  er  uns  zeigt ,  im  Gemälde 
selber  mit  darstellt,  vermag  der  Bildhauer  sie  nicht 
zu  geben,  wie  er  will,  sondern  muss  sie  sein  Werk 
hinnehmen  lassen,  wie  sie  kommen.  Er  kann  sie 
keiner  künstlerischen  Behandlung  unterziehen ,  son- 
dern ihnen  höchstens ,  wo  er  für  einen  festen  Be- 
stimmungsort gestaltet,  einen  weitergehenden  Ein- 
fluss  auf  die  Art  seines  Verfahrens  und  die  An- 
wendung einzelner  Kunstgriffe  gestatten,  er  kann 
der  wolvertrauten  Macht  sozusagen  in  die  Hände 
arbeiten ,  wie  einer  Bundesgenossin ,  mit  der  er 
ständig  zu  rechnen  gewohnt  ist.  Er  kommt  durch 
lange  Erfahrung  vielleicht  dahin ,  den  wechselnden 
Zufälligkeiten  des  Lichtes  so  weit  Rechnung  zu  tragen, 
dass  sie  seine  Formgebung  nicht  wesentlich  zu  ent- 
stellen vermögen.  Aber  von  einer  „Darstellung  des 
Gegenstandes  als  Erscheinungsprodukt  seiner  selbst 
und  des  ihn  umgebenden  allgemeinen  Raum-  oder 
Luftkörpers"  (43)  kann  doch  wol  nur  bei  der 
Malerei ,  nicht  aber  bei  der  Plastik  die  Rede  sein, 
da  die  Erhellung  dieses  Raum-  oder  Luftvolumens 
um  ihn  her  notwendig  dazu  gehört.1) 


1)  Vgl.  hierzu  auch  Guido  Hauck ,  Die  Gränzen  zwischen 
Malerei  und  Plastik.    Preuss.  Jahrbücher  1 885. 


46 


Malerei  und  Plastik 


Schon  in  der  Dämmerung  wird  die  Hegemonie 
unsres  Auges  unsicher,  und  im  Dunkel  der  Nacht 
verliert  es  sein  Vortrittsrecht  vollends.  Da  ist  das 
Gemälde  auf  der  Wand  für  uns  überhaupt  nicht  vor- 
handen, das  Ölbild  im  Rahmen  nur  eine  Holztafel 
oder  eine  Leinwand,  kein  Bild.  Beim  Werk  der 
Plastik  aber  bleibt  das  Gebilde  des  Künstlers  auch 
ungesehen  ein  reales  Ding,  dessen  Beschaffenheit 
durch  andre  Sinne  wahrgenommen  werden  kann. 
Wir  können  seine  Formen  mit  den  Händen  abtasten 
und  herumgehend  von  allen  Seiten  die  Existenz,  den 
Standort  und  das  Volumen  des  Körpers  konstatieren. 
Ob  wir  dabei  auch  eine  deutliche  Formvorstellung 
gewinnen,  ist  eine  andre  Frage,  die  nur  mit  Hülfe 
der  experimentellen  Psychologie  beantwortet  werden 
kann.  Wenn  bereits  Erinnerungsbilder  des  vorher 
gesehenen  Gegenstandes  mitspielen,  liegt  die  Sache 
natürlich  schon  anders,  als  wenn  dies  nicht  der  Fall 
ist.1)  Jedenfalls  aber  kommt  bei  dem  vollrunden 
Körper  der  Wechsel  des  Standpunktes ,  die  Orts- 
bewegung mit  ihren  Beiträgen  ebenso  zu  Statten,  wie 
dies  bei  einem  Architekturwerk  der  Fall  ist,  in  dessen 
Innenraum  wir  ausserdem  noch  tastend  umher- 
schreiten können.  Und  daran  eben  liegt  uns  hier. 
So  wenig  eigentlich  solche  Orientierung  über  ein 
Kunstwerk  im  Dunkeln  für  die  ästhetische  Aufnahme 


i)  Ganz  ungenügend  sind  natürlich  die  Untersuchungen  über 
die  sozusagen  passiven  Erfahrungen  bei  der  Berührung  der  Haut- 
oberrläche  unsers  Körpers.  Vgl.  z.  B.  te  Peerdt  a.  a.  O.  24  f.  Für 
die  Kunstpsychologie  kommt  es  auf  die  aktiven  Äusserungen  des 
Getasts  an. 


Konstitutive  Faktoren  des  Körpers 


47 


in  Betracht  zu  ziehen  sein  mag,  ihre  Möglichkeit  ge- 
mahnt uns  doch  an  wichtige  Eigenschaften,  die  das 
Werk  des  Bildners  als  Körper  mit  dem  Bauwerk  und 
mit  der  Wirklichkeit  teilt,  während  das  Werk  des 
Malers ,  das  Bild  als  solches  J  sie  nicht  besitzt, 
sondern  nur  das  Substrat ,  die  Fläche ,  an  der  es 
haftet ,  und  das  Bischen  Farbenmaterial ,  die  Mittel 
zum  Zweck  also,  die  nicht  an  sich  selber  das  Kunst- 
werk ausmachen.  Beim  Gebilde  des  Plastikers  ist 
aber  das  kubische  Ding  gerade  der  unentbehrliche 
räumlich-körperliche  Grundstock  für  alle  Gesichts- 
eindrücke, —  der  dreidimensionale  Komplex,  der  mit 
den  Augen  des  Laien  angesehen  sich  unbequem 
geltend  machen  soll ,  mit  künstlerischem  Blick  be- 
trachtet, durch  die  Hand  des  Bildners  vermittelnd 
und  ausgleichend  bereitet,  dagegen  als  woltuende 
Augenerscheinung  glatt  eingeht  und  befriedigt. 

Bezeugt  nun  aber  der  feststellbare  Sachverhalt 
nicht  soviel ,  dass  nur  ein  Teil  des  geistigen  Ma- 
terials, mit  dem  der  Bildhauer  arbeitet,  aus  den  Ge- 
sichtseindrücken gewonnen  ist,  wie  auch  Hildebrand 
anerkennt,  ein  andrer  Teil  direkt  aus  der  Bewegungs- 
tätigkeit des  Auges ,  wie  er  ebenfalls  angiebt ,  ein 
dritter  Teil  aber  überhaupt  nicht  auf  Errungen- 
schaften des  Sehapparates  oder  dem  Einfluss  seiner 
äussern  Muskulatur  beruhen  kann,  sondern  anders- 
woher stammen  muss ,  und  dass  gerade  dieser  Teil 
die  konstitutiven  Faktoren  des  Körpers  im  Räume 
liefert  ?  Es  sind  Beiträge  der  Tastorgane  und  sonstige 
Erfahrungen  des  Körpergefühls ,  die  den  grund- 
legenden Raumwert  des  Gebilds  erzeugen,  indem  sie 


48 


Malerei  und  Plastik 


sich  durch  die  formende  Hand  und  ihre  Werkzeuge 
auf  das  bildsame  Material  übertragen  oder  schon  in 
diesem  selber  gegeben  sind. 

„Das  geistige  Material  des  Bildhauers  sind  Be- 
wegungsvorstellungen", auf  denen  auch  unser  Form- 
Sehen  und  Form-Vorstellen  beruht  (10).  Diese  aber 
werden  nicht  von  dem  entfernten  Standpunkt  zu 
dem  Objekt  gewonnen,  auf  dem  nach  Hildebrand  die 
Erscheinungsform,  die  das  Kunstwerk  festhält,  allein 
beruhen  soll  (68,  Anm.),  sondern  von  dem  nahen 
Standpunkt,  der  innerhalb  unsrer  Tastregion  gelegen 
ist.  Auf  diesem  Standpunkt  in  greifbarer  Nähe  wird 
das  Auge  selbst  zum  Tastorgan,  wie  an  den  oben  an- 
geführten Stellen  beschrieben  steht.  Wenn  dies  schon 
bei  jedem  Beschauer  eines  dreidimensionalen  Kör- 
pers der  Fall  ist,  wie  viel  mehr  Bedeutung  wird 
dieser  Process  beim  Bildhauer  während  der  Arbeit 
an  dem  „stofflichen  Material"  gewinnen,  auf  das  er 
sein  „geistiges  Material  überträgt".  Wo  immer  in 
greifbarer  Nähe  unter  unsern  Händen  eine  Form 
entsteht ,  da  arbeitet  ja  das  tastende  Auge  mit  der 
tastenden  Hand  und  ihren  Werkzeugen ,  in  die  sich 
das  Gefühl  gleichsam  miterstreckt,  auf  das  Innigste 
zusammen.  In  diesem  Gestaltungsprocess  bei  un- 
mittelbarer Berührung  muss  doch ,  so  sollten  wir 
meinen ,  das  innerste  Geheimnis  des  plastischen 
Bildens  gelegen  sein ;  denn  die  Hauptsache,  die  er- 
reicht werden  muss ,  bleibt  doch  die ,  dass  das  Er- 
gebnis ein  Körper  werde ,  bleibt  eben  die  Kon- 
stituierung des  dreidimensionalen  Komplexes ,  der 
die  Unterlage  aller  sonstigen  Sinneseindrücke  aus- 


Psychische  Mächte 


49 


macht  bis  hinauf  zum  reinen  Augenschein.  Und  es 
fragt  sich,  ob  der  Bildner  bei  dieser  geheimnisvollen 
Hervorbringung  der  festen  Form  mit  seinem  geistigen 
Material  von  Vorstellungen  auskommt,  welcher  Kate- 
gorie auch  sie  angehören  mögen;  es  fragt  sich,  ob 
hier  nicht  viel  elementarere  psychische  Mächte  mit- 
wirken, die  sich  kaum  anders  als  bei  physischer  Be- 
rührung, unmittelbar  im  leiblichen  Verkehr,  durch 
die  liebevolle  Mühe  der  Tastorgane  selbst  übertragen 
lassen. 

Im  dem  Kapital  der  Bewegungsvorstellungen,  als 
unerlässlicher  Hülfe  alles  Formvorstellens  und  Form- 
sehens, liegt  ohne  Zweifel  auch  die  Verbindung  mit 
den  Motiven  des  künstlerischen  Schaffens.  Aber 
diese  Antriebe  der  Seele,  die  dazu  führen,  dem 
organischen  Geschöpf  der  Natur  ein  Ebenbild  aus 
bildsamer ,  aber  dauerhafter  Masse  gegenüber  zu 
stellen,  sind  für  den  Künstler  das  „Selbstverständ- 
liche" ebenso,  wie  die  Herstellung  der  körperlichen 
Grundlage  für  die  eigentlich  plastische  Form.  Über 
Beides  hat  uns  der  Meister,  gewiss  zum  Bedauern 
aller  seiner  Leser,  keine  Rechenschaft  gegeben.  Über 
die  psychischen  Erlebnisse,  die  ihn  den  Schritt  zur 
darstellenden  Kunst  versuchen  Hessen,  die  sich  bei 
der  Konception  jedes  neuen  Werkes  bis  zu  gewissem 
Grade  wiederholen,  liebt  es  nicht  jeder,  zu  „raison- 
nieren".  Das  Problem  der  Form  aber  beginnt  für 
den  Meister,  der  über  die  Möglichkeiten  des  Ver- 
fahrens nachdenkt,  erst  da  recht  aufzutauchen,  wo 
es  darauf  ankommt,  das  unbewusst  hervorgehende 
Gebilde  der  Hand  mit  den  Anforderungen  des  Auges 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  a 


50 


Malerei  und  Plastik 


zu  vergleichen,  in  dem  Augenblick  jedesmal,  wo  das 
schöpferische  Subjekt  sich  aus  dem  Vollzuge  einer 
angeborenen  Gestaltungskraft  zurückzieht,  um  da- 
zwischen zum  geniessenden  Subjekt  zu  werden.  Ist 
es  nicht  hier  grade,  wo  das  tastende  Sehen  aufhört 
und  das  ruhige  Schauen  beginnt? 

,, Der  Bildhauer  gestaltet  also  indirekt,"  so  schreibt 
er  selber,  ,,an  einem  Gesichtseindruck  oder  einer  ein- 
heitlichen Erscheinung.  Die  dargestellte  Form  oder 
die  realisierten  Bewegungsvorstellungen  prüft  er  an 
dem  Gesichtseindruck,  den  er  empfängt,  wenn  er 
genügend  zurücktritt,  um  das  Fernbild  der  Form  zu 
empfangen.  Solange  dies  einheitliche  Bild  nicht  ent- 
steht, ist  die  reale  Form  noch  nicht  zu  ihrer  wahren 
Einigung  gelangt ;  denn  die  letzte  Wahrheit  ihrer 
Einigung  liegt  eben  darin,  dass  das  entstehende  Bild 
die  volle  Ausdrucksstärke  für  die  Form  besitzt. 
Hierin  liegt  das  plastische  Problem  des  Bildhauers." 

In  diesen  Worten  ist  eigentlich,  schärfer  als 
Hildebrand  bei  der  erstrebten  Analogie  mit  dem 
Werke  des  Malers  zulassen  möchte,  der  entschei- 
dende Unterschied  ausgesprochen.  Nicht  in  der 
Einigung  zur  Bildeinheit,  zum  Augenschein  liegt  die 
letzte  Wahrheit  wie  beim  Gemälde,  sondern  darin, 
dass  das  entstehende  Bild  (oder  nach  unsrer  Aus- 
drucksweise :  der  Augenschein  des  Gebildes)  die 
volle  Ausdrucksstärke  für  die  Form  besitzt,  d.  h. 
die  klare  Formvorstellung  des  Gegenstandes  erwecke. 

Wie  gewinnen  wir  aber  diese  aus  dem  einheit- 
lichen Flächenbilde,  das  sich  dem  schauenden  Auge 
auf  entferntem  Standpunkte  darbietet?   Erinnern  wir 


Gegenständlichkeit  und  Körperlichkeit  des  Bildwerkes  51 


uns,  was  Hildebrand  selbst  über  die  Auslösung  des 
gemalten  Bildes  gesagt  hat,  damit  die  latenten  Be- 
wegungsvorstellungen im  reinen  Gesichtseindruck  so- 
zusagen losgehen.  Alle  Erscheinungsgegensätze  wer- 
den erst  dadurch  wirksam  für  die  Formvorstellung, 
dass  sie  sich  mit  Gegenstandsvorstellungen  asso- 
ciieren,  dass  wir  sie  auf  gegenständliche  Natur  be- 
ziehen. ,,Hell  und  dunkel  bekommt  erst  die  model- 
lierende Kraft  als  Licht  und  Schatten  durch  ihre 
gegenseitige  Lage,  aus  der  wir  die  Form  eines 
Gegenstandes  erkennen"  (46  f.). 

Also  die  Gegenstandsvorstellung,  das  Erkennen 
auf  den  ersten  Blick  eines  organischen  Geschöpfes 
als  Urbild  des  vom  Bildhauer  hingestellten  Gebildes, 
ist  das  Erste,  das  verlangt  wird.  Damit  aber  ver- 
knüpfen sich  aufs  Engste  alle  Forderungen,  die  wir 
an  einen  Gegenstand  als  Körper  im  Räume  zu  stellen 
gewöhnt  sind.  Er  muss  die  Eigenschaften  besitzen, 
die  uns  einen  Widerstand  entgegenstellen.  Und  zwar 
sind  diese  Leistungen  nicht  wie  beim  Gemälde  in 
seinem  Rahmen  nur  dem  uneigentlichen  Augen- 
scheine nach  zu  verstehen,  sondern  dem  eigentlichen 
Sinne  bei  wirklichen  Gegenständen  gemäss.  Die 
Statue  auf  ihrem  Postament  bleibt  ein  realer  Körper, 
trotz  aller  Vorliebe  für  die  einheitlich  geläuterte  Ge- 
samtwirkung, die  sie  uns  als  Erscheinung  aus  der 
Ferne  gewähren  mag.  Und  sollen  wir  diesen  Körper 
als  das  Abbild  eines  organischen  Leibes  gleich  uns 
anerkennen,  so  wenden  wir  die  Kriterien  darauf 
an  wie  bei  den  Lebewesen,  die  wir  neben  uns  oder 
da  draussen  stehen  sehen.    Das  plastische  Bildwerk 

4* 


52 


Malerei  und  Plastik 


muss  sich  durch  eine  Reihe  unerlässlicher  Überein- 
stimmungen bewähren,  und  zwar  für  unser  eignes 
Körpergefühl.  Was  über  den  Wert  der  beiden 
Grundrichtungen,  die  Senkrechte  und  die  Wagrechte, 
gesagt  worden  ist,  gilt  hier  nur  noch  unmittelbarer. 
Das  Höhenlot,  das  unser  Blick  einsetzt,  muss  sich  als 
aufrechte  Grade,  d.  h.  als  grade  Haltung  ausweisen, 
und  wo  diese  nicht  gezeigt  wird,  doch  als  Richtungsaxe 
des  Wachstums  vorhanden  sein,  also  die  Möglichkeit 
zu  solcher  Haltung  erkennen  lassen.  Die  Horizontale 
bildet  schon  in  der  Basis  die  notwendige  Ergänzung 
und  wird  an  verschiedenen,  uns  wol  bekannten 
Stellen  des  Leibes  eingelegt,  um  das  Gleichgewicht 
der  Massen  zu  beurteilen,  wie  die  Abweichungen 
davon,  die  sich  als  willkürliche  Bewegungen  des  Ge- 
schöpfes erklären.  Das  Alles  geschieht  mit  einer 
fast  unkontrollierbaren  Schnelligkeit  vermittelst  unsrer 
Augenbewegungen ;  aber  auf  dieser  summarischen 
Orientierung  beruht  die  Entscheidung,  dass  das  mar- 
morne Ding  da  ein  Lebewesen  bedeute. 

Die  Kontrolle  des  Formbildens  durch  den  Ge- 
sichtseindruck vom  entfernten  Standpunkt,  diese 
Probe  auf  das  Zusammengehen  der  realen  Körper- 
form zu  einem  glatt  verlaufenden  Wahrnehmungs- 
akt, im  Ganzen  und  im  Einzelnen,  und  auf  die  letzte 
Forderung,  dass  diese  reine  Erscheinung  auch  ein 
deutliches  Ausdrucksbild  der  Form  abgebe  und  ihren 
Wert  als  klare  Gesichtsvorstellung  bewähre,  —  diese 
ganze  Begutachtung  des  taktilen  Verkehrs  zwischen 
dem  Künstler  und  seinem  bildsamen  Substrat  rückt 
doch  wol  wie  zeitlich,  so  auch  sachlich  in  der  dar- 


Das  plastische  Problem  des  Bildners 


53 


stellenden  Tätigkeit  des  Bildhauers  an  den  zweiten 
Platz.  So  sehr  der  Gesichtseindruck,  das  Gesamt- 
bild beim  Wahrnehmungsakt  des  Beschauers  dem 
fertigen  Kunstwerk  gegenüber  die  Priorität  behauptet, 
und  so  sehr  der  gewiegte  Meister  stets  unter  dem 
leitenden  Einfluss  dieses  vorschwebenden  Gesamt- 
bildes arbeiten,  ja  schon  erfinden  mag,  und  bei  der 
ersten  Anlage  wie  bei  der  fortschreitenden  Ökonomie 
seiner  Tätigkeit  diesem  Endziel  zu  sich  einzurichten 
und  abzurichten  gewöhnt,  —  es  bleibt  der  Über- 
gang vom  schöpferischen  zum  geniessenden  Subjekt, 
von  Aktivität  zur  Kontemplation  übrig,  der  nicht 
übersehen  werden  darf. 

Fassen  wir  diese  Erwägungen  zusammen,  so 
muss  die  Behauptung  gewagt  werden,  das  ,, plastische 
Problem  des  Bildhauers"  kann  in  der  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Einigung  der  realen  Form  für  den  Augen- 
schein doch  nicht  allein  gesucht  werden.  Wir  ver- 
mögen darin  nur  eine  sehr  wichtige,  die  ästhetische 
Aufnahme  des  Kunstwerkes  ausserordentlich  för- 
dernde Vorsorge  zu  erkennen.  Die  letzte  Einigung 
des  Ganzen  geschieht  ja  doch  nicht  in  dem  Sinnes- 
eindruck, in  der  optischen  Empfindung  unsres  Seh- 
organs, sondern  in  der  Vorstellung.  Und  die  plasti- 
sche Anregungskraft  der  Erscheinung  beruht  doch 
wol  noch  auf  andern  Eigenschaften,  die  selbst  dem 
reinen  Augenscheine  noch  die  volle  Ausdrucksfähig- 
keit der  Form  gewähren,  indem  die  Gegenstands- 
vorstellung sonst  dabei  zu  Hülfe  kommt. 

Unsrer  Oberzeugung  nach  kann  das  „plastische 
Problem  des  Bildhauers"   als   solches,    mithin  das 


54 


Plastik  und  Malerei 


eigenste  Anliegen  der  Plastik  als  Kunst, 
nur  in  der  schöpferischen  Darstellung 
des  Körpers  selbst  gesucht  werden ;  denn  das 
ist  ausschliesslich  ihres  Amtes  als  „Körperbildnerin", 
wie  wir  sie  kurz  definiert  haben. 

Damit  aber  bestünde  die  Woltat,  die  wir  durch 
das  Kunstwerk  empfangen,  gerade  in  der  Erschaffung 
des  Kubischen  und  der  überzeugenden  Wirkung  der 
dritten  Dimension,  durch  die  sich  die  volle  Wirk- 
lichkeit der  Dinge  dieser  Welt  zu  behaupten  pflegt, 
oder,  anders  ausgedrückt,  in  der  Klarheit  räumlich- 
körperlicher Vorstellung,  die  das  Gebilde  erweckt, 
d.  h.  in  vollster  Ubereinstimmung  des  Kunstwerkes 
mit  der  dreidimensionalen  Anschauungsform  unsres 
menschlichen  Intellekts.  Und  diese  Übereinstimmung 
mit  dem  Hausgesetz  des  Menschenhauptes  wäre  eben 
die  Ursache,  dass  wir  das  Kunstwerk  als  Woltat 
begrüssen  und  mit  Genuss  uns  ihm  hingeben.  Wenn 
uns  aber  das  Kubische  nicht  belästigt  mit  seiner 
vollen  Konsequenz,  als  höchstens  indem  wir  es  mit 
malerischem  Sinn  betrachten ;  wenn  nicht  der  lautere 
Augenschein  allein,  der  flächenhafte,  uns  befriedigt, 
sondern  auch  die  dritte  Dimension,  die  uns  entgegen- 
drängt, —  dann  kommen  wir  freilich  bei  einem  mo- 
dernen Bildhauer  in  den  Verdacht,  wir  hätten  eigent- 
lich gar  kein  künstlerisches  Verhältnis  zur  Natur  und 
somit  kein  Recht,  überhaupt  mitzureden. 

Und  dennoch  glauben  wir  uns  nicht  zu  täuschen, 
auch  die  Überzeugung  dieses  Bildners  zutreffend  zu 
verstehen  und  auslegen  zu  können,  vorausgesetzt, 
dass  die  Abgezogenheit  des  Augenscheines,  die  Ge- 


Normalbildung  des  organischen  Körpers 


55 


sichtsvorstellung  als  Ergebnis  des  höhern  Sinnes 
allein,  nicht  mehr  als  ausschliessliche  Formel  für  die 
Seligkeit  des  Kunstgenusses  und  des  Kunstschaffens 
festgehalten  wird. 

Handelt  es  sich  in  der  reinen  Plastik  anerkann- 
termafsen  um  die  Darstellung  des  organischen  Men- 
schenkörpers in  erster  Linie ,  so  kann  den  echten 
Bildhauer  auch  Nichts  mehr  beleidigen,  als  wenn  an 
einer  vollrunden  Statue  z.  B.  ein  Glied  des  organi- 
schen Gewächses  misraten  und  verkümmert  ist.  Berufen 
wir  uns  nur  auf  das  klassische  Beispiel  bei  Michelangelo, 
wo  ein  Oberarm  verhauen  ward  und  seine  volle  Form 
nicht  aufwies !  Die  Plastik  kennt  keine  Krüppel  bis 
auf  die  seltensten  Ausnahmen.  Nachträgliche  Ver- 
stümmelung beleidigt  nicht.  Wer,  unter  Künstlern 
nur,  genösse  nicht  die  Venus  von  Milo  ohne  ihre 
Arme,  um  die  sich  die  Gelehrten  streiten?  Warum 
aber  erhebt  sich  der  geniessende  Betrachter,  dessen 
Blick  immer  wieder  über  die  Ansatzstellen  hingleitet, 
mit  immer  geringerm  Anstoss  über  diese  gewalt- 
same Abstraktion  in  concreto  ?  —  Eben  weil  die 
Vorstellung  arbeitet  und  die  ganze  Seele,  nicht  der 
Augenapparat  allein.  —  ,,Es  stellt  sich  heraus,  dass 
wir  die  Vorstellung  darstellen,"  sagt  Hildebrand 
selbst  einmal  bei  Gelegenheit  des  Wagenrades,  das 
,, rollend"  wirken  soll,  aber  in  normaler  „Daseins- 
form" gezeigt  wird.  Sollte  die  Plastik  auf  die  Be- 
währung aus  der  Nähe ,  die  Prüfung  von  verschie- 
denen Seiten  verzichten,  die  allein  imstande  ist,  das 
Normale  und  Typische,  das  ihr  am  Herzen  liegt, 
von  dem  Zufälligen  und  Bedingten,  Einseitigen  und 


56 


Malerei  und  Plastik 


Abhängigen,  das  die  Ferne  bieten  mag,  zu  unter- 
scheiden ? 

Ist  es  so  unerlaubt  und  ketzerisch,  den  Genuss 
der  Bildwirkung  vom  Werk  des  Malers,  den  Genuss 
der  Körperwirkung  aber,  in  ihrem  vollen  Umfang 
zunächst,  vom  Werk  des  Bildhauers  zu  erwarten? 


II. 

MIMIK  UND  PLASTIK 


THONBILDNEREI  UND  STEINSKULPTUR 

enn  es  darauf  ankäme,  unter  den  künstlerischen 
Betätigungen  des  Menschen  Eine  als  die  ur- 
sprünglichste zu  bezeichnen  oder,  wie  Mnemo- 
syne  die  Mutter  der  Musen,  nicht  allein  als  die  älteste 
Schwester,  sondern  als  die  Mutter  aller  übrigen  Künste 
anzusehen,  so  würden  wir  uns  unbedingt  für  die 
Mimik  entscheiden.  Sie  enthält  in  ihren  primitiv- 
sten Äusserungen  noch  ungetrennt  die  zeitliche  und 
die  räumliche  Anschauungsform,  die  in  der  letzten 
Vereinigung  aller  Künste,  der  dramatischen  Auffüh- 
rung wieder  mit  ihrer  Hülfe  zusammentreten.  Wir 
haben  uns  früher  erklärt,  dass  wir  ,,als  älteste  Form 
der  bildenden  Künste"  nicht  mit  Hildebrand  die 
Zeichnung  anzusehen  vermögen ,  sondern  höchstens 
die  Bildgebärde ,  die  den  Umriss  des  Dinges  oder 
den  charakteristischen  Zug  seiner  Bewegung  in  die 


58 


Mimik  und  Plastik 


Luft  malt  (I,  101),  indem  wir  damit  freilich  hinter 
die  Form  der  Äusserung  zurückgriffen,  die  man  als 
bildende  Kunst  wird  anerkennen  wollen.  Aber  der 
Ausgangspunkt  aller  ausdrucksvollen  [Betätigung 
liegt  zweifellos  in  der  Mimik  (I,  25).  Jeder  Ver- 
such konkreter  Gestaltung  aus  bildsamem  Stoff, 
d.  h.  die  ersten  dunkeln  Regungen  der  Körper- 
bildnerin, sind  ebenso  als  Hantierung  des  Menschen 
an  dem  ungeformten  Substrat  schon  Gebärdung, 
d.  h.  Bestandteile  mimischer  Äusserung,  und  Aus- 
druck unsers  innern  Nacherlebens  und  Mitgefühles 
mehr,  als  Nachahmung  der  Dinge  vom  Standpunkt 
objektiver  Beschaulichkeit. 

In  dem  Gesamtgebiet  der  Gebärdung  und  der 
Ausdrucksbewegung  liegen  auch  die  Antriebe  zur 
künstlerischen  Gestaltung,  die  allmählich  zum  plasti- 
schen Schaffen  gedeihen.  Dort  sind  sie  aufs  Engste 
verknüpft  mit  unserm  Körpergefühl ,  das  aus  dem 
Innern  nach  Aussen  dringend,  nur  die  Extremitäten 
in  Bewegung  setzen,  als  physische  Tätigkeit  zu 
Tage  treten  kann.  Die  Übertragung  der  innern  Er- 
regung auf  den  motorischen  Apparat  ist  die  Haupt- 
sache für  alle  schöpferische  Betätigung ,  und  erst 
im  weitern  Gange  scheiden  sich  die  Wege ,  ob  die 
Körperbewegung  allein  den  mimischen  Verlauf  nehme, 
oder  ob  sie  zu  konkreter  Gestaltung,  zur  Hervor- 
bringung eines  plastischen  Gebildes  übergehe. 

Die  Kenntnis  unsers  Leibes  als  organisches  Ge- 
wächs ,  die  Beobachtung  unsrer  Körperformen  im 
Sinne  eines  Abbilds  liegt  viel  ferner,  als  die  Kennt- 
nis dieses  Leibes  nach  seinen  natürlichen  Funktionen 


Gebrauchsfähigkeit  und  Ausdrucksfähigkeit  unsres  Leibes  59 


und  die  Beobachtung  unsrer  Glieder  als  Werkzeuge 
bei  ihrem  praktischen  Gebrauch.  Lange  bevor  sich 
eine  Gesamtvorstellung  der  menschlichen  Gestalt  als 
organischer  Einheit  ausbilden  kann,  sind  die  Glied- 
mafsen  in  ihrer  Verwendbarkeit  geläufig,  ja  selbst 
die  Ausdrucksfähigkeit  des  ganzen  Bewegungsappa- 
rates für  die  mannichfaltigen  Äusserungen  des  Willens 
wol  vertraut.  Wie  das  Kind  der  Mutter,  der  Knabe 
dem  Vater  die  Bewegungen  seiner  Glieder  und  die 
Handhabung  der  Werkzeuge  zu  jeglichem  Zwecke 
des  Alltagslebens  absieht,  in  innerer  Nachahmung 
die  Innervation  des  ererbten  gleich  organisierten 
motorischen  Apparates  vollzieht  und  wiederholend 
oder  verstärkend  unwillkürlich  dazu  gelangt,  die 
nämliche  Tätigkeit  auch  wirklich  auszuüben,  so  ler- 
nen wir  Alle,  von  hier  aus,  jede  wahrnehmbare  Ver- 
änderung an  verwandten  Wesen  verstehen  und  ge- 
winnen den  gangbaren  Vorrat  von  Kenntnissen,  die 
uns  den  ,, Funktionsausdruck"  menschlicher  Körper- 
formen, sei  es  im  Gesamtzug  der  Haltung,  im  In- 
einandergreifen zweckmässiger  Bewegungen  oder  gar 
im  ruhenden  Zustand  des  Einzelgliedes  vermitteln. 
Unter  rein  praktischen  Gesichtspunkten,  die  noch 
jeder  künstlerischen  Anwandlung  fremd  scheinen, 
bildet  sich  der  Scharfblick  des  Jägers  und  des  Hir- 
ten, wie  noch  heute  des  Indianers  für  die  Wahr- 
zeichen zweckentsprechender  Bildung  in  allen  For- 
men des  organischen  Gewächses  aus. 

Mit  ihrer  Wahrnehmung  stellt  sich  die  Vorstel- 
lung des  Vorganges,  der  möglichen  Bewegung  und 
ihres  zeitlichen  Verlaufes  ein.     Der  ganze  Körper 


60 


Mimik  und  Plastik 


„wird  als  Komplex  von  Formen  aufgefasst,  die  das 
Gepräge  bestimmter  Funktionsmöglichkeiten  tra- 
gen", längst  ehe  dieser  nämliche  Körper  als  ein- 
heitliches Gewächs  um  seiner  selbst  willen,  ge- 
schweige denn  durch  das  Ebenmafs  seiner  Gliederung, 
durch  die  Rundung  und  Fülle  seiner  Formen,  durch 
den  woltuenden  Fluss  seiner  Umrisslinien  irgend 
welches  Wolgefallen  erregt.  Die  Auffassung  alles 
Sichtbaren  unter  der  zeitlichen  Anschauungsform 
vermittelt  zunächst  jeden  innern  Anteil ,  den  wir 
an  den  Erscheinungen  nehmen.  Und  diese  be- 
lebende Kraft  unsrer  Vorstellung  erstreckt  sich  nicht 
allein  auf  die  gleichorganisierten  und  alle  ähnlich 
ausgestatteten  Lebewesen,  sondern  von  hier  aus  auf 
die  gesamte  Natur. 

So  wird  es  auch  begreiflich,  dass  für  die  mi- 
mische Kunst  die  Erscheinung  als  Funktionswert  der 
notwendigste ,  elementarste  Ausdruck ,  der  Körper 
als  Bewegungsapparat  allein  die  unentbehrliche  Grund- 
lage ihres  Schaffens  ist,  während  die  vollrunde  Kör- 
perlichkeit dieses  Substrates,  die  menschliche  Gestalt 
als  Erfüllung  eines  Raumvolumens  nur  untergeord- 
nete Bedeutung  behält.  Die  Form  als  räumlich 
körperliche  Ausdehnung  in  ruhigem  Zustand  ist  für 
die  Mimik  eine  Vorstellung  von  sekundärem  Wert. 
Nicht  der  Raumwert,  sondern  der  Funktionswert  ist 
ihr  die  Hauptsache. 


i)  Hildebrand,  dessen  VI.  Kapitel  zum  grössten  Teil  hierher 
gehört  und  am  besten  bei  der  Lektüre  seiner  Schrift  vorausgenom- 
men wird. 


Plastische  Schönheit 


61 


Auf  diesem  Grunde  der  Ausdrucksfähigkeit  aller 
Formen  für  die  successive  Auffassung  in  Tätigkeit 
oder  die  Vorstellung  eines  solchen  zeitlichen  Ver- 
laufes ,  die  auch  von  der  Form  in  Ruhe  ausgelöst 
wird,  erwächst,  erst  recht  viel  später  jedenfalls,  der 
Sinn  für  das,  was  wir  die  „plastische  Schön- 
heit" des  Menschenleibes  nennen,1)  bei  der  die 
simultane  Anschauung  der  räumlich  körperlichen 
Form  des  Ganzen  eine  Hauptrolle  zu  spielen  ver- 
möchte. Scheint  es  doch,  als  wäre  diese  simultane 
Auffassung ,  die  aufs  Ganze  geht ,  zu  Anfang  nicht 
im  Stande  mehr  festzuhalten,  als  die  Vertikalaxe, 
das  nackte  Symbol ,  das  etwas  von  Unsersgleichen 
bedeuten  soll.  Die  aufgerichtete  Stange  mit  oder 
ohne  Wahrzeichen  darauf,  höchstens  mit  dem  sum- 
marischen Abbild  des  Kopfes,  oft  nur  ein  schlanker 
Steinblock,  befriedigt  den  Antrieb,  das  Wertvolle  zu 
ergreifen  und  fest  zu  bannen,  das  im  Dasein  des 
Körpers  gegeben  ist,  aber  im  Leben  gefährdet  und 
vergänglich  bleibt. 

Diese  Aufrichtung  des  Höhenlotes ,  wenn  auch 
noch  so  abstrakt  und  schematisch,  ist  doch  schon 
die  Sicherstellung   der  Grundtatsache ,    um    die  es 


i)  Vgl.  hierüber  auch  den  Aufsatz  von  Th.  Lipps,  in  Nord 
und  Süd,  1888,  S.  226  ff.  Die  Analyse  der  Körperschönheit  in  lauter 
Vorstellungsassociationen  geht  aber  psychologisch  meines  Erachtens 
noch  nicht  weit  genug ,  wenn  sie  bei  Vorstellungen  stehen  bleibt, 
sondern  muss  auf  das  Gefühl  zurückführen,  das  Körpergefühl  (Form- 
sinn), das  im  naiven  Schaffen  wie  Geniessen  entscheidet.  Darin 
liegt  das  Recht  von  Fr.  Merkel  (Dtsche  Rundschau  1888,  p.  423  f.), 
der  dieser  psychologischen  Seite  der  Frage  freilich  allzu  fern  bleibt. 


62 


Mimik  und  Plastik 


der  Körperbildnerin  zu  tun  ist,  die  Heraushebung 
des  bleibenden  Bestandes  aus  all  dem  mimischen 
Wechsel  und  all  der  Beweglichkeit  der  Gliedmafsen 
in  ihren  besonderen  Funktionen.  Der  Kern  des 
menschlichen  Einzelwesens  als  eines  selbständigen 
Körpers  im  Raum  wird  damit  konstituiert,  —  das 
ist  der  Anfang  der  Plastik. 

Deshalb  haben  wir  uns  früher  schon  gesagt,  die 
Wurzel  der  plastischen  Schöpfung  liege  in  der 
Höhendimension,  die  wir  gemäss  dem  eignen  Körper- 
gefühl die  erste  nennen. *)  Mit  der  Annahme  oder 
Aufrichtung  eines  Höhenlotes  als  Dominante  des 
dreidimensionalen  Komplexes  beginnt  die  konkrete 
Gestaltung  in  irgendwelchem  Material.  —  Wo  der 
rohe  Steinblock  als  Surrogat  eines  eigenen  Ge- 
schöpfes angenommen  wird,  da  ist  es  ja  die  Natur, 
die  ,,das  Selbstverständliche",  d.  h.  die  konstitutive 
Grundlage  des  Körpers  liefert.  Von  der  eigen- 
händigen Behandlung  des  bildsamen  Materials  da- 
gegen ,  das  nichts  als  einen  formlosen  Brei  oder 
Teig  darbietet,  von  dem  primitivsten  Kneten  und 
Formen  in  Thon  und  Wachs  oder  dergleichen  dürfen 
wir  also  viel  deutlicheren  Aufschluss  über  die  Ent- 
stehung der  konstitutiven  Faktoren  der  Körperlich- 
keit erwarten,  auf  die  es  ankommt.  Für  die  plastische 
Herstellung  grösserer  Figuren  in  Thon  wird  ja  der 
Haltbarkeit  wegen  zuerst  ein  Gerüst  aufgebaut  und 

i)  Das  Wesen  der  architektonischen  Schöpfung,  Leipzig  1893. 
Der  Wert  der  drei  Dimensionen  im  menschlichen  Raumgebilde, 
Leipzig  (Berichte  der  k.  sächs.  Gesellschaft  der  Wiss.,  1896  und 
Heft  I  dieser  Beiträge  zur  Ästhet,  d.  bild.  Künste.    1896.    S.  33. 


Thonbildnerei 


63 


dann  mit  Thon  bekleidet,  bis  es  mehr  und  mehr 
dem  Menschenkörper  entspricht.  Bei  mindergrossen 
genügt  vielleicht  eine  Mittelstange ,  d.  h.  die  wirk- 
liche Aufrichtung  des  Höhenlotes  auf  einer  Unter- 
lage, der  Basis,  die  ebenso  abstrakt  den  Boden  be- 
deutet, auf  dem  dies  Abbild  stehen  soll.  Bei  noch 
kleineren  fungiert  die  erste  Dimension  rein  ideell  als 
Richtungsaxe  des  Wachstums  von  unten  nach 
oben,  die  Kopf  und  Fufsfohlen  mit  einander  ver- 
bindet, noch  ehe  das  Rückgrat  und  das  paarige  Bein- 
gestell sich  geltend  machen  und  voneinander  ab- 
setzen. 

„Ich  gehe  also,  —  so  schildert  Hildebrand  den 
Vorgang  des  Modellierens  in  Thon  (S.  1 1 5)  selber, 
—  dabei  vom  Gegenstande a)  allein  aus  und  ent- 
wickle ihn  allmählich  nach  aussen  und  mir  entgegen. 
Da  mir  von  vornherein  kein  Raumkörper  gegenüber 
steht  (wie  bei  der  Bearbeitung  des  Steinblocks), 
sondern  ich  ihn  allmählich  erzeuge ,  und  zwar  nur 
insoweit  als  ihn  das  Bild  (Gebild)  selber  einnimmt, 
so  gehe  ich  nicht  von  einer  allgemeinen,  sondern 
von  einer  gegenständlichen  Raumvorstellung  aus. 
Ferner,  da  ich  den  Thon  rings  um  das  Gerüst  auf- 
baue, so  bewege  ich  mich  in  meiner  Vorstellung 
immer  um  den  Gegenstand  herum ,  d.  h.  ein  be- 
stimmter Standpunkt  dem  Gegenstande  gegenüber 


1)  Das  heisst  eigentlich  Gegenstandsvorstellung  oder  Idee  des 
darzustellenden  Gegenstandes.  Man  lese  hier  einmal  statt  Gegen- 
stand: ,, Höhenlot"  oder  Mittelaxe",  auf  die  es  im  obigen  Zusam- 
menhang ankommt. 


64 


Mimik  und  Plastik 


ist  mir  von  Seiten  der  Manipulation  nicht  gegeben, 
noch  erzwungen.  Im  Gegenteil,  sie  hebt  diese  Not- 
wendigkeit auf." 

„Der  Vorstellungsakt  dieser  Manipulation  fusst 
und  beharrt  stets  auf  der  realen  Gegenständlichkeit 
des  Bildes  (Gebilds),  auf  der  gegebenen  Naturform, 
die  sie  rund  nach  allen  Seiten  hin  darstellt,  führt 
aber  nicht  zu  einer  ausserhalb  des  Naturgegen- 
standes liegenden  Gliederung  oder  Raumvorstellung." 

Und  warum  muss  dies  geschehen,  fragen  wir, 
um  den  Naturgegenstand,  den  wir  nun  einmal,  auch 
in  jedem  stereometrischen  Gebilde  unsrer  Hand, 
kraft  unsrer  verschiedenen  Sinne  anzuerkennen  haben, 
erst  zu  einem  Kunstwerk  zu  erheben?  Warum  darf 
die  künstlerische  Durcharbeitung  des  Körpers  auch 
für  das  Auge ,  d.  h.  die  befriedigende  Gliederung 
und  klare  Raumvorstellung  nicht  an  dem  körper- 
lichen Gebilde  haften  bleiben,  sondern  muss  „ausser- 
halb des  Naturgegenstandes"  liegen?  Diese  Forde- 
rung wäre  ganz  unerklärlich,  wenn  der  Künstler,  der 
hier  spricht,  nicht  die  Scheu  vor  dem  Kubischen 
bekannt  hätte,  und  die  reine,  von  den  materiellen 
Dingen  ablösbare,  Gesichtsvorstellung  allein  als  die 
eigentliche  Leistung  der  Kunst  betrachtete. 

Hier  tritt  unser  Gegensatz  zu  ihm  notwendig 
am  stärksten  zu  Tage.  Gerade  diesen  Vorgang  des 
Modellierens,  wie  er  selbst  ihn  schildert,  halten  wir 
für  den  eigentlich  entscheidenden  und  grundlegenden 
Process  der  Bildnerei ,  von  dem  aus  in  erster  Linie 
das  Problem  der  Form  in  der  Plastik  erklärt  werden 
kann ,    während   bei    der   Steinskulptur   z.  B.  die 


Thonbildnerei 


65 


Schwierigkeiten  der  Arbeit  in  härterem  Material  an 
mehr  als  einem  Punkt  den  natürlichen  und  unmittel- 
baren Weg  des  schöpferischen  Verfahrens  verbieten, 
zu  Kompromissen  nötigen  und  nur  auf  Umwegen 
zum  eigentlichen  Ziel  gelangen  lassen. 

Der  mafsgebende  Unterschied ,  durch  den  wir 
zum  eigensten  Wesen  der  Bildnerei  geführt  werden, 
das  ihre  besondere  Bestrebung  ein  für  allemal  von 
dem  der  Schwester  Malerei  trennt,  liegt  grade 
darin,  dass  die  Manipulation  zunächst  dem  schöpfe- 
rischen Subjekt,  dem  Bildner  selbst  keinen  be- 
stimmten Standpunkt  aufzwingt,  sondern  vielmehr 
die  Notwendigkeit  der  Wahl  und  Beschränkung  auf 
einen  festen  Gesichtspunkt  aulhebt;  denn  dieser 
vorgeschriebene  Standpunkt  ist  für  das  ruhige 
Schauen  allein,  er  ist,  wie  wir  uns  gesagt  haben, 
der  specifisch  malerische  Standpunkt.  Ihn  kann 
der  Bildner  bei  der  Arbeit  selbst  nicht  einnehmen, 
sondern  immer  nur  nachträglich,  sozusagen  in  Inter- 
vallen zu  kontrolierenden  Wirkungsproben.  Im  Her- 
vorbringen der  realen  Form  selber  ist  sein  Stand- 
punkt der  des  nahen  beweglichen  und  abtastenden 
Sehens,  ja  noch  mehr  des  Hantierens,  innerhalb  der 
Tastregion,  wobei  er  sich  ,,in  seiner  Vorstellung 
immer  um  den  Gegenstand  herum  bewegt".  —  So 
eben,  und  nur  so  allein  entsteht  unter  seiner  Hand 
der  dreidimensionale  Körper  aus  dem  formlosen  Brei. 
Diese  stereometrische  Grundlage ,  an  der  dann  all- 
mählich der  Schein  des  organischen  Gewächses  nach 
unserm  Ebenbild  gedeihen  soll,  dieses  unentbehr- 
liche Substrat   kann  auch  der  Blinde  kraft  seines 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  c 


66  Mimik  und  Plastik 

eigenen  Körpergefühls  wie  der  Beschaffenheit  und 
Stellung  seiner  Hände  zueinander  hervorbringen. r) 
Damit  steht  der  Beitrag  des  Getasts  für  das  plastische 
Gebild  ausser  allem  Zweifel.  Und  was  Hildebrand 
als  einen  Mangel  oder  eine  Schattenseite  des 
Modellierens  in  Thon  ansieht,  erscheint  uns  grade 
als  ursprünglichstes  Charakteristikum  der  Plastik  als 
Kunst.  Nicht  allein  der  modellierende  Bildner,  son- 
dern das  echte  bildnerische  Schaffen  überhaupt 
„geht  nicht  von  einer  allgemeinen  Raumvorstellung 
aus,  sondern  von  der  gegenständlichen",  —  d.  h. 
von  der  Mittelaxe  des  dreidimensionalen  Komplexes, 
und  diese  ist  das  Höhenlot,  als  gewohnte  Dominante 
unsres  eigenen  Leibes ,  nach  der  wir  alle  Kreatur 
beurteilen,  der  unveräusserliche  Grundstock  des 
Einzelwesens.  Und  von  der  Vertikalaxe  aus  ent- 
wickelt sich  die  Gestalt  allmählich  weiter  nach 
aussen,  nach  allen  Seiten  ihrem  Schöpfer  entgegen, 
wie  der  Baum  sein  Gezweig  ringsum  ausstreckt  und 
sozusagen  in  das  umgebende  Raumvolumnen  ein- 
greift, um  es  zu  erfüllen  als  seinen  Raum. 

Der  specifisch  plastische  Standpunkt  ist  also 
nicht  der  entfernte ,  sondern  der  nahe ;  er  ist  nicht 
der  optische  in  erster  Linie,  sondern  der  taktile,  und 
setzt  die  Beweglichkeit  voraus ,  die  unsere  mensch- 
lichen Tastorgane,  an  erster  Stelle  natürlich  die 
Hände ,  an  unsern  beiden ,  im  Elbogengelenk  aber- 


i)  Es  wäre  ausserordentlich  lehrreich  festzustellen,  wie  weit  die 
Modellierung  unter  den  Händen  Blindgeborener,  wie  weit  noch  bei 
Erblindeten  zu  gelangen  vermag. 


Thonbildnerei 


67 


mals  und  im  Schultergelenk  wieder  relativ  dreh- 
baren ,  Armen  besitzen.  Als  Ergänzung  zu  dieser 
schon  ziemlich  vielseitigen  Behandlung  durch  den 
selbst  ruhig  an  seinem  Standort  oder  auf  seinem 
Sitz  gar  verharrenden  Bildner  tritt  dann,  besonders 
bei  grösseren  Körpergebilden,  die  Ortsbewegung  um 
die  Vertikalaxe  des  entstehenden  Werkes  hinzu ; 
damit  aber  vollzieht  sich  sofort  der  Übergang  zu 
den  Bedingungen  der  Tektonik  und  weiter  der 
Architektur,  wo  die  Ortsbewegung  des  Subjekts  die 
Hauptrolle  spielt  und  das  Raumgebilde  als  Ganzes 
stets  ausser  ihm  bleibt. 

Solange  beim  Modellieren  in  Thon  oder  Wachs 
die  leibliche  Berührung  mit  unsern  Tastorganen 
dauert,  ist  auch  der  Vollzug  der  ästhetischen  Grund- 
tatsache, die  •  Selbstversetzung  in  das  Gebild  ein 
selbstverständlicher,  wenn  auch  noch  so  unbewusster 
Vorgang,  und  eben  darin  liegt  ja  der  Antrieb  zum 
künstlerischen  Schaffen  selber,  die  Erklärung,  wes- 
halb zur  konkreten  Darstellung  eines  Abbilds  über- 
gegangen wird. 

Deshalb  wird  diesen  frischweg  modellierten,  mehr 
oder  minder  improvisierten  und  aus  Weiterbildung 
mimischen  Gebarens  erwachsenen  Thonfiguren  vor 
allen  Dingen  eine  Eigenschaft  gesichert  sein ,  die 
ausser  der  konstitutiven  Grundlage  menschlicher 
Konfiguration  wol  als  wichtigste  zur  Anerkennung 
des  Gebilds  als  Menschengestalt  gelten  darf :  das  ist 
das  Motiv.  Die  durchgehende  Bewegung  einer 
wolbekannten  Tätigkeit  zu  irgend  einem  Zweck, 
oder  die  ausdrucksvolle  Haltung  in  verständlicher 

5* 


68 


Mimik  und  Plastik 


Situation,  üben  schon  beim  ersten  Anblick  einen 
Reiz  auf  den  Beschauer  aus,  der  ihn  sofort  als  un- 
verkennbare Äusserung  innern  Lebens  in  den  Um- 
kreis organischen  Daseins,  menschlich  vertrauter 
Regungen  versetzt.  Wie  die  Gestalt  rein  körperlich 
sich  von  der  Mittelaxe  nach  aussen  entfaltet,  so 
dringt  der  Komplex  von  Bewegungen  in  den  Glied- 
mafsen  dem  Betrachter  entgegen.  Damit  wird  auch 
für  den  fremden  Ankömmling,  dem  das  Bildwerk 
ins  Auge  fällt,  die  Bedingung  für  die  ästhetische 
Auffassung  und  für  den  Genuss  als  Kunstwerk  er- 
füllt, die  für  den  Urheber  selbst  die  Veranlassung 
seines  bildnerischen  Schaffens  war.  Liegt  doch  die 
Woltat,  die  uns  der  Künstler  dadurch  vermitteln 
kann ,  nicht  sowol  in  der  kühlen  Klärung  unsrer 
Gesichtsvorstellung,  als  vielmehr  in  dem  Zuwachs 
an  Daseinslust  und  Lebensgefühl ,  den  die  Heraus- 
hebung und  Verewigung  dieses  Wertes  als  Stärkung 
und  Bestätigung  der  eignen  Selbständigkeit  gewährt. 

Diese  Entfaltung  vom  Mittelpunkt,  dem  Sitz  des 
Lebens  her,  der  Abstand  eines  oder  mehrerer  Glieder 
von  der  Vertikalaxe,  in  der  wir  die  Einheit  des 
Organismus  zu  suchen  gewohnt  sind ,  scheinen  uns 
wichtiger  für  den  Glauben  an  das  Gebilde  von 
Menschenhand,  als  die  Vollständigkeit  des  körper- 
lichen. Ganzen  und  seine  räumliche  Klarheit  in  allen 
Teilen.  Die  Lebensäusserung ,  auf  die  unser  Blick 
trifft,  ruft  in  uns  sofort  Erinnerungsbilder,  Inner- 
vationsgefühle  wach,  die  das  Wahrzeichen  da  zum 
eignen  Erlebnis  ergänzen.  Sie  bezieht  sich  auf  so 
viele  Erfahrungen  unsrer  Tastregion,  dass  die  leib- 


Wert  des  Motivs 


69 


liehe  Unterlage  als  notwendige  Voraussetzung,  als 
gewohnter  Schauplatz  des  Vollzugs  sich  von  selbst 
in  unsrer  Vorstellung  hinzufindet,  auch  wenn  sie  in 
Wirklichkeit  nur  teilweis,  nur  andeutungsweise,  vor- 
handen ist.  Erst  allmählich  stellt  das  Auge,  bei  er- 
neutem Verfahren,  die  Forderung,  dass  sich  die 
volle  Daseinsform  ausweise ,  wie  unsre  Vorstellung 
sie  vom  dargestellten  und  wiedererkannten  Gegen- 
stande mitbringt.  Dieser  geläufige  Begriff  kann 
selbst  noch  sehr  summarisch  und  für  genaue  Rechen- 
schaft im  Einzelnen  ganz  unzulänglich  sein.  Erst 
wenn  wir  darüber  hinausgelangen,  wenn  konkrete 
Formeindrücke  sich  mit  dem  eignen  Körpergefühl 
erfüllen,  —  erst  dann  erwächst  der  plastische  Genuss 
im  eigentlichen  Sinne.  „Und  unmittelbar  nach  jener 
blitzschnellen  Auffassung  des  Motivs  als  Äusserung 
eines  organischen  Lebewesens  leitet  sich  die  Er- 
scheinung aus  der  Möglichkeit  mimischen  Ver- 
laufes entscheidend  über  in  den  Gesichtskreis  der 
plastischen  Beharrung",1)  wo  das  ruhig 
schauende  Auge  und  das  beweglich  abtastende 
vollauf  gemeinsame  Arbeit  haben  und  immer  un- 
ersättlicher sich  wetteifernd  ablösen. 

Nun  gelangt  die  Körperbildnerin  unter  den 
Künsten  in  ihr  volles  Recht.  —  Damit  ist  die 
Schwelle  überschritten,  die  all  ihr  Dichten  und 
Trachten  von  der  beweglichen  Schwesterkunst 
scheidet.  Denn  mit  dem  Übergewicht  der  räum- 
lichen Anschauungsform  und  dem  Drang  nach  Ge- 


i)  Heft  I,  S.  32. 


70 


Mimik  und  Plastik 


staltung  des  Körpers  zu  bleibendem  Bestehen  sinken 
alle  Vorstellungen ,  die  sich  auf  ein  zeitliches  Ge- 
schehen ,  auf  den  successiven  Fortgang  einer  Tätig- 
keit beziehen,  d.  h.  die  Funktionswerte  der  Form 
zu  sekundärer  Rolle  herab.  Die  Selbständigkeit  des 
auf  sich  allein  beruhenden  Körpers  wird  das  Haupt- 
anliegen, damit  er  sich  zwingend  und  sicher  behaupte 
im  allgemeinen  Raum. 

Das  Alles  vermag  die  Modellierung  in  Thon  so 
gut  zu  leisten,  wie  die  andersartige  Ausgestaltung 
in  dauerhafterm  Material.  Und  mit  Befremden 
sehen  wir,  dass  Hildebrand  diesem  primitiven  Ver- 
fahren, in  dem  wir  die  unmittelbarste,  durch  kein 
Hindernis  der  Bearbeitung  abgelenkte  Äusserung 
des  plastischen  Sinnes  erkennen,  nur  eine  unter- 
geordnete Stelle  anweisen  möchte  :  ,,Das  Modellieren 
in  Thon  hat  seinen  Wert  beim  Studium  der  Natur, 
um  Bewegungsvorstellungen  zu  gewinnen  und  alle 
Einzelkenntnis  der  Form  zu  fördern";  —  aber?  — 
,, entwickelt  aber  nicht  die  künstlerische  Einigung  des 
Ganzen  als  Bild  Vorstellung"  (120). 

,,Beim  Modellieren  in  Thon  fehlt  positiv  im 
Raum ,  was  nicht  modelliert  ist ,  es  existiert  ausser 
dem  modellierten  kein  allgemeiner  Thon-Raum.  Das 
Modellierte  tritt  ausserdem  in  Gegensatz  zu  der  Luft 
und  dem  wirklichen  realen  Raum,  so  dass  das  un- 
fertige Thonbild  dadurch  noch  mehr  Positivität  er- 
hält, d.  h.  als  fertiges  Bild  auftritt.  Der  Phantasie 
wird  dadurch  das  Unfertige  als  Fertiges  vorgesetzt. 
Beim  Stein  tritt  dagegen  das  unfertige  Bild  immer 
nur  im  Gegensatz  zum  Steine  auf  —  zu  einem  un- 


Thonbildnerei  und  Steinskulptur 


71 


geformten  Element ,  aus  welchem  das  Unfertige  als 
ein  Gewachsenes  hervordämmert,  weshalb  die  Fort- 
setzung seines  Wachstums  als  natürliche  Zukunft 
anmutet.  Das  Bild  gestaltet  sich  aus  dem  Räume 
selber  weiter  und  wirkt  nur  immer  relativ  fertig  zum 
Steinhintergrund"  (i  1 7). 

Es  giebt  kaum  eine  Stelle,  die  so  wie  diese  be- 
zeugt, dass  des  Bildhauers  persönliches  Empfinden 
durchaus  von  malerischen  Anschaungen  ausgeht. 
Immer  die  Bildvorstellung,  der  Augenschein,  die 
Helldunkelwirkung.  Selbst  der  Ausdruck  ,,wie  ein 
Gewachsenes"  und  ,,die  Fortsetzung  des  Wachstums" 
sind  hier  nicht  in  dem  Sinne  zu  verstehen,  der  sonst 
dem  Plastiker  am  nächsten  liegt,  sondern  ganz  un- 
eigentlich1), im  Sinne  eines  Hervortauchens,  Empor- 
quellens eines  Hellen,  deutlich  Sichtbaren  aus  einem 
Dunkel,  das  unser  Auge  nicht  durchdringt,  oder  des 
Geformten  aus  dem  formlosen  Brei ,  —  aus  dem 
,, Nebelraum",  wie  er  weiterhin  sich  ausdrückt.  Das 
heisst,  es  ist  ein  Vergleich,  der  dem  Augengeschöpf, 
dem  feingebildeten,  empfindlichen,  durch  und  durch 
malerisch  gewöhnten  Sinn  des  modernen  Künstlers 
geläufig  ist,  —  dem  die  Raumwerte  der  Erschei- 
nung, der  entfernten,  das  Vertraute  geworden,  die 
Funktionswerte  der  Glieder,  der  nahen,  tastbaren 
dagegen  entfremdet  sind.    So  begreifen  wir,  dass 

1)  Aus  der  organischen  Natur  wäre  wol  am  ehesten  an  Knospen 
und  Blüten  auf  dem  Busch,  d.  h.  die  farbigen  auf  der  grünen  Folie, 
oder  wenigstens  an  frischgewachsene  hellgrüne  Blätter  auf  der  dun- 
keln Masse  des  Gewächses  zu  denken,  —  also  auch  Farbenkon- 
traste oder  Hell  und  Dunkel. 


72 


Mimik  und  Plastik 


ihm  das  Kubische  unbehaglich  wird ,  wo  es  unver- 
arbeitet durch  die  harmonische  Ausgleichung  des 
malerischen  Geschmackes  sich  selber  leibhaftig  ihm 
entgegendrängt. 

Da  freilich  erscheint  die  Arbeit  des  Bildners  in 
Stein,  wie  er  sie  schildert,  ausserordentlich  objektiv, 
nur  wie  die  kühle,  klare  Wiedergabe  einer  exakten 
Beobachtung  in  ungestörter  Ferne,  kaum  wie  Berüh- 
rung, sondern  nur  geläutertes"  Schauen.  Die  dar- 
zustellende Figur  soll  vor  allen  Dingen  für  jede 
Ansicht  die  Vorstellung  einer  einheitlichen  Raum- 
schicht erwecken  und  somit  einen  Gesamtraum  von 
klarer  Flächeneinheit  beschreiben.  Wie  aber  ist  dies 
zu  erreichen ,  wenn  der  Steinblock  in  sich  diesen 
Gesamtraum  der  Figur ,  oder  wie  gesagt  den  mas- 
siven Raumkörper  darbietet? 

Dann  ist  für  die  eine  Hauptsache,  die  der  Thon- 
bildner erst  konstituieren  musste ,  den  dreidimen- 
sionalen Komplex ,  bereits  durch  das  natürliche 
Substrat  gesorgt,  und  man  begreift,  dass  vor  den 
eingreifenden  und  durchgreifenden  Händen  hier  das 
schauende  Auge  die  Führung  für  sich  beanspruchen 
mag.  Handelt  es  sich  doch  gewiss  darum,  die  vor- 
schwebende Figur  in  den  Steinblock  hinein  zu 
schauen.  Aber  sowie  dies  vom  luftigen  Phantasie- 
akt zur  konkreten  Rechnung  mit  dem  vorhandenen 
Volumen  übergeht,  so  stellt  sich  die  Schwierigkeit 
heraus : 

Wenn  die  freibewegte  Figur  auch  als  „enthalten 
in  einem  Gesamtraume"  gedacht  werden  kann,  „so 
ist  es  doch  unmöglich  von  vornherein  festzustellen, 


Steinskulptur 


73 


wie  und  wo  für  jede  Ansicht  die  Figur  im  Stein  zu 
stehen  kommt,  da  das  dreidimensionale  Verhältnis 
der  verschiedenen  Ansichten  untereinander  im  vor- 
aus nicht  zu  bestimmen  ist.  Deshalb  ist  ein  vor- 
läufiges Anhauen  der  Gesamtform  unmöglich"  (no). 

„Es  lässt  sich  nur  der  eine  Weg  einschlagen, 
von  einer  Ansicht  auszugehen  und  die  andern  als 
ihre  notwendigen  Konsequenzen  entstehen  zu  lassen. 
Damit  ist  der  Bildhauer  gezwungen,  seiner  kubischen 
oder  Bewegungsvorstellung  eine  Gesichts-  oder  Bild- 
vorstellung zu  Grunde  zu  legen  und  von  dieser  aus- 
zugehen. 

„Es  wird  nötig,  dies  Bild  auf  die  Hauptfläche 
des  Steines  aufzuzeichnen.  Indem  ich  dies  Bild  in 
den  Stein  eingrabe  und  sowol  von  der  Steinfläche 
das  ausserhalb  der  Kontouren  Liegende  entferne, 
als  auch  im  Innern  die  Form  abstufe,  fange  ich  zu- 
gleich an ,  bei  den  Formen  auf  das  reale  Tiefen- 
mafs ,  welches  der  runden  Figur  zukommt ,  zu 
achten  .  .  . 

„Das  Auslösen  des  Bildes  geschieht  beständig 
nur  nach  dem  Augenbedürfnis ,  und  die  Phantasie, 
die  dabei  tätig  ist,  ist  stets  eine  schauende,  wie  von 
einem  fernen  Standpunkt.  Es  wird  sich  von 
selber  ergeben,  dass  das  Bild  in  jedem  Stadium  ein 
einheitliches  ist,  und  zwar  in  dem  Sinne  einheitlich, 
als  es  eine  Flächengemeinschaft  hat ,  und  die  Ein- 
heit einer  Sehgemeinschaft  von  einem  Standpunkte 
aus  trägt,  während  es  eine  reale  Einheit,  als  materielle 
Form,  für  die  verschiedenen  Standpunkte  noch  nicht 
gewonnen  hat"  (110 — 113). 


74 


Mimik  und  Plastik 


„Indem  die  Figur,  als  Bildeindruck  gefasst,  auf 
diese  Weise  in  die  Tiefe  fortschreitet,  ergeben  sich 
dann  auch  die  Seitenansichten  und  zuletzt  die  Rück- 
ansicht als  die  notwendigen  Konsequenzen." 

„Man  sieht  aus  dem  so  beschriebenen  Verlauf 
der  Steinarbeit,  dass  der  Bildhauer  dabei  von  einer 
Bildvorstellung  ausgehen  muss  und  deren  Form- 
vorstellung in  wirkliche  Bewegungsvorstellung  um- 
setzt" (119). 

Bei  diesem  Bericht  über  sein  Verfahren  ver- 
gisst  Hildebrand  nur  eine  Tatsache  ausdrücklich  an- 
zuerkennen, auf  die  wir  sogleich  im  Voraus  hin- 
gewiesen, eben  die,  dass  für  diese  Steinarbeit  der 
Steinblock  selbst  das  räumlich-körperliche  Substrat 
und  damit  den  dreidimensionalen  Komplex  geliefert 
hat.  Das  ist  aber  vor  allen  Dingen  die  Aufrichtung 
der  Mittelaxe,  auf  die  sich  von  allen  Seiten  die  An- 
sichten zubewegen,  es  ist  die  Festlegung  des  Ko- 
ordinatensystems in  diesem  Centrum.  Das  „Selbst- 
verständliche", das  beim  Modellieren  in  Thon  erst 
sozusagen  erschaffen  werden  muss,  ist  hier  gegeben, 
bereits  fertig  adoptiert.  Das  Modellieren  in  Thon 
ist  im  Wesentlichen  Additionsverfahren ,  die  Stein- 
skulptur dagegen  ausschliesslich  Subtraktion.  Die 
Methode  der  Letzteren  setzt  also  an  einem  viel 
späteren  Punkt  erst  des  ganzen  Weges  ein ! 

Mit  dieser  unläugbaren,  selbstverständlichen 
Tatsache  hängt  aber  eine  andre  zusammen,  die 
einen  grundsätzlichen  Einwand  gegen  rein  optische 
Zurechtlegung  des  Problems  der  Form  in  der  bil- 
denden Kunst  veranlasst.    Erfüllt  nun  wirklich  die 


Steinskulptur 


75 


Steinskulptur,  fragen  wir,  die  Bedingung,  die  Hilde- 
brand beim  Modellieren  in  Thon  vermisst,  dass  der 
Bildner  „von  einer  allgemeinen  Raumvorstel- 
lung ausgehe",  wie  dies  etwa  vom  Maler  gesagt 
werden  kann?  Nur  wenn  dies  wirklich  der  Fall  ist, 
wie  Hildebrand  annimmt,  können  wir  ihm  auch  weiter 
folgen  zu  seiner  Behauptung,  dass  die  Aufgabe  des 
Bildhauers  und  des  Malers  durch  dasselbe  Vorstel- 
lungsbedürfnis geleitet  werde,  und  dass  in  beiden 
Künsten  nur  ein  und  dasselbe  Gestaltungsprincip 
walte"  (82). 

Auf  Grund  der  Tatsache ,  dass  der  Steinblock 
als  massiver  Raumkörper  von  vornherein  dem  Bild- 
hauer gegenübersteht,  glaube  ich,  muss  die  Antwort 
auf  unsere  Frage  „Nein"  lauten.  Er  geht  nicht  von 
einer  allgemeinen  Raumvorstellung  aus,  sondern  von 
einem  konkreten,  durch  den  gedachten  und  allmäh- 
lich auszuhauenden  Körper  erfüllten  Raum  oder 
richtiger  gar  von  einem  Massenvolumen.  Das  Ko- 
ordinatensystem ist  ja  bereits  im  Marmorblock  fest 
lokalisiert  und  mit  demjenigen  der  darin  entstehen- 
den Figur  identisch.  Insofern  könnte  grade  vom 
Thonbildner  mit  grösserm  Recht  gesagt  werden,  ei- 
gene von  einer  allgemeinen  Raumvorstellung  aus 
und  konstituiere  darin  durch  Aufrichtung  seines  Ge- 
rüstes den  Einzelraum,  der  wieder  nicht  ausserhalb 
der  Statue  existiert,  sondern  von  vornherein  an  den 
darzustellenden  Gegenstand  gebunden  ist.  Es  ist  in 
beiden  Fällen  ein  Sonderraum ,  ein  allseitig  um- 
gränztes  Raum-  oder  Massen- Volumen,  das  für  den 
Bildner,  der  die  Gestalt  hineinsieht,  an  diesem  Kör- 


76 


Mimik  und  Plastik 


per  haftet,  von  ihm  erfüllt  und  innerlich  gegliedert 
wird.  Und  deshalb  wäre  es  richtiger  zu  sagen :  die 
Plastik  geht  überhaupt  nicht  von  einer  Raumvorstel- 
lung sondern  von  einer  Körpervorstellung  aus.  Das 
entspricht  ihrem  Wesen  als  Körperbildnerin.  Wir 
sprechen  deshalb  doch  bei  dem  fertigen  Bildwerk  von 
seinem  „ästhetischen  Raum".  Vergegenwärtigen  wir 
uns  diesen  etwa  wie  eine  Glasglocke ,  die  über  die 
Figur  gestülpt,  die  äussersten  Spitzen  ihrer  Glied- 
mafsen  kaum  noch  berührt,  —  dann  erhellt  aus 
diesem  handgreiflichen  Experiment  wenigstens  so- 
viel, dass  die  Gestalt  durch  dies  Gehäuse  bis  auf 
die  Basis  von  dem  allgemeinen  Raum  isoliert  wird. 
Ihr  ästhetischer  Raum  besteht  für  sich ;  er  wird 
ausser  der  Gestaltung  des  plastischen  Körpers  selbst, 
den  er  beherbergt,  gar  nicht  für  sich  als  Raum  an- 
erkannt ,  übt  also  auch  keinen  Einfluss  auf  die 
Figur,  die  sein  Träger  ist.  Ein  umgebender  Schau- 
platz ,  ein  Hintergrund ,  mit  eigener  Bedeutung  für 
sich  neben  der  Statue ,  ist  nicht  vorhanden.  Der 
allgemeine  Raum  wird  von  der  Behand- 
lung der  Skulptur  ausgeschlossen. 

Damit  aber  ergiebt  sich  zugleich,  dass  die  Raum- 
vorstellung des  Bildhauers  nicht  dieselbe  ist,  wie  die 
des  Malers.  Der  Raum,  den  er  mit  seiner  Gestalt 
erschaffen  und  erfüllen  soll ,  wird  nicht  von  dem 
entfernten  Standpunkt  gesehen,  wie  der  des  Malers, 
der  eben  dadurch  zur  selbständigen  Bedeutung  als 
Raumgrösse  gelangt  und  eine  Welt  für  sich  be- 
deutet. Der  Gestaltungsraum  des  Bild- 
hauers  ist   ein   andrer   als    der  Bildraum 


Der  Gestaltungsraum  des  Bildners 


77 


des  Malers.  Hier  liegt  unsres  Erachtens  ein  ent- 
scheidender Irrtum  bei  Hildebrand  vor ;  entweder 
eine  Selbsttäuschung  beim  Beobachten,  oder  eine 
Verwechslung  zweier  Begriffe  durch  die  Bezeichnung 
mit  demselben  Wort  (Fernbild),  genug  die  Ursache 
für  die  ganze  Identifizierung  der  plastischen  und 
der  malerischen  Aufgabe. 

Beschränken  wir  uns  an  dieser  Stelle ,  da  das 
Fernbild  uns  noch  weiterhin  beschäftigen  muss,  auf 
die  Charakteristik  des  Gestaltungsraums,  wie  er  vor 
dem  Bildhauer  steht,  im  Unterschied  von  dem  Bild- 
raum des  Malers,  der  erst  jenseits  der  Distanzschicht 
beginnt ,  wo  nur  noch  unser  Auge  in  die  Weite 
dringt ,  aber  jede  körperliche  Berührung  mit  den 
Dingen  aufhört.  Dieser  Gestaltungsraum,  mögen  wir 
dabei  an  den  in  Arbeit  befindlichen ,  am  besten 
schon  ziemlich  weit  ausgehauenen ,  Marmorblock 
denken,  oder  an  den  Autbau  der  Thonfigur,  die  mehr 
oder  minder  ihre  Gliedmafsen  uns  entgegenstreckt, 
-  dieser  massive  Raumkörper,  also  auch  das  zu- 
gehörige Raumvolumnen  ist,  trotz  allem  Zurück- 
treten des  Bildners  zur  Kontrole  seiner  formenden 
Tätigkeit  nach  ihrer  Wirkung  für  das  Auge,  doch 
unläugbar  für  die  Herstellung  der  realen  Körperlich- 
keit vorerst  ein  naher.  Er  liegt  innerhalb  der  Tast- 
region und  bleibt  darin,  solange  die  Arbeit  der 
Hände  mit  ihren  Werkzeugen  dauert.  Treten  wir 
aber  von  der  angefangenen  Figur  zurück,  soweit  es 
Hildebrand  beliebt,  so  dass  die  „Bildvorstellung" 
walten  kann,  und  dass  die  Ansicht  des  Fertig- 
gewordenen   „eine    einheitliche  Raumschicht"  dar- 


TS 


Mimik  und  Plastik 


biete :  dann  bleibt  doch  immer  die  Natur  dieses 
Raumvolumens  eine  andre  als  z.  B.  der  Blick  in 
die  Landschaft  draussen  vor  dem  Fenster.  Dieser 
Gestaltungsraum  ist  bis  zum  massiven  Kern  der 
dargestellten  Formen  ringsum  durchdrungen  vom 
Tastgefühl  des  Bildners ;  er  ist  ihm  vertraut  ge- 
worden, jemehr  er  ihn  bewältigt.  Und  dieser  Cha- 
rakter der  lebendigen  Gliederung,  der  Durchdringung 
mit  menschlich  eigenem  Empfinden  bleibt  auch  be- 
stehen, wenn  im  Fortschritt  zur  Vollendung  der 
persönliche  Anteil  sich  auf  den  Standpunkt  des  reinen 
Schauens  zurückzieht ,  wo  die  Klarheit  und  Konse- 
quenz der  Gesichtsvorstellung  allein,  die  wir  abzu- 
lösen glauben  von  ihrem  körperlichen  Substrat, 
schon  für  sich  befriedigen  und  als  Woltat  genossen 
werden  mag,  wo  aber  zugleich,  so  sollten  wir  meinen 
und  so  denkt  auch  Hildebrand  selbst ,  der  innigere 
Genuss  des  Formgefühls  nicht  aufhört  sein  Recht  zu 
behalten.  Für  den  Schöpfer  bleibt  doch  dieser 
Körper  das  Geschöpf  seiner  Hand,  bleibt  dessen 
Raumvolumen  das  Ergebnis  seiner  verwirklichenden 
Arbeit,  seiner  Uebertragung  von  Bewegungsvor- 
stellungen und  mimischem  Gebaren  auf  den  Stein, 
—  als  wärs  ein  Stück  von  ihm. 

Die  Plastik  allein  vergleicht  sich  so  nah  mit 
dem  Zustand  der  Gebärerin,  mit  dem  Verhältnis  der 
Mutter  zu  dem  ungeborenen  Kinde  in  ihrem  Schofs. 
Und  auch  wenn  das  neue  Wesen  ausgetragen  ist 
und  selbständig  werden  kann,  so  gehört  es  doch 
immer  zum  eigenen  Stamme,  lebt  in  einer  verwandten 
Sphäre,  die  sich  unserer  Tastregion  nicht  völlig  eilt- 


Der  Gestaltungsraum  des  Bildners 


79 


fremden  kann,  so  wahr  unser  eigenstes  Körpergefühl 
das  Vehikel  unsres  Anteils  an  dem  gleichorgani- 
sierten Gebilde  bleibt.  Wir  können  ja  nicht  sagen, 
es  sei  des  Bildners  eigen  „Fleisch  und  Blut" ;  denn 
die  Plastik  vermeidet  grade  diese  Bedingungen  des 
organischen  Leibes,  die  Merkmale  des  Stoffwechsels 
und  der  Vergänglichkeit,  aus  denen  sie  den  bleiben- 
den Wert  befreien  will ;  aber  es  besteht  zwischen 
dem  Gestaltungsraum  des  Bildners  und  seinem  lebens- 
warmen Gefühl  doch  nicht  die  Schranke ,  die  der 
Rahmen  des  Gemäldes  zwischen  uns  und  dem  Bild- 
raum jenseits  errichtet. 

Die  Plastik  ist  Darstellung  unseres  organischen 
Körpers  nach  seiner  bleibenden  Bedeutung,  also  auch 
ohne  Beziehung  zu  einem  umgebenden  Raum,  der 
diesen  Körper  bedingen,  beeinträchtigen  und  in  die 
Abhängigkeit  vom  allgemeinen  Strom  des  Geschehens 
hineinziehen  könnte.  Ihre  reinste  Aufgabe  sollte 
somit  in  der  statuarischen  Kunst  anerkannt  werden, 
d.  h.  im  Gebiet  der  isolierten  Rundplastik  zunächst. 


in. 

ISOLIERTE  RUNDPLASTIK 


UNTER  FREIEM  HIMMEL 
ODER  IM  GESCHLOSSENEN  INNENRAUM 

ein  optische  Auffassung  des  Problems  der 
Form  war  es ,  die  zur  Geringschätzung  des 
Modellierens  in  Thon  gegenüber  der  Bild- 


hauerei in  Stein  geführt  hat,  —  d.  h.  zu  einer  Be- 
urteilung, die  schon  an  sich  die  Einseitigkeit  eines 
solchen  theoretischen  Standpunktes  verraten  muss. 
Die  selbe  Scheu  des  malerisch  gewöhnten  Blickes 
vor  dem  Kubischen,  das  „zu  der  Luft  und  dem  wirk- 
lich realen  Raum  in  Gegensatz  tritt",  behindert  den 
Künstler  auch  angesichts  der  wichtigsten  Aufgabe, 
die  heutzutage  der  Plastik  gestellt  zu  werden  pflegt, 
der  runden  Figur  in  der  Mitte  eines  Platzes,  das 
Problem  überhaupt  so  eingehend  in  Angriff  zu 
nehmen,  wie  er  sollte. 

,, Diese  unglücklichen  Monumente  sind  gegen- 
wärtig fast  die  einzige  Bühne,  auf  der  der  Bildhauer 


Denkmal  und  Platz 


81 


seine  Phantasie  ausleben  darf",  —  um  so  mehr  Ver- 
anlassung, sollten  wir  meinen,  ihm  hier  vollends  zur 
Klarheit  über  die  verschiedenen  Möglichkeiten  der 
Lösung  zu  verhelfen.  In  der  Mitte  eines  Platzes 
sollte  jedoch  nach  Hildebrands  Meinung  die  Statue 
überhaupt  nie  stehen,  und  zwar  weil  alle  Richtungen 
gleichwertig  sind ,  weil  es  kein  vorn  und  hinten 
giebt  (S.  100).  „Der  Beschauer  kreist  um  das  Stand- 
bild herum,"  heisst  es,  also  ganz  ähnlich  wie  der 
Bildner  selbst  beim  Modellieren  in  Thon,  —  „und 
hat  vier  Ansichten  zu  schlucken ,  was  nur  bei  sehr 
wenigen  Statuen  ein  Vorteil  ist  und  immer  nur  bei 
nackten  Figuren  ein  Genuss  sein  kann." 

„Was  ist  aber  schuld  an  diesem  Aberglauben 
von  der  Mitte  eines  Platzes?"  eifert  er.  „Wiederum 
die  unentwickelte  Vorstelluug,  welche  sich  einen 
Platz  gleichsam  als  organisches  Gebilde  denkt 
und  damit  das  Gefühl  von  organischer  Sym- 
metrie verbindet.  Sie  fasst  ihn  als  ein  an  sich 
Existierendes  auf,  anstatt  ihn  sich  als  gesehen 
vorzustellen ,  als  ein  Ding ,  was  seine  künstlerische 
Existenzberechtigung  nur  in  Bezug  auf  den  Be- 
schauer hat  und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
behandelt  werden  muss." 

Aber,  ohne  Zweifel  ist  doch  der  Platz  zunächst 
etwas  an  sich  Existierendes,  d.  h,  ein  Bestandteil 
unserer  Wirklichkeit,  der  wir  ja  nicht  ausschliesslich 
,,als  Augengeschöpfe ,  sondern  mit  allen  unsern 
Sinnen"  gegenüberstehen.  Und  es  bleibt  somit  die 
Frage  offen,  von  wo  aus  die  künstlerische  Behand- 
lung einzusetzen  vermag. 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  ß 


82 


Isolierte  Rundplastik 


Um  uns  darüber  zu  verständigen,  möchten  wir 
im  Voraus  eine  kleine  Berichtigung  des  obigen 
Wortlauts  vorschlagen ,  weil  ein  Missgriff  im  Aus- 
druck hier  grade  den  Unterschied  der  Vorstellungs- 
kreise verwirrt,  auf  deren  genaue  Auseinanderhaltung 
es  ankommt.  Statt  „organisches  Gebilde"  sollte  es 
vom  Platz  wol  richtiger  „planimetrisches"  oder 
,, stereometrisches"  Gebilde  heissen.  Das  Erstere  ist 
der  Platz  jedenfalls  als  mehr  oder  minder  ebene 
Horizontalfläche  von  bestimmter  Umgränzung,  d.  h. 
als  Ausschnitt  der  Erdoberfläche  gefasst.  Besteht 
diese  Umgränzung  aber  nicht  allein  aus  Linien,  son- 
dern aus  senkrecht  aufgerichteten  Körpern,  von  ein- 
fachen Gränzsteinen  (Termini)  bis  zu  Häusern  oder 
sonstigen  Bauwerken ,  die  ihn  —  vielleicht  mit 
Strassenmündungen  dazwischen  — -  ringsum  ein- 
schliessen,  so  ist  er  jedenfalls  ein  Innenraum  unter 
freiem  Himmel ,  wir  denken  ihn  aber  auch  oben 
horizontal  begränzt,  am  ehesten  als  „stereometrisches" 
Gebilde.  Bei  der  erstem  wie  bei  der  andern  Auf- 
fassung aber  waltet  keine  „organische  Symmetrie", 
bei  der  es  eben  ein  „vorn  und  hinten"  giebt,  son- 
dern grade  die  der  unorganischen  Natur  besonders 
geläufige  „centrale  Symmetrie",  wie  in  einem  krystalli- 
nischen  Gebilde,  und  wir  denken  sie  am  ehesten 
wol  planimetrisch  wie  im  flachen  Schneestern  oder 
stereometrisch  allseitig  gerichtet  wie  im  regelmässigen 
Polyeder,  wie  im  Diamanten. 

Künstlerisch  aufgefasst  ist  der  Platz  zunächst 
ein  Raumgebilde  und  gehört  als  solches  der  Archi- 
tektur an.    Diese    fasst   ihn  mit  vollem  Recht  als 


/ 

Der  Platz  als  Raumgebilde  §3 

„ein  an  sich  Existierendes"  auf,  d.  h.  als  etwas,  das 
sich  nicht  allein  als  Gesehenes ,  sondern  auch  für 
andre  Sinne  noch  als  ausser  uns  Vorhandenes  be- 
währen kann,  indem  wir  mit  unsern  Füssen  darauf 
stehen,  mit  unsern  Beinen  darüber  hin  schreiten,  das 
Gerassel  der  Wagen  darauf  hören  usw.  Die  Be- 
ziehung des  menschlichen  Subjekts  zu  diesem 
Raumgebilde  wird  nur  dann  eine  vollständige  sein, 
wenn  es  den  Standpunkt  einnimmt,  den  ihm  die 
centrale  Symmetrie,  wo  sie  vorhanden  ist,  oder  der 
Schnittpunkt  der  Koordinatenaxen  anweist,  d.  h.  wenn 
es  sich  selbst  in  den  Mittelpunkt  versetzt,  ob  nun 
allein  in  der  Vorstellung  oder  in  Wirklichkeit. *)  Im 
letztern  Falle  zeigt  sich  aber  wiederum  der  Unter- 
schied der  ,, organischen  Symmetrie",  die  der  Be- 
schauer mitbringt  mitsamt  dem  Vorn  und  Hinten 
seines  eigenen  organischen  Leibes.  Durch  Drehung 
um  die  Vertikalaxe  muss  er  das  Hindernis  seiner 
Organisation  mit  ausgemachter  Vorderseite  aufheben, 
um  wenigstens  nach  einander  alle  Seiten  des  Platzes 
ringsum  zu  erschauen.  Das  heisst,  damit  wird  die 
simultane  Anschauung  aufgehoben  und  die  successive 
tritt  an  die  Stelle.  Diese  herrscht  auch  überall  sonst, 
wohin  immer  das  menschliche  Subjekt  in  seiner 
Ortsbewegung  sich  begebe.  Immer  wird  dann  ausser- 
dem nur  ein  Teil  des  ganzen  Raumgebildes  von 
ihm  erfasst,  und  erst  die  Vorstellung  vollzieht  die 


i)  Vgl.  Gottfried  Semper,  Der  Stil,  Prolegomena,  bei  Be- 
sprechung der  Symmetrie  und  ,,Eurhythmie"  (nach  seiner  Definition, 
auf  deren  Zulässigkeit  es  hier  nicht  ankommt). 

6* 


\ 

84  Isolierte  Rundplastik 

Synthesis  dieser  mit  Bewegungsvorstellungen  ver- 
knüpften Teilanschauungen  zu  einem  Ganzen.  Die 
Auffassung  des  menschlichen  Subjekts  mit  seiner 
ausgesprochenen  Vorderseite,  nach  der  sich  die 
Richtung  seines  Sehens  nicht  nur,  sondern  auch 
seines  Gehens  und  jeglicher.  Hantierung  gewohn- 
heitsmässig  bestimmt,  wirkt  weiter.  Sowie  die  eine 
Ausdehnung  des  Platzes  über  die  andre  überwiegt, 
so  verlegen  wir  die  entscheidende  Richtungsaxe  gern 
in  die  grössere  Axe,  und  es  ergiebt,  wie  wir  sehen 
werden,  für  die  optische  Auffassung  einen  wesent- 
lichen Unterschied,  wenn  in  solchem  Oblongum  die 
Richtungsaxe  mit  ihrem  Vorn  und  Hinten  nicht  in 
die  längere,  sondern  in  die  kürzere  Axe  verlegt  wird. 

Nehmen  wir  zunächst  jedoch  einen  mehr  oder 
minder  vollkommen  symmetrisch  angelegten  Platz 
mit  annähernd  gleichen  Durchmessern  an  und  stellen 
in  der  Mitte  ein  Standbild  auf.  Dann  räumen  wir 
diesem  statuarischen  Ebenbild  des  Menschen  den 
Standpunkt  ein,  der  dem  menschlichen  Subjekt  in 
diesem  Raumgebilde  zukommt,  sowie  wir  es  als 
künstlerische  Schöpfung,  d.  h.  als  Werk  der  Städte- 
bauerin Architektur  auffassen.  Jedenfalls  gestehen 
wir  der  dargestellten  Person  das  Vorrecht  zu ,  den 
einzigen  Ort  einzunehmen ,  wo  eine  vollständige 
Orientierung  über  die  innere  Gesetzmässigkeit  der 
Platzanlage  möglich  ist,  von  wo  aus  allein  der  Be- 
trachter den  ganzen  Umkreis  beherrscht.  Alle  leben- 
digen Menschen  werden  dadurch  in  Wirklichkeit  auf 
die  Seite  gedrängt,  in  die  zweite  Kategorie  herab- 
gedrückt, auf  die  transitorische  Teilauffassung  des 


Das  Mal  als  Körper 


85 


Platzes  beschränkt.  Der  Platz  selbst  wird  für  sie 
zum  Durchgangsraum,  sie  mögen  noch  so  lange  dort 
herumstehen ;  er  wird  zum  Kreuzweg  des  Verkehrs 
auf  den  ein-  und  ausmündenden  Strassen.  Es  sei 
denn,  dass  sie  sich  in  der  Vorstellung  auf  den  über- 
legenen Standpunkt  der  Mittelfigur  erheben,  oder 
vielmehr  noch  über  das  Haupt  der  Statue  hinaus, 
zur  Vogelperspektive.  In  dieser  Verbesserung ,  die 
wir  soeben  anbringen,  prägt  sich  schon  ein  wich- 
tiger Unterschied  aus.  Versetzen  wir  uns  in  die 
Statue,  die  menschliche  Gestalt,  so  ziehen  wir  damit 
auch  die  feste  Richtung  ihrer  Vorderseite  wie  ihrer 
Rückseite  an ;  sie  kann  die  Drehung  um  die  eigne 
Axe  nicht  mitmachen ,  die  der  Lebende  vollziehen 
würde.  Erst  der  ideale  Standpunkt  darüber  ge- 
währt diese  Beweglichkeit  wieder.  Das  rein  ideale 
Vorrecht,  die  Möglichkeit  künstlerischer  Auffassung 
des  Platzes  als  Raumgebilde ,  geht  also  nicht  ver- 
loren ,  wenn  die  Mitte  tatsächlich  durch  ein  Monu- 
ment eingenommen  wird,  sie  wird  sogar  betont,  er- 
leichtert ,  ja  erzwungen  durch  diese  Aufrichtung 
eines  Mals  an  dieser  Stelle.  Ein  solches  Mal,  — 
denken  wir  zunächst  an  irgendwelchen  ringsum 
gleichmässig ,  d.  h.  polygonal  oder  gar  cylindrisch 
behauenen  Stein,  oder  an  einen  Obelisken;  einen 
tektonischen  Körper  ohne  figürliche  Zutat  und  ohne 
jede  Andeutung  einer  bevorzugten  Vorderseite,  — 
es  ist  ein  krystallinisches  allseitig  gerichtetes  Gebilde, 
wie  der  Platz  selbst,  und  versinnlicht  eben  dadurch 
die  allseitige  Korresponsion  mit  der  Umgränzung 
dieses  Platzes.    Es    ist   der   verkörperte  Ausdruck 


86 


Isolierte  Rundplastik 


des  Verhältnisses ,  das ,  so  simultan  nur  in  unserer 
Vorstellung,  zwischen  dem  menschlichen  Subjekt 
und  dem  beharrlichen  Raumgebilde  ringsum  existiert. 
Es  erfüllt  so  die  Forderung  Hildebrands,  der  Platz 
müsse  „als  ein  Ding  vorgestellt  werden,  was  seine 
künstlerische  Existenzberechtigung  nur  in  Bezug  auf 
den  Beschauer  hat  und  von  diesem  (hier  allerdings 
noch  ganz  abstrakten)  Gesichtspunkt  aus  behandelt 
werden  muss".  Das  Mal  weist  dem  menschlichen 
Subjekt  auf  dem  Platze  den  entscheidenden  Punkt 
an,  den  idealen  Standpunkt,  der  die  Auffassung  des 
Ganzen  als  Raumgebilde  vermittelt. 

Dies  ist  also  der  architektonische  Stand- 
punkt. Ihm  entspricht  auch  durch  die  allseitige  Be- 
ziehungsmöglichkeit ein  andres  vielleicht  noch  primi- 
tiveres Symbol :  die  aufgerichtete  Stange  mit  dem 
runden  Topf  darauf.  Es  erinnert  durch  die  Ana- 
logie dieser  bekrönenden  Form  schon  zwingender 
an  den  menschlichen  Kopf,  giebt  indess  den  Körper 
darunter  sozusagen  nur  in  abstracto,  doch  aber  das 
Wichtigste  davon,  das  hier  entscheidet,  die  Mittel- 
axe, das  Höhenlot  als  Dominante.  -Und  diese  wird, 
wenn  sie  nur  in  richtigem  Verhältnis  zu  der  Um- 
gebung auftritt,  hier  auch  zur  Dominante  des  Platzes.. 
Die  gleichartige  Rundung  des  Topfes  erhöht  die  Be- 
deutung des  Korrelats  nach  allen  Seiten  ringsum,  da 
poetische  Phantasie  willig  ergänzend  zu  Hilfe  kommt. 
Sowie  wir  statt  dieses  neutral  gerundeten  Topfes 
eine  Gesichtsurne  auf  die  Stange  setzen,  oder  auf 
den  Bauch  des  vorhandenen  Gefässes  ein  Augen- 
paar malen,  so  wird  die  Analogie  mit  dem  mensch- 


Tektonischer  und  plastischer  Bestandteil 


87 


liehen  Kopf  nicht  nur  bestimmter  herausgefordert, 
sondern  auch  die  Gränze  der  Tektonik  überschritten. 
Die  einseitige  Orientierung  durch  die  Herübernahme 
des  Vorn  und  Hinten  vom  Menschenkopf  bringt  für 
die  wirklichkeitsgemässe  Auffassung  zunächst  auch 
das  Bedürfnis  der  Drehbarkeit  hervor,  und  insofern 
ist  für  den  naiven  Menschen  der  drehbare  Topf  aut 
seiner  Stange  ,, vollkommener",  als  der  einseitig  ge- 
richtete festsitzende  Kopf  der  Statue  auf  dem  ebenso 
nach  vorn  gerichteten  Körper.  Denn  der  naive 
Mensch  weiss  poetische  Illusion  und  anschauliche 
Darstellung  noch  nicht  zu  trennen. 

Damit  haben  wir  die  beiden  Bestandteile ,  aus 
denen  ein  solches  Monument  in  der  Mitte  eines 
Platzes  zu  bestehen  pflegt,  den  teklonischen  und 
den  figürlichen  (im  engern  Sinne  plastischen), 
Sockel  und  Statue,  jeden  für  sich  in  ihrem  innersten 
Gegensatz  charakterisiert.  Der  Sockel  sorgt,  so  lange 
er  allseitig  gerichtet,  wie  ein  krystallinisches  Gebilde 
behandelt  ist,  für  die  architektonische  Auffassung 
des  Platzes  ringsum.  Dieser  stereometrische  Unter- 
satz leistet  aber  ausserdem  der  Plastik  einen  Dienst, 
indem  er  ihr  menschenähnliches  Gebilde ,  das  den 
Eindruck  eines  organischen  Wesens  gleich  uns  her- 
vorrufen will ,  doch  über  das  Niveau  des  daher- 
kommenden Beschauers  hinaushebt  und  damit  grade 
jene  naive  Verwechslung  des  Standbildes  mit  Unsers- 
gleichen  verbietet,  die  vom  Kopfe  wie  vom  Topfe 
die  Drehbarkeit  um  die  Vertikalaxe  verlangt.  Der 
Sockel  weist  also  dem  Beschauer  den  richtigen  Stand- 
punkt   an ,    der    ihn    zur    ästhetischen  Auf- 


SS 


Isolierte  Rundplastik 


fassung  der  Statue  zwingt.  Dieser  Standpunkt 
liegt  zunächst  nur  unter  dem  Niveau  der  Basis ,  auf 
der  sich  die  Figur  erhebt.  Er  ist  auch  nicht  fest- 
gelegt, sondern  ringsum  verschiebbar.  Auch  der 
ästhetische  Betrachter  des  rundplastischen  Werkes 
mag  um  das  Standbild  kreisen,  und  hat,  wie  Hilde- 
brand spottet,  „vier  Ansichten  zu  schlucken",  ja 
vielleicht  noch  mehr,  wie  in  den  Tagen  Berninis 
deren  acht.  Vor  allen  Dingen  aber  hat  er  nicht 
allein  mit  seinen  Augen  Wahrnehmungsakte  von 
verschiedenen  Seiten  zu  vollziehen,  oder  sich  abzu- 
mühen, eine  klare  Gesichtsvorstellung  zu  gewinnen, 
sondern  wieder  einen  Akt  der  reinen  Vorstellung, 
wie  beim  Platze  selbst,  indem  er  alle  wirklichen,  für 
seinen  eignen  Körper  möglichen  Standpunkte  rings 
um  das  Monument  aufhebt  und  sich  mitten  hinein- 
versetzt in  die  Vertikalaxe  des  Gebildes ,  in  das 
Centrum  des  Gesamtkörpers ,  das  wir  Denkmal 
nennen.  Versetzt  er  sich ,  auf  dem  eigenen  Niveau 
verharrend,  kraft  seiner  Vorstellung  in  den  Sockel, 
so  nimmt  er  zu  dem  Platz  zunächst  den  architek- 
tonischen Standpunkt  ein.  Ueber  seinem  Niveau 
aber  steht  die  Statue,  ein  zweites  Subjekt,  Seines- 
gleichen, nur  mit  dem  Unterschied  eben  der 
Hinaushebung  über  die  Bedingungen  der  Erd- 
oberfläche ,  wie  sie  in  Wirklichkeit  für  alle  Körper 
auf  dem  Platze,  vor  allen  für  die  Lebewesen  wie  der 
Beschauer,  bestehen.  Es  ist  ein  Aufschwung,  und 
zwar  aus  diesen  Bedingungen  menschlicher  Leiblich- 
keit, aus  der  Befangenheit  im  Stoffwechsel  und 
Allem,  was  er  mit  sich  bringt,  wie  Notdurft  und 


Die  plastische  Auffassung 


89 


Nahrung  der  geborenen  Kreatur ,  wenn  die  Vor- 
stellung nun  aus  der  Höhe  des  Sockels  hinaufsteigt 
auf  die  Basis  der  Figur  und  sich  hineinversetzt  in 
diese  menschliche  Gestalt.  Dann  ist  die  Gefahr 
allzu  vollständiger  Illusion  überwunden ,  die  Ver- 
wechslung mit  der  alltäglichen  Menschennatur  für 
dies  Abbild  abgestreift ;  immer  aber  ist  es  ein  orga- 
nisches Gewächs  nach  unserm  Ebenbilde,  in  das  die 
Vorstellung  eingeht.  Das  heisst :  der  ästhetische 
Standpunkt,  den  wir  mit  diesem  Akt  der  Selbstver- 
setzung einnehmen,  ist  der  plastische  Stand- 
punkt. 

Die  plastische  Auffassung  allein  erschliesst  uns 
die  körperliche  Entfaltung  von  der  Mittelaxe  aus, 
die  durch  den  Kopf  geht  und  das  aufrechte  Rück- 
grat darunter;  sie  lässt  uns  die  Stellung  der  Glied- 
mafsen  zu  dem  Rumpfe  kraft  unsers  eignen  Körper- 
gefühls nachfühlen,  und  verstehen,  was  grade  dieser 
festgehaltene  Bewegungskomplex  bedeutet ,  den  die 
Künstlersprache  das  Motiv  der  Statue  zu  nennen 
pflegt.  Unter  dem  plastischen  Gesichtspunkt  herrscht 
hier  auch  die  organische  Symmetrie  mit  der  be- 
stimmten Unterscheidung  des  Vorn  und  Hinten, 
zwischen  denen  die  beiden  Seiten,  links  und  rechts, 
vermittelnd  die  organische  Einheit  aufrechterhalten, 
als  deren  Wahrzeichen  uns  am  sichtbarsten  jeden- 
falls der  Kopf  zu  sprechen  scheint.  Die  plastische 
Auffassung  der  Gestalt  als  organisches  Gebilde  be- 
ruhigt sich  aber,  jemehr  sie  von  dieser  summarischen 
Anerkennung  der  wirksamsten  Kennzeichen  zu  der 
Versenkung  in  den  ganzen  Körper  übergeht  und  die 


90 


Isolierte  Rundplastik 


Zusammengehörigkeit  aller  seiner  Teile  zum  Ganzen 
nacherlebt,  grade  nicht  bei  der  einen  bevorzugten 
Vorderseite ,  sondern  fordert  auch  die  andern  drei 
als  mehr  oder  minder  unentbehrliche  Ergänzung.  Je 
stärker  die  Richtung  des  Willens  oder  des  Aus- 
drucks nach  vorn  betont,  die  Gliedmafsen  und  das 
Antlitz  in  lebhaftem  Spiel  zusammenwirken,  desto 
entschiedener  wird  auch  der  Anspruch  an  die  Rück- 
seite ,  die  Einheit  des  organischen  Gewächses  in 
seiner  Selbständigkeit  zu  betonen ,  das  Bestehen  in 
ruhiger  Beharrung  als  Einzelwesen  gesichert  darzu- 
tun, und  desto  notwendiger  wird  zwischen  diesen 
Gegensätzen  gesteigerter  Bewegtheit  und  nachdrück- 
lichen Zusammenhalts,  zwischen  Vorder-  und  Rück- 
seite ,  die  ausgleichende  und  überzeugende  Ver- 
bindung auf  der  rechten  wie  der  linken  Hälfte  des 
Körpers.  Die  vier  Ansichten,  die  wir  von  einander 
sondern  mögen,  wenn  wir  uns  darum  bemühen, 
einigen  sich  aber  nicht  allein ,  indem  sie  auf  dem 
Grunde  des  eignen  Körpergefühls  unvermerkt  und 
notwendig  zusammenfliessen ,  sondern  werden  auch 
in  der  Region  geläuterter  Vorstellungen  sicher  von 
der  stillen  Arbeit  dieser  zu  einem  Ganzen  zusammen- 
gewoben, das  in  seiner  überlegenen  Synthesis  auch 
Bewegungsvorstellungen  und  Gesichtsvorstellungen 
unter  Aufhebung  jeder  quälenden  Diskrepanz  zu  ver- 
binden weiss. 

Nur  eine  Schwierigkeit  ist  in  den  tatsächlichen 
Bedingungen  eines  weiten  Platzes  gegeben,  der  vom 
Bildwerk  selber  entgegengewirkt  werden  muss,  da- 
mit der  Verlauf  dieser  Vorstellungsreihe  sofort  richtig 


Sichtbarkeit  der  organischen  Form 


91 


einsetze.  Die  plastische  Auffassung  verlangt ,  wie 
wir  uns  gesagt  haben,  den  näheren  Standpunkt,  den 
wir  Körpern  gegenüber  einzunehmen  pflegen ,  die 
der  Sphäre  unsers  menschlichen  Mafsstabes  ange- 
hören ,  und  dessen  wir  nicht  entraten  können,  wo 
es  gilt  uns  über  das  Verhältnis  ihrer  Grösse ,  ihres 
Volumens  und  ihrer  sonstigen  Beschaffenheit  im  Ver- 
gleich zu  uns  Rechenschaft  zu  geben.  Stellen  wir 
uns  doch  den  Menschen  selbst,  auch  wo  er  uns  in 
weiter  Ferne,  also  in  sehr  verjüngtem  Mafsstab  er- 
scheint ,  stets  in  normaler  Lebensgrösse  vor.  Ist 
nun  der  Platz  mit  dem  Denkmal  in  der  Mitte  von 
beträchtlichem  Umfang ,  so  nimmt  der  Beschauer, 
der  ihn  soeben  betritt,  nicht  den  der  Plastik  eigen- 
tümlichen Standpunkt  in  angemessener  Nähe  ein, 
sondern  einen  entfernteren,  von  dem  aus  er  zunächst 
nur  ein  Flächenbild  der  Figur  empfängt.  Nur  wenn 
dieses  sofort  die  richtige  Gegenstandsvorstellung  aus- 
löst, d.  h.  die  entscheidenden  Merkmale  der  Men- 
schengestalt vermittelt,  und  keine  Verwechslung  mit 
andern  Dingen  zulässt,  vermag  auch  die  ästhetische 
Auffassung  von  der  Körpervorstellung  auszugehen 
und  alle  Associationen  unseres  Körpergefühls  wach- 
zurufen ,  deren  sie  zur  Auslegung  des  Bildes  im 
plastischen  Sinne  bedarf.  Deshalb  gehört  es  zu  den 
unentbehrlichsten  Eigenschaften  eines  Standbildes 
unter  freiem  Himmel ,  dass  es  auch  für  weiten  Ab- 
stand noch  die  Wahrzeichen  der  Form  unseres  orga- 
nischen Leibes  auf  den  ersten  Blick  erkennen  lasse. 
„Diese  Klarlegung  kann  durch  eine  deutlich  spre- 
chende   Begränzung,    durch    ein   Silhouettbild  ge- 


92 


Isolierte  Rundplastik 


schehen.  Das  klare  Silhouettbild  ist  das  weitest 
tragende  Gegenstandsbild.  Aus  dem  Bedürfnis  der 
Fernwirkung  haben  die  Griechen  meistens  ein  klares 
Silhouettbild  zur  Gegenstandsklärung  gebraucht", 
bemerkt  Hildebrand  gelegentlich  an  andrer  Stelle 
(S.  79)  und  hebt  hervor,  dass  dies  Verfahren  bei 
Bronzewerken  erstrecht  notwendig  ist,  weil  in  Folge 
der  dunkeln  Farbe  die  innere  Form  zu  schwach 
spricht.  Sowie  aber  die  innere  Gliederung  zu  wir- 
ken beginnt ,  sind  es  die  Gelenke ,  über  die  wir 
Rechenschaft  verlangen.  Für  den  Gesamtumriss  wie 
für  die  Hauptgliederung  wird  es  also  auf  die  frap- 
pante Klarheit  des  Motivs  ankommen ,  das  uns  mit 
einem  Schlage  in  die  Sphäre  des  persönlichen  Da- 
seins versetzt. 

Nun  aber  bilden  die  Statue  und  der  Sockel  zu- 
sammen ein  Ganzes ,  das  ein  Gesamtumriss  um- 
schreibt, und  dessen  beide  Bestandteile  sich  demge- 
mäss  mit  einander  ausgleichen  mögen,  —  sei  es  mehr 
im  tektonischen  Sinne  nach  Mafsgabe  des  Sockels, 
sei  es  mehr  im  plastischen  Sinne  nach  Mafsgabe  der 
Statue.  Die  stereometrische  Grundform  des  Unter- 
satzes wird  auch  den  organischen  Körper  darauf  im 
Sinne  dieser  gesetzmäfsigen  Bildung  beeinflussen  und 
seine  Bewegung  in  dem  Umriss  einer  pyramidalen 
Bekrönung  zusammenhalten,  und  zwar  je  weiter  der 
Platz,  je  höher  seine  Umgebung,  also  auch  das  Mal 
in  seiner  Mitte.  Unzweifelhaft  hat  die  Architektur 
als  Gestalterin  des  ganzen  Raumgebildes  das  Recht, 
die  Durchbildung  des  Monumentes  im  Einvernehmen 
mit  ihrem  Hausgesetz  zu  verlangen;  denn  es  ist  und 


Sockel  und  Statue 


93 


bleibt  in  erster  Linie  ein  tektonischer ,  von  allen 
Seiten  sichtbarer  Körper.  Die  Architeklur  ist  also 
nicht  nur  „ein  blos  dienendes  Glied  für  die  Plastik" 
(S.  97),  indem  sie  den  Sockel  liefert,  sondern  sie 
leistet  schon  durch  diesen  Aufbau  der  Schwester- 
kunst einen  viel  höhern  ästhetischen  Dienst,  wie  ihn 
nur  die  Bundesgenossin  zu  leisten  vermag,  und  wo 
immer  der  architektonische  Standpunkt  für  das  Ver- 
hältnis des  Beschauers  der  mafsgebende  bleiben 
muss,  da  bleibt  sie  die  Herrin  der  Situation.  Mit 
dem  Zusammenhalt  des  Umrisses  auch  im  Stand- 
bild, den  sie  verlangt,  kann  aber  auch  der  Plastiker 
nur  einverstanden  sein  unter  freiem  Himmel,  wo  das 
Licht  in  der  Höhe  sonst  so  leicht  die  Formen  auf- 
zehrt, sobald  sie  sich  vereinzeln,  wo  also  nur  die 
Masse  sich  behaupten  kann ;  —  vorausgesetzt  bleibt 
freilich,  dass  dadurch  sein  Hauptanliegen  die  Kennt- 
lichkeit der  Gestalt  als  Ebenbild  des  Menschen 
nicht  leide. 

Das  Verhältnis  zwischen  dem  menschlichen  Sub- 
jekt und  dem  Platze  ändert  sich  jedoch  mit  der  ab- 
nehmenden Grösse,  indem  sich  der  Abstand  zwischen 
Monument  und  Umgebung  ringsum  den  Bedingungen 
wenn  auch  immer  noch  grosser  Innenräume  nähert. 
Je  niedriger  die  Bauwerke  oder  die  sonstige  Ein- 
fassung umher,  desto  weniger  braucht  auch  das  Mal 
in  seiner  Mitte  über  die  Köpfe  der  Vorübergehen- 
den hinaufzusteigen ;  desto  absehbarer  bleibt  die 
Höhe  der  Figur.  Nicht  allein  das  Auge  vermag 
sich  eingehender  auf  die  Einzelheiten  der  Form  und 
des  Ausdrucks  einzulassen,  sondern  das  organische 


94 


Isolierte  Rundplastik 


Gebilde  rückt  auch  der  Tastregion  des  Betrachters 
näher  und  gestattet  damit  dem  Körpergefühl ,  sich 
vertraulicher  einzuleben ,  als  wenn  es  sich  bei  der 
summarischen  Erscheinung  aus  der  Ferne  mit  ein 
paar  entscheidenden  Merkmalen  und  energisch  her- 
ausgetriebenen Hauptzügen  bescheiden  muss.  Je 
stärker  dies  Mitgefühl  mit  dem  gleichorganisierten 
Wesen  dort  oben  durch  die  Annäherung  an  die 
lebenden  Besucher  sich  geltend  machen  kann,  desto 
grösser  wird  das  Anrecht  des  plastischen  Stand- 
punktes neben  dem  architektonischen.  Rücken  die 
Bauwerke  der  Umgebung ,  auch  nur  einzelne ,  dem 
Monument  so  nahe,  dass  wir  auch  sie  nicht  über- 
wiegend als  fortlaufende  Wand  in  einer  Reihe,  son- 
dern als  Einzelkörper  aufzufassen  veranlasst,  oder 
durch  Gruppen  von  solchen  erst  zur  innern  Um- 
gränzung  des  Platzes  übergeleitet  werden,  so  wird 
sogar  die  Plastik  die  vollberechtigte  Herrin  der 
Situation  in  dem  innern  Umkreis  der  tektonischen 
und  der  specifisch  plastischen  Körper,  die  dort  den 
Gesetzen  der  unorganischen,  hier  der  organischen 
Natur  gemäfs  vorgestellt  sein  wollen.  Und  zwar, 
je  mehr  diese  tektonischen  Körper  durch  die  pla- 
stische Ausarbeitung  ihrer  Bauglieder  ,, durchorgani- 
siert" sind,  desto  mannichfaltiger  wird  auch  die 
Verwandtschaft  mit  dem  Standbild  sich,  gestalten. 
Das  heisst,  auch  der  allseitig  gerichtete  Sockel  wird 
sich  dem  Einfluss  des  organischen  Wesens  darauf 
nicht  entziehen.  Er  mag  sich  durch  weichere  Pro- 
file und  Kurven  im  Aufstieg  den  Umriss-  und  Be- 
wegungslinien des  menschlichen  Körpers  beträchtlich 


Sockel  und  Statue 


V>5 


nähern.  Der  Unterschied  des  Vorn  und  Hinten,  der 
in  der  Statue  vorhanden  ist,  mag  sich  gar  auf  den 
Untersatz  ausdehnen.  Und  diese  Bevorzugung  einer 
Vorderseite  wird  um  so  leichter  und  berechtigter 
sich  einstellen ,  wenn  die  Form  des  Platzes  schon 
eine  Hauptaxe  vorwalten  lässt,  d.  h.  sich  dem  Ob- 
longum  nähert  und  durch  die  Richtung  des  Ver- 
kehrs mehr  als  Fortsetzung  einer,  sich  zeitweilig  nur 
verbreiternden ,  Strasse ,  denn  als  Sammelplatz  zu 
längerem  Aufenthalt  erscheint.  Verlangt  aber  dieser 
Verkehr  auch  die  Rücksicht  auf  die  entgegengesetzte 
Richtung,  also  auf  die  zuströmenden  Menschen,  die 
das  Mal  zuerst  von  der  Rückseite  des  Standbildes 
gewahren ,  so  wird  unter  der  Vorherrschaft  plasti- 
scher Auffassung  bei  den  sonstigen  Verhältnissen 
auch  das  Bedürfnis  gespürt  werden,  an  dieser  ruhige- 
ren Rückseite  der  Figur  lebendigen  Ersatz  zu  schaf- 
fen ,  und  je  weniger  sie  selber  einen  Zuwachs  an 
Bewegung  vertragen  mag,  getrost  am  Sockel  die 
Ergänzung  zu  bieten,  —  lassen  wir  vorerst  dahin 
gestellt,  ob  dies  in  starkem  Relief  oder  in  voller 
Rundplastik  geschehen  könne. x) 

Damit  aber  berühren  wir  schon  einen  andern 
Anspruch  des  vorübergehenden  Betrachters,  der 
wieder  durch  eine  andre  Grundform  des  Platzes 
vollends  hervorgetrieben  wird.    Wenn  die  Hauptaxe 

i)  Damit  man  aber  dies  Offenhalten  der  Möglichkeiten  nicht 
als  Verteidigung  aller  modernen  Lösungen  auslege,  muss  ich  schon 
hier  erklären,  dass  ich  mit  Hildebrands  Verurteilung  des  Grabmals 
von  Canova  (S.  95  f.)  ganz  übereinstimme  ,  eben  weil  die  Idee  nur 
als  Relief  künstlerisch  befriedigend  ausgestattet  werden  konnte. 


96 


Isolierte  Rundplastik 


des  Verkehrs  nicht  mit  der  Hauptaxe  des  Platzes 
zusammen  fällt,  oder  wenn  die  Hauptader  in  der 
Mitte  der  einen  Langseite  des  Oblongum  mündet, 
während  die  gegenüberliegende  Parallelseite  ge- 
schlossen, keinen  nennenswerten  Durchgang  ge- 
stattet, dann  überwiegt  die  Breitenausdehnung,  und 
die  Aufforderung,  auch  während  die  Menge  sich 
nach  beiden  Seiten  verteilt  schon,  zu  ruhigerem  Ver- 
weilen wird  fühlbar.  Das  Monument,  das  in  der 
Mitte  eines  solchen  Breitenplatzes  steht,  mit  dem 
Hintergrund  von  Baulichkeiten  in  mäfsigem  Abstand, 
oder  deren  zwei  inmitten  der  seitlichen  Abschnitte 
links  und  rechts  von  der  Richtungsaxe  des  Zugangs, 
sie  alle  unterliegen  nun  auch  andern  Bedingungen. 
Dem  Betrachter  wird  ein  fester  Standpunkt,  mehr 
oder  minder  zwingend  schon  durch  die  Verhältnisse 
des  Platzes,  dem  Monument  gegenüber  angewiesen. 
Sein  verweilendes  Schauen  umfasst  Körper  und 
Raum  zugleich;  Bildwerk  und  Hintergrund  gehen  zu 
einem  Gesichtseindruck  zusammen,  wie  ein  Bild. 

Nun  erst  sind  wir  auf  dem  Standpunkt  an- 
gelangt, den  Hildebrand  seiner  Betrachtung  zu 
Grunde  legt.  Dies  aber  ist  weder  der  architekto- 
nische noch  der  specifisch  plastische  Standpunkt,  son- 
dern seinem  Wesen  nach,  so  lang  er  fest  bleibt,  sicher 
der  Standpunkt  der  malerischen  Auffassung1). 
Jetzt  stellen  wir  den  umgebenden  Ausschnitt  des 
Platzes ,  den  der  Hintergrund  abschliesst ,  eben  nur 


i)  Vgl.  hierzu  Heft  II  dieser  Beiträge  p.  15  ff.  und  Beispiele 
in  Rom,  S.  234.  240  ff. 


Malerischer  Standpunkt 


97 


als  ,, gesehen"  vor  und  verlangen  seine  künstlerische 
Behandlung  mitsamt  dem  darinstehenden  Monument 
,,von  diesem  Gesichtspunkt  aus",  d.h.  als  Bild.  Aber 
es  ist  doch  nicht  zu  läugnen,  dass  diese  gemeinsame 
Behandlung,  die  über  Beides  hingeht,  schon  die 
Existenz  des  Platzes  als  Raumgebilde,  d.  h.  als  archi- 
tektonische Schöpfung,  und  die  Existenz  des  Stand- 
bildes als  Körper,  d.  h.  als  plastische  Schöpfung, 
voraussetzt  und  nur  darauf  ausgehen  kann ,  beide 
Faktoren  unter  sich  auseinanderzusetzen  resp.  mit- 
einander auszugleichen,  beide  nach  den  Forderungen 
einer  dritten  Instanz,  des  ,, ruhig  schauenden  Auges", 
im  Sinne  der  Bildwirkung  zu  modificieren,  gleich 
gut,  ob  dies  bei  der  Entstehung  schon  oder  erst 
nachträglich  —  wenigstens  für  den  Platz  gewöhnlich 
erst  dann  —  geschehen  könne. 

Damit  erst  wäre  ,,der  Bann  der  isolierten  Rund- 
plastik" aufgehoben,  den  Hildebrand  als  einen  un- 
glaublichen Zustand  der  modernen  Denkmalstiftung 
geisseif,  weil  ,,ihr  jeder  Anschluss  an  Architektur, 
an  irgend  eine  Situation  verboten  sei,  wie  in  Einzel- 
haft,  —  die  reine  Sträflingsarbeit!"  —  ,,Das,  was 
aber  der  Kunst  immer  neues  Leben  zuführt  und  sie 
immer  freudig  macht,  ist  die  neue  Situation." 
Die  gegebene  Situation  der  Wirklichkeit ,  sei 
diese  durch  die  Natur  entstanden  und  den  Zufall, 
oder  durch  menschliche  Ordnung  also  durch  die 
Schwesterkunst  Architektur  geschaffen,  —  ,,zu  einer 
künstlerischen  Gestalt  weiter  zu  formen,  führt  immer 
zu  Neuem  innerhalb  der  künstlerischen  Gesetze." 

Nach  unsrer  obigen  Betrachtung  muss  es  jedoch 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  y 


98 


Isolierte  Rundplastik 


klar  sein,  dass  dieser  Ausgleichungsprocess  zwischen 
einer  vorhandenen  Situation  und  einem  neu  hinzu- 
kommenden Bestandteil,  zwischen  Architektur  und 
Standbild,  oder  die  Weiterformung  beider  zu  einer 
künstlerischen  Erscheinung,  wie  Hildebrand  sie  im 
Auge  hat,  nicht  mehr  vom  architektonischen  Stand- 
punkt aus  das  Ganze  des  Platzes  umfasst ,  sondern 
nur  eine  Teilbehandlung  ist,  die  sich  allein  auf  den 
Hintergrund  des  Monumentes ,  oder  auf  den  Aus- 
schnitt in  seiner  Nachbarschaft  mit  erstreckt,  soweit 
es  gewissermafsen  eingerahmt  wird.  Diese  Weiter- 
formung zu  künstlerischer  Gestalt  geschähe  dann  vom 
plastischen  oder  vom  malerischen  Standpunkt  aus, 
die  wir  unterscheiden,  während  Hildebrand  nur  einen 
und  den  selben,  der  bildenden  Kunst,  der  Malerei 
und  Plastik  gemeinsamen  erkennt. 

Der  Unterschied  liegt  unsres  Erachtens  eben 
darin,  ob  die  Körpervorstellung,  von  der  die  Plastik 
ausgeht ,  das  Übergewicht  behält ,  oder  ob  dem  ge- 
meinsamen, die  Körper  in  sich  aufnehmenden  Räume 
die  Macht  einer  sie  alle  beeinflussenden  Sphäre  zu- 
gestanden wird ,  also  die  Bildvorstellung  die  Ober- 
hand bekommt.  Wie  wir  am  Schluss  des  vorigen 
Kapitels  ausgeführt ,  zieht  die  statuarische 
Kunst  den  umgebenden  Raum  nicht  mit 
in  ihre  Behandlung  hinein,  macht  ihn  nicht 
ausser  und  neben  ihrer  plastischen  Gestalt  zum 
Gegenstand  der  Darstellung.  Es  kann  sich,  wo  dies 
verlangt  wird,  also  nur  um  einen  Ubergang  in  andere 
Bedingungen  handeln.  Es  ist  ein  weiteres  Problem 
der  Form. 


Das  gemeinsame  Problem 


99 


Nachdem  wir  so  die  verschiedenen  Möglich- 
keiten, dem  Platz  mit  seinem  Monument  künstlerisch 
beizukommen,  mit  Hülfe  strenger  Unterscheidung 
dreier  dabei  entscheidender  Standpunkte  nachge- 
wiesen, und  uns  bemüht  haben,  die  architektonische, 
die  plastische  und  die  malerische  Auffassung  streng 
auseinander  zu  halten,  drängt  sich  die  Frage  nach 
befriedigendem  Ausgleich  zwischen  diesen  geson- 
derten Ansprüchen  auf.  Wie  ist  überhaupt  eine 
einheitliche  Lösung  des  Problems  für  alle  denkbar? 

Stellen  wir  uns  neben  das  Monument,  so  er- 
fassen wir  den  Platz  ringsum  als  Raumgebilde ,  als 
architektonische  Schöpfung.  Das  Kunstwerk  in  seiner 
Mitte  wirkt  neben  uns  nur  als  Mal,  als  tektonischer 
Körper,  wie  die  Säule  des  Tempels,  wenn  ich  neben 
ihr  auf  dem  Stylobat  des  Peristyls,  im  Intervall  der 
Reihe  stehend,  hinausschaue  ins  Land.  Ein  Körper 
rechts,  ein  Körper  links  neben  mir  kommt  zum  Ge- 
fühl ;  aber  seine  Ausgestaltung  kommt  nicht  voll  in  Be- 
tracht, ob  stereometrisch  regelmässig,  ob  organischer 
nach  unserm  Ebenbild.  Drehe  ich  doch  dem  Monu- 
ment bei  der  Umschau  über  den  Platz  ebenso  un- 
bedenklich den  Rücken,  so  dass  es  nur  als  Rück- 
halt, als  fester  Ausgangspunkt  der  räumlichen  Orien- 
tierung noch  hinter  mir  gefühlt  werden  mag.  Seine 
Form  ist  gleichgiltig :  ein  Prellstein  wirkt  ebenso 
wie  ein  Obelisk,  und  ein  Standbild  nicht  mehr,  so- 
bald sich  mein  Blick  von  ihm  abgezogen  und  gegen 
die  Weite  hinaus  gerichtet  hat.  Je  mehr  ich  aber 
auf  einem  dieser  Standpunkte  des  innersten  Um- 
kreises verweile ,  und ,  statt  ringsum  zu  blicken ,  im 

7* 


100 


Isolierte  Rundplastik 


Ausschauen  der  einen,  vor  mir  liegenden  Seite  des 
Platzes  ausruhe,  desto  mehr  beginnt  die  [begränzende 
Häuserreihe  drüben,  oder  welche  Körpermassen  sonst 
dort  gegenüberstehen,  sich  als  Flächenbild  geltend  zu 
machen,  desto  fühlbarer  wird  der  Übergang  vom 
architektonischen  zum  malerischen  Schauen. 

Wende  ich  mich  dagegen  um,  auf  das  Monu- 
ment zu,  so  fällt  mir  der  plastische  Körper  zuerst 
ins  Auge,  und  das  plastische  Sehen,  das  Abtasten 
der  Form  mit  den  Blicken  tritt  in  sein  Recht.  Vom 
Sockel  steigen  wir  auf  die  Höhe  des  Standbildes, 
und  im  Streben,  die  Bildung  des  organischen  Ge- 
schöpfes vollends  durchzufühlen,  erweitern  wir  den 
Abstand  vom  Male,  bis  wir  es  ganz  überschauen. 
Der  Umkreis  dieses  Abstandes  wird  uns  ,wol  durch 
eine  horizontale  Abstufung  ringsum  schon  vor- 
gezeichnet, durch  Einfriedigung  des  unbetretbaren 
innersten  Bezirks  noch  zwingender  anheimgegeben. 
So  nehmen  wir  von  diesen  Gränzen  her  die  vor- 
gesehenen Ansichten  der  Statue  nach  einander  auf. 
Aber  diese  Entfernung  ist  immer  noch  relativ  ge- 
ring. Es  ist  kein  Fernbild ,  das  sich  darbietet ,  wie 
das  der  Malerei.  Es  fehlt  vor  allen  Dingen  die  feste 
Umrahmung  an  den  Seiten  der  Figur,  und  vollends 
oben  darüber.  Es  ist  also  keine  Bildansicht,  die  in 
diesen  Gränzen  ihrer  Ausdehnung  auch  die  Bildeinheit 
als  Forderung  erhübe,  wie  beim  Werk  des  Malers. 

Wird  aber  die  Entfernung  noch  grösser,  kommen 
wir  also  von  der  äussersten  Umgränzung  des  Platzes 
her,  durch  eine  der  einmündenden  Strassen  etwa, 
zum  ersten  Anblick  des  Standbildes,  so  macht  sich 


Das  gemeinsame  Problem 


101 


der  Platz  als  Raumgebilde  jedenfalls  neben  dem 
monumentalen  Körper  geltend,  -  -  je  weiter  er  sich 
ausdehnt,  desto  überlegener  gar  als  umfassende 
Grösse.  Dann  ordnet  sich  das  Standbild  wieder 
ein  in  die  Umgebung,  wird  ein  Teil  der  Gesamtheit, 
die  wir  als  Bild  sich  vor  uns  ausbreiten  sehen. 
Dann  aber  kommt  seine  Wirkung  als  plastische 
Schöpfung  zu  kurz.  Es  gewinnt  sie  erst  wieder, 
Schritt  für  Schritt ,  indem  wir  uns  nähern ,  bis  zu 
dem  Umkreis  des  geheiligten  Bezirkes,  der  auf  dem 
gemeinsamen  Boden  schon  dem  durchlaufenden  Ver- 
kehr entzogen  ward ,  oder  von  unserm  Auge  leicht 
als  die  Schwelle  des  plastischen  Genusses  gefunden 
wird.  Der  Abstand  ist  nah  genug  auch  für  tastendes 
Sehen,  aber  schon  entfernt  genug,  um  die  wirkliche 
Auseinandersetzung  mit  unsern  Tastorganen  oder 
gar  Druck  und  Stoss  unsers  Leibes  nicht  mehr  heraus- 
zufordern. Die  ästhetische  Aufnahme  des  Kunstwerks, 
das  die  Plastik  geschaffen,  vollzieht  sich  mit  Hülfe 
unsrer  Augen  allein;  aber  die  ästhetische  Aufnahme  des 
Kunstwerks,  das  die  Architektur  geschaffen,  braucht 
als  Hülfe  jedenfalls  die  Ortsbewegung  unseres  Leibes. 
Und  das  Monument,  das  durch  die  Aufstellung  auf 
dem  Platz  zu  einem  Bestandteil  dieses  Raumgebildes 
geworden ,  appelliert  als  Körper  in  der  architekto- 
nischen Schöpfung  jedenfalls,  wie  der  Sockel  unter 
der  Statue  selbst,  an  die  nämliche  Hülfe  vom  leben- 
digen Subjekt,  und  damit  zugleich  an  die  Erfah- 
rungen des  eigenen  Leibes ,  an  die  Grundlagen 
unserer  räumlich  körperlichen  Orientierung  innerhalb 
der  Tastregion,  die  uns  umgiebt. 


102 


Isolierte  Rundplastik 


An  der  Gränze,  wo  wir  uns  über  diese  hinaus- 
heben, liegt  das  gemeinsame  künstlerische  Problem, 
um  das  es  sich  handelt.  Aber  wir  dürfen  nie  ver- 
gessen, dass  wir  zu  diesem  Aufschwung  des  reinen 
Schauens  eben  der  festeren  Unterlage  bedürfen,  die 
dabei  gleichsam  als  Sprungbrett  dient ,  also  sicher 
vorhanden  sein  muss. 

Das  Gemeinsame  für  alle  möglichen  Standpunkte 
der  künstlerischen  Verarbeitung  ist  nicht,  wie  Hilde- 
brand meint,  die  Bildvorstellung,  sondern  allein  der 
Vollzug  der  Tiefenbewegung,  die  auch  ohne  ein- 
rahmende Begränzung,  wie  das  Bild  sie  fordert,  im 
freien  Raum  des  Platzes,  in  der  ganzen  Weite  unse- 
res natürlichen  Sehraumes  sich  ausdehnen  kann.  Im 
Vollzug  der  Tiefenbewegung  vollzieht  sich  die  ästhe- 
tische Aufnahme  des  Raumes  und  der  Körper  über- 
haupt, durch  sie  erst  wird  das  Werk  des  Künstlers 
zum  Erlebnis  des  Betrachters.  So  weit  hat  Hilde- 
brand das  Richtige  sicher  gefühlt ,  wenn  er  sie  als 
Vehikel  der  Einheit  erkennt;  aber  seine  Verwechs- 
lung des  plastischen  Problems  mit  dem  malerischen 
des  Fernbildes  brauchen  wir  deshalb  noch  nicht  mit- 
zumachen. 

Das  Geheimnis  liegt  in  der  Entstehung  der 
dritten  Dimension  für  den  Menschen  selber  be- 
schlossen. Ortsbewegung  und  Tasterfahrung,  die 
Auseinandersetzung  mit  den  Dingen  um  uns  her  im 
nächsten  Umkreis  unserer  Tastregion,  sind  die 
Grundlage ,  auf  der  auch  der  Anspruch  des  Auges 
auf  eine  weitere  Konsequenz  der  Raumtiefe  über 
die  Gränze  dieser  Region  hinaus  erwächst.    Bei  der 


Entstehung  der  Tiefenschau 


103 


Ortsbewegimg  auf  unsern  Füssen  nehmen  wir  ja  das 
Raumvolumen  unseres  Körpers  mit  von  Ort  zu  Ort, 
wie  die  Schnecke  ihr  Gehäuse.  Deshalb  geben  wir 
auch  unserm  körperlichen  Ebenbild,  der  Statue,  ihr 
zugehöriges  Raumvolumen  mit  als  ihren  ästhetischen 
Raum  und  anerkennen  dies  unsichtbare  Gehäuse  als 
Gränze  des  isolierten  Gebilds.  Durch  kontinuier- 
liche Wiederholung  unseres  Raumvolumens  entsteht 
ja  Schritt  für  Schritt  auch  das  Raumgebilde ,  das 
der  Mensch  als  sein  Gehäuse,  seinen  Spielraum  um 
sich  herstellt :  die  architektonische  Schöpfung.  Ihre 
natürlichste  Mafseinheit  ist  das  eigne  Raumvolumen 
des  Menschenleibes  selber.  Bei  unsrer  Ortsbewegung 
auf  dem  gemeinsamen  Boden  hin  nehmen  wir  aber 
noch  ein  weiteres  Raumvolumen  mit,  unsere  Tast- 
sphäre ,  die  sich  ringsum  ausdehnt ,  soweit  unsere 
Arme  reichen.  Auf  diesen  Umkreis  beschränkt  sich 
die  nächste  grundlegende  Auseinandersetzung  mit 
den  Dingen  der  Aussenwelt,  in  ihm  erwachsen  die 
Grundbegriffe  unsrer  räumlichen  Orientierung,  also 
auch  die  Elemente  der  dreidimensionalen  Auffassung. 
Hier  objektivieren  sich  die  beiden  ersten  Dimen- 
sionen ;  die  Höhe  als  Merkmal  jedes  Objekts  neben 
uns ,  ausser  uns ;  die  zweite  Dimension  als  Weite 
über  unsern  eignen  Leib  hinaus,  also  auch  sie  neben 
uns,  dann  ausser  uns.  Der  Gegenstand,  der  ausser 
der  unentbehrlichsten  Eigenschaft  der  Höhe  auch 
noch  Breite  hat ,  drängt  uns  diese  Ausdehnung,  so 
lange  wir  nicht  sehen,  nur  auf,  wenn  wir  mit  unsern 
tastenden  Händen  daran  nach  beiden  Seiten  hinaus- 
fahren ,  oder  aber ,  indem  wir  mit  unserm  ganzen 


104 


Isolierte  Rundplastik 


Körper  also  in  Ortsbewegung  daran  entlang  gleiten. 
So  wird  aus  der  Breite  schon  im  Vollzug  nach  einer 
Richtung  die  Länge,  d.  h.  indem  wir  die  gewohnte 
Vorwärtsbewegung  darauf  anwenden.  Und  diese 
Vorwärtsbewegung  ergiebt  eigentlich  die  dritte  Di- 
mension, die  vor  uns  liegende  Tiefe.  Weil  wir  ge- 
wohnt sind,  vorwärts  zu  gehen ,  vorwärts  zu  tasten 
nach  etwa  entgegenstehenden  Hindernissen  auf  dem 
Wege,  die  wir  als  Gegenstände  anerkennen  müssen, 
eben  w7eil  sie  uns  Widerstand  leisten,  ebendeshalb 
postuliert  auch  das  Auge ,  sowie  es  über  den  Wir- 
kungskreis der  Tastorgane  hinaus  als  weiteres  Hülfs- 
mittel  der  Orientierung  hinzukommt,  die  weitere  Er- 
streckung  in  der  nämlichen  Richtung,  vor  uns  hin. 
Die  dritte  Dimension  geht  also  immer  vom  Subjekt 
aus  und  bleibt  als  Bewegung  nach  vorwärts  auch 
im  Schauen  fühlbar;  deshalb  erleben  wir  in  ihr  erst 
die  bis  dahin  zweidimensionale  Auseinandersetzung 
der  Gegenstände  vor  uns  in  vollem  räumlichen  Sinne. 
Deshalb  übersetzen  wir  Alles,  was  wir  ermessen 
wollen,  in  die  Richtung  vor  uns  her,  selbst  die  Aus- 
dehnung in  der  Breite ,  die  quer  vor  uns  zu  liegen 
scheint,  indem  wir  sie  von  einem  Ende  bis  zum 
andern  mit  unserm  Blick  verfolgen,  sie  absehen,  in- 
dem wir  uns  punktuell  an  den  Anfang  versetzen  und 
den  Weg  des  Punktes  in  der  Linie  durchmachen 
wie  eigene  Ortsbewegung  unsres  Leibes  nach  vorn 
zu,  auf  das  Ziel  hin. 

Deshalb  müssen  wir  auch  jedes  räumlich-körper- 
liche Kunstwerk,  also  den  Platz  als  Raumgebilde 
der  Baukunst,  wie  das  Standbild  darauf  als  Körper- 


Dynamik  der  ästhetischen  Aufnahme 


105 


gebilde  der  Plastik,  im  Vollzug  der  Tiefenbewegung 
erst  an  uns  erleben ,  um  es  geniessen  zu  können. 
So  erklärt  sich  psychologisch  als  natürlicher  Akt, 
was  der  Künstler  fordert :  wir  sollten  alle  Raum- 
und  Körperwerte  von  vorn  nach  hinten  ablesen. 
Die  Tiefenbewegung,  die  von  uns  ausgeht  und  nach 
vorwärts  dringt,  entspricht  also  dem  innewohnenden 
Bedürfnis  des  menschlichen  Subjekts ,  ist  ein  An- 
spruch der  ästhetischen  Aufnahme  als  solcher.  Aber 
diese  Tiefenbewegung,  wenn  sie  im  reinen  Schauen 
schon  zum  Erlebnis  werden  soll,  setzt,  ebenso  im 
Objekte  selbst  einen  bestimmten  Grad  des  Wider- 
standes, d.  h.  die  konstitutiven  Eigenschaften  kubi- 
bischer  Körperlichkeit  ausser  uns  voraus;  denn  sonst 
könnte  die  psychische  Dynamik  des  Erlebens  und 
Geniessens  nicht  entstehen.  Die  Gegenstände ,  an 
denen  unser  Blick ,  die  Tiefe  postulierend ,  entlang 
gleitet,  müssen  sich  fühlbar  an  ihrem  Ort  im  Raum 
behaupten,  und  zwar  nicht  nur  zweidimensional  als 
Silhouetten,  etwa  wie  ausgeschnittene  Pappdeckel 
und  Kulissen  auf  der  Bühne,  nicht  flach  erscheinen, 
obgleich  sie  kubisch  sind,  sondern  eher  umgekehrt, 
womöglich  kubisch  wirken,  selbst  wenn  sie  flach 
sind;  denn  was  bedeutet  der  Ausdruck  ,, entlang 
gleiten",  den  der  Künstler  selber  wählt,  anders,  als 
den  Vollzug  der  Bewegung  an  einer  Gränze  hin, 
die  sich  wie  die  Richtung  des  Vorwärtsdringens 
selber  in  der  dritten  Dimension  erstreckt ,  grade  in 
der  Tiefe  selbst  eine  Reihe  von  Intensitätswerten, 
steigenden  und  wieder  absetzenden  Widerstands  im 
Nacheinander  geltend  macht? 


106 


Isolierte  Rundplastik 


Im  Ausgleich  des  objektiven  Entgegenstehens, 
ja  Entgegendringens  und  des  subjektiven  Vorwärts- 
dringens  zum  fühlbaren  Vollzug  des  Tiefendranges, 
darin  liegt  die  Einheit  der  Lösung  für  das  künst- 
lerische Gesamtproblem,  das  den  ganzen  Raum  des 
Platzes  als  „ideelle  Raumeinheit"  und  die  volle  Kör- 
perlichkeit des  Standbildes  darin  umspannt.  Ob  für 
den  schweifenden  Blick  oder  das  ruhige  Schauen, 
es  ist  ein  rhythmischer  Verlauf  der  Bewegung,  und 
die  Lösung  des  künstlerischen  Problems  ist  Eurhyth- 
mie  der  Raum-  und  Körperwerte  für  das 
menschliche  Subjekt. 


Gehen  wir  zur  Klärung  weiterer  Möglichkeiten 
zunächst  zur  Betrachtung  der  isolierten  Rundplastik 
im  Innenraum  über.  Mannichfaltige  Vermittlungen 
liegen  zwischen  dem  Platz  unter  freiem  Himmel  und 
dem  geschlossenen  Innenraum.  Ein  Binnenhof  nähert 
sich  schon  den  Verhältnissen  eines  grossen  Sales, 
indem  er  noch  immer  Licht  und  Luft  der  Aussenwelt 
teilt;  die  Cella  eines  Hypäthraltempels  drängt  diese 
Bedingungen  schon  sehr  in  die  Enge;  Galerien,  deren 
Arkaden  sich  ins  Freie  öffnen ,  verbinden  die  Be- 
leuchtung unter  freiem  Himmel  mit  den  dämpfenden 
Schatten  ihrer  Wölbung  oder  Decke.  Der  ge- 
schlossene Innenraum  aber  bietet  je  nach  der  An- 
lage die  verschiedensten  Grade  der  Helligkeit  und 
nicht  selten  mehr  als  eine  Richtung  der  Lichtzufuhr, 
die    den    Charakter   bestimmen   und    bei   der  An- 


Im  geschlossenen  Innenraum 


107 


bringung  jeglichen  Bildwerks  in  Betracht  kommen 
müssen. 

Die  Kunst  des  Bildners  übernimmt  wol  auch 
hier  wie  am  Aussenbau  ,,die  Rolle  von  Füllungen 
oder  Krönungen  des  architektonischen  Ganzen  und 
wird  zu  einem  architektonischen  Teil  desselben,"  wie 
Hildebrand  sich  ausdrückt.  Ihre  Beiträge  zum  Ganzen 
gehören  also  in  die  nämliche  Region  wie  die  Bau- 
glieder, die  Säulen  und  Pfeiler,  die  Arkaden  und 
Simse  selbst,  nur  dass  diese  abstrakter  gebildet  sind 
und  in  ihrer  Grundform  die  Darstellung  organischer 
Geschöpfe  als  Ganzes  vermeiden.  Wir  nennen  des- 
halb dies  ganze  Gebiet,  das  den  Gesetzen  der  Archi- 
tektur unterworfen  ist,  tektonische  Plastik, 
oder  gar  Bauskulptur. 

Ausserhalb  dieses  notwendigen  Zusammenhanges 
mit  der  Raumbildung  und  der  plastischen  Organi- 
sation ihrer  Glieder  kann  indessen  der  Innenraum 
noch  zur  Aufstellung  plastischer  Bildwerke  dienen, 
die  als  solche  den  Anspruch  selbständigen  Bestehens 
erheben  und  damit  in  erster  Linie  nicht  vom  archi- 
tektonischen ,  sondern  vom  echt  plastischen  Stand- 
punkt aufgefasst  sein  wollen.  Es  ist  die  ästhetische 
Betrachtung  organischer  Lebewesen,  die  sie  er- 
heischen und  mit  Recht  verlangen  dürfen.  Durch 
ihre  Aufstellung  im  architektonischen  Raumgebilde 
jedoch  geraten  sie  in  ein  Verhältnis  zu  diesem,  dem 
Innenraum,  gleich  dem  Menschen,  der  darin  eingeht 
oder  darin  wohnt.  Mehr  als  das  Ganze  jedoch  ist 
es  die  nächste  Nachbarschaft,  die  an  ihrer  festen 
Stelle  eine  Beziehung  zu  ihnen  gewinnt,  —  sei  es 


108 


Isolierte  Rundplastik 


nur  als  Folie,  von  der  sie  sich  abheben,  oder  als 
Hintergrund ,  der  zu  ihnen  zu  gehören  scheint ,  sei 
es  gar  von  mehreren  Seiten ,  oder  endlich  als  Aus- 
schnitt aus  dem  Ganzen ,  der  sie  wie  ein  Hohlraum 
mit  offener  Vorderseite  oder  gar  als  vollständiges 
Gehäuse  umgiebt.  Da  scheiden  sich  wieder  die 
verschiedenen  Standpunkte.  Der  architektonische 
fasst  sie  nur  als  Körper  im  ganzen  Innenraum  auf 
und  fragt,  wie  weit  sie  den  Gesamteindruck  der 
Raumschöpfung  als  solcher  alterieren,  oder  sich 
künstlerisch ,  d.  h.  architektonisch  mit  diesem  um- 
gebenden Raumgebilde  auseinandersetzen.  Sowie  es 
sich  um  Teilauffassung  gegenüber  dem  Raumganzen 
handelt,  nur  ein  Ausschnitt  des  Innern  mit  in  Rech- 
nung kommt ,  so  treten  die  andern  Standpunkte  in 
ihr  Recht.  Unserer  Überzeugung  nach  ist  eben  der 
specifisch  plastische  der  nähere  Standpunkt,  immer 
geneigt  das  Bildwerk  als  Einzelgebilde  oder  Gruppe 
zu  isolieren ,  der  specifisch  malerische  Standpunkt 
dagegen  der  umfassendere,  auf  den  Raumausschnitt 
zuerst  und  dann  erst  auf  die  Körper  als  Bestandteile 
darin  gerichtete,  d.  h.  entferntere.  Auch  der  Archi- 
tekt selber  vermag  sie  einzunehmen :  als  Tektoniker 
ist  ihm  der  plastische,  als  Raumschöpfer  der  male- 
rische ja  leicht  zugänglich,  zumal  da,  wo  es  sich 
auch  um  farbige  Gesamtwirkung  handelt.1) 

Er  wird  die  Bildsäule,  die  in  seinem  Raum  auf- 
gestellt wird ,  zunächst  nicht  anders  betrachten  als 


I)  Vgl.  hierzu  Max  Klinger,  Malerei  und  Zeichnung.  3.  Auf- 
lage.   S.  18  ff.  und  Heft  I  dieser  Beiträge  S.  85  ff. 


Standort  des  Bildwerks 


109 


die  Säule  oder  ein  anderes  tektonisches  Gebilde, 
nur  dass  sie  nicht  als  dienendes  Glied  sich  der  Ord- 
nung des  Aufbaues  selber  einfügt,  sondern  frei  auf- 
ragend auch  etwas  für  sich  bedeuten  will.  Aber 
die  Wahrzeichen  des  organischen  Geschöpfes ,  der 
Menschengestalt  mit  all  ihrem  Anspruch  an  das 
lebendige  Gefühl,  sind  doch  ein  neuer  Faktor,  der 
diese  Zutat  zu  seinem  Raum  in  die  Kategorie  des 
Bewohners  treten  lässt ,  und  da  begegnet  sich  die 
Auffassung  mit  derjenigen  der  plastischen  Kunst. 
Das  Standbild  des  Menschen,  oder  gar  eines  Gottes, 
misst  den  Raum  nach  dem  Mafsstab  seines  eigenen 
Körpers.  Man  denke  sich  den  olympischen  Zeus, 
wie  er  in  seinem  Tempel  tronte ,  und  daneben  die 
vornehme  Römerin  oder  einen  von  den  Komödien- 
dichtern auf  ihrem  Stul  im  zugehörigen  Sale,  und 
versuche  die  Bildwerke  miteinander  auszutauschen, 
um  auch  des  Unterschieds  inne  zu  werden,  den  ihre 
Wirkung  auf  die  Räumlichkeit  mit  sich  bringt.  Das 
liegt  aber  nicht  allein  an  Kolossalität  und  Normal- 
grösse,  sondern  auch  an  der  dynamischen  Äusserung 
des  Charakters. 

In  dem  Mittelpunkt  oder  überhaupt  in  der  Rich- 
tungsaxe  des  Innenraumes  vertragen  wir  ein  tekto- 
nisches Gebild  mit  seiner  allseitigen  Richtung  oder 
unpersönlichen  Neutralität  auch  eher,  als  eine  Statue 
von  einigermafsen  menschlicher  Proportion.  Und 
zwar  wird  dieses  Gefühl  um  so  stärker  sich  geltend 
machen,  je  mehr  der  Raum  zum  lebendigen  Ver- 
kehr, zum  Wohnen  gar  bestimmt  ist.  Ward  die 
Halle  selbst  für  die  Lebenden  geschaffen,  so  müssen 


110 


Isolierte  Rundplastik 


auch  die  Bildwerke  aus  der  Mittelregion ,  aus  dem 
Bannkreis  der  Lebensaxe  weichen.  Damit  aber 
rücken  sie  naturgemäss  aus  den  Bedingungen  der 
isolierten  Rundplastik  heraus,  die  wir  vorerst  allein 
betrachten,  und  treten  in  die  Wandregion,  die 
ihren  Einfluss,  wenn  auch  nur  als  Folie,  auf  sie 
ausübt. 

Sowie  wir  aber  in  dem  näheren  Umkreis  des 
Bewohners,  den  solch  ein  Innenraum  darbietet,  die 
Bildwerke  unter  das  Menschenmafs  verkleinern,  so 
mindern  sich  auch  alle  Ansprüche  der  Körper  als 
Unsersgleichen,  und  sie  stören  nicht  mehr. 

,,Im  geschlossenen  Raum,  wo  der  Standpunkt 
ein  näherer  ist,  sagt  deshalb  auch  Hildebrand,  wird 
die  Sachlage  eine  andere  (als  unter  freiem  Himmel). 
Hier  kann  die  innere  Form  den  Gegenstand  ver- 
deutlichen" (S.  80).  ,,Bei  geringerer  Distanz  besitzen 
wir  ein  kleineres  Sehfeld,  und  da  es  nach  dem  Rande 
zu  verschwommen  ist,  und  seine  Kraft  im  Centrum 
liegt,  so  darf  das,  was  den  Gegenstand  verdeutlicht, 
nicht  am  Rande,  sondern  muss  nach  der  Mitte  des 
Sehfeldes  zu  liegen.  Das  Mittel  der  klaren  Silhouette 
verlangt  einen  weitern  Standpunkt,  wo  wir  sie  leicht 
überblicken  können.  In  der  Nähe  aber,  wo  die 
Figur  mehr  und  mehr  das  ganze  Sehfeld  einnimmt 
oder  gar  überragt,  dürfen  wir  nicht  der  Auskunft, 
welche  die  Begränzung  uns  giebt ,  benötigen ,  son- 
dern wir  müssen  umgekehrt  sie  entbehren  können. 
Das  hat  dazu  geführt,  in  solchem  Fall  die  Begrän- 
zung möglichst  ruhig  eine  Gesamtmasse  umschliessen 
zu  lassen",  damit  die  Figur  desto  einheitlicher  er- 


Plastisches  Sehen 


111 


scheine.  „Der  näher  angenommene  Standpunkt 
spricht  sich  deshalb  in  der  Gestaltung  der  Figur 
dadurch  aus ,  dass  das  Silhouettbild  zu  einer  ganz 
beruhigten  allgemeinen  Begränzung  wird." 

„Bei  den  Bronzen,  bei  denen  die  Innenformen 
niemals  so  deutlich  reden ,  um  die  Silhouette  ent- 
behren zu  können,  treibt  der  künstlerische  Instinkt 
dazu,  den  Mafsstab  soweit  zu  verkleinern,  dass  die 
Silhouettwirkung  noch  klar  ins  Sehfeld  falle.  Die 
Bronze  als  Silhouettbild  verlangt  für  den  nahen' 
Standpunkt  einen  kleinern  Mafsstab  als  die  Marmor- 
figur  von  geschlossener  Begränzung." 

Aus  allen  diesen  lehrreichen  Beobachtungen 
Hildebrands  selbst  geht  aber  hervor,  dass  der  eigent- 
lich plastische  Standpunkt,  für  den  es  auf  die  volle 
Ausdrucksfähigkeit  der  Körperform  ankommt ,  eben 
im  näheren  Umkreis  gesucht  werden  muss  und  nicht 
jenseits  der  Distanzschicht,  von  der  unser  Auge  nur 
an  sich  flächenhafte  Bilder  empfängt ;  denn  die  Ent- 
fernung ist  es  immer,  im  Freien  wie  im  Innenraum, 
die  Gegenmafsregeln  erheischt. 

Rücken  wir  dagegen  auf  den  entfernteren  Stand- 
punkt, den  Hildebrand  allein  als  den  künstlerischen 
anerkennen  will,  so  erscheint  uns,  solange  wir  im 
Innenraume  selber  bleiben,  immer  nur  ein  Teil  mit 
seinen  plastischen  Bildwerken  darin  als  ein  Raum- 
ganzes für  sich ,  wie  der  Architekt  und  der  Maler 
es  anzuschauen  gewohnt  sind ,  und  von  denen  we- 
nigstens der  Erstere  gefragt  sein  will ,  wie  weit  er 
dem  Bildhauer  gestatten  kann,  die  umgebende  Situa- 
tion seines  Bildwerks  mit  in  seine  künstlerische  Be- 


112 


Isolierte  Rundplastik 


handlung  hineinzuziehen.  Unser  Führer  selbst  zeigt 
uns  freilich  den  Weg,  wie  wir  diesen  Gesichtsein- 
druck des  Raumausschnittes  mit  Bildwerk  wieder  in 
einen  eminent  bildnerischen  verwandeln  können, 
indem  wir  ihn  nicht  als  Raumgebilde,  wie  der  Ar- 
chitekt, nicht  als  Bildraum,  wie  der  Maler,  auslegen, 
sondern  als  Gestaltungsraum,  dessen  Charakter  wir 
oben  darin  gesucht  haben,  dass  er  mit  bildnerischen 
Bewegungsvorstellungen  durchdrungen  und  mit  deren 
Niederschlag,  der  plastischen  Gliederung,  durch- 
setzt sei. 

,, Unter  einem  Raumganzen  verstehen  wir  den 
Raum  als  dreidimensionale  Ausdehnung,"  schreibt 
Hildebrand,  »das  nach  den  drei  Dimensionen  sich 
bewegen  können  oder  bewegen«  unserer  Vorstel- 
lung; sein  Wesentliches  ist  die  Kontinuität. 
Stellen  wir  uns  deshalb  das  Raumganze  vor  wie 
eine  Wassermasse ,  in  die  wir  Gefässe  senken  und 
dadurch  Einzelvolumina  abgränzen  als  die  bestimm- 
ten geformten  Einzelkörper,  ohne  die  Vorstellung 
der  kontinuierlichen  Wassermasse  zu  verlieren." 
Dieses  Raumganze  müssen  wir  uns  also  vorstellen 
„als  einen  Hohlraum,  welcher  zum  Teil  durch  die 
Einzelvolumina  der  Gegenstände,  zum  Teil  durch 
den  Luftkörper  erfüllt  ist.1)  Er  existiert  nicht  als 
ein  von  aussen  begränzter,  sondern  als  ein  von 
innen  belebter."    Wir  könnten  Hildebrands  Absicht 


i)  S.  34  lautet  es  allerdings  „so  müssen  wir  vorerst  dieses 
Naturvolumen  plastisch  vorstellen  als  einen  Hohlraum",  sollte 
jedoch  wol  richtiger  „Stereo  metrisch"  heissen. 


Im  geschlossenen  Innenraum 


113 


vielleicht  noch  damit  zu  Hülfe  kommen,  dass  wir 
uns  den  Innenraum  selbst  zunächst  möglichst  ab- 
strakt, etwa  als  Raumgebilde  von  Glaswänden,  d.  h. 
als  gläsernes  Parallelepipedon,  oder  auch  mit  einer 
vollends  offenen  Seite  nach  vorn ,  wie  in  kleinerm 
Mafsstab  eine  krystallene  Puppenstube  dächten;  denn 
an  einem  Bauwerk  kommt  für  den  Menschen  im 
Innenraum  nicht  sowol  die  äusserliche  Begränzung 
in  Betracht  als  vielmehr  die  Beschaffenheit  der 
innern  Gränzen,  d.  h.  der  Wandflächen,  der  Decke, 
des  Fussbodens  in  ihrer  Undurchsichtigkeit,  Färbung 
und  stofflichen  Wirkung  sonst,  und  grade  diese  Be- 
gränzung nach  aussen  für  das  Auge  gilt  es  aufzu- 
heben für  das  Verfahren,  in  dem  wir  dem  Führer 
folgen. 

,,Wenn  nun  die  Begränzung  oder  Form  des 
Gegenstandes  auf  sein  Volumen  hinweist,  so  ist  es 
möglich,  durch  die  Zusammenstellung  von  Gegen- 
ständen die  Vorstellung  eines  durch  sie  begränzten 
Luftvolumens  zu  erwecken.  Denn  im  Grunde  ist 
die  Begränzung  des  Gegenstandes  auch  eine  Be- 
gränzung des  ihn  umgebenden  Luftkörpers.  Es 
frägt  sich  alsdann,  wie  die  Gegenstände  angeordnet 
werden,  damit  die  Bewegungsvorstellung,1) 
welche  durch  sie  angeregt  wird,   nicht  ver- 


I)  Bewegungsvorstellungen  beruhen  aber,  nach  Hildebrand 
S.  10,  auf  dem  abtastenden  Sehen  vom  nahen  Standpunkt  und  bil- 
den das  Material  des  Form-Sehens  und  Form- Vorstellens ;  sie  sind 
keine  Gesichtsvorstellungen.  Und  die  Intention,  Bewegungsvorstel- 
lungen anzuregen ,  die  hier  vorausgesetzt  wird ,  entspricht  demnach 
sicher  dem  Interesse  des  plastischen  Formgefühls. 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  8 


114 


Isolierte  Rundplastik 


einzelt  bleibt,  sondern  fortgeleitet  wird  und,  sich 
mit  einer  andern  verbindend,  weiter  und  weiter  nach 
allen  Dimensionen  hin  den  allgemeinen  (=  gemein- 
samen) Raum  durchwandert ,  so  dass  wir  an  der 
Hand  solcher  Bewegungsvorstellungen  das  ganze 
Volumen  oder  den  allgemeinen  Raum  durchleben 
und  als  Ganzes  und  Lückenloses  auffassen.  Es 
handelt  sich  also  darum ,  mit  den  Gegenständen 
einen  Gesamtraum  aufzubauen,  sozusagen  ein  Be- 
wegungsgerüst zu  schaffen,  welches,  obschon  durch- 
brochen, uns  dennoch  ein  kontinuierliches  Ge- 
samtvolumen deutlich  macht.  Dadurch  wird  der 
Einzelgegenstand  zu  einem  Bauteile  und  erhält 
seine  Stelle  im  Hohlraum  aus  dem  Gesichtspunkte 
der  allgemeinen  Raumentwicklung  und  seiner  Fähig- 
keit, die  Raumvorstellung  zu  erwecken  und  weiter 
zu  leiten." 

„Soweit  haben  wir  uns  diesen  Gerüstbau  pla- 
stisch klar  gemacht,"  schliesst  Hildebrand  diese  wich- 
tige Darlegung.  Richtiger  dürfte  er  allerdings  vor- 
erst den  Ausdruck  ,,  tektonisch "  statt  plastisch 
brauchen,  da  er  von  Bauteilen  redet,  bei  denen  es 
zunächst  noch  unentschieden  bleibt ,  wie  weit  sie 
sich  den  Formen  der  organischen  Natur  nähern  oder 
wirklich  plastische  Bildwerke  im  engern  Sinne  dar- 
stellen. Das  Wichtigste  an  dem  geschilderten  Ver- 
fahren ist  aber  das  beiden  Kategorieen  Gemeinsame, 
die  Körperlichkeit  dieser  Gegenstände,  und  das  Aus- 
gehen der  ganzen  künstlerischen  Ökonomie  von 
diesen  plastisch-tektonischen  Körpern,  durch  deren 
Anordnungen  im  Verhältnis  zu  einander  die  Vorstel- 


Ein  Innenraum  als  Gestaltungsraum 


115 


lung  des  mit  ihnen  besetzten  Gestaltungsraumes  ge- 
wonnen wird.  Es  ist  dies  der  umgekehrte  Weg, 
den  die  Architektur  als  Raumschöpferin  einschlägt, 
und  wird  zum  Unterschied  von  diesem  Hervorgehen 
des  ganzen  Processes  aus  der  Raumvorstellung  sel- 
ber, am  besten  als  tektonisches  Verfahren,  tekto- 
nischer  Aufbau  bezeichnet.  Es  ist  der  zweite ,  der 
Plastik  zugewandte  Teil  der  Architektur ,  den  man 
mit  der  Definition  der  Baukunst  als  ,,die  Kunst  kör- 
perlicher Massen"  fälschlich  auf  das  Ganze  ausge- 
dehnt hat,  dessen  schöpferischer  Kern  und  psycho- 
logische Begründung  damit  nicht  getroffen  werden. 
Gilt  es  aber  die  Eigenart  dieser  künstlerischen  Auf- 
fassung mit  einem  Worte  zu  bezeichnen,  die  von 
der  Körperlichkeit  der  Dinge  ausgehend,  nach  Ana- 
logie des  eigenen  Körpergefühls  allein  die  räumliche 
Ausdehnung  und  deren  Kontinuität  erfasst ,  so  ist 
Hildebrands  Ausdruck  plastisch"  durchaus  ent- 
sprechend, besonders  wenn  es  sich  um  die  Formen- 
welt unsres  organischen  Leibes,  um  Gestalten  nach 
dem  Ebenbild  des  Menschen  handelt.  Es  ist  die 
specifische  Auffassung  des  plastisch  fühlenden  und 
denkenden  Menschen,  die  Eigenart  der  Körperbild- 
nerin unter  den  Künsten ,  und  das  Verfahren  der 
„Artes  plasticae"  im  engern  Sinn  damit  charakteri- 
siert. Das  Raumganze,  von  dem  hier  die  Rede  ist, 
wird  damit  zum  Gestaltungsraum  des  Bildners.  Fra- 
gen wir  uns  aber,  worauf  dies  eigentlich  beruht,  so 
lautet  die  Antwort :  es  geschah,  indem  wir  den  ent- 
fernten Standpunkt  des  ruhigen  Schauens,  den  wir 
einnahmen,  kraft  unsrer  Vorstellung  mit  dem  nähe- 


116 


Isolierte  Rundplastik 


ren  Standpunkt  des  abtastenden  Sehens  vertausch- 
ten, durch  das  allein  wir  Bewegungsvorstellungen 
gewinnen  und  das  Material  für  unser  Formsehen, 
für  unser  plastisches  Formgefühl  erlangen.  Es 
müsste  also  auch  mit  dieser  Grundlage  zunächst 
auszukommen  sein,  wenn  es  gilt,  das  eigenste  Ver- 
fahren der  Plastik  in  Übereinstimmung  mit  sich 
selbst  zu  finden. 

Grade  hiervon  jedoch  wendet  Hildebrand  sich 
ab.  ,,Da  wir  ihn  (diesen  Gerüstbau  aus  Körpern) 
aber  als  Erscheinung  fürs  Auge  erfassen  sol- 
len, so  handelt  es  sich  dabei  um  eine  Anordnung 
der  Gegenstände,  insofern  diese  als  Erscheinung 
die  Bewegungsvorstellung  fortführen.  So  tritt  das, 
was  beim  Einzelkörper  als  Modellierung  fürs  Auge 
geschieht,  auch  wieder  durch  die  Einzelkörper  fürs 
Ganze  in  Kraft.  Dadurch  wird  das  Ganze  ein 
ebenso  zusammenhängender  modellierter  Raumkör- 
per, wie  der  Einzelkörper  an  sich",  (35)  —  d.  h. 
lediglich  durch  den  Augenschein. 

Soweit  vermöchten  wir  zu  folgen,  wenn  es  nun 
erlaubt  würde ,  auf  den  geschlossenen  Innenraum 
anzuwenden,  was  oben  über  die  Lösung  des  gemein- 
samen Problems  auf  dem  Platz  unter  freiem  Himmel 
gesagt  worden  ist.  In  der  Tiefenbewegung  des 
Blickes  vollzieht  sich  auch  hier  der  rhythmische 
Ausgleich  zwischen  dem  Widerstand  der  Körper 
und  dem  Vorwärtsdringen  des  schauenden  Subjekts 
mit  seiner  Raumvorstellung. 

Indess  dem  Künstler,  der  hier  redet,  ist  mehr  an 
der  Analogie  mit  dem  malerischen  Problem  gelegen : 


Gestaltungsraum  und  Bildraum 


117 


„Bei  der  Darstellung  handelt  es  sich  ja  grade  dar- 
um, durch  die  hervorgebrachte  Erscheinung  und  nur 
durch  sie  diese  Vorstellung  des  Raumes  zu  er- 
wecken. Bei  dem  engen  Rahmen  des  Bildes, 
den  spärlichen  und  stabilen  Mitteln,  die  nur  durchs 
Auge  und  nur  in  beschränkter  Weise  wirken  kön- 
nen, muss  der  Künstler"  —  wir  denken  gewiss  in 
erster  Linie  beim  eingerahmten  Bilde  nur  an  den 
Maler !  —  ,,sich  klar  sein,  was  es  für  Konstellationen 
in  der  Erscheinung  sind,  die  am  unfehlbarsten,  am 
zwingendsten  im  Beschauer  dies  Raumgefühl,  diese 
elementarste  Wirkung  der  Natur  erzeugen." 

Das  ist  freilich  wieder  ein  Appell  an  das  Gefühl 
des  Künstlers  wie  des  Beschauers,  also  bis  in  die 
Regionen  des  Unbewussten  hinab ;  damit  ist  aber 
auch  die  Aufgabe  der  Malerei,  und  zwar  im  Sinne 
des  Realismus,  klar  ausgesprochen,  und  es  handelt 
sich  nicht  mehr  um  den  Gestaltungsraum  des 
Bildhauers ,  geschweige  denn  um  das  Volumen  der 
isolierten  Rundfigur,  sondern  um  den  Bild  räum 
des  Malers,  oder  was  mit  diesem  zu  wetteifern  ver- 
sucht, der  Reliefkunst. 


^KÜ2»  ^5P2»  ^5P1>  ^8M>  ^jJÜ2> 
■^savs»  «*3s»  «säs»  "»«3s»  *s«s»  «*5s» 


IV. 

DIE  PLASTISCHE  GRUPPE 


^ra  wischen  dem  Standpunkt  des  Bildners  und 
dem  des  Malers ,  wie  wir  sie  heute  klar 
auseinander  zu  halten  und  begrifflich  scharf 
zu  definieren  vermögen,  indem  wir  bei  jedem  das 
entwickelte  Stadium  seiner  Kunst  ins  Auge  fassen, 
wo  diese  ihrer  eigenen  Natur  bewusst  geworden  und 
ihre  besondre  Aufgabe  kennt  wie  ihre  besondern 
Mittel  handhabt,  liegt  selbstverständlich  ein  ganz 
allmählicher  Übergang.  Das  ist  beim  naiven  Schaffen 
zumal ,  das  wir  stets  in  erster  Linie  berücksichtigen 
müssen,  nicht  anders  als  notwendig.  Vielleicht  hat 
sich  dieser  Übergang  sogar,  wie  geschichtliche  Tat- 
sachen nahe  legen,  von  beiden  Seiten  her  vollzogen. 
Und  es  kann  sowol  für  den  Ästhetiker,  der  ehrlich 
zu  verstehen  sucht,  wie  für  den  Kunstrichter,  der  zu 
urteilen  drängt,  nur  heilsam  sein,  beide  Möglich- 
keiten des  Weges  an  der  Hand  von  Beispielen  ein- 
mal genauer  zu  verfolgen. 


Wesen  der  Plastik 


119 


Wir  halten  uns  vorerst  an  den  plastischen 
Künstler,  der  von  der  Körpervorstellung  ausgeht. 
Es  fragt  sich,  wie  kann  seine  Auffassung  der  mensch- 
lichen Gestalt  allein  ganz  natürlich,  fast  unmerklich 
in  die  malerische  Anschauungsweise  übergleiten? 

Dem  Schöpfer  des  isolierten  Standbildes ,  wie 
wir  es  soeben  betrachtet  haben ,  liegt  nur  die  Dar- 
stellung der  menschlichen  Körperform  am  Herzen. 
Die  organische  Einheit  dieses  selbständigen,  der 
freien  Bewegung  teilhaftigen  Geschöpfes  wiederzu- 
geben, und  den  Wert  dieses  körperlichen  Daseins 
in  seiner  Unabhängigkeit  festzuhalten ,  ist  sein  Ver- 
langen. Deshalb  streift  er  Alles  ab ,  was  Notdurft 
und  Nahrung  unseres  Leibes  an  Symptomen  weiterer 
Zusammenhänge  mit  der  umgebenden  Natur  und  an 
Kennzeichen  des  inneren  Stoffwechsels ,  der  Ver- 
änderung und  Vergänglichkeit  mit  sich  bringen.  Er 
bevorzugt  das  dauerhafte  Material,  um  desto  sicherer 
die  volle  Schönheit  des  Gewächses ,  sei  es  in  dem 
Reiz  der  knospenden  Jugend ,  sei  es  in  der  Blüte 
der  eben  erreichten  Vollendung,  sei  es  in  der  Voll- 
kraft des  Lebenskampfes,  heraus  zu  retten  aus  dem 
unaufhaltsamen  Wandel  aller  Kreatur  und  aus  dem 
forteilenden  Strom  des  Geschehens  umher.  Deshalb 
versteht  es  sich  für  das  gesunde  und  einfache  Ge- 
fühl ganz  von  selbst,  dass  dies  Einzelwesen  in  glück- 
lichster Befriedigung  dem  Künstler  eine  Welt  für 
sich  allein  bedeutet ,  die  nichts ,  garnichts  mit  einer 
weitern  Umgebung  zu  schaffen  hat,  sondern  völlig 
auf  sich  selber  beruht.  Das  Auge  dieses  plastischen 
Schöpfers  kennt  also  keinen  Raum ,    als    den  der 


120 


Die  plastische  Gruppe 


Träger  des  leiblichen  Daseins ,  die  Menschengestalt 
selber  entfaltet.  Eine  schmale  Basis  bedeutet  den 
allgemeinen  Grund  und  Boden,  ihr  höheres  Niveau 
über  dem  unsrigen  nur  die  Aufhebung  der  ,,dira 
necessitas",  der  wir  alle  unterliegen.  So  wird  sein 
reines  Abbild  unabhängigen  Selbstgefühls ,  im  wol- 
geförmten  Körper  von  unsrer  Art,  zum  erquickenden 
Vorbild  unserer  gleichen  Sehnsucht,  unseres  ver- 
wandten, aber  bedingten  Strebens ,  wird  zum  Ideal 
der  Befangenen ,  Ringenden ,  Gehemmten  im  Men- 
schendasein selber,  ja  zum  Gotte  derer,  die  den 
Wert  gekostet  haben  und  wieder  entweichen  sehen. 

Sowie  dieser  Gott,  zu  dem  die  Gläubigen  im 
Tempel  wallen,  ihren  Gebeten  Gewährung  winkt, 
sowie  nur  eine  leise  Neigung  verrät,  dass  die  olym- 
pische Selbstgenügsamkeit  einer  menschlichen  Rüh- 
rung zugänglich  geworden,  so  tritt  —  wie  beim 
Lebenden  im  Blick  des  Auges  —  schon  die  Be- 
ziehung zu  Tage ,  und  im  Marmorbilde  prägt  ein 
dauerndes  Verhältnis  zu  andern  Wesen,  ja  zu  den 
Ansprüchen  zeitlichen  Geschehens  sich  aus.  Die 
Statue  erscheint  sofort  an  eine  bestimmte  Situation 
gebunden  ,  die  unsre  Phantasie  hinzuergänzen  muss 
um  ihr  wertvolles  Dasein  nachzuerleben,  und  solche 
Association  ist  schon  ein  Übergang  zu  dem  weiteren 
Postulat ,  auch  die  andre  Hälfte  des  Verhältnisses 
mit  dargestellt  zu  sehen. 

Nicht  allein  die  Haltung,  die  ein  Ziel  voraus- 
setzt ,  die  Gebärde ,  die  aus  der  isolierten  Sphäre 
des  Einzelwesens  hinausgreift  in  die  Gemeinschaft 
andrer ,  auch  die  Tätigkeiten ,    die  sich   auf  einen 


Übergang  zum  Malerischen 


121 


andern  Gegenstand  richten,  wie  das  Bearbeiten  des 
Bodens  mit  dem  Spaten,  das  Pflücken  einer  Frucht 
vom  Baum,  das  Haschen  einer  Eidechse  am  Fels, 
bringen  die  Gestalt  in  solche  Verbindung,  die  ihre 
Unabhängigkeit  beeinträchtigen  kann.  Schon  der 
Baumstamm  oder  Felsblock,  der  neben  der  Figur 
aus  der  Basis  aufragt,  um  vielleicht  nur  Halt  zu  ge- 
währen, erweitert  durch  seine  Gegenwart  den  sonst 
un bezeichneten  Raum  der  Statue  und  lockt  die 
Anschauung  über  diese  selbst  hinaus  in  die  um- 
gebende Welt,  die  sich  die  Vorstellung  bereitwillig 
„ausmalt". 

Selbst  im  Gewände  giebt  es  einen  durch- 
greifenden Unterschied.  Die  rein  plastisch  gedachte 
Bekleidung  unterstützt  die  Unabhängigkeit  der  Figur; 
sie  wird  so  lange  wie  möglich  der  Einheit  des 
organischen  Geschöpfes  sich  unterordnen,  dieser  für 
sich  allein  zu  zeugen  gestatten,  indem  sie  vom 
Boden  zurückweicht ,  wo  es  gilt  auf  eignen  Füssen 
zu  stehen.  Wo  das  Gewand ,  auch  das  leichteste 
Manteltuch  nachschleppt  über  die  Basis  hin,  da  lässt 
es  nicht  nur  eine  voraufgegangene  Bewegung  nach- 
wirken, also  ein  zeitliches  Moment  hineinspielen,  das 
wir  hinzudichten,  sondern  auch  den  Zusammenhang 
mit  dem  Erdboden  hervortreten,  an  dem  so  ein  Teil 
der  Erscheinung  haften  bleibt.  Ein  nachflatternder 
Zipfel  oben,  oder  gar  eine  schwebende  Blähung  des 
Schleiers  stellen,  als  Wirkungen  der  Luftbewegung 
oder  des  entgegenkommenden  Windes,  die  Gestalt 
vollends  in  die  Bedingungen  der  umgebenden  Welt 
hinein,  die  leicht  ihre  weiteren  Konsequenzen,  erst 


122 


Die  plastische  Gruppe 


in  der  Phantasie,  dann  in  der  Darstellung  selber, 
nach  sich  zieht.  Das  heisst :  nur  das  zusammen- 
gehaltene,  dem  Gesetz  des  selber  sich  bewegenden 
Leibes  allein  folgende  und  seiner  Form  sich  an- 
schliessende Gewand  ist  rein  plastisch ,  das  weiter 
wallende,  sich  selbst  oder  andern  Einflüssen  als  dem 
des  Trägers  anheimgegeben ,  wird  unfehlbar  erst 
zum  unorganischen  Stoff  und  dann  zur  malerischen 
Draperie. 

So  liegt  in  der  Statue  als  Ebenbild  des  Menschen 
selber  nach  allen  Seiten  hin  der  Antrieb ,  in  Be- 
ziehungen zur  umgebenden  Natur  oder  zur  mensch- 
lichen Gesellschaft  überzutreten,  deren  Zuwachs  die 
Mittel  der  Plastik  bald  zu  Nebenzwecken  in  An- 
spruch nimmt,  deren  Erfüllung  wieder  den  Sinn 
ihrer  ursprünglichen  Aufgabe  gefährdet.  Am  zahl- 
reichsten sind  diese  Verlockungen  auf  dem  Gebiet 
der  Motive,  wo  die  Schwesterkunst  Mimik  mit  ihrem 
Drang  nach  ausdrucksvoller  Bewegung  und  nach 
dem  ganzen  Beziehungsreichtum  des  processierenden 
Lebens  sich  so  nah  mit  der  Plastik  berührt  und  die 
beharrliche  vollends  ausgestaltende  Körperbildnerin 
zum  Wettstreit  herausfordert.  Da  stellt  sich  denn 
das  Übergreifen  aus  einem  Moment  in  einen  vorauf- 
gehenden oder  nachfolgenden  ein,  oder  die  „Prägnanz 
des  dargestellten  Augenblicks",  die  zeitlicher  Vor- 
stellungen zur  Mitwirkung  bedarf  und  die  Wieder- 
gabe des  Wandels  selbst  in  das  Problem  des  Bildners 
aufnimmt.    Davon  ist  oft  genug  gehandelt  worden. 

Die  Gewohnheit  plastischen  Denkens  und  Schaf- 
fens, von  der  Körpervorstellung  auszugehen  und  in 


Entstehung  der  Gruppe  123 

vollrunder  Körperform  allein  sich  auszudrücken,  mag 
sich  lange  noch  bei  solchen  Anwandlungen  be- 
haupten. Aber  grade  sie  drängt  über  die  poetische 
Ergänzung  durch  die  Phantasie  hinaus  zur  leib- 
haftigen Darstellung  auch  des  fehlenden  Faktors  der 
Handlung  oder  zur  Vervollständigung  der  Situation 
durch  einen  zweiten  oder  gar  einen  dritten  Körper. 
So  entsteht  die  Gruppe,  die  notwendig  einen 
weitern  Schritt  über  den  ureignen  Boden  der 
plastischen  Schöpfung  hinaus  bedeutet,  so  sehr  sie 
dem  Bildner  als  Steigerung  seines  eigenen  Erfolgs 
erscheinen  mag.  In  wessen  Bereich  der  Übergriff, 
der  dazu  helfen  muss,  vollzogen  werde,  ist  eine 
andre  Frage. 

Wir  sprechen  ja  von  Gruppe  im  ästhetischen 
Sinne  nicht  allein  bei  der  Plastik,  sondern  ebenso 
in  der  Architektur  und  in  der  Malerei.  Die  land- 
läufige Definition  freilich  geht  vom  Standpunkt  der 
Poesie  oder  der  Mimik  aus ,  wie  so  manche  Be- 
stimmung sich  von  dort  auf  die  Ästhetik  der  bilden- 
den Künste  übertragen  hat,  die  sich  ihrerseits  nur  lang- 
sam auf  sich  selber  besinnt.  Die  gewohnte  Definition 
versteht  unter  Gruppe  eine  Mehrzahl  von  Einzel- 
wesen ,  die  zu  einander  in  Beziehung  stehen.  Sie 
geht  also  von  der  Tätigkeit  dieser  Lebewesen  aus, 
die  auf  einander  gerichtet  ist,  d.  h.  von  den  Kate- 
gorieen  zeitlicher  Anschauungsform,  die  vom  mimi- 
schen Ausdruck  flüchtigster  Relationen  bis  zum 
poetischen  Kausalnexus  einer  Fabel  aufsteigen. 

Dagegen  erhebt  mit  Recht  auch  Hildebrand 
Einspruch,  wenn  er  ('S.  98)  erklärt:  ,,Eine  Gruppe 


124 


Die  plastische  Gruppe 


im  künstlerischen  Sinne  beruht  nicht  auf  einem  Zu- 
sammenhang, der  durch  den  Vorgang  entsteht, 
sondern  muss  ein  Erscheinungszusammen- 
hang sein,  welcher  sich  als  ideelle  Raumeinheit 
gegenüber  dem  realen  Luftraum  behauptet."  Damit 
ist  sicher  das  Hauptinteressse  der  bildenden  Kunst 
gewahrt ,  dass  es  sich  auf  ihrem  Gebiet  stets  zuerst 
um  die  räumliche  Anschauungsform  handelt.  Nach 
dieser  müssen  sich  ihre  Definitionen  bestimmen, 
nicht  nach  dem  sekundären  Moment  transitorischen 
Scheines. 

Unter  seinem  Ausdruck  „ideelle  Raumeinheit" 
versteht  aber  Hildebrand  selbst  nicht  die  allein  in 
der  Vorstellung  vorhandene  Synthesis ,  die  wir  für 
das  Gesamtgebiet  der  bildenden  Künste  als  sehr 
erwünschte  Formel  annehmen  könnten,  sondern  wie 
wir  wissen,  ,,das  einheitliche  Flächenbild  vom  ent- 
fernteren Standpunkt,  wie  es  das  ruhig  schauende 
Auge  ohne  Bewegung  aufnimmt."  Jedenfalls  wider- 
strebt ihm  die  kubische  Auffassung  des  Architekten, 
der  eine  ,, ideelle  Raumeinheit"  aus  dreidimensio- 
nalen Körpern  aufbaut,  bei  der  den  Anforderungen 
unseres  Führers  an  den  „Erscheinungszusammen- 
hang" noch  keine  Rechnung  getragen  wäre.  Zwischen 
der  Auffassung  des  Malers  und  des  Architekten  in 
der  Mitte  läge  jedoch  die  des  Bildhauers  zunächst, 
nach  der  Auslegung  seines  Schaffens  als  Körper- 
bildner, die  wir  bisher  versucht  haben.  Und  wenn 
jeder  dieser  bildenden  Künste  ein  andersartiges  Ge- 
staltungsprincip  innewohnt,  so  muss  das  Wesen  der 


Definition 


125 


Gruppe"  auch  in  jeder  von  ihnen  eine  Modifikation 
erfahren. 

Wir  verstehen  unter  Gruppe  einen  Komplex 
von  Körpern,  wenn  es  erlaubt  ist,  dies  Fremdwort 
zunächst  in  voller  Dehnbarkeit  des  Begriffes  zu  ge- 
brauchen. Je  nach  dem  Standpunkt  aber,  von  dem 
wir  diesen  Komplex  auffassen,  ändert  sich  die  Be- 
deutung des  Wortes. 

Am  freiesten  wechselt  dieser  Standpunkt  in  der 
Architektur,  da  bei  ihren  Schöpfungen  die  Beiträge 
der  Ortsbewegung  und  des  Getasts  ebenso  mit- 
sprechen wie  die  des  Gesichts ,  die  ihrerseits  ent- 
weder mit  jenen  verbunden  sind  oder  darüber  hinaus- 
gehen. So  können  die  Baukörper,  die  eine  ,,  archi- 
tektonische Gruppe"  bilden,  ziemlich  weit  von- 
einander abstehen,  wie  etwa  die  Umgebung  des 
Platzes,  von  dem  wir  im  vorigen  Kapitel  gesprochen, 
oder  die  Türme,  die  Bastionen  einer  Festung,  wenn 
nur  die  Vorstellung  des  menschlichen  Subjekts  sie 
vom  Mittelpunkt  aus  oder  aus  der  Vogelperspektive 
als  zusammengehörige  Teile  eines  Ganzen  erfasst. 
Es  ist  eine  ,, ideelle  Raumeinheit",  aber  eben  nur  mi- 
die Vorstellung,  in  der  sich  die  Synthesis  vollzieht, 
nicht  für  das  Auge  allein;  denn  die  Vogelperspek- 
tive bleibt  ja  für  gewöhnlich  ausgeschlossen  und  erst 
der  Aufstieg  auf  eine  hohe  Warte,  von  der  die  Um- 
schau möglich  ist,  vermag  sie  zu  ersetzen.  Viel- 
leicht wäre  es  richtiger  eine  solche  Konstellation  von 
Baukörpern,  deren  Gesetz  nicht  von  einem  der  ge- 
wöhnlichen Standpunkte  des  Beschauers  aus  deut- 
lich erschaut  werden  kann,  vielmehr  als  ,,  Syst  e  m  " 


126 


Die  plastische  Gruppe 


zu  bezeichnen.  Sowie  sie  jedoch  soweit  zusammen- 
rückt, dass  sie  dem  Beschauer  auf  der  Erdoberfläche 
schon  übersichtlich  erscheint,  stellt  der  Ausdruck 
Gruppe  sich  unbedenklich  ein,  wie  bei  einer  Veste, 
einem  Fort,  einem  Schloss  von  gleicher  Anlage. 
Die  Gesetze  architektonischer  Gestaltung  mögen  im 
ersten  Falle  ebenso  walten ,  wie  im  letztern ,  d.  h. 
Proportionalität  in  der  Höhen- ,  Symmetrie  in  der 
Breiten-  und  Rhythmus  in  der  Tiefen-Dimension. 

Betrachten  wir  darnach  etwa  die  Chorpartie 
einer  spätromanischen  Kirche  von  reichster  Ent- 
wicklung, z.  B.  in  den  Rheinlanden,  so  haben  wir 
die  festere  Zusammenfassung  im  Sinne  des  Kom- 
plexes noch  mit  der  systematischen  Aufstellung  im 
Lufträume  zusammen  vor  uns.  Legen  wir  durch  die 
Drei-Konchenanlage  mit  ihren  Turmtrabanten  am 
Chorhaupt,  ihrem  Vierungsturm  dazwischen,  eine 
Horizontalebene  in  der  Höhe,  wo  jeder  dieser  Bau- 
teile als  selbständiger  Körper  heraustritt ,  so  haben 
wir  ein  gesetzmäfsig  gegliedertes  System  im  obigen 
Sinne,  eine  Gruppe,  aber  ohne  körperlichen  Zusam- 
menhang, —  jedoch  für  jede  natürlich  sich  bietende 
Ansicht  einen  ,, Erscheinungszusammenhang"  für  das 
Auge. *)  Erst  wenn  wir  den  untern  Teil  dieser 
Chorpartie  mit  überschauen,  wo  die  genannten  Einzel- 
glieder eng  mit  einander  verbunden  sind ,  kommt 
auch  der  körperliche  Zusammenhang  hinzu  und  be- 
rechtigt uns  von  einer  „tektonischen  Gruppe" 
im  strengeren  Sinne  zu  reden.    Ja,  wenn  wir  die 


i)  Man  vergleiche  hiermit  z.  B.  das  Lutherdenkmal  in  Worms. 


Modalitäten  des  Zusammenhangs 


127 


Entwicklung  der  selbständigen  Bauteile  nach  oben 
aus  dem  gemeinsamen  Baukörper  unten  nach  Ana- 
logie des  organischen  Wachstums  auffassen,  als  seien 
sie  wie  aus  einem  Stamm  oder  Grundstock  er- 
wachsen", sosteilt  auch  die  Benennung  „plastische 
Gruppe"  sich  ein,  obwol  die  Analogie  mit  dem 
organischen  Gebilde  nicht  genauer  zutrifft. 

Nehmen  wir,  wie  es  bei  weiterem  Abstand  von 
dieser  Chorpartie  sich  darbietet,  jenseits  der  Vierungs- 
kuppel noch  das  Paar  von  hohen  Westtürmen  hinzu, 
so  kommt  in  den  Charakter  dieser  Gruppe  von  Bau- 
körpern wieder  ein  neues  Moment,  oder  wird  wenig- 
stens fühlbarer  als  bisher :  die  perspektivische  Ver- 
kürzung der  weiter  zurückliegenden  Teile.  Und 
diese  Verschiebung  des  Augenscheins  gegenüber  der 
architektonischen  Vorstellung  macht  sich  bemerklich 
eben  darin,  dass  wir  uns  beim  Gesichtseindruck 
allein  nicht  mehr  sofort  klare  Rechenschaft  geben 
können  über  den  systematischen  und  körperlichen 
Zusammenhang  der  letzten  Glieder,  die  nur  in  Ver- 
kürzung noch  zum  Vorschein  kommen.  Die  Gesetze 
der  Proportionalität,  der  Symmetrie,  ganz  besonders 
aber  die  des  Rhythmus ,  d.  h.  der  räumlichkörper- 
lichen Entfaltung  in  der  dritten  Dimension',  liegen 
nicht  so  offen  vor  uns ,  wie  bei  den  Turmspitzen 
um  die  Vierung  am  Chore.  So  können  wir  bei 
diesem  letzten  Turmpaar  im  Verhältnis  zum  Ganzen 
nur  von  einem  „Erscheinungszusammenhang"  reden, 
d.  h.  die  Gruppe  bekommt  einen  „malerischen" 
Sinn,  weil  die  Einheit  in  der  Bildvorstellung  gesucht 
werden  muss,  nachdem  sowol  die  Körpervorstellung 


128 


Die  plastische  Gruppe 


als  die  Raumvorstellung ,  die  wir  zur  Rechenschaft 
aufgefordert,  versagt  haben.  Wir  vermögen  uns  aus 
dem  Bilde  allein ,  ohne  weitere  Hülfsmittel ,  keine 
klare  Auskunft  mehr  über  die  Gesamtausdehnung 
des  Kirchenkörpers  zu  verschaffen ;  besonders  die 
Grösse  des  Langhauses  zwischen  Vierung  und  West- 
türmen fehlt. 

Verlassen  wir  deshalb  unsern  bisherigen  Stand- 
punkt in  der  Mittelaxe  vor  der  Chorpartie,  und 
suchen  das  Bauwerk  von  seiner  Langseite  zu  über- 
schauen, so  giebt  der  Augenschein  abermals  keine 
vollständige  Vorstellung,  so  lange  wir  nach  dem 
architektonischen  Zusammenhang  und  der 
gesetzmäfsigen  Anlage  des  Ganzen  fragen.  Die  auf- 
steigenden Spitzen  oder  selbständig  heraustretenden 
Baukörper  sind  unter  sich  von  verschiedener  Höhe, 
und  das  westliche  Paar  ist  von  dem  östlichen  Kom- 
plex soweit  entfernt,  dass  ihre  steilere  Vertikale 
erstrecht  den  Anforderungen  der  Symmetrie  und 
Proportionalität  zu  widersprechen  scheint,  also  wie 
ein  irrationaler  Faktor  beurteilt  wird ,  —  weil  wil- 
den Sinn  für  das  Ganze  nicht  absehen  können.  Das 
Breitbild  der  romanischen  Basilika  bietet  also  eine 
Gruppe  dar,  die  ebenfalls  nur  als  „malerisch" 
genossen  werden  kann ,  weil  sie  weder  architek- 
tonisch noch  plastisch  befriedigt.  Erst  wenn  wir  sie 
als  ,, ideelle  Raumeinheit"  mit  Hülfe  der  Vorstellung, 
d.  h.  den  Anblick  nach  der  andern  Seite  zum 
System  ergänzen,  eröffnet  sich  der  Weg  zum  ästhe- 
tischen Wolgefallen  auch  unter  diesen  Gesichts- 
punkten der  Raumbildung  und  der  Körperbildung. 


Malerische  und  architektonische  Auffassung 


129 


Und  verzichten  wir  darauf,  um  dem  malerischen 
Genuss  allein  zu  folgen,  so  bedarf  der  lineare  Ge- 
samtumriss  von  der  Langseite  und  die  Modellierung 
der  Glieder  dieses  Baukörpers  wiederum  einer  Er- 
gänzung, die  erst  die  Bildeinheit  herstellt :  wir  fühlen 
uns  instinktiv  gedrängt,  den  umgebenden  Raum,  den 
Erdboden  darunter,  wie  die  Luftregion  darüber,  in 
grösserem  Umfang  mit  aufzufassen  ,  begrüssen  wol 
andere  Körper,  wie  Häuser  und  Bäume  in  der  Nach- 
barschaft, ja  die  landschaftliche  Ferne  dahinter  als 
Woltat,  weil  sie  dazu  helfen,  den  „Erscheinungs- 
zusammenhang" zwischen  dem  Kirchenkörper 
und  seiner  gegebenen  Örtlichkeit  zu  vermitteln. 

Der  architektonischen  Schöpfung  als  Ganzem 
werden  wir  aber  so  nicht  besser  gerecht ,  und  sie 
bleibt  doch  die  Hauptsache  dieses  Kunstwerks.  In 
Wirklichkeit  muss  das  menschliche  Subjekt  sich,  als 
Körper  auf  eigenen  Füssen,  schon  in  das  Innere  des 
Raumgebildes  begeben,  um  hier  in  mannichfaltigem 
Wechsel  des  Standpunktes  die  Idee  des  Ganzen  zu  er- 
fassen, die  wieder  als  Vorstellung  auf  einer  Synthesis 
von  Wahrnehmungen  beruht,  und  zwar  weder  Gesichts- 
vorstellung noch  Bewegungsvorstellung  allein  genannt 
werden  kann.  Hier  im  Innern  liegt  der  entscheidende 
und  zugleich  der  ursprünglichste  Standpunkt,  eben 
im  Mittelpunkt  des  dreidimensionalen  Komplexes 
selber.  Und  nehmen  wir  ihn  ein ,  indem  wir  uns 
selber  mit  der  Dominante  dieses  Koordinatensystems 
identificieren ,  so  entfaltet  sich  auch  ringsum  die 
Raumgruppe,  d.  h.  der  Komplex  von  Raum- 
körpern,     -  Hohlräumen,  die  wir  als  Krystalle 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  q 


130 


Die  plastische  Gruppe 


fassen  können ,  die  wir  vom  grössten  in  der  Mitte, 
in  dem  wir  uns  befinden,  durchschauen.  Hier  aber 
wird  sich  der  Ausdruck  ,, plastische  Gruppe"  gewiss 
nicht  einstellen,  wie  bei  der  Aussenansicht  der  näm- 
lichen Chorpartie,  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  die 
Raumvorstellung  mit  ihrer  Weite  die  Körpervorstel- 
lung überwiegt,  weil  nicht  die  äussere,  sondern  die 
innere  Form  uns  erscheint,  und  weil  unser  Körper- 
gefühl der  kompakten  Rundung,  der  gewachsenen 
Gliederung,  der  näheren  Analogie  mit  den  Erfah- 
rungen der  Tastregion  entbehrt.  Viel  eher  wird  der 
Augenschein  mit  der  Abstufung  des  Helldunkels  in 
diesen  Räumen  dazu  veranlassen,  auch  den  Genuss 
malerischer  Gruppierung  und  perspektivischer 
Durchblicke  zu  suchen.  Das  Unsystematische ,  also 
auch  das  Disproportionierte ,  das  Unsymmetrische 
sind  grade  das  Malerische;  es  fragt  sich,  wie  weit 
auch  schlechthin  das  Arhythmische? 

Im  Werk  des  Malers  verstehen  wir  unter  Gruppe 
immer  einen  Komplex  von  Figuren  oder  andern 
Gegenständen,  die  für  den  Augenschein  eine  Einheit 
bilden.  Aber  diese  Einheit  ist  wieder  keine  abso- 
lute, sondern  nur  eine  relative ;  denn  die  Gruppe  ist 
nur  ein  Teil  des  Ganzen ,  das  sie  und  alle  andern 
desselben  Bildes  umfasst.  Auch  sie  enthält  also 
einen  sozusagen  irrationalen  Faktor,  der  nicht  völlig 
in  ihrer  Rechnung  aufgeht,  sondern  darüber  hinaus- 
weist und  so  weiterleitet  zur  Nachbarin  oder  zum 
korrespondierenden  Gliede  gegenüber.  Aus  dem- 
selben Grunde  können  wir  von  einer  solchen  Gruppe 
im  Gemälde  nicht  sagen,  sie  sei  ein  Komplex  von 


Gruppe  in  der  Malerei 


131 


Figuren,  die  unter  sich  in  Beziehung  stehen  oder 
deren  Tätigkeit  auf  einander  gerichtet  sein  müsse. 
Sie  können  ebenso  gemeinsam  nach  aussen  auf  das 
gleiche  Ziel  gerichtet  sein.  Ja,  es  braucht  überhaupt 
kein  geistiger  Zusammenhang,  keine  mimische  Rela- 
tion, keine  poetische  Kausalität  zwischen  ihnen  zu 
walten,  ebensowenig  wie  dies  bei  einer  „malerischen 
Baumgruppe"  der  Fall  ist.  Die  Bildeinheit  ist  für 
das  Gemälde  die  höchste  Instanz  und  auf  den  ,, Er- 
scheinungszusammenhang" eines  Teiles  dieser  Ein- 
heit bezieht  sich  der  Ausdruck  Gruppe  allein,  so- 
lange wir  den  Augenschein  ausschliesslich  für  sich 
selber  betrachten. 

Die  Plastik  dagegen,  —  das  kann  nach  diesen 
Erörterungen  nicht  mehr  zweifelhaft  sein  —  erkennt, 
solange  sie  auf  ihrem  eignen  Grund  und  Boden 
waltet,  als  höchste  Instanz  die  Einheit  des  mensch- 
lichen Organismus,  soweit  sich  diese  in  der  äussern 
Körperform  ausprägt ,  der  sichtbaren  und  tastbaren 
Gestalt,  bis  an  die  Gränze  der  Ortsbewegung  aussen 
und  die  Gränze  des  Stoffwechsels  innen.  Für  ihren 
Anschauungskreis  ist  also  die  Definition  Hildebrands, 
die  Gruppe  sei  ein  „Erscheinungszusammenhang", 
zu  weit.  Sie  müsste  als  Lösung  dieses  Problems 
zunächst  die  Herstellung  eines  organischen  Zusam- 
menhangs fordern.  Eine  „organische  Einheit"  zwi- 
schen zwei  oder  mehreren  Geschöpfen  giebt  es  je- 
doch nur  bei  der  Mutter  mit  dem  ungeborenen  Kind 
in  ihrem  Schofs.  Wollten  wir  auf  die  Tierwelt 
übergreifen ,  kämen  wir  bis  zum  Känguruh ,  das 
seine  lebendigen  Jungen  wieder  in  der  Tasche  mit 

9* 


132 


Die  plastische  Gruppe 


sich  herumträgt.  Dies  musste  aber  ausgesprochen 
werden,  da  die  Mythe  von  der  Geburt  des  Bacchus 
uns  gar  in  die  Pflanzenwelt  führt,  und  als  plastischer 
Vorwurf  für  solche  Einheit  gedient  hat.  Es  galt  zu 
zeigen,  dass  unter  ungesuchten  Verhältnissen  die 
höchste  Forderung  der  specifisch  plastischen  Kunst 
von  der  Gruppe  schon  nicht  mehr  erfüllt  werden 
kann.  Auf  die  Darstellung  der  organischen  Einheit 
muss  verzichtet  werden,  wenn  die  Skulptur  den  Fort- 
schritt zu  einer  Mehrheit  von  Einzelwesen  erreichen 
will.  Sie  kann  also  nur  andre  Auffassungs weisen 
substituieren,  die  von  der  ihrigen  mehr  oder  minder 
abweichen.  Eben  deshalb  bezeichnet  die  Gruppe 
für  die  Plastik  bereits  einen  Abweg  nach  der  einen 
oder  nach  der  andern  Seite. 

Sucht  sie  an  dem  Umkreis  der  Bedingungen 
organischer  Geschöpfe  festzuhalten,  so  vermag  sie  als 
ihre  Aufgabe  nur  die  Herstellung  eines  möglichst 
nahen  Zusammenhangs  zwischen  den  organischen 
Körpern  zu  erstreben,  der  durch  die  natürliche  Be- 
weglichkeit des  menschlichen  Leibes  und  seiner 
Gliedmafsen  entstehen  und  aufrecht  erhalten  werden 
kann.  Uniäugbar  geraten  also  die  organischen  Ge- 
schöpfe, die  so  miteinander  verbunden  werden,  ent- 
weder einzeln  oder  insgesamt  in  Abhängigkeit  von 
einander.  Das  höchste  Anrecht  des  Individuums 
muss  preisgegeben  oder  geschmälert  werden,  — 
wieder  eine  Einbusse  des  echt  plastischen  Empfin- 
dens ,  ein  Opfer  des  Selbstgefühls ,  das  die  Seele 
ihres  Schaffens  ausmacht !  Nur  grosse  Vorzüge 
andrer  Art  vermögen  sie  aufzuwiegen.    Die  innigste 


Die  Einheit  der  Gruppe 


133 


Verschlingung  aller  Körper,  wo  alle  als  Teile  eines 
Ganzen  von  einander  abhängig  und  in  ihrer  Haltung 
gegenseitig  bedingt  erscheinen,  wäre  die  letzte  Kon- 
sequenz ;  aber  sie  enthält  auch  die  grösste  Gefahr, 
dass  die  Körpervorstellung,  die  klare  Rechenschaft 
über  die  ganze  Gestalt  des  Einzelwesens,  die  der 
Plastiker  verfolgen  muss ,  bei  diesem  körperlichen 
Zusammenhang  nicht  mehr  zu  ihrem  Rechte  komme. 
Die  Ringergruppe  in  Florenz  wäre  darnach  eine  der 
vollkommensten  Lösungen  dieses  plastischen  Pro- 
blems. Die  Verschlingung  der  Körper  hat  auch 
Lionardo  von  der  Gruppenbildung  gefordert.  Aber 
es  ist  bezeichnend,  dass  die  zahlreichen  Darstellun- 
gen der  Madonna,  der  heiligen  Familie  oder  S.  Anna 
selbdritt ,  die  wir  ihm  selbst  oder  seinem  Einfluss 
auf  die  italienische  Kunst  am  Anfang  der  Hoch- 
renaissance verdanken,  doch  fast  ausnahmslos  ge- 
malt sind ,  nur  selten  einmal  in  Rundplastik  auf- 
treten, -  -  Beweis  genug  für  die  Schwierigkeit.  Im 
Gemälde  allerdings  wirkt  solche  Gruppe  in  eminent 
plastischem  Sinne. *) 

Das  Princip  der  möglichsten  Annäherung  an  die 
organische  Einheit  verbindet  sich  in  diesen  Leistun- 
gen der  Hochrenaissance,  zu  denen  ja  auch  Rafaels 


i)  Ebendeshalb  ist  es  aber  ein  Irrtum  ,  wenn  man  sich  Lio- 
nardos  Karton  zur  Reiterschlacht ,  also  ein  Breitbild  vom  Umfang 
der  „badenden  Soldaten"  von  Michelangelo,  allein  mit  dem  Knäuel 
von  Reitern  und  Fussgängern  im  Kampf  um  eine  Fahne  ausgefüllt 
denkt.  Was  die  Überlieferung  bewahrt  hat,  ist  nur  die  Mittelgruppe, 
der  es  an  seitlichen  Vermittlungen  sicher  nicht  gebrach.  Vgl.  Heft  I, 
S.  57,  wo  allerdings  „Austrag"  statt  „Ausdruck"  gelesen  werden  muss. 


134 


Die  plastische  Gruppe 


und  Fra  Bartolommeos  Madonnen  gehören,  mit 
einem  zweiten :  der  Einordnung  der  Gruppe  in  die 
Form  des  regelmässigen  stereometrischen  Körpers 
oder  mindestens  der  Umschreibung  durch  eine  geo- 
metrische Figur.  Damit  rühren  wir  an  die  zweite 
Möglichkeit  der  Auffassung ,  die  sich  auch  bei  pla- 
stischer Gruppenbildung  darbietet.  Es  ist  der  Auf- 
bau nach  Art  tek tonischer  Körper.  Die 
Plastik  sucht  ihr  Wesen  als  Körperbildnerin  auch 
bei  der  Behandlung  einer  Mehrzahl  wenigstens  da- 
durch zu  befriedigen,  dass  sie  diese  Einzelkörper 
unter  das  gemeinsame  Gesetz  eines  Koordinaten- 
systems bringt  und  einen  sie  alle  zusammenfassenden 
dreidimensionalen  Komplex  aus  ihnen  herstellt.  Es 
ist  also  die  Einheit  der  Körperbildung,  die  sie  zu 
erreichen  sucht,  und  zwar  nach  Analogie  der  Ge- 
setze ,  die  in  der  unorganischen  Natur  besonders 
klar  hervortreten.  Aber,  da  sie  Ebenbilder  orga- 
nischer Geschöpfe,  Menschengestalten,  zusammen- 
ordnet, die  diese  stereometrische  Form  eines  regel- 
mäfsigen  Körpers  nicht  massiv  ganz  ausfüllen,  son- 
dern nur  innerlich  gliedern  und  durchsetzen,  so 
bleibt  die  Körpereinheit,  die  erreicht  wird,  doch 
eine  ideelle,  nur  in  der  Vorstellung  hervorgebrachte. 
Betrachten  wir  das  Volumen,  das  die  zur  Gruppe 
vereinigten  Körper  einnehmen,  als  den  ästheti- 
schen Raum  dieser  Gruppe,  der  zunächst 
nichts  anderes  ist  als  ihr  Gestaltungsraum,  so  könn- 
ten wir  auch  hier  Hildebrands  Ausdruck,  freilich 
nicht  seinen  Sinn ,  verwertend  von  der  ,, ideellen 
Raumeinheit"  sprechen. 


Monumentale  Körpereinheit 


135 


Der  tektonische  Charakter  des  Aufbaues 
solcher  Gruppen  bewährt  sich  auch  darin,  dass  ein 
tektonischer  Körper  nicht  selten  als  Äquivalent  des 
organischen  Menschenleibes  verwertet  wird,  wie  z.  B. 
der  Baumstumpf  neben  S i  1  e n  mit  dem  Bacchus- 
knaben auf  den  Armen  (Louvre  und  sonst).  Mit 
diesem  Abweg  vom  rein  plastischen  Wesen  ver- 
bindet sich  aber  ein  grosser  Vorzug  in  dieser  tek- 
tonischen  Körperbildung  :  es  ist  die  Verwertung  der 
Gestaltungsprincipe,  der  Proportionalität,  der  Sym- 
metrie und  des  Rhythmus  im  Aufbau,  die  dem  Gan- 
zen wieder  die  bleibende  Existenzberechtigung,  den 
Wert  selbständiger  Beharrung  sichern,  der  den  ge- 
setzmäfsigen  Gebilden  der  Tektonik  eigen  ist,  wie 
den  regelmäfsigen  Gebilden  der  Krystallisation. 

Gelingt  es  diese  Eigenschaften  des  tektonischen 
Aufbaues  auf  die  echt  plastische ,  nur  aus  Ebenbil- 
dern des  Menschen  bestehende  Gruppe  zu  über- 
tragen, so  erreicht  diese  die  höchste  Vollendung  des 
monumentalen  Stils.  Nach  allen  drei  Dimensionen 
ist  dies  bei  der  berühmten  Gruppe  des  Menelaos 
mit  der  Leiche  des  Patroklos  der  Fall.  Das 
erhobene  Haupt  des  behelmten  Helden  wirkt  nicht 
allein  als  Gipfel  des  pyramidalen  Gesamtkörpers, 
sondern  auch  als  Dominante  der  symmetrischen  Ab- 
wägung der  Massen  zu  beiden  Seiten  der  Mittelaxe. 
Das  Eigentümliche  ist  aber  die  starke  Entfaltung 
der  dritten  Dimension,  besonders  durch  die  nach- 
schleppenden Beine  des  nackten  Leichnams,  die 
zwischen  den  ausschreitenden  Beinen  des  Trägers 
hindurch  gehen.    Die  Tiefe  wird  jedoch  ausschliess- 


136 


Die  plastische  Gruppe 


lieh  durch  die  plastischen  Körper  selbst  erreicht, 
wie  es  grade  dieser  Gegenstand  gestattete. 

Sowie  dagegen  diese  Tiefe  nicht  dem  plastisch 
erfüllten  Gestaltungsraum  selber  angehört,  sondern 
leer  bleibt  und  nur  als  Schattentiefe  für  den  Augen- 
schein erzeugt  wird,  da  geht  die  Gruppenbildung 
selbst  auch  unfehlbar  in  die  Rechnung  des  male- 
rischen Bildraums  über.  Wir  unterscheiden  deshalb 
von  der  rein  plastischen,  mit  den  Mitteln  or- 
ganischer Körperbildung  auskommenden  Gruppe, 
wie  auf  der  einen  Seite  Abweichungen  nach  dem 
Gebiet  der  Architektur,  die  wir  unter  dem  Namen 
tektonische  Gruppe  zusammenfassen  wollen,  nun 
auf  der  andern  Seite  Abweichungen  nach  dem  Ge- 
biet der  Malerei,  die  wir  als  speeifisch  malerische 
Gruppe  bezeichnen  dürfen. 

Das  Wesentliche  aller  Abweichungen  nach  dieser 
Seite  liegt  eben  darin ,  dass  der  Bildhauer  auf  die 
eigenste  Auffassung  der  Plastik  als  Körperbildnerin 
verzichtet  und,  statt  der  Gesetze  organischer  oder 
wenigstens  tektonischer  Körper,  die  Gesetze  des 
Augenscheines  zum  leitenden  Princip  erhebt.  Er- 
geht von  der  Raumvorstellung  als  solcher  aus  und 
erstrebt  für  sein  Figurengebilde  die  Bildeinheit. 
Das  Ergebnis  ist  ein  ,, Erscheinungszusammenhang", 
also  für  das  schauende  Auge,  wenn  wir  Hildebrands 
Sinn  aeeeptieren,  und  damit  für  einen  festen  Stand- 
punkt in  gewisser  Entfernung.  Wir  mögen  auch 
von  ihr  sagen,  sie  „behaupte  sich  als  ideelle  Raum- 
einheit gegenüber  dem  realen  Luftraum",  dürfen 
dann  aber  nicht  vergessen,  dass  dies  nur  unter  ganz 


Tektonische  und  malerische  Gruppe 


137 


bestimmten  tatsächlichen  Bedingungen  geschieht, 
nämlich  in  fühlbarer  Umrahmung.  Die  malerisch 
gedachte  Gruppe  verträgt  die  Aufstellung  im  freien 
Luftraum  nicht ,  sondern  will  mit  dem  Hintergrund 
und  seinen  Schatten  in  Beziehung  treten  und  min- 
destens zu  beiden  Seiten  von  der  realen  Räumlich- 
keit, die  nicht  mehr  zu  ihrer  Situation  gehört,  deut- 
lich geschieden  sein.  Hinter  der  Distanzschicht,  die 
diese  Rahmung  einschliesst ,  beginnt  ihr  Bildraum. 
Damit  werden  alle  übrigen  Ansichten  bis  auf  die 
eine  Vorderansicht  ausgeschlossen ;  die  Behandlung 
dieser  Vorderansicht  selbst  aber  soll  ganz  den  An- 
forderungen der  Bildanschauung  entsprechen.  Das 
ist  wenigstens  das  Streben  des  malerisch  denkenden 
Künstlers ,  der  auf  Bildeinheit  ausgeht.  Hier  aber 
steht  ihm  ja  die  wechselnde  Beleuchtung  des  Tages 
entgegen,  die  er  hinnehmen  muss,  die  er  durch  die 
Aufstellung  wol  einzuschränken  und  zu  dämpfen  ver- 
mag, niemals  jedoch  selber  allein  herstellt  wie  der 
Maler  auf  seiner  Fläche. 

Das  heisst,  auch  hier  bleibt  das  Ganze  nur  ein 
Kompromiss ,  bleibt  hinter  dem  einheitlichen  Ziel 
zurück.  Es  sind  freilich  sogleich  die  letzten  Kon- 
sequenzen, die  wir  mit  diesen  Aufstellungen  gezogen 
haben ,  und  es  versteht  sich  von  selbst ,  dass  zahl- 
reiche und  allmähliche  Übergänge  bis  dahin  vor- 
handen sind. 

Das  allbekannte  Beispiel  für  den  Ubergang  zu 
malerischer  Auffassung  der  plastischen  Gruppe  ist  der 
Laokoon  mit  seinen  Söhnen  unter  der  Schlangen- 
umstrickung,    nur   darf  an  dieser  Stelle  nicht  un- 


138 


Die  plastische  Gruppe 


betont  bleiben ,  dass  die  malerische  Auffassung  hier 
nicht  allein  in  dem  Erscheinungszusammenhang, 
sondern  auch  in  der  dargestellten  Handlung  nach- 
weisbar ist,  und  zwar  in  der  Aufnahme  zeitlicher 
Momente ,  ja  in  der  Erweckung  des  dringendsten 
Anspruchs  an  den  poetischen  Kausalnexus ,  der 
unsere  Phantasie  in  die  Sphäre  tragischer  Dichtung 
versetzt.  Noch  ist  allerdings  der  Zusammenhang 
durch  organische  Körper  hervorgebracht ;  indess  die 
Windungen  der  Schlangenleiber  haben  für  unser 
Körpergefühl  etwas  so  Fremdes ,  Unberechenbares, 
dass  sie  unheimlich  wie  elementare  Naturkräfte 
hereinbrechen.  Die  drei  menschlichen  Wesen  er- 
liegen dieser  furchtbaren  Überrumpelung  trotz  aller 
vcrzweifelten  Gegenwehr,  in  der  sich  die  Haupt- 
person —  die  Dominante  des  symmetrischen  Systems 
—  soeben  zu  erschöpfen  droht.  Der  Zusammen- 
hang aber,  der  so  zur  vollen  Abhängigkeit  von  der 
Umgebung  geworden  ist,  und  im  letzten  Aufbäumen 
der  eigenen  Kraft  den  tragischen  Widerspruch  auf 
den  eigensten  Darstellungsgegenstand  der  Plastik 
überträgt,  wird  durch  diese  tierischen  Leiber  nicht 
vollständig  versinnlicht.  Uber  das  Grässliche  eines 
blos  zufälligen  Unglücks  hinaus  verlangt  unsere  Vor- 
stellung nach  einer  weitern  Motivierung,  um  in  der 
tragischen  Auffassung  eine  Lösung  des  ethischen 
Konflikts  zu  suchen,  der  beim  Anblick  der  brutalen 
Gewalt  als  Siegerin  über  drei  unschuldige  Opfer  sich 
in  jeder  Menschenbrust  bis  zum  Abscheu  steigert. 
Der  poetische  Kausalnexus  allein,  der  hinter  dem 
Geschauten  liegt,  vermag  die  Wirkung  als  Kunst- 


Laokoon 


139 


werk  zu  retten ,  also  ein  Zusammenhang ,  der  nicht 
einmal  Vorgangseinheit  ist,  sondern  an  eine  weitere 
unsichtbare  Ferne  appelliert,  und  so  erst  aus  dem 
Unglück  der  Menschen  eine  Strafe  der  Götter 
macht.  —  Daran  musste  erinnert  werden ,  um  auch 
von  unserm  Standpunkt  in  der  Reihe  der  hier  an- 
gestellten Beobachtungen  das  Richtige  zu  treffen. 
So  erst  gewinnt  auch  der  Raum,  der  plastisch  nicht 
durchgeformte  darüber  und  dahinter ,  die  Schatten- 
tiefe der  Nische,  für  die  das  Werk  gearbeitet  ist, 
eine  Übermacht  über  den  Vollzug  des  Geschehens, 
nach  dessen  Anfang  und  Ende  zu  fragen,  wir  durch 
die  Prägnanz  des  dargestellten  Momentes  selber  ge- 
drängt werden.  Die  Aufgabe ,  die  sich  der  Bildner 
gestellt  hat,  ist,  wenn  sie  einmal  für  die  räumliche 
Anschauung  gestaltet  werden  sollte,  ihrem  innersten 
Wesen  nach  malerisch ;  ja  sie  gehört  darüber  hinaus 
der  Historienmalerei  an ,  die  schon  mit  poetischen 
Beziehungen  und  zeitlichen  Vorstellungen  durchsetzt 
ist.  Aber  auch  die  Behandlung  der  Körper  selbst 
strebt  nach  malerischen  Wirkungen  und  rechnet  mit 
malerischen  Bedingungen,  kraft  deren  wir  berechtigt 
sind,  die  ursprüngliche  Aufstellung  des  Bildwerks  in 
einer  schattenden  Nische  zu  behaupten  und  im 
Interesse  seiner  künstlerischen  Wirkung  zurück- 
zuverlangen. Dann  erst  wird  sich  die  Gruppe  in 
dem  Medium  des  Helldunkels  als  Bild  entfalten  vor 
unserm  Blicke,  der  verweilend  und  zusammenfassend 
notwendig  in  die  Tiefe  dringt,  wo  der  Schlüssel 
des  Ganzen ,  den  das  Körpergebilde  selbst  nicht 
giebt,  allein  gesucht  werden  kann. 


140 


Die  plastische  Gruppe 


Während  in  der  Gruppe  des  Laokoon  der 
Schattenraum  seine  Wirkung  bis  in  das  Innere  der 
Erscheinung  hinein  erstreckt,  will  er  sich  bei  der 
,, Gruppe  des  Farnesischen  Stieres"  nirgend  recht 
ergeben,  und  sie  bleibt  ein  tektonischer  Aufbau,  der 
sogar  durch  die  Wucht  des  daherstürzenden  Stieres 
in  seinem  zufälligen  Bestand  gefährdet  erscheint. 
Nur  die  poetische  Vorstellung  kann  mit  Hülfe  der 
Fabel  die  Einheit  des  Vorgangs  zusammenlesen.  Es 
ist  keine  künstlerische  Gruppe  zu  Stande  gekommen, 
trotz  aller  Schönheit  der  Gestalten  im  Einzelnen. 

Ganz  anders  aber  liegt  die  Sache  bei  den 
Giebelgruppen  an  der  Front  griechischer  Tempel. 
Hier  ist  es  grade  der  entstehende  Schattenraum,  der 
die  klare ,  scharfe  Auseinandersetzung  mit  der  tek- 
tonischen  Fläche,  der  Giebel  wand  dahinter,  hervor- 
bringt. Auch  hier  bildet  die  sogenannte  Gruppe 
von  Figuren  oder  sonstigen  Gegenständen  ursprüng- 
lich nur  eine  Zusammenschiebung  vollausgerundeter 
Körper,  nach  mehr  oder  minder  tektonischen  Prin- 
cipien,  wie  z.  B.  bei  den  „Ägineten".  Erst  allmäh- 
lich schieben  sich  die  Figuren  mit  deutlicher  Rech- 
nung auf  die  Vorderansicht  zurecht.  Aber  ein  freies 
Gehaben  nach  dem  Gesetz  unserer  Körperbewegung 
allein  wird  schon  in  den  engen  Winkeln  vollends 
ausgeschlossen.  (So  die  thronenden  Götter,  der  so- 
genannte Theseus,  auftauchende  Pferdeköpfe  —  ab- 
geschnitten !)  Die  Einheit  müsste,  solange  wir  solche 
Zusammenstellung  in  bequemer  Nähe ,  wie  jetzt  in 
unsern  Museen  erblicken,  auch  hier  immer  mit  Hülfe 
der  Poesie,  d.  h.  als  Einheit  des  Vorgangs  oder  der 


Giebelgruppen 


141 


Situation ,  oder  gar  als  Einheit  der  Idee ,  gesucht 
werden.  Aber  alle  drei  Einheiten,  der  Handlung, 
der  Zeit,  des  Ortes,  die  man  im  höchsten  poetischen 
Kunstwerk  sucht ,  sie  helfen  bekanntlich  nicht  zur 
Einheit  in  der  bildenden  Kunst.  Da  kann  nur  noch 
Eins  erreicht  werden,  nämlich  die  Einheit  der  Wir- 
kung, —  freilich  nur  für  den  entfernten  Standpunkt, 
für  den  sie  gedacht  sind ,  und  von  dem  sie  allein 
betrachtet  werden  dürfen.  In  der  Tat  wirken  sie  an 
ihrer  Stelle  am  ganzen  Bauwerk  wie  ein  starkes 
Hochrelief  vollkommen  befriedigend,  und  zwar  nicht 
ausschliesslich  in  der  Richtungsaxe ,  die  grade  auf 
die  Mitte  der  Front  geht,  sondern  in  ziemlicher 
Breitenausdehnung  der  parallelen  Standlinie,  nach 
links  und  rechts,  so  lange  die  Giebelseiten  nicht 
eigens  durch  ihren  Vorsprung  den  seitlichen  Anblick 
verschliessen. 

Sie  tragen  also  ihren  Namen  ,, Gruppe"  nur 
noch  in  uneigentlichem  Sinne ,  was  die  Plastik  als 
solche  angeht ,  können  aber ,  ihres  kubischen  Be- 
standes wegen,  auch  zur  Reliefkunst  noch  nicht  ge- 
rechnet werden.  Sie  zeigen  uns  nur  den  Ubergang 
zu  dieser,  auf  den  die  dekorative  Skulptur  im  Ein- 
vernehmen mit  der  Baukunst  selber  gekommen  war.1) 

i)  Vgl.  zum  Folgenden  E.  H.  Toelken,  Über  das  Basrelief 
und  den  Unterschied  der  plastischen  und  malerischen  Komposition. 
Berlin  1815.    Weiteres  schon  Heft  I,  S.  2,  Anm.  3. 


V. 


RELIEF- ANSCHAUUNG 


as*>X8^:achdem  Hildebrand  im  vierten  Kapitel  seiner 
Kj$vFb  Schrift  über  ,, Flächen-  und  Tiefenvorstellung" 
.Kakraa  gehandelt  und  gezeigt  hat,  wie  der  Künstler 
,,bei  seiner  Aufgabe,  für  die  kompilierte  dreidimen- 
sionale Vorstellung  eine  einheitliche  Bildvorstellung 
zu  schaffen,  zu  einer  immer  koncentrierteren  Gegen- 
überstellung der  gegenständlichen  (d.  h.  gegenständ- 
lich auslegbaren)  Flächenwirkung  zu  der  allgemeinen 
Tiefenvorstellung  gezwungen  wird",  —  kommt  er 
im  folgenden  Kapitel  auf  das  Ergebnis.  „Mit  dieser 
Gegenüberstellung  gelangt  der  Künstler  zu  einer 
einfachen  Volumenvorstellung,  also  der  einer  Fläche, 
die  er  nach  der  Tiefe  fortsetzt." 

„Um  sich  diese  Vorstellungsweise  recht  deutlich 
zu  machen ,  denke  man  sich  zwei  parallel  stehende 
Glaswände  und  zwischen  diesen  eine  Figur,  deren 
Stellung  den  Glaswänden  parallel  so  angeordnet  ist, 
dass  ihre  äussersten  Punkte  sie  berühren.  Alsdann 


Relief  -  Anschauung 


143 


nimmt  die  Figur  einen  Raum  von  gleichem  Tiefen- 
mafs  in  Anspruch  und  beschreibt  denselben,  indem 
ihre  Glieder  sich  innerhalb  desselben  Tiefenmafses 
anordnen.  Auf  diese  Weise  einigt  sich  die  Figur, 
von  vorn  durch  die  Glaswand  gesehen,  einerseits  in 
einer  einheitlichen  Flächenschicht  als  kenntliches 
Gegenstandsbild ,  —  andererseits  wird  ihr  Volumen 
durch  das  einheitliche  Tiefenmafs  des  allgemeinen 
Volumens,  welches  sie  im  Ganzen  einhält,  aufgefasst. 
Die  Figur  lebt  sozusagen  in  einer  Flächenschicht 
von  gleichem  Tiefenmafse,  und  jede  Form  strebt,  in 
der  Fläche  sich  auszubreiten,  d.  h.  sich  kenntlich  zu 
machen.  Ihre  äussersten  Punkte ,  die  Glaswände 
berührend ,  stellen ,  auch  wenn  man  sich  die  Glas- 
wände wegdenkt,  noch  gemeinsame  Flächen  dar. 

„Diese  Vorstellungsweise  beruht  also  auf  der 
Auffassung  des  Gegenständlichen  als  eine  Flächen- 
schicht von  gleichem  Tiefenmafse.  Das  Gesamt- 
volumen eines  Bildes  besteht  aber,  je  nach 
der  Art  des  Gegenständlichen ,  aus  mehr  oder 
weniger  solchen  hintereinander  gereih- 
ten imaginären  Flächen  schichten,  welche  sich 
wiederum  zu  einer  Erscheinung  von  einheitlichem 
Tiefenmafs  einigen." 

„Diese  Vorstellungsweise  ist  also  das  notwendige 
Produkt  des  Verhältnisses  unsrer  dreidimensionalen 
Vorstellung  zum  einheitlichen  Gesichtseindrucke  und 
wird  zur  notwendigen  künstlerischen  Auffassung  von 
allem  Dreidimensionalen ,  gleichviel ,  ob  es  sich  um 
die  Darstellung  einer  Einzelform  oder  einer  weitern 
Gesamtheit   handelt ,    gleichviel ,  ob  wir  diese  Er- 


144 


Relief  -  Anschauung 


scheinungsweise  als  Bildhauer  oder  als  Maler  er- 
reichen" (65). 

„Diese  so  entwickelte  allgemeine  künstlerische 
Vorstellungsweise  ist  aber  nichts  Anderes" ,  wie 
Hildebrand  erklärt  (66),  —  „als  die  in  der  grie- 
chischen Kunst  herrschende  Reliefvor- 
stellung." Sie  preist  er  als  das  allgemeine  künst- 
lerische Verhältnis  zur  Natur,  das  einzige,  das  es 
überhaupt  geben  kann  und  darf.  Da  liegt  also  der 
Kern  seiner  ganzen  Kunstlehre  beschlossen. 

„Diese  Reliefvorstellung  markiert  das  Verhältnis 
der  Flächenbewegung  zur  Tiefenbewegung  oder  das 
der  zwei  Dimensionen  zur  dritten.  Sie  setzt  uns 
in  ein  sicheres  Verhältnis  als  Schauende  zur 
Natur.  Die  allgemeinen  Gesetze  unseres  Verhält- 
nisses zum  sichtbaren  Raum  werden  durch  sie  erst 
in  der  Kunst  festgehalten  und  durch  sie  wird  die 
Natur  erst  für  unsere  Gesichtsvorstellung 
geschaffen.  So  formt  sich  in  dieser  Vorstellungs- 
weise gleichsam  das  Gefäss,  in  welches  der  Künstler 
die  Natur  schöpft  und  fasst.  Eine  Anschauungsform, 
die  in  allen  Zeiten  das  Kennzeichen  der  künst- 
lerischen Empfindung  und  der  Ausdruck  ihrer  un- 
wandelbaren Gesetze  ist.  Ein  Mangel  an  dieser 
Empfindungsweise  bedeutet  einen  Mangel  an  künst- 
lerischem Verhältnis  zur  Natur,  eine  Unfähigkeit, 
unser  wahres  Verhältnis  zu  ihr  zu  verstehen  und 
konsequent  zu  entwickeln.  In  dieser  Vorstellungs- 
weise findet  die  tausendfältig  bewegte  Anschauung 
erst  ihren  Schwerpunkt,  ihr  stabiles  Verhältnis,  ihre 
Klarheit.    Sie  wird  notwendig  für  alles  künstlerische 


Prinzipielle  Bedenken 


145 


Formen,  sei  es  bei  einer  Landschaft  oder  einem 
Kopfe ;  überall  ordnet  sie  die  Wahrnehmung ,  ver- 
bindet und  beruhigt  sie.  In  allen  bildenden  Künsten 
ist  sie  dieselbe ,  ist  sie  Führer ,  wirkt  sie  in  der- 
selben Weise  als  ein  allgemeines  Verhältnis  und  Be- 
dürfnis, dem  sich  Alles  unterordnet,  in  dem  sich 
Alles  schichtet,  vereinigt." 

So  warm  und  freudig  uns  dieser  Siegespäan 
über  die  Lösung  des  Problems  der  Form  in  der 
bildenden  Kunst  auch  anmutet,  so  kann  doch  der 
Historiker  nicht  ohne  starken  Zweifel  zuhören,  wenn 
die  griechische  Reliefvorstellung,  also  doch  immer 
eine  historisch  bedingte  Errrungenschaft,  als  einzig 
gültiges  künstlerisches  Verhältnis  zur  Natur  für  alle 
Zeiten  gefeiert  wird.  Und  mag  ihr  für  die  Reliefkunst 
als  solche  auch  noch  so  klassische  Bedeutung  bei- 
gemessen werden,  so  ist  doch  die  Ausdehnung  ihres 
Princips  auf  alle  bildenden  Künste  wol  nicht  minder 
Veranlassung  zu  ernstlichen  Bedenken  des  Ästhe- 
tikers. 

Im  Verfolg  unserer  Erörterungen  haben  wir  aber 
vor  Allem  die  Pflicht,  auf  einen  innern  Widerspruch 
dieser  Lehre  aufmerksam  zu  machen,  oder  doch  auf 
die  Tatsache ,  dass  ein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  der  vorher  erörterten  Bildvorstellung  und 
der  klassischen  Reliefvorstellung  der  griechischen 
Kunst  übergangen  wird. 

Man  lese  einmal  die  beiden  Sätze,  die  in  Hilde- 
brands Besprechung  des  „plastischen  Reliefs"  nahe 
aufeinander  folgen,  unmittelbar  im  Zusammenhang, 
den  Inhalt  der  Aussagen  vergleichend  durch : 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Reliefkunst.  jO 


146 


Relief  -  Anschauung 


„Die  Reliefvorstellung  fusst  auf  dem  Eindruck 
eines  Fernbildes.  Aus  der  Nähe  geschaute  Natur 
ist  nicht  als  Relief  gesehen"  (S.  70). 

„Für  die  Plastik  ergiebt  sich  die  Reliefvor- 
stellung vom  ganz  flachen  Relief  bis  zum  vollständig 
runden,  wo  zuletzt  das  einheitliche  Tiefenmafs  dem 
realen  Tiefenmafs  der  Figur  entspricht,"  —  d.  h. 
„alle  Abstufungen  vom  Flachrelief  bis  zum  Hoch- 
relief" (S.  71). 

Damit  wird  zutreffend  die  Gränze  des  klassi- 
schen Hochreliefs  in  der  griechischen  Kunst  be- 
zeichnet :  „wo  das  einheitliche  Tiefenmafs  dem  realen 
Tiefenmafs  der  Figur  entspricht."  Das  heisst,  es 
handelt  sich  für  diese  plastische  Reliefvorstellung 
immer  um  die  Auffassung  des  Gegenständlichen  als 
einer  Flächenschicht  von  gleichem  Tiefenmafse,  und 
zwar  um  eine  solche  einheitlich  durchorganisierte 
Flächenschicht,  deren  Tiefenmafs  hier  dem  realen 
Tiefenmafs  der  Figur  entspricht.  Das  Gesamtvolumen 
eines  Bildes  dagegen  besteht,  wie  wir  soeben  ge- 
lesen haben,  „aus  mehr  oder  weniger  solchen  hinter- 
einander gereihten  imaginären  Flächenschichten",  d.h. 
nach  Hildebrand  selbst ,  immer  aus  einer  Mehrzahl, 
die  sich  freilich  wiederum  zu  einer  Erscheinung 
von  einheitlichem  Tiefenmafs  einigen  müssen,  ima- 
ginär aber  jedenfalls  über  das  reale  Tiefenmafs  der 
Figur  resp.  der  neben  einander  gereihten  Figuren 
der  ersten  Flächenschicht  (des  Vordergrundes)  weit 
hinaus  reichen  darf.  Das  Fernbild ,  auf  dem  die 
Bildvorstellung  des  Malers  fusst,  geht  also  über  die 
Gränze  der  klassischen  Reliefvorstellung  hinaus  und 


Innerer  Widerspruch  der  Formel 


147 


kann  eine  Tiefenbewegung  anregen,  die  sich  an  das 
Normalvolumen  der  Figuren  nicht  bindet.  Wir 
unterscheiden  eben  deshalb  einen  Vordergrund  vom 
Mittelgrund  und  Hintergrund.  Die  Bildvorstellung 
des  Malers  verwertet  auch  das  Fernbild,  ,,das  alles 
unter  Lebensgrösse  zeigt"  (S.  68  Anm.).  Da  liegt 
der  Unterschied,  den  Hildebrand  übergeht  oder  in 
seinem  Ausdruck  ,, Fernbild"  für  zwei  verschiedene 
Dinge  unvermerkt  verschleift. 

Es  hängt  freilich  ganz  von  der  Schärfe  des 
Auges  ab,  wie  er  selbst  (68)  hervorhebt,  auf  welche 
Distanz  es  die  Gegenstände  scharf  und  präcis  sieht, 
und  ,,die  Entfernung,  welche  das  Fernbild  erfordert, 
hat  an  und  für  sich  nichts  mit  der  Deutlichkeit  oder 
Undeutlichkeit  des  Bildes  zu  tun,  wenn  sie  auch 
auf  die  Härte  oder  Weichheit  der  Erscheinung  Ein- 
fluss  nimmt."  Aber  es  müsste  doch  ein  Durch- 
schnittsmafs  zwischen  diesen  Extremen  kurzsichtiger 
und  weitsichtiger  Beschauer  angenommen  werden, 
also  eine  Durchschnittsdistanz  für  den  Künstler. 
Und  wenn  andrerseits  ,,der  Mafsstab  einer  Darstel- 
lung auch  nicht  mit  einer  Distanzvorstellung  ver- 
knüpft ist,  wenn  die  perspektivische  Verkleinerung 
in  natura  von  uns  garnicht  empfunden  wird",  —  so 
ist  uns  Hildebrand  doch  die  Bestimmung  der  An- 
fangsgränze  für  sein  „Flachrelief"  schuldig  geblieben. 
Tatsächlich  giebt  es  ja  in  der  italienischen  Renais- 
sance ein  Flachrelief,  das  den  umgebenden  Raum 
in  beträchtlicher  Tiefe  mit  darstellt ,  wie  etwa  der 
Drachenkampf  des  heiligen  Georg  unter  dem  Stand- 
bild dieses  Helden  an  Orsanmichele,  eine  Arbeit 

IO* 


148 


Relief  -  Anschauung 


des  Donatello.  Das  ist  ein  andres  Flachrelief  als 
der  Christus  im  Grabe  von  demselben  Meister  in 
London.  Noch  glücklicher  nähert  sich  jedoch  Luca 
della  Robbia  dem  klassischen  Vorbild  der  Griechen 
sowol  in  flachem  als  im  höheren  Relief.  Bedürfen 
wir  also,  um  das  Wesen  des  klassischen  Reliefstils 
zu  bestimmen,  nicht  für  die  Anfangsgränze  des  Flach- 
reliefs eines  festen  Mafsstabes  ebenso ,  wie  für  die 
letzte  Gränze  des  Hochreliefs,  die  nach  dem  realen 
Tiefenmafs  der  Figur  bestimmt  ward?  —  Ist  es 
nicht  die  Übereinstimmung  des  Höhenmafses  ,,der 
Figur"  mit  dem  realen  Höhenmafs  der  vordem 
Relieffläche,  d.  h.  der  ersten  Distanzschicht  selber? 
Oder ,  anders  ausgedrückt :  die  möglichste  Ausbeu- 
tung der  ganzen  Vertikalausdehnung  des  Vorder- 
grundes für  die  plastische  Gestaltung?  Und  was  be- 
deutet dieses  feste  Verhältnis  zwischen  Reliefrand 
und  Figur  andrerseits  für  den  verschiebbaren  Ab- 
stand des  Beschauers  von  diesem  Objekte,  also  für 
die  reale  oder  die  imaginäre  Distanz  vom  Darge- 
stellten ? 

Damit  kommen  wir  auf  einen  andern  Unter- 
schied zwischen  Malerei  und  Plastik,  der  die  Be- 
stimmung Hildebrands ,  die  Reliefvorstellung  fusse 
auf  dem  Eindruck  eines  Fernbildes,  —  aus  der  Nähe 
gesehene  Natur  sei  nicht  als  Relief  gesehen,  sehr  ins 
Schwanken  bringen  muss. 

Die  perspektivische  Raumdarstellung  im  Bilde, 
wie  wir  sie  besonders  deutlich  auf  Gemälden  italie- 
nischer Quattrocentisten  als  Linearkonstruktion  auf- 
gerechnet finden,  weist  dem  Beschauer  seinen  festen 


Das  Fernbild  des  Malers 


149 


Standpunkt  an,  indem  sie  nicht  allein  die  Rich- 
tungsaxe ,  auf  den  Centraipunkt  dieser  perspekti- 
vischen Konstruktion  zu,  sondern  auch  die  normale 
Distanz  zwischen  der  Bildfläche  und  dem  Auge  des 
Beschauers  bestimmt.  Die  dargestellte  Raumtiefe, 
die  im  Gemälde  vor  dem  Beschauer  liegt,  ist  ebenso 
gross  wie  die  wirkliche  vom  Beschauer  bis  an  die 
Bildfläche ,  d.  h.  die  innere  Distanz  des  Centrai- 
punktes von  der  Oberfläche  in  ihrem  Rahmen  ist 
gleich  der  äussern  Distanz  des  Rahmens  vom  Auge 
des  Betrachters.  Wenn  dagegen  nicht  von  der 
Raumdarstellung,  sondern  von  der  Figurendarstel- 
lung ausgegangen  wird ,  und  der  Mafsstab  der  Nor- 
malfigur des  Vordergrundes  möglichst  gleich  der 
Höhe  der  Bildfläche  angenommen  ist,  so  rückt  mit 
dieser  umgekehrten  Rechnung  auch  der  Beschauer 
aus  der  früher  angewiesenen  Entfernung  in  viel 
grössere  Nähe.  So  weit  auch  faktisch  sein  Abstand 
von  der  Bildwand  sein  möge ,  imaginär  ist  er  den 
Gestalten,  oder  sind  die  Gestalten  ihm  näher  als  bei 
jenen  Musterstücken  perspektivischer  Raumdarstel- 
lung. Man  vergleiche  als  solches  etwa  Peruginos 
Schlüsselübergabe  in  der  Cappella  Sistina  mit 
Mantegnas  Triumphzug  aus  M  a  n  t  u  a. 

Noch  weiter  belehrt  uns  aber  Rafaels  Teppich- 
karton mit  dem  Hinweis  des  guten  Hirten  auf  seine 
Herde  ,, Pasee  oves".  Jedermann  wird  sagen,  dass 
Rafaels  Bild  sich  der  Reliefvorstellung  nähert,  obwol 
eine  ziemlich  umfassende  Landschaft  als  Schauplatz 
bei  der  Erscheinung  des  Auferstandenen  mitwirkt.  Die 
Gestaltenreihe  ist  aber  weit  mehr  ,,aus  der  Nähe  ge- 


150 


Relief- Anschauung 


sehene  Natur"  als  die  Ferne  dahinter.  Nehmen  wir 
diesen  landschaftlichen  Hintergrund  vollends  weg  und 
beschneiden  den  Karton  oben  so  weit,  dass  die  Höhe 
der  Hauptfigur  das  Mafsgebende  wird  für  die  neben- 
einander gereihte  Schar  der  Jünger,  so  ist  damit  das 
malerische  Interesse  sozusagen  auch  beschnitten  und 
das  plastische  gewinnt  die  Oberhand,  zumal  wenn  wir 
von  dem  poetischen  Interesse  an  dem  dargestellten 
Vorgang  und  an  der  Charakteristik  der  Individuen 
noch  ganz  absehen.  Wir  können  auf  diese  Reihe  von 
menschlichen  Körpern  das  Experiment  mit  den  bei- 
den Glasplatten  vorn  und  hinten  anwenden  und  sagen, 
diese  Figuren  leben  in  einer  einheitlichen  Schicht 
von  gleichem  Tiefenmafs,  und  dieses  entspricht  un- 
gefähr dem  realen  Tiefenmafs  der  Figur  Christi. 
Das  heisst,  das  Gemälde  ist  in  die  klassische  Relief- 
vorstellung übertragen.  Da  diese  Gestaltenreihe  je- 
doch gemalt  ist,  d.  h.  Schatten  und  Licht  in  fester 
Verteilung  darbietet,  so  kann  sie  befriedigend  für 
unser  Auge  nur  für  den  bestimmten  Standpunkt 
wirken,  für  den  sie  berechnet  ist. 

Denken  wir  uns  dagegen  die  nämliche  Gestalten- 
reihe plastisch  ausgeführt,  etwa  in  Marmor-  oder  Stuck- 
relief, so  enthält  sie  nicht  selbst  mehr  die  bestimmte 
Verteilung  von  Licht  und  Schatten,  sondern  muss 
diese  vom  wechselnden  Tageslicht  erwarten,  sei  dies 
unter  freiem  Himmel  oder  unter  der  vorherrschend 
einseitigen  Beleuchtung  in  einem  Innenraum.  Je  nach 
der  stärkeren  oder  schwächeren  Verschiebung ,  die 
im  Verhältnis  der  Schatten  und  Lichter  eintreten  kann, 
wird  auch  der  Standpunkt  des  Betrachters  variabel. 


Gemälde  und  Relief 


151 


Der  Gegensatz  der  Bedingungen  zwischen  Ma- 
lerei und  Plastik  in  diesem  Fall  ist  klar :  das  ge- 
rahmte Bild  ist  selber  verhängbar ;  aber  es  weist 
dem  Beschauer  stets,  —  je  bestimmter  die  Modellie- 
rung der  Gestalten  durch  Hell  und  Dunkel  oder  die 
perspektivische  Darstellung  des  Raumes  durchgeführt 
sind,  desto  zwingender  —  seinen  Standort  an ,  von 
dem  es  als  Ganzes  betrachtet  sein  will.  Das  Relief 
dagegen  hat  als  tektonischer  Bestandteil  einer  Wand 
seinen  festen  Standort,  während  der  Beschauer  seine 
Stelle  wechselt,  wie  das  Tageslicht  mehr  oder  min- 
der erheischt;  —  je  stärker  die  Modellierung,  je 
höher  das  Relief,  desto  abhängiger  ist  er  von  der 
Beleuchtung  am  Orte,  je  flacher  das  Relief,  je  ,, durch- 
gängiger es  das  Licht  auffängt",  desto  freier  auch 
die  Verschiebbarkeit  des  Standpunktes ,  und  zwar 
nicht  allein  in  der  Parallele  zum  Bildwerk,  sondern 
auch  in  der  Distanz. 

Damit  sind  wir  zu  einem  neuen  Widerspruch 
zu  Hildebrand  geraten,  der  auch  für  das  Relief  wie 
für  das  Gemälde  verlangt,  dass  alle  räumlichen  Be- 
ziehungen und  alle  Formunterschiede  von  einem 
Standpunkte  aus,  sozusagen  von  vorn  nach 
hinten  abgelesen  werden. 

Was  wir  von  Rafaels  Komposition  in  Relief- 
übertragung behauptet  haben,  gilt  unseres  Erachtens 
auch  von  dem  klassischen  Relief  der  Griechen ,  mit 
dem  wir  sie  verglichen.  Dagegen  giebt  es  in  der 
Geschichte  der  Reliefkunst,  sowol  im  Altertum  wie 
in  neueren  Zeiten  Beispiele  genug,  in  denen  die  For- 
derung Hildebrands,  d.  h.  die  Anweisung  eines  festen 


152 


Relief  -  Anschauung 


und  entfernten  Standpunktes  für  den  Beschauer  er- 
füllt ist.  Nennen  wir  als  besonders  schlagend  für 
die  Darstellung  sowol  eines  Innenraumes  wie  einer 
Landschaft  nebst  andern  Kombinationen  nur  die 
Kanzelreliefs  des  Benedetto  da  Majano  mit  Geschich- 
ten des  heiligen  Franciscus  in  Sta  Croce  zu  Florenz. 
An  jeder  Seite  des  Polygons  der  Kanzelbrüstung  be- 
findet sich  ein  stark  eingerahmtes  und  dadurch  selb- 
ständig gemachtes  Bild,  das  durch  seine  Raum-  und 
Formenperspektive  dem  Beschauer  seinen  Stand- 
punkt, besonders  in  den  Reliefs  der  Hauptaxen  ganz 
bestimmt,  anweist.  Grade  diese  und  alle  verwandten 
Reliefs,  wie  sie  etwa  in  der  Alexandrinischen  Kunst 
mit  Einbeziehung  des  landschaftlichen  Schauplatzes 
vorkommen,  entsprechen  sonst  aber  keineswegs  mehr 
den  Principien  der  klassischen  Reliefkunst.  Denn 
ein  mehr  oder  minder  entfernt  gedachter  Hinter- 
grund kehrt  sich  nicht  mehr  an  das  Tiefenmafs  der 
Figuren  u.  s.  w.  Dagegen  entsprechen  grade  sie 
dem  Charakter  des  Fernbildes  nach  Hildebrands 
Definition,  deren  Gültigkeit  wir  für  die  realistische 
Malerei  unbedingt  anerkannt  haben. 

Es  kann  also  nicht  richtig  sein,  wenn  Hilde- 
brand für  das  plastische  Relief  der  Griechen  erklärt, 
die  Reliefvorstellung  fusse  auf  dem  Eindruck  eines 
Fernbildes.  Aus  der  Nähe  gesehene  Natur  sei  nicht 
als  Relief  gesehen. 

Die  Differenz  kann  nur  in  der  relativen  Be- 
deutung des  Ausdruckes  Nähe  und  Entfernung  lie- 
gen, und  es  käme  darauf  an,  die  Schwelle  zu  be- 
zeichnen oder  doch  eine  Gränzregion  zu  finden,  wo 


Nähe  oder  Ferne 


153 


der  Übergang  aus  der  einen  in  die  andre  Auffassung 
sich  vollzieht. 

Unzweifelhaft    richtig    bleibt   Hildebrands  Be- 
hauptung, aus  der  Nähe  gesehene  Natur  sei  nicht 
als  Relief  gesehen,  solange  unter  Nähe  die  unmittel- 
bare unsrer  Tastregion  verstanden  werden  soll  und 
unter  Natur  in  erster  Linie  die  Dinge  um  uns  her. 
Denn  in  diesem  Umkreis  führt  auch  das  Sehen  zur 
kubischen  Auffassung   der  Einzelkörper   und  über 
diese  hinaus  höchstens  zu  einer  Orientierung  über 
das  Verhältnis   unseres    eigenen  Leibes    zu  dieser 
Nachbarschaft.    Aber   unser  Gesichtskreis  erweitert 
sich  bald,  da  das  Auge  dem  Antrieb  zur  vollen  An- 
spannung seiner  Sehkraft  folgt  und  die  Vorstellung 
ebenso    nach    der   Tiefe   strebt.    Unser  Blick  um- 
spannt  in   seiner    notwendigen   Abwechslung ,  ob 
tastend  noch,    ob  schweifend  oder   ausruhend,  je 
nach  der  Breite  dieses  Spielraums  ein  Nebeneinander, 
und  dies  ist  entweder  ein  Körper  mit  einem  Stück 
der  weiteren  Umgebung  dahinter  oder  eine  Mehr- 
zahl von  Körpern  mit  solchem  gemeinsamen  Grunde, 
mag  diese  Gränzfläche  hinten  auch  noch  so  nahe 
stehen,   dass  auch  eine  Mehrzahl  von  Körpern  sich 
nur  in  einer  Distanzschicht  auszubreiten  vermag,  also 
noch  keine  Verschiebung  hinter  einander  aufweist. 
Dies  wäre  doch  wol  schon  eine  Entfernung,  bei  der 
die  Reliefauffassung   eintreten   könnte ,    aber  noch 
lange  nicht  das  Fernbild ,  wie  wir  es  als  Domäne 
der  Malerei  betrachtet. 

Auch  das  Relief  giebt,  wie  die  Malerei,  —  haben 
wir  uns  früher  gesagt  —  Körper   und  Raum  zu- 


154 


Relief  -  Anschauung 


gleich.  Es  behandelt  also ,  wird  man  meinen ,  den 
selben  Gegenstand,  den  wir  der  Malerei  zugewiesen. 
Aber  es  versucht  diese  Aufgabe  noch  ganz  mit  den 
Mitteln  der  Plastik,  d.  h.  als  Sache  der  Körper- 
bildnerin zu  lösen.  Die  Reliefkunst  gehört  also  in 
ein  Zwischenreich  zwischen  Malerei  und  Plastik,  wie 
die  tektönische  Körperbildung  ein  solches  zwischen 
Plastik  und  Architektur  erfüllt.  So  weit  hatten  wir 
die  Unterscheidung,  wo  es  auf  die  Bestimmung  des 
Malerischen  sozusagen  in  der  Malerei  selber  ankam 
(Heft  I,  40),  zunächst  geführt,  zumal  ,,da  die  kritische 
Beleuchtung  dieser  Mittelregion  selbst  erst  Erfolg 
versprach,  wenn  vorher  das  Wesen  der  beiden  Nach- 
barinnen im  Innersten  erfasst  war."3) 

Wenn  es  nun  aber  darauf  ankommt,  die  Gränzen 
der  Malerei  und  der  Plastik  zu  bestimmen,  indem 
wir  grade  dies  Übergangsgebiet  genauer  auf  seine 
Zugehörigkeit  zur  einen  oder  zur  anderen  Nach- 
barin prüfen,  so  greifen  wir  am  besten  auf  Hilde- 
brands eigene  Limitation  des  Fernbildes  zurück. 

,,Erst  von  einer  bestimmten  Distanzschicht  an 
sehen  unsre  Augen  parallel"  —  mögen  sie  nun 
kurzsichtig  oder  weitsichtig  sein,  es  giebt  eine  Durch- 
schnittsmitte für  diese  Gränzregion  —  ,,und  nehmen 
die  Erscheinungsobjekte  mit  einem  Blick  als  einheit- 
liches Flächenbild  oder  als  Fernbild  auf.    Was  in 


1)  Trotzdem  hat  ein  Berliner  Recensent,  der  nicht  einmal  den 
Gesamtplan  dieser  Beiträge  beachten  wollen,  schon  von  jenem  ersten 
Heft  verlangt,  es  müsste  doch  auch  über  den  malerischen  Charakter 
gewisser  Reliefs  z.  B.  am  Kaiser  Wilhelmsdenkmal  in  Berlin 
Rechenschaft  geben. 


Sehfeld  und  Tastregion 


155 


der  Mitte  unseres  Sehfeldes  liegt,  wird  am  stärksten 
wahrgenommen,  nach  dem  Rande  zu  verschwindet 
dieser  Eindruck.  —  Ebenso  wird  das,  was  direkt 
vor  der  Distanzschicht,  vor  der  eigentlichen 
Bühne  ist,  noch  als  Übergang  mit  wahr- 
genommen. Der  eigentliche  Raum  aber, 
welcher  erscheint,  liegt  hinter  dieser 
Distanzschicht  oder  fängt  mit  dieser  erst 
eigentlich  an." 

Dieser  eigentliche  Raum ,  der  als  Fernbild  im 
engern  Sinne  erscheint,  ist  der  Bildraum,  sagen  wir 
einmal  des  Landschaftsmalers  vorzugsweise.  Wir 
müssen  ihn  hier  ausscheiden,  wo  es  gilt  den  Spiel- 
raum für  die  Plastik  zu  finden.  Wenn  nun  jener 
„Übergang",  der  noch  mit  wahrgenommen  wird, 
eben  die  Übergangsregion  wäre ,  die  wir  suchen, 
d.  h.  grade  die  Zone,  wo  unsere  Tastregion  noch  in 
das  Sehfeld  hineinragt  und  direkt  vor  der  Distanz- 
schicht auftritt,  mit  der  oder  hinter  der  das  Reich 
des  Fernbildes  beginnt? 

Hier  liegt  der  Rahmen  des  Bildes ,  der  mehr 
oder  minder  reliefmäfsig  ausgeführt  zu  sein  pflegt, 
und  eben  als  Übergang  zwischen  dem  wirklichen 
dreidimensionalen  Raum ,  in  dem  wir  stehen ,  und 
dem  idealen  Raum  des  Bildes ,  in  den  wir  hinaus 
schauen,  zugleich  vermittelt  und  scheidet.  Er  ist 
für  die  Bildfläche  eine  positive  Instanz ,  die  ihr 
das  selbständige  Schalten  und  Walten  im  Innern 
dieses  Ausschnittes  sichert  und  den  Aufbau  der 
Welt,  die  der  Maler  darin  ertäuschen  kann,  als  eigne, 
für  sich  bestehende  garantiert.    Er  ist  für  den  Be- 


156 


Relief  -  Anschauung 


schauer  dagegen  eine  negative  Instanz ,  die  ihm  die 
Verwechslung  mit  dem  wirklichen  Raum  und  der 
vollen  Körperlichkeit  um  ihn  her  verbietet.  Der  Be- 
schauer kann  nicht  tatsächlich  „in  den  Raum  hinein 
schreiten" x),  durch  eigne  Ortsbewegung  seines  Körpers 
das  Tiefenvolumen  durchmessen,  ebenso  wenig  wie 
sich  stossen  an  den  andern  Körpern  darin ;  sondern 
das  Gefühl  der  einheitlichen  Tiefenbewegung  beruht 
ganz  auf  der  Vorstellung,  die  der  optische  Schein 
in  uns  anregt. 

Das  ist  es,  jener  Bildraum  liegt  jenseits  unsrer 
Tastregion  und  wird  uns  ausschliesslich  durch  das 
Auge  als  Gesichtseindruck  übermittelt;  er  ist  nicht 
greifbar ,  wie  der  Rahmen  des  Bildes  und  wie  die 
andern  ,, wirklichen"  Gegenstände  um  uns  her,  die 
ausser  ihm  vielleicht  noch  in  unser  vom  entfernteren 
Standpunkt  sich  bietendes  Sehfeld  hineinragen.  Der 
Rahmen  selbst  aber  sagt  uns  durch  seine  Relief- 
behandlung, dass  er  sich  an  der  Stelle  befindet,  wo 
nach  alter  Erfahrung  Relief  am  Platze  ist.  Aber 
nicht  immer  wird  er  reliefmässig  profiliert  oder  als 
glatte  Leiste  doch,  von  aussen  nach  innen  verlaufend, 
als  schräge  Übergangsfläche  gegeben ;  sondern  es 
kommt  auch  die  glatte  Leiste  als  senkrechte  Ebene 
behandelt  vor,  oder  mit  einem  First  in  der  Mitte 
nach  beiden  Seiten  absteigend  profiliert,  ja  ganz 
umgekehrt,  von  innen  nach  aussen  abgeschrägt,  so 
dass  die  Bildfläche  als  Parallelebene  vor  die  Wand- 


i)  Vgl.  oben  die  Stelle  aus  Hildebrand  und  die  Erklärung, 
S.  34- 


Rahmen  und  Bildregion 


157 


fläche  hinaustritt.  Es  muss  also  mit  dem  Rahmen 
ausserdem  noch  eine  andre  Bewandnis  haben.  Jeden- 
falls wirkt  bei  seiner  Behandlung  noch  eine  andre 
Mafsnahme  mit  als  der  Abstand  des  Beschauers  allein, 
der  sich  verändern  und  bis  zur  Greifbarkeit  dieses 
untern  Rahmens  annähern  lässt.  Es  ist  dies  die 
Höhe,  in  der  wir  Gemälde  anzubringen  pflegen,  und 
damit  kommen  wir  auf  einen  andern  ausserordent- 
lich wichtigen  Punkt  für  die  Bestimmung  der  Gränzen 
zwischen  Fernbild  und  Relief,  oder  zwischen  male- 
rischer und  plastischer  Auffassung  überhaupt. 

Diese  Höhe  ergiebt  sich  schon  bei  der  physio- 
logischen Bestimmung  unseres  Sehfeldes  aus  dem 
natürlichen  Bedürfnis  der  bequemen  Funktion  unserer 
Organe  in  ihrer  normalen  Lage.  Die  horizontale 
Lage  der  beiden  Augäpfel  im  oberen  Teil  unseres 
Kopfes  würde  beim  Anblick  einer  vor  uns ,  nicht 
allzu  entfernt  stehenden  Wand  eine  Neigung  des 
Kopfes  nach  vorn  nötig  machen,  sobald  wir  auch 
den  untersten  Teil  dieser  senkrechten  Fläche  und 
weiter  die  daranstossende  Horizontalebene  des  Fuss- 
bodens überblicken  wollen,  wenn  diese  Neigung 
nicht  schon  von  Natur  vorgesorgt  wäre.  Um  so  mehr 
gilt  es,  wenn  wir  nach  oben  über  eine  gewisse  Höhe 
hinausschauen,  erst  die  leise  natürliche  Inklination 
unseres  Augenpaares  aufzuheben  und  dann  weiter 
noch  eine  Neigung  des  Kopfes  nach  rückwärts  zu 
Hülfe  zu  nehmen.  In  dem  letztern  Fall,  nach  oben 
zu,  ist  das  entstehende  Muskelgefühl  also  stärker 
bemerklich  als  im  erstem  Fall,  nach  unten  zu.  Ähn- 
liche Organgefühle  entstehen  aber  ausserdem  noch 


158 


Relief  -  Anschauung 


bei  der  seitlichen  Drehung  im  Verfolg  einer  Strecke 
nach  rechts  oder  links  herum. 

Vor  allen  Dingen  aber  bildet  unser  Sehraum  als 
Ganzes  eine  innere  Kugel  fläche,  deren  Mittel- 
region nur  —  unser  Sehfeld  —  nach  jeder  Seite, 
wohin  wir  grade  schauen,  in  eine  senkrechte  Ebene 
überzugehen  scheint  und  als  solche  vorgestellt  wird. 
Ausserhalb  dieser  mittleren  Ebene,  die  vor  uns  steht, 
liegen  nach  unten,  wie  nach  oben,  und  nach  beiden 
Seiten  dieses  Sehfeldes,  Übergänge  von  sphärischer 
Kurvatur,  bei  deren  Verfolg  mit  unsern  Augen  not- 
wendig Bewegungsgefühle  entstehen,  die  aus  dem 
begleitenden  Muskelapparat,  der  dabei  in  Anspruch 
genommen  wird ,  herstammen ,  aber  gewiss  in  der 
weiteren  motorischen  Region  nachzittern  und  zu 
Bewegungsvorstellungen  disponieren. 

Zwischen  unsern  Fussfpitzen  und  dem  Anfang 
des  bequem  sich  darbietenden  Sehfeldes  liegt  sozu- 
sagen ein  Anlauf.  Die  reliefmäfsige  Behandlung  des 
Rahmens  unten  giebt  also  den  letzten  Teil  der 
untern  Kurvatur  der  Kugelfläche  unseres  natürlichen 
Sehraums  wieder.  Die  glatte  Leiste,  die  sich  in  der 
selben  Richtung  von  aussen  nach  innen  abschrägt, 
ist  nur  die  Reduktion  dieses  Ausdrucks  auf  eine  ebene 
Fläche ,  also  eine  Assimilation  an  unsre  Auffassung 
des  Sehfeldes  oder  an  die  regelmäfsige  Form  der 
Wand ,  die  die  Architektur  bereits  in  diesem  Sinne 
behandelt  hat.  Legen  wir  die  Horizontale  des 
untern  Rahmens  genau  in  diese  Höhe  der  Wand 
über  dem  Boden,  auf  dem  wir  stehen,  so  funktio- 
niert er  ganz  exakt  als  Gränze  zwischen  Tastraum 


Relative  Höhe  der  Bildzone 


159 


(oder  realem  Schauplatz)  hier  und  Bildraum  (oder 
idealem  Schauplatz)  dort,  oder,  bleiben  wir  im  Reiche 
der  Kunst,  zwischen  der  architektonischen  Schöpfung 
hier  und  der  malerischen  dort. 

Legen  wir  diesen  untern  Rand  des  Bildes  oder 
der  Bühne  auch  nur  etwas  tiefer,  so  fällt  der  vordere 
Streifen  dieses  sich  öffnenden  Raumes,  wie  etwa  von 
der  Lampenreihe  und  dem  Souffleurkasten  bis  an 
das  erste  Koulissenpaar  auf  unserm  Theater ,  noch 
ebenso  unter  den  natürlichen  Zwang  der  von  aussen 
nach  innen  zurückweichenden  Reliefanschauung,  wie 
vorher  der  Rahmen  selbst  sich  dieser  Kurvatur 
unseres  Sehens  bequemte.  Das  kann  besonders  in 
Wandgemälden  geschehen,  die  den  Eindruck  er- 
wecken wollen,  als  blickten  wir  in  anstossende  Räum- 
lichkeiten hinaus.  So  ist  bei  Rafaels  Disputa  und 
Schule  von  Athen  der  ziemlich  tief  herabreichende 
Vordergrund  eben  deshalb  für  die  plastische  Behand- 
lung, die  ihn  auszeichnet,  berechtigt  und  trägt  nicht 
wenig  dazu  bei,  die  Illusion  der  Raumentfaltung  im 
Anschluss  an  die  Bedingungen  der  vorhandenen  Archi- 
tektur hervorzubringen.  Im  Parnass  erhöht  sich  der 
Boden,  links  und  rechts  vom  einspringenden  Fenster, 
und  die  Stirnseite  des  Podiums  wird  gar  mit  grau 
in  grau  gemalten  Reliefbildern  geschmückt;  aber 
durch  das  ansteigende  Terrain  des  Musenhügels  wird 
grade  die  plastische  Auffassung  der  vordersten  Ge- 
stalten als  voll  sich  rundende  Körper  wieder  energisch 
herausgefordert.  Drüben  endlich,  unter  der  Justitia, 
sondern  sich  die  Bestandteile  auch  in  selbständige 
Ganze  von    zweierlei  Charakter.    Unten   links  und 


160 


Relief  -  Anschauung 


rechts  auf  gleicher  Höhe  ein  schmälerer  und  ein 
breiterer  Einblick  in  anstossende  Gemächer,  wo  der 
Kaiser  mit  seinen  Räten,  der  Papst  mit  seinen  Kar- 
dinälen in  leibhaftiger  Gegenwart  vor  Augen  stehen. 
Droben  über  dem  verbindenden  Architrav  in  der 
Bogenöffnung,  durch  die  der  blaue  Himmel  herein- 
schaut, die  plastisch  körperhaft  auf  den  Terrassen- 
stufen aufgebaute  Gruppe  der  drei  Tugenden  mit 
ihren  Genien  dazwischen,  —  Alles  gemalt,  aber  aus 
dem  sichern  Gefühl  heraus  in  voller  kubischer  Stärke, 
weil  in  dieser  Höhe  vor  dem  Deckengewölbe  wieder 
die  günstige  Region  für  plastische  Rundung  beginnt. 
Nur  verläuft  hier  die  Kurvatur  des  Übergangs 
zwischen  den  Ebenen,  die  aufeinanderstossen,  zwischen 
Wand  und  Decke  also ,  sozusagen  in  umgekehrter 
Richtung  als  der  Übergang  zwischen  Fussboden  und 
Wand  unten.  Deshalb  bewegt  sich  das  Profil  des 
Simswerks  ebenso  wie  das  des  Rahmens,  die  wir  in 
dieser  Höhe  anzubringen  pflegen,  in  aufsteigender 
Richtung  und  kragt  immer  weiter  vor,  wo  immer 
eine  Ausgestaltung  dieser  Kurvatur  mit  tektonischer 
Plastik  versucht  wird. 

In  dem  folgenden  Zimmer  des  Vatikans ,  der 
Stanza  d'Eliodoro  liegt  der  vordere  Bühnenrand 
aller  Gemälde  höher ;  ihre  Gestalten  rücken  auch 
im  Vordergrund  dem  Beschauer  nicht  so  nah;  sein 
Abstand,  tatsächlich  nur  im  gleichen  Spielraum  sich 
bewegend,  wird  für  das  Auge  freier,  und  weiter  für 
die  Vorstellung.  Es  sind  historische  Ereignisse,  die 
in  der  Vergangenheit  liegen ;  aber  die  Gegenwart 
des  Papstes  und  seiner  Begleiter  bringt  sie  dem  Be- 


Das  Reich  des  Plastischen  und  des  Bildlichen  \ß\ 


schauer,  und  brachte  sie  dem  damals  Lebenden  erst- 
recht, noch  immer  ^n  den  Umkreis  des  Selber-Er- 
lebten.  Unzweifelhaft  ist  hier  ein  weiterer  Schritt 
zum  malerischen  Standpunkt  getan. 

Aber ,  —  bei  der  wechselnden  Unbestimmtheit 
im  Abstände,  die  durch  das  subjektive  Ermessen  und 
durch  die  objektive  Beschaffenheit  des  Platzes  un- 
vermeidlich wird,  kann  erst  in  ziemlicher  Höhe  über 
dem  Boden  die  Erscheinung  des  Bildes  in  optischer 
Reinheit  wirken  und  von  der  Einmischung  unsrer 
Tastgefühle  sozusagen  frei  gehalten  werden. 

So  sondern  wir  in  einem  Innenraum  ,  je  mehr 
wir  täglich  darin  verkehren,  die  untere  Region  der 
Wände  durch  Holzvertäfelung  oder  andre  mehr  oder 
minder  plastisch-tektonische  Behandlung  von  der 
oberen  Region ,  wo  die  bildliche  Anschauung  allein 
regieren  soll.  Auch  dafür  sind  die  Stanzen  des 
Vatikans  lehrreich,  besonders  das  Zimmer  des  Burg- 
brands ,  wo  die  Sockelfiguren  durch  ihre  plastische 
Malerei  gradezu  den  Raum  verengern.  Ganz  unten 
am  Boden  ist  ja  der  Platz  für  die  Postamente  der 
Statuen  und  andre  tektonische  Körper,  die  vor  der 
Wand  stehen  oder  aus  ihr  hervortreten,  —  d.  h. 
eine  eminent  plastische  Region,  soweit  es  das  Gefühl 
des  Besuchers  oder  gar  Bewohners  ihr  gestattet  sich 
auszudehnen.  Es  ist  der  Bannkreis  des  Gestaltungs- 
raumes für  kubische  Gebilde  gleich  uns  selbst.  Hier 
blicken  wir  den  Sachen,  schon  durch  die  natürliche 
Stellung  unsres  paarigen  Sehorgans  veranlasst,  sozu- 
sagen zuerst  auf  den  Kopf,  sie  nach  ihrem  Ver- 
hältnis zu  uns  nach  Höhe,  Umfang  und  Abstand  zu 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief  kunst.  jt 


162 


Relief  -  Anschauung 


fragen.  Es  ist  ein  Abtasten  der  Körper  mit  den 
Augen,  von  dem  wir  uns  erst  allmählich  zu  ruhigerer 
Anschauung  zurückziehen. 

Die  Zone  dagegen,  in  der  unser  Schauen  dem 
Körperdrange  vollends  enthoben  wird,  wo  das  Fern- 
bild in  voller  Freiheit  sich  vor  uns  ausbreiten  mag, 
liegt  über  der  realen  Höhe  unserer  Augen  oder  gar 
unsres  Kopfes ,  d.  h.  über  der  Horizontale  zwischen 
unsern  Augäpfeln  oder  gar  über  unserm  Scheitel, 
also  an  der  Wand  gemessen  etwa  in  Manneshöhe, 
wo  wir  der  Wandbekleidung  wol  gar  ein  abschliessen- 
des Sims  verleihen,  vorgekragt,  um  die  Gränze  gegen 
das  idealere  Obergeschoss  zu  markieren,  wo  unsre 
Gesichtsvorstellungen  allein  walten.  Diese  Zone 
reicht  hinauf  bis  zum  Ende  des  Sehfeldes,  wo  wieder 
die  Kurvatur  unseres  Sehraumes  sich  geltend  macht, 
indem  wir,  durch  die  Anlage  unseres  Sehapparates 
gezwungen,  Alles,  was  sich  zeigt,  zunächst  wieder  aul 
seine  Vertikalaxe  prüfen. 

Nach  den  Seiten  zu  bestehen  aber,  wie  wir  uns 
gesagt,  ähnliche  Übergänge  von  dem  Sehfeld  vor 
uns,  oder  der  Bildfläche ,  die  wir  grade  betrachten, 
zu  den  folgenden  links  und  rechts,  wie  sie  etwa  im 
Innenraum  rechtwinklig  aufeinanderstossen.  Die  archi- 
tektonische Raumbildung  führt  hier  für  gewöhnlich 
die  regelmässige  stereometrische  Form  durch ,  be- 
tont eben  im  rechtwinkligen  Aufeinanderstossen  der 
Wände  die  Gesetzmässigkeit  ihrer  Schöpfung  nach 
den  Anforderungen  der  abstrakten  Raumvorstellung. 
Für  das  lebendige  Gefühl  des  menschlichen  Subjekts 
in  solchem  Räume  walten  hier  ebensogut  die  natür- 


Gestaltungsräume  und  Bildflächen 


163 


liehen  Bedingungen  unseres  Sehens ;  die  Muskel- 
empfindungen, die  unsere  Augenbewegung  begleiten, 
erregen  die  verwandte  Sphäre  der  Tastregion  und 
qualificieren  auch  diese  Stelle  der  überleitenden 
Kurvatur  als  Spielraum  für  unsere  Bewegungsvor- 
stellungen und  die  Formvorstellungen  nach  Analogie 
unsres  organischen  Leibes. 

So  finden  wir  den  Bildraum  des  Malers  an  den 
Wänden  ringsum,  nach  unten  und  oben,  nach  links 
und  rechts  umgeben  von  Gebietsteilen  des  bildsamen 
Gestaltungsraumes  und  kommen  zu  dem  Schluss: 

Wo  der  nahe  Umkreis  um  uns  selbst,  in  dem 
wir  dreidimensionale  Körper  gleich  dem  unseren  er- 
warten und  anzutreffen  gewohnt  sind,  also  das  Be- 
reich der  Rundplastik,  aufhört  und  sich  der  ent- 
fernteren Distanzschicht  des  Fernbildes  nähert,  da 
liegt,  zum  Teil  noch  in  dieses  Sehfeld  hineinragend 
oder  doch  häufig  noch  mit  wahrgenommen,  die 
Übergangssphäre,  wo  die  Reliefanschauung 
waltet.  Hier  ergiebt  sie  sich  für  unsere  menschliche 
Organisation  ganz  natürlich ;  denn  hier  gleitet  für 
unser  Auge  wie  für  unser  Körpergefühl  die  Auffas- 
sung der  Einzelkörper  für  sich  in  die  Auffassung 
ihres  Zusammenhanges  über,  sei  es  unter  einander, 
sei  es  mit  ihrer  räumlichen  Umgebung.  So  erklärt  sich 
die  Entstehung  der  Reliefkunst  aus  der  Natur  dieser 
in  unserem  Verhältnis  zur  Aussenwelt  vorhandenen 
Übergangssphäre  und  zugleich  ihr  Charakter  als 
Zwischenreich  zwischen  Plastik  und  Malerei. 

Ihr  Gestaltungsraum  unterscheidet  sich  von  dem 
der  Rundplastik  dadurch,  dass  er  nach  hinten  von 

1 1  * 


164 


Relief  -  Anschauung 


einer  festen  und  undurchsichtigen  Gränzfläche  ab- 
geschlossen wird  und  an  dieser  tektonischen  Scheide- 
wand des  bildsamen  und  durchschaubaren  Raumes 
haftet.  Diese  tektonische  Fläche,  mag  sie  (wie  bei 
Grabstelen)  frei  aufgerichtet  stehen  oder  als  Bestand- 
teil zu  einer  massiven  Mauer  gehören,  schneidet  die 
Möglichkeit  ab ,  das  Bildwerk  anders  als  von  der 
Vorderseite  zu  betrachten.  Im  Übrigen  jedoch  lässt 
sie  den  Wechsel  des  Standpunktes  gegenüber  dieser 
vorderen  Parallelebene  ebenso  offen,  wie  sonstige 
tektonische  Gebilde,  die  an  einer  Fläche  haften,  d.  h. 
sowol  seitliche  Verschiebung  auf  der  Standlinie  des 
Beschauers  als  auch  Veränderung  des  Abstandes 
selber.  Die  tektonische  Scheidewand  hinten  hebt 
jedoch,  für  diese  Betrachtung  selbst,  das  Vordringen 
des  Blickes  in  die  Tiefe  dadurch  auf,  dass  sie  den 
weitern  Raum  abschneidet.  So  wirkt  sie  als  nega- 
tive Instanz,  indem  sie  die  Konsequenz  des 
Schauens  von  einem  festen  und  entfernten  Stand- 
punkt verbietet.  Eben  dadurch  hält  sie  positiv 
die  freie  Wahl  seitlicher  Bewegungen  und  die  Be- 
rechtigung des  tastenden  Sehens  aus  der  Nähe  — 
zur  Ergänzung  offen.  Sie  wirkt  als  positive  Instanz 
ferner  dadurch,  dass  sie  selbst  wie  den  weiteren 
Raum  auch  den  weiteren  Zusammenhang  überhaupt, 
die  Garantie  aller  sonstigen  Bedingungen  räumlich- 
körperlicher Existenz  bedeutet.  So  zwingt  sie  die 
Anwandlungen  zu  fortschreitender  Tiefenbewegung, 
die  unsre  Vorstellung  vollzieht,  zurückzustauen 
und  in  der  einen  Schicht  des  Gestaltungsraumes  sich 
auszubreiten,  damit  aber  zur  Körpervorstellung,  von 


Das  Zwischenreich  der  Reliefkunst 


165 


der  die  Gestaltung  ausgegangen,  immer  als  zur  Haupt- 
sache heimzulenken. 

Die  Reliefvorstellung  fusst  also  auf 
dem  Eindruck  eines  Fernbildes  ebenso 
wenig,  wie  sie  auf  dem  nahen  Standpunkt 
kubischer  Körperschau  allein  beruhen 
kann.  Das  wenigstens  glauben  wir  grade  vom 
klassischen  Relief  der  Griechen  aussagen  zu  dürfen. 


VI. 


DIE  RELIEFKUNST 

us  diesen  Erwägungen  über  die  verschiedenen 
Faktoren,  die  zur  Reliefvorstellung  zusam- 
menwirken und  die  Übergangssphäre  charak- 
terisieren, wo  deren  künstlerische  Behandlung  sich 
ergehen  kann ,  muss  aber  noch  Eins  hervortreten : 
Die  Beziehungen  der  Reliefkunst  erstrecken  sich 
nicht  allein  nach  der  Seite  der  Malerei,  deren  Pro- 
blem, den  räumlichen  Zusammenhang  zwischen  den 
Körpern  darzustellen,  sie  aufnimmt  und  mit  den 
Mitteln  der  Plastik  zunächst  zu  lösen  versucht,  son- 
dern sie  erstrecken  sich  auch  ebenso  nach  der  Seite 
der  Tektonik.  Ja  diese  müssen  ihr  näher  liegen,  so 
lange  sie  ihre  Gestaltung  vorerst  als  Körperbildnerin 
fortzusetzen  trachtet.  An  die  Nachbarin  Tektonik 
lehnt  sie  sich  an,  an  die  Bedingungen  ihrer  regelmä- 
fsigen  Formen,  an  ihre  stereometrische  Gesetzmäfsig- 
keit  knüpft  sie  die  Darstellung  organischer  Körper, 
wo  diese  nicht  mehr  auf  sich  selber  allein  beruhen 


Darstellung  des  Zusammenhangs 


167 


können,  wo  nicht  deren  Körperlichkeit,  sondern 
deren  Zusammenhang  im  Räume  zum  Hauptanliegen 
geworden  ist.  Zu  den  Errungenschaften  der  Kry- 
stallisation  und  zum  Glauben  an  die  Beharrung  ihrer 
Gebilde  muss  die  Plastik  ihre  Zuflucht  nehmen, 
wenn  der  dreidimensionale  Komplex  in  ihrer  eige- 
nen Organisation  nicht  stark  genug  mehr  ausfällt, 
um  sich  selber  aufrecht  zu  erhalten,  oder  wenn  die 
Bewegung,  die  sie  zu  fassen  sucht,  den  Grundstock 
ihrer  Körperbildung  ins  Schwanken  bringt.  Das 
heisst  also ,  das  Zwischenreich ,  das  die  Reliefkunst 
für  sich  gründen  mag,  liegt  nicht  zwischen  Malerei 
und  Plastik  im  engeren  Sinne ,  sondern  wir  müssen 
Plastik  hier  in  dem  weiteren  Sinne  verstehen,  den 
wir  für  die  ,, Körperbildnerin"  aufgestellt  haben,  ver- 
möge dessen  sie  auch  den  verwandten  Charakter 
der  Tektonik  mit  umfasst ;  dies  Zwischenreich  be- 
rührt also  die  Gränze  des  tektonischen  Schaffens 
und'  übernimmt  die  Handhabung  seiner  Gesetze,  so- 
weit sie  selber  sich  dadurch  zu  sichern  oder  son- 
stige Vorzüge  zu  gewinnen  vermag.  Die  eigentlich 
plastische  Behandlung  aber ,  die  Körpervorstellung 
nach  dem  Ebenbilde  des  Menschen ,  also  die  Orga- 
nisation und  Belebung  in  diesem  Sinne,  bleibt  doch 
der  Mittelpunkt,  wo  der  Kern  ihres  Wesens  zu 
suchen  ist.  So  stellt  also  in  der  Reliefkunst  sich 
ein  ähnliches  Verhältnis  heraus,  wie  in  der  Gruppen- 
bildung, als  deren  weitere  Fortsetzung  wir  ihre  Be- 
strebungen nach  Wiedergabe  eines  Zusammenhangs 
auffassen  dürfen.  Auch  hier  giebt  es  eine  specifisch 
plastisch  gesonnene  Mittelregion  und  zwei  Abzwei- 


1G8 


Die  Reliefkunst 


gungen  davon  :  einmal  nach  der  Seite  der  Tektonik, 
das  andre  mal  nach  der  Seite  der  Malerei.  Inso- 
fern aber  das  Relief  über  die  Gruppe  hinausstrebt 
auf  das  nämliche  Ziel  hinüber,  muss  auch  die  Ten- 
denz zum  Malerischen  überwiegen,  und  zwar,  so 
weit  dies  nicht  in  der  Natur  des  Problemes  selber 
liegt,  jedenfalls  durch  den  Erfolg  und  den  Fortgang 
der  geschichtlichen  Entwicklung,  der  die  Zukunft 
gehörte. 

So  gelangen  wir  dazu,  im  Unterschied  von  der 
bisher  üblichen  Bezeichnung  nach  den  beiden  Ex- 
tremen der  plastischen  Rundung  Flach-  und  Hoch- 
Relief,  und  im  Unterschied  von  Hildebrand,  der  das 
klassische  Hochrelief  der  Griechen  lieber  als  Tief- 
Relief  definieren  möchte  (S.  71),  eine  erste  grund- 
legende Dreiteilung  aufzustellen,  die  sowol  den  na- 
türlichen Bedingungen  unsres  Sehraumes ,  unsrer 
Tastregion  und  unsrer  Ortsbewegung  auf  der  einen 
Seite,  wie  dem  Charakter  der  künstlerischen  Auf- 
fassung, der  sich  ebenso  natürlich  nur  auf  solcher 
psychologischen  Grundlage  entwickeln  kann,  gerecht 
zu  werden  versucht.  Wir  unterscheiden  als  Haupt- 
klassen das  Flachrelief,  das  Hochrelief  und 
das  Tiefrelief  von  einander,  indem  wir  unter 
dem  letzten  etwas  ganz  anderes,  als  Hildebrand 
vorschlägt,  verstehen  müssen.  Es  liegt  auch  hier 
in  der  Natur  der  Sache,  dass  der  Zweck  solcher 
Einteilung  nur  die  Klärung  der  Begriffe  und  die 
Übersichtlichkeit  des  historischen  Materials  oder  der 
künstlerischen  Richtungen  sein  kann,  nicht  aber  die 
Aufrichtung  starrer  Gränzen,  zwischen  denen  es  keine 


Drei  Hauptarten 


169 


Vermittlung  gäbe.  Im  Gegenteil,  wir  werden  schon 
im  Interesse  der  Ästhetik  hier  auf  solche  Mittelstufen 
ausdrücklich  eingehen.  Unsere  Auffassung  der  Relief- 
kunst als  ein  Ubergangsgebiet  bestätigt  sich  grade 
durch  den  Sachverhalt,  dass  die  Gränzen  der  ver- 
schiedenen Stadien  in  einander  fliessen ,  also  nur 
relativ  bestimmt  werden  können.  Das  Gestaltungs- 
princip  ist  jedoch  in  den  drei  Hauptklassen  so  grund- 
sätzlich von  einander  verschieden,  dass  eine  genaue 
Definition  versucht  werden  muss. J) 

Das  Hochrelief  bestimmt  sich  nicht  allein  nach 
dem  äussersten  Mafs  der  Erhebung,  von  dem  der 
Name  ausgeht,  indem  es  die  dritte  Dimension  der 
dargestellten  Körper  bis  zur  Ubereinstimmung  mit 
der  Wirklichkeit  ausdehnen  kann.  Denn  mit  diesem 
Mafsstab  wäre  ja  zunächst  auch  die  Forderung  der 
Lebensgrösse  gegeben,  an  die  sich  die  Relief kunst 
jedoch  ebensowenig  bindet  wie  die  Rundplastik. 
Es  gehört  als  ergänzende  Bestimmung  vielmehr  hinzu, 
dass  die  Normalhöhe  der  Figuren  die  Gesamthöhe 
der  Bildfläche  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  über 
den  Köpfen  also  keinen  leeren  Luftraum  übrig  lässt. 
Damit  ist  die  Wirkung  unter  Lebensgrösse  für  die 
Vorstellung  ausgeschlossen,  mag  das  Mafs  in  Wirk- 
lichkeit sein,  welches  es  will.  Es  giebt  keinen  Raum 
ausser  dem  durch  die  Körper  selbst  erfüllten,  also 
auch  weder  in  der  Höhe  noch  in  der  Tiefe  eine 


i)  Ich  gebe  sie,  wie  seit  Anbeginn  meiner  Lehrtätigkeit,  im 
Sinne  meiner  ganzen  Kunstlehre,  darf  also  anderweitige  Versuche, 
die  von  fremden  Gesichtspunkten  ausgehen,   ausser  Betracht  lassen. 


170 


Die  Reliefkunst 


Macht,  die  diese  dargestellten  Wesen  herabdrücken 
oder  verkürzen,  gefährden  oder  irgendwie  beeinflussen 
könnte.  Nur  gleich  organisierte  Geschöpfe  treten  mit 
ihnen  auf,  sei  es  als  Gefährten,  sei  es  als  Gegner; 
also  der  Mensch  und  sein  Ideal,  der  Heros  oder  gar 
der  Gott,  dazu  das  bodenständige  Tier  in  seiner 
Gemeinschaft,  das  Ross,  der  Hund,  das  Rind  u.  s.  w., 
oder  im  Kampfe  wie  der  Löwe,  der  Hirsch,  der 
Eber  u.  s.  w.,  während  der  Adler  aus  der  Luftregion 
nur  als  Körper  unter  gleichen  Bedingungen  zugelassen 
wird  und  selbst  der  Drache,  die  Schlange  sich  zum 
gleichwertigen  Gebilde  zusammenballt.  Das  Höhen- 
mafs  des  Menschen  überträgt  sich  gar  auf  die  andern 
organischen  Geschöpfe,  die  grösser  sind  als  er,  auf 
die  Tiere  sowol  wie  auf  den  Baum,  indem  es  sie 
herabmindert,  oder  auf  die  kleineren,  indem  es  sie 
vergrössert.  Der  Wert  des  Hochreliefs  aber  besteht 
grade  in  diesem  Festhalten  der  Körpervorstellung 
im  Sinne  der  echten  Plastik,  also  des  organischen 
Menschenleibes  vor  allen  Dingen.  Nur  Einer  Macht, 
die  über  sie  alle  hingeht,  haben  sie  ausserdem  sich 
anzubequemen,  das  ist  die  des  Bundesgenossen,  durch 
den  sie  als  Formgebilde  sichtbar  werden,  das  Licht. 
Die  Gliedmafsen  der  Vorderseite  mögen  sich  in  voller 
Rundung  vom  Rumpfe  abheben ;  aber  sie  dürfen 
keinen  Schatten  werfen  auf  die  Nachbarformen,  so 
dass  diese  dadurch  zerrissen  oder  unkenntlich  werden, 
-  also  die  Deutlichkeit  der  Erscheinungsform  für  die 
Erkennung  des  Gegenstandes  ist  die  erste  Forderung. 
Eine  gewisse  freie  Entfaltung  jedes  Einzelkörpers, 
die  dabei  unsrer  Vorstellung  entgegenkommt,  wird 


Das  Hochrelief 


171 


die  Komposition  beherrschen.  Sie  ist  auch  für  die 
weitere  Durchbildung  der  Leiber  in  der  dritten  Di- 
mension von  Vorteil ,  indem  sie  alle  schwierigen 
Komplikationen  vermeidet.  Da  kommt  es  auf  wirk- 
lichkeitsgemäfse  Verhältnisse  in  der  Dicke  wenig  an, 
wenn  nur  die  volle  Wirkung  ihres  Scheines  erreicht 
wird,  und  auch  dieser  verläuft  am  sichersten  ohne 
Überschneidungen  und  Unterbrechungen  bis  zur  ge- 
lungenen Rechenschaft  über  die  Gegenseite  der  Ge- 
stalt im  Grunde.  Dient  doch  diese  offene  Haltung 
und  freie  Uberschau  des  ganzen  Körpergebildes  auch 
am  besten  dem  innersten  Anliegen  des  plastischen 
Künstlers,  die  „plastische  Schönheit"  der  Kreatur  zu 
zeigen  und  dem  Genuss  des  Beschauers  aufzutischen. 
Aber  freilich  der  Reliefbildner  geht  nicht  auf  die 
Wiedergabe  der  organischen  Schönheit  des  Einzel- 
wesens allein  aus ;  er  will  sie  im  Zusammenhang 
mehrerer  zeigen,  wo  die  Reize  der  Bewegung  und 
Beziehung  sich  so  viel  reicher  entfalten. 

Wo  kann  also  bei  einer  Vielheit  von  Organismen, 
die  nebeneinander  ausgebreitet  werden,  die  Einheit 
liegen,  die  das  Kunstwerk  erst  zum  Ganzen  erhebt?  Die 
Frage  liegt  ähnlich  wie  bei  der  Gruppe.  Aber  die  Ant- 
wort wird  schon  durch  die  grössere  Anzahl  von  Figu- 
ren, die  das  Relief  zu  enthalten  vermag,  noch  eher  von 
der  Aufrechterhaltung  des  organischen  Gesichtspunktes 
oder  der  möglichsten  Annäherung  an  diesen  zurück- 
stehen und  die  einheitliche  Zusammenfassung  anderswo 
suchen  als  in  der  Komposition  allein.  Verschliesst 
sich  nicht  dieser  die  Möglichkeit  eines  strengeren 
Koncentrierens  durch  die  Abschneidung  der  Tiefen- 


172 


Die  Relief  kunst 


dimension,  die  über  das  Volumen  des  Einzelkörpers 
nicht  hinausreicht?  Da  bleiben  nur  die  erste  und 
die  zweite  Dimension  übrig,  die  zusammen  in  der 
Fläche  liegen.  Wieder  die  tektonische  Scheidewand, 
die  den  Figuren  ihren  Rückhalt  gewährt?  Nein,  sie 
garantiert  schon  den  wirklichen  Zusammenhang  als 
Ding  der  Wirklichkeit  oder  höchstens,  wenn  ein 
Rahmen  an  der  Vorderseite  hinzukommt,  als  Sache 
der  Schwesterkunst  Tektonik.  Aber  eben  die  Vorder- 
seite, an  der  dieser  Rahmen  schon  die  Hand  der 
Kunst  bezeichnet,  sie  muss  es  sein,  die  auch  das 
plastische  Schaffen  zuerst  durch  seine  Behandlung 
zur  Einheit  zu  entwickeln  strebt.  Die  vordere  Pa- 
rallelebene muss  auch  die  Einheit  des  Zusammen- 
hangs darbieten,  die  dem  Bildwerk  als  künstlerischer 
Schöpfung  das  Recht  des  Daseins  gewährt.  Die 
Höhendimension  aber  ist  bereits  der  organischen 
Einheit  gewidmet,  kein  Versuch  darüber  hinauszugehen 
möglich.  In  der  Breite  reihen  sich  diese  organischen 
Einheiten  nebeneinander.  Hier  allein  könnten  die 
ersten  Versuche  gemacht  werden,  und  hier  werden 
sie  in  der  Tat  angestellt.  Zuerst  können  sie  nur 
wieder  auf  die  Anordnung  der  Einzeigrössen  im 
Nebeneinander  verfallen,  also  die  zweite  Dimension 
als  Länge  von  einem  Ende  bis  zum  andern  auffassen, 
für  den  entlang  schreitenden  oder  blickenden  Be- 
trachter, oder  aber  als  Breite  von  der  Mittelaxe  aus 
nach  beiden  Seiten,  also  für  den  stillstehenden  Be- 
schauer auf  seinem  festen  Standpunkt.  Die  Erste 
führt  zu  den  Gesetzen  der  regelmäfsigen  oder  alter- 
nierenden Reihung,  die  Andre  zu  den  Gesetzen  der 


Das  Hochrelief 


173 


Symmetrie  auf  beiden  Seiten  der  ideal  eingelegten 
Mittelaxe  oder  einer  körperlich  ausgebildeten  Do- 
minante. Das  sind  aber  Beides  nur  Übertragungen 
der  Gliederungsprincipe ,  die  aus  der  Ornamentik 
stammen,  und  deren  letztes  erst  zur  Einheit  führen 
mag,  indem  es  mit  gleichwertigen  organischen  Ge- 
bilden eine  Gruppierung  ermöglicht,  die  in  der  Fläche 
schon  zum  Ausdruck  kommt.  Eben  damit  ist  aber 
auch  ausgesprochen,  dass  sie  keine  specifische  Lei- 
stung des  Hochreliefs  bedeutet,  das  seine  Figuren 
voll  ausrundet.  Sie  erscheint  bei  solchem  Aufwand 
von  Mitteln  der  Körperlichkeit  wie  ein  Surrogat; 
diese  Einheit  kann  durch  andre  Verfahren  auch  schon, 
vielleicht  gar  vollkommener  geleistet  werden.  Also 
muss  auch  die  charakteristische  Eigenschaft  des  Hoch- 
reliefs, die  grade  in  der  adäquaten  Entwicklung  der 
Tiefendimension  seiner  Gestalten  liegt,  zu  der  Einheit 
wenigstens  soweit  mitwirken,  wie  sie  gegeben  wird. 
Nicht  in  der  Vorderfläche  allein,  sondern  in  der 
Flächenschicht,  die  den  Gestaltungsraum  ausmacht, 
muss  die  Einheit  erreicht  werden.  So  tritt  zur  Aus- 
breitung der  organischen  Gebilde  in  ihrer  gegebenen 
Höhe  und  ihrer  gewählten  Aufreihung  noch  ein  Drittes 
hinzu,  das  auch  den  Zusammenhang  in  der  dritten 
Axe  der  Körper  vermittelt,  das  ist  die  Entfaltung 
dieser  Figuren  nach  hinten  zu.  Aber  nicht  direkte 
Betonung  dieser  Koordinate  in  ihrer  senkrechten 
Stellung  zur  Breiten-  und  Höhenaxe  ist  das  Ver- 
mittelnde ,  also  nicht  die  volle  Vorderansicht  und 
Rückansicht  der  Körper  oder  die  scharfe  Profilstellung, 
sondern  die  diagonale  Richtung  erfüllt  diese  aus- 


174 


Die  Reliefkunst 


gleichende  Verbindung,  also  die  Schrägstellung  der 
Figuren.  Diese  Dreiviertelansicht  ist  aber  grade  der 
offenen  Haltung  und  freien  Überschau  günstig,  von 
der  wir  gesprochen.  Indess  die  Leitungsbahn,  auf 
der  sich  allein  die  Vermittlung  bewegen  kann,  die 
Körperform  selbst,  versagt  ja  bald,  da  die  Gränz- 
fläche  hinten,  wie  gesagt,  die  weitere  Raumtiefe 
schliesst.  Nicht  sie  also,  die  Raumvorstellung  als 
solche,  vermag  die  Trägerin  der  gesuchten  Einheit 
zu  werden,  sondern  nur  die  innigste  Gemeinschaft 
der  Gestalten  und  ihres  eigensten  zugehörigen  Raum- 
volumens, in  der  gegebenen  Flächenschicht. 

Hier  aber  waltet  als  Medium,  das  sich  über  alle 
ergiesst ,  die  selbe  Macht ,  durch  die  sich  die  Ge- 
schöpfe des  Bildners  dem  Auge  darstellen,  das  Licht. 
Es  dringt  wie  die  Formen  selber,  die  des  Bildners 
Hand  gerundet,  bis  an  jene  Scheidewand  und  um- 
giebt  die  festen  Bestandteile  der  Masse  mit  dem 
Hell  und  Dunkel ,  das  sie  fürs  Auge  ,, modelliert", 
in  dem  wir  ein  Ergebnis  unsrer  tastenden  Hände  auf 
den  Gesichtseindruck  übertragen.  Sollen  wir  Rechen- 
schaft ablegen ,  was  im  Relief  wirklich  vorliegt ,  so 
können  wir  nur  auf  Ausdrücke  verfallen,  die  an 
zeitliche  Vorstellungen  appellieren,  wie  ,, Flächen- 
bewegung", die  also  mehr  auf  die  Frage  nach  dem 
Werden  als  nach  dem  Sein  antworten.  Oder  wir 
verbinden  diese  Stadien  künstlich,  indem  wir  von 
der  ,,Undulation  der  Masse"  behaupten,  sie  müsse 
plötzlich  ,, geronnen"  sein.  Dabei  aber  übergehen 
wir  ganz  die  Gegenstandsvorstellungen ,  die  dies 
Substrat  erweckt,  und  deren  weitere  Associationen. 


Das  Hochrelief 


175 


Genug,  die  Einheit  besteht  nicht  etwa  in  einer  ge- 
läuterten Gesichtsvorstellung  allein ,  nicht  in  dem 
optischen  Genuss ,  wie  ihn  harmonische  Verteilung 
der  Schatten  und  Lichter  zu  gewähren  vermag, 
sondern  auch  hier  in  einer  Synthese,  die  unsre  Vor- 
stellungstätigkeit auf  Grund  aller  Anregungen  leistet, 
die  der  Künstler  ihr  zuführt. 

Unsere  Erörterung  der  Möglichkeiten  bei  Ge- 
legenheit des  Hochreliefs  muss  schon  die  Punkte 
hervortreten  lassen,  wo  die  Abweichungen  anzusetzen 
vermögen.  Es  wäre  darnach  leicht,  die  Umbildung 
nach  ihren  verschiedenen  Richtungen  hin  als  all- 
mähliche Verschiebung  des  Princips  zu  schildern ; 
doch  wird  es  an  dieser  Stelle  ratsam ,  auch  die 
Gegensätze  scharf  hervortreten  zu  lassen. 

Wenn  das  Hochrelief  als  die  eigentlich  plastische 
Lösung  des  Problems ,  den  Zusammenhang  orga- 
nischer Körper  in  den  Gränzen  ihres  Gestaltungs- 
raumes selber  mit  Hülfe  nur  eines  festen  unbezeich- 
neten  Hintergrundes  darzustellen,  betrachtet  werden 
muss,  und  auch  seine  stärkste  Modellierung  durch 
die  entstehenden  Gegensätze  von  Hell  und  Dunkel 
zunächst  nur  als  Äusserung  des  nämlichen  eminent 
plastischen  Sinnes  aufgefasst  werden  darf,  dem  es 
um  die  vollrunde  Körperlichkeit  seiner  Gebilde  zu 
tun  ist,  so  fragen  wir  uns,  bis  zu  welcher  Gränze 
dieses  Princip  der  Gestaltung  auf  der  andern  Seite 
aufrecht  erhalten  werden  kann,  wo  es  gilt,  der  vollen 
Modellierung  durch  Schatten  und  Licht  zu  entsagen. 
Ihre  kräftigen  Kontraste  beschränkten,  wie  wir  sahen, 
die  Darstellung  der  Figuren  auf  offene  Haltungen 


176 


Die  Reliefkunst 


und  freie ,  durch  keine  Überschneidungen  gestörte 
Ansichten  des  Ganzen,  die  selbst  kontrastierende  Be- 
wegung der  korrespondierenden  Glieder  eines  Leibes, 
den  sogenannten  Kontrapost,  nicht  leicht  verträgt. 
Der  Ubertritt  aus  den  Bedingungen  im  Freien  zu 
der  einseitigen  oder  durch  Reflexe  zerstreuteren 
Beleuchtung  im  Innenraum  kann  ebenso  dazu  bei- 
tragen, auf  die  volle  Rundung  zu  verzichten. 

Da  begegnen  wir  zunächst  einer  Übergangs- 
klasse, die  zwischen  dem  Hochrelief  und  dem  Flach- 
relief in  der  Mitte  liegt,  und  deshalb  von  den 
Italienern  ,,mezzo  rilievo"  genannt  wird.  Wir  können 
es ,  dem  Gesichtspunkt ,  den  wir  verfolgen ,  ent- 
sprechend ,  nach  der  andern  Bedeutung  des  selben 
Wortes,  als  Halbrelief  bezeichnen,  weil  seine 
charakteristische  Eigenschaft  darin  besteht,  dass  es 
die  Hälfte  des  menschlichen  Körpers,  von  der  jedes- 
maligen Schauseite  bis  an  die  Vertikalaxe,  wieder- 
giebt  und  für  diese  den  natürlichen  Eindruck  zu  er- 
reichen sucht,  so  dass  es  sich  zuweilen  zu  wirklicher 
Übereinstimmung  herausmodelliert.  Die  vordersten 
Formen,  die  dem  Beschauer  am  nächsten  liegen, 
erhalten  auch  hier  die  stärkste  Erhebung,  aber  sie 
lösen  sich  nirgends  wie  im  Hochrelief  zu  freier 
Rundung  los.  Noch  immer  kommt  es  dem  Bildner 
darauf  an,  die  Gliederung  der  Formen  in  ihrem 
Reichtum  zu  vermitteln ;  aber  die  starken  Kontraste 
der  Lichter  und  Schatten  gleichen  sich  aus,  und  ihre 
mildere  Auseinandersetzung  eignet  sich  besonders 
für  Innenräume  mit  seitlichem  oder  zerstreutem 
Licht,  die  dem  Hochrelief  widerstreben. 


Das  Halbrelief 


177 


Dies  Halbrelief  pflegt  auch  bei  Münzen, 
Medaillen  und  geschnittenen  Steinen  angewandt  zu 
werden ,  wo  es  sich  also  um  kleinen  Mafsstab  und 
nähere  Betrachtung  handelt,  solange  der  Beschauer 
sie  in  die  Hand  nimmt,  um  sie  zu  begucken.  Hin- 
kommt die  Beweglichkeit  des  Verhältnisses ,  die 
zwischen  ihm  und  dem  Bildwerk  eben  durch  die 
wechselnde  Verschiebung  der  Lage  sich  einstellt, 
begünstigend  hinzu,  um  die  natürliche  Beweglich- 
keit der  Oberfläche  organischer  Formen  zu  ge- 
messen, wie  sie  im  Spiel  der  zufälligen  oder  will- 
kürlichen Beleuchtung  zu  erscheinen  pflegt. 

Und  in  der  Tat,  die  Grundfläche  wirkt  immer 
wie  ein  schimmerndes  Medium,  das  uns  die  weitere 
Form  entzieht ,  um  so  entschiedener  natürlich ,  je 
mehr  von  der  Fläche  über  und  neben  den  Figuren 
stehen  bleibt.  Im  Verein  mit  der  weichen  fliessen- 
den Ausgleichung  der  Formen  für  den  darüber  hin- 
gleitenden Blick  unsrer  Augen  vermag  dieser  Hinter- 
grund, weiss  oder  gar  blau  getönt,  vielleicht  auch  in 
zarter  Vergoldung,  zum  Luftraum  zu  werden,  der 
lichtdurchtränkt  und  duftig  keine  scharfe  Durch- 
schneidung der  Raumaxen  mehr  erkennen  lässt  und 
keine  stereometrische  Härte  mehr  duldet. 

Noch  einen  weitern  Schritt  im  Verzicht  auf  den 
nahen  Genuss  der  Schönheit  organischer  Formen 
bedeutet  das  Basrelief,  das  die  eingehendere  Model- 
lierung und  innere  Gliederung  aufgiebt,  indem  es 
die  Schatten  hier  zu  Gunsten  des  Umrisses  aussen 
unterdrückt.  Indessen,  diese  Ableitung  aus  dem 
Halbrelief  entspricht  sicher  nicht  der  Entstehung  des 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  12 


178 


Die  Reliefkunst 


Flachreliefs,  das  von  dieser  raffinierteren  Übergangs- 
stufe grade  weit  entfernt  liegt.  Es  kommt  vielmehr 
auf  die  andre  Seite  seines  Charakters  an,  die  es 
der  Tektonik  nähert. 

Das  Flachrelief  bewahrt  das  Wesen  der 
tektonischen  Flächenschicht  auch  für  seine  künstle- 
rische Existenz  als  bildliche  Darstellung  fast  immer 
in  mafsgebender  Stärke.  Es  empfängt  die  Abbilder 
der  lebendigen  Geschöpfe  ursprünglich  nur  zur  Be- 
lebung seiner  Schauseite,  wie  jede  sonstige  Flächen- 
ornamentik, als  Zutat  von  sekundärer  Bedeutung. 
Auch  die  menschlichen  Gestalten  sind  an  sich  nicht 
mehr  als  die  geläufigen  Tier-  und  Pflanzenmotive, 
ja  als  stereometrische  und  planimetrische  Elemente, 
die  zur  einfachsten,  —  von  allen  Gegenstandsvor- 
stellungen vielleicht  noch  freien  Rhythmisierung  der 
Flächendimension  dienten.  Ihre  ästhetische  Funktion 
ist  so  lange  gewiss  nur  die :  den  simultanen  Ein- 
druck der  tektonischen  Form  in  successive  Auf- 
fassung zu  übertragen ;  denn  so  allein  vermögen  wir 
Menschen  die  starre,  an  sich  aller  Bewegung  fremde 
Raumgrösse  zu  ermessen,  also  auch  die  ,, Aus- 
dehnung" —  unsere  Sprache  übersetzt  ja  mit  diesem 
Wort  schon  die  Ruhe  in  Tätigkeit  —  nachzufühlen, 
an  uns  zu  erleben.  Es  ist  also  eine  Durchdringung 
von  Beharrung  und  Bewegung,  die  hier  stattfindet, 
wie  in  aller  künstlerischen  Behandlung.  Aber  im 
tektonischen  Körper  will  die  Beharrung  weit  über- 
wiegen. Es  wird  also  der  feste  Bestand  der  Stein-, 
Thon-  oder  Erzplatte  nur  an  der  Oberfläche  ein 
wenig  aufgelockert.    Nur  wie  ein  Hauch  des  Lebens 


Das  Flachrelief 


179 


haftet  die  einfache  Bemalung  oder  Zeichnung  darauf; 
etwas  weiter  dringen  Einritzung  und  Auskerbung, 
bis  zur  Gränze  der  ersten  dünnen  Flächenschicht, 
wo  wir  von  Basrelief  reden.  Der  feste  Charakter  des 
tektonischen  Bestandes  prägt  sich  auch  in  dieser 
konservativsten  aller  Reliefarten  aus ,  wo  immer  sie 
zum  plastischen  Bildwerk  ausgestaltet  wird.  Der 
Künstler  sucht  die  Einheit  in  dem  massiven  Volumen, 
dessen  Vorderseite  er  bearbeitet,  selbst.  Die  reale 
Fläche  mit  ihren  zwei  Dimensionen  überwiegt  ja  so 
stark.  Sie  repräsentiert  den  Raumkörper ,  aus  dem 
auch  die  Figuren  sich  nur  wie  leise  Protuberanzen 
hervorheben,  die  den  Gesamteindruck  der  Ebene 
kaum  alterieren.  Die  dritte  Dimension  ist  also  nur 
latent  in  dieser  Masse ,  noch  ungetrennt  von  den 
beiden  andern  Ausdehnungen ,  vorhanden ,  und  nur 
das  geringe  Quantum,  das  zwischen  der  tektonischen 
Fläche  und  der  ideellen  Parallelebene  vorn  liegt,  das 
niedrige  Mafs  der  Erhebung,  mit  dem  die  Figuren 
aus  dem  Grunde  vorspringen,  gehört  dieser  dritten 
Richtung  als  wirklicher  Spielraum,  in  dem  sie  ihre 
Kraft  versuchen  kann. 

So  wird  jede  weitere  Konsequenz  der  vollen 
Körperlichkeit  für  die  organischen  Gebilde ,  sofern 
sie  nicht  schon  in  der  flächenhaften  Erscheinung 
ihrer  Gesamtform  gegeben  liegt ,  von  vorn  herein 
abgewiesen.  Dem  Umriss  allein  fällt  die  Aufgabe 
zu,  beim  ersten  Blick  schon  die  zutreffende  Gegen- 
standsvorstellung zu  erwecken.  Das  Höhenlot  oder 
doch  die  Wachstumsaxe  bleibt  das  unentbehr- 
lichste  Wahrzeichen,    das    uns    nicht  vorenthalten 


180 


Die  Relief  kunst 


werden  darf,  wo  immer  es  gilt,  Unsresgleichen 
zu  erkennen.  Und  die  nämliche  Richtungsaxe  des 
Wachstums  brauchen  wir  bei  den  Tieren,  bei 
denen  sie  anders  liegt,  nämlich  mit  der  Rich- 
tungsaxe der  Ortsbewegung  zusammenfällt,  wie  beim 
Vierfüssler  und  beim  Fisch.  Bis  an  das  Rückgrat 
muss  der  Körper  des  Löwen  erscheinen,  wenn  die 
Auffassung  des  organischen  Gewächses  die  Haupt- 
sache bleiben  soll.  Um  diese  Mittelaxe  des  Wachs- 
tums reihen  sich  die  Paare  homologer  Glieder.  Sie 
wenigstens  muss  der  Umriss  bieten,  den  das  flache 
Relief  zu  seinem  wesentlichsten  Mittel  der  Dar- 
stellung ausbildet.  Von  der  Wachstumsaxe  geht  des- 
halb auch  die  Körperauffassung  des  Bildners  wie  des 
Beschauers  aus  und  folgt  der  Entfaltung  von  der 
Grundfläche  bis  an  die  vordere  Parallelebene ,  mit 
der  wir  die  Schauseite  wie  mit  einer  Glasplatte  be- 
deckt denken  mögen.  Sie  gewinnt  den  Schein  der 
Rundung,  weil  die  Erhebung  aller  vor  der  Mittelaxe 
gelegenen  Körperteile,  wie  der  Schultern,  der  Arme 
oder  was  sonst  dem  Betrachter  am  nächsten  steht, 
grade  die  geringste  bleibt.  Die  Andeutung  dieser 
inneren  Gliederung  begnügt  sich  mit  den  einfachsten 
Hauptsachen,  unterdrückt,  wie  gesagt,  die  Schatten 
zum  grossen  Teil,  um  den  äusseren  auf  der  Grund- 
fläche keine  Konkurrenz  zu  machen ;  denn  diese  sind 
die  unerlässliche  Voraussetzung  der  Deutlichkeit. 
Um  den  Umriss  auch  auf  hellem  Grunde  noch  hin- 
reichend sich  abheben  zu  lassen,  wird  er  so  be- 
handelt ,  dass  die  Erhebung  unvermittelt  und  senk- 
recht gegen  den  Grund  abtällt,  und  wo  auch  dieses 


Das  Flachrelief 


181 


nicht  hinreicht ,  wird  sie  wol  gar  unterschnitten, 
so  dass  eine  kräftige  Schattenlinie  den  Rand  der 
Form  begleitet.  Grade  der  Verzicht  auf  genauere 
Detaillierung  im  Innern  sichert  auch  dem  Umriss  den 
Schein  der  Rundung. 

Mit  diesem  Verzicht  gewinnt  aber  das  Flach- 
relief ausserdem  einen  Zuwachs  an  Körperhaltungen 
und  Bewegungsmotiven,  die  dem  Hochrelief  versagt 
blieben.  Der  Kontrapost  z.  B.  und  mancherlei  Ver- 
kürzungen oder  Überschneidungen  lassen  sich  mit 
voller  Klarheit  wiedergeben,  und  mit  ihrer  Hülfe 
eröffnet  sich  ein  Reichtum  von  Beziehungen,  der  mit 
dem  starken  Schattenschlag  des  höheren  Reliefs 
versucht  nur  Verwirrung  zerrissener  Formen  dar- 
bieten würde. 

Freilich  die  tektonische  Herkunft  und  Zurück- 
haltung des  Flachreliefs  erhält  auch  in  der  Kompo- 
sition lange  eine  ausgesprochene  Neigung  zu  strenger 
Gesetzlichkeit.  Sie  versucht  wol  gar  mit  den 
Gliederungsprincipien  der  regelmäfsigen  oder  alter- 
nierenden Reihung  und  der  symmetrischen  Grup- 
pierung der  Körper  im  schlichten  Nebeneinander 
auszukommen,  d.  h.  sie  begnügt  sich  mit  einer 
einzigen  Figurenreihe  und  vermeidet  jede  Anwand- 
lung zu  weiterer  Tiefenbewegung.  Aber  die  histo- 
rische Entwicklung  im  engen  Bunde  mit  der  Tek- 
tonik und  der  Baukunst  selbst ,  in  denen  diese  Ge- 
setze walten ,  hat  auch  die  plastische  Behandlung 
und  die  Komposition  des  Flachreliefs  weiter  ge- 
trieben, wie  es  schon  das  unvergleichliche  Meister- 
stück, der  P  a  r  t  h  e  n  o  n  f  r  i  e  s  ,  in  der  verschiedenen 


182 


Die  Reliefkunst 


Ökonomie  vereinzelter  oder  zusammengeschobener 
Figuren  je  nach  dem  Bestimmungsort  am  Bauwerk 
erkennen  lässt. 

Ein  andrer  Ansatzpunkt  für  weitere  Abwei- 
chungen der  Reliefkunst  liegt  sowol  im  Flachrelief, 
wie  im  Hochrelief  und  deren  Mittelglied,  dem  Halb- 
relief, an  der  Stelle,  wo  die  Grundfläche  sich  dem 
Fortschreiten  der  Tiefenbewegung,  die  unser  Auge 
und  unsre  Vorstellung  zu  vollziehen  trachten,  ent- 
gegenstellt. Diese  Gränze  zwischen  der  durchgestal- 
teten Schicht  und  dem  unbezeichneten  tektonischen 
Rückhalt  weiter  hinauszuschieben,  ist  ein  natürlicher 
Antrieb ,  der  sich  bei  jedem  der  bisher  erwähnten 
Gestaltungsgrundsätze  einstellen  mag.  Wie  nahe 
der  Drang  nach  dem  Hintereinander  mehrerer  Er- 
scheinungen liegt,  selbst  im  Flachrelief,  lehrt  ein 
Blick  auf  das  soeben  genannte  Beispiel  vom  Par- 
thenon. Bei  der  Höhe,  in  der  dieser  Zug  der 
Panathenäen  die  Cella  des  Tempels  schmückte,  und 
dem  verhältnismäfsig  nahen  Standort  der  Betrachter 
im  Peristyl,  hat  sich  von  selbst  ergeben,  die  Höhe 
des  Frieses  statt  der  Tiefe  auszubeuten :  die  Reiter 
besonders  steigen,  wo  die  Bewegung  staut,  zum  Teil 
übereinander  hinaus.  Unter  andern  Verhältnissen 
muss  ebenso  noch  die  Grundfläche  selber  für  eine 
weitere  Figurenschicht  herhalten,  aber  schon  wirk- 
lich hinter  der  vorderen  Reihe.  Dies  kann  nur  da- 
durch erreicht  werden,  dass  man  zwei  Principien  der 
Gestaltung,  einen  stärkeren  und  einen  schwächeren 
Mafsstab  der  Erhebung,  mit  einander  verbindet,  wie 
an  den  Triumphalreliefs  im  Titusbogen,  die  für  die 


Mischung  der  Gestaltungsprincipe 


183 


vorübergehende  Betrachtung  beim  Durchschreiten 
des  Tores  gedacht,  auch  nur  unter  diesen  Be- 
dingungen der  successiven  Auffassung  die  volle 
Lebendigkeit  und  plastische  Berechtigung  gewinnen. 
In  späteren  Versuchen  kühnster  Art  steigert  sich  die 
Verbindung  wol  zu  drei  verschiedenen  Abstufungen 
des  Hoch-,  Halb-  und  Flachreliefs,  freilich  stets  mit 
dem  Zwang ,  die  Höhendimension  des  Grundes  an 
Stelle  der  Tiefe  mitfungieren  zu  lassen.  Wenn  es 
auf  einen  gemeinsamen  Namen  für  diese  Kombina- 
tionen ankäme ,  so  würde  sich  wol  die  Bezeichnung 
als  gemischtes  Relief  am  natürlichsten  anbieten. 
Denn  sie  bedeuten  allesamt  keine  einheitliche  Lösung 
im  Sinne  eines  neuen  Gestaltungsprincipes  und  ver- 
tragen deshalb  fast  nie  eine  längere  eingehende  Be- 
trachtung, ja  nicht  einmal  ein  dauerndes  Verweilen 
auf  dem  günstigsten  Standpunkt,  wo  die  wirksame 
Erscheinung  doch  beim  ersten  Anblick  machtvoll 
genug  überraschen  mag. 

Schon  der  Aufbau  einer  Gruppe  von  Körpern, 
deren  Zusammenhang  auch  nach  der  dritten  Dimen- 
sion sich  aussprechen  soll ,  lässt  ohne  locker  hinzu- 
geordnete Lückenbüsser  eben  unausgefüllte  Lücken 
offen,  wo  der  Raum  als  solcher  mit  seinem  eigenen 
Anspruch  hineinschaut.  Die  reichen  Motive  der 
Verbindung  und  Durcheinanderschlingung ,  die  den 
sichtbaren  Zusammenhang  organischer  Geschöpfe  vor- 
wiegend im  Nebeneinander  von  einem  Ende  bis  zum 
andern  verfolgen,  sind  schnell  erschöpft.  Es  wird 
also  leicht  zu  Beziehungen  und  Verknüpfungen 
innerer  Art  vorgeschritten,    die   sich    nicht  völlig, 


184 


Die  Reliefkunst 


sondern  nur  teilweise  veranschaulichen  lassen,  also 
der  ergänzenden  Nachhülfe  der  Phantasie  bedürfen. 
Damit  aber  wird  die  an  sich  schon  successive  Auf- 
fassung im  Verfolg  des  durchgehenden  Zuges  noch 
transitorischer ,  ja  sozusagen  kryptopoetisch.  Nicht 
allein  Verkürzungen  und  Überschneidungen  rechnen 
mit  einer  Stärke  der  dritten  Dimension,  die  sich 
nicht  im  Relief  selber  bewährt,  sondern  auch  der 
Kausalnexus  giebt  uns  Anweisungen  auf  eine  da- 
hinter liegende  Welt,  die  wir  nicht  gewahren.  Das 
Alles  drängt  weiter  und  findet  eine  gemeinsame 
Möglichkeit  der  Befriedigung  erst  dann ,  wenn  die 
Einheit  nicht  mehr  in  der  Körpervorstellung,  im 
Sinne  des  plastischen  Schaffens  gesucht  wird ,  son- 
dern in  der  Raumvorstellung,  nach  Art  der  Malerei. 
So  entsteht  die  dritte  Hauptklasse  des  Reliefs ,  die 
wir  aufgestellt  haben : 

Das  T  i  e  f  r  e  1  i  e  f  ist  es  ,  das  die  künstlerische 
Einheit  von  den  Körpern  auf  den  Raum  verlegt  und 
diesem  räumlichen  Zusammenhang  die  tonangebende 
Rolle  im  Ganzen  überlässt.  Wenn  aber  die  Einheit 
nicht  in  der  ersten  und  zweiten  Dimension,  die 
schon  die  Fläche  bietet,  sondern  erst  in  der  dritten 
erreicht  werden  kann  und  soll,  so  muss  diese  Tiefen- 
dimension mächtiger  werden,  als  sie  im  Gestaltungs- 
raum der  Reliefschicht  bisher  in  allen  Fällen  ge- 
wesen ist.  Nicht  mehr  das  reale  Tiefenmafs  der 
Körper  ist  der  entscheidende  Faktor,  noch  der 
Körperschein  im  Nebeneinander  einer  gemeinsamen 
Flächenschicht,  sondern  eine  Mehrzahl  von  solchen 
Gründen  schiebt  sich  hintereinander,  die  obere  Luft- 


Das  Tiefrelief 


185 


region  über  den  Köpfen  der  Figuren  gewinnt  einen 
Zuwachs,  der  den  Einfluss  einer  unbezeichneten 
Region  der  weitern  Welt  fühlen  lässt,  und  erst  hinten 
im  Centraipunkt,  in  dem  alle  Parallellinien  nach  der 
Tiefe  zu  zusammenzugehen  scheinen ,  d.  h.  in  der 
letzten  Konsequenz  des  perspektivischen  Raum- 
scheines wird  auch  die  greifbare  Einheit  wieder  er- 
reicht. Damit  ergiebt  sich  als  Gesetz  dieser  Klasse 
die  sogenannte  Reliefperspektive,  die  den  natür- 
lichen Bestand  organischer  Körper  zurechtdrückt,  ver- 
kürzt und  auflöst  nach  dem  Bedürfnis  des  optischen 
Scheines.  Die  ganze  Rechnung  nähert  sich  also, 
soweit  dies  irgend  im  plastischen  Material  erreichbar 
wird,  dem  Bildraum  der  Malerei,  und  die  malerische 
Aufgabe  ist  es ,  die  dies  Relief  zu  lösen  versucht. 
Und  zwar  kann  hier ,  da  es  sich  nicht  wie  bei  den 
Anfängen  der  Malerei  um  eine  Projektion  auf  die 
Fläche  handelt,  sondern  um  einen  Hohlraum,  in  dem 
körperliche  Elemente  nach  Art  der  Koulissen  auf 
unsrer  Bühne  und  mehr  oder  minder  flachgequetschte 
Figuren  dazwischen  disponiert  sind ,  auch  für  den 
Beschauer  nur  um  einen  festen  und  entfernten  Stand- 
punkt handeln ,  der  noch  enger  als  unser  Theater 
jede  seitliche  Verschiebung  ausschliesst,  weil  sie  so- 
fort einen  Teil  der  illusionären  Wirkung  aufhebt. 
Diese  Klasse  des  Reliefs  muss  also  nach  dem  Grund- 
princip,  das  darin  waltet,  als  das  speciflsch  male- 
rische bezeichnet  werden,  während  bei  andern 
immer  nur  von  einzelnen  „malerischen  Wirkungen" 
oder  in  die  andersartige  Gesamtrechnung  aufgenom- 
menen Kunstmitteln  der  Malerei  die  Rede  sein  darf. 


186 


Die  Relief  kunst 


Hier  stellen  sich  auch  im  Fortgang  der  histo- 
rischen Entwicklung  alle  Folgerungen  ein,  die  sich 
unter  der  Herrschaft  der  Raumperspektive  ebenso  für 
die  körperlichen  Bestandteile  ergeben :  die  Ver- 
kleinerung ihres  Mafsstabes  schon  im  Vordergrund, 
die  Gleichstellung  der  organischen  Geschöpfe  mit 
den  Baugliedern  der  Architektur  oder  mit  andern 
Gegenständen,  die  zur  Bezeichnung  des  Schauplatzes, 
der  umgebenden  Welt  dienen.  Nur  dieses  Tief- 
relief entspricht  also  allen  Bedingungen  und  allen 
Anwartschaften  des  Fernbildes,  wie  es  unser  Seh- 
feld eröffnen  mag. *)  Aber  es  setzt  sich  im  Inter- 
esse der  Bildvorstellung"  auch  über  die  letzten 
Rücksichten  auf  annähernde  Übereinstimmung  mit 
der  Körperform  in  natura,  besonders  in  der  Dicke, 
vollends  hinweg.  Ebendeshalb  haben  alle  Verehrer 
des  klassischen  Reliefs  der  Griechen  stets  Einspruch 
dagegen  erhoben ,  und  auch  Hildebrand  sollte  wol 
vor  dieser  Konsequenz  seines  Princips  zurück- 
schrecken. 

Eine  ganze  Entstehungsgeschichte  dieses  male- 
rischen Tiefreliefs  aus  verschiedenen  Anläufen  stellt 
uns  die  Reihe  von  zehn  ,,Erzbildern"  an  der  Porta 
del  Paradiso  von  Ghiberti  am  Baptisterium  zu  Florenz 
vor  Augen.  Ein  weiteres  lehrreiches  Beispiel  sind 
die  Kanzelreliefs  von  Benedetto  da  Majano,  die  wir 
sogleich  eingangs   erwähnten.    Diesseits  der  Alpen 

i)  Ob  diese  Art  des  Tiefreliefs  aber  die  Forderungen  erfüllt, 
die  Hildebrand  mit  der  „einheitlichen  Tiefenvorstellung"  in  der 
Reliefanschauung  vom  entfernten  Standpunkt  geleistet  glaubt  (S.  67), 
das  ist  eine  andre  Frage. 


Perspektivisches  Flachrelief 


187 


mag  auf  das  typisch  malerische  Verfahren  am  Grab- 
mal Maximilians  in  Innsbruck  hingewiesen  werden, 
das  dem  ganzen  Norden  geläufig  wird.  Die  folgenden 
Jahrhunderte  bis  zum  Ausgang  des  Rokoko  sind  über- 
reich an  den  mannichfaltigsten  Leistungen  solcher  Art. 

Wie  wir  aber  ein  ausgeführtes  Gemälde  in  der 
Zeichnung  gleichsam  auf  einen  linearen  Auszug  zu 
reducieren  versuchen,  so  kann  das  Grundprincip  des 
Tiefreliefs  auch  auf  die  Bedingungen  des  Flach- 
reliefs eingeschränkt  werden,  um  auch  hier  die 
malerische  Anschauung,  bei  der  die  Raumeinheit 
überwiegt ,  durchzuführen.  So  entsteht  eine  Misch- 
art zwischen  den  beiden  äussersten  Extremen,  die 
wir  als  „perspektivisches  Flachrelief"  kurz- 
weg bezeichnen.  Donatello  hat  in  seiner  Schlüssel- 
übergabe (im  South  Kensington  Museum  zu  London) 
ein  Beispiel  geliefert,  das  über  den  malerischen  Cha- 
rakter der  Intention  keinen  Zweifel  lässt.  Seine  Ge- 
hülfen in  Padua  treiben  die  perspektivische  Kon- 
struktion noch  weiter.1)  In  der  ganzen  Reliefkunst 
des  Quattrocento  spielt  es  eine  wichtige  Rolle.  Das 
allerflachste  Relief  nähert  sich  dann  selbstverständ- 
lich im  Grunde  der  Gravierung  und  Zeichnung,  be- 
sonders der  einritzenden  Vorbereitung  damaliger 
Fresken  und  der  Silberstiftarbeit  auf  farbig  grundier- 
tem Papier  in  ihren  Studien,  —  d.  h.  auch  den 
technischen  Verfahrungsweisen  der  Malerei  als  Kunst. 

i)  Vgl.  Schmarsow,  Donatello,  Breslau  1886,  p.  16.  27.  33  fr. 
37.  41.  49.  M.  Semrau,  Donatellos  Kanzeln  in  S.  Lorenzo.  Bres- 
lau 1891  ,  besonders  das  aus  unsern  Seminarstudien  erwachsene 
Kapitel  über  Donatellos  Reliefkunst. 


VII. 

RELIEF  ANSCHAUUNG  UND  DEKORATION 


enn  die  Unterscheidung  dreier  Hauptarten  von 
Relief,  die  wir  zugleich  im  Hinblick  auf  Misch- 
arten und  Übergangsstufen  von  häufig  nicht 
minder  ausgebreiteter  Verwendung  entwickelt  haben, 
im  künstlerischen  Charakter  jeder  Einzelnen  begrün- 
det war  und  in  der  Lösung  des  Problems  einen 
Fortschritt  vom  Tektonischen  zum  echt  Plastischen 
und  von  da  weiter  zum  Malerischen  erkennen  Hess, 
den  die  normative  Ästhetik  sich  veranlasst  fühlen 
könnte,  sogleich  als  Aufstieg  zur  Höhe  und  Abstieg  zu 
bezeichnen,  und  gewiss,  so  lange  sie  den  Standpunkt 
der  Bildner  ei  als  mafsgebend  festhält,  mit  einigem 
Recht,  —  so  erhebt  sich  für  den  Weiterblickenden 
doch  die  Frage,  ob  die  praktische  Verwendung  dieser 
verschiedenen  Reliefarten  an  der  Hand  geschichtlicher 
Beispiele  und  theoretischer  Erwägung  dieser  Tatsachen 
nicht  auch  noch  zur  Erklärung  beizutragen  vermöge. 


Tektonische  Wandgliederung 


189 


Wurden  wir  doch  beim  Aufsuchen  der  Übergangs- 
region zwischen  der  kubischen  Nachbarschaft  des 
menschlichen  Subjekts  hier  und  der  Distanzschicht 
des  eigentlichen  Fernbildes  dort,  wo  die  Reliefanschau- 
ung 'sich  von  selbst,  als  Übergang  zwischen  Rund- 
plastik und  Flächenbild  ergab,  schon  auf  solche 
praktischen  Beispiele,  wie  den  Rahmen  des  Bildes, 
geführt. 

Wir  fanden  den  Rahmen  reliefmässig  profiliert 
entweder  nach  innen  gegen  die  Bildfläche,  oder  nach 
aussen  gegen  die  Wandfläche  schräg  verlaufend ;  wir 
fanden  ihn  aber  auch  von  beiden  Flächen  ansteigend 
mit  einem  First  in  der  Mitte  überhöht;  wir  fanden 
ihn  endlich  als  glatte  Leiste  nur  als  Gränze,  mehr 
als  andersfarbenen  Intervall,  denn  als  selbständiges 
Glied,  in  der  gleichmäfsig  durchlaufenden  Fläche 
behandelt.  Jedesmal  unter  andern  Bedingungen;  und 
nur  die  Relief behandlung,  die  bis  zur  vollen  Aus- 
rundung vortretender  Säulen  auf  den  Seiten,  wie 
Sockel  unten  und  Sims  oben,  fortschreiten  mochte, 
haben  wir  verfolgt.  Die  Analogie  mit  den  tektoni- 
schen  Gliedern  des  Raumgebildes  selbst  leuchtet  ein 
und  damit  der  Zusammenhang  aller  dieser  Möglich- 
keiten mit  der  Behandlung  der  Dekoration  des  Innen- 
raumes oder  des  Aussenbaues,  wie  die  Architektur 
als  Kunst  sie  in  ihrer  Rechnung  verwertet, 

Es  ist  die  Frage,  wie  weit  die  Reliefanschauung 
sich  auf  die  Ausgestaltung  des  Raumgebildes  im  Innern 
oder  des  Raumkörpers  nach  Aussen  übertragen  muss 
oder  darf,  in  deren  Zusammenhang  wir  auch  die  Frage 
nach  der  Wahl  dieser  oder  jener  Reliefart  und  damit 


190 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


zugleich  die  ebenfalls  berührte  Frage  nach  der  An- 
bringung rundplastischer  Werke,  Statuen  oder  Gruppen 
an  der  Wand,  zu  beantworten  hätten. 

Das  Kriterium,  nach  dem  wir  zu  befinden  haben, 
ist  bereits  aufgestellt,  wo  es  galt  den  Ursprung  und 
das  Wesen  der  Reliefvorstellung  selber  zu  erklären. 
Es  ist  in  der  Natur  des  menschlichen  Sehraumes 
als  einer  innern  Kugelfläche  gegeben.  Diese  hat 
sich  mit  der  regelmäfsigen  stereometrischen  Form  des 
architektonischen  Raumgebildes,  dessen  Wände  als 
senkrechte,  dessen  Boden  und  Decke  als  horizontale 
Ebenen  rechtwinklig  aufeinander  stossen,  sei  es  als 
Ganzes  im  Innern,  oder  gegenüber  jeder  Aussenansicht 
eines  Bauwerks,  wenigstens  nach  einer  Seite  hin  künst- 
lerisch auseinander  zu  setzen.  Gewisse  Bauwerke,  deren 
Innenraum  sich  der  Form  der  Sehsphäre  annähert,  so- 
weit es  die  Statik  auf  dem  Erdboden  als  notwendiger 
Unterlage  gestattet,  wie  das  Pantheon  und  verwandte 
Kuppelbauten,  nehmen  diesen  Ausgleich  in  den  Bau- 
gedanken selber  auf  und  geben  somit  eine  architek- 
tonische Lösung  des  Problems,  die  gewisse  Zeiten 
als  Ideal  beherrscht.  Im  Grossen  und  Ganzen  der 
geschichtlichen  Entwicklung  sind  sie  jedoch  Aus- 
nahmen, und  die  Auseinandersetzung  des  natürlichen 
Sehraums  mit  den  rechtwinkligen  stereometrischen 
Raumformen  der  Architektur  bleibt  die  Regel,  die 
wir  ins  Auge  zu  fassen  haben.  Jene  Centraibauten 
negieren  sogar,  da  sie  fast  nie  weiträumig  genug 
sein  können,  eine  Tatsache,  wo  Sehraum  und  Raum- 
form sonst  übereinstimmen,  nämlich  die  Auffassung 
des  Sehfeldes,   das  von  einer  gewissen  Distanz  an 


Sehraum  und  Bauwerk 


191 


nicht  mehr  als  Ausschnitt  einer  innern  Kugelfläche, 
d.  h.  als  Kalotte,  in  die  wir  hineinschauen,  sondern 
als  senkrechte  Ebene,  die  vor  uns  steht,  genommen 
wird.  Zwischen  den  vier  senkrechten  Ebenen  des 
Innenraumes  ringsum,  wie  zwischen  ihnen  und  den 
horizontalen  Ebenen  des  Bodens  unten  und  der  Decke 
oben,  liegen  indess,  wie  wir  besprochen  haben,  die 
Übergangskurven  des  Sehraums,  die  sich  für  unser 
Gefühl  auch  gegenüber  der  rechtwinkligen  Form  des 
Aufbaues  geltend  machen,  und  in  der  künstlerischen 
Ausgestaltung  dieser  Zonen  ihr  Recht  behaupten. 
Dies  Gefühl  wird  in  unsern  gewohnten  Raumverhält- 
nissen, besonders  in  Wohnungen  grade  in  der  untern 
Region  zwischen  Fussboden  und  Wand  sehr  ein- 
geschränkt, und  zwar  durch  die  Höhenlage  des  Fuss- 
bodens zu  unserm  Augenpaar,  so  dass  nur  der  oberste 
Teil  der  Kurvatur  gegen  das  Sehfeld  ansteigt.  In 
seiner  ganzen  Stärke  aber  meldet  es  sich  in  weiten 
hohen  Räumen,  zumal  wenn  wir  in  deren  Mitte  ein 
Podium  besteigen  oder  eine  Kanzel,  die  den  Fuss- 
boden für  unser  Schauen  ringsum  tiefer  legt  als  ge- 
wöhnlich, die  Lage  unsres  Augenpaars  dagegen 
höher ,  dem  Centrum  des  Axensystemes  der  Räum- 
lichkeit näher  rückt.  Ähnlich  ist  es  bei  offenen 
Treppenanlagen  der  Fall ,  bei  deren  Anstieg  etwa 
ein  Podest  die  Überschau  nach  unten  frei  legt. 

Eben  dieses  Beispiel  selbst  giebt  die  erste  starke 
Bewährung  unsres  Princips  in  dem  nach  unten  vor- 
springenden, nach  oben  zurückweichenden  Stufen- 
lager ,  etwa  bei  der  Frontansicht  eines  Tempels, 
oder  im  grösseren  Mafsstab  beim  Aufgang  zur  Akro- 


192  Reliefanschauung  und  Dekoration 


polis,  zum  Kapitol,  zur  Walhalla.  Die  Säulen  auf 
der  letzten  Stufe,  dem  Stylobat  selber,  sei  es  mit 
Fussplatte  und  Wulst  oder  ohne  sie  in  einfacher 
Ausladung  des  dorischen  Schaftes  nach  unten,  — 
sie  beweisen,  dass  hier  die  Kurvatur  des  Übergangs 
vor  dem  entschieden  senkrechten  Aufsteigen  zur  Höhe 
wirksam  genug  waltet.  Wo  statt  der  Säulen,  dieser 
eminent  plastischen  voll  ausgerundeten  Bauglieder, 
dagegen  die  massive  Mauer  aufsteigt,  wie  am  Unterbau 
des  Mausoleums  von  Halikarnass  oder  der  Altarstätte 
von  Pergamon,  da  bietet  die  Wandfläche,  wol  gar  durch 
Stufengang  daneben  erstrecht  herausgefordert,  eine 
Zone  des  Anlaufs  für  unsern  Blick,  der  in  vorquellen- 
den Formen  nach  unten,  in  zurückweichenden  nach 
oben  seinen  bildnerischen  Ausdruck  sucht,  und  ent- 
weder in  analogen  Kurven  tektonischer  Profile  oder 
vollends  in  plastischer  Gestaltung  befriedigt  wird. 
Jemehr  wir  durch  die  leise  Neigung  unsres  Augen- 
paares nach  abwärts  dazu  kommen,  den  Erscheinungen 
dieser  Sockelregion  sozusagen  auf  den  Kopf  zu  sehen, 
da  nähert  sich  dieses  Sehen  der  abtastenden  Prüfung 
ihres  Volumens ,  die  das  Vorhandensein  dreidimen- 
sionaler Körper  ausser  uns  konstatiert.  „Vorhanden 
sein"  heisst  im  ursprünglichsten  Sinne  unsrer  Mutter- 
sprache ja  ,,vor  Händen  sein",  d.  h.  in  greifbarer 
Nähe,  im  Umkreis  der  Tastregion. 

Grade  im  untersten  Streifen  des  monumentalen 
Raumkörpers  dicht  über  dem  Fussboden  liegt  also 
ein  Bereich  für  die  Gestaltung,  wo  ihr  die  mächtig- 
sten Associationen  mit  den  Erfahrungen  unsres  eigenen 
Leibes  entgegenkommen,  wo  überall  die  Analogieen 


Sockelregion  —  Hochrelief 


193 


leiblicher  Berührung  hervordrängen,  d.  h.  für  uns  die 
natürliche  Disposition  zu  vollplastischer  Auffassung 
entsteht.  Tektonik  und  Plastik  aber  setzen  sich  klar 
auseinander ,  indem  der  Erstem  die  stereometrische 
Form  des  Postaments  bis  zur  Ausladung  in  Stufen- 
absätzen zufällt,  der  Letztern  aber  die  Darstellung 
organischer  Körper  selbst.  Und  so  bestimmt  sich 
der  Charakter  des  untersten  Sockelreliefs  als  ein 
besonders  starkes  Hochrelief,  in  dem  der  For- 
mendrang sich  noch  elementarer  und  urwüchsiger 
regen  darf  als  in  den  höheren  Regionen ,  wo  auch 
die  reinem  Formen  wohnen.  Je  tiefer  die  Plastik 
herabgreift,  desto  mehr  quellen  ihre  Gebilde  nach 
unten  vor  — ■  nach  Analogie  des  ablaufenden  tek- 
tonischen  Profils,  das  an  ihre  Stelle  treten  müsste. 
Da  ist  es  denn  ein  erdgeborenes  Geschlecht,  das 
sich  wuchtiger  und  massiger  noch  daherwälzt ,  als 
der  leichtfüssigere  Menschensohn  auf  den  heiteren 
Gefilden ,  wo  die  Ordnung  der  Olympischen  sich 
ausbreitet.  Der  Titanenkampf  am  Unterbau  von 
Pergamon  ist  das  schlagende  Beispiel  für  unser 
ästhetisches  Verhältnis  zu  diesem  untern  Bezirk, 
das  natürlich  erst  zu  einer  Zeit  so  klar  zum  Austrag 
kommen  konnte,  in  der  die  Plastik  sich  frei  zu  be- 
wegen, nicht  nur  dem  strengen  Gesetz  der  Archi- 
tektur sich  zu  bequemen  gelernt  hatte,  ja  gelegent- 
lich auch  aufgelegt  war,  der  altern  Schwester  ihren 
Boden  abzuringen  für  den  plastischen  Drang  nach 
Organisation. 

Ringsum  am  Anstieg  eines  cylindrischen  Bau- 
werks, turmartig,  oder  bei  weiterer  Reduktion  des 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Reliefkunst.  13 


194 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


Hohlraums  als  einzeln  aufragende  Ehrensäule,  wäre 
die  nämliche  Behandlung  am  Platze,  nur  unter  be- 
stimmender Herrschaft  natürlich  des  architektonischen 
Gesamtprofils. 

Denken  wir  uns  aber  die  selbe  Reliefart  in  das 
Innere  einer  Tempelcella,  eines  Säles  versetzt,  so 
wird  sie  sich  sofort,  bei  nicht  sehr  weiten  Dimen- 
sionen als  Verengerung  des  untern  Spielraums  er- 
weisen. Sie  dringt  dem  menschlichen  Subjekt  so 
mächtig  mit  dem  Anspruch  gleichorganisierter  Körper 
entgegen,  dass  es  sich  beunruhigt  fühlt,  als  rückten 
diese  Wesen  ihm  auf  den  Leib.  So  verbietet  es  sich, 
je  mehr  der  Raum  zum  dauernden  Aufenthalte  dient, 
und  je  mehr  andrerseits  die  besondern  Bedingungen 
der  Beleuchtung  aus  dieser  untern  Region  auch  eine 
dunklere  Region  machen,  in  der  die  Ausgestaltung 
nur  als  einheitliche  Masse  zu  wirken  vermöchte.  So 
hat  gegossene  Erzarbeit  noch  länger  Berechtigung 
als  die  Bildhauerei,  in  Marmor  gar,  kann  aber  durch 
monochrome,  vielleicht  direkt  bronzefarbene  Malerei 
ersetzt  werden,  da  sie  in  der  Gesamtrechnung  doch 
nur  dekorativen  Wert  besitzt. 

So  steigt  die  Reliefanschauung  im  Innern  über 
tektonischem  Sockel  etwas  mehr  in  die  Höhe  und 
gewinnt  hier  kurz  vor  dem  Übergang  in  das  Sehfeld 
die  bequem  sichtbare,  aber  nicht  mehr  angetastete 
Zone  der  eigensten  Berechtigung,  die  wir  als  Ursprungs- 
bereich anerkannt  haben.  Nur  die  Bedingtheit  der 
Beleuchtung  zwingt  im  Innenraum  das  Hochrelief 
auf  diese  Stelle  zu  verzichten,  die  es  am  Aussenbau 
so  glücklich  behauptet.    Es  ist  die  Höhe  der  attischen 


Innenraum  —  Mezzorilievo 


195 


Grabstelen  mit  ihren  vollausgerundeten  Figuren  — 
vor  einer  Rückwand,  frei  oder  auch  von  beiden  Seiten 
durch  schmale  Wandstücke  eingeschlossen ,  —  die 
noch  den  Bedingungen  der  plastischen  Gruppe  ganz 
nahe  stehen.  Etwas  höher  hinauf  gewinnt  die  Tendenz 
zur  Ausbreitung  in  der  Fläche  schon  mehr  die  Ober- 
hand. Wo  aber  im  Innern  eines  Gemaches  seitliche 
Lichtzufuhr  die  Schlagschatten  der  ersten  Figuren 
am  Fenster  auf  die  Nachbarn  wirft ,  und  wol  gar 
weiter  in  der  Reihe,  da  muss  schon  das  Hochrelief 
verschwinden  und  wird  durch  das  nächstverwandte, 
das  Halbrelief,  ersetzt. 

In  der  Tat  gewinnt  an  dieser  Stelle  das  Mezzo- 
rilievo seine  eigentümlichste  Ausbildung,  und  zwar 
in  beträchtlichem  Umfang.  Es  eignet  sich  vorzüglich 
für  den  Innenraum  durch  die  intimste  Eigenschaft 
seines  Wesens,  da  es  nämlich  vom  tektonischen 
Grunde  aus,  in  dem  die  Höhenaxen  seiner  Figuren 
liegen,  sich  plastisch  entfaltet,  wie  im  leisen  Hervor- 
schieben der  organischen  Gestalt,  die  sich  gegen  die 
vordere  Parallelebene ,  wie  gegen  eine  Glasfläche 
drängt,  die  ihrerseits  als  Gränze  der  obersten  und 
nur  noch  schwächsten  Erhebung  den  Charakter  der 
Wand  als  Fläche  oder  des  darüber  hin  sich  aus- 
breitenden Sehfeldes  aufrecht  erhält.  —  Am  Aussen- 
bau  dagegen  räumt  ihm  das  Hochrelief  sein  natür- 
liches Vorzugsrecht,  in  dieser  Region  unter  freiem 
Himmel  zu  gedeihen,  nur  da  ein,  wo  es  gilt,  den 
architektonischen  Gesamtumriss  nicht  durch  Aus- 
ladung und  Auflockerung  zu  beeinträchtigen,  sondern 
ihn  am  ganzen  Bauwerk  geschlossen  zusammenzu- 

13* 


196 


Relief  an  schauung  und  Dekoration 


halten.  So  z.  B.  am  choragischen  Monument  des 
Lysikrates  und  an  Ehrensäulen,  wo  man  darauf  ver- 
fallen, sie  oberhalb  des  Sockels  und  der  Basis  noch 
figürlich  zu  schmücken,  oder  an  festen  Marmorvasen, 
wo  ähnliche  Bedingungen  vorhanden  sind. 

Je  mehr  aber  in  dieser  Höhe,  die  wir  prüfend 
mustern,  der  Charakter  der  tektonischen  Fläche  be- 
wahrt wird,  also  die  Wand  in  durchgehender  Eben- 
heit sich  ausbreitet ,  desto  stärker  macht  sich  an 
dem  Ende  des  Sehfeldes  links  und  rechts,  oder  gar 
in  den  Ecken  des  Sales ,  wo  die  Wände  aneinander 
stossen,  dies  bewegliche  Wesen  der  überleitenden 
Kurvatur  unseres  sphärischen  Sehraums  bemerkbar. 
Es  ist,  als  ob  die  Schärfe  des  architektonischen  Ge- 
setzes, die  diese  Stelle  schweifender  Bewegung  im 
rechten  Winkel  einschliesst ,  grade  den  Drang  nach 
Rundung  und  Schwellung  organischer  Formen  her- 
vortriebe. Hier  treten  nicht  nur  die  Pfeiler  als  Ein- 
fassung der  Wandflächen  und  als  Träger  des  hori- 
zontalen Gebälks  gern  sichtbar  heraus ,  sondern 
nehmen  zu  zweit  wol  gar  die  volle  Säule  in  ihre 
Mitte,  so  dass  sie,  gleichwie  die  Genossin  am  andern 
Ende  der  Wand  gegenüber,  als  kräftigste  plastische 
Bildung  den  Winkel  erfüllt.  Und  wo  die  tektonische 
Gliederung  des  Architekten  nicht  zu  solchem  Grade 
plastischer  Organisation  des  Innenraums  vorgeht,  da 
ersieht  sich  der  Bildhauer  den  günstigen  Platz  für 
eine  Statue  oder  gar  eine  Gruppe,  je  nach  der  Breite, 
zu  der  er  sich  im  Verhältnis  zu  den  beiden  an- 
stossenden  Wänden  hervorwagen  darf.  Sei  dies  Bild- 
werk aber  auf  eigenem  Sockel  nur  in  die  Ecke  ge- 


Vor  der  Wand  oder  in  der  Ecke 


197 


schoben  oder  mit  Hülfe  des  Baumeisters  durch  eine 
Nische  mit  den  Wänden  vermittelt ,  immer  spielt 
der  Schattenraum  für  die  Wirkung  mit  und  verschafft 
dem  figürlichen  Wesen  darin  eine  ziemlich  selbstän- 
dige Existenz  und  Bedeutung.  Das  liegt  nur  an  dieser 
Stelle  unseres  Sehraums ,  in  dessen  Natur  wir  die 
Erklärung  gesucht  haben,  wie  wir  uns  sofort  über- 
zeugen ,  wenn  wir  dasselbe  Bildwerk  vor  die  Mitte 
einer  Wand  aufstellen.  Sofort  wirkt  es  einerseits 
mehr  als  tektonisches  Mal,  indem  es  die  Beziehung 
zum  Axensystem  des  Raumes  erhält  und  körperlich 
signalisiert ;  andrerseits  aber  fordert  es  reliefmäfsige 
Ausgleichung  mit  der  tektonischen  Fläche,  büsst  also 
an  selbständigem  Wert  ein,  indem  es  mit  Baugliedern 
in  einen  Rang  tritt,  die  sich  dem  baulichen  Zu- 
sammenhang einordnen,  also  notwendig  zum  deko- 
rativen Faktor  herabsinken,  —  in  eine  Reihe  mit 
Wandsäulen,  Pilastern,  seitlichen  Rahmenstücken 
und  dergleichen,  d.  h.  als  Teil  von  einer  Gesamt- 
heit abhängig  werden. 

Damit  kommen  wir  zu  den  Cäsuren  und  Inter- 
vallen, die  das  Sehfeld,  wo  seine  Breitenausdehnung  zu 
gross  erscheint,  in  sich  zerteilen  und  in  eine  Reihe  von 
mehr  oder  minder  gleichberechtigten  Ausschnitten 
auflösen. 

Wie  aber  kommen  wir  dazu?  —  Wir  nähern 
uns  bei  der  Betrachtung  der  verschiedenen  Höhen- 
lagen des  Raumes  der  Gränze,  wo  das  menschliche  Sub- 
jekt sich  vorwiegend  nur  noch  als  Augengeschöpf  be- 
währen kann.  Ortsbewegung  und  Tastbewegungen  be- 
haupten nicht  mehr  den  Vortritt,  sondern  die  Gesetze 


198 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


unsres  Sehapparates  werden  mafsgebend.  Da  stellt 
sich  bald  eine  Scheidung  ein  zwischen  dem  schwei- 
fenden Blick,  der  jenen  Körperbewegungen  sich  an- 
zuschliessen  vermochte,  und  dem  ruhiger  verweilen- 
den Schauen ,  das  sich  von  dieser  Verbindung  los- 
zumachen im  Stande  wäre,  sowie  einmal  die  Mög- 
lichkeit zum  Gefühl  gekommen.  Erst  wenn  auch 
der  Beschauer  selbst  stillsteht ,  vollzieht  sich  die 
Scheidung  wirklich ,  je  nachdem  die  relative  Ruhe 
oder  die  Bewegung  in  der  rastlosen  Tätigkeit  des 
Auges  die  Oberhand  erhält  oder  das  Ergebnis  cha- 
rakterisiert. Dem  schweifenden  Blick,  dem  wechseln- 
den Standpunkt,  dem  entlang  gleitenden  Tastorgan 
—  wie  der  Hand,  so  des  Auges  —  bleibt  die  Wand 
und  das  Sehfeld  darauf  eine  Fläche  oder  wenigstens 
ein  Zweidimensionales,  dessen  ebene  Ausdehnung 
alle  etwaigen  Protuberanzen  überstimmt.  Sowie  der 
Beschauer  jedoch  auf  einem  festen  Standpunkt  be- 
harrt, macht  sich  auch  die  Neigung  des  Sehfeldes 
bemerkbar,  sich  zur  sphärischen  Fläche  einzurunden, 
oder  unser  Auge  fängt  an,  in  die  Tiefe  zu  streben, 
d.  h.  auch  auf  die  Ebene  der  Wand  die  Forderung 
der  dritten  Dimension  zu  übertragen.  Nun  aber 
giebt  es  in  dem  rechtwinkligen  Raum ,  den  wir  als 
Paradigma  behandeln,  bevorzugte  Grundrichtungen, 
in  denen  sich  die  Bewegung  des  menschlichen  Sub- 
jekts vollzieht,  also  auch  bevorzugte  Richtungsaxen 
des  vorwärtsschauenden  Blickes ,  der  in  die  Tiefe 
dringt.  Sind  die  vier  Wände  nahezu  gleich ,  der 
Grundriss  also  fast  quadratisch,  so  sind  die  Mittel- 
punkte der  vier  Wände  gleich  berechtigt  und  als 


Schweifender  und  ruhiger  Blick 


199 


fünfter  kommt  noch  die  Höhe  über  uns  hinzu ,  die 
sich  zur  Dominante  aufzuschwingen  vermag.  Die 
Diagonalen  fungieren  daneben  ja  schon  für  die  Raum- 
bildung entscheidend  und  bieten  in  dieser  zum  Voll- 
zug der  Tiefe  Gelegenheit.  Sind  die  Seiten  des 
Planes  ungleich ,  der  Raum  ein  ausgesprochenes 
Oblongum ,  so  herrscht  auch  die  längste  Richtungs- 
axe  vor  und  wird  ohne  Weiteres  als  Tiefe  dieses 
Raumes  angesehen.  Dann  sind  ihre  Endpunkte,  in 
der  Mitte  der  Eingangs-  und  der  Schlusswand  also 
die  Hauptstellen ,  während  an  den  Langseiten  die 
transitorische  Betrachtung  des  entlangwandelnden 
Subjektes  vorwaltet  und  nur  in  der  Mitte  noch  ein 
Ruhepunkt,  hüben  und  drüben,  von  geringerm  Werte 
sich  darbietet,  der  nur  durch  besondere  Vorkehrungen, 
die  zum  Verweilen  auffordern,  gesteigert  werden 
kann.  So  scheiden  sich  in  dieser  ganzen  Region  des 
Sehfeldes  ringsum  die  Stellen  simultaner  von  denen 
successiver  Auffassung,  und  die  Diagonalen  in  die 
Winkel  des  Raumes  hinein  stehen  dazwischen  wie 
Intervalle ,  in  denen  der  Aufbau  selber  sich  aus- 
spricht. 

Stellt  sich  also,  wie  wir  vorhin  versucht,  in  der 
Mitte  der  Schlusswand,  grade  in  der  Richtung  des 
stärksten  Tiefenvollzuges  für  unsern  Blick,  eine 
Statue  dar,  so  muss  sie  im  Bunde  mit  der  Baukunst, 
die  den  Raum  nach  diesem  Axensystem  geschaffen, 
zum  Widerhalt  gegen  den  Anspruch  an  weitere  Aus- 
dehnung der  dritten  Dimension  gefestigt  werden. 
Sie  muss  als  Mal  ihm  Halt  gebieten  wie  die  Wand. 
Schieben  wir  sie  wieder  bei  Seite  oder  vollends  in 


200  Relief anschauung  und  Dekoration 

die  Ecke,  wo  sie  viel  selbständiger  auftritt,  dann 
zeigt  sich  sofort ,  dass  das  leere  Wandfeld  geeignet 
ist,  kraft  des  Tiefblickes  zum  raumöffnenden  Faktor 
zu  werden,  d.  h.  sich  als  Fenster  ins  Freie  oder  in 
einen  Nachbarraum  durchbrechen  oder  wenigstens 
zur  Nische  erweitern  lässt.  Das  ist  auch  ein  Platz 
für  ein  Gemälde ,  das  den  Bildraum  im  Sinne 
eines  eigenen  Raumganzen  entwickelt ,  oder  für  ein 
Relief  —  und  zwar  ohne  Zweifel  für  das  Tiefrelief 
mit  der  selben  Eigenschaft  der  Raumentfaltung,  ja 
der  Perspektive.  Die  nächsten  Wandflächen  zu 
beiden  Seiten  dieses  Mittelstückes  etwa,  entsprechen 
der  örtlichen  Voraussetzung  schon  nicht  mehr  so 
vollauf,  werden  besser  nicht  im  selben  Sinne  be- 
handelt, ob  gemalt  oder  gemeisselt.  Die  Ökonomie 
ihrer  Gestaltung  wird  sich  mehr  auf  den  wandern- 
den Gesichtspunkt  verlassen,  also  zu  den  tektonischen 
Reliefarten  greifen ,  die  sich  der  successiven  Auf- 
fassung darbieten ,  und  selbst  im  Flachrelief  mehr 
dekorativen  Charakter  bewahren.  So  vollends  an 
den  Langseiten,  an  denen  wir  vorüberschreiten,  be- 
sonders wenn  ihre  Ausdehnung  nicht  so  gross  ist, 
dass  sie  in  sich  wieder  stärkere  Abwechslung  zwischen 
Ruhepunkten  und  Fortschritt  nahe  legt. 

Als  eigentliche  Region  der  Bildanschauung  für 
die  Malerei  haben  wir  die  nächsthöhere  anzusehen 
gelernt,  wo  das  Hineinragen  unsrer  Tastempfindungen 
und  unsrer  Ortsbewegung  ganz  aufhört  bis  auf  An- 
klänge, die  unser  aktives  Schauen  allzeit  hervorruft. 
In  dieser  freien  Bilderzone  ist  auch  kein  Platz  mehr 
für  Statuen,    Gruppen    und  Reliefs    von  stärkerm 


Bildregion  —  Flachrelief 


201 


Anspruch  an  unser  Körpergefühl.  Je  nach  der  Stärke 
der  Organisation,  die  der  Architekt  dort  hinaufführt, 
erhält  sich  allerdings  dieser  Anspruch  auch  für  die 
Plastik ;  wo  aber  die  Architektur  sich  mit  dem  schlich- 
ten Bestand  ihrer  Wände  oder  mit  Pilastern  von 
schwachem  Relief  begnügt,  da  sinkt  auch  die  organi- 
sche Gestalt  nach  unserm  Ebenbild,  die  an  diese  Stelle 
tritt,  zu  dekorativer  Durchschnittsbedeutung  herab. 
Dazwischen  aber  eröffnen  sich  die  Bildflächen  zu 
freier  Behandlung  des  Malers  im  Anschluss  an  den 
Grad  der  Bestimmtheit,  der  durch  die  konstitutiven 
Faktoren  der  Raumbildung  oder  schon  vorhandene 
Bestandteile  der  Dekoration  noch  verlangt  wird. 
Der  Unterschied  zwischen  simultaner  und  successiver 
Auffassung  gleicht  sich  aus,  und  zwar  je  höher  diese 
Bilderzone  hinaufreicht,  desto  entschiedener  im  Sinne 
der  gleichmäfsig  umlaufenden  Bewegung.  Dass  die 
Malerei  mit  ihren  Farben  auch  ein  Zusammenwirken 
des  übrigen  Raumganzen  nach  ihren  Bedingungen 
fordern  mag,  soll  hier  ausser  Betracht  bleiben,  um 
die  Frage  nicht  zu  komplicieren. 

So  sondert  sich  hier  bei  andrer  Rechnung  des 
Gesamtschmuckes  unmittelbar  vor  dem  letzten  zu- 
sammenfassenden Gesims  der  Wand  ein  ebenso  ver- 
bindender Streifen  für  Reliefbehandlung  aus.  Es  ist 
der  Fries.  Gehört  er  den  Höhenverhältnissen  nach 
vorwiegend  zur  Wand,  so  dass  er  als  ihre  oberste 
Lage  vor  dem  Abschluss  betrachtet  werden  muss, 
so  kann  auch  nur  das  Flachrelief  verwendet  werden, 
das  diesen  tektonischen  Charakter  der  Flächeneinheit 
aufrecht  erhält.  Gehört  dieser  Streifen  jedoch  schon 


202  Reliefanschauung  und  Dekoration 


zum  bekrönenden  Abschluss  der  Wand,  nur  als 
breiteres  Kranzgesims,  so  stellt  sich  die  umgekehrte 
Auffassung  ein  wie  beim  Fussgesims,  aber  ebenso 
in  eminent  plastischem  Sinne.  Es  ist  die  Übergangs- 
kurve zwischen  dem  senkrechten  Sehfeld  der  Wand 
und  dem  horizontalen  der  Decke,  die  sich  für  unser 
Augenpaar  fühlbar  macht,  und  zwar  um  so  stärker, 
je  grössere  Anstrengung  der  Auf  blick  kostet.  Sofort 
stellt  sich  die  Beurteilung  nach  den  Eigenschaften 
vollerer  Körperlichkeit  ein,  also  auch  ein  stärkeres 
Relief,  ebenso  wie  im  ausladenden,  nach  oben  immer 
stärker  hervorspringenden  Profil  der  Kranzgesimse 
mit  ihrer  rein  tektonischen  Bildung. 

In  beiden  Reliefarten  herrscht  aber  für  den  Fries 
die  nämliche  Kompositionsweise,  nämlich  der  fort- 
laufenden Reihung  mit  ihren  Variationen.  Nur  wird 
sich  beim  Flachrelief  der  einheitliche  Verlauf  ringsum 
um  so  lieber  zur  Geltung  bringen,  als  das  Gesims 
darüber  nur  schwach  profiliert  ist.  Beim  stärkern 
Hochrelief  dagegen  wird,  wo  immer  es  auftritt,  auch 
eine  vielfache  Teilung  nach  Einzelkörpern  überwiegen, 
also  auch  entschiedenere  Abteilung  oder  gar  Grup- 
pierung sich  einstellen.  Beim  Erstem  wirkt  der 
Zusammenhang  in  der  Horizontale,  beim  Letztern 
dagegen  in  der  Vertikale  der  Gestalten  selbst.  Und 
so  findet  sich  nicht  selten  der  Übergang  auch  archi- 
tektonisch fortgesetzt,  im  Sinne  aufwärts  strebender 
Kräfte,  indem  statt  der  flachen  Decke  die  Wölbung 
zwischen  den  Wänden  vermittelt  und  selbständigen 
Aufschwung  gewinnt.  Tritt  auch  an  diesen  Stellen 
die  Malerei  statt  der  Plastik  ein,  so  bringt  sie  doch 


Fries  —  Kranzgesims  —  Decke 


203 


die  nämliche  Auffassung  zum  Ausdruck  und  durch- 
dringt sich  mit  den  nämlichen  Gesetzen,  sei  es  der 
Dekoration ,  sei  es  der  Raumbildung  selber.  Die 
plastische  Malerei  wie  die  Stuckplastik  des  Barock 
haben  hierfür  ja  viele  Beispiele  geliefert,  aber  auch 
in  seiner  Weiterbildung  zum  Rokoko  das  richtigere 
ästhetische  Gefühl  betätigt ,  dass  dort  oben  über 
unsern  Häuptern  der  plastische  Drang  leibhaftiger 
Kreaturen  gleich  uns  oder  gar  gigantische  Verkör- 
perungen elementarer  Kraft  nicht  lange  vertragen 
werden,  dass  sie  das  menschliche  Subjekt  bedrängen, 
ihm  den  Aufenthalt  in  solchem  Raum,  wenn  nicht 
verleiden,  doch  so  lange  zu  stören  drohen,  bis  es 
sich  gegen  die  Illusion  abstumpft. 

Die  Decke  schliesst  ja  zunächst  nur  das  Reich 
der  Lüfte  über  uns  von  dem  eigenen  Raum,  in  dem 
wir  leben  und  weben,  aus.  Damit  bestimmt  sich 
auch  das  Gewicht,  das  sie  verträgt,  sobald  sie  nicht 
mehr  als  tektonisches  Gefüge  allein ,  sondern  als 
plastisches  Gebilde  oder  als  Bild  gar  weiter  aus- 
geführt werden  soll.  Die  Tendenz  zur  Wölbung  oder 
gar  Durchbrechung  ist  aber  bezeichnend  für  die  Kraft, 
die  die  natürliche  Form  unsres  Sehraumes  auch  hier 
bewährt. 

Wir  begnügen  uns  mit  diesem  Fingerzeig  für 
die  zahlreichen  Versuche  befriedigender  Lösung  ihres 
künstlerischen  Formproblems,  die  der  geschichtliche 
Fortschritt  der  beteiligten  Künste  selber  aufweist. 
Hier  kommt  es  nur  noch  darauf  an,  einen  verglei- 
chenden Blick  zum  Aussenbau  hinüber  zu  werfen, 
zu    dessen   Bedingungen   wir   sofort  zurückkehren, 


204 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


wenn  wir  die  Decke  wegdenken  und  den  Innenraum 
des  Hypäthraltempels  dafür  ins  Auge  fassen. 

Das  von  oben  einfallende  Licht  bringt  in  dieser 
Cella  um  so  schärfer  alle  Besonderheiten  solcher  Be- 
leuchtung mit  sich,  als  der  verhältnismäfsig  geringe 
Abstand  der  Langwände  eine  breitere  Verteilung 
zerstreuten  Lichtes  ausschliesst.  Darin  unterscheidet 
sich  wesentlich  jede  weiträumigere  Anlage  eines 
Binnenhofes,  die  wir  sonst  zunächst  damit  vergleichen 
müssten.  Das  Innere  des  Tempels  ist  als  letztes 
Stück  des  Processionsweges  gedacht  und  ausgestattet, 
deshalb  nur  eine  schmale  Strasse,  und  nur  eine 
Richtung  herrschend.  So  kommen  die  Seiten  links 
und  rechts,  mögen  die  Umfassungsmauern  der  Cella 
selbst  oder  Säulenstellungen  davor  dem  Eintretenden 
gezeigt  werden ,  vollständig  unter  das  Gesetz  der 
successiven  Betrachtung,  der  Ortsbewegung  auf  das 
Ziel  hin,  die  sich  rhythmisiert,  und  in  dieser  künst- 
lerischen Fassung  stehen  bleibt.  Nur  der  Anblick 
des  Zieles  selber,  der  Gottheit  an  ihrem  Platz,  bietet 
sich  der  simultanen  Anschauung  vom  entferntem 
Standpunkt,  der  sich  aber  mit  jedem  Schritt  vorwärts 
dem  Gegenstande  der  Verehrung  nähert,  bis  auch  die- 
ser ganz  kubisch  wirkt,  wie  das  Säulenpaar  zur  Seite, 
in  leibhaftiger  Gegenwart.  Der  Einfall  des  Lichtes 
von  oben  aber  gestattet,  ja  fordert  ein  starkes  Hoch- 
relief überall,  wo  die  Organisation  durch  plastische 
Bauglieder  auch  ins  Innere  getreten  ist,  während 
ohne  diese  die  Innenseite  der  Mauern  natürlich  den 
tektonischen  Charakter  der  Wand  als  einheitliche 
Fläche  bewahrt  und  darnach  für  die  Horizontalstreifen 


Binnenhof  —  Aussenbau 


205 


je  nach  ihrer  Höhenlage  die  Gesetze  walten  lässt, 
die  wir  aufgewiesen  (vgl.  z.  B.  Phigalia). 

Der  Binnenhof  eines  Palastes ,  eines  Klosters 
dagegen  unterliegt  andern  Bedingungen,  die  seine 
Anlage  schon  hervorbringt.  Bei  annähernd  quadrati- 
schem Grundriss  ergiebt  sich  die  Gleichberechtigung 
aller  Seiten,  wie  die  Bedeutnng  des  Mittelpunktes, 
der  als  Standpunkt  des  idealen  Subjektes  sich  auch 
praktisch  geltend  zu  machen  drängt.  Erst  beim 
Überwiegen  einer  Axe  wird  auch  diese  Richtung 
des  Verkehres  zum  tonangebenden  Faktor,  dessen 
Wirkung  wir  soeben  berührt  haben,  während  die 
Eingangs-  und  die  Ausgangsseite,  die  schmälern 
des  Rechtecks,  den  ruhigen  Anblick  gewähren. 

Unter  diesen  Modifikationen  gilt,  was  Hildebrand 
für  die  Einigung  zum  Relief bild  aufstellt,  auch  da, 
wo  unsres  Erachtens  nicht  das  ruhige  Schauen  vom 
entfernten  Standpunkt,  sondern  ein  näheres  Verhältnis 
zum  schweifenden  Absehen  und  zur  Körperbewegung 
anzuerkennen  wäre.  ,,Bei  allen  Stilunterschieden, 
welche  die  Architektur  aufweist,"  schreibt  er,  ,, bleibt 
ihre  Aufgabe  die,  ihre  Formen  als  Reliefwirkung  zu 
einigen.  Der  romanische  Stil  z.  B.  führt  die  Relief- 
auffassung konsequent  und  selbständig  durch,  und 
fasst  jede  Öffnung  als  ein  Durchbrechen  von  hinter- 
einander gereihten  Raumschichten  auf,  welche  er 
durch  die  Profilierung  der  Öffnung  zur  Anschauung 
bringt"  (62).  Damit  aber  hat  er,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  nur  die  tektonische  Aufgabe  der  Durch- 
gliederung des  Baues  oder  der  sogenannten  „Organi- 
sation" im  Auge ,  deren  Wesen  im  Charakter  der 


206  Reliefanschauung  und  Dekoration 


Wand  oder  der  Säulenreihe  als  Raumgränze  gelegen 
ist,  mag  auch  unter  dieser  Hauptinstanz  wieder  von 
raumschliessenden  und  raumöffnenden  Faktoren  im 
engern  Sinne  die  Rede  sein.  Wenn  er  aber  behauptet, 
durch  diese  Reliefbildung  allein  ,, erhalte  der  Bau 
erst  seine  künstlerische  Einheit",  so  vergisst  er  das 
Wesen  der  Architektur  als  Schöpferin  kubischer 
Raumgebilde,  und  zwar  in  erster  Linie  für  ein  Subjekt, 
das  nicht  Augengeschöpf  allein  ist ,  sondern  als 
dreidimensionaler  Körper  in  die  Raumform  ein- 
gehen will 

Am  Aussenbau  des  griechischen  Tempels  bewährt 
sich  wieder  die  natürliche  Entstehung  unsres  Seh- 
raumes unter  Einfluss  der  Augenlage  und  ihres  um- 
gebenden Bewegungsapparates,  indem  wir  von  den 
Säulenstämmcn  zur  Kapitellzone  aufblicken.  Ein 
wenig  höher  noch  begegnet  die  alternierende  Reihe 
der  Metopen  und  Triglyphen  oder  der  durchlaufende 
Fries  mit  seinem  rhythmisch  aufgereihten  Relief- 
schmuck. Bei  der  Erstem  waltet  der  vertikal 
durchgreifende  Zusammenhang  zwischen  Oben  und 
Unten,  beim  Letztern  überwiegt  die  horizontale 
Bindung;  das  hängt  von  der  Gesamtökonomie  der 
beiden  verschiedenen  Stile  allein  ab.  Unser  Er- 
klärungsprincip  aber  bewährt  sich  bei  Beiden  durch- 
aus. Die  Metopen  haben  starkes  Hochrelief  mit 
ausgesprochener  Neigung,  nach  oberhalb  auszuladen; 
dunkle  Färbung  des  Grundes  hebt  das  Gebilde  erst- 


i)  Was  die  Stelle  über  den  griechischen  Tempel  S.  81  betrifft, 
vgl.  Heft  II  dieser  Beiträge  S.  24  f. 


Kapitellzone,  Metopen  und  Triglyphen,  Friese  207 


recht.  Im  Gegensatz  zu  den  senkrechten  Spalten 
der  Triglyphen  bevorzugt  ihre  Komposition  die 
Diagonalen;  der  Zug  der  organischen  Formen  ver- 
mittelt also  in  die  Breite.  Der  Fries  des  ionischen 
Tempels  hat  einheitliches  Licht,  also  flacheres  Relief, 
aber  auch  hier,  als  Gegenmittel  gegen  verdunkelnde 
Schatten  von  oben  her,  den  Kontrast  der  Farben 
zwischen  Grund  und  Figuren.  Bei  der  Komposition 
aber  spielen  ausser  dem  durchgehenden  Gesamtzuge 
der  Bewegung  von  einem  Ende  zum  andern  grade 
die  Vertikalaxen  aller  dargestellten  Körper  die  wich- 
tigste Rolle;  denn  sie  halten  im  Reich  der  Horizontal- 
bindung grade  den  durchgreifenden  Zusammenhang 
zwischen  Unten  und  Oben  aufrecht. 

Wie  wichtig  dieser  Antagonismus  des  organischen 
Zusammenhanges  im  Einzelkörper,  den  die  Plastik 
verfolgt,  und  des  architektonischen  Zusammenhanges, 
den  die  Baukunst  will ,  im  gemeinsamen  Wirken 
beider  Künste  auf  dem  Gebiet  der  Dekoration  zu 
werden  vermag,  zeigt  ein  Seitenblick  wenigstens  auf 
den  berühmten  Fries  des  Parthenon,  der  sich  rings 
um  die  Tempelcella  unter  dem  Schatten  des  Peristyls 
hinzog,  also  nur  von  unten  und  durch  Reflexe  be- 
leuchtet. Vom  durchgehenden  Charakter  dieser  Reliefs 
ist  oben  schon  gesprochen  worden ;  auf  die  Unter- 
schiede der  Komposition  kommt  es  hier  an.  Auf  den 
Langseiten  herrscht  der  fortlaufende  Zug,  Bewegung 
von  einem  Ende  bis  zum  andern,  nur  ein  Unterschied 
im  Tempo  des  fliessenden  oder  sich  stauenden  Fort- 
schrittes, —  der  successiven  Auffassung  des  Subjektes, 
die  hier  allein  walten  kann,  entsprechend.    Auf  den 


208 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


Schmalseiten  aber  vereinzeln  sich  die  Gestalten,  lockern 
sich  die  Glieder,  zur  Betonung  der  Vertikale,  des 
organischen  Zusammenhanges  im  Gewächs,  von  Unten 
nach  Oben.  Warum  dies?  An  der  Stirnseite,  wie 
an  der  Rückseite  ist  der  Abstand  der  Säulen  von 
der  Wand  weiter,  also  die  Entfernung  des  Beschauers 
grösser  und  die  Richtung  seiner  Bewegung  nicht 
die  transitorische  des  Entlangschreitens,  sondern  die 
stetige  dem  Ziel  entgegen ;  die  Tiefenaxe  dominiert, 
und  das  ruhige  Verweilen  auf  einem  Standpunkt 
stellt  sich  ein. 

Von  allen  Tiefenaxen  auf  einzelne  Gestalten  zu 
unterscheidet  sich  wieder  die  mittelste  auf  den  Ein- 
gang zu  als  die  Herrscherin,  die  Axe  der  Symmetrie, 
der  Diremtion  nach  beiden  Seiten,  und  sie  weist 
weiter  in  das  Innere  des  Heiligtums.  Oder  treten 
wir  vom  Parthenonfries  zurück,  vor  die  Front  des 
griechischen  Tempels  überhaupt.  Auch  da  meldet 
sich  die  Scheidung  zwischen  dem  schweifenden  Über- 
blick über  das  Ganze  und  der  festen  Richtung  des 
Vorwärtsschreitens  auf  seine  Mitte  zu  früh  genug. 
Die  Spitze  des  Giebeldreiecks  kündigt  ja  schon  von 
ferne,  dass  hier  die  Dominante  des  Ganzen  liegt. 
Nicht  umsonst  bildet  die  Mitte  der  Säulenreihe  nicht 
eine  Säule,  sondern  ein  Intervall.  Es  handelt  sich 
nicht  um  eine  allgemeine  Tiefenbewegung  des  Be- 
schauers zwischen  den  Säulen  durch,  sondern  um 
eine  besondere  Tiefenbewegung  des  Besuchers  selbst 
in  ganzer  Person :  er  soll  wirklich  hineinschreiten 
in  den  Raum,  wo  er  sich  öffnet!  Und  droben  ge- 
hört  zum  verbindenden  Gebälk ,    zur  wechselnden 


Giebelfeld  —  Statuenschmuck 


209 


Reihung  von  einem  Ende  zum  andern,  eben  auch 
der  Giebel,  der  von  beiden  Enden  ansteigend  zur 
Mitte,  beide  Hälften  in  einem  Höhepunkt  vereinigt. 
Die  Stirnseite  des  Daches  aber,  das  Giebelfeld  drinnen, 
verkündet  wieder  in  Gestalten  nach  dem  Ebenbild 
des  Menschen  das  höchste  Gesetz,  das  hier  gelten 
soll.  Symmetrische  Gruppierung  breitet  sich  nach 
beiden  Seiten,  von  einer  Dominante  in  der  Mittel- 
axe beherrscht.  Es  ist,  für  den  entfernten  Standpunkt 
der  ruhigen  Zusammenfassung  gedacht  und  durch- 
geführt, eine  Aufreihung  mehr  oder  minder  vollrunder 
Gestalten  vor  der  Scheidewand,  die  jeden  weitern  Ver- 
such des  Auges  in  die  Tiefe  zu  dringen  abschneidet, 
aber  auch  so  nicht  als  Gruppe,  sondern  an  die  Wand 
gedrückt,  als  stärkstes  Hochrelief  wirken  muss  und 
soll.  Noch  liegt  ja  der  ganze  Baukörper  des  Daches 
dahinter,  und  erst  auf  seiner  Firsthöhe  wird  der  Luft- 
raum frei  für  die  isolierte  Rundplastik,  die  für  ihr 
höchstes  Ideal,  die  göttliche  Gestalt  selber,  keinen 
näher  definierten  Raum  als  zugehörige  Umgebung 
duldet.  Zwischen  der  Freiheit  des  Äthers  und  der 
ersten  ,, Situation",  wo  ihr  Fuss  die  Erde  berührt, 
bewegt  sich  ihre  ganze  Geschichte,  von  den  Olympi- 
schen selbst  bis  zur  Nike  des  Paionios. 

Warum  aber  stellt  der  Grieche  den  Gott,  dem 
der  Tempel  geweiht  ist,  nicht  auf  die  Zinne  des 
Daches,  sondern  in  die  Umwandung  der  Cella,  unter 
freiem  Himmel  noch  lange,  aber  doch  als  Ziel  der 
Wallfahrt,  am  Ende  des  zurückgelegten  Weges,  auf 
den  Boden  nicht,  sondern  auf  geweihten  Grund, 
aber  doch  auf  Erden  vor  sich  hin?    Ohne  Zweifel 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  14 


210  Reliefanschauung  und  Dekoration 


in  keinem  andern  Gedanken  vorerst  als  dem  Zweck 
der  ganzen  Verkörperung:  —  der  überzeugenden  Nähe 
des  Daseins,  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Gegenwart. 
Ob  das  Bild  seines  Zeus  sich  zur  Reliefanschauung 
einige  an  seinem  Standort,  ist  eine  Frage,  die  dem 
Phidias  ebensowenig  gekommen  sein  dürfte ,  wie 
seinen  Landsleuten,  für  deren  Glauben  er  das  Ko- 
lossalbild erschuf,  und  die  Athene  Promachos,  die 
zwischen  Baukörpern  aufragte .  will  sich  erstrecht 
nicht  mit  dieser  Situation  zu  harmonischer  Gesamt- 
erscheinung für  den  malerischen  Sinn  des  objektiven 
Beschauers  ausgleichen,  noch  als  Teil  einer  Gesamt- 
heit aufgefasst  werden,  wie  die  Reliefanschauung  es 
fordert,  sondern  sich  selber  behaupten,  trotz  all  dem 
kleinen  Menschenwerk,  das  sie  beschirmt,  wie  die 
Herrin  der  Stadt,  die  mit  ehernem  Fuss  die  Akro- 
polis  bestiegen  hat  und  dasteht,  —  schon  von  Ferne 
dräuend  für  den  Feind,  der  begehrlich  von  Meer 
oder  Land  herüberschaut. 

Und  warum  stellt  die  plastisch  denkende  Kunst 
der  Griechen  auch  die  kleineren  Götter  an  der  Front 
ihrer  Tempel  nicht  als  Einzelstandbild  auf,  sondern 
nur  in  vorübergehender  historischer  Situation,  wenn 
auch  von  bleibender  Bedeutung,  d.  h.  im  Reliefbild? 
Warum  macht  sie  es  nicht  wie  die  christliche  Kunst  an 
ihren  Kirchenfassaden?  Wir  können  die  Antwort  aus 
einem  künstlerischen  Ganzen  holen,  das  zeitlich  da- 
zwischen liegt,  aus  dem  Pantheon  des  Agrippa  in 
Rom.  Mit  der  Verschleifung  der  selbständigen  Seh- 
felder auf  jeder  Seite  zu  einer  einzigen  cylindrischen 
Flächenbewegung  ringsum  ist  auch  das  Schicksal  der 


Monumentale  und  dekorative  Statuen 


211 


Götter  entschieden.  Die  Innenfläche  dieser  Raum- 
form muss  sich  nach  dem  Bedürfnis  des  mensch- 
lichen Subjekts  darin  natürlich  wieder  rhythmisieren 
für  die  successive  Auffassung,  die  allein  möglich  ist, 
sobald  der  Centraipunkt  eingenommen  wird ,  von 
dem  es  das  Ganze  versteht.  Aber  diese  architek- 
tonische Gliederung  durch  Wandnischen  und  weiteren 
Recessen  entwickelt  nur  relativ  Ruhepunkte,  relativ 
selbständige  Stellen,  die  sich  alle  dem  fortlaufenden 
Zusammenhang  einordnen.  Auf  diese  Standorte 
ringsum  werden  die  Götter  verteilt.  Einer  dem 
Eingang  gegenüber ,  am  Ende  der  Tiefenaxe ,  zwei 
andre  an  beiden  Enden  der  Breitenaxe  gewinnen 
höheren  Wert,  aber  keinen,  der  es  mit  dem  Kuppel- 
centrum, wo  in  kreisrunder  Öffnung  das  Himmelslicht 
eintritt,  irgendwie  aufzunehmen  vermöchte.  Alle 
sind  abhängig  geworden,  auch  Jupiter  selbst,  von 
einer  höheren  Gemeinschaft ,  die  über  sie  alle  hin- 
geht. Erst  als  Gesamtheit  bedeuten  sie  vollauf,  was 
sie  vorstellen  können.  Die  Mehrzahl  geht  ein  in 
Reliefanschauung ;  aber  sie  sind  keine  Standbilder  im 
Sinne  der  isolierten  Rundplastik  mehr,  deren  jedes  ein 
Monument  für  sich,  die  Einheit  der  organischen  Gestalt 
als  Ausdruck  persönlichen  Wesens  allein  verkündigt, 
sondern  Bestandteile  eines  Ganzen,  dekorative  Plastik. 

Das  sind  auch  die  Heiligen  des  christlichen 
Himmels  an  den  Kirchenfassaden  der  Renaissance 
und  des  Barock,  trotz  aller  Kraft  des  plastischen 
Sinnes ;  das  sind  die  unzählbaren  Statuen,  Statuetten 
und  Halbfiguren  an  gotischen  Kathedralen,  —  von  halb 
tektonischen,  noch  nicht  einmal  in  der  Hauptsache 

14* 


212 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


völlig  durchorganisierten  Gebilden  romanischer  Bau- 
skulptur nicht  zu  reden.  Die  Kirche  anerkennt  ja 
das  Einzelwesen  überhaupt  nur  als  abhängigen  Be- 
standteil, als  einverleibtes  Glied  des  grossen  Gottes- 
reiches. Mit  der  Entwöhnung  von  diesem  Princip 
erst  erschliesst  sich  auch  der  Weg  zur  selbständigen 
Bedeutung  des  Individuums  wieder,  die  der  Grieche 
von  seinem  Gott,  vom  geringsten  Götzen,  wie  für 
sich  selber  voraussetzt  und  als  erstes  Erfordernis 
einer  Person  zu  sehen  verlangt.  Wie  eng  reihen 
sich  noch  die  gotischen  Nischen  am  Campanile  zu 
Florenz  mit  Donatellos  Statuen  darin!  Wie  weit 
wehren  sich  diese  gegen  den  Zusammenhang ,  unter 
dem  sie  der  Blick  begreifen  will,  oder  wie  abhängig 
sind  sie  schon  im  Gedanken  noch,  im  Grundmotiv,  von 
weitergehender  Beziehung?  Erst  an  Orsanmichele 
rücken  die  Nischen  weiter  von  einander,  so  dass  wir 
kaum  noch  mit  einem  Blick  mehrere  zugleich  um- 
spannen; sie  bilden  sich,  als  Raumöffnungen  in  der 
wuchtigen  Masse  gedacht,  zu  selbständigeren  Taber- 
nakeln aus  und  bereiten  so  den  eigenen  Raum  auch 
für  die  Statue  darin.  Aber  welch  ein  Weg  von  der 
Bedingtheit  des  Täufers  Johannes  von  Lorenzo  Ghiberti 
bis  zur  Wucht  des  selbstbewussten  Wertes  im  Auf- 
treten eines  ganzen  Mannes,  wie  der  Marcus  des  Dona- 
tello!  Freilich,  sie  alle  stehen  gegen  die  Rückwand 
ihrer  Nische,  die  sich  als  solche  geltend  macht,  oder 
gegen  den  Schattenraum  ihrer  Tiefe,  und  wir  fragen 
unwillkürlich  im  Erfassen  des  Motivs  auch  nach  der 
Situation,  die  es  veranlasst.  Und  Verrocchios  Gruppe, 
Thomas  und  Christus,  will  sich  freilich  mit  ihrer 


Statuen  in  bestimmender  Situation 


213 


Nische  nicht  recht  vertragen,  wirkt  aber  grade  so, 
wie  an  zufälliger  Stelle  sich  ergebend ,  auch  desto 
transitorischer  in  ihrer  Handlung,  und  da  sie  Beide, 
der  Meister  wie  der  Jünger,  nur  für  einander  da  sind,  als 
Erscheinung  eines  innern  Zusammenhanges,  der  höch- 
stens malerisch  seinen  Ausdruck  hätte  finden  können.1) 

,, Figuren  mit  einem  architektonischen  Hinter- 
grund," lesen  wir  auch  bei  Hildebrand  gelegentlich 
des  Grabmals  von  Canova,  dessen  vollplastische 
Ausiührung  er  mit  Recht  tadelt,  ,,das  ist  im  Grunde 
eine  Bildvorstellung.  Sie  kann  als  ein  Ganzes  nur 
als  Relief  dargestellt  werden"  (95).  Vollkommen  ein- 
verstanden; nur  ziehen  wir  auch  umgekehrt  die 
Folgerung  :  Rundplastik  in  einer  bestimmten  Situation, 
die  einen  weiteren  Zusammenhang  um  sie  anspinnt, 
Figuren,  die  nur  als  Teil  einer  Gesamtheit  aufgefasst 
werden  können ,  in  der  sie  erscheinen ,  sind  nicht 
mehr  als  selbständige  Schöpfung  der  Plastik  allein 
anzuerkennen,  sondern  fallen  zugleich  unter  das 
Problem  der  Malerei  oder  der  Reliefkunst. 

Der  feste  und  entfernte  Standpunkt,  den  der 
Beschauer  einnimmt,  drängt  seine  Vorstellung  zum 
Vollzug  der  Tiefe,  und  wenn  der  Blick  in"  der  Mitte, 
an  Stelle  des  Augenpunktes,  gleichsam  einbohrt,  so 
ergreift  die  Tiefenbewegung  die  organischen  Körper 
oder  sonstigen  Gegenstände  ebenso  wie  den  archi- 
tektonischen Hintergrund  und  die  Scheidewand  der 
vordersten  Raumschicht  mit.    Sie  wandelt  den  Ge- 


1)  Vgl.  Schmarsow,  Donatello  S.  17  fr.  u.  Festschrift  zu  Ehren 
des  kunsthistorischen  Instituts  zu  Florenz,  Leipzig  1897  p.  36 — 53. 


214 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


staltungsraum  in  den  Bildraum,  der  sich  selbst  in 
der  Ferne  verliert.  Solch  ein  Tiefrelief  aber  hat 
dringend  der  festen  Umrahmung  nötig,  damit  dem 
Drang  in  die  dritte  Dimension  ein  Widerhalt  ge- 
geben sei ,  der  wenigstens  die  Nachbarschaft  der 
tektonischen  Fläche  vor  der  weiteren  Ausdehnung 
dieses  Wandels  sichert.  Wir  brauchen  diesen  körper- 
lichen Widerstand  für  die  Dynamik  des  psychischen 
Erlebens  der  Raumweite,  die  sich  innerhalb  des  Rah- 
mens eröffnet;  er  ist  der  sicher  gefühlte  Ausgangs- 
punkt des  Einströmens  und  Endpunkt  des  Aus- 
strömens, dieGränze  der  rhythmisch  sich  vollziehenden 
Systole  und  Diastole  ästhetischen  Schauens. 

Allermodernste  Beispiele  haben  allerdings  ge- 
zeigt, dass  auch  dafür  der  Sinn  abhanden  kom- 
men kann.  Eine  Bronzemasse  von  Würfelform  als 
Postament  benutzt ,  auf  den  Aussenflächen  aller- 
wärts  auftauchende  Gebilde ,  wie  im  gemeinsamen 
Element  auch  bereit,  wieder  zu  verschwinden,  — 
dieser  Anblick  des  Werdens  und  Zerrinnens  ohne 
irgendwelchen  tektonischen  Rahmen,  verläugnet  voll- 
ends den  widerstandsfähigen  Charakter  des  Blockes, 
also  die  konstitutiven  Eigenschaften,  die  er  als 
Untersatz  für  eine  Statue  am  allernotwendigsten 
braucht.  Auf  Grund  der  historischen  Beispiele 
aus  guter  Zeit  aber ,  die  wir  bis  an  den  Aus- 
gang des  achtzehnten  Jahrhunderts  verfolgen  dür- 
fen, kann  als  Regel  angesehen  werden,  dass  das 
Tiefrelief  im  Sinne  der  malerischen  Perspektive 
am  Aussenbau  wie  im  Innenraum  nur  an  solchen 
Stellen  Aufnahme  findet,  wo  im  tektonischen  Gan- 


Gerahmte  Relief bilder 


215 


zen  auch  eine  Raumöffnung  durchgebrochen  werden 
könnte.  Die  wirksame,  zugleich  vorbereitende  und 
widerstandsfähige  Umrahmung  wird  nie  verabsäumt. 
Ja,  selbst  das  perspektivische  Flachrelief  fordert  diese 
entschiedene  Trennung  zwischen  dem  realen  Raum, 
wo  es  sich  befindet,  und  dem  idealen  Raum,  den  es 
eröffnet,  überall  so  gut  wie  das  Gemälde,  mag  es 
einen  festen  Platz  an  der  Wand  erhalten  oder  einen 
veränderlichen.  Und  diese  beliebige  Verhängbar- 
keit  ist  es,  die  auch  ein  kleines  Bild  wol  den  Be- 
dingungen der  graphischen  Blätter  überantwortet. 

An  der  Härte  oder  an  der  Weichheit  des 
Materials  scheitert  schliesslich  jeder  Versuch,  die 
Bildvorstellung  in  der  bildsamen  Masse  mit  den 
Mitteln  der  Plastik  allein  herzustellen.  So  kehrt 
die  perspektivische  Reliefkunst,  nach  dem  äusser- 
sten  Bemühen  in  der  Auflockerung  der  tektoni- 
schen  Schicht  oder  in  der  Abstufung  der  feinsten 
Nuancen  des  Vor-  und  Zurücktretens ,  am  Ende 
zur  Oberfläche  selbst  zurück,  lässt  die  Ebene  als 
solche  unangetastet,  und  versucht  es,  statt  mit  mini- 
maler Subtraktion  mit  ebenso  minimaler  Addition, 
mit  dünnen  Pigmenten  den  Schein  der  Körper  und 
des  Raumes  zu  ertäuschen.  Nicht,  als  wäre  das  der 
Ursprung  der  Malerei.  Davon  sind  wir  weit  entfernt. 
Aber  es  gilt ,  sich  zu  erinnern ,  dass  auch  von  der 
Seite  dieser  Nachbarkunst  die  Eroberungszüge  ins 
Land  der  Plastik  nicht  fehlen ,  noch  der  Wetteifer, 
das  plastische  Problem  mit  Hülfe  der  Farbstoffe 
allein  zu  lösen.    Bildet    doch    die  Darstellung  der 


216 


Reliefanschauung  und  Dekoration 


Körper  selbst  einen  Teil  des  malerischen  Problems, 
und  nicht  allein  die  Darstellung  des  Raumes ,  nur 
dass  Beides  nicht  in  kubischer  Realität,  sondern  als 
Augenschein  auf  der  Malfläche  hervorgebracht  werden 
soll.  Weite  Strecken  im  Reich  der  Malerei,  als  ent- 
wickelte Kunst  schon ,  scheinen  nur  zu  beweisen, 
dass  auch  hier  die  Reliefanschauung  der  Schlüs- 
sel all  ihrer  Erfolge  sei. 

Doch  dem  ist  nicht  so ;  dieser  Schlüssel  liegt  auch 
hier  nicht  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  sondern  in 
der  Vorstellung,  oder  in  der  Organisation  des  mensch- 
lichen Intellekts,  die  auf  Entwicklung  der  räumlichen 
Anschauungsform  ebenso  wie  auf  die  der  zeitlichen  an- 
gelegt ist.  Man  denke  sich  einen  Menschenkopf  mit 
den  einfachsten  Mitteln  nur  soweit  auf  die  weisse 
Fläche ,  eines  Papiers  etwa ,  skizziert ,  wie  es  grade 
hinreicht,  die  Erkennung  zu  gewährleisten,  also 
beim  Beschauer  unter  Unsresgleichen  die  Gegenstands- 
vorstellung auszulösen ,  so  sieht  dieser  nicht  allein 
den  Kopf  in  der  gegebenen  Ansicht  plastisch  ge- 
rundet, obgleich  das  Bild  flach  ist,  sieht  diese  ge- 
wohnte kubische  Formvorstellung  in  die  Fläche 
hinein,  sondern  der  Rest  des  weissen  Blattes  be- 
deutet auch  das  zugehörige  Raumvolumen ,  ja  nicht 
der  einen  Hälfte  des  kugligen  Kopfes,  die  gezeigt 
wird ,  allein ,  sondern  auch  der  andern  nicht  sicht- 
baren Hälfte  dahinter.  Die  geringste  Andeutung  des 
Schattens ,  das  leiseste  Zeichen  einer  Modifikation 
des  weissen  Blattes  durch  den  Kopf  sei  vermieden; 
trotzdem  glaubt  der  Beschauer  an  den  Schein,  den 
nicht  vorhandenen ,    des  erforderlichen  Raumquan- 


Zeichnung  —  Malerei 


217 


tums ,  das  den  Kopf  beherbergen  könnte.  Dafür 
giebt  es  wol  nur  die  eine  Erklärung,  dass  die  Pro- 
jektion des  dreidimensionalen  Kopfes  auf  die  Fläche, 
wie  die  Skizze  sie ,  noch  so  primitiv  vollzogen  hat 
oder  bedeutet,  auch  weiterwirkt  auf  die  leere  weisse 
Umgebung.  Da  diese  aber  tatsächlich  nicht  das  ge- 
ringste Symptom  objektiv  aufweist,  so  kann  die  Ur- 
sache nur  in  dem  Zwang  unserer  Anschauungsform 
gesucht  werden ,  die  auch  da  die  dritte  Dimension 
ergänzt,  wo  sie  nicht  vorhanden  ist. 

Aber  die  Malerei  geht  ja  von  diesen  Anfängen 
weiter.  Mit  Hell  und  Dunkel  ertäuscht  sie  nicht 
allein  den  Schein  gerundeter  Körper,  sondern  auch 
der  Raumtiefe  zu  starker  Illusion.  Und  für  die  Ab- 
stufungen der  Farbstoffe ,  für  die  Kunstgriffe  der 
Linearperspektive  ist  die  Bildfläche  geduldiger  und 
empfänglicher  als  die  bildsame  Masse  für  die  müh- 
samsten Operationen  des  Bildhauers.  Mit  den  zarte- 
sten Nuancen  der  Arbeit  eröffnet  sich  die  ganze 
Weite  des  Horizonts ;  der  Bildraum  vertieft  sich  in 
die  Ferne ,  wie  es  das  gewagteste  Tiefrelief  nicht 
annähernd  erreichen  kann.  Erst  dadurch  lernt  die 
Kunst  der  Malerei  selber  ihr  eigenstes  Problem  in 
seinem  rechten  Sinn  und  Umfang  verstehen ,  den 
Zusammenhang  zwischen  Körpern  und  Raum,  die 
sichtbare  Einheit  zwischen  den  Dingen  dieser  Welt, 
das  Walten  der  durchgehenden  Abhängigkeit  aller 
Teile  vom  Ganzen,  eben  eine  Ansicht  dieser  Weite, 
ein  Weltbild  zu  geben,  wie  es  weder  die  Architektur 
noch  die  Plastik  vermögen,  und  uns  so  das  Allgefühl  zu 
vermitteln,  das  uns  erhebt,  indem  es  uns  entkörpert. 


<r>.<r>.<Ti.<r>.<r>.<^.<^.<^.<r>.<r>.<r>.<r^. 


SCHLÜSSBETRACHTUNG 


DAS  REICH  DER  KUNST 


o  bewährt  sich  das  Princip,  das  mensch- 
liche Subjekt,  sowol  als  schöpferisches  wie 
als  empfangendes,  nicht  allein  als  ein  Augen- 
geschöpf, sondern  mit  dem  weitern  Zusammen- 
hang seiner  Organisation  auch  da  in  Rechnung 
zu  setzen,  wo  wir  es  mit  der  Ästhetik  der  Künste 
zu  tun  haben.  Die  Rücksicht  auf  die  Körper- 
lichkeit unsres  Leibes,  die  Ortsbewegung,  die  Tast- 
empfindungen im  ganzen  Umkreis  der  Aktivität  uns- 
rer  Arme  und  Hände ,  und  das  Körpergefühl ,  das 
nicht  allein  diese  physischen  Betätigungen  begleitet, 
sondern  auch  von  Gesichtseindrücken  wie  von  Vor- 
stellungen mit  erregt  wird,  —  all  Das  kam  uns  zu 
Statten  und  führte  zu  der  Erkenntnis ,  dass  unmög- 
lich allen  bildenden  Künsten  ein  und  dasselbe  Ge- 
staltungsprincip  innewohnen  könne,  dass  unmöglich 
der  Antrieb,  der  zu  ihrer  Entstehung  und  Weiter- 


Das  Reich  der  Kunst 


219 


bildung  führt,  in  einem  gleichen  Problem,  in  der 
nämlichen  Aufgabe  gesucht  werden  dürfe. 

Die  Lehre  des  alten  Griechen ,  das  Mafs  aller 
Dinge  sei  der  Mensch,  ist  aus  dem  Geiste  der  künst- 
lerischesten Nation  entsprungen.  Der  Satz  gilt  im 
Reich  der  Künste  ohne  Widerspruch ;  ja  er  ist  die 
Grundlage  für  ihr  Verständnis. 

So  betrachten  wir  die  Kunst  als  eine  Aus- 
einandersetzung des  Menschen  mit  der  Welt,  in  die 
er  gestellt  ward  ,  —  gleichwie  deren  ethische  Be- 
handlung und  deren  wissenschaftliche  Erkenntnis  es 
auch  sind.  Aber  die  Kunst  unterscheidet  sich  von 
diesen  Nachbarinnen  durch  ein  glückliches  Vorrecht. 
Sie  allein  befriedigt  das  natürliche  Verlangen  nach 
dem  Einklang  zwischen  dem  Menschen  und  seiner 
Welt,  bei  dem  allein  auch  der  Einklang  mit  sich 
selber  gedeihen  kann,  oder  richtiger,  sich  von  selbst 
ergiebt ;  denn  die  Übereinstimmung  mit  der  mensch- 
lichen Organisation,  der  innern  wie  der  äussern,  ist 
die  Voraussetzung  all  ihrer  Probleme  und  der  Schlüs- 
sel all  ihrer  Lösungen. 

Der  Antrieb  zum  künstlerischen  Schaffen  kann 
ebensogut  von  der  Innenwelt  des  Menschen  wie  von 
der  Aussenwelt,  entweder  von  der  Vorstellung  oder 
von  den  Sinneseindrücken  ausgehen.  Jedes  wahre 
Kunstwerk  ist  an  seinem  Teil  eine  solche  Auseinander- 
setzung mit  der  Welt,  von  welcher  Seite  immer  es  eine 
Aufgabe  in  Angriff  nehme.  Und  die  Gesamtheit  der 
Einzelkünste,  die  wir  mit  vollem  Recht  als  ein  Reich 
menschlichen  Geisteslebens  unter  dem  Namen ,, Kunst" 
zusammenfassen ,  schafft  an  einer  umfassenden  und 


220 


Schlussbetrachtung 


vollständigen  Auseinandersetzung,  die  als  Ganzes  die 
Natur  des  Menschen  und  die  der  Welt  erschöpfend, 
ein  Spiegelbild  darstellt,  das  in  glücklichster  Har- 
monie mit  dem  eigensten  Wesen  des  Menschen,  ihn 
als  Schöpfer  durch  seine  eigene  Schöpfung  be- 
seligt, mögen  jene  Nachbarinnen  Ethik  und 
Wissenschaft  dabei  einzuwenden  haben ,  was  sie 
wollen. 

Dies  Spiegelbild,  das  Menschenkunst  zu  weben 
weiss ,  muss  aber  notwendig  den  Faktoren  ent- 
sprechen ,  die  das  Urbild  aufweist ,  mögen  wir  sie 
vom  schöpferischen  und  geniessenden  Subjekt  aus  be- 
zeichnen oder  von  dem  naiven  Standpunkt  des  Glaubens 
an  ihre  Objektivität  ausgehen.  Da  stehen  sich  die 
beiden  Anschauungsformen ,  die  zeitliche  und  die 
räumliche,  einander  gegenüber.  Bewegung  dort,  Be- 
harrung hier  heissen  die  beiden  Pole,  zwischen  denen 
sich  eine  gegenseitige  Verbindung  vollzieht,  wie  ein 
objektiver  Ausgleich,  während  das  menschliche  Sub- 
jekt weder  absolute  Beharrung,  noch  absolute  Be- 
wegung kennt,  sondern  nur  gradweise  sich  beiden 
Polen  anzunähern  vermag,  sei  es  mit  Sinnesempfin- 
dungen ,  sei  es  mit  Vorstellungen.  Und  zwischen 
diesen  Extremen,  Zeit  und  Raum,  erscheint  als  dritte 
Kategorie  die  Kausalität.  Mag  auch  der  Philosoph 
noch  weiter  fragen ,  ob  und  wieweit  sich  unsre 
Kausalvorstellung  noch  auf  jene  des  Raumes  und  der 
Zeit  zurückführen  lasse ,  bei  deren  Durchdringung 
erst  sie  selber  auftritt,  so  behauptet  sich  doch  im 
rein  menschlichen  Gebiete  des  künstlerischen  Schaf- 
fens die  Notwendigkeit  unsrer  geistigen  Organisation, 


Das  Reich  der  Kunst 


221 


und  die  Ursächlichkeit  gilt  als  dritter  Faktor  in  der 
Welt  sogut  wie  in  uns. 

Darnach  gliedert  sich  schon  das  Reich  der 
Künste  von  den  beiden  Polen  her,  nach  räumlicher 
und  zeitlicher  Anschauung  und  stuft  sich  ab  unter 
dem  Gipfel  des  Geistigen ,  wo  Bewegung  und  Be- 
harrung einander  am  innigsten  durchdringen,  wo  im 
Vorwärts  oder  Rückwärts  die  Frage  nach  Ursache 
und  Wirkung  oder  nach  Grund  und  Folge  gestellt 
wird,  das  heisst,  wo  das  Princip  der  Kausalität  in 
mannichfaltigsten  Beziehungen  waltet,  gleichwie  im 
Menschenleben  selber. 

Wo  die  Bewegung,  die  zeitliche,  in  abstraktester 
Form  fast  allein  regiert,  da  suchen  wir  nur  Analo- 
gieen  unsrer  Innenwelt.  Dort  liegt  am  einen  Ende 
dieser  Reihe  das  Reich  der  Töne  und  ihre  Kunst, 
die  Musik.  Sie  scheinen  wol  Manchem  nur  wie  eine 
Färbung  —  eine  Stimmung  des  leeren  Zeitverlaufes 
selber  — ,  aber  bald  wie  eine  Sprache  innerer  Er- 
regungen, die  wenn  nicht  unmittelbar  wie  der  eigene 
Laut,  doch  bald  geläufig  und  vertraut  durch  diesen 
Mittler,  zur  Ausdrucksform  unsrer  Gemütsbewegungen 
wird.  Das  Gemeinsame  zwischen  Laut  und  Ton, 
zwischen  Vokal-  und  Instrumentalmusik  liegt  aber 
völlig  in  der  Sphäre  rhythmisierter  Bewegung  unsres 
eigenen  Organismus,  bis  in  Atemzug  und  Herzschlag 
hinein,  der  Systole  und  Diastole  unsres  Lebens, 
wie  sie  Goethe  genannt  hat. 

Gegenüber  am  andern  Ende  der  Reihe,  wo  die 
Beharrung  im  Räume  feste  Form  für  sich  gewinnen 
will,  da  suchen  wir  die  Baukunst,  die  Raumgestalterin 


222 


Schlussbetrachtung 


selber.  Auch  sie  rechnet  überall  mit  der  Rhythmik 
menschlicher  Bewegungen,  wie  mit  dem  eigenen 
Körper  des  Subjektes ,  die  allein  den  Mafsstab  für 
die  Ausdehnung  gewähren,  während  auf  der  andern 
Seite  die  Aufrichtung  der  Raumform  nach  ihrem 
Willen  zur  Sicherung  ihres  Bestandes  der  Verkör- 
perung in  dauerhaftem  Material  bedarf,  je  mehr  ihr 
darum  zu  tun  ist,  die  Grundlagen  des  Menschen- 
daseins, die  sie  darstellt,  gegen  den  ewigen  Wechsel 
des  Zeitlichen  zu  behaupten. 

So  stehen  schon  Innenwelt  und  Aussenwelt  in 
ihren  elementarsten  Voraussetzungen  vor  uns  da, 
um  im  nächsten  Paar  der  Künste,  Mimik  und  Plastik, 
die  unmittelbarste  Verbindung  mit  dem  Menschen, 
wie  er  leibt  und  lebt,  zu  bewähren.  Ist  doch  die 
Eine  nur  seine  Darstellung  für  die  successive,  die 
Andre  seine  Darstellung  für  die  simultane  Anschau- 
ungsform, wenn  auch  wieder  Beide  der  Ergänzung 
durch  den  zweiten  Faktor  bedürfen 1). 

Im  letzten  Paare,  Poesie  auf  Seite  der  zeitlichen, 
Malerei  auf  Seite  der  räumlichen  Vorstellung,  nimmt 
das  Schaffen  des  Menschen  es  mit  dem  Zusammen- 
hang der  Dinge  auf,  der  sichtbaren  Aussenwelt  hier, 
der  hörbaren  Innenwelt  dort  in  erster  Linie,  die  sich 
wieder  gegenseitig  ergänzen  und  durchdringen.  In 
der  Darstellung  der  Kausalität,  nach  der  unser  Er- 
klärungsbedürfnis verlangt,  erreichen  sie  den  Gipfel 
der  geistigen  Auseinandersetzung  mit  der  Welt.  Mit 
dieser  Vermittlung  eines  Vorstellungsinhaltes,  eines 


I)  Vgl.  femer  Heft  I,  S.  21  ff.,  24  ff. 


Das  Reich  der  Kunst 


223 


Denkprocesses  aber  rühren  sie  auch  an  die  Gränze 
des  Abstrakten,  wo  der  Zauberstab  künstlerischer 
Gestaltung  versagt. 

Dass  auch  im  Reich  der  Künste  solche  Abstufung 
vom  Elementaren,  von  den  Grundmächten  des  Daseins 
zu  den  Höhen  des  Geistigen  hinauf  anerkannt  werden 
muss,  wenn  wir  uns  nur  bewusst  bleiben,  dass  das 
Werturteil,  das  diese  Bezeichnungen  gestempelt  hat, 
anderswoher  stammt  und  sachlich  garnichts  damit 
zu  schaffen  hat,  diese  Tatsache  lehrt  uns  auch  eine 
andre  Erwägung  einsehen,  die  das  einfachste  Gebild 
ins  Auge  fasst,  das  jede  dieser  Künste  hervorbringt, 
um  daraus  immer  kompliciertere  Schöpfungen  zu- 
sammen zu  setzen.  Bei  der  Musik  ist  es  der  natür- 
liche Laut  oder  der  künstlich  erzeugte  Ton,  bei  der 
Mimik  die  Gebärde,  unter  der  wir  vorwiegend  Körper- 
bewegung verstehen ,  und  die  Miene ,  die  wir  auf 
Bewegung  der  Gesichtsmuskulatur  beschränken.  Die 
Poesie  aber  verbindet  die  Elemente  beider  Schwester- 
künste zu  einem  neuen  Element,  der  Lautgebärde, 
dem  Wort,  in  dem  beide  Grundlagen,  der  Laut 
sowol  wie  die  Gebärde ,  miteinander  verwachsend, 
einen  Teil  ihrer  ursprünglichen  Kraft  aufgeben,  um 
so  zu  einem  „konkretem"  Ausdrucksmittel  für  die 
Mannichfaltigkeit  der  Dinge  selbst,  ihre  Äusserungen 
und  ihre  Beziehungen  zu  werden.  In  dem  Vokalis- 
mus der  Sprache  ist  die  elementare  Gewalt  der  Töne 
auf  eine  kleine  gedämpfte  Scala  eingeschränkt,  im 
Konsonantismus  die  ausgreifende  Gebärdensprache 
des  ganzen  Körpers  und  das  sichtbare  Mienenspiel 
zu  einer  verhaltenen  Kryptomimik  um  den  Atmungs- 


224 


Schlussbetrachtung 


traktus  herum  gemäfsigt;  aber  das  Neue,  das  so 
erwächst,  das  Wort  erobert  die  Welt1).  —  Auf  der 
andern  Seite  liegt  ein  ganz  ähnliches  Verhältnis  vor, 
das  die  Malerei  über  ihre  beiden  Schwesterkünste 
hinausgehen  lässt.  Die  Architektur  ist  Raumgestalterin, 
so  dass  das  kleinste  Element,  das  sie  verwertet,  schon 
eine  dreidimensionale  Raumgrösse  ist,  und  zwar  ein 
Hohlraum,  dessen  Koordinatensystem  nicht  indifferent, 
eine  beliebige  Vertauschung  der  Axen  gestattet,  auch 
wo  sie  gleiche  Ausdehnung  haben,  sondern  sozusagen 
accentuiert  ist,  indem  die  Richtung  vom  Menschen 
aus  die  treibende  Kraft  enthält,  also  die  Tiefenaxe2). 
Die  dritte  Dimension  ist  Dominante  auch  im  embryo- 
nalen Zustande,  im  ersten  Keim  der  architektonischen 
Schöpfung.  Die  Plastik  ist  Körperbildnerin ;  das 
kleinste  Element,  das  sie  verwertet,  ist  Körper,  ein 
Molekül  von  drei  Dimensionen,  ein  konkreter  Punkt. 
Aber  auch  hier  ist  das  Koordinatensystem  nicht  ohne 
ausgesprochene  Richtung:  die  erste  Dimension,  die 
Vertikalaxe  ist  Dominante,  die  Richtungsaxe  unsres 
eigenen  Wachstums  die  erste  Bedingung,  einen  Gegen- 
stand ausser  uns  als  Körper  für  sich  anzuerkennen.  So 
kann  die  Wurzel  der  plastischen  Schöpfung  nur  in  der 
Höhe  gesucht  werden.  Das  einfachste,  wie  das  reichste 
Werk  der  Malerei  dagegen  dürfte  wol  nicht  anders 


1)  Vgl.  Zur  Frage  nach  dem  Malerischen  (Heft  I  dieser  Bei- 
träge 1896)  S.  105. 

2)  Das  Raumvolumen,  mit  dem  die  architektonische  Schöpfung 
eigentlich  vor  sich  geht,  ist  der  „ästhetische  Raum"  des  leib- 
haftigen Menschen  selber,  dies  also  die  natürliche  Mafseinheit,  die 
wiederholt  wird. 


Das  Reich  der  Kunst 


225 


definiert  werden,  denn  als  flächenhafter  Auszug  aus 
Raum  und  Körper  zugleich,  den  wir  „Bild"  nennen. 
Auch  hier  ist  das  neue  Mittel  zur  Eroberung  des 
räumlich -körperlichen  Ganzen  als  Einheit,  d.  h.  der 
sichtbaren  Welt,  zur  Darstellung  des  Zusammenhangs 
der  Dinge  nach  seinem  Augenschein,  nicht  anders 
möglich ,  als  durch  Verzicht  der  beiden  Elemente 
auf  einen  Teil  ihrer  vollen  Existenz.  Körper  und 
Raum  büssen  in  ihrem  Abbild  auf  der  Fläche  tat- 
sächlich die  dritte  Dimension  ein,  aber  nur,  um  sie, 
im  Augenscheine  wenigstens,  bald  desto  reiner  wieder 
zu  gewinnen  und  sie  desto  unmittelbarer  unsrer  Vor- 
stellung zu  vermitteln,  —  im  ,, Fernbild"  als  „reinem 
Gesichtseindruck  von  sozusagen  latenten  Bewegungs- 
vorstellungen"  (H.  12). 

Bezeichnen  wir  demgemäfs  zu  klarer  Zusammen- 
fassung des  Ergebnisses  die  vollkräftigen  Elemente 
der  „Wirklichkeit"  Raum  und  Körper  hüben, 
Laut  und  Gebärde  drüben ,  einmal  mit  ihrem 
Anfangsbuchstaben,  so  liesse  sich  für  das  Bild  die 
Formel  |/(R-j-K)~,  für  das  Wort  die  entsprechende 
Formel  (/(L  -f-  G)  aufstellen,  die  selbstverständlich 
jeden  mathematischen  Anspruch  ausschliessen,  uns 
aber  nützlich  werden  können,  um  innerhalb  der 
Malerei  hier,  wie  der  Dichtung  dort,  noch  Zonen 
mannichfaltiger  Ökonomie  mit  diesen  Grundelementen 
zu  unterscheiden.  Hier  kommt  es  vorerst  nur  darauf 
an,  das  notwendige  Verhältnis  der  Malerei  und  Poesie 
als  eines  oberen  Paares  zu  je  zwei  andern  Künsten  als 
ihren  natürlichen  Vorstufen  zu  charakterisieren.  Das 
mag  etwa  in  diesem  Schema  veranschaulicht  werden : 

Schmarsow,  Plastik,  Malerei  u.  Relief kunst.  k 


226 


Schlussbetrachtung 


Räumliche 
Anschauungsform 


Kausalität 

(C) 


Zeitliche 
Anschauungsform 


Malerei  [/  (R  -f  K) 

Plastik  (K) 
Architektur  (R) 
Raum.    Beharrung.  -< — 


Poesie 


V  (L  +  G) 


Mensch 


Mimik  (G) 

Musik  (L) 
— >-  Bewegung.  Zeit. 


Dann  schliessen  sich  Poesie  und  Malerei  wieder 
uriter  dem  höhern  Princip  der  Kausalität  (C)  zu- 
sammen, in  dem  sich  die  Darstellungen  des  innern 
und  des  äussern  Zusammenhangs  begegnen.  Archi- 
tektur und  Musik  dagegen  erscheinen  als  die  weitest- 
gehenden Gestaltungen  des  Elementaren,  der  Grund- 
faktoren dieser  Welt,  Raum  und  Zeit,  weswegen  man 
sie  wol  vom  objektiven  Standpunkt  aus  als  ,, kos- 
mische Künste"  bezeichnet,  oder  als  die  konsequen- 
testen Erfolge  der  räumlichen  Anschauungsform  dort, 
der  zeitlichen  hier,  weswegen  sie  vom  Subjekt  aus 
den  Vorzug  des  „systematischen"  Charakters  gewinnen. 
Beide  Paare  jedoch,  das  unterste,  Baukunst  und  Musik, 
wie  das  oberste,  Malerei  und  Dichtkunst,  erweisen 
sich  als  Erweiterungen  des  künstlerischen  Schaffens, 
als  Auseinandersetzungen  mit  der  weiten  Welt  da 
draussen,  sowie  wir  sie  mit  dem  innersten  Paar, 
Plastik  und  Mimik,  vergleichen,  in  denen  es  sich 
zunächst  ausschliesslich  um  den  Menschen  selber 
handelt.  Von  dieser  Beschäftigung  des  Menschen 
mit  sich  selbst  und  Seinesgleichen  als  seiner  nächst- 
gelegenen Sphäre,  nach  den  beiden  Seiten,  die  wir 
Leib  und  Seele  nennen,  also  vom  centralen  Stand- 
punkt des  Ich  aus  betrachtet,    bedeuten   alle  vier 


Das  Reich  der  Kunst 


227 


Nachbarinnen  ringsum  ebensoviel  verschiedenartige 
Eroberungszüge  in  die  Welt  hinaus ,  bis  an  die 
Gränzen  der  Unendlichkeit,  —  des  Unerreichbaren, 
des  Unermesslichen,  des  Unabsehbaren,  und  wie  die 
negativen  Ausdrücke  unsrer  Sprache  sonst  lauten, 
die,  klüger  als  unser  begriffliches  Denken,  keinen 
positiven  Namen  dafür  ausspielt. 

Damit  haben  wir  den  Standpunkt  gewonnen, 
von  dem  die  Betrachtung  der  ganzen  Reihe  dieser 
Künste  als  schöpferische  Betätigungen  des  Menschen 
am  natürlichsten  ausgeht.  Es  ist  der  Mittelpunkt 
und  Ausgangspunkt  alles  künstlerischen  Schaffens 
und  Geniessens  selber ,  das  Mafs  aller  Dinge :  — 
der  Mensch. 

Die  ursprünglichste  Äusserung  des  künstlerischen 
Triebes ,  die  nicht  mehr  wie  die  Ausdrucksgebärde 
im  Augenblick  zerrinnt,  sondern  dauernd  wahrnehm- 
bare Form  hinterlässt,  ist  sicher  die  Ornamentik. 
Sie  ist  in  ihrem  eigentümlichen  Wesen  nichts  Anderes 
als  Wertbezeichnung.  Sie  prägt  also  mit  ihren 
Zeichen  nur  den  Sinn  alles  künstlerischen  Schaffens 
aus ,  das  die  Werte  des  Daseins  und  des  Lebens 
dem  Strom  des  Werdens  und  Vergehens  zu  entrücken 
trachtet  und  sie  verewigen  will ,  zu  bleibendem 
Genuss.  Aber  sie  selbst  ist  noch  keine  Kunst,  wie 
die  andern  sechs ;  denn  sie  vermag  diese  Werte 
nicht  selber  darzustellen  und  wiederzugeben,  sondern 
nur  auszuzeichnen  durch  den  Niederschlag  des 
mimischen  Spieles  um  sie  herum.  Eben- 
deshalb aber  ist  sie  allen  Schwestern  ohne  Aus- 
nahme gleich  vertraut  und  schlingt  um  das  Ganze 

15* 


228 


Schlussbetrachtung 


der  Kunstwelt  das  Band,  das  diesen  heiligen  Bezirk 
mit  den  profaneren  Bestrebungen  der  Kunstgewerbe 
vermittelt.  Treten  wir  aber  in  den  Umkreis  der 
Auserwählten,  so  stehen  dem  gemeinsamen  Aus- 
gangspunkt zunächst  Mimik  und  Plastik;  von 
da  zweigen  die  Andern  ab ,  die  das  Problem  um- 
fassender zu  stellen  wagen.  Versuchen  wir  auch 
hier  statt  der  sphärischen  Darstellung  in  drei  Dimen- 
sionen ,  die  das  Spiegelbild  unsrer  Welt  eigentlich 
erfordert ,  uns  mit  einem  Flächenschema  zu  be- 
gnügen ,  das  ja  nur  zur  übersichtlichen  Veranschau- 
lichung unsres  Ergebnisses  dienen  soll,  so  steht  die 
Reihe  der  Künste  am  besten  in  einem  Kreise.  Da- 
bei kommen  allerdings,  eben  weil  wir  auf  die  dritte 
Dimension  verzichten,  die  nachbarlichen  Berührungen 
der  Einzelgebiete  nicht  vollständig  zum  Ausdruck. 
Und  ferner  darf  das  früher  festgestellte  Verhältnis 
der  Poesie  zu  ihren  beiden  Vorgängerinnen  auf  der 
einen  und  der  Malerei  zu  den  ihrigen  auf  der  andern 
Seite  nicht  vergessen  werden.  Zumal,  wenn  es  sich 
etwa  um  die  Frage  nach  dem  Zuwachs  der  Bewegung- 
oder  der  Abnahme  der  Beharrung  handelt,  ergiebt  sich 
schon  aus  jenem  Verhältnis  des  Wortes  zur  Gebärde 
und  zum  Laute  hier,  des  Bildes  zum  Körper  und 
zum  Räume  dort,  dass  an  keinen  einfachen  Fort- 
schritt rein  quantitativer  Art  durch  die  ganze  Reihe 
hin  gedacht  werden  darf1) ,  sondern  dass  qualitative 
Modifikationen  stattfinden.    Und  wieder  ist  es  das 


i)  So  hat  z.  B.  Schasler,  System  der  Künste ,  die  Sachlage  zu 
sehr  vereinfacht. 


Das  Reich  der  Kunst 


229 


mittlere  Paar ,  Plastik  und  Mimik ,  das  durch  die 
engere  Beziehung  zum  Menschen  allein  und  seinem 
Körper  als  Bewegungsapparat  hier,  als  organisches 
Gewächs  dort,  die  Möglichkeit  des  Fortschrittes  sehr 
einschränkt.  Dagegen  macht  unser  Schema  den 
Gegensatz  beider  Hemisphären ,  der  zeitlichen  und 


der  räumlichen  Anschauungsform ,  besonders  deut- 
lich und  besagt ,  dass  die  wirkliche  Bewegung ,  die 
auf  der  einen  Seite  stattfindet,  z.  B.  in  der  Mimik, 
auf  der  andern  Seite  dieser  Mittelaxe  sofort  in  den 
Schein  der  Bewegung  umschlagen  muss ,  weil  hier 
die  Beharrung  im  Räume  herrscht,  wie  z.  B.  in  der 
Plastik ,  wo  erst  das  menschliche  Subjekt ,  der  Be- 
trachter, den  Schein  der  Bewegung  am  unbeweg- 
lichen Marmor  aus  dem  Bann  erlöst  und  in  das  zeit- 
lich verlaufende  Erlebnis  zurück  übersetzt.  Ebenso 


230 


Schlussbetrachtung 


gilt  dies  aber  für  Architektur  und  für  Malerei ,  wie 
das  umgekehrte  Verhältnis  für  Musik  und  Poesie. 
Das  heisst  zugleich  für  unser  Schema,  dass  die  ein- 
geschriebenen Zeichen  immer  nur  das  Grundelement 
berücksichtigen ,  dass  eine  Formel  für  jede  Kunst 
aber  auch  diese  Faktoren  der  Bewegung  und  Be- 
harrung, der  Kraft  und  des  Stoffes  nicht  unbenannt 
lassen  dürfte.  Doch  nicht  darauf  kommt  es  uns  an, 
noch  auf  irgend  eine  Befürwortung  äusserlichen 
Formelkrams ,  sondern  nur  auf  eine  Erleichterung, 
die  Leistungsfähigkeit  unsres  Princips  zu  über- 
blicken. 

So  ist  schon  in  unserer  Bezeichnung  des 
zweidimensionalen  Auszuges  aus  Raum  und  Körper, 
welchen   das  Bild   auf  der  Fläche    zu  geben  hatT 

|/(R~+~Kj  ^ie  Stellung  der  beiden  Faktoren  variabel, 
je  nach  dem  man  von  Plastik  (K)  oder  Architektur 
(R)  ausgeht,  d.  h.  die  K  ö  r  p  e  r  Vorstellung  oder  die 
Raum  Vorstellung  als  leitendes  Interesse  verfolgt. 
Stellen  wir  K  voran,  so  entspricht  die  Formel  mehr 
dem  Ubergang,  der  sich  —  mit  plastischen  Mitteln 
allein  —  auch  in  der  Reliefkunst  vollzieht,  die  wir 
als  Zwischenreich  zwischen  Plastik  und  Malerei  ein- 
tragen könnten.  Dies  Verhältnis  würde  noch  ein- 
leuchtender, wenn  man  den  körperlichen  Bestandteil 
als  stark  überwiegenden  mit  dem  grossen  Buch- 
staben ,  den  räumlichen  mit  dem  kleinen  benennt, 
also  K  +  r ,  wo  es  sich  um  Hochrelief  handelt.  Da- 
mit können  aber  auch  die  Gebiete  der  Malerei  selbst 
unterschieden    werden,    nach  dem  wichtigen  Fort- 


Das  Reich  der  Kunst 


231 


schritt,  den  die  Raumdarstellung  über  die  Körper- 
darstellung, oder  gar  die  summarische  Andeutung 
dieser  durch  Umriss  und  Silhouette,  als  Hieroglyphen 
der  Gegenstandsvorstellung,  kurz  und  schlagend  aus- 
gedrückt werden.  Den  nämlichen  Verdeutlichungs- 
wert allein  beansprucht  die  Formel  für  das  Gebiet 
der  Poesie,  wo  das  Überwiegen  des  Lautlichen  oder 
Tonelements  natürlich  die  Neigung  zum  reinen  Ge- 
fühlsausdruck, d.  h.  das  Lyrische,  ja  das  Eindringen 
musikalischen  Strebens  bedeutet,  während  die  Hege- 
monie der  Gebärdung ,  des  Motorischen ,  der  Akti- 
vität, auch  den  Charakter  der  Dichtung  dem  Epischen 
zutreibt,  das  auf  der  ausschliesslichen  Bevorzugung 
des  Mimischen  beruht,  da  wir  als  Gebiet  der  Mimik 
alle  ausdrucksvolle  Betätigung  des  Menschenkörpers 
verstehen.  Doch  leuchtet  von  selber  ein ,  dass  im 
Gesamtreich  der  geistigen  Vorstellung ,  wo  das  un- 
sichtbare Innenleben  regiert,  jeder  Versuch  zur  Ver- 
anschaulichung eine  Gefahr  mit  sich  bringt ,  durch 
dies  Erleichterungsmittel  mehr  zu  schaden  als  zu 
nützen ,  —  eine  Gefahr ,  der  selbst  unsre  experi- 
mentelle Psychologie  nicht  entgangen  ist,  indem  sie 
die  ,, Dimensionen"  des  Raumes  auf  die  ,, Charak- 
teristik" der  psychischen  „Erscheinungen"  —  lauter 
Ausdrücke  der  räumlichen  Auffassung  und  deshalb 
der  bildenden  Künste  —  überträgt. 

Wäre  dieser  Missbrauch  nicht  zu  fürchten,  würde 
ich  in  das  obige  Schema  auch  die  Farben  des  Spek- 
trums eintragen,  und  zwar  das  Feld  der  Architektur 
als  Violett,  das  der  Plastik  als  Blau,  das  der  Malerei 
als  Grün,  auf  der  andern  Seite  das  der  Poesie  als 


232 


Schlussbetrachtung 


Gelb,  das  der  Mimik  als  Orange,  und  das  der  Musik 
als  Rot  erscheinen  lassen,  um  so  wenigstens  noch 
eine  Analogie  zur  Anschauung  zu  bringen,  nämlich 
die  Beziehung  zwischen  je  zwei  Künsten  der  ent- 
gegengesetzten Vorstellungsform,  wie  zwischen  den 
Paaren  der  Komplementärfarben.  Wie  je  zwei  von 
diesen,  Violett  und  Gelb,  Grün  und  Rot,  Blau  und 
Orange  einander  fordern  und  zusammen  zur  Her- 
stellung der  ursprünglichen  Einheit  im  weissen  Licht 
verbinden,  so  fordern  und  ergänzen  einander  je  zwei 
Künste  und  geben  zusammengenommen  erst  einen 
zureichenden  Ausdruck  für  eine  künstlerisch  ver- 
arbeitete Weltanschauung.  Deshalb  war  schon  früher 
von  Komplementärwirkungen  zwischen  Mimik  und 
Plastik,  Malerei  und  Musik,  Architektur  und  Poesie 
die  Rede  (I).  Doch  sei  diese  Spektralanalyse  der 
Kunst,  die  in  den  wolfeilen  Verdacht  eines  Farben- 
spiels kommen  könnte,  nur  den  Wenigen  anvertraut, 
die  auch  im  Spiel  den  tiefen  Sinn  zu  finden  und 
auch  im  künstlerischen  Drang  des  Schaffens  wie  des 
Geniessens  der  Sophrosyne  treu  zu  bleiben  wissen. 


-H>*<3- 


Druck  von  Fischer  &  Wittig  in  Leipzig. 


GETTY  CENTER  LIBRARY 


3  3125  00597  8438 


VERLAG  VON  S.  HIRZEL  IN  LEIPZIG. 


AUGUST  SCHMARSOW 

BEITRÄGE  ZUR  AESTHETIK  DER  BILDENDEN  KÜNSTE 


i. 

ZUR  FRAGE 

NACH  DEM 

MALERISCHEN 

SEIN  GRUNDBEGRIFF  UND  SEINE  ENTWICKLUNG 


PREIS  M.  2.—. 


II. 

BAROCK  UND  ROKOKO 

EINE  KRITISCHE  AUSEINANDERSETZUNG 
ÜBER 

DAS  MALERISCHE  IN  DER  ARCHITEKTUR 

PREIS  M.  6.—. 

Druck  von  Fischer  &  Wittig  in  Leipzig.