AUGUST SCHMARSOW
BEITRÄGE ZÜR AESTHETIK DER BILDENDEN KÜNSTE
in.
PLASTIK MALEREI
UND
RELIEFKUNST
IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS
UNTERSUCHT
VON
AUGUST SCHMARSOW
LEIPZIG
VERLAG VON S. HIRZEL
1899.
Ulrich Middeldorf
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in 2014
https://archive.org/details/beitragezuraesth03schm
AUGUST SCHMARSOW
BEITRÄGE ZÜR AESTHETIK DER BILDENDEN KÜNSTE
in.
PLASTIK MALEREI
UND
RELIEFKUNST
IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS
LEIPZIG
VERLAG VON S. HIRZEL
1899.
PLASTIK MALEREI
UND
RELIEFKUNST
IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS
UNTERSUCHT
VON
AUGUST SCHMARSOW
LEIPZIG
VERLAG VON S. HIRZEL
1899.
Das Recht der Übersetzung ist vorbehalten
TO GFTTY CLNTER
Auf die ,, Frage nach dem Malerische?i" , die
hauptsächlich durch Max Klingers Versuch, Malerei
und Zeichnung als zwei verschiedene selbständig
nebeneinander bestehende Künste zu erweisen, ver-
anlasst war, und auf die Auseinandersetzung über
das Malerische in der Architektur , die dem Be-
streben fakob Burckhardts und Heinrich Wölfflins
galt , den Charakter des Barockstils als eine Ten-
denz zum Malerischen zu erklären, folgt hier eine
letzte -kritische Abhandlung , die noch dazu gehört.
Sie sticht das Wesen der Plastik im Unterschied
von dem der Malerei , sowie von dem Übergangs-
gebiet der Reliefkunst zu fassen und vor der Ver-
ivechslung unter einem gemeinsamen ,,Problem der
Form in der bildenden Kunst<( zu wahren, wie es
Adolf Hildebrand unter eben diesem Titel verfolgt.
Das Ringen mit den künstlerischen Ansichten
eines Bildhauers auf seinem eigenen Gebiete hat
die gewissenhafte Erörterung seiner Worte und
einen möglichst engen Anschluss an seine Atis-
drucksweise erfordert. Wer Eigenes in eigner Form
zu bieten weiss, versteht auch die geduldige Ent-
VI
sagung zu schätzen, die darin liegt, sich dem Ge-
dankengang eines Andern anzuschmiegen tind auf
alles Übrige zu verzichten. Aber diese bescheidnere
Aufgabe, fast nur einen Kommentar zu der kleinen
Schrift zu liefern, — von der selbst sachkundige
Gelehrte gemeint haben, sie müsse, wenn sie wirken
solle, ganz und gar umgeschrieben werden, — habe
ich mich diesmal um so weniger verdriessen lassen,
als in solcher Feuerprobe vielleicht am zwingendsten
die Haltbarkeit der eignen Überzeugung erhärtet
wird. Eine zwanzigjährige Lehrtätigkeit hat mir
nicht allein das Bedürfnis solcher Klärung der Be-
griffe, sondern auch die Fruchtbarkeit der hier ver-
fochtenen so mannichfach bewährt, dass die Mei-
nungen der Recensenten bisher nicht vermocht
haben, mich auch nur einen Augenblick daran irre
zu machen.
Nur gegen ein beliebtes Misverständnis möchte
ich von vornherein noch ausdrücklich Verwahrung
einlegen: es soll im Folgenden nirgends eine histo-
rische Konstruktion versucht werden, so sehr den
geschichtlichen Tatsachen überall Rechnung ge-
tragen werden musste. Im Gegenteil, die psycho-
logische Bedeutsamkeit der Erscheinungen wird be-
vorzugt, kerne andre Rücksicht, wie etwa Stil, Mo-
numentalität, Archaismus eher zugelassen; denn nur
so war ein Ergebnis möglich , das für alle Perioden
der Kunstentwicklung verwertbar bleiben muss.
Schmarsow.
INHALT
Seite
Einleitung : Kritische Vorbemerkungen . . . . i — 15
I. Malerei und Plastik 16—56
E[. Mimik und Plastik 57 — 79
Thonbildnerei und Steinskulptur.
III. Isolierte Rundplastik 80 — 117
Unter freiem Himmel oder im geschlossenen Innen-
raum.
IV. Die plastische Gruppe 118 — 141
V. Relief-Anschauung 142 — 165
VI. Die Relief kunst 166 — 187
VII. Reliefanschauung und Dekoration .... 188 — 217
Schlussbetrachtung: Das Reich der Kunst . . . 218 — 232
DRUCKFEHLER UND VERBESSERUNGEN
27
38
39
42
57
76
BAND I
10: bleibt lies bleibt für die Plastik
9 : um ist zu streichen
25 : seiner lies ihrer
3 : das den Schatten lies der . . .
1 4 : Ausdruck lies Austrag
14/15 : nicht lies Töne
Töne lies nicht
16: Sie lies Die Farbe
BAND II
64 ,, I : Zeichenreich lies Zwischenreich
138 ,, 4 : wenigstens lies wenigsten
146 ,, 12: Pilasterstellung lies Säulenstellung
170 ,, 1 : sind 7 Zeilen auf S. 171 geraten und hierher
zu nehmen
196 ,, 12: veränderten lies verändernden
BAND III
2
17:
war ; lies war :
10
„ 26:
so wie lies sowie
1 1
,1 9:
sein lies ihr
66
„ 20:
Raumvolumnen lies Raumvolumen
95
Anm. 1
Z. 5 : ausgestattet lies ausgestaltet
99 Z. 6 : streng lies scharf
174 ,, 20: in dem lies indem
211 ,, 7 f. : weiteren Recessen lies weitere Recesse
EINLEITUNG
KRITISCHE VORBEMERKUNGEN
eine Kunst ist dem modernen Menschen so ent-
fremdet wie die Plastik. Selbst der Versuch
eines hochbegabten Bildners, wie Adolf Hilde-
brand, uns ,,das Problem der Form in der bildenden
Kunst" wieder nahe zu bringen1), bezeugt nicht allein
in wolbegründeten Klagen und in der Motivierung
seiner Schriftstellerei, welcher Mangel an natürlichem
Verständnis für die Plastik schon bei uns eingerissen,
sondern er bestätigt es unbewusst auch durch den
Weg, den er selbst zu deren Betrachtung einschlägt,
und durch die Folgerungen, zu denen er im Verlauf
dieses Weges gedrängt wird.
Was er beklagt, ist bezeichnenderweise vor
allem Eins: „unter Plastik denkt sich der moderne
Mensch nur noch runde Figuren, die in der Mitte
eines Platzes stehen."
i) Strassburg 1893, 2. Auflage 1897.
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst.
2
Einleitung
Der Ausgangspunkt, den er selber wählt, liegt
nicht auf dem Boden der reinen Plastik, den man
beim Bildhauer zuerst voraussetzt, sondern auf dem
Übergangsgebiet, der Reliefkunst, ja — eigentlich
ganz auf dem Boden der Malerei.
Sei es nun, dass dieser Weg aus Rücksicht auf
den modernen Menschen und sein viel näheres Ver-
hältnis zur malerischen Anschauung bevorzugt wird,
weil von hier aus am ehesten eine Verständigung
erreichbar scheint; sei es, dass eben diese Auf-
fassungsweise auch dem modernen Bildner selbst
schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen
ist, weil auch er, ein Kind seiner Zeit, sich der all-
gemeinen Verschiebung des Verhältnisses zu den
einzelnen Künsten, die einen psychologischen Grund
und eine geschichtliche Ursache haben muss, nicht
zu entziehen imstande war; — genug, diese Tatsache
verbindet sich mit der erstgenannten zu einem Selbst-
zeugnis, das nicht ausser Betracht bleiben darf.
Die Rücksicht auf den geläufigen Vorstellungs-
kreis der Leser, mit dem man zu rechnen hat, dürfen
wir ohne Zweifel als zweckmässig anerkennen und
wollen aus diesem Grunde auch unsererseits diesem
Wege nachzugehen versuchen, soweit wir dem Führer
darauf zu folgen vermögen, selbst da, wo es nur der
redlichen Absicht noch dienen sollte, seinen Uber-
zeugungen vorurteilsfrei gerecht zu werden. Wir
dürfen uns um so unbedenklicher ihm anbequemen,
als wir bei früherer Gelegenheit wiederholt den ent-
gegengesetzten Weg, von der Architektur zur Pla-
stik, als gleichwertigen scharf genug vorgezeichnet
Einleitung
3
haben3), und unserer eigenen Überzeugung vom Kern
ihres Wesens als Körperbildnerin oft genug Aus-
druck gegeben.
Auf die strenge Unterscheidung des innersten
Wesens jeder einzelnen Kunst war dabei unser Augen-
merk in erster Linie gerichtet, vor allem in der Reihe,
die wir unter dem Namen der ,, bildenden" zusammen-
zufassen gewöhnt sind, also auch gegen die Meinung
Hildebrands, als könne der Architektur nur dasselbe
Gestaltungsprineip innewohnen wie der Plastik und
Malerei (S. 82). Auf der anderen Seite jedoch suchten
wir dem lebendigen Zusammenhange zwischen ihnen,
als Betätigungen des Menschen, das Recht zu wahren,
das ihm natürlich gebührt, d. h. sie zunächst als naive
Äusserungen hinzunehmen, die erst allmählich den
Keim ihres besonderen Wesens vollkommen entfalten
und dann erst sich deutlich voneinander unter-
scheiden, stets aber durch zahllose Fäden miteinander
verknüpft bleiben. Es kam uns deshalb gerade auf
eine genauere Beobachtung der Übergänge von dem
einen Grundprincip zum anderen an ; die Zwischen-
regionen geben uns in ihren mannichfaltigen Er-
scheinungen über die geschichtlich fortschreitende
Verschiebung des Standpunktes und über deren ge-
setzliche Beziehung zum psychologischen Charakter
einer Zeit oft den wertvollsten Aufschluss. Da dieser
1) Zur Frage nach dem Malerischen, sein Grundbegriff und
seine Entwicklung. Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste I,
Leipzig 1896, S. 20 ff. Barock und Rokoko, eine Auseinandersetzung
über das Malerische in der Architektur (Beiträge II, 1897), S. 7 ff.
4
Einleitung
Wechsel im Verhältnis einer Generation, eines Zeit-
alters zu den Hauptkünsten nicht allein die Reihe
der bildenden, sondern auch ihre Schwestern auf der
Seite der zeitlichen Anschauungsform, d. h. Poesie,
Mimik, Musik, ebenso betrifft wie Malerei, Plastik
und Architektur, so wurden auch jene, besonders
als jeweilige Ergänzungen Einer Weltauffassung, mit
in Betracht gezogen und das Schicksal der einzelnen
stets im Zusammenhange der ganzen Reihe darge-
stellt. Das liegt in unserer Überzeugung, stets, auch
in besonderen Abzweigungen des Kunstlebens, mit
dem ganzen Menschen rechnen zu müssen. Nur von
diesem Standpunkte aus, der die Gesamtheit der
Menschenkunst als Einheit überschaut, glaubten wir
die Auffindung psychologischer Gesetze möglich, die
den Gang der künstlerischen Auseinandersetzung
zwischen Innenwelt und Aussenwelt erklären helfen,
— und glauben es noch, ganz abgesehen von der
Frage , ob diesem wechselnden Schauspiel der Ent-
wicklung ein erkennbarer Sinn oder eine natürliche
Notwendigkeit innewohne, oder ob die Antwort dar-
auf nur einer höheren Intelligenz gegeben sei, die
über menschliche Begriffe hinausreicht.
Mit der Prüfung der Gränzen und der Vermitt-
lungen zwischen Malerei und Plastik nehmen wir das
Thema zugleich von der Seite auf, wo sich dieser
Beitrag zur Ästhetik der bildenden Künste in die
ganze Reihe einzuordnen und an die beiden voraus-
gehenden anzuschliessen hat. Ebenso aber ergreifen
wir damit den Faden der Erörterungen an dem Ende,
wo der letzte vollauf beachtenswerte Vorgänger, ein
Einleitung
5
Künstler selbst, sie gelassen hat. Tatsächlich er-
kennen wir in seinem Standpunkte die charakteristi-
schen Merkmale des modernen Menschen, der einer-
seits durch naturwissenschaftliche Schulung längst
der naiven Ausbildung seiner Vorstellungswelt ent-
rückt ist, andererseits aber in dem geschichtlichen
Entwicklungsgange, den unsere Sinnesorgane durch-
gemacht, und in dem notwendig damit verbundenen
Wechsel in der Vorherrschaft des besonderen An-
schauungskreises, die sich im ganzen geistigen Leben
geltend macht, ebenso befangen bleibt, wie alle
anderen Kinder seiner Zeit. Dies nachzuweisen, aus
den eigenen Werken wie aus dem gedruckten Be-
kenntnis, wäre die Aufgabe des Historikers, der
Adolf Hildebrand als Künstler des neunzehnten Jahr-
hunderts charakterisiert. Wir würden uns anheischig
machen, die psychologische Übereinstimmung auf-
zuzeigen. Hier jedoch ist es nicht unseres Amtes.
Eine Argumentatio ad hominem bleibt aus dem Spiele,
wo wir es lediglich mit den ausgesprochenen An-
sichten und deren sachlicher Begründung, nicht mit
der persönlichen Anlage als Künstlerindividualität zu
tun haben.
An einer Stelle des Büchleins begegnet uns indes
ein so frappanter Ausdruck persönlichen Empfindens,
dass ich mir nicht versagen darf, den überraschen-
den Wink herauszuheben, ja davon auszugehen ; denn
er giebt dem Leser meines Erachtens auf einmal den
Schlüssel zum Verständnis der Lösung in die Hand,
die Hildebrand für das Problem der Form in der
bildenden Kunst uns allen angeboten hat.
6
Einleitung
„Die Plastik hat nicht die Aufgabe, den Be-
schauer in dem unfertigen und unbehaglichen Zu-
stande gegenüber dem Dreidimensionalen oder Kubi-
schen des Natureindrucks zu lassen, in dem er sich
abmüht, eine klare Gesichtsvorstellung sich zu bilden,
sondern sie besteht gerade darin, ihm diese Gesichts-
vorstellung zu geben und dadurch dem Kubischen
das Quälende zu nehmen" (S. 78).
Der Laie, der auf diesen Ausdruck subjektiven
Gefühles stösst, wird sich erstaunt darob befragen,
ob auch ihn das Kubische quäle. Die dreidimensio-
nale Körperlichkeit der Dinge dieser Welt sollte für
uns Menschenkinder, die nun einmal hineingestellt
sind, eine Qual sein? Das wäre ja neuer Zuwachs,
einer ganz raffinierten Erfindung, für dies Jammertal.
Der Philosoph aber, der die dreidimensionale
Raumvorstellung als die notwendige Anschauungs-
form unseres menschlichen Intellekts betrachtet, wird
doch eher geneigt sein, in der Klarheit und Schärfe
des Kubischen die vollendete Konsequenz dieser
Vorstellungsarbeit zu erblicken, d. h. die höchste
Leistung der Anschauungsform, — eine Errungen-
schaft, die uns befriedigen muss, je mehr sie unserer
Anlage entspricht.
Sollten wirklich alle Menschen, für die der
Bildner schafft, ja nur alle Liebhaber der Plastik, die
gern der Woltat teilhaftig würden, die nur der
Künstler ihnen angedeihen lassen kann, — sollten
sie wirklich sich dem Natureindruck gegenüber ab-
mühen, ja vergeblich abmühen, eine klare Gesichts-
vorstellung zu bilden?
Einleitung
7
Doch lassen wir diesen Zweifel dahingestellt.
Die Voraussetzung Hildebrands ist tatsächlich die,
dass der Beschauer eines dreidimensionalen Gegen-
standes zunächst durch den Eindruck des Kubischen
beunruhigt werde, dass er durch das Entgegendringen
der dritten Dimension in einen unbehaglichen Zu-
stand gerate, und dass nur die Kunst imstande sei,
aus dieser Qual zu befreien, indem sie — an ihrem
Werke für das glatte Zustandekommen einer ein-
heitlichen Gesichtsvorstellung sorgt, während die
Dinge dieser Wirklichkeit allerdings so störend
bleiben wie sie sind. Die erlösende Verwandlung
durch die Kunst vollendet sich erst, wenn sie
,,der natürlichen gegenständlichen Vorstellung zum
Trotze den Beschauer zwingt" (S. 53), zu sehen,
wie der Künstler sich die Erscheinung zurecht-
gelegt. „Solange eine plastische Figur sich in erster
Linie als ein Kubisches geltend macht, ist sie noch
im Anfangsstadium ihrer Gestaltung; erst wenn sie
als ein Flaches wirkt, obschon sie ku-
bisch ist, gewinnt sie eine künstlerische Form,
d. h. eine Bedeutung für die Gesichtsvorstellung"
(S. 79).
Es ist also nicht nur eine persönliche Empfin-
dung, zu der erst der moderne Mensch durch die
einseitige Ausbildung der Ansprüche seines Seh-
organs herangereift ist ; sondern der Mangel an dieser
Empfindungsweise bedeutet einen „Mangel an künst-
lerischem Verhältnis zur Natur, eine Unfähigkeit,
unser wahres Verhältnis zu ihr zu verstehen und
konsequent zu entwickeln" (66). Ja, die ganze
s
Einleitung
Kunstphilosophie, die Existenzberechtigung der bil-
denden Kunst ist auf diese Voraussetzung von der
Qual des Kubischen gegründet.
Jedenfalls schliesst sich Hildebrand der Lehre
unsrer früheren Ästhetiker an, welche die Begriffs-
bestimmung der schönen Künste im Unterschied
von den übrigen dadurch zu gewinnen suchten,
dass diese höheren Künste sich von jeder Be-
ziehung zu den sogenannten niederen Sinnen fern
halten und immer reiner mit dem ausschliesslichen
Kapital der höheren Sinne, Gesicht und Gehör,
allein auskommen sollten. So arbeite die bil-
dende Kunst lediglich für das Auge ; in Gesichts-
eindrücken müssten also ihre eigensten Leistungen
gesucht werden.
Indes auch Hildebrand ist bereits weiter ge-
diehen. Er weiss , dass die Kunst nicht für die
Wahrnehmung unsres Sehorgans , sondern vielmehr
für die Vorstellung schafft. Er erklärt sich gegen
,,die sogenannte positivistische Auffassung" der Künst-
ler, „welche die Wahrheit in der Wahrnehmung des
Gegenstandes selber sucht, nicht in der Vorstellung,
die sich von ihm in uns bildet" und demgemäss
,,das künstlerische Problem nur in der genauen
Wiedergabe des direkt Wahrgenommenen sieht" (29).
Er ist sich ebenso klar darüber geworden, dass ,,die
Kunst gerade darin besteht einen abstrahierten Vor-
stellungsbesitz wieder einzukleiden" und dass sie
eben „dadurch einen Eindruck schafft, welcher beim
Beschauer ohne Rest in Vorstellungswerte auf-
geht, während' der Natureindruck noch kein aus
Einleitung
9
diesem Gesichtspunkte gereinigtes Vorstellungsbild
ist" (27).
Dennoch verfällt er, begreiflicherweise, sehr bald
in das Bemühen zurück, die künstlerische Leistung,
das Empfangen der Einheit, doch wieder in einem
Wahrnehmungsakt zu suchen. Und der Wert, den
das Fernbild für ihn gewinnt, liegt eben darin, wie
er meint, dass es die einzige Einheit für den Wahr-
nehmungs- wie für den Vorstellungsakt darstelle.
Von der Gesichtsvorstellung kommt er doch auf den
Gesichtseindruck, der sie vermittelt, zurück, weil es
sich in künstlerischen Dingen immer um die sinn-
liche Anschauung handelt.
Weil aber eben die psychologisch überlegene
Ansicht bei ihm selber bereits vorhanden und aus-
gesprochen ist, gebe ich auch die Hoffnung nicht
auf, dass eine befriedigende Verständigung erreicht
werden kann, und nur deshalb richte ich die folgende
Auseinandersetzung so direkt darauf ein.
Lassen wir die Frage nach der wertvollen Lei-
stung der Kunst und nach der Existenzberechtigung
der Plastik vorerst auf sich beruhen, um vielleicht
am Ende unsrer kritischen Erwägungen, von selbst
darauf zurückgeführt, eine Antwort bereit zu finden.
Vorerst betrachten auch wir das Problem der Form
für den bildenden Künstler, wenigstens wie es sich
selber stellt.
Um jenen Reinigungsprozess aller durch unser
Augenpaar vermittelten Wahrnehmungen zur einheit-
10
Einleitung
liehen Gesichtsvorstellung hindurch zu ermöglichen,
geht Hildebrand von einer weiteren Unterscheidung
aus. Den künstlerisch durchgebildeten „Flächenein-
druck", in dem dies Heil gefunden wird, soll ,,das
ruhig schauende Auge ohne Bewegungstätig-
keit aufzunehmen im stände sein" (S. 68), — also
muss auch das Auge im Zustande ruhigen Schauens
von der beweglichen Tätigkeit unsers sonstigen
Sehens unterschieden und isoliert werden. „Das
ruhig schauende Auge empfängt ein Bild , welches
das Dreidimensionale nur in Merkmalen auf einer
Fläche ausdrückt, in der das Nebeneinander gleich-
zeitig erfasst wird" (io f.).
Gegen die Trennung unsrer Wahrnehmungen
durch das Sehorgan ,,in eine rein schauende und in
eine sich rein bewegende Augentätigkeit" regt sich
nun aber das stärkste Bedenken, besonders wenn sie
mehr bedeuten soll als eine wissenschaftliche Hilfs-
konstruktion, die unser logisches Bedürfnis behufs
begrifflicher Klarheit aufstellen und, solange sie ihrer
nicht entbehren kann, in abstracto aufrecht erhalten
mag. Zugegeben , dass der Einzelne zum Behuf
experimenteller Beobachtung recht weit in dieser
Scheidung auch tatsächlich gelangen könne , so
bleibt sie doch im natürlichen Verkehr mit der um-
gebenden Welt, so wie der freie Wechsel dieser
Möglichkeiten aufgehoben und die eine bevorzugt
werden soll , etwas Erzwungenes , vielleicht Unkon-
trollierbares. Es erhebt sich also von vorn herein
der Zweifel, ob ein gesundes Kunstschaffen auf dieses
künstliche Princip gegründet werden darf, dessen
Einleitung
I l
Ergebnis allein die Lösung des Formproblems er-
geben soll.
Folgen wir jedoch Hildebrand und fassen unser
Auge einmal in ruhigem Zustand, ohne Bewegungs-
tätigkeit schauend , dann lässt es sich wol nur mit
einer photographischen Camera vergleichen, und die
Retina verhielte sich wie die empfindliche Platte, das
heisst — rein passiv, den chemischen Veränderungen
ausgesetzt, die sich ohne sein Zutun vollziehen.
Aber eben deshalb kann dieser Zustand nur sehr
kurze Zeit dauern , die chemische Zersetzung durch
das einfallende Licht würde bei längerem Stillstand
der Retina zerstörend wirken. Sie selber löst die
Reflexbewegung aus, die durch neue Zufuhr das
Organ rettet und wieder für chemische Einwirkung
empfänglich macht. Der Moment der ,,Ruhe" wird
zwangsweise durch eine Bewegung abgelöst , und
diese beschränkt sich bei der sonstigen Verbindung
des Augapfels mit äusseren Muskeln nicht auf das
Innere, die Retina und ihre Gefässe, sondern bringt
Drehungen des Augapfels hervor. Das Auge ist also
nicht mehr ,,ohne Bewegungstätigkeit", wie es sein
sollte.
Nun aber hinkt der Vergleich der Retina mit
dem empfindlichen Häutchen der photographischen
Platte und deren passivem Verhalten , das die Ein-
wirkung des Lichtes nur so über sich ergehen lässt,
bekanntlich, nach mehr als einer Seite. Unser Sehen
ist Aktivität schon im Empfangen des Sinnesein-
druckes selber. Sowie wir demgemäss das Auge
etwa als verfeinertes Tastorgan zu erklären ver-
\ 2 Einleitung
suchen, mit zahlreichen vibrierenden Nervenendi-
gungen in und neben den Zäpfchen der Retina , so
haben wir fortwährende unausgesetzte Bewegungs-
tätigkeit, nicht allein chemische Reaktion, sondern
mitwirkende Empfängnis, ja ein Entgegenkommen,
das bis ' zum feinsten innerlich vollzogenen Abtasten
sich steigern mag. Nur so scheint sich zugleich
eine Erklärung anzubieten , wie unser Sehen wieder
auf die motorischen Centren übertragen zum Nach-
formen des Gesehenen durch die Tastorgane der
Finger zu werden vermag. 3)
Doch lassen wir diese Erklärungsversuche der
physiologischen Optik, mit denen wir doch nicht
auskommen , ganz aus dem Spiel , bis auf die eine
Tatsache , die wir berücksichtigen müssen : bei der
Kleinheit der Stelle schärfsten Sehens im Auge bleibt
ja schon die Mitwirkung des beweglichen Apparates
der Augenmuskeln unentbehrlich , und der Appell
vom sinnlichen Wahrnehmen, mit dem sich die
Physiologen beschäftigen, an den Vorstellungsakt, in
dem der Psycholog die Synthesis sich vollziehen
lässt, bleibt unausweichlich.
Doch sei auch dem, wie ihm wolle: die An-
nahme eines ruhigen Schauens , das sich ohne Be-
wegungstätigkeit vollzöge, ist eine Fiktion, und der
i) Wir haben diesen Bedenken schon in den beiden früheren
Heften dieser Beiträge durchweg Rechnung getragen, soweit dazu
Veranlassung war (vgl. z. B. II, 1 1 f.). Vgl. neuerdings auch E.
te Peerdt, Das Problem der Darstellung des Momentes der Zeit.
Strassburg 1899.
Einleitung
L3
Versuch dem alten Unterschied der simultanen und
der successiven Auffassung eine naturwissenschaft-
liche Unterlage zu geben, muss doch noch anders
angestellt werden, wenn wir wirklich seiner be-
dürfen.
„Wir stehen der Natur ja nicht nur als Augen-
geschöpfe gegenüber, sondern mit allen unseren
Sinnen zugleich," schreibt Hildebrand selbst einmal
zu Anfang seines Weges (33). Aber beim Kunst-
werk soll dies eben durchaus anders werden; da
wird das Augengeschöpf möglichst isoliert, um den
Gesichtseindrücken allein die Führung zu überlassen,
weil wir durch ihren ungestörten Ablauf allein zu
der befreienden Woltat gelangen, die uns die
künstlerische Darstellung zu bieten vermag. Und
diese ,, geheimnisvolle Woltat" wäre wieder nur
eine klare Gesichtsvorstellung, — also ein Er-
trag aller vorangehenden Arbeit an dem Material,
das der höhere Sinn, das Auge, allein uns liefert. — ■
Weshalb?
Wenn nun gerade durch die verborgenste Be-
wegungstätigkeit unsres Auges dafür gesorgt wäre,
dass die Verbindung mit unsern andern Sinnen
nicht aufgegeben werde und verloren gehe, das heisst
eine Isolierung der Gesichtsvorstellungen Platz greife,
die nur menschliche Weisheit sich als begehrens-
werten Vorzug ausgeklügelt.
Wir stehen auch den Werken der Kunst nicht
allein als Augengeschöpfe gegenüber, sondern mit
allen unsern Sinnen zugleich , ob sie nun bei der
Wahrnehmung beschäftigt sind oder nicht. Wir
14
Einleitung
dürfen nicht vergessen, „dass der Mensch gar nicht
im stände ist, seine Vorstellungen ganz abzustreifen,
weil er eben mit ihnen sieht", schreibt auch Hilde-
brand selber (S. 30). Woher stammen sie? — aus
allen Sinnen. Und der Gegenstandsvorstellungen
können wir ja ohnehin beim Anschauen eines Bild-
werkes nicht entraten. Unsre Formvorstellungen
müssen uns zu Hilfe kommen, wenn es gilt, irgend-
welche ungewohnte Ansicht zu enträtseln. Sollten
wir nicht froh sein, wenn zwischen Gesichtsvorstel-
lungen und Bewegungsvorstellungen auch schon eine
natürliche Verbindung angebahnt läge , durch die
auf unsre anschaulichen Erfahrungen eine stetige
und unbeirrte Übertragung aus den Erfahrungen der
Tastregion stattfindet , der wir die Greifbarkeit
unsrer konkreten Anschauungen verdanken ? Ohne
die innige Verquickung der Tastgefühle und der
mannichfaltigen , aus den Erlebnissen unsres ganzen
Körpers stammenden Bewegungsvorstellungen, be-
sässen wir auch wol keine bildende Kunst, in erster
Linie jedenfalls keine Plastik.
Nach dieser Verwahrung im voraus dürfen wir
gern die Ausdrücke Hildebrands beibehalten, um
seinen Gedankengängen in ihrem lehrreichen Wert
für das Einzelne gerecht zu werden. Wir teilen ja
mit ihm als Kinder seiner Zeit die einseitige Be-
vorzugung der höheren Sinne und des abstrakten
Geisteslebens. Es gehört ein redlicher Anteil kri-
tischer Selbstbesinnung dazu , wenn wir uns be-
wusst werden, wo die historische Ursache zu suchen
ist, dass unsre Kunst nicht plastisch gestaltet in
Einleitung
15
all ihrem Dichten und Trachten wie die der Hel-
lenen, — weshalb wir nicht einmal die italienische
Hochrenaissance mehr völlig verstehen, seit ihr das
plastische Ideal über alles gieng. Liegt unser Mangel
an natürlichem Verständnis für die Bildnerei nicht
wesentlich mit an dem einseitigen Standpunkt als
Augengeschöpfe , ja des geläuterten Schauens aus
der Ferne?
[.
MALEREI UND PLASTIK
chon das grundlegende Experiment zur Son-
derung des ruhigen Schauens und des be-
weglichen, abtastenden Sehens, von dem
Hildebrand ausgeht, orientiert uns über den Boden,
auf dem alle seine Anschauungen erwachsen.
„Es sei ein Gegenstand mit Umgebung und
Hintergrund gegeben, ebenso die Richtungslinie des
Beschauers, dessen Standpunkt lediglich in Nähe und
Ferne verschiebbar sein soll."
Es wird also nicht, wie wir es beim Bildner er-
warten sollten, ein isolierter Körper zunächst be-
trachtet , als der einfachste Fall , um den es sich
handeln kann, sondern sogleich eine ganze Situation,
in der sich der Gegenstand befindet. Das Objekt
besteht aus Körper und Raum zugleich , die nicht
gesondert für sich aufgefasst werden können oder
sollen, sondern in einem optischen Zusammenhang
stehen. Für den Standpunkt des Beschauers, der
Das Fernbild
17
sich nur auf einer gegebenen Richtungsaxe annähern
oder entfernen kann, schränkt sich die optische Auf-
fassung noch mehr ein. Als Sehgemeinschaft ent-
spricht der Gegenstand in seiner Situation ,,mit Um-
gebung und Hintergrund" durchaus dem Inhalt des
„Bildes", als Werk der Malerei, wie wir es im ersten
Teil dieser Beiträge definiert haben. Und so nennt
es auch Hildebrand häufig genug selbst, allerdings
ohne die Unterscheidung von „Gebilde", womit wir
das Körperliche allein zu bezeichnen pflegen.
Damit ist das Problem der Form in der bilden-
den Kunst schon allein auf dem Boden der Malerei
gestellt, und es bleibt die Frage, wie weit aus diesen
komplicierteren Bedingungen nachträglich noch der
Fall der Plastik zurückgefunden werde.
„Ist der Standpunkt des Beschauers ein so ferner,
heisst es weiter, dass seine Augen nicht mehr im
Winkel, sondern parallel schauen, dann ist das em-
pfangene Gesamtbild rein zweidimensional, weil
die dritte Dimension, also alles Nähere und Fernere
des Erscheinungsobjektes, alle Modellierung nur durch
Gegensätze in der erscheinenden Bildfläche wahr-
genommen wird , als Flächenmerkmale , die ein
Ferneres oder Näheres bedeuten."
Dies Gesamtbild vom entfernten Standpunkt ist
die Hauptsache, auf die es nach Hildebrand bei allem
künstlerischen Schaffen ankommt : das reine einheit-
liche Flächenbild, das er Fernbild nennt. Es
stellt die einzige Einheitsauffassung der Form im
Sinne des Wahrnehmungs- und Vorstellungsaktes
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. 2
IS
Malerei und Plastik
dar (13). Dies ist also die Erscheinungsform, welche
vom Kunstwerk festgehalten werden muss (68, Anm.).
Wenn wir demnach ,,ein einheitliches Bild fin-
den dreidimensionalen Komplex allein im Fernbild
besitzen" (12), so muss über den Charakter dieser
einzig wertvollen Erscheinungsform genaueste Rechen-
schaft willkommen sein. „Erst von einer be-
stimmten Distanzschicht an sehen unsere
Augen parallel und nehmen die Erscheinungsobjekte
mit einem Blick als einheitliches Flächenbild oder
Fernbild auf. Was in der Mitte unseres Sehfeldes
liegt, wird am stärksten wahrgenommen, nach dem
Rande zu verschwindet der Eindruck. Ebenso wird
das , wTas direkt vor der Distanzschicht , vor der
eigentlichen Bühne ist, noch als Übergang mit wahr-
genommen. Der eigentliche Raum aber,
welcher erscheint, liegt hinter dieser
Distanzschicht, fängt mit dieser erst
eigentlich an" (44).
Das ist eine der physiologischen Optik ent-
nommene Beschreibung des Bildes als das eigent-
liche Feld der Malerei, nach unsern Begriffen wenig-
stens nur dieses. Verfolgen wir also erst einmal
diesen Weg und sehen, wohin er uns führt, wie weit
wir damit kommen.
Betrachten wir von diesem Standpunkt aus zu-
nächst die darstellende Tätigkeit des Malers, „so
sind sein geistiges Material die Gesichtsvorstellungen
(die aus dem ruhigen Schauen gewonnen werden) ;
diese bringt er direkt auf der Fläche zum Ausdruck
und gestaltet damit ein Ganzes im Sinne des Fern-
Die volle Formvorstellung
19
bildes". So weit vermögen wir uns anzuschliessen.
Aber es folgt sogleich ein Schritt, der vorerst zu
weit geht.
Insofern diese Eindrücke jedoch Formvorstel-
lungen erwecken sollen, ergiebt sich die Aufgabe, ein
derartiges Flächenbild darzustellen, dass wir die volle
Formvorstellung von dem Gegenstande empfangen.
Dies zu leisten ist er nur dadurch im stände, dass
er alle Gesichtseindrücke auf ihre plastische An-
regungskraft hin prüft und zu diesem Zweck ver-
wendet (d. h. die Flächenmerkmale ausbeutet, die
ein Näheres oder Ferneres bedeuten). — Darin liegt
das Problem des Malers" (17).
Ja, insofern er durch Gesichtseindrücke Form-
vorstellungen erwecken will. Dies ist aber durchaus
nicht immer der Fall, wenigstens nicht derart, dass
wir die volle Formvorstellung vom Gegenstande
empfangen. Ursprünglich ist das Bild wie unser
Sehfeld eine Fläche. Und in der Dynamik der
Erscheinungsfaktoren , die darauf zum Vorschein
kommen, kann eine sehr verschiedene Ökonomie
walten, die in mancherlei Kombinationen sich zwischen
zwei entgegengesetzten Polen bewegt, der abstrakten
Idealität und der konkreten Realität, oder der
geistigen Vorstellung und der sinnlichen Wahr-
nehmung, deren eine im Reiche der Phantasie, deren
andre im Reiche der Wirklichkeit zu herrschen pflegt.
Es giebt im weiten Gebiet der Malerei geschicht-
liche Beispiele genug, die vielmehr für die geistige
Vorstellung als für die sinnliche Anschauung arbeiten.
Sie verwenden die Erscheinungsfaktoren des Bildes,
20
Malerei und Plastik
die Gegensätze von Hell und Dunkel , also Farben
in Linien oder in Flecken aufgetragen, nur noch im
zweidimensionalen Sinn des Sehfeldes als Fläche.
Dahin gehört das Gebiet der ägyptischen Wand-
malerei wie das der mittelalterlichen Buchmalerei
zu ihrem grössten Teile. Was sie auf der Bildfläche
mit Strichen oder Klecksen hervorbringen , sind
Zeichen, Anregungen für die Gegenstandsvorstellung.
Was ist aber ein Gegenstand ? Wie unsre
Muttersprache selbst uns lehrt : etwas, das uns ent-
gegensteht. Was entweder unserm Leibe als Körper
im Raum, oder unsern vorgestreckten Tastorganen,
oder nur unserm vorwärts gerichteten Blick, oder
endlich gar der anschaulichen, über uns selbst hinaus-
dringenden Vorstellung einen Widerstand leistet.
Es kommt also auf ein dem Gefühl oder der Vor-
stellung solches Widerhalts entsprechendes Zeichen
an, das diese konstitutive Eigenschaft der Dinge im
Beschauer auszulösen vermag. Was wäre das ab-
strakteste Zeichen dafür? Nicht der Punkt; er be-
zeichnet nur den festen Ort in der allgemeinen Weite
des Sehfeldes. Nicht eine Reihe von Punkten in
wagerechter Richtung ; denn wir schreiten über sie
hin , wie unser Fuss über die Schwelle. Nur eine
senkrecht aufsteigende Reihe von Punkten gewinnt
die Intensität ; nur die aufgerichtete Gerade, die uns
gegenübertritt, bedeutet ein Ding an seinem Orte
vor uns , wie unsersgleichen , die Körper rings um
uns selber. Und die Grade dieser aufgetragenen
Intensitätswerte, die Mehrzahl der übereinander ge-
reihten Punkte giebt zugleich die Abstufungen für
Das Symbol des Gegenständlichen 2 1
den Grad der Gegenständlichkeit, d. h. kurzweg die
Grösse der Linien , in der Höhendimension allein,
die wir ja deshalb als erste bezeichnen, weil sie uns
selbst als Dominante unsres Leibes innewohnt und
den Mafsstab für alle unsre Konkurrenten abgiebt.
Die Mehrzahl dieser mehr oder minder senk-
rechten Linien kann sich auf der Fläche nun aber
nicht anders ausdehnen, als in der zweiten Dimension,
die noch übrig bleibt. Sowie es gilt , zwei , drei
und mehr Gegenstände nur nach ihrem Unterschied
von uns einzeln vorzustellen, so ergiebt sich auf der
Fläche das Nebeneinander in horizontaler Richtung.
Und soll gar das Grössenverhältnis dieser Ob-
jekte unter sich bestimmt werden, so müssen sie
sich vollends auf einer fortlaufenden Horizontalen,
als gemeinsamer Grundlinie, aufreihen. Damit haben
wir die Elemente einer Situation wieder beisammen,
wie es für den primitivsten Vorwurf bildlicher Dar-
stellung auf der Fläche gefordert wird. Wir durften
also früher behaupten, die Wurzel der maleri-
schen Schöpfung könne nur in der zweiten Di-
mension gesucht werden.1) Die erste ist, wie wir
soeben gezeigt, für andere Funktion vollauf in An-
spruch genommen. Die dritte Dimension aber giebt
es vorläufig in der Fläche nicht; nur die erste oder
die zweite können als Surrogat verwertet werden.
i) Flüchtige Scribenten haben daraufhin allerdings fertig ge-
bracht, zu behaupten: „dem Verfasser sei das Malerische bekannt-
lich die Breitendimension!" Auf Grund solcher Verdrehung wird
es ihnen dann leicht, über die Ästhetik dieses Verfassers die Achseln
zu zucken.
22
Malerei und Plastik
Und die Entstehung der Tiefendimension führt aber-
mals auf uns selber zurück; sie geht vom Subjekt
aus. Seine vorwärts gerichtete Organisation, seine
ausgreifenden Arme, seine ausschreitenden Beine mit
ihren Erfahrungen der Ortsbewegung, seine vorwärts
gerichteten Augen, deren Sehkraft sich erprobt, in-
dem der Blick in die Weite dringt, — seine all dies
zusammenfassende Vorstellung, die ,,in die Tiefe
strebt", bringen diese Ausdehnung erst aus embryo-
nalem Zustand zur vollen Entwicklung. Die Kunst
der Malerei kann nur allmählich , mit verfeinerten
Mitteln des Augenscheines , nacheifern , wenn das
Fernbild sich für uns mit einem ,, latenten Gehalt
von Bewegungsvorstellungen erfüllt hat", die es nur
auszulösen gilt für unsre Anschauungsform.
Davon sind jene frühen Perioden der Malerei
noch weit entfernt, eben weil sie unmittelbar für die
poetische Vorstellung arbeiten. Die Gegenstands-
vorstellung bleibt die Hauptsache. Ein lineares
Zeichen bis zum erkennbaren Umriss, ein dunkler
Fleck auf hellem Grunde, oder umgekehrt hell auf
dunkel , bis zur wirksamen Silhouette genügen , um
in ihrer Aufreihung und Folge , wie sie abgelesen
werden, nacheinander die Beziehungen zu vermitteln,,
einen Vorgang zwischen ihnen zu erzählen, einen
höheren Kausalnexus aufzuweisen. Die zeitliche Auf-
fassung übernimmt zu leisten, was Höhe und Breite
für die räumliche Auseinandersetzung nicht ver-
mögen, und die successive Anschauungsform über-
wiegt noch, wie in der Dichtkunst und Mimik, den
beredteren Nachbarinnen , bei weitem die simultane
Freiheit der poetischen Vorstellung
23
des Bildlichen selber. Meist bringt der Betrachter
des letztern schon die Kenntnis des geistigen In-
halts mit oder empfängt sie daneben im Texte, so
dass als Aufgabe nur die Veranschaulichung übrig
bleibt, die der leicht erreglichen Phantasie allerdings
auch mit wenigen Mitteln schon die mannichfaltigsten
Associationen zur Stärke des eigenen Erlebnisses
steigert. Ihr höchstes Anliegen bleiben die Kausal-
beziehungen, so dass sie sich um räumlich -körper-
liche Verhältnisse nur insoweit kümmern, als sie ihrer
zum Verständnis jener bedürfen. Diese für den
poetischen Zusammenhang wichtigen Relationen liegen
aber fast alle wieder auf der Seite zeitlicher Vor-
stellungen , im transitorischen Verlauf, oder sie be-
ruhen, wo dies nicht der Fall ist, auf festgewordenen
Associationen, die wieder keine räumliche und
körperliche Auseinandersetzung in dreidimensionaler
Vollständigkeit erheischen, sondern sich mit zwei,
ja mit einer Ausdehnung begnügen. Wechselt doch
ausserdem das vorstellende Subjekt, der Dichter
sowol wie sein Hörer oder Leser mit ihm, beliebig
den Standpunkt zu seinen Personen und Gegen-
ständen, bald aussen bald innen. Ist es doch nie-
mals konsequent an eine Richtungsxe , geschweige
denn an einen festen Schnittpunkt der Koordinaten
gebunden, sondern erlaubt sich, die Tiefe entweder
als Nebeneinander in der Breite oder als Über-
einander in der Höhe, ja ebensowol, von seiner
Warte herab oder in leichtem Fluge dahin, als
Untereinander zu betrachten, wie sein Schauplatz
himmlische , irdische und höllische Regionen um-
24
Malerei und Plastik
spannt. Die Wandelbarkeit und Ungebundenheit des
poetischen Standpunktes, die ja Berge versetzt und
durch die dicksten Mauern in das finstre Turm-
verliess eindringt , wohin immer der goldene Faden
der Fabel sich verliert, — sie überträgt sich bis
zu einem starken Grade auf die primitive Darstel-
lungsweise des Malers , nämlich soweit nicht allein
die Fläche, sondern auch ihr Beschauer, mit dem
nötigen Wechsel seines Standpunktes den Bildern
gegenüber, der Vorstellung nachzukommen vermögen.
Ihre Figuren geben keine Auskunft über die dritte
Dimension als Körper ; ihre Fläche bedeutet den
Raum, ohne Rechenschaft über die ferneren Distanz-
schichten, ohne weitere Kulissen auf der Bühne, ja
ohne bestimmteren Hintergrund, als die Farbe der
Wand , oder Himmelsblau , oder Goldton , oder ein
Teppichmuster gar, die immer nur als Folie dienen
für die Figuren, wol den Kontrast verstärken je
nach dem Abstand des Beschauers, aber selbst keine
Gegenstandsvorstellungen mehr erwecken sollen.
Diese und ähnliche Phasen der dekorativen
Wandmalerei, wo mit der Ortsbewegung des Be-
trachters wie im Bauwerk selber gerechnet wird,
oder der ornamentalen Buchmalerei, wo die Beweg-
lichkeit und Lage der Blätter diesen Wechsel ge-
währen, sind jedoch weit entfernt von der eigen-
tümlichen Aufgabe der Malerei , die sie als
selbständige Kunst erfasst. Mag auch die erstere
sich zur monumentalen Raumkunst, die andere zur
intimeren Bildkunst entwickeln. Erst da reden wir
vom specifischen Wesen einer Kunst, wo sie gerade
Rein malerische Anschauung
2f>
diejenige Auseinandersetzung des Menschen mit der
Welt zu geben sucht, die keine sonstige Nachbarin
so zu geben vermag oder geben will , — mögen
diese nun Poesie oder Baukunst heissen wie hier,
oder Mimik und sonstwie.
Wenden wir unsern Blick dagegen auf diese Zeiten
in der Geschichte der Malerei , wo die Annahme
eines festen Standpunktes für das Bild längst zur
selbstverständlichen Voraussetzung geworden war,
und wo das echt malerische Streben in eigenster
Ausbildung seinen Höhepunkt erreicht, um auch
dort zu fragen, inwiefern sie ,,die volle Form-
vorstellung von dem Gegenstand erwecken" will.
Nehmen wir also ein Gemälde von Rembrandt oder
eine seiner Radierungen beliebigen Inhalts; genug,
wenn sein besonderes Vermögen für sich zum Aus-
druck kommt. Da tauchen aus dem tiefen Dunkel
die Lichterscheinungen auf und steigen zur Höhe
lebendigster Wirkung, ohne dass wir nach ihrer kör-
perlichen Gestalt für sich oder nach ihrem räumlichen
Verhältnis genau zu forschen veranlasst werden. Ja,
sobald wir die volle Formvorstellung von allen Gegen-
ständen solchem Bilde abzufragen begehren, so gehen
wir nicht allein der Einheit des Ganzen, sondern
auch des reinen Genusses an der echt malerischen
Leistung als solcher verlustig. Weshalb? Doch wol
nur, weil die Ökonomie der Erscheinungsfaktoren in
ein Gleichgewicht gebracht ist, das den Druck auf
einen einzelnen von ihnen nicht verträgt, ohne
Störung der Harmonie. Bildhauer und Baumeister
haben nicht mehr dreinzureden wie einst.
26
Malerei und Plastik
Oder deuten wir endlich auf ganz moderne
Richtungen hin, die uns zunächst liegen, auf die
durchaus malerisch gesonnenen Stimmungsbilder, in
denen Körper und Raum wie durcheinander gewebt
zum wesenlosen Scheine, nur Licht und Farben auf
der Fläche festgehalten, so weit verschweben, dass
sie kaum noch die formale Anregungskraft eines
Nebelstreifs bewahren. Wie viele Übergangsstadien
liegen vor diesen verschwimmenden, aus Duft nur
hingehauchten Erscheinungen. Wie viele Wolken-
gebilde seit Correggio, von denen die Gegenstands-
vorstellung des phantasievollen Beschauers behaupten
mag was sie will, wie Hamlet und Polonius, der ihm
nach dem Munde redet und doch der Gefoppte
bleibt, sind diesen modernsten Bildern voraus-
gegangen und immer zu schwer, zu materiell, zu
formbestimmt erfunden worden.
Da rühren wir von andrer Seite wieder an das
Wesen der malerischen Schöpfung und kehren auf
neuem Wege zu ihrer Wurzel zurück. Nicht mehr
aus dem Bedürfnis der pragmatischen Phantasie ent-
sprungen , nicht mehr auf Gegenstandsvorstellungen
erpicht wie jene frühen Versuche sind diese
Äusserungen, die ihrerseits die reinsten, eben dieses
Wesens selbst zu sein behaupten. Aus den Sinnes-
eindrücken des Auges allein möchten sie stammen.
Sie leiten also zurück zu dem Flächeneindruck
unsres Sehfeldes oder der unbezeichneten Weite des
Sehraumes ringsum. Dort setzen sich die Dinge
nicht mehr mit unserm eignen Körper auseinander
wie die der nähern Umgebung, so aufdringlich und
Augenschein der Weltweite
27
hart, da treten sie noch nicht unter sich auseinander
als Stücke der Welt , die sich aus lauter Einzel-
bestandteilen wie ein Theater zusammenschiebt ; son-
dern der dreidimensionale Gehalt bleibt latent, noch
ungeschieden, ja die Dreifaltigkeit der Axen schwebt
unsichtbar wie über den Wassern , im Ocean der
Luft, — eben in der unendlichen Weite , die den
ursprünglichsten Gegensatz zu uns selber bildet , zu
dem so kleinen, aber so ausdehnungsfähigen Ich.
Wenn ein Maler es versucht, eben dieses Ge-
fühl zu veranschaulichen und dem Beschauer un-
mittelbar zu Gemüte zu führen, so ist es wieder die
Breitendimension allein, die zum Träger dieses sicht-
baren Inhalts werden kann ; eben in der Ausdehnung
unsres Horizontes liegt ja der Keim dieser male-
rischen Idee ; ebenda wurzelt auch die Möglichkeit
ihrer Ausführung. Freilich, diese bleibt für die dar-
stellende Kunst immer eine Ausnahme, und wir
fragen nicht mit Unrecht weiter nach Analogieen
mit einer Schwesterkunst, wie bei jenen Anfängen
der Wand- und Buchmalerei, in denen das gegen-
ständliche Interesse der Poesie noch die leitende
Rolle spielt. ,, Stimmungsbilder" haben wir sie von
vornherein genannt, ,, Gefühlsausdruck", möglichst
gegenstandslos, in ihnen gesucht. Und so sind es
Analogieen mit der Lyrik allein, wenn der Weg
durch die Vorstellung gegangen, mit der Musik
allein, wenn die Gemütslage und die Sinnessphäre
den Antrieb hervorgebracht. Auch dies Symptom
natürlich charakteristisch für die Zeit, in der solche
Malereien entstehen.
2S
Malerei und Plastik
Jedenfalls also giebt es in der Malerei beachtens-
werte, weder historisch noch theoretisch wegzuläug-
nende Gebiete, in denen die Gesichtseindrücke, die
das Bild gewährt, nicht die volle Formvorstellung
von Gegenständen erwecken sollen. Licht und Farben
sind die mächtigen Faktoren, die uns die sichtbare
Erscheinung des All zu vermitteln im stände sind,
ohne irgendwie zur Raumform oder zum Körper-
volumen zu konkrescieren. Sie bestimmen die Ökono-
mie eines Bildes als Kunstwerk mit demselben Recht,
wenn nicht mit grösserem, wie die linearen Elemente
der Zeichnung, die monochrome Silhouette, die schon
gar nicht ohne die Hilfe jener beiden zu bestehen
und weiterzukommen vermögen. In unsrer Alltags-
erfahrung verbinden sich allerdings die Farben zu-
nächst mit den Körpern, und das Licht erfüllt den
Raum, noch ohne sich als Medium geltend zu machen,
indem es ihn für uns erhellt. So ist es nicht anders
als natürlich, wenn die Malerei von jenem gegen-
ständlichen Interesse poetischer Erzählung aus, auch
zur Schärfe und Bestimmtheit in der Wiedergabe
der Dinge und ihres Schauplatzes weiter drängt.
Die Körperlichkeit mit ihrem materiellen Vollgewicht
heraufzubeschwören und die Räumlichkeit mit all
ihren Konsequenzen in den Rahmen des Bildes aufzu-
nehmen, ist aber ein kühnes Unterfangen, das die Ein-
heit der Flächenwirkung als solche zersprengen muss.
Die elementaren Mächte der Wirklichkeit zu bändigen
und in solchem Ausschnitt für den lautern Genuss
des Schauens zu beruhigen, dazu gehört eine sichere
Herrschaft über sie alle, und mehr als ein feinsinnig
Monumentaler Stil
29
empfindendes Auge. Es sind andre Zeiten, die das
durchführen, und der natürlichen Leibhaftigkeit der
Dinge, der allseitig klaren Auseinandersetzung mit
der Welt zur Befriedigung ihres höchsten künstleri-
schen Bedürfnisses nicht entbehren wollen.
Ist es noch nötig, an den weitern Gang der
monumentalen Wandmalerei in Italien zu erinnern,
an die perspektivische Folgerichtigkeit des Quattro-
cento und die plastische Entfaltung aller Körper in
der Hochrenaissance, der die Wiedergabe der vollen
Formvorstellung, sei es bei organischen Geschöpfen,
sei es bei tektonischen Gebilden, im klar umschriebe-
nen Räume auch für Gemälde als Hauptaufgabe er-
schien? Diese Leistungen der grossen Meister des
Cinquecento hat offenbar Hildebrand im Auge, wenn
er den Forderungen der Raum- und Körperdarstellung
nachgeht und auf sie das Problem des Malers zu
gründen sucht.
Die künstlerische Darstellung darf nicht ver-
absäumen, die Grundlagen räumlich-körperlicher Exi-
stenz mitzugeben, die uns so selbstverständlich vor-
kommen, aber eben deshalb so notwendig sind ; sie
muss die elementaren Wirkungen, die uns den all-
gemeinen Formbegriff lebendig machen, aus der Ge-
samtheit der Erscheinungen und trotz dieser zu stände
bringen, wenn sie stark und natürlich sein soll (26).
,,Denn erst dadurch wird das Kunstwerk zu einem
wahren Ausdruck unsres Verhältnisses zur Natur,
wie es sich in unsrer räumlichen Vorstellung natur-
gemäss bildet." Und je stärker der Maler „den
Raumgehalt, die Raumfülle im Bilde zur Anschauung
30
Malerei und Plastik
bringt, je positiver durch die Erscheinung für die
Raumvorstellung gesorgt ist, zu desto stärkerm Er-
lebnis wird uns das im Bilde Dargestellte, desto
wesenhafter stellt sich das Bild der Natur gegen-
über" (34).
Der Künstler soll den Einzelfall, den er als Vor-
wurf wählt, aus dem Gesichtspunkte der allgemeinen
Gesetzmässigkeit auffassen und darstellen, deren Ge-
samtvorstellung uns aus unendlichem Erfahrungs-
austausch unsrer Gesichts- und Bewegungsvorstel-
lungen erwächst. ,, Indem er die Natur von diesem
Gesichtspunkte auffasst, stellt er der jeweiligen Natur-
erscheinung eine Bilderscheinung gegenüber, bei der
das Zurückführen auf diese Gesetzmässigkeit die
Naturerscheinung verarbeitet und geklärt hat, und
welche dadurch unserm Vorstellungsbedürfnis ent-
spricht" (18).
Man kann das Grundprincip der realistischen
Malerei, die für ihr Werk den Glauben an die Wirk-
lichkeit fordert, auch ohne sich mit dieser zu ver-
wechseln, nicht energischer betonen. Es klingt wie
die Überzeugung eines Malers, der mit den grössten
Meistern der Raumkunst in der Renaissance, wie
Masaccio und Piero della Francesca, Melozzo da
Forli und Rafael, gelebt hat, und selbst als äQ%iTexTcov
ävi'iQ wie diese zu denken gewohnt ist. Deshalb
haben seine Erörterungen über die Kunstmittel, die
der Malerei hierfür zu Gebote stehen, zur Grundlage
einer zusammenfassenden Charakteristik der „klassi-
schen Kunst" Italiens dienen können.
Ihm ist es nicht entgangen, dass dazu eine ganze
Konstituierung des Bildraumes
31
künstlerische Psychologie" gehört, die von den un-
bewussten Regionen unsers Körpergefühls auszugehen
hat und mit ihren alltäglichsten unbeachteten Er-
fahrungen rechnet (56).
Für den Maler ist die Konstituierung des Bild-
raumes in seinem Verhältnis zum Beschauer sozusagen
das Lehrgerüst. „Es liegt in unsrer senkrechten
Stellung zur Erde, andrerseits in der horizontalen
Lage unsrer beiden Augen, dass die senkrechte und
wagerechte Richtung, als Grundrichtungen aller
andern, uns eingeboren sind. Enthält das Bild der
Natur diese zwei Hauptrichtungen, so haben wir so-
fort das beruhigende Gefühl eines klaren räumlichen
Verhältnisses zur Bilderscheinung" (37 f.) . „Um das
einfachste Beispiel zu geben, so denke man sich
eine Ebene. Es ist einleuchtend, dass sie deutlicher
zur Anschauung kommt, wenn irgend etwas darauf
gestellt ist, z. B. ein Baum, also ein Senkrechtes.
Dadurch, dass etwas auf ihr steht, spricht sich so-
fort die horizontale Lage der Fläche, man könnte
fast sagen, als räumlich sich betätigend, aus. Um-
gekehrt wirkt aber der Baum, in seiner anstreben-
den senkrechten Formtendenz durch die horizontale
Fläche gesteigert. Kommt nun noch die Wirkung
von Schatten und Licht hinzu, so dass der Baum
einen Schatten auf die Erdfläche wirft, so wird das
räumliche Verhältnis beider nochmals erwähnt, noch-
mals der Vorstellung aufgezwungen. Ziehen am
Horizonte ein paar Wolkenstreifen den Blick nach
hinten, so schreiten wir auf der Ebene nach der
Tiefe vor und erleben somit durch die einfachsten
32
Malerei und Plastik
Erscheinungsmittel alle Raumdimensionen als eine
gemeinschaftliche Anregung. Damit lässt sich aber
auch verstehen, wie die Einzelgegenstände durch die
Stellung und Anwendung an der Darstellung des Ge-
samtraumes arbeiten und je nach ihrer Verwertung
die Raumanregung des Ganzen verstärken, andrer-
seits durch die Verwendung an sich als Einzelgegen-
stände stärker zum Ausdruck kommen, weil sie eben
im Ganzen eine bestimmte räumliche Funktion haben,
eine bestimmte räumliche Rolle spielen" (36 f.).
Unsre Vorstellung erfasst nämlich den im Seh-
felde erscheinenden Raum, indem sie in der vollen
Ausdehnung jenes eine Bewegung nach der Tiefe
ausführt, nach der Tiefe strebt — also auch beim
Bildraume des Gemäldes. ,,Wenn wir uns Einzel-
körper in diesen Raum gestellt denken, so bilden
sie sozusagen Widerstände gegen diese allgemeine
Tiefenbewegung, Flächenerscheinungen, die nicht
weichen. Durch die allgemeine Tiefenbewegung er-
halten sie jedoch Volumen und, je nachdem diese
Flächenerscheinung bestimmt präcisierte Merkmale
besitzt, an denen die Tiefenbewegung hingleitet, —
erhalten sie ein präcisiertes Volumen, d. h. plastische
Form."
„Auf diese Weise werden alle räumlichen Be-
ziehungen und alle Formunterschiede von einem
Standpunkte aus, sozusagen von vorn nach hinten,
abgelesen. Die Gesamterscheinung leistet dieser ein-
heitlichen Tiefenbewegung, je nach ihren Teilen, nur
einen frühern oder spätem Flächenwiderstand. Die
erste und zweite Dimension steht als Flächenerschei-
Dynamik des Bildes
33
nung der dritten Dimension als Tiefenbewegung ent-
gegen. Bei dieser allgemeinen Tiefenbewegung er-
fassen wir den Raum als Einheit" (45 f.).
Darin wäre mithin eine Art Dynamik in der
ästhetischen Aufnahme des Bildraums aufgezeigt.
Damit sie richtig ausgelöst werde, kommt es also
einerseits auf die klare Gegenüberstellung der bei-
den Faktoren , der Flächenerscheinung und
der Tiefenwirkung, an und andrerseits auf die
unfehlbare Anregung zum Vollzug der Einheit in der
Tiefenbewegung.
Demgemäss könnte , was zunächst die Fläche
betrifft, unmittelbar an das früher über die Gegen-
standsvorstellung Gesagte angeknüpft werden, da die
Zeichen für diese sich schon in der Flächenpropor-
tion auszusprechen pflegen (51). Dabei wird der Wert
der zwei Grundrichtungen, nach der wir alle andern
verstehen, beurteilen und messen, der Senkrechten und
der Wagrechten sich von selbst geltend machen. Im «
Grossen und Ganzen vertritt ja alles , was auf der
Erde steht und wächst — also alle Körper — die
Senkrechte ; dagegen überwiegt in der Natur im all-
gemeinen die horizontale Richtung, in der sich also
die Gegenstände ausbreiten (58). Hier aber kommt
es vor allen Dingen darauf an, dass die Einzel-
erscheinungen auf der Fläche möglichst als all-
gemeiner Flächeneindruck geeinigt werden, um der
Tiefenbewegung gegenüber den nötigen Zusammen-
halt und die fühlbare Widerstandsfähigkeit zu ge-
winnen. Diese Einigung ist dadurch möglich, dass
die einzelnen Flächenbilder gruppenweise in möglichst
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. o
34
Malerei und Plastik
gemeinhaftliche Distanzpläne geordnet werden. Ein
zweites Mittel liegt in der Überschneidung, die einen
Teil des Dahinterliegenden verdeckt, aber zugleich
zu ihm überleitet, also z. B. Figuren verschiedener
Distanzschichten zu einer einheitlichen Flächenwir-
kung verbindet. Drittens kommt im selben Sinne
die Lichtführung zu Hilfe , die Flächenbilder von
verschiedenem Abstand doch als einheitliche Licht-
massen zusammenzuhalten. Indes ist ja das Licht,
das den Raum durchdringt, ebendadurch zugleich
eine auseinandersetzende Macht , die Tiefenwerte
schafft. Und ebenso steht es mit den Farbentönen,
die als letztes Mittel der Einigung zum Flächen-
schein in Betracht kämen, durch ihr Haften an den
Körpern sowol wie durch ihre Helligkeitsgrade je-
doch ebenso trennend als verbindend wirken können.
Da gehen also die beiden Faktoren Flächeneinheit
und Tiefenwirkung ineinander über (54 — 60).
Dieser zweite Faktor wird von Hildebrand als
unerlässlich gefordert. Von der Erscheinung im
Bilde selbst muss die Anziehungskraft ausgehen,
welche die Vorstellung stark nach der Tiefe zieht
(46). „Es darf nichts aus dem Bilde auf uns zu-
kommen, sondern wir müssen in das Bild hinein-
schreiten, um eine einheitliche Tiefenbewegung zu
behalten," schreibt der Künstler (53) in lebendiger
Ubertragung der eigenen Ortsbewegung auf den still
stehenden Beschauer an seinem fest vorgeschriebenen
Standort, und bekennt so unwillkürlich, wie selbst
„im Erfassen des Bildes in einem Blick", das unser
„ruhig schauendes Auge ohne Bewegungstätigkeit"
Dynamik des Bildes
35
vollziehen soll , ein starkes Ingrediens von Körper-
gefühlen wirksam wird , die aus den verpönten
Regionen unsrer Tastempfindungen stammen.
Auf diese unläugbare Tatsache wird gar das
Zustandekommen der ästhetischen Bildeinheit gebaut.
„Das Wesen der einheitlichen Darstellung liegt darin,
dass ihr eine einheitliche Anziehungskraft nach der
Tiefe innewohnt-' (46). Da muss selbst unsre
Gegenstandsvorstellung , die z. B. eine Verkürzung,
wo sie eine vornüber gebeugte Person erkennt, als
aus dem Bilde uns entgegenkommend aufzufassen
trachtet, gezwungen werden, sich der höhern Macht
des Tiefendranges gefangen zu geben ! Das Auf-
rechterhalten der einheitlichen Tiefenbewegung soll
freilich dadurch gelingen, dass hinter jeder Ver-
kürzung noch etwas ist , was den Blick und die
Tiefenvorstellung stark nach hinten zieht, — also
irgend eine Ferne (53). Aber wenn einmal ein
Konflikt von Gegenstandsvorstellung und Gesichts-
oder Bewegungsvorstellung ausgebrochen ist, so kann
wol nur eine höhere Instanz, die in der Vorstellungs-
tätigkeit selber wirkt, die Ausgleichung zur Ein-
heit entscheiden. Doch folgen wir dem Führer,
die wertvollen Errungenschaften seiner Analyse zu
sichern.
Es ist ausserordentlich wichtig, zu der Erkennt-
nis durchzudringen, dass solche Bilderscheinung dann
,,aus einem Komplex von Gegensätzen besteht, welche
alle gegenseitig und wiederum im Ganzen An-
regungen für die plastische und räumliche Vor-
stellung in uns bewirken müssen, wenn wir ein
36
Malerei und Plastik
wahrhaft lebendiges Bild der realen räumlichen
Natur erhalten sollen. In diesem gegenseitigen
Bedingen der Erscheinungsgegensätze und in ihrem
gemeinschaftlichen Hervorrufen eines Raumganzen
besteht eine Einheit der Erscheinung, welche nichts
gemein hat mit der organischen oder der Vorgangs-
einheit in der Natur" (39).
„Gerade durch diese Koncentration und Zu-
sammenfassung im Bilde vermag die Kunst die zer-
streute Anregung der Natur zu übertreffen. Der
Künstler beobachtet auf diesen Zweck hin die Natur-
erscheinung in ihrem ewigen Wechsel, er scheidet
alle schwächlichen, nichtssagenden (!) Konstellationen
aus." — „Durch die Wirkungsgestaltung des Einzel-
falles," heisst es an andrer Stelle (28), „giebt er die
Vorstellung, die sich an tausend Einzelfällen ge-
bildet hat." — ,, Durch dies Reinigungssystem ver-
mag er dem Bilde die Kraft einzuverleiben, die es der
Natur gegenüber wertvoll macht."
Darin liegt also die ideale Seite der italienischen
Malerei bei den Meistern der Hochrenaissance aus-
gesprochen, die den Realismus des Quattrocento, auf
dem sie einig weiter bauen, durch diese Konsequenz
im Sinne des menschlichen Intellekts zu der Über-
legenheit eines Systems gesteigert haben, vermöge
deren eben diesen Leistungen der Wert para-
digmatischer Bedeutung gesichert wird.
Auch so aber bleibt dieser „klassische Stil" der
italienischen Malerei eine historisch bedingte Er-
scheinung, und es dürfte nicht ratsam sein, die
Theorie der Malerei als Kunst auf sie allein so aus-
Zeichnung und Farbe
37
schliesslich zu gründen. Das Problem des Malers
darf als solches doch nicht darin gesucht werden,
dass er alle Gesichtseindrücke auf ihre plastische,
oder sagen wir umfassender räumlich-körperliche,
Anregungskraft hin prüft und zu diesem Zwecke
verwendet. Es ist nur ein Teil desselben, der so-
gar nicht immer zu den Hauptbestandteilen ge-
rechnet wird. — Und Hildebrand selbst bevorzugt
auf dieser Seite des Problems wieder erklärtermafsen
die ,, zeichnerischen Mittel". ,, Diese bilden den eigent-
lichen Kern der Wirkung des Bildes als eines Raum-
ganzen, sozusagen die Architektur des Bildes." —
,,Es ist auf der Hand liegend , dass die Farbe in
einem dienenden Verhältnis zur räumlichen Vor-
stellung steht und nur insofern beim Bilde von einer
innern Einheit der Farbe die Rede sein kann , als
diese an der grossen Arbeit, ein Raumganzes zu
bilden, teilnimmt. — Nicht um den Reiz der Farbe
an sich , wie beim Teppiche , sondern um ihr Er-
scheinungsverhältnis als Distanzträger handelt es sich
in erster Linie" (60). Das ist für den grossen Ab-
schnitt der geschichtlichen Entwicklung, als dessen
Hauptvertreter wir die italienischen Meister der
Hochrenaissance gewählt haben, unzweifelhaft richtig.
Das Helldunkelverfahren eines Rembrandt, so sehr
es sich auch bei ihm um raumentwickelnde Er-
scheinungsfaktoren handelt, beweist jedoch den Weg
zu einer malerischen Einheit, die auf ,, zeichnerische
Mittel" im eigentlichen Sinne verzichten und all-
mählich von der Absicht, Gegenstandsvorstellungen
zu erwecken, zurückkommen kann.
38
Malerei und Plastik
Diese letztern aber sind das Gemeinsame der
ganzen historischen Entwicklung vorher. Hildebrand
kennt selber das unauflösliche Band, das jede auch
noch so künstlerisch vollendete Raum- und Körper-
darstellung im Bilde mit unsern Gegenstandsvor-
stellungen verknüpft. „Die Erscheinungsgegensätze,
die der Maler auf seiner Fläche verwenden kann,
sie bewirken doch erst dadurch einen Raumwert,
werden erst dadurch wirksam für die Formvor-
stellung , dass sie sich mit gegenständlichen Vor-
stellungen associieren, dass wir sie auf gegenständ-
liche Natur beziehen" (46 f.).
Daraus aber geht hervor, dass es sich bei der
konstitutiven Arbeit des Malers selbst nicht allein
um ein ,,In Beziehungsetzen der Gesichtsvorstellungen
und Bewegungsvorstellungen" handelt, nicht nur
zwischen ihnen ein gesetzmässiges Verhältnis ge-
funden und vermittelt wird , sondern dass es auf
eine viel kompliziertere psychologische Synthese
hinausläuft. Und deshalb dürfte auch der Wert
des Fernbildes ,,als reiner Gesichtseindruck" über-
schätzt sein.
Wo immer jedoch die letzte Einheit des Kunst-
werks, ob schon in der sinnlichen Wahrnehmung
selbst oder erst in der geistigen Vorstellung gesucht
werde , es muss nach dem Bisherigen einleuchten,
„welch' unendlich anderes Ding so ein Bild ist, als
das Dargestellte in natura" (41).
Die Antwort auf die Frage nach dem Problem
der Form in dieser bildenden Kunst, der Malerei,
kann also nur lauten : es liegt in der Herstellung der
Das Problem des Malers
39
Bildeinheit, — und zwar zunächst für den Gesichts-
sinn oder die Gesichtsvorstellung. „In dem gegen-
seitigen Bedingen der Erscheinungsgegensätze be-
steht eine Einheit, die nichts gemein hat (oder
richtiger : nicht identisch ist) mit der organischen
oder der Vorgangseinheit in der Natur" (39).
Die einzelnen Form-Probleme für das Dar-
gestellte ergeben sich erst mit den Anforderungen,
die von Gegenstandsvorstellung und Weltvorstellung
überhaupt an das Bild gestellt werden, oder mit den
Ansprüchen an Vollständigkeit des Weltbildes im
Einzelnen (also auch in plastisch körperlichem Sinne)
oder im Ganzen (also auch in räumlich konsequentem
Sinne), die der Maler selbst erhebt und herausfordert.
Das Problem des Malers aber im allgemeinen
oder das specifisch malerische Problem, der
Vorwurf der Malerei als Kunst im Unterschied von
ihren Nachbarinnen, worauf es uns ankam, ist etwas
ganz anderes.
Das Hauptproblem der Malerei ist die
Wiedergabe des Zusammenhangs zwischen
den Dingendieser Welt, also der Einheit
des Ganzen, das uns umgiebt, — und zwar
zunächst, soweit wir im Augenschein
allein seiner habhaft werden können.
Nicht ein Gegenstand an sich also, sondern in,
mit und unter einer Situation, interessiert sie. „Viele
Gegenstände sind ja an eine bestimmte Situation
gebunden ; so kennen wir sie nur als bestimmte
Wirkungsform , und durch die Änderung der Situa-
tion scheint sich ihre Daseinsform zu ändern," schreibt
40
Malerei und Plastik
auch Hildebrand gelegentlich (24). Das ist aber ein
einfacher Fall für den Maler. „Auf diese Weise
nimmt der Gegensatz , in dem der Gegenstand zu
seiner Umgebung steht, Teil an seiner Charakterisie-
rung;" aber auch umgekehrt, charakterisiert der Gegen-
stand durch seine Gegenwart die Umgebung mit.
Das heisst sie treten beide in einen Zusammenhang.
Und zwar giebt es, wie Hildebrand selber ausführt,
normale Wirkungsaccente, typische Situationen, die
sich in unsrer Vorstellung festsetzen , und zufällige,
exceptionelle , transitorische Zusammenhänge. ,,Der
Künstler bereichert, je nach seiner individuellen Be-
gabung unser Verhältnis zur Natur, indem er die
Daseinsform in Situationen bringt, die ihr neue Wir-
kungsaccente verleihen. Je normaler und typischer
die Wirkungsaccente in einem Kunstwerk fallen,
desto objektivere Bedeutung besitzt es." Je transi-
torischer, exceptioneller die Erscheinungseinheit,
dürfen wir hinzufügen, desto subjektiver wird sie
uns vorkommen , auch wenn wir in der Malerei ihre
Berechtigung gar nicht beanstanden.
Nicht die isolierte Körperform also , aber auch
nicht die Raumform als solche ist der Vorwurf des
Malers, sondern wieder nur der Zusammenhang, der
innerhalb der dargestellten Gränzen herrscht. Im
Nebelschleier, in dem sich die scharfe Auseinander-
setzung der Abstände ausgleicht und die Form ver-
schwimmt, im schimmernden Duft der feuchten,
lichterfüllten Atmosphäre wird auch ein klarer Archi-
tekturprospekt malerisch, also Darstellungsgegenstand
für den Maler. Dieser sucht eben den Zusammen-
Der Augenschein des Zusammenhangs der Dinge
4 I
hang, der die organische und die unorganische Natur
verbindet, durch beide hin waltet, über alle Einzel-
bildung, und Distanzteilung hinweg geht, zu fassen.
Die Veränderungen, die alle Formen und Farben
unter dem vorübergehenden Einfluss der Tages- und
Jahreszeiten, des Wetters und des Alters erleiden,
die Abhängigkeit von den allgemeinen Gesetzen des
Alls, da liegt sein Feld, auf dem keine andre Kunst
mit ihm wetteifern kann. Begreiflicherweise mischt
sich im Interesse des Menschen mit diesem sicht-
baren Zusammenhang sehr leicht der unsichtbare,
der nur durch andre Sinne vermittelt wird, wie der
hörbare des Wortes , oder erst in der Vorstellung
einleuchtet, wie der Kausalnexus. So dringen, be-
sonders auf dem Wege der mimischen Beziehungen
zwischen den Figuren, aber auch zwischen Personen
und Schauplatz , zwischen Dingen und ihrer Um-
gebung, — poetische Beziehungen in den Darstel-
lungskreis des Malers, und der Zusammenhang mi-
die Phantasie verbindet sich mit dem Zusammenhang
für den Gesichtssinn, nicht selten in einem Grade, der
die selbständige Existenz des Bildes als eines Kunst-
werks für sich, als malerische Schöpfung gefährdet.
Für die Malerei als Kunst bleibt natürlich die Bild-
einheit des Augenscheines das Kriterium ihrer Er-
scheinungsform, und nur mit der Darstellung eines
Zusammenhanges, den unser schauendes Auge zu
erfassen, zu gemessen und zu vermitteln vermag,
befinden wir uns im Mittelpunkt ihres Reichs , wo
keine Nachbarin ihre Hand im Spiele hat.
42
Malerei und Plastik
Nun aber haben wir die darstellende Tätigkeit
des Malers für sich allein verfolgt, ohne uns um die
weitere bildende Kunst zu kümmern, die Hildebrand
damit zusammenfasst. Er geht von der Voraus-
setzung aus, die Aufgabe, wie er sie formuliert, — ■
,,das Zutagefördern einer allgemeinen Raumvorstel-
lung durch die Gegenstandserscheinung" — sei fin-
den Bildhauer ganz dieselbe wie für den Maler. „Die
Arbeit Beider wird durch dasselbe Vorstellungs-
bedürfnis geleitet, mögen auch die zu verwendenden
Mittel noch so verschieden sein." Auch für die
Plastik ist nach seiner Uberzeugung das ,, Fernbild",
das reine einheitliche Flächenbild von entferntem
Standpunkt, wie es erst von einer gewissen
Distanzschicht an auf unserm Sehfeld sich dar-
bietet, das einzige Mittel zur Lösung des Form-
problems.
Nach unsrer Ansicht vom Wesen der Malerei
kann ihr aber unmöglich dasselbe Gestaltungsprincip
innewohnen wie der Plastik ; wir müssen auch für
diese zu einem abweichenden Ergebnis gelangen, so
schwer es werden mag, der Ansicht eines Bildhauers
von seiner eigenen Kunst entgegenzutreten.
Wir müssen, um mit ihm die künstlerische
Tätigkeit des Bildners zu verfolgen, zu dem grund-
legenden Experiment zurückkehren , wo als Objekt
für die Gesichts Wahrnehmung ein Gegenstand (in
bestimmter Situation) mit Umgebung und Hinter-
grund gegeben, die Richtungslinie des Beschauers
fest gelegt, und nur der Abstand auf ihr verschieb-
bar gelassen war.
Abtastendes Sehen
48
Vom entfernten Standpunkt ergab sich für das
ruhige Schauen das Fernbild. Tritt der Beschauer
aber näher hinzu , so dass er verschiedene Augen-
akkomodation braucht, um das gegebene Objekt zu
sehen , dann hat er die Gesamterscheinung nicht
mehr in Einem Blick, und er kann sich das Bild nur
durch seitliche Augenbewegungen mit verschiedener
Akkomodation zusammensetzen. Es teilt sich also
die Gesamterscheinung in verschiedene Gesichts-
eindrücke, welche durch Augenbewegung verbunden
werden. Je näher der Beschauer dem Objekte tritt,
desto mehr Augenbewegungen braucht er und desto
kleiner werden die einheitlichen Gesichtseindrücke.
Zuletzt vermag er den Gesichtseindruck so zu be-
schränken, dass er nur immer einen Punkt scharf in
den Sehfocus rückt und die räumliche Beziehung
dieser verschiedenen Punkte in Form eines Be-
wegungsaktes erlebt ; alsdann hat sich das Schauen
in ein wirkliches Abtasten und in einen Be-
wegungsakt umgewandelt und die darauf fussenden
Vorstellungen sind keine Gesichtseindrucksvorstel-
lungen (von nun an kürzer : Gesichtsvorstellungen),
sondern Bewegungsvorstellungen, — und
bilden das Material des Form-Sehens und Form-
Vorstellens."
„Das geistige Material des Bildhauers sind also
seine Bewegungsvorstellungen, welche er teils direkt
aus der Bewegungstätigkeit des Auges selbst, teils
aus den Gesichtseindrücken gewinnt, und diese bringt
er, indem er sie mit der Hand wirklich ausführt, an
einem stofflichen Material zur Darstellung. Diese
44
Malerei und Plastik
so dargestellten Bewegungsvorstellungen geben als-
dann wieder einen Gesichtseindruck ab und sollen
in diesem Gesichtseindruck als Fernbild ihre
Einheitsform gewinnen."
Wir überlassen es billig der Psychologie zu
entscheiden, wie weit das geistige (oder psychische)
Material des Bildners sich als Bewegungsvorstellungen,
wie das des Malers als Gesichtsvorstellungen be-
stimmen , und , wie es hier geschieht , zur Unter-
scheidung beider Tätigkeiten beschränken lässt.
Das Schachtelsystem , in das man so gern wieder
verfällt, tut hier nichts zur Sache, wenn wir ohne
diese doch immer noch variablen Etiquetten auf den
Schubfächern auszukommen versuchen. Nur auf Eins
muss aufmerksam gemacht werden, dass wieder die
Beziehung zu den ,,niedern Sinnen" sorgfältig ver-
mieden wird, obgleich anfangs vom Abtasten des
Auges geredet worden.
Lassen wir auch das ,, Fernbild", das weiterhin
noch einer genaueren Auseinandersetzung bedarf, zu-
nächst bei Seite, und betrachten den vollrunden
plastischen Körper erst einmal ganz isoliert.
Dann steht die Grundtatsache wenigstens ausser
Zweifel, dass auch die Plastik in erster Linie für das
Sehorgan des Menschen arbeitet. Sie stellt für das
menschliche Subjekt ein sichtbares Gebilde hin. Der
Gesichtseindruck oder die Gesichtseindrücke, die wir
von dem Werk des Bildhauers empfangen, werden
also stets eine Hauptrolle spielen. Sie beanspruchen
in dem Wahrnehmungsakt jedenfalls das Recht der
Priorität. Das ist nicht anders, wie beim Gemälde,
Luft und Licht in der Plastik
45
nicht anders auch beim Bauwerk, — und jeglichem
Gegenstande, dem wir irgendwo begegnen, d. h. am
hellen Tage. Es ist das Licht des Tages , unter
freiem Himmel oder im Innenraum, oder gar künst-
liche Beleuchtung , die uns das Bildwerk sichtbar
machen. Während aber der Maler die Beleuchtung
aller Gegenstände , die er uns zeigt , im Gemälde
selber mit darstellt, vermag der Bildhauer sie nicht
zu geben, wie er will, sondern muss sie sein Werk
hinnehmen lassen, wie sie kommen. Er kann sie
keiner künstlerischen Behandlung unterziehen , son-
dern ihnen höchstens , wo er für einen festen Be-
stimmungsort gestaltet, einen weitergehenden Ein-
fluss auf die Art seines Verfahrens und die An-
wendung einzelner Kunstgriffe gestatten, er kann
der wolvertrauten Macht sozusagen in die Hände
arbeiten , wie einer Bundesgenossin , mit der er
ständig zu rechnen gewohnt ist. Er kommt durch
lange Erfahrung vielleicht dahin , den wechselnden
Zufälligkeiten des Lichtes so weit Rechnung zu tragen,
dass sie seine Formgebung nicht wesentlich zu ent-
stellen vermögen. Aber von einer „Darstellung des
Gegenstandes als Erscheinungsprodukt seiner selbst
und des ihn umgebenden allgemeinen Raum- oder
Luftkörpers" (43) kann doch wol nur bei der
Malerei , nicht aber bei der Plastik die Rede sein,
da die Erhellung dieses Raum- oder Luftvolumens
um ihn her notwendig dazu gehört.1)
1) Vgl. hierzu auch Guido Hauck , Die Gränzen zwischen
Malerei und Plastik. Preuss. Jahrbücher 1 885.
46
Malerei und Plastik
Schon in der Dämmerung wird die Hegemonie
unsres Auges unsicher, und im Dunkel der Nacht
verliert es sein Vortrittsrecht vollends. Da ist das
Gemälde auf der Wand für uns überhaupt nicht vor-
handen, das Ölbild im Rahmen nur eine Holztafel
oder eine Leinwand, kein Bild. Beim Werk der
Plastik aber bleibt das Gebilde des Künstlers auch
ungesehen ein reales Ding, dessen Beschaffenheit
durch andre Sinne wahrgenommen werden kann.
Wir können seine Formen mit den Händen abtasten
und herumgehend von allen Seiten die Existenz, den
Standort und das Volumen des Körpers konstatieren.
Ob wir dabei auch eine deutliche Formvorstellung
gewinnen, ist eine andre Frage, die nur mit Hülfe
der experimentellen Psychologie beantwortet werden
kann. Wenn bereits Erinnerungsbilder des vorher
gesehenen Gegenstandes mitspielen, liegt die Sache
natürlich schon anders, als wenn dies nicht der Fall
ist.1) Jedenfalls aber kommt bei dem vollrunden
Körper der Wechsel des Standpunktes , die Orts-
bewegung mit ihren Beiträgen ebenso zu Statten, wie
dies bei einem Architekturwerk der Fall ist, in dessen
Innenraum wir ausserdem noch tastend umher-
schreiten können. Und daran eben liegt uns hier.
So wenig eigentlich solche Orientierung über ein
Kunstwerk im Dunkeln für die ästhetische Aufnahme
i) Ganz ungenügend sind natürlich die Untersuchungen über
die sozusagen passiven Erfahrungen bei der Berührung der Haut-
oberrläche unsers Körpers. Vgl. z. B. te Peerdt a. a. O. 24 f. Für
die Kunstpsychologie kommt es auf die aktiven Äusserungen des
Getasts an.
Konstitutive Faktoren des Körpers
47
in Betracht zu ziehen sein mag, ihre Möglichkeit ge-
mahnt uns doch an wichtige Eigenschaften, die das
Werk des Bildners als Körper mit dem Bauwerk und
mit der Wirklichkeit teilt, während das Werk des
Malers , das Bild als solches J sie nicht besitzt,
sondern nur das Substrat , die Fläche , an der es
haftet , und das Bischen Farbenmaterial , die Mittel
zum Zweck also, die nicht an sich selber das Kunst-
werk ausmachen. Beim Gebilde des Plastikers ist
aber das kubische Ding gerade der unentbehrliche
räumlich-körperliche Grundstock für alle Gesichts-
eindrücke, — der dreidimensionale Komplex, der mit
den Augen des Laien angesehen sich unbequem
geltend machen soll , mit künstlerischem Blick be-
trachtet, durch die Hand des Bildners vermittelnd
und ausgleichend bereitet, dagegen als woltuende
Augenerscheinung glatt eingeht und befriedigt.
Bezeugt nun aber der feststellbare Sachverhalt
nicht soviel , dass nur ein Teil des geistigen Ma-
terials, mit dem der Bildhauer arbeitet, aus den Ge-
sichtseindrücken gewonnen ist, wie auch Hildebrand
anerkennt, ein andrer Teil direkt aus der Bewegungs-
tätigkeit des Auges , wie er ebenfalls angiebt , ein
dritter Teil aber überhaupt nicht auf Errungen-
schaften des Sehapparates oder dem Einfluss seiner
äussern Muskulatur beruhen kann, sondern anders-
woher stammen muss , und dass gerade dieser Teil
die konstitutiven Faktoren des Körpers im Räume
liefert ? Es sind Beiträge der Tastorgane und sonstige
Erfahrungen des Körpergefühls , die den grund-
legenden Raumwert des Gebilds erzeugen, indem sie
48
Malerei und Plastik
sich durch die formende Hand und ihre Werkzeuge
auf das bildsame Material übertragen oder schon in
diesem selber gegeben sind.
„Das geistige Material des Bildhauers sind Be-
wegungsvorstellungen", auf denen auch unser Form-
Sehen und Form-Vorstellen beruht (10). Diese aber
werden nicht von dem entfernten Standpunkt zu
dem Objekt gewonnen, auf dem nach Hildebrand die
Erscheinungsform, die das Kunstwerk festhält, allein
beruhen soll (68, Anm.), sondern von dem nahen
Standpunkt, der innerhalb unsrer Tastregion gelegen
ist. Auf diesem Standpunkt in greifbarer Nähe wird
das Auge selbst zum Tastorgan, wie an den oben an-
geführten Stellen beschrieben steht. Wenn dies schon
bei jedem Beschauer eines dreidimensionalen Kör-
pers der Fall ist, wie viel mehr Bedeutung wird
dieser Process beim Bildhauer während der Arbeit
an dem „stofflichen Material" gewinnen, auf das er
sein „geistiges Material überträgt". Wo immer in
greifbarer Nähe unter unsern Händen eine Form
entsteht , da arbeitet ja das tastende Auge mit der
tastenden Hand und ihren Werkzeugen , in die sich
das Gefühl gleichsam miterstreckt, auf das Innigste
zusammen. In diesem Gestaltungsprocess bei un-
mittelbarer Berührung muss doch , so sollten wir
meinen , das innerste Geheimnis des plastischen
Bildens gelegen sein ; denn die Hauptsache, die er-
reicht werden muss , bleibt doch die , dass das Er-
gebnis ein Körper werde , bleibt eben die Kon-
stituierung des dreidimensionalen Komplexes , der
die Unterlage aller sonstigen Sinneseindrücke aus-
Psychische Mächte
49
macht bis hinauf zum reinen Augenschein. Und es
fragt sich, ob der Bildner bei dieser geheimnisvollen
Hervorbringung der festen Form mit seinem geistigen
Material von Vorstellungen auskommt, welcher Kate-
gorie auch sie angehören mögen; es fragt sich, ob
hier nicht viel elementarere psychische Mächte mit-
wirken, die sich kaum anders als bei physischer Be-
rührung, unmittelbar im leiblichen Verkehr, durch
die liebevolle Mühe der Tastorgane selbst übertragen
lassen.
Im dem Kapital der Bewegungsvorstellungen, als
unerlässlicher Hülfe alles Formvorstellens und Form-
sehens, liegt ohne Zweifel auch die Verbindung mit
den Motiven des künstlerischen Schaffens. Aber
diese Antriebe der Seele, die dazu führen, dem
organischen Geschöpf der Natur ein Ebenbild aus
bildsamer , aber dauerhafter Masse gegenüber zu
stellen, sind für den Künstler das „Selbstverständ-
liche" ebenso, wie die Herstellung der körperlichen
Grundlage für die eigentlich plastische Form. Über
Beides hat uns der Meister, gewiss zum Bedauern
aller seiner Leser, keine Rechenschaft gegeben. Über
die psychischen Erlebnisse, die ihn den Schritt zur
darstellenden Kunst versuchen Hessen, die sich bei
der Konception jedes neuen Werkes bis zu gewissem
Grade wiederholen, liebt es nicht jeder, zu „raison-
nieren". Das Problem der Form aber beginnt für
den Meister, der über die Möglichkeiten des Ver-
fahrens nachdenkt, erst da recht aufzutauchen, wo
es darauf ankommt, das unbewusst hervorgehende
Gebilde der Hand mit den Anforderungen des Auges
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. a
50
Malerei und Plastik
zu vergleichen, in dem Augenblick jedesmal, wo das
schöpferische Subjekt sich aus dem Vollzuge einer
angeborenen Gestaltungskraft zurückzieht, um da-
zwischen zum geniessenden Subjekt zu werden. Ist
es nicht hier grade, wo das tastende Sehen aufhört
und das ruhige Schauen beginnt?
,, Der Bildhauer gestaltet also indirekt," so schreibt
er selber, ,,an einem Gesichtseindruck oder einer ein-
heitlichen Erscheinung. Die dargestellte Form oder
die realisierten Bewegungsvorstellungen prüft er an
dem Gesichtseindruck, den er empfängt, wenn er
genügend zurücktritt, um das Fernbild der Form zu
empfangen. Solange dies einheitliche Bild nicht ent-
steht, ist die reale Form noch nicht zu ihrer wahren
Einigung gelangt ; denn die letzte Wahrheit ihrer
Einigung liegt eben darin, dass das entstehende Bild
die volle Ausdrucksstärke für die Form besitzt.
Hierin liegt das plastische Problem des Bildhauers."
In diesen Worten ist eigentlich, schärfer als
Hildebrand bei der erstrebten Analogie mit dem
Werke des Malers zulassen möchte, der entschei-
dende Unterschied ausgesprochen. Nicht in der
Einigung zur Bildeinheit, zum Augenschein liegt die
letzte Wahrheit wie beim Gemälde, sondern darin,
dass das entstehende Bild (oder nach unsrer Aus-
drucksweise : der Augenschein des Gebildes) die
volle Ausdrucksstärke für die Form besitzt, d. h.
die klare Formvorstellung des Gegenstandes erwecke.
Wie gewinnen wir aber diese aus dem einheit-
lichen Flächenbilde, das sich dem schauenden Auge
auf entferntem Standpunkte darbietet? Erinnern wir
Gegenständlichkeit und Körperlichkeit des Bildwerkes 51
uns, was Hildebrand selbst über die Auslösung des
gemalten Bildes gesagt hat, damit die latenten Be-
wegungsvorstellungen im reinen Gesichtseindruck so-
zusagen losgehen. Alle Erscheinungsgegensätze wer-
den erst dadurch wirksam für die Formvorstellung,
dass sie sich mit Gegenstandsvorstellungen asso-
ciieren, dass wir sie auf gegenständliche Natur be-
ziehen. ,,Hell und dunkel bekommt erst die model-
lierende Kraft als Licht und Schatten durch ihre
gegenseitige Lage, aus der wir die Form eines
Gegenstandes erkennen" (46 f.).
Also die Gegenstandsvorstellung, das Erkennen
auf den ersten Blick eines organischen Geschöpfes
als Urbild des vom Bildhauer hingestellten Gebildes,
ist das Erste, das verlangt wird. Damit aber ver-
knüpfen sich aufs Engste alle Forderungen, die wir
an einen Gegenstand als Körper im Räume zu stellen
gewöhnt sind. Er muss die Eigenschaften besitzen,
die uns einen Widerstand entgegenstellen. Und zwar
sind diese Leistungen nicht wie beim Gemälde in
seinem Rahmen nur dem uneigentlichen Augen-
scheine nach zu verstehen, sondern dem eigentlichen
Sinne bei wirklichen Gegenständen gemäss. Die
Statue auf ihrem Postament bleibt ein realer Körper,
trotz aller Vorliebe für die einheitlich geläuterte Ge-
samtwirkung, die sie uns als Erscheinung aus der
Ferne gewähren mag. Und sollen wir diesen Körper
als das Abbild eines organischen Leibes gleich uns
anerkennen, so wenden wir die Kriterien darauf
an wie bei den Lebewesen, die wir neben uns oder
da draussen stehen sehen. Das plastische Bildwerk
4*
52
Malerei und Plastik
muss sich durch eine Reihe unerlässlicher Überein-
stimmungen bewähren, und zwar für unser eignes
Körpergefühl. Was über den Wert der beiden
Grundrichtungen, die Senkrechte und die Wagrechte,
gesagt worden ist, gilt hier nur noch unmittelbarer.
Das Höhenlot, das unser Blick einsetzt, muss sich als
aufrechte Grade, d. h. als grade Haltung ausweisen,
und wo diese nicht gezeigt wird, doch als Richtungsaxe
des Wachstums vorhanden sein, also die Möglichkeit
zu solcher Haltung erkennen lassen. Die Horizontale
bildet schon in der Basis die notwendige Ergänzung
und wird an verschiedenen, uns wol bekannten
Stellen des Leibes eingelegt, um das Gleichgewicht
der Massen zu beurteilen, wie die Abweichungen
davon, die sich als willkürliche Bewegungen des Ge-
schöpfes erklären. Das Alles geschieht mit einer
fast unkontrollierbaren Schnelligkeit vermittelst unsrer
Augenbewegungen ; aber auf dieser summarischen
Orientierung beruht die Entscheidung, dass das mar-
morne Ding da ein Lebewesen bedeute.
Die Kontrolle des Formbildens durch den Ge-
sichtseindruck vom entfernten Standpunkt, diese
Probe auf das Zusammengehen der realen Körper-
form zu einem glatt verlaufenden Wahrnehmungs-
akt, im Ganzen und im Einzelnen, und auf die letzte
Forderung, dass diese reine Erscheinung auch ein
deutliches Ausdrucksbild der Form abgebe und ihren
Wert als klare Gesichtsvorstellung bewähre, — diese
ganze Begutachtung des taktilen Verkehrs zwischen
dem Künstler und seinem bildsamen Substrat rückt
doch wol wie zeitlich, so auch sachlich in der dar-
Das plastische Problem des Bildners
53
stellenden Tätigkeit des Bildhauers an den zweiten
Platz. So sehr der Gesichtseindruck, das Gesamt-
bild beim Wahrnehmungsakt des Beschauers dem
fertigen Kunstwerk gegenüber die Priorität behauptet,
und so sehr der gewiegte Meister stets unter dem
leitenden Einfluss dieses vorschwebenden Gesamt-
bildes arbeiten, ja schon erfinden mag, und bei der
ersten Anlage wie bei der fortschreitenden Ökonomie
seiner Tätigkeit diesem Endziel zu sich einzurichten
und abzurichten gewöhnt, — es bleibt der Über-
gang vom schöpferischen zum geniessenden Subjekt,
von Aktivität zur Kontemplation übrig, der nicht
übersehen werden darf.
Fassen wir diese Erwägungen zusammen, so
muss die Behauptung gewagt werden, das ,, plastische
Problem des Bildhauers" kann in der sinnlich wahr-
nehmbaren Einigung der realen Form für den Augen-
schein doch nicht allein gesucht werden. Wir ver-
mögen darin nur eine sehr wichtige, die ästhetische
Aufnahme des Kunstwerkes ausserordentlich för-
dernde Vorsorge zu erkennen. Die letzte Einigung
des Ganzen geschieht ja doch nicht in dem Sinnes-
eindruck, in der optischen Empfindung unsres Seh-
organs, sondern in der Vorstellung. Und die plasti-
sche Anregungskraft der Erscheinung beruht doch
wol noch auf andern Eigenschaften, die selbst dem
reinen Augenscheine noch die volle Ausdrucksfähig-
keit der Form gewähren, indem die Gegenstands-
vorstellung sonst dabei zu Hülfe kommt.
Unsrer Oberzeugung nach kann das „plastische
Problem des Bildhauers" als solches, mithin das
54
Plastik und Malerei
eigenste Anliegen der Plastik als Kunst,
nur in der schöpferischen Darstellung
des Körpers selbst gesucht werden ; denn das
ist ausschliesslich ihres Amtes als „Körperbildnerin",
wie wir sie kurz definiert haben.
Damit aber bestünde die Woltat, die wir durch
das Kunstwerk empfangen, gerade in der Erschaffung
des Kubischen und der überzeugenden Wirkung der
dritten Dimension, durch die sich die volle Wirk-
lichkeit der Dinge dieser Welt zu behaupten pflegt,
oder, anders ausgedrückt, in der Klarheit räumlich-
körperlicher Vorstellung, die das Gebilde erweckt,
d. h. in vollster Ubereinstimmung des Kunstwerkes
mit der dreidimensionalen Anschauungsform unsres
menschlichen Intellekts. Und diese Übereinstimmung
mit dem Hausgesetz des Menschenhauptes wäre eben
die Ursache, dass wir das Kunstwerk als Woltat
begrüssen und mit Genuss uns ihm hingeben. Wenn
uns aber das Kubische nicht belästigt mit seiner
vollen Konsequenz, als höchstens indem wir es mit
malerischem Sinn betrachten ; wenn nicht der lautere
Augenschein allein, der flächenhafte, uns befriedigt,
sondern auch die dritte Dimension, die uns entgegen-
drängt, — dann kommen wir freilich bei einem mo-
dernen Bildhauer in den Verdacht, wir hätten eigent-
lich gar kein künstlerisches Verhältnis zur Natur und
somit kein Recht, überhaupt mitzureden.
Und dennoch glauben wir uns nicht zu täuschen,
auch die Überzeugung dieses Bildners zutreffend zu
verstehen und auslegen zu können, vorausgesetzt,
dass die Abgezogenheit des Augenscheines, die Ge-
Normalbildung des organischen Körpers
55
sichtsvorstellung als Ergebnis des höhern Sinnes
allein, nicht mehr als ausschliessliche Formel für die
Seligkeit des Kunstgenusses und des Kunstschaffens
festgehalten wird.
Handelt es sich in der reinen Plastik anerkann-
termafsen um die Darstellung des organischen Men-
schenkörpers in erster Linie , so kann den echten
Bildhauer auch Nichts mehr beleidigen, als wenn an
einer vollrunden Statue z. B. ein Glied des organi-
schen Gewächses misraten und verkümmert ist. Berufen
wir uns nur auf das klassische Beispiel bei Michelangelo,
wo ein Oberarm verhauen ward und seine volle Form
nicht aufwies ! Die Plastik kennt keine Krüppel bis
auf die seltensten Ausnahmen. Nachträgliche Ver-
stümmelung beleidigt nicht. Wer, unter Künstlern
nur, genösse nicht die Venus von Milo ohne ihre
Arme, um die sich die Gelehrten streiten? Warum
aber erhebt sich der geniessende Betrachter, dessen
Blick immer wieder über die Ansatzstellen hingleitet,
mit immer geringerm Anstoss über diese gewalt-
same Abstraktion in concreto ? — Eben weil die
Vorstellung arbeitet und die ganze Seele, nicht der
Augenapparat allein. — ,,Es stellt sich heraus, dass
wir die Vorstellung darstellen," sagt Hildebrand
selbst einmal bei Gelegenheit des Wagenrades, das
,, rollend" wirken soll, aber in normaler „Daseins-
form" gezeigt wird. Sollte die Plastik auf die Be-
währung aus der Nähe , die Prüfung von verschie-
denen Seiten verzichten, die allein imstande ist, das
Normale und Typische, das ihr am Herzen liegt,
von dem Zufälligen und Bedingten, Einseitigen und
56
Malerei und Plastik
Abhängigen, das die Ferne bieten mag, zu unter-
scheiden ?
Ist es so unerlaubt und ketzerisch, den Genuss
der Bildwirkung vom Werk des Malers, den Genuss
der Körperwirkung aber, in ihrem vollen Umfang
zunächst, vom Werk des Bildhauers zu erwarten?
II.
MIMIK UND PLASTIK
THONBILDNEREI UND STEINSKULPTUR
enn es darauf ankäme, unter den künstlerischen
Betätigungen des Menschen Eine als die ur-
sprünglichste zu bezeichnen oder, wie Mnemo-
syne die Mutter der Musen, nicht allein als die älteste
Schwester, sondern als die Mutter aller übrigen Künste
anzusehen, so würden wir uns unbedingt für die
Mimik entscheiden. Sie enthält in ihren primitiv-
sten Äusserungen noch ungetrennt die zeitliche und
die räumliche Anschauungsform, die in der letzten
Vereinigung aller Künste, der dramatischen Auffüh-
rung wieder mit ihrer Hülfe zusammentreten. Wir
haben uns früher erklärt, dass wir ,,als älteste Form
der bildenden Künste" nicht mit Hildebrand die
Zeichnung anzusehen vermögen , sondern höchstens
die Bildgebärde , die den Umriss des Dinges oder
den charakteristischen Zug seiner Bewegung in die
58
Mimik und Plastik
Luft malt (I, 101), indem wir damit freilich hinter
die Form der Äusserung zurückgriffen, die man als
bildende Kunst wird anerkennen wollen. Aber der
Ausgangspunkt aller ausdrucksvollen [Betätigung
liegt zweifellos in der Mimik (I, 25). Jeder Ver-
such konkreter Gestaltung aus bildsamem Stoff,
d. h. die ersten dunkeln Regungen der Körper-
bildnerin, sind ebenso als Hantierung des Menschen
an dem ungeformten Substrat schon Gebärdung,
d. h. Bestandteile mimischer Äusserung, und Aus-
druck unsers innern Nacherlebens und Mitgefühles
mehr, als Nachahmung der Dinge vom Standpunkt
objektiver Beschaulichkeit.
In dem Gesamtgebiet der Gebärdung und der
Ausdrucksbewegung liegen auch die Antriebe zur
künstlerischen Gestaltung, die allmählich zum plasti-
schen Schaffen gedeihen. Dort sind sie aufs Engste
verknüpft mit unserm Körpergefühl , das aus dem
Innern nach Aussen dringend, nur die Extremitäten
in Bewegung setzen, als physische Tätigkeit zu
Tage treten kann. Die Übertragung der innern Er-
regung auf den motorischen Apparat ist die Haupt-
sache für alle schöpferische Betätigung , und erst
im weitern Gange scheiden sich die Wege , ob die
Körperbewegung allein den mimischen Verlauf nehme,
oder ob sie zu konkreter Gestaltung, zur Hervor-
bringung eines plastischen Gebildes übergehe.
Die Kenntnis unsers Leibes als organisches Ge-
wächs , die Beobachtung unsrer Körperformen im
Sinne eines Abbilds liegt viel ferner, als die Kennt-
nis dieses Leibes nach seinen natürlichen Funktionen
Gebrauchsfähigkeit und Ausdrucksfähigkeit unsres Leibes 59
und die Beobachtung unsrer Glieder als Werkzeuge
bei ihrem praktischen Gebrauch. Lange bevor sich
eine Gesamtvorstellung der menschlichen Gestalt als
organischer Einheit ausbilden kann, sind die Glied-
mafsen in ihrer Verwendbarkeit geläufig, ja selbst
die Ausdrucksfähigkeit des ganzen Bewegungsappa-
rates für die mannichfaltigen Äusserungen des Willens
wol vertraut. Wie das Kind der Mutter, der Knabe
dem Vater die Bewegungen seiner Glieder und die
Handhabung der Werkzeuge zu jeglichem Zwecke
des Alltagslebens absieht, in innerer Nachahmung
die Innervation des ererbten gleich organisierten
motorischen Apparates vollzieht und wiederholend
oder verstärkend unwillkürlich dazu gelangt, die
nämliche Tätigkeit auch wirklich auszuüben, so ler-
nen wir Alle, von hier aus, jede wahrnehmbare Ver-
änderung an verwandten Wesen verstehen und ge-
winnen den gangbaren Vorrat von Kenntnissen, die
uns den ,, Funktionsausdruck" menschlicher Körper-
formen, sei es im Gesamtzug der Haltung, im In-
einandergreifen zweckmässiger Bewegungen oder gar
im ruhenden Zustand des Einzelgliedes vermitteln.
Unter rein praktischen Gesichtspunkten, die noch
jeder künstlerischen Anwandlung fremd scheinen,
bildet sich der Scharfblick des Jägers und des Hir-
ten, wie noch heute des Indianers für die Wahr-
zeichen zweckentsprechender Bildung in allen For-
men des organischen Gewächses aus.
Mit ihrer Wahrnehmung stellt sich die Vorstel-
lung des Vorganges, der möglichen Bewegung und
ihres zeitlichen Verlaufes ein. Der ganze Körper
60
Mimik und Plastik
„wird als Komplex von Formen aufgefasst, die das
Gepräge bestimmter Funktionsmöglichkeiten tra-
gen", längst ehe dieser nämliche Körper als ein-
heitliches Gewächs um seiner selbst willen, ge-
schweige denn durch das Ebenmafs seiner Gliederung,
durch die Rundung und Fülle seiner Formen, durch
den woltuenden Fluss seiner Umrisslinien irgend
welches Wolgefallen erregt. Die Auffassung alles
Sichtbaren unter der zeitlichen Anschauungsform
vermittelt zunächst jeden innern Anteil , den wir
an den Erscheinungen nehmen. Und diese be-
lebende Kraft unsrer Vorstellung erstreckt sich nicht
allein auf die gleichorganisierten und alle ähnlich
ausgestatteten Lebewesen, sondern von hier aus auf
die gesamte Natur.
So wird es auch begreiflich, dass für die mi-
mische Kunst die Erscheinung als Funktionswert der
notwendigste , elementarste Ausdruck , der Körper
als Bewegungsapparat allein die unentbehrliche Grund-
lage ihres Schaffens ist, während die vollrunde Kör-
perlichkeit dieses Substrates, die menschliche Gestalt
als Erfüllung eines Raumvolumens nur untergeord-
nete Bedeutung behält. Die Form als räumlich
körperliche Ausdehnung in ruhigem Zustand ist für
die Mimik eine Vorstellung von sekundärem Wert.
Nicht der Raumwert, sondern der Funktionswert ist
ihr die Hauptsache.
i) Hildebrand, dessen VI. Kapitel zum grössten Teil hierher
gehört und am besten bei der Lektüre seiner Schrift vorausgenom-
men wird.
Plastische Schönheit
61
Auf diesem Grunde der Ausdrucksfähigkeit aller
Formen für die successive Auffassung in Tätigkeit
oder die Vorstellung eines solchen zeitlichen Ver-
laufes , die auch von der Form in Ruhe ausgelöst
wird, erwächst, erst recht viel später jedenfalls, der
Sinn für das, was wir die „plastische Schön-
heit" des Menschenleibes nennen,1) bei der die
simultane Anschauung der räumlich körperlichen
Form des Ganzen eine Hauptrolle zu spielen ver-
möchte. Scheint es doch, als wäre diese simultane
Auffassung , die aufs Ganze geht , zu Anfang nicht
im Stande mehr festzuhalten, als die Vertikalaxe,
das nackte Symbol , das etwas von Unsersgleichen
bedeuten soll. Die aufgerichtete Stange mit oder
ohne Wahrzeichen darauf, höchstens mit dem sum-
marischen Abbild des Kopfes, oft nur ein schlanker
Steinblock, befriedigt den Antrieb, das Wertvolle zu
ergreifen und fest zu bannen, das im Dasein des
Körpers gegeben ist, aber im Leben gefährdet und
vergänglich bleibt.
Diese Aufrichtung des Höhenlotes , wenn auch
noch so abstrakt und schematisch, ist doch schon
die Sicherstellung der Grundtatsache , um die es
i) Vgl. hierüber auch den Aufsatz von Th. Lipps, in Nord
und Süd, 1888, S. 226 ff. Die Analyse der Körperschönheit in lauter
Vorstellungsassociationen geht aber psychologisch meines Erachtens
noch nicht weit genug , wenn sie bei Vorstellungen stehen bleibt,
sondern muss auf das Gefühl zurückführen, das Körpergefühl (Form-
sinn), das im naiven Schaffen wie Geniessen entscheidet. Darin
liegt das Recht von Fr. Merkel (Dtsche Rundschau 1888, p. 423 f.),
der dieser psychologischen Seite der Frage freilich allzu fern bleibt.
62
Mimik und Plastik
der Körperbildnerin zu tun ist, die Heraushebung
des bleibenden Bestandes aus all dem mimischen
Wechsel und all der Beweglichkeit der Gliedmafsen
in ihren besonderen Funktionen. Der Kern des
menschlichen Einzelwesens als eines selbständigen
Körpers im Raum wird damit konstituiert, — das
ist der Anfang der Plastik.
Deshalb haben wir uns früher schon gesagt, die
Wurzel der plastischen Schöpfung liege in der
Höhendimension, die wir gemäss dem eignen Körper-
gefühl die erste nennen. *) Mit der Annahme oder
Aufrichtung eines Höhenlotes als Dominante des
dreidimensionalen Komplexes beginnt die konkrete
Gestaltung in irgendwelchem Material. — Wo der
rohe Steinblock als Surrogat eines eigenen Ge-
schöpfes angenommen wird, da ist es ja die Natur,
die ,,das Selbstverständliche", d. h. die konstitutive
Grundlage des Körpers liefert. Von der eigen-
händigen Behandlung des bildsamen Materials da-
gegen , das nichts als einen formlosen Brei oder
Teig darbietet, von dem primitivsten Kneten und
Formen in Thon und Wachs oder dergleichen dürfen
wir also viel deutlicheren Aufschluss über die Ent-
stehung der konstitutiven Faktoren der Körperlich-
keit erwarten, auf die es ankommt. Für die plastische
Herstellung grösserer Figuren in Thon wird ja der
Haltbarkeit wegen zuerst ein Gerüst aufgebaut und
i) Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1893.
Der Wert der drei Dimensionen im menschlichen Raumgebilde,
Leipzig (Berichte der k. sächs. Gesellschaft der Wiss., 1896 und
Heft I dieser Beiträge zur Ästhet, d. bild. Künste. 1896. S. 33.
Thonbildnerei
63
dann mit Thon bekleidet, bis es mehr und mehr
dem Menschenkörper entspricht. Bei mindergrossen
genügt vielleicht eine Mittelstange , d. h. die wirk-
liche Aufrichtung des Höhenlotes auf einer Unter-
lage, der Basis, die ebenso abstrakt den Boden be-
deutet, auf dem dies Abbild stehen soll. Bei noch
kleineren fungiert die erste Dimension rein ideell als
Richtungsaxe des Wachstums von unten nach
oben, die Kopf und Fufsfohlen mit einander ver-
bindet, noch ehe das Rückgrat und das paarige Bein-
gestell sich geltend machen und voneinander ab-
setzen.
„Ich gehe also, — so schildert Hildebrand den
Vorgang des Modellierens in Thon (S. 1 1 5) selber,
— dabei vom Gegenstande a) allein aus und ent-
wickle ihn allmählich nach aussen und mir entgegen.
Da mir von vornherein kein Raumkörper gegenüber
steht (wie bei der Bearbeitung des Steinblocks),
sondern ich ihn allmählich erzeuge , und zwar nur
insoweit als ihn das Bild (Gebild) selber einnimmt,
so gehe ich nicht von einer allgemeinen, sondern
von einer gegenständlichen Raumvorstellung aus.
Ferner, da ich den Thon rings um das Gerüst auf-
baue, so bewege ich mich in meiner Vorstellung
immer um den Gegenstand herum , d. h. ein be-
stimmter Standpunkt dem Gegenstande gegenüber
1) Das heisst eigentlich Gegenstandsvorstellung oder Idee des
darzustellenden Gegenstandes. Man lese hier einmal statt Gegen-
stand: ,, Höhenlot" oder Mittelaxe", auf die es im obigen Zusam-
menhang ankommt.
64
Mimik und Plastik
ist mir von Seiten der Manipulation nicht gegeben,
noch erzwungen. Im Gegenteil, sie hebt diese Not-
wendigkeit auf."
„Der Vorstellungsakt dieser Manipulation fusst
und beharrt stets auf der realen Gegenständlichkeit
des Bildes (Gebilds), auf der gegebenen Naturform,
die sie rund nach allen Seiten hin darstellt, führt
aber nicht zu einer ausserhalb des Naturgegen-
standes liegenden Gliederung oder Raumvorstellung."
Und warum muss dies geschehen, fragen wir,
um den Naturgegenstand, den wir nun einmal, auch
in jedem stereometrischen Gebilde unsrer Hand,
kraft unsrer verschiedenen Sinne anzuerkennen haben,
erst zu einem Kunstwerk zu erheben? Warum darf
die künstlerische Durcharbeitung des Körpers auch
für das Auge , d. h. die befriedigende Gliederung
und klare Raumvorstellung nicht an dem körper-
lichen Gebilde haften bleiben, sondern muss „ausser-
halb des Naturgegenstandes" liegen? Diese Forde-
rung wäre ganz unerklärlich, wenn der Künstler, der
hier spricht, nicht die Scheu vor dem Kubischen
bekannt hätte, und die reine, von den materiellen
Dingen ablösbare, Gesichtsvorstellung allein als die
eigentliche Leistung der Kunst betrachtete.
Hier tritt unser Gegensatz zu ihm notwendig
am stärksten zu Tage. Gerade diesen Vorgang des
Modellierens, wie er selbst ihn schildert, halten wir
für den eigentlich entscheidenden und grundlegenden
Process der Bildnerei , von dem aus in erster Linie
das Problem der Form in der Plastik erklärt werden
kann , während bei der Steinskulptur z. B. die
Thonbildnerei
65
Schwierigkeiten der Arbeit in härterem Material an
mehr als einem Punkt den natürlichen und unmittel-
baren Weg des schöpferischen Verfahrens verbieten,
zu Kompromissen nötigen und nur auf Umwegen
zum eigentlichen Ziel gelangen lassen.
Der mafsgebende Unterschied , durch den wir
zum eigensten Wesen der Bildnerei geführt werden,
das ihre besondere Bestrebung ein für allemal von
dem der Schwester Malerei trennt, liegt grade
darin, dass die Manipulation zunächst dem schöpfe-
rischen Subjekt, dem Bildner selbst keinen be-
stimmten Standpunkt aufzwingt, sondern vielmehr
die Notwendigkeit der Wahl und Beschränkung auf
einen festen Gesichtspunkt aulhebt; denn dieser
vorgeschriebene Standpunkt ist für das ruhige
Schauen allein, er ist, wie wir uns gesagt haben,
der specifisch malerische Standpunkt. Ihn kann
der Bildner bei der Arbeit selbst nicht einnehmen,
sondern immer nur nachträglich, sozusagen in Inter-
vallen zu kontrolierenden Wirkungsproben. Im Her-
vorbringen der realen Form selber ist sein Stand-
punkt der des nahen beweglichen und abtastenden
Sehens, ja noch mehr des Hantierens, innerhalb der
Tastregion, wobei er sich ,,in seiner Vorstellung
immer um den Gegenstand herum bewegt". — So
eben, und nur so allein entsteht unter seiner Hand
der dreidimensionale Körper aus dem formlosen Brei.
Diese stereometrische Grundlage , an der dann all-
mählich der Schein des organischen Gewächses nach
unserm Ebenbild gedeihen soll, dieses unentbehr-
liche Substrat kann auch der Blinde kraft seines
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. c
66 Mimik und Plastik
eigenen Körpergefühls wie der Beschaffenheit und
Stellung seiner Hände zueinander hervorbringen. r)
Damit steht der Beitrag des Getasts für das plastische
Gebild ausser allem Zweifel. Und was Hildebrand
als einen Mangel oder eine Schattenseite des
Modellierens in Thon ansieht, erscheint uns grade
als ursprünglichstes Charakteristikum der Plastik als
Kunst. Nicht allein der modellierende Bildner, son-
dern das echte bildnerische Schaffen überhaupt
„geht nicht von einer allgemeinen Raumvorstellung
aus, sondern von der gegenständlichen", — d. h.
von der Mittelaxe des dreidimensionalen Komplexes,
und diese ist das Höhenlot, als gewohnte Dominante
unsres eigenen Leibes , nach der wir alle Kreatur
beurteilen, der unveräusserliche Grundstock des
Einzelwesens. Und von der Vertikalaxe aus ent-
wickelt sich die Gestalt allmählich weiter nach
aussen, nach allen Seiten ihrem Schöpfer entgegen,
wie der Baum sein Gezweig ringsum ausstreckt und
sozusagen in das umgebende Raumvolumnen ein-
greift, um es zu erfüllen als seinen Raum.
Der specifisch plastische Standpunkt ist also
nicht der entfernte , sondern der nahe ; er ist nicht
der optische in erster Linie, sondern der taktile, und
setzt die Beweglichkeit voraus , die unsere mensch-
lichen Tastorgane, an erster Stelle natürlich die
Hände , an unsern beiden , im Elbogengelenk aber-
i) Es wäre ausserordentlich lehrreich festzustellen, wie weit die
Modellierung unter den Händen Blindgeborener, wie weit noch bei
Erblindeten zu gelangen vermag.
Thonbildnerei
67
mals und im Schultergelenk wieder relativ dreh-
baren , Armen besitzen. Als Ergänzung zu dieser
schon ziemlich vielseitigen Behandlung durch den
selbst ruhig an seinem Standort oder auf seinem
Sitz gar verharrenden Bildner tritt dann, besonders
bei grösseren Körpergebilden, die Ortsbewegung um
die Vertikalaxe des entstehenden Werkes hinzu ;
damit aber vollzieht sich sofort der Übergang zu
den Bedingungen der Tektonik und weiter der
Architektur, wo die Ortsbewegung des Subjekts die
Hauptrolle spielt und das Raumgebilde als Ganzes
stets ausser ihm bleibt.
Solange beim Modellieren in Thon oder Wachs
die leibliche Berührung mit unsern Tastorganen
dauert, ist auch der Vollzug der ästhetischen Grund-
tatsache, die • Selbstversetzung in das Gebild ein
selbstverständlicher, wenn auch noch so unbewusster
Vorgang, und eben darin liegt ja der Antrieb zum
künstlerischen Schaffen selber, die Erklärung, wes-
halb zur konkreten Darstellung eines Abbilds über-
gegangen wird.
Deshalb wird diesen frischweg modellierten, mehr
oder minder improvisierten und aus Weiterbildung
mimischen Gebarens erwachsenen Thonfiguren vor
allen Dingen eine Eigenschaft gesichert sein , die
ausser der konstitutiven Grundlage menschlicher
Konfiguration wol als wichtigste zur Anerkennung
des Gebilds als Menschengestalt gelten darf : das ist
das Motiv. Die durchgehende Bewegung einer
wolbekannten Tätigkeit zu irgend einem Zweck,
oder die ausdrucksvolle Haltung in verständlicher
5*
68
Mimik und Plastik
Situation, üben schon beim ersten Anblick einen
Reiz auf den Beschauer aus, der ihn sofort als un-
verkennbare Äusserung innern Lebens in den Um-
kreis organischen Daseins, menschlich vertrauter
Regungen versetzt. Wie die Gestalt rein körperlich
sich von der Mittelaxe nach aussen entfaltet, so
dringt der Komplex von Bewegungen in den Glied-
mafsen dem Betrachter entgegen. Damit wird auch
für den fremden Ankömmling, dem das Bildwerk
ins Auge fällt, die Bedingung für die ästhetische
Auffassung und für den Genuss als Kunstwerk er-
füllt, die für den Urheber selbst die Veranlassung
seines bildnerischen Schaffens war. Liegt doch die
Woltat, die uns der Künstler dadurch vermitteln
kann , nicht sowol in der kühlen Klärung unsrer
Gesichtsvorstellung, als vielmehr in dem Zuwachs
an Daseinslust und Lebensgefühl , den die Heraus-
hebung und Verewigung dieses Wertes als Stärkung
und Bestätigung der eignen Selbständigkeit gewährt.
Diese Entfaltung vom Mittelpunkt, dem Sitz des
Lebens her, der Abstand eines oder mehrerer Glieder
von der Vertikalaxe, in der wir die Einheit des
Organismus zu suchen gewohnt sind , scheinen uns
wichtiger für den Glauben an das Gebilde von
Menschenhand, als die Vollständigkeit des körper-
lichen. Ganzen und seine räumliche Klarheit in allen
Teilen. Die Lebensäusserung , auf die unser Blick
trifft, ruft in uns sofort Erinnerungsbilder, Inner-
vationsgefühle wach, die das Wahrzeichen da zum
eignen Erlebnis ergänzen. Sie bezieht sich auf so
viele Erfahrungen unsrer Tastregion, dass die leib-
Wert des Motivs
69
liehe Unterlage als notwendige Voraussetzung, als
gewohnter Schauplatz des Vollzugs sich von selbst
in unsrer Vorstellung hinzufindet, auch wenn sie in
Wirklichkeit nur teilweis, nur andeutungsweise, vor-
handen ist. Erst allmählich stellt das Auge, bei er-
neutem Verfahren, die Forderung, dass sich die
volle Daseinsform ausweise , wie unsre Vorstellung
sie vom dargestellten und wiedererkannten Gegen-
stande mitbringt. Dieser geläufige Begriff kann
selbst noch sehr summarisch und für genaue Rechen-
schaft im Einzelnen ganz unzulänglich sein. Erst
wenn wir darüber hinausgelangen, wenn konkrete
Formeindrücke sich mit dem eignen Körpergefühl
erfüllen, — erst dann erwächst der plastische Genuss
im eigentlichen Sinne. „Und unmittelbar nach jener
blitzschnellen Auffassung des Motivs als Äusserung
eines organischen Lebewesens leitet sich die Er-
scheinung aus der Möglichkeit mimischen Ver-
laufes entscheidend über in den Gesichtskreis der
plastischen Beharrung",1) wo das ruhig
schauende Auge und das beweglich abtastende
vollauf gemeinsame Arbeit haben und immer un-
ersättlicher sich wetteifernd ablösen.
Nun gelangt die Körperbildnerin unter den
Künsten in ihr volles Recht. — Damit ist die
Schwelle überschritten, die all ihr Dichten und
Trachten von der beweglichen Schwesterkunst
scheidet. Denn mit dem Übergewicht der räum-
lichen Anschauungsform und dem Drang nach Ge-
i) Heft I, S. 32.
70
Mimik und Plastik
staltung des Körpers zu bleibendem Bestehen sinken
alle Vorstellungen , die sich auf ein zeitliches Ge-
schehen , auf den successiven Fortgang einer Tätig-
keit beziehen, d. h. die Funktionswerte der Form
zu sekundärer Rolle herab. Die Selbständigkeit des
auf sich allein beruhenden Körpers wird das Haupt-
anliegen, damit er sich zwingend und sicher behaupte
im allgemeinen Raum.
Das Alles vermag die Modellierung in Thon so
gut zu leisten, wie die andersartige Ausgestaltung
in dauerhafterm Material. Und mit Befremden
sehen wir, dass Hildebrand diesem primitiven Ver-
fahren, in dem wir die unmittelbarste, durch kein
Hindernis der Bearbeitung abgelenkte Äusserung
des plastischen Sinnes erkennen, nur eine unter-
geordnete Stelle anweisen möchte : ,,Das Modellieren
in Thon hat seinen Wert beim Studium der Natur,
um Bewegungsvorstellungen zu gewinnen und alle
Einzelkenntnis der Form zu fördern"; — aber? —
,, entwickelt aber nicht die künstlerische Einigung des
Ganzen als Bild Vorstellung" (120).
,,Beim Modellieren in Thon fehlt positiv im
Raum , was nicht modelliert ist , es existiert ausser
dem modellierten kein allgemeiner Thon-Raum. Das
Modellierte tritt ausserdem in Gegensatz zu der Luft
und dem wirklichen realen Raum, so dass das un-
fertige Thonbild dadurch noch mehr Positivität er-
hält, d. h. als fertiges Bild auftritt. Der Phantasie
wird dadurch das Unfertige als Fertiges vorgesetzt.
Beim Stein tritt dagegen das unfertige Bild immer
nur im Gegensatz zum Steine auf — zu einem un-
Thonbildnerei und Steinskulptur
71
geformten Element , aus welchem das Unfertige als
ein Gewachsenes hervordämmert, weshalb die Fort-
setzung seines Wachstums als natürliche Zukunft
anmutet. Das Bild gestaltet sich aus dem Räume
selber weiter und wirkt nur immer relativ fertig zum
Steinhintergrund" (i 1 7).
Es giebt kaum eine Stelle, die so wie diese be-
zeugt, dass des Bildhauers persönliches Empfinden
durchaus von malerischen Anschaungen ausgeht.
Immer die Bildvorstellung, der Augenschein, die
Helldunkelwirkung. Selbst der Ausdruck ,,wie ein
Gewachsenes" und ,,die Fortsetzung des Wachstums"
sind hier nicht in dem Sinne zu verstehen, der sonst
dem Plastiker am nächsten liegt, sondern ganz un-
eigentlich1), im Sinne eines Hervortauchens, Empor-
quellens eines Hellen, deutlich Sichtbaren aus einem
Dunkel, das unser Auge nicht durchdringt, oder des
Geformten aus dem formlosen Brei , — aus dem
,, Nebelraum", wie er weiterhin sich ausdrückt. Das
heisst, es ist ein Vergleich, der dem Augengeschöpf,
dem feingebildeten, empfindlichen, durch und durch
malerisch gewöhnten Sinn des modernen Künstlers
geläufig ist, — dem die Raumwerte der Erschei-
nung, der entfernten, das Vertraute geworden, die
Funktionswerte der Glieder, der nahen, tastbaren
dagegen entfremdet sind. So begreifen wir, dass
1) Aus der organischen Natur wäre wol am ehesten an Knospen
und Blüten auf dem Busch, d. h. die farbigen auf der grünen Folie,
oder wenigstens an frischgewachsene hellgrüne Blätter auf der dun-
keln Masse des Gewächses zu denken, — also auch Farbenkon-
traste oder Hell und Dunkel.
72
Mimik und Plastik
ihm das Kubische unbehaglich wird , wo es unver-
arbeitet durch die harmonische Ausgleichung des
malerischen Geschmackes sich selber leibhaftig ihm
entgegendrängt.
Da freilich erscheint die Arbeit des Bildners in
Stein, wie er sie schildert, ausserordentlich objektiv,
nur wie die kühle, klare Wiedergabe einer exakten
Beobachtung in ungestörter Ferne, kaum wie Berüh-
rung, sondern nur geläutertes" Schauen. Die dar-
zustellende Figur soll vor allen Dingen für jede
Ansicht die Vorstellung einer einheitlichen Raum-
schicht erwecken und somit einen Gesamtraum von
klarer Flächeneinheit beschreiben. Wie aber ist dies
zu erreichen , wenn der Steinblock in sich diesen
Gesamtraum der Figur , oder wie gesagt den mas-
siven Raumkörper darbietet?
Dann ist für die eine Hauptsache, die der Thon-
bildner erst konstituieren musste , den dreidimen-
sionalen Komplex , bereits durch das natürliche
Substrat gesorgt, und man begreift, dass vor den
eingreifenden und durchgreifenden Händen hier das
schauende Auge die Führung für sich beanspruchen
mag. Handelt es sich doch gewiss darum, die vor-
schwebende Figur in den Steinblock hinein zu
schauen. Aber sowie dies vom luftigen Phantasie-
akt zur konkreten Rechnung mit dem vorhandenen
Volumen übergeht, so stellt sich die Schwierigkeit
heraus :
Wenn die freibewegte Figur auch als „enthalten
in einem Gesamtraume" gedacht werden kann, „so
ist es doch unmöglich von vornherein festzustellen,
Steinskulptur
73
wie und wo für jede Ansicht die Figur im Stein zu
stehen kommt, da das dreidimensionale Verhältnis
der verschiedenen Ansichten untereinander im vor-
aus nicht zu bestimmen ist. Deshalb ist ein vor-
läufiges Anhauen der Gesamtform unmöglich" (no).
„Es lässt sich nur der eine Weg einschlagen,
von einer Ansicht auszugehen und die andern als
ihre notwendigen Konsequenzen entstehen zu lassen.
Damit ist der Bildhauer gezwungen, seiner kubischen
oder Bewegungsvorstellung eine Gesichts- oder Bild-
vorstellung zu Grunde zu legen und von dieser aus-
zugehen.
„Es wird nötig, dies Bild auf die Hauptfläche
des Steines aufzuzeichnen. Indem ich dies Bild in
den Stein eingrabe und sowol von der Steinfläche
das ausserhalb der Kontouren Liegende entferne,
als auch im Innern die Form abstufe, fange ich zu-
gleich an , bei den Formen auf das reale Tiefen-
mafs , welches der runden Figur zukommt , zu
achten . . .
„Das Auslösen des Bildes geschieht beständig
nur nach dem Augenbedürfnis , und die Phantasie,
die dabei tätig ist, ist stets eine schauende, wie von
einem fernen Standpunkt. Es wird sich von
selber ergeben, dass das Bild in jedem Stadium ein
einheitliches ist, und zwar in dem Sinne einheitlich,
als es eine Flächengemeinschaft hat , und die Ein-
heit einer Sehgemeinschaft von einem Standpunkte
aus trägt, während es eine reale Einheit, als materielle
Form, für die verschiedenen Standpunkte noch nicht
gewonnen hat" (110 — 113).
74
Mimik und Plastik
„Indem die Figur, als Bildeindruck gefasst, auf
diese Weise in die Tiefe fortschreitet, ergeben sich
dann auch die Seitenansichten und zuletzt die Rück-
ansicht als die notwendigen Konsequenzen."
„Man sieht aus dem so beschriebenen Verlauf
der Steinarbeit, dass der Bildhauer dabei von einer
Bildvorstellung ausgehen muss und deren Form-
vorstellung in wirkliche Bewegungsvorstellung um-
setzt" (119).
Bei diesem Bericht über sein Verfahren ver-
gisst Hildebrand nur eine Tatsache ausdrücklich an-
zuerkennen, auf die wir sogleich im Voraus hin-
gewiesen, eben die, dass für diese Steinarbeit der
Steinblock selbst das räumlich-körperliche Substrat
und damit den dreidimensionalen Komplex geliefert
hat. Das ist aber vor allen Dingen die Aufrichtung
der Mittelaxe, auf die sich von allen Seiten die An-
sichten zubewegen, es ist die Festlegung des Ko-
ordinatensystems in diesem Centrum. Das „Selbst-
verständliche", das beim Modellieren in Thon erst
sozusagen erschaffen werden muss, ist hier gegeben,
bereits fertig adoptiert. Das Modellieren in Thon
ist im Wesentlichen Additionsverfahren , die Stein-
skulptur dagegen ausschliesslich Subtraktion. Die
Methode der Letzteren setzt also an einem viel
späteren Punkt erst des ganzen Weges ein !
Mit dieser unläugbaren, selbstverständlichen
Tatsache hängt aber eine andre zusammen, die
einen grundsätzlichen Einwand gegen rein optische
Zurechtlegung des Problems der Form in der bil-
denden Kunst veranlasst. Erfüllt nun wirklich die
Steinskulptur
75
Steinskulptur, fragen wir, die Bedingung, die Hilde-
brand beim Modellieren in Thon vermisst, dass der
Bildner „von einer allgemeinen Raumvorstel-
lung ausgehe", wie dies etwa vom Maler gesagt
werden kann? Nur wenn dies wirklich der Fall ist,
wie Hildebrand annimmt, können wir ihm auch weiter
folgen zu seiner Behauptung, dass die Aufgabe des
Bildhauers und des Malers durch dasselbe Vorstel-
lungsbedürfnis geleitet werde, und dass in beiden
Künsten nur ein und dasselbe Gestaltungsprincip
walte" (82).
Auf Grund der Tatsache , dass der Steinblock
als massiver Raumkörper von vornherein dem Bild-
hauer gegenübersteht, glaube ich, muss die Antwort
auf unsere Frage „Nein" lauten. Er geht nicht von
einer allgemeinen Raumvorstellung aus, sondern von
einem konkreten, durch den gedachten und allmäh-
lich auszuhauenden Körper erfüllten Raum oder
richtiger gar von einem Massenvolumen. Das Ko-
ordinatensystem ist ja bereits im Marmorblock fest
lokalisiert und mit demjenigen der darin entstehen-
den Figur identisch. Insofern könnte grade vom
Thonbildner mit grösserm Recht gesagt werden, ei-
gene von einer allgemeinen Raumvorstellung aus
und konstituiere darin durch Aufrichtung seines Ge-
rüstes den Einzelraum, der wieder nicht ausserhalb
der Statue existiert, sondern von vornherein an den
darzustellenden Gegenstand gebunden ist. Es ist in
beiden Fällen ein Sonderraum , ein allseitig um-
gränztes Raum- oder Massen- Volumen, das für den
Bildner, der die Gestalt hineinsieht, an diesem Kör-
76
Mimik und Plastik
per haftet, von ihm erfüllt und innerlich gegliedert
wird. Und deshalb wäre es richtiger zu sagen : die
Plastik geht überhaupt nicht von einer Raumvorstel-
lung sondern von einer Körpervorstellung aus. Das
entspricht ihrem Wesen als Körperbildnerin. Wir
sprechen deshalb doch bei dem fertigen Bildwerk von
seinem „ästhetischen Raum". Vergegenwärtigen wir
uns diesen etwa wie eine Glasglocke , die über die
Figur gestülpt, die äussersten Spitzen ihrer Glied-
mafsen kaum noch berührt, — dann erhellt aus
diesem handgreiflichen Experiment wenigstens so-
viel, dass die Gestalt durch dies Gehäuse bis auf
die Basis von dem allgemeinen Raum isoliert wird.
Ihr ästhetischer Raum besteht für sich ; er wird
ausser der Gestaltung des plastischen Körpers selbst,
den er beherbergt, gar nicht für sich als Raum an-
erkannt , übt also auch keinen Einfluss auf die
Figur, die sein Träger ist. Ein umgebender Schau-
platz , ein Hintergrund , mit eigener Bedeutung für
sich neben der Statue , ist nicht vorhanden. Der
allgemeine Raum wird von der Behand-
lung der Skulptur ausgeschlossen.
Damit aber ergiebt sich zugleich, dass die Raum-
vorstellung des Bildhauers nicht dieselbe ist, wie die
des Malers. Der Raum, den er mit seiner Gestalt
erschaffen und erfüllen soll , wird nicht von dem
entfernten Standpunkt gesehen, wie der des Malers,
der eben dadurch zur selbständigen Bedeutung als
Raumgrösse gelangt und eine Welt für sich be-
deutet. Der Gestaltungsraum des Bild-
hauers ist ein andrer als der Bildraum
Der Gestaltungsraum des Bildners
77
des Malers. Hier liegt unsres Erachtens ein ent-
scheidender Irrtum bei Hildebrand vor ; entweder
eine Selbsttäuschung beim Beobachten, oder eine
Verwechslung zweier Begriffe durch die Bezeichnung
mit demselben Wort (Fernbild), genug die Ursache
für die ganze Identifizierung der plastischen und
der malerischen Aufgabe.
Beschränken wir uns an dieser Stelle , da das
Fernbild uns noch weiterhin beschäftigen muss, auf
die Charakteristik des Gestaltungsraums, wie er vor
dem Bildhauer steht, im Unterschied von dem Bild-
raum des Malers, der erst jenseits der Distanzschicht
beginnt , wo nur noch unser Auge in die Weite
dringt , aber jede körperliche Berührung mit den
Dingen aufhört. Dieser Gestaltungsraum, mögen wir
dabei an den in Arbeit befindlichen , am besten
schon ziemlich weit ausgehauenen , Marmorblock
denken, oder an den Autbau der Thonfigur, die mehr
oder minder ihre Gliedmafsen uns entgegenstreckt,
- dieser massive Raumkörper, also auch das zu-
gehörige Raumvolumnen ist, trotz allem Zurück-
treten des Bildners zur Kontrole seiner formenden
Tätigkeit nach ihrer Wirkung für das Auge, doch
unläugbar für die Herstellung der realen Körperlich-
keit vorerst ein naher. Er liegt innerhalb der Tast-
region und bleibt darin, solange die Arbeit der
Hände mit ihren Werkzeugen dauert. Treten wir
aber von der angefangenen Figur zurück, soweit es
Hildebrand beliebt, so dass die „Bildvorstellung"
walten kann, und dass die Ansicht des Fertig-
gewordenen „eine einheitliche Raumschicht" dar-
TS
Mimik und Plastik
biete : dann bleibt doch immer die Natur dieses
Raumvolumens eine andre als z. B. der Blick in
die Landschaft draussen vor dem Fenster. Dieser
Gestaltungsraum ist bis zum massiven Kern der
dargestellten Formen ringsum durchdrungen vom
Tastgefühl des Bildners ; er ist ihm vertraut ge-
worden, jemehr er ihn bewältigt. Und dieser Cha-
rakter der lebendigen Gliederung, der Durchdringung
mit menschlich eigenem Empfinden bleibt auch be-
stehen, wenn im Fortschritt zur Vollendung der
persönliche Anteil sich auf den Standpunkt des reinen
Schauens zurückzieht , wo die Klarheit und Konse-
quenz der Gesichtsvorstellung allein, die wir abzu-
lösen glauben von ihrem körperlichen Substrat,
schon für sich befriedigen und als Woltat genossen
werden mag, wo aber zugleich, so sollten wir meinen
und so denkt auch Hildebrand selbst , der innigere
Genuss des Formgefühls nicht aufhört sein Recht zu
behalten. Für den Schöpfer bleibt doch dieser
Körper das Geschöpf seiner Hand, bleibt dessen
Raumvolumen das Ergebnis seiner verwirklichenden
Arbeit, seiner Uebertragung von Bewegungsvor-
stellungen und mimischem Gebaren auf den Stein,
— als wärs ein Stück von ihm.
Die Plastik allein vergleicht sich so nah mit
dem Zustand der Gebärerin, mit dem Verhältnis der
Mutter zu dem ungeborenen Kinde in ihrem Schofs.
Und auch wenn das neue Wesen ausgetragen ist
und selbständig werden kann, so gehört es doch
immer zum eigenen Stamme, lebt in einer verwandten
Sphäre, die sich unserer Tastregion nicht völlig eilt-
Der Gestaltungsraum des Bildners
79
fremden kann, so wahr unser eigenstes Körpergefühl
das Vehikel unsres Anteils an dem gleichorgani-
sierten Gebilde bleibt. Wir können ja nicht sagen,
es sei des Bildners eigen „Fleisch und Blut" ; denn
die Plastik vermeidet grade diese Bedingungen des
organischen Leibes, die Merkmale des Stoffwechsels
und der Vergänglichkeit, aus denen sie den bleiben-
den Wert befreien will ; aber es besteht zwischen
dem Gestaltungsraum des Bildners und seinem lebens-
warmen Gefühl doch nicht die Schranke , die der
Rahmen des Gemäldes zwischen uns und dem Bild-
raum jenseits errichtet.
Die Plastik ist Darstellung unseres organischen
Körpers nach seiner bleibenden Bedeutung, also auch
ohne Beziehung zu einem umgebenden Raum, der
diesen Körper bedingen, beeinträchtigen und in die
Abhängigkeit vom allgemeinen Strom des Geschehens
hineinziehen könnte. Ihre reinste Aufgabe sollte
somit in der statuarischen Kunst anerkannt werden,
d. h. im Gebiet der isolierten Rundplastik zunächst.
in.
ISOLIERTE RUNDPLASTIK
UNTER FREIEM HIMMEL
ODER IM GESCHLOSSENEN INNENRAUM
ein optische Auffassung des Problems der
Form war es , die zur Geringschätzung des
Modellierens in Thon gegenüber der Bild-
hauerei in Stein geführt hat, — d. h. zu einer Be-
urteilung, die schon an sich die Einseitigkeit eines
solchen theoretischen Standpunktes verraten muss.
Die selbe Scheu des malerisch gewöhnten Blickes
vor dem Kubischen, das „zu der Luft und dem wirk-
lich realen Raum in Gegensatz tritt", behindert den
Künstler auch angesichts der wichtigsten Aufgabe,
die heutzutage der Plastik gestellt zu werden pflegt,
der runden Figur in der Mitte eines Platzes, das
Problem überhaupt so eingehend in Angriff zu
nehmen, wie er sollte.
,, Diese unglücklichen Monumente sind gegen-
wärtig fast die einzige Bühne, auf der der Bildhauer
Denkmal und Platz
81
seine Phantasie ausleben darf", — um so mehr Ver-
anlassung, sollten wir meinen, ihm hier vollends zur
Klarheit über die verschiedenen Möglichkeiten der
Lösung zu verhelfen. In der Mitte eines Platzes
sollte jedoch nach Hildebrands Meinung die Statue
überhaupt nie stehen, und zwar weil alle Richtungen
gleichwertig sind , weil es kein vorn und hinten
giebt (S. 100). „Der Beschauer kreist um das Stand-
bild herum," heisst es, also ganz ähnlich wie der
Bildner selbst beim Modellieren in Thon, — „und
hat vier Ansichten zu schlucken , was nur bei sehr
wenigen Statuen ein Vorteil ist und immer nur bei
nackten Figuren ein Genuss sein kann."
„Was ist aber schuld an diesem Aberglauben
von der Mitte eines Platzes?" eifert er. „Wiederum
die unentwickelte Vorstelluug, welche sich einen
Platz gleichsam als organisches Gebilde denkt
und damit das Gefühl von organischer Sym-
metrie verbindet. Sie fasst ihn als ein an sich
Existierendes auf, anstatt ihn sich als gesehen
vorzustellen , als ein Ding , was seine künstlerische
Existenzberechtigung nur in Bezug auf den Be-
schauer hat und von diesem Gesichtspunkte aus
behandelt werden muss."
Aber, ohne Zweifel ist doch der Platz zunächst
etwas an sich Existierendes, d. h, ein Bestandteil
unserer Wirklichkeit, der wir ja nicht ausschliesslich
,,als Augengeschöpfe , sondern mit allen unsern
Sinnen" gegenüberstehen. Und es bleibt somit die
Frage offen, von wo aus die künstlerische Behand-
lung einzusetzen vermag.
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. ß
82
Isolierte Rundplastik
Um uns darüber zu verständigen, möchten wir
im Voraus eine kleine Berichtigung des obigen
Wortlauts vorschlagen , weil ein Missgriff im Aus-
druck hier grade den Unterschied der Vorstellungs-
kreise verwirrt, auf deren genaue Auseinanderhaltung
es ankommt. Statt „organisches Gebilde" sollte es
vom Platz wol richtiger „planimetrisches" oder
,, stereometrisches" Gebilde heissen. Das Erstere ist
der Platz jedenfalls als mehr oder minder ebene
Horizontalfläche von bestimmter Umgränzung, d. h.
als Ausschnitt der Erdoberfläche gefasst. Besteht
diese Umgränzung aber nicht allein aus Linien, son-
dern aus senkrecht aufgerichteten Körpern, von ein-
fachen Gränzsteinen (Termini) bis zu Häusern oder
sonstigen Bauwerken , die ihn — vielleicht mit
Strassenmündungen dazwischen — - ringsum ein-
schliessen, so ist er jedenfalls ein Innenraum unter
freiem Himmel , wir denken ihn aber auch oben
horizontal begränzt, am ehesten als „stereometrisches"
Gebilde. Bei der erstem wie bei der andern Auf-
fassung aber waltet keine „organische Symmetrie",
bei der es eben ein „vorn und hinten" giebt, son-
dern grade die der unorganischen Natur besonders
geläufige „centrale Symmetrie", wie in einem krystalli-
nischen Gebilde, und wir denken sie am ehesten
wol planimetrisch wie im flachen Schneestern oder
stereometrisch allseitig gerichtet wie im regelmässigen
Polyeder, wie im Diamanten.
Künstlerisch aufgefasst ist der Platz zunächst
ein Raumgebilde und gehört als solches der Archi-
tektur an. Diese fasst ihn mit vollem Recht als
/
Der Platz als Raumgebilde §3
„ein an sich Existierendes" auf, d. h. als etwas, das
sich nicht allein als Gesehenes , sondern auch für
andre Sinne noch als ausser uns Vorhandenes be-
währen kann, indem wir mit unsern Füssen darauf
stehen, mit unsern Beinen darüber hin schreiten, das
Gerassel der Wagen darauf hören usw. Die Be-
ziehung des menschlichen Subjekts zu diesem
Raumgebilde wird nur dann eine vollständige sein,
wenn es den Standpunkt einnimmt, den ihm die
centrale Symmetrie, wo sie vorhanden ist, oder der
Schnittpunkt der Koordinatenaxen anweist, d. h. wenn
es sich selbst in den Mittelpunkt versetzt, ob nun
allein in der Vorstellung oder in Wirklichkeit. *) Im
letztern Falle zeigt sich aber wiederum der Unter-
schied der ,, organischen Symmetrie", die der Be-
schauer mitbringt mitsamt dem Vorn und Hinten
seines eigenen organischen Leibes. Durch Drehung
um die Vertikalaxe muss er das Hindernis seiner
Organisation mit ausgemachter Vorderseite aufheben,
um wenigstens nach einander alle Seiten des Platzes
ringsum zu erschauen. Das heisst, damit wird die
simultane Anschauung aufgehoben und die successive
tritt an die Stelle. Diese herrscht auch überall sonst,
wohin immer das menschliche Subjekt in seiner
Ortsbewegung sich begebe. Immer wird dann ausser-
dem nur ein Teil des ganzen Raumgebildes von
ihm erfasst, und erst die Vorstellung vollzieht die
i) Vgl. Gottfried Semper, Der Stil, Prolegomena, bei Be-
sprechung der Symmetrie und ,,Eurhythmie" (nach seiner Definition,
auf deren Zulässigkeit es hier nicht ankommt).
6*
\
84 Isolierte Rundplastik
Synthesis dieser mit Bewegungsvorstellungen ver-
knüpften Teilanschauungen zu einem Ganzen. Die
Auffassung des menschlichen Subjekts mit seiner
ausgesprochenen Vorderseite, nach der sich die
Richtung seines Sehens nicht nur, sondern auch
seines Gehens und jeglicher. Hantierung gewohn-
heitsmässig bestimmt, wirkt weiter. Sowie die eine
Ausdehnung des Platzes über die andre überwiegt,
so verlegen wir die entscheidende Richtungsaxe gern
in die grössere Axe, und es ergiebt, wie wir sehen
werden, für die optische Auffassung einen wesent-
lichen Unterschied, wenn in solchem Oblongum die
Richtungsaxe mit ihrem Vorn und Hinten nicht in
die längere, sondern in die kürzere Axe verlegt wird.
Nehmen wir zunächst jedoch einen mehr oder
minder vollkommen symmetrisch angelegten Platz
mit annähernd gleichen Durchmessern an und stellen
in der Mitte ein Standbild auf. Dann räumen wir
diesem statuarischen Ebenbild des Menschen den
Standpunkt ein, der dem menschlichen Subjekt in
diesem Raumgebilde zukommt, sowie wir es als
künstlerische Schöpfung, d. h. als Werk der Städte-
bauerin Architektur auffassen. Jedenfalls gestehen
wir der dargestellten Person das Vorrecht zu , den
einzigen Ort einzunehmen , wo eine vollständige
Orientierung über die innere Gesetzmässigkeit der
Platzanlage möglich ist, von wo aus allein der Be-
trachter den ganzen Umkreis beherrscht. Alle leben-
digen Menschen werden dadurch in Wirklichkeit auf
die Seite gedrängt, in die zweite Kategorie herab-
gedrückt, auf die transitorische Teilauffassung des
Das Mal als Körper
85
Platzes beschränkt. Der Platz selbst wird für sie
zum Durchgangsraum, sie mögen noch so lange dort
herumstehen ; er wird zum Kreuzweg des Verkehrs
auf den ein- und ausmündenden Strassen. Es sei
denn, dass sie sich in der Vorstellung auf den über-
legenen Standpunkt der Mittelfigur erheben, oder
vielmehr noch über das Haupt der Statue hinaus,
zur Vogelperspektive. In dieser Verbesserung , die
wir soeben anbringen, prägt sich schon ein wich-
tiger Unterschied aus. Versetzen wir uns in die
Statue, die menschliche Gestalt, so ziehen wir damit
auch die feste Richtung ihrer Vorderseite wie ihrer
Rückseite an ; sie kann die Drehung um die eigne
Axe nicht mitmachen , die der Lebende vollziehen
würde. Erst der ideale Standpunkt darüber ge-
währt diese Beweglichkeit wieder. Das rein ideale
Vorrecht, die Möglichkeit künstlerischer Auffassung
des Platzes als Raumgebilde , geht also nicht ver-
loren , wenn die Mitte tatsächlich durch ein Monu-
ment eingenommen wird, sie wird sogar betont, er-
leichtert , ja erzwungen durch diese Aufrichtung
eines Mals an dieser Stelle. Ein solches Mal, —
denken wir zunächst an irgendwelchen ringsum
gleichmässig , d. h. polygonal oder gar cylindrisch
behauenen Stein, oder an einen Obelisken; einen
tektonischen Körper ohne figürliche Zutat und ohne
jede Andeutung einer bevorzugten Vorderseite, —
es ist ein krystallinisches allseitig gerichtetes Gebilde,
wie der Platz selbst, und versinnlicht eben dadurch
die allseitige Korresponsion mit der Umgränzung
dieses Platzes. Es ist der verkörperte Ausdruck
86
Isolierte Rundplastik
des Verhältnisses , das , so simultan nur in unserer
Vorstellung, zwischen dem menschlichen Subjekt
und dem beharrlichen Raumgebilde ringsum existiert.
Es erfüllt so die Forderung Hildebrands, der Platz
müsse „als ein Ding vorgestellt werden, was seine
künstlerische Existenzberechtigung nur in Bezug auf
den Beschauer hat und von diesem (hier allerdings
noch ganz abstrakten) Gesichtspunkt aus behandelt
werden muss". Das Mal weist dem menschlichen
Subjekt auf dem Platze den entscheidenden Punkt
an, den idealen Standpunkt, der die Auffassung des
Ganzen als Raumgebilde vermittelt.
Dies ist also der architektonische Stand-
punkt. Ihm entspricht auch durch die allseitige Be-
ziehungsmöglichkeit ein andres vielleicht noch primi-
tiveres Symbol : die aufgerichtete Stange mit dem
runden Topf darauf. Es erinnert durch die Ana-
logie dieser bekrönenden Form schon zwingender
an den menschlichen Kopf, giebt indess den Körper
darunter sozusagen nur in abstracto, doch aber das
Wichtigste davon, das hier entscheidet, die Mittel-
axe, das Höhenlot als Dominante. -Und diese wird,
wenn sie nur in richtigem Verhältnis zu der Um-
gebung auftritt, hier auch zur Dominante des Platzes..
Die gleichartige Rundung des Topfes erhöht die Be-
deutung des Korrelats nach allen Seiten ringsum, da
poetische Phantasie willig ergänzend zu Hilfe kommt.
Sowie wir statt dieses neutral gerundeten Topfes
eine Gesichtsurne auf die Stange setzen, oder auf
den Bauch des vorhandenen Gefässes ein Augen-
paar malen, so wird die Analogie mit dem mensch-
Tektonischer und plastischer Bestandteil
87
liehen Kopf nicht nur bestimmter herausgefordert,
sondern auch die Gränze der Tektonik überschritten.
Die einseitige Orientierung durch die Herübernahme
des Vorn und Hinten vom Menschenkopf bringt für
die wirklichkeitsgemässe Auffassung zunächst auch
das Bedürfnis der Drehbarkeit hervor, und insofern
ist für den naiven Menschen der drehbare Topf aut
seiner Stange ,, vollkommener", als der einseitig ge-
richtete festsitzende Kopf der Statue auf dem ebenso
nach vorn gerichteten Körper. Denn der naive
Mensch weiss poetische Illusion und anschauliche
Darstellung noch nicht zu trennen.
Damit haben wir die beiden Bestandteile , aus
denen ein solches Monument in der Mitte eines
Platzes zu bestehen pflegt, den teklonischen und
den figürlichen (im engern Sinne plastischen),
Sockel und Statue, jeden für sich in ihrem innersten
Gegensatz charakterisiert. Der Sockel sorgt, so lange
er allseitig gerichtet, wie ein krystallinisches Gebilde
behandelt ist, für die architektonische Auffassung
des Platzes ringsum. Dieser stereometrische Unter-
satz leistet aber ausserdem der Plastik einen Dienst,
indem er ihr menschenähnliches Gebilde , das den
Eindruck eines organischen Wesens gleich uns her-
vorrufen will , doch über das Niveau des daher-
kommenden Beschauers hinaushebt und damit grade
jene naive Verwechslung des Standbildes mit Unsers-
gleichen verbietet, die vom Kopfe wie vom Topfe
die Drehbarkeit um die Vertikalaxe verlangt. Der
Sockel weist also dem Beschauer den richtigen Stand-
punkt an , der ihn zur ästhetischen Auf-
SS
Isolierte Rundplastik
fassung der Statue zwingt. Dieser Standpunkt
liegt zunächst nur unter dem Niveau der Basis , auf
der sich die Figur erhebt. Er ist auch nicht fest-
gelegt, sondern ringsum verschiebbar. Auch der
ästhetische Betrachter des rundplastischen Werkes
mag um das Standbild kreisen, und hat, wie Hilde-
brand spottet, „vier Ansichten zu schlucken", ja
vielleicht noch mehr, wie in den Tagen Berninis
deren acht. Vor allen Dingen aber hat er nicht
allein mit seinen Augen Wahrnehmungsakte von
verschiedenen Seiten zu vollziehen, oder sich abzu-
mühen, eine klare Gesichtsvorstellung zu gewinnen,
sondern wieder einen Akt der reinen Vorstellung,
wie beim Platze selbst, indem er alle wirklichen, für
seinen eignen Körper möglichen Standpunkte rings
um das Monument aufhebt und sich mitten hinein-
versetzt in die Vertikalaxe des Gebildes , in das
Centrum des Gesamtkörpers , das wir Denkmal
nennen. Versetzt er sich , auf dem eigenen Niveau
verharrend, kraft seiner Vorstellung in den Sockel,
so nimmt er zu dem Platz zunächst den architek-
tonischen Standpunkt ein. Ueber seinem Niveau
aber steht die Statue, ein zweites Subjekt, Seines-
gleichen, nur mit dem Unterschied eben der
Hinaushebung über die Bedingungen der Erd-
oberfläche , wie sie in Wirklichkeit für alle Körper
auf dem Platze, vor allen für die Lebewesen wie der
Beschauer, bestehen. Es ist ein Aufschwung, und
zwar aus diesen Bedingungen menschlicher Leiblich-
keit, aus der Befangenheit im Stoffwechsel und
Allem, was er mit sich bringt, wie Notdurft und
Die plastische Auffassung
89
Nahrung der geborenen Kreatur , wenn die Vor-
stellung nun aus der Höhe des Sockels hinaufsteigt
auf die Basis der Figur und sich hineinversetzt in
diese menschliche Gestalt. Dann ist die Gefahr
allzu vollständiger Illusion überwunden , die Ver-
wechslung mit der alltäglichen Menschennatur für
dies Abbild abgestreift ; immer aber ist es ein orga-
nisches Gewächs nach unserm Ebenbilde, in das die
Vorstellung eingeht. Das heisst : der ästhetische
Standpunkt, den wir mit diesem Akt der Selbstver-
setzung einnehmen, ist der plastische Stand-
punkt.
Die plastische Auffassung allein erschliesst uns
die körperliche Entfaltung von der Mittelaxe aus,
die durch den Kopf geht und das aufrechte Rück-
grat darunter; sie lässt uns die Stellung der Glied-
mafsen zu dem Rumpfe kraft unsers eignen Körper-
gefühls nachfühlen, und verstehen, was grade dieser
festgehaltene Bewegungskomplex bedeutet , den die
Künstlersprache das Motiv der Statue zu nennen
pflegt. Unter dem plastischen Gesichtspunkt herrscht
hier auch die organische Symmetrie mit der be-
stimmten Unterscheidung des Vorn und Hinten,
zwischen denen die beiden Seiten, links und rechts,
vermittelnd die organische Einheit aufrechterhalten,
als deren Wahrzeichen uns am sichtbarsten jeden-
falls der Kopf zu sprechen scheint. Die plastische
Auffassung der Gestalt als organisches Gebilde be-
ruhigt sich aber, jemehr sie von dieser summarischen
Anerkennung der wirksamsten Kennzeichen zu der
Versenkung in den ganzen Körper übergeht und die
90
Isolierte Rundplastik
Zusammengehörigkeit aller seiner Teile zum Ganzen
nacherlebt, grade nicht bei der einen bevorzugten
Vorderseite , sondern fordert auch die andern drei
als mehr oder minder unentbehrliche Ergänzung. Je
stärker die Richtung des Willens oder des Aus-
drucks nach vorn betont, die Gliedmafsen und das
Antlitz in lebhaftem Spiel zusammenwirken, desto
entschiedener wird auch der Anspruch an die Rück-
seite , die Einheit des organischen Gewächses in
seiner Selbständigkeit zu betonen , das Bestehen in
ruhiger Beharrung als Einzelwesen gesichert darzu-
tun, und desto notwendiger wird zwischen diesen
Gegensätzen gesteigerter Bewegtheit und nachdrück-
lichen Zusammenhalts, zwischen Vorder- und Rück-
seite , die ausgleichende und überzeugende Ver-
bindung auf der rechten wie der linken Hälfte des
Körpers. Die vier Ansichten, die wir von einander
sondern mögen, wenn wir uns darum bemühen,
einigen sich aber nicht allein , indem sie auf dem
Grunde des eignen Körpergefühls unvermerkt und
notwendig zusammenfliessen , sondern werden auch
in der Region geläuterter Vorstellungen sicher von
der stillen Arbeit dieser zu einem Ganzen zusammen-
gewoben, das in seiner überlegenen Synthesis auch
Bewegungsvorstellungen und Gesichtsvorstellungen
unter Aufhebung jeder quälenden Diskrepanz zu ver-
binden weiss.
Nur eine Schwierigkeit ist in den tatsächlichen
Bedingungen eines weiten Platzes gegeben, der vom
Bildwerk selber entgegengewirkt werden muss, da-
mit der Verlauf dieser Vorstellungsreihe sofort richtig
Sichtbarkeit der organischen Form
91
einsetze. Die plastische Auffassung verlangt , wie
wir uns gesagt haben, den näheren Standpunkt, den
wir Körpern gegenüber einzunehmen pflegen , die
der Sphäre unsers menschlichen Mafsstabes ange-
hören , und dessen wir nicht entraten können, wo
es gilt uns über das Verhältnis ihrer Grösse , ihres
Volumens und ihrer sonstigen Beschaffenheit im Ver-
gleich zu uns Rechenschaft zu geben. Stellen wir
uns doch den Menschen selbst, auch wo er uns in
weiter Ferne, also in sehr verjüngtem Mafsstab er-
scheint , stets in normaler Lebensgrösse vor. Ist
nun der Platz mit dem Denkmal in der Mitte von
beträchtlichem Umfang , so nimmt der Beschauer,
der ihn soeben betritt, nicht den der Plastik eigen-
tümlichen Standpunkt in angemessener Nähe ein,
sondern einen entfernteren, von dem aus er zunächst
nur ein Flächenbild der Figur empfängt. Nur wenn
dieses sofort die richtige Gegenstandsvorstellung aus-
löst, d. h. die entscheidenden Merkmale der Men-
schengestalt vermittelt, und keine Verwechslung mit
andern Dingen zulässt, vermag auch die ästhetische
Auffassung von der Körpervorstellung auszugehen
und alle Associationen unseres Körpergefühls wach-
zurufen , deren sie zur Auslegung des Bildes im
plastischen Sinne bedarf. Deshalb gehört es zu den
unentbehrlichsten Eigenschaften eines Standbildes
unter freiem Himmel , dass es auch für weiten Ab-
stand noch die Wahrzeichen der Form unseres orga-
nischen Leibes auf den ersten Blick erkennen lasse.
„Diese Klarlegung kann durch eine deutlich spre-
chende Begränzung, durch ein Silhouettbild ge-
92
Isolierte Rundplastik
schehen. Das klare Silhouettbild ist das weitest
tragende Gegenstandsbild. Aus dem Bedürfnis der
Fernwirkung haben die Griechen meistens ein klares
Silhouettbild zur Gegenstandsklärung gebraucht",
bemerkt Hildebrand gelegentlich an andrer Stelle
(S. 79) und hebt hervor, dass dies Verfahren bei
Bronzewerken erstrecht notwendig ist, weil in Folge
der dunkeln Farbe die innere Form zu schwach
spricht. Sowie aber die innere Gliederung zu wir-
ken beginnt , sind es die Gelenke , über die wir
Rechenschaft verlangen. Für den Gesamtumriss wie
für die Hauptgliederung wird es also auf die frap-
pante Klarheit des Motivs ankommen , das uns mit
einem Schlage in die Sphäre des persönlichen Da-
seins versetzt.
Nun aber bilden die Statue und der Sockel zu-
sammen ein Ganzes , das ein Gesamtumriss um-
schreibt, und dessen beide Bestandteile sich demge-
mäss mit einander ausgleichen mögen, — sei es mehr
im tektonischen Sinne nach Mafsgabe des Sockels,
sei es mehr im plastischen Sinne nach Mafsgabe der
Statue. Die stereometrische Grundform des Unter-
satzes wird auch den organischen Körper darauf im
Sinne dieser gesetzmäfsigen Bildung beeinflussen und
seine Bewegung in dem Umriss einer pyramidalen
Bekrönung zusammenhalten, und zwar je weiter der
Platz, je höher seine Umgebung, also auch das Mal
in seiner Mitte. Unzweifelhaft hat die Architektur
als Gestalterin des ganzen Raumgebildes das Recht,
die Durchbildung des Monumentes im Einvernehmen
mit ihrem Hausgesetz zu verlangen; denn es ist und
Sockel und Statue
93
bleibt in erster Linie ein tektonischer , von allen
Seiten sichtbarer Körper. Die Architeklur ist also
nicht nur „ein blos dienendes Glied für die Plastik"
(S. 97), indem sie den Sockel liefert, sondern sie
leistet schon durch diesen Aufbau der Schwester-
kunst einen viel höhern ästhetischen Dienst, wie ihn
nur die Bundesgenossin zu leisten vermag, und wo
immer der architektonische Standpunkt für das Ver-
hältnis des Beschauers der mafsgebende bleiben
muss, da bleibt sie die Herrin der Situation. Mit
dem Zusammenhalt des Umrisses auch im Stand-
bild, den sie verlangt, kann aber auch der Plastiker
nur einverstanden sein unter freiem Himmel, wo das
Licht in der Höhe sonst so leicht die Formen auf-
zehrt, sobald sie sich vereinzeln, wo also nur die
Masse sich behaupten kann ; — vorausgesetzt bleibt
freilich, dass dadurch sein Hauptanliegen die Kennt-
lichkeit der Gestalt als Ebenbild des Menschen
nicht leide.
Das Verhältnis zwischen dem menschlichen Sub-
jekt und dem Platze ändert sich jedoch mit der ab-
nehmenden Grösse, indem sich der Abstand zwischen
Monument und Umgebung ringsum den Bedingungen
wenn auch immer noch grosser Innenräume nähert.
Je niedriger die Bauwerke oder die sonstige Ein-
fassung umher, desto weniger braucht auch das Mal
in seiner Mitte über die Köpfe der Vorübergehen-
den hinaufzusteigen ; desto absehbarer bleibt die
Höhe der Figur. Nicht allein das Auge vermag
sich eingehender auf die Einzelheiten der Form und
des Ausdrucks einzulassen, sondern das organische
94
Isolierte Rundplastik
Gebilde rückt auch der Tastregion des Betrachters
näher und gestattet damit dem Körpergefühl , sich
vertraulicher einzuleben , als wenn es sich bei der
summarischen Erscheinung aus der Ferne mit ein
paar entscheidenden Merkmalen und energisch her-
ausgetriebenen Hauptzügen bescheiden muss. Je
stärker dies Mitgefühl mit dem gleichorganisierten
Wesen dort oben durch die Annäherung an die
lebenden Besucher sich geltend machen kann, desto
grösser wird das Anrecht des plastischen Stand-
punktes neben dem architektonischen. Rücken die
Bauwerke der Umgebung , auch nur einzelne , dem
Monument so nahe, dass wir auch sie nicht über-
wiegend als fortlaufende Wand in einer Reihe, son-
dern als Einzelkörper aufzufassen veranlasst, oder
durch Gruppen von solchen erst zur innern Um-
gränzung des Platzes übergeleitet werden, so wird
sogar die Plastik die vollberechtigte Herrin der
Situation in dem innern Umkreis der tektonischen
und der specifisch plastischen Körper, die dort den
Gesetzen der unorganischen, hier der organischen
Natur gemäfs vorgestellt sein wollen. Und zwar,
je mehr diese tektonischen Körper durch die pla-
stische Ausarbeitung ihrer Bauglieder ,, durchorgani-
siert" sind, desto mannichfaltiger wird auch die
Verwandtschaft mit dem Standbild sich, gestalten.
Das heisst, auch der allseitig gerichtete Sockel wird
sich dem Einfluss des organischen Wesens darauf
nicht entziehen. Er mag sich durch weichere Pro-
file und Kurven im Aufstieg den Umriss- und Be-
wegungslinien des menschlichen Körpers beträchtlich
Sockel und Statue
V>5
nähern. Der Unterschied des Vorn und Hinten, der
in der Statue vorhanden ist, mag sich gar auf den
Untersatz ausdehnen. Und diese Bevorzugung einer
Vorderseite wird um so leichter und berechtigter
sich einstellen , wenn die Form des Platzes schon
eine Hauptaxe vorwalten lässt, d. h. sich dem Ob-
longum nähert und durch die Richtung des Ver-
kehrs mehr als Fortsetzung einer, sich zeitweilig nur
verbreiternden , Strasse , denn als Sammelplatz zu
längerem Aufenthalt erscheint. Verlangt aber dieser
Verkehr auch die Rücksicht auf die entgegengesetzte
Richtung, also auf die zuströmenden Menschen, die
das Mal zuerst von der Rückseite des Standbildes
gewahren , so wird unter der Vorherrschaft plasti-
scher Auffassung bei den sonstigen Verhältnissen
auch das Bedürfnis gespürt werden, an dieser ruhige-
ren Rückseite der Figur lebendigen Ersatz zu schaf-
fen , und je weniger sie selber einen Zuwachs an
Bewegung vertragen mag, getrost am Sockel die
Ergänzung zu bieten, — lassen wir vorerst dahin
gestellt, ob dies in starkem Relief oder in voller
Rundplastik geschehen könne. x)
Damit aber berühren wir schon einen andern
Anspruch des vorübergehenden Betrachters, der
wieder durch eine andre Grundform des Platzes
vollends hervorgetrieben wird. Wenn die Hauptaxe
i) Damit man aber dies Offenhalten der Möglichkeiten nicht
als Verteidigung aller modernen Lösungen auslege, muss ich schon
hier erklären, dass ich mit Hildebrands Verurteilung des Grabmals
von Canova (S. 95 f.) ganz übereinstimme , eben weil die Idee nur
als Relief künstlerisch befriedigend ausgestattet werden konnte.
96
Isolierte Rundplastik
des Verkehrs nicht mit der Hauptaxe des Platzes
zusammen fällt, oder wenn die Hauptader in der
Mitte der einen Langseite des Oblongum mündet,
während die gegenüberliegende Parallelseite ge-
schlossen, keinen nennenswerten Durchgang ge-
stattet, dann überwiegt die Breitenausdehnung, und
die Aufforderung, auch während die Menge sich
nach beiden Seiten verteilt schon, zu ruhigerem Ver-
weilen wird fühlbar. Das Monument, das in der
Mitte eines solchen Breitenplatzes steht, mit dem
Hintergrund von Baulichkeiten in mäfsigem Abstand,
oder deren zwei inmitten der seitlichen Abschnitte
links und rechts von der Richtungsaxe des Zugangs,
sie alle unterliegen nun auch andern Bedingungen.
Dem Betrachter wird ein fester Standpunkt, mehr
oder minder zwingend schon durch die Verhältnisse
des Platzes, dem Monument gegenüber angewiesen.
Sein verweilendes Schauen umfasst Körper und
Raum zugleich; Bildwerk und Hintergrund gehen zu
einem Gesichtseindruck zusammen, wie ein Bild.
Nun erst sind wir auf dem Standpunkt an-
gelangt, den Hildebrand seiner Betrachtung zu
Grunde legt. Dies aber ist weder der architekto-
nische noch der specifisch plastische Standpunkt, son-
dern seinem Wesen nach, so lang er fest bleibt, sicher
der Standpunkt der malerischen Auffassung1).
Jetzt stellen wir den umgebenden Ausschnitt des
Platzes , den der Hintergrund abschliesst , eben nur
i) Vgl. hierzu Heft II dieser Beiträge p. 15 ff. und Beispiele
in Rom, S. 234. 240 ff.
Malerischer Standpunkt
97
als ,, gesehen" vor und verlangen seine künstlerische
Behandlung mitsamt dem darinstehenden Monument
,,von diesem Gesichtspunkt aus", d.h. als Bild. Aber
es ist doch nicht zu läugnen, dass diese gemeinsame
Behandlung, die über Beides hingeht, schon die
Existenz des Platzes als Raumgebilde, d. h. als archi-
tektonische Schöpfung, und die Existenz des Stand-
bildes als Körper, d. h. als plastische Schöpfung,
voraussetzt und nur darauf ausgehen kann , beide
Faktoren unter sich auseinanderzusetzen resp. mit-
einander auszugleichen, beide nach den Forderungen
einer dritten Instanz, des ,, ruhig schauenden Auges",
im Sinne der Bildwirkung zu modificieren, gleich
gut, ob dies bei der Entstehung schon oder erst
nachträglich — wenigstens für den Platz gewöhnlich
erst dann — geschehen könne.
Damit erst wäre ,,der Bann der isolierten Rund-
plastik" aufgehoben, den Hildebrand als einen un-
glaublichen Zustand der modernen Denkmalstiftung
geisseif, weil ,,ihr jeder Anschluss an Architektur,
an irgend eine Situation verboten sei, wie in Einzel-
haft, — die reine Sträflingsarbeit!" — ,,Das, was
aber der Kunst immer neues Leben zuführt und sie
immer freudig macht, ist die neue Situation."
Die gegebene Situation der Wirklichkeit , sei
diese durch die Natur entstanden und den Zufall,
oder durch menschliche Ordnung also durch die
Schwesterkunst Architektur geschaffen, — ,,zu einer
künstlerischen Gestalt weiter zu formen, führt immer
zu Neuem innerhalb der künstlerischen Gesetze."
Nach unsrer obigen Betrachtung muss es jedoch
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. y
98
Isolierte Rundplastik
klar sein, dass dieser Ausgleichungsprocess zwischen
einer vorhandenen Situation und einem neu hinzu-
kommenden Bestandteil, zwischen Architektur und
Standbild, oder die Weiterformung beider zu einer
künstlerischen Erscheinung, wie Hildebrand sie im
Auge hat, nicht mehr vom architektonischen Stand-
punkt aus das Ganze des Platzes umfasst , sondern
nur eine Teilbehandlung ist, die sich allein auf den
Hintergrund des Monumentes , oder auf den Aus-
schnitt in seiner Nachbarschaft mit erstreckt, soweit
es gewissermafsen eingerahmt wird. Diese Weiter-
formung zu künstlerischer Gestalt geschähe dann vom
plastischen oder vom malerischen Standpunkt aus,
die wir unterscheiden, während Hildebrand nur einen
und den selben, der bildenden Kunst, der Malerei
und Plastik gemeinsamen erkennt.
Der Unterschied liegt unsres Erachtens eben
darin, ob die Körpervorstellung, von der die Plastik
ausgeht , das Übergewicht behält , oder ob dem ge-
meinsamen, die Körper in sich aufnehmenden Räume
die Macht einer sie alle beeinflussenden Sphäre zu-
gestanden wird , also die Bildvorstellung die Ober-
hand bekommt. Wie wir am Schluss des vorigen
Kapitels ausgeführt , zieht die statuarische
Kunst den umgebenden Raum nicht mit
in ihre Behandlung hinein, macht ihn nicht
ausser und neben ihrer plastischen Gestalt zum
Gegenstand der Darstellung. Es kann sich, wo dies
verlangt wird, also nur um einen Ubergang in andere
Bedingungen handeln. Es ist ein weiteres Problem
der Form.
Das gemeinsame Problem
99
Nachdem wir so die verschiedenen Möglich-
keiten, dem Platz mit seinem Monument künstlerisch
beizukommen, mit Hülfe strenger Unterscheidung
dreier dabei entscheidender Standpunkte nachge-
wiesen, und uns bemüht haben, die architektonische,
die plastische und die malerische Auffassung streng
auseinander zu halten, drängt sich die Frage nach
befriedigendem Ausgleich zwischen diesen geson-
derten Ansprüchen auf. Wie ist überhaupt eine
einheitliche Lösung des Problems für alle denkbar?
Stellen wir uns neben das Monument, so er-
fassen wir den Platz ringsum als Raumgebilde , als
architektonische Schöpfung. Das Kunstwerk in seiner
Mitte wirkt neben uns nur als Mal, als tektonischer
Körper, wie die Säule des Tempels, wenn ich neben
ihr auf dem Stylobat des Peristyls, im Intervall der
Reihe stehend, hinausschaue ins Land. Ein Körper
rechts, ein Körper links neben mir kommt zum Ge-
fühl ; aber seine Ausgestaltung kommt nicht voll in Be-
tracht, ob stereometrisch regelmässig, ob organischer
nach unserm Ebenbild. Drehe ich doch dem Monu-
ment bei der Umschau über den Platz ebenso un-
bedenklich den Rücken, so dass es nur als Rück-
halt, als fester Ausgangspunkt der räumlichen Orien-
tierung noch hinter mir gefühlt werden mag. Seine
Form ist gleichgiltig : ein Prellstein wirkt ebenso
wie ein Obelisk, und ein Standbild nicht mehr, so-
bald sich mein Blick von ihm abgezogen und gegen
die Weite hinaus gerichtet hat. Je mehr ich aber
auf einem dieser Standpunkte des innersten Um-
kreises verweile , und , statt ringsum zu blicken , im
7*
100
Isolierte Rundplastik
Ausschauen der einen, vor mir liegenden Seite des
Platzes ausruhe, desto mehr beginnt die [begränzende
Häuserreihe drüben, oder welche Körpermassen sonst
dort gegenüberstehen, sich als Flächenbild geltend zu
machen, desto fühlbarer wird der Übergang vom
architektonischen zum malerischen Schauen.
Wende ich mich dagegen um, auf das Monu-
ment zu, so fällt mir der plastische Körper zuerst
ins Auge, und das plastische Sehen, das Abtasten
der Form mit den Blicken tritt in sein Recht. Vom
Sockel steigen wir auf die Höhe des Standbildes,
und im Streben, die Bildung des organischen Ge-
schöpfes vollends durchzufühlen, erweitern wir den
Abstand vom Male, bis wir es ganz überschauen.
Der Umkreis dieses Abstandes wird uns ,wol durch
eine horizontale Abstufung ringsum schon vor-
gezeichnet, durch Einfriedigung des unbetretbaren
innersten Bezirks noch zwingender anheimgegeben.
So nehmen wir von diesen Gränzen her die vor-
gesehenen Ansichten der Statue nach einander auf.
Aber diese Entfernung ist immer noch relativ ge-
ring. Es ist kein Fernbild , das sich darbietet , wie
das der Malerei. Es fehlt vor allen Dingen die feste
Umrahmung an den Seiten der Figur, und vollends
oben darüber. Es ist also keine Bildansicht, die in
diesen Gränzen ihrer Ausdehnung auch die Bildeinheit
als Forderung erhübe, wie beim Werk des Malers.
Wird aber die Entfernung noch grösser, kommen
wir also von der äussersten Umgränzung des Platzes
her, durch eine der einmündenden Strassen etwa,
zum ersten Anblick des Standbildes, so macht sich
Das gemeinsame Problem
101
der Platz als Raumgebilde jedenfalls neben dem
monumentalen Körper geltend, - - je weiter er sich
ausdehnt, desto überlegener gar als umfassende
Grösse. Dann ordnet sich das Standbild wieder
ein in die Umgebung, wird ein Teil der Gesamtheit,
die wir als Bild sich vor uns ausbreiten sehen.
Dann aber kommt seine Wirkung als plastische
Schöpfung zu kurz. Es gewinnt sie erst wieder,
Schritt für Schritt , indem wir uns nähern , bis zu
dem Umkreis des geheiligten Bezirkes, der auf dem
gemeinsamen Boden schon dem durchlaufenden Ver-
kehr entzogen ward , oder von unserm Auge leicht
als die Schwelle des plastischen Genusses gefunden
wird. Der Abstand ist nah genug auch für tastendes
Sehen, aber schon entfernt genug, um die wirkliche
Auseinandersetzung mit unsern Tastorganen oder
gar Druck und Stoss unsers Leibes nicht mehr heraus-
zufordern. Die ästhetische Aufnahme des Kunstwerks,
das die Plastik geschaffen, vollzieht sich mit Hülfe
unsrer Augen allein; aber die ästhetische Aufnahme des
Kunstwerks, das die Architektur geschaffen, braucht
als Hülfe jedenfalls die Ortsbewegung unseres Leibes.
Und das Monument, das durch die Aufstellung auf
dem Platz zu einem Bestandteil dieses Raumgebildes
geworden , appelliert als Körper in der architekto-
nischen Schöpfung jedenfalls, wie der Sockel unter
der Statue selbst, an die nämliche Hülfe vom leben-
digen Subjekt, und damit zugleich an die Erfah-
rungen des eigenen Leibes , an die Grundlagen
unserer räumlich körperlichen Orientierung innerhalb
der Tastregion, die uns umgiebt.
102
Isolierte Rundplastik
An der Gränze, wo wir uns über diese hinaus-
heben, liegt das gemeinsame künstlerische Problem,
um das es sich handelt. Aber wir dürfen nie ver-
gessen, dass wir zu diesem Aufschwung des reinen
Schauens eben der festeren Unterlage bedürfen, die
dabei gleichsam als Sprungbrett dient , also sicher
vorhanden sein muss.
Das Gemeinsame für alle möglichen Standpunkte
der künstlerischen Verarbeitung ist nicht, wie Hilde-
brand meint, die Bildvorstellung, sondern allein der
Vollzug der Tiefenbewegung, die auch ohne ein-
rahmende Begränzung, wie das Bild sie fordert, im
freien Raum des Platzes, in der ganzen Weite unse-
res natürlichen Sehraumes sich ausdehnen kann. Im
Vollzug der Tiefenbewegung vollzieht sich die ästhe-
tische Aufnahme des Raumes und der Körper über-
haupt, durch sie erst wird das Werk des Künstlers
zum Erlebnis des Betrachters. So weit hat Hilde-
brand das Richtige sicher gefühlt , wenn er sie als
Vehikel der Einheit erkennt; aber seine Verwechs-
lung des plastischen Problems mit dem malerischen
des Fernbildes brauchen wir deshalb noch nicht mit-
zumachen.
Das Geheimnis liegt in der Entstehung der
dritten Dimension für den Menschen selber be-
schlossen. Ortsbewegung und Tasterfahrung, die
Auseinandersetzung mit den Dingen um uns her im
nächsten Umkreis unserer Tastregion, sind die
Grundlage , auf der auch der Anspruch des Auges
auf eine weitere Konsequenz der Raumtiefe über
die Gränze dieser Region hinaus erwächst. Bei der
Entstehung der Tiefenschau
103
Ortsbewegimg auf unsern Füssen nehmen wir ja das
Raumvolumen unseres Körpers mit von Ort zu Ort,
wie die Schnecke ihr Gehäuse. Deshalb geben wir
auch unserm körperlichen Ebenbild, der Statue, ihr
zugehöriges Raumvolumen mit als ihren ästhetischen
Raum und anerkennen dies unsichtbare Gehäuse als
Gränze des isolierten Gebilds. Durch kontinuier-
liche Wiederholung unseres Raumvolumens entsteht
ja Schritt für Schritt auch das Raumgebilde , das
der Mensch als sein Gehäuse, seinen Spielraum um
sich herstellt : die architektonische Schöpfung. Ihre
natürlichste Mafseinheit ist das eigne Raumvolumen
des Menschenleibes selber. Bei unsrer Ortsbewegung
auf dem gemeinsamen Boden hin nehmen wir aber
noch ein weiteres Raumvolumen mit, unsere Tast-
sphäre , die sich ringsum ausdehnt , soweit unsere
Arme reichen. Auf diesen Umkreis beschränkt sich
die nächste grundlegende Auseinandersetzung mit
den Dingen der Aussenwelt, in ihm erwachsen die
Grundbegriffe unsrer räumlichen Orientierung, also
auch die Elemente der dreidimensionalen Auffassung.
Hier objektivieren sich die beiden ersten Dimen-
sionen ; die Höhe als Merkmal jedes Objekts neben
uns , ausser uns ; die zweite Dimension als Weite
über unsern eignen Leib hinaus, also auch sie neben
uns, dann ausser uns. Der Gegenstand, der ausser
der unentbehrlichsten Eigenschaft der Höhe auch
noch Breite hat , drängt uns diese Ausdehnung, so
lange wir nicht sehen, nur auf, wenn wir mit unsern
tastenden Händen daran nach beiden Seiten hinaus-
fahren , oder aber , indem wir mit unserm ganzen
104
Isolierte Rundplastik
Körper also in Ortsbewegung daran entlang gleiten.
So wird aus der Breite schon im Vollzug nach einer
Richtung die Länge, d. h. indem wir die gewohnte
Vorwärtsbewegung darauf anwenden. Und diese
Vorwärtsbewegung ergiebt eigentlich die dritte Di-
mension, die vor uns liegende Tiefe. Weil wir ge-
wohnt sind, vorwärts zu gehen , vorwärts zu tasten
nach etwa entgegenstehenden Hindernissen auf dem
Wege, die wir als Gegenstände anerkennen müssen,
eben w7eil sie uns Widerstand leisten, ebendeshalb
postuliert auch das Auge , sowie es über den Wir-
kungskreis der Tastorgane hinaus als weiteres Hülfs-
mittel der Orientierung hinzukommt, die weitere Er-
streckung in der nämlichen Richtung, vor uns hin.
Die dritte Dimension geht also immer vom Subjekt
aus und bleibt als Bewegung nach vorwärts auch
im Schauen fühlbar; deshalb erleben wir in ihr erst
die bis dahin zweidimensionale Auseinandersetzung
der Gegenstände vor uns in vollem räumlichen Sinne.
Deshalb übersetzen wir Alles, was wir ermessen
wollen, in die Richtung vor uns her, selbst die Aus-
dehnung in der Breite , die quer vor uns zu liegen
scheint, indem wir sie von einem Ende bis zum
andern mit unserm Blick verfolgen, sie absehen, in-
dem wir uns punktuell an den Anfang versetzen und
den Weg des Punktes in der Linie durchmachen
wie eigene Ortsbewegung unsres Leibes nach vorn
zu, auf das Ziel hin.
Deshalb müssen wir auch jedes räumlich-körper-
liche Kunstwerk, also den Platz als Raumgebilde
der Baukunst, wie das Standbild darauf als Körper-
Dynamik der ästhetischen Aufnahme
105
gebilde der Plastik, im Vollzug der Tiefenbewegung
erst an uns erleben , um es geniessen zu können.
So erklärt sich psychologisch als natürlicher Akt,
was der Künstler fordert : wir sollten alle Raum-
und Körperwerte von vorn nach hinten ablesen.
Die Tiefenbewegung, die von uns ausgeht und nach
vorwärts dringt, entspricht also dem innewohnenden
Bedürfnis des menschlichen Subjekts , ist ein An-
spruch der ästhetischen Aufnahme als solcher. Aber
diese Tiefenbewegung, wenn sie im reinen Schauen
schon zum Erlebnis werden soll, setzt, ebenso im
Objekte selbst einen bestimmten Grad des Wider-
standes, d. h. die konstitutiven Eigenschaften kubi-
bischer Körperlichkeit ausser uns voraus; denn sonst
könnte die psychische Dynamik des Erlebens und
Geniessens nicht entstehen. Die Gegenstände , an
denen unser Blick , die Tiefe postulierend , entlang
gleitet, müssen sich fühlbar an ihrem Ort im Raum
behaupten, und zwar nicht nur zweidimensional als
Silhouetten, etwa wie ausgeschnittene Pappdeckel
und Kulissen auf der Bühne, nicht flach erscheinen,
obgleich sie kubisch sind, sondern eher umgekehrt,
womöglich kubisch wirken, selbst wenn sie flach
sind; denn was bedeutet der Ausdruck ,, entlang
gleiten", den der Künstler selber wählt, anders, als
den Vollzug der Bewegung an einer Gränze hin,
die sich wie die Richtung des Vorwärtsdringens
selber in der dritten Dimension erstreckt , grade in
der Tiefe selbst eine Reihe von Intensitätswerten,
steigenden und wieder absetzenden Widerstands im
Nacheinander geltend macht?
106
Isolierte Rundplastik
Im Ausgleich des objektiven Entgegenstehens,
ja Entgegendringens und des subjektiven Vorwärts-
dringens zum fühlbaren Vollzug des Tiefendranges,
darin liegt die Einheit der Lösung für das künst-
lerische Gesamtproblem, das den ganzen Raum des
Platzes als „ideelle Raumeinheit" und die volle Kör-
perlichkeit des Standbildes darin umspannt. Ob für
den schweifenden Blick oder das ruhige Schauen,
es ist ein rhythmischer Verlauf der Bewegung, und
die Lösung des künstlerischen Problems ist Eurhyth-
mie der Raum- und Körperwerte für das
menschliche Subjekt.
Gehen wir zur Klärung weiterer Möglichkeiten
zunächst zur Betrachtung der isolierten Rundplastik
im Innenraum über. Mannichfaltige Vermittlungen
liegen zwischen dem Platz unter freiem Himmel und
dem geschlossenen Innenraum. Ein Binnenhof nähert
sich schon den Verhältnissen eines grossen Sales,
indem er noch immer Licht und Luft der Aussenwelt
teilt; die Cella eines Hypäthraltempels drängt diese
Bedingungen schon sehr in die Enge; Galerien, deren
Arkaden sich ins Freie öffnen , verbinden die Be-
leuchtung unter freiem Himmel mit den dämpfenden
Schatten ihrer Wölbung oder Decke. Der ge-
schlossene Innenraum aber bietet je nach der An-
lage die verschiedensten Grade der Helligkeit und
nicht selten mehr als eine Richtung der Lichtzufuhr,
die den Charakter bestimmen und bei der An-
Im geschlossenen Innenraum
107
bringung jeglichen Bildwerks in Betracht kommen
müssen.
Die Kunst des Bildners übernimmt wol auch
hier wie am Aussenbau ,,die Rolle von Füllungen
oder Krönungen des architektonischen Ganzen und
wird zu einem architektonischen Teil desselben," wie
Hildebrand sich ausdrückt. Ihre Beiträge zum Ganzen
gehören also in die nämliche Region wie die Bau-
glieder, die Säulen und Pfeiler, die Arkaden und
Simse selbst, nur dass diese abstrakter gebildet sind
und in ihrer Grundform die Darstellung organischer
Geschöpfe als Ganzes vermeiden. Wir nennen des-
halb dies ganze Gebiet, das den Gesetzen der Archi-
tektur unterworfen ist, tektonische Plastik,
oder gar Bauskulptur.
Ausserhalb dieses notwendigen Zusammenhanges
mit der Raumbildung und der plastischen Organi-
sation ihrer Glieder kann indessen der Innenraum
noch zur Aufstellung plastischer Bildwerke dienen,
die als solche den Anspruch selbständigen Bestehens
erheben und damit in erster Linie nicht vom archi-
tektonischen , sondern vom echt plastischen Stand-
punkt aufgefasst sein wollen. Es ist die ästhetische
Betrachtung organischer Lebewesen, die sie er-
heischen und mit Recht verlangen dürfen. Durch
ihre Aufstellung im architektonischen Raumgebilde
jedoch geraten sie in ein Verhältnis zu diesem, dem
Innenraum, gleich dem Menschen, der darin eingeht
oder darin wohnt. Mehr als das Ganze jedoch ist
es die nächste Nachbarschaft, die an ihrer festen
Stelle eine Beziehung zu ihnen gewinnt, — sei es
108
Isolierte Rundplastik
nur als Folie, von der sie sich abheben, oder als
Hintergrund , der zu ihnen zu gehören scheint , sei
es gar von mehreren Seiten , oder endlich als Aus-
schnitt aus dem Ganzen , der sie wie ein Hohlraum
mit offener Vorderseite oder gar als vollständiges
Gehäuse umgiebt. Da scheiden sich wieder die
verschiedenen Standpunkte. Der architektonische
fasst sie nur als Körper im ganzen Innenraum auf
und fragt, wie weit sie den Gesamteindruck der
Raumschöpfung als solcher alterieren, oder sich
künstlerisch , d. h. architektonisch mit diesem um-
gebenden Raumgebilde auseinandersetzen. Sowie es
sich um Teilauffassung gegenüber dem Raumganzen
handelt, nur ein Ausschnitt des Innern mit in Rech-
nung kommt , so treten die andern Standpunkte in
ihr Recht. Unserer Überzeugung nach ist eben der
specifisch plastische der nähere Standpunkt, immer
geneigt das Bildwerk als Einzelgebilde oder Gruppe
zu isolieren , der specifisch malerische Standpunkt
dagegen der umfassendere, auf den Raumausschnitt
zuerst und dann erst auf die Körper als Bestandteile
darin gerichtete, d. h. entferntere. Auch der Archi-
tekt selber vermag sie einzunehmen : als Tektoniker
ist ihm der plastische, als Raumschöpfer der male-
rische ja leicht zugänglich, zumal da, wo es sich
auch um farbige Gesamtwirkung handelt.1)
Er wird die Bildsäule, die in seinem Raum auf-
gestellt wird , zunächst nicht anders betrachten als
I) Vgl. hierzu Max Klinger, Malerei und Zeichnung. 3. Auf-
lage. S. 18 ff. und Heft I dieser Beiträge S. 85 ff.
Standort des Bildwerks
109
die Säule oder ein anderes tektonisches Gebilde,
nur dass sie nicht als dienendes Glied sich der Ord-
nung des Aufbaues selber einfügt, sondern frei auf-
ragend auch etwas für sich bedeuten will. Aber
die Wahrzeichen des organischen Geschöpfes , der
Menschengestalt mit all ihrem Anspruch an das
lebendige Gefühl, sind doch ein neuer Faktor, der
diese Zutat zu seinem Raum in die Kategorie des
Bewohners treten lässt , und da begegnet sich die
Auffassung mit derjenigen der plastischen Kunst.
Das Standbild des Menschen, oder gar eines Gottes,
misst den Raum nach dem Mafsstab seines eigenen
Körpers. Man denke sich den olympischen Zeus,
wie er in seinem Tempel tronte , und daneben die
vornehme Römerin oder einen von den Komödien-
dichtern auf ihrem Stul im zugehörigen Sale, und
versuche die Bildwerke miteinander auszutauschen,
um auch des Unterschieds inne zu werden, den ihre
Wirkung auf die Räumlichkeit mit sich bringt. Das
liegt aber nicht allein an Kolossalität und Normal-
grösse, sondern auch an der dynamischen Äusserung
des Charakters.
In dem Mittelpunkt oder überhaupt in der Rich-
tungsaxe des Innenraumes vertragen wir ein tekto-
nisches Gebild mit seiner allseitigen Richtung oder
unpersönlichen Neutralität auch eher, als eine Statue
von einigermafsen menschlicher Proportion. Und
zwar wird dieses Gefühl um so stärker sich geltend
machen, je mehr der Raum zum lebendigen Ver-
kehr, zum Wohnen gar bestimmt ist. Ward die
Halle selbst für die Lebenden geschaffen, so müssen
110
Isolierte Rundplastik
auch die Bildwerke aus der Mittelregion , aus dem
Bannkreis der Lebensaxe weichen. Damit aber
rücken sie naturgemäss aus den Bedingungen der
isolierten Rundplastik heraus, die wir vorerst allein
betrachten, und treten in die Wandregion, die
ihren Einfluss, wenn auch nur als Folie, auf sie
ausübt.
Sowie wir aber in dem näheren Umkreis des
Bewohners, den solch ein Innenraum darbietet, die
Bildwerke unter das Menschenmafs verkleinern, so
mindern sich auch alle Ansprüche der Körper als
Unsersgleichen, und sie stören nicht mehr.
,,Im geschlossenen Raum, wo der Standpunkt
ein näherer ist, sagt deshalb auch Hildebrand, wird
die Sachlage eine andere (als unter freiem Himmel).
Hier kann die innere Form den Gegenstand ver-
deutlichen" (S. 80). ,,Bei geringerer Distanz besitzen
wir ein kleineres Sehfeld, und da es nach dem Rande
zu verschwommen ist, und seine Kraft im Centrum
liegt, so darf das, was den Gegenstand verdeutlicht,
nicht am Rande, sondern muss nach der Mitte des
Sehfeldes zu liegen. Das Mittel der klaren Silhouette
verlangt einen weitern Standpunkt, wo wir sie leicht
überblicken können. In der Nähe aber, wo die
Figur mehr und mehr das ganze Sehfeld einnimmt
oder gar überragt, dürfen wir nicht der Auskunft,
welche die Begränzung uns giebt , benötigen , son-
dern wir müssen umgekehrt sie entbehren können.
Das hat dazu geführt, in solchem Fall die Begrän-
zung möglichst ruhig eine Gesamtmasse umschliessen
zu lassen", damit die Figur desto einheitlicher er-
Plastisches Sehen
111
scheine. „Der näher angenommene Standpunkt
spricht sich deshalb in der Gestaltung der Figur
dadurch aus , dass das Silhouettbild zu einer ganz
beruhigten allgemeinen Begränzung wird."
„Bei den Bronzen, bei denen die Innenformen
niemals so deutlich reden , um die Silhouette ent-
behren zu können, treibt der künstlerische Instinkt
dazu, den Mafsstab soweit zu verkleinern, dass die
Silhouettwirkung noch klar ins Sehfeld falle. Die
Bronze als Silhouettbild verlangt für den nahen'
Standpunkt einen kleinern Mafsstab als die Marmor-
figur von geschlossener Begränzung."
Aus allen diesen lehrreichen Beobachtungen
Hildebrands selbst geht aber hervor, dass der eigent-
lich plastische Standpunkt, für den es auf die volle
Ausdrucksfähigkeit der Körperform ankommt , eben
im näheren Umkreis gesucht werden muss und nicht
jenseits der Distanzschicht, von der unser Auge nur
an sich flächenhafte Bilder empfängt ; denn die Ent-
fernung ist es immer, im Freien wie im Innenraum,
die Gegenmafsregeln erheischt.
Rücken wir dagegen auf den entfernteren Stand-
punkt, den Hildebrand allein als den künstlerischen
anerkennen will, so erscheint uns, solange wir im
Innenraume selber bleiben, immer nur ein Teil mit
seinen plastischen Bildwerken darin als ein Raum-
ganzes für sich , wie der Architekt und der Maler
es anzuschauen gewohnt sind , und von denen we-
nigstens der Erstere gefragt sein will , wie weit er
dem Bildhauer gestatten kann, die umgebende Situa-
tion seines Bildwerks mit in seine künstlerische Be-
112
Isolierte Rundplastik
handlung hineinzuziehen. Unser Führer selbst zeigt
uns freilich den Weg, wie wir diesen Gesichtsein-
druck des Raumausschnittes mit Bildwerk wieder in
einen eminent bildnerischen verwandeln können,
indem wir ihn nicht als Raumgebilde, wie der Ar-
chitekt, nicht als Bildraum, wie der Maler, auslegen,
sondern als Gestaltungsraum, dessen Charakter wir
oben darin gesucht haben, dass er mit bildnerischen
Bewegungsvorstellungen durchdrungen und mit deren
Niederschlag, der plastischen Gliederung, durch-
setzt sei.
,, Unter einem Raumganzen verstehen wir den
Raum als dreidimensionale Ausdehnung," schreibt
Hildebrand, »das nach den drei Dimensionen sich
bewegen können oder bewegen« unserer Vorstel-
lung; sein Wesentliches ist die Kontinuität.
Stellen wir uns deshalb das Raumganze vor wie
eine Wassermasse , in die wir Gefässe senken und
dadurch Einzelvolumina abgränzen als die bestimm-
ten geformten Einzelkörper, ohne die Vorstellung
der kontinuierlichen Wassermasse zu verlieren."
Dieses Raumganze müssen wir uns also vorstellen
„als einen Hohlraum, welcher zum Teil durch die
Einzelvolumina der Gegenstände, zum Teil durch
den Luftkörper erfüllt ist.1) Er existiert nicht als
ein von aussen begränzter, sondern als ein von
innen belebter." Wir könnten Hildebrands Absicht
i) S. 34 lautet es allerdings „so müssen wir vorerst dieses
Naturvolumen plastisch vorstellen als einen Hohlraum", sollte
jedoch wol richtiger „Stereo metrisch" heissen.
Im geschlossenen Innenraum
113
vielleicht noch damit zu Hülfe kommen, dass wir
uns den Innenraum selbst zunächst möglichst ab-
strakt, etwa als Raumgebilde von Glaswänden, d. h.
als gläsernes Parallelepipedon, oder auch mit einer
vollends offenen Seite nach vorn , wie in kleinerm
Mafsstab eine krystallene Puppenstube dächten; denn
an einem Bauwerk kommt für den Menschen im
Innenraum nicht sowol die äusserliche Begränzung
in Betracht als vielmehr die Beschaffenheit der
innern Gränzen, d. h. der Wandflächen, der Decke,
des Fussbodens in ihrer Undurchsichtigkeit, Färbung
und stofflichen Wirkung sonst, und grade diese Be-
gränzung nach aussen für das Auge gilt es aufzu-
heben für das Verfahren, in dem wir dem Führer
folgen.
,,Wenn nun die Begränzung oder Form des
Gegenstandes auf sein Volumen hinweist, so ist es
möglich, durch die Zusammenstellung von Gegen-
ständen die Vorstellung eines durch sie begränzten
Luftvolumens zu erwecken. Denn im Grunde ist
die Begränzung des Gegenstandes auch eine Be-
gränzung des ihn umgebenden Luftkörpers. Es
frägt sich alsdann, wie die Gegenstände angeordnet
werden, damit die Bewegungsvorstellung,1)
welche durch sie angeregt wird, nicht ver-
I) Bewegungsvorstellungen beruhen aber, nach Hildebrand
S. 10, auf dem abtastenden Sehen vom nahen Standpunkt und bil-
den das Material des Form-Sehens und Form- Vorstellens ; sie sind
keine Gesichtsvorstellungen. Und die Intention, Bewegungsvorstel-
lungen anzuregen , die hier vorausgesetzt wird , entspricht demnach
sicher dem Interesse des plastischen Formgefühls.
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. 8
114
Isolierte Rundplastik
einzelt bleibt, sondern fortgeleitet wird und, sich
mit einer andern verbindend, weiter und weiter nach
allen Dimensionen hin den allgemeinen (= gemein-
samen) Raum durchwandert , so dass wir an der
Hand solcher Bewegungsvorstellungen das ganze
Volumen oder den allgemeinen Raum durchleben
und als Ganzes und Lückenloses auffassen. Es
handelt sich also darum , mit den Gegenständen
einen Gesamtraum aufzubauen, sozusagen ein Be-
wegungsgerüst zu schaffen, welches, obschon durch-
brochen, uns dennoch ein kontinuierliches Ge-
samtvolumen deutlich macht. Dadurch wird der
Einzelgegenstand zu einem Bauteile und erhält
seine Stelle im Hohlraum aus dem Gesichtspunkte
der allgemeinen Raumentwicklung und seiner Fähig-
keit, die Raumvorstellung zu erwecken und weiter
zu leiten."
„Soweit haben wir uns diesen Gerüstbau pla-
stisch klar gemacht," schliesst Hildebrand diese wich-
tige Darlegung. Richtiger dürfte er allerdings vor-
erst den Ausdruck ,, tektonisch " statt plastisch
brauchen, da er von Bauteilen redet, bei denen es
zunächst noch unentschieden bleibt , wie weit sie
sich den Formen der organischen Natur nähern oder
wirklich plastische Bildwerke im engern Sinne dar-
stellen. Das Wichtigste an dem geschilderten Ver-
fahren ist aber das beiden Kategorieen Gemeinsame,
die Körperlichkeit dieser Gegenstände, und das Aus-
gehen der ganzen künstlerischen Ökonomie von
diesen plastisch-tektonischen Körpern, durch deren
Anordnungen im Verhältnis zu einander die Vorstel-
Ein Innenraum als Gestaltungsraum
115
lung des mit ihnen besetzten Gestaltungsraumes ge-
wonnen wird. Es ist dies der umgekehrte Weg,
den die Architektur als Raumschöpferin einschlägt,
und wird zum Unterschied von diesem Hervorgehen
des ganzen Processes aus der Raumvorstellung sel-
ber, am besten als tektonisches Verfahren, tekto-
nischer Aufbau bezeichnet. Es ist der zweite , der
Plastik zugewandte Teil der Architektur , den man
mit der Definition der Baukunst als ,,die Kunst kör-
perlicher Massen" fälschlich auf das Ganze ausge-
dehnt hat, dessen schöpferischer Kern und psycho-
logische Begründung damit nicht getroffen werden.
Gilt es aber die Eigenart dieser künstlerischen Auf-
fassung mit einem Worte zu bezeichnen, die von
der Körperlichkeit der Dinge ausgehend, nach Ana-
logie des eigenen Körpergefühls allein die räumliche
Ausdehnung und deren Kontinuität erfasst , so ist
Hildebrands Ausdruck plastisch" durchaus ent-
sprechend, besonders wenn es sich um die Formen-
welt unsres organischen Leibes, um Gestalten nach
dem Ebenbild des Menschen handelt. Es ist die
specifische Auffassung des plastisch fühlenden und
denkenden Menschen, die Eigenart der Körperbild-
nerin unter den Künsten , und das Verfahren der
„Artes plasticae" im engern Sinn damit charakteri-
siert. Das Raumganze, von dem hier die Rede ist,
wird damit zum Gestaltungsraum des Bildners. Fra-
gen wir uns aber, worauf dies eigentlich beruht, so
lautet die Antwort : es geschah, indem wir den ent-
fernten Standpunkt des ruhigen Schauens, den wir
einnahmen, kraft unsrer Vorstellung mit dem nähe-
116
Isolierte Rundplastik
ren Standpunkt des abtastenden Sehens vertausch-
ten, durch das allein wir Bewegungsvorstellungen
gewinnen und das Material für unser Formsehen,
für unser plastisches Formgefühl erlangen. Es
müsste also auch mit dieser Grundlage zunächst
auszukommen sein, wenn es gilt, das eigenste Ver-
fahren der Plastik in Übereinstimmung mit sich
selbst zu finden.
Grade hiervon jedoch wendet Hildebrand sich
ab. ,,Da wir ihn (diesen Gerüstbau aus Körpern)
aber als Erscheinung fürs Auge erfassen sol-
len, so handelt es sich dabei um eine Anordnung
der Gegenstände, insofern diese als Erscheinung
die Bewegungsvorstellung fortführen. So tritt das,
was beim Einzelkörper als Modellierung fürs Auge
geschieht, auch wieder durch die Einzelkörper fürs
Ganze in Kraft. Dadurch wird das Ganze ein
ebenso zusammenhängender modellierter Raumkör-
per, wie der Einzelkörper an sich", (35) — d. h.
lediglich durch den Augenschein.
Soweit vermöchten wir zu folgen, wenn es nun
erlaubt würde , auf den geschlossenen Innenraum
anzuwenden, was oben über die Lösung des gemein-
samen Problems auf dem Platz unter freiem Himmel
gesagt worden ist. In der Tiefenbewegung des
Blickes vollzieht sich auch hier der rhythmische
Ausgleich zwischen dem Widerstand der Körper
und dem Vorwärtsdringen des schauenden Subjekts
mit seiner Raumvorstellung.
Indess dem Künstler, der hier redet, ist mehr an
der Analogie mit dem malerischen Problem gelegen :
Gestaltungsraum und Bildraum
117
„Bei der Darstellung handelt es sich ja grade dar-
um, durch die hervorgebrachte Erscheinung und nur
durch sie diese Vorstellung des Raumes zu er-
wecken. Bei dem engen Rahmen des Bildes,
den spärlichen und stabilen Mitteln, die nur durchs
Auge und nur in beschränkter Weise wirken kön-
nen, muss der Künstler" — wir denken gewiss in
erster Linie beim eingerahmten Bilde nur an den
Maler ! — ,,sich klar sein, was es für Konstellationen
in der Erscheinung sind, die am unfehlbarsten, am
zwingendsten im Beschauer dies Raumgefühl, diese
elementarste Wirkung der Natur erzeugen."
Das ist freilich wieder ein Appell an das Gefühl
des Künstlers wie des Beschauers, also bis in die
Regionen des Unbewussten hinab ; damit ist aber
auch die Aufgabe der Malerei, und zwar im Sinne
des Realismus, klar ausgesprochen, und es handelt
sich nicht mehr um den Gestaltungsraum des
Bildhauers , geschweige denn um das Volumen der
isolierten Rundfigur, sondern um den Bild räum
des Malers, oder was mit diesem zu wetteifern ver-
sucht, der Reliefkunst.
^KÜ2» ^5P2» ^5P1> ^8M> ^jJÜ2>
■^savs» «*3s» «säs» "»«3s» *s«s» «*5s»
IV.
DIE PLASTISCHE GRUPPE
^ra wischen dem Standpunkt des Bildners und
dem des Malers , wie wir sie heute klar
auseinander zu halten und begrifflich scharf
zu definieren vermögen, indem wir bei jedem das
entwickelte Stadium seiner Kunst ins Auge fassen,
wo diese ihrer eigenen Natur bewusst geworden und
ihre besondre Aufgabe kennt wie ihre besondern
Mittel handhabt, liegt selbstverständlich ein ganz
allmählicher Übergang. Das ist beim naiven Schaffen
zumal , das wir stets in erster Linie berücksichtigen
müssen, nicht anders als notwendig. Vielleicht hat
sich dieser Übergang sogar, wie geschichtliche Tat-
sachen nahe legen, von beiden Seiten her vollzogen.
Und es kann sowol für den Ästhetiker, der ehrlich
zu verstehen sucht, wie für den Kunstrichter, der zu
urteilen drängt, nur heilsam sein, beide Möglich-
keiten des Weges an der Hand von Beispielen ein-
mal genauer zu verfolgen.
Wesen der Plastik
119
Wir halten uns vorerst an den plastischen
Künstler, der von der Körpervorstellung ausgeht.
Es fragt sich, wie kann seine Auffassung der mensch-
lichen Gestalt allein ganz natürlich, fast unmerklich
in die malerische Anschauungsweise übergleiten?
Dem Schöpfer des isolierten Standbildes , wie
wir es soeben betrachtet haben , liegt nur die Dar-
stellung der menschlichen Körperform am Herzen.
Die organische Einheit dieses selbständigen, der
freien Bewegung teilhaftigen Geschöpfes wiederzu-
geben, und den Wert dieses körperlichen Daseins
in seiner Unabhängigkeit festzuhalten , ist sein Ver-
langen. Deshalb streift er Alles ab , was Notdurft
und Nahrung unseres Leibes an Symptomen weiterer
Zusammenhänge mit der umgebenden Natur und an
Kennzeichen des inneren Stoffwechsels , der Ver-
änderung und Vergänglichkeit mit sich bringen. Er
bevorzugt das dauerhafte Material, um desto sicherer
die volle Schönheit des Gewächses , sei es in dem
Reiz der knospenden Jugend , sei es in der Blüte
der eben erreichten Vollendung, sei es in der Voll-
kraft des Lebenskampfes, heraus zu retten aus dem
unaufhaltsamen Wandel aller Kreatur und aus dem
forteilenden Strom des Geschehens umher. Deshalb
versteht es sich für das gesunde und einfache Ge-
fühl ganz von selbst, dass dies Einzelwesen in glück-
lichster Befriedigung dem Künstler eine Welt für
sich allein bedeutet , die nichts , garnichts mit einer
weitern Umgebung zu schaffen hat, sondern völlig
auf sich selber beruht. Das Auge dieses plastischen
Schöpfers kennt also keinen Raum , als den der
120
Die plastische Gruppe
Träger des leiblichen Daseins , die Menschengestalt
selber entfaltet. Eine schmale Basis bedeutet den
allgemeinen Grund und Boden, ihr höheres Niveau
über dem unsrigen nur die Aufhebung der ,,dira
necessitas", der wir alle unterliegen. So wird sein
reines Abbild unabhängigen Selbstgefühls , im wol-
geförmten Körper von unsrer Art, zum erquickenden
Vorbild unserer gleichen Sehnsucht, unseres ver-
wandten, aber bedingten Strebens , wird zum Ideal
der Befangenen , Ringenden , Gehemmten im Men-
schendasein selber, ja zum Gotte derer, die den
Wert gekostet haben und wieder entweichen sehen.
Sowie dieser Gott, zu dem die Gläubigen im
Tempel wallen, ihren Gebeten Gewährung winkt,
sowie nur eine leise Neigung verrät, dass die olym-
pische Selbstgenügsamkeit einer menschlichen Rüh-
rung zugänglich geworden, so tritt — wie beim
Lebenden im Blick des Auges — schon die Be-
ziehung zu Tage , und im Marmorbilde prägt ein
dauerndes Verhältnis zu andern Wesen, ja zu den
Ansprüchen zeitlichen Geschehens sich aus. Die
Statue erscheint sofort an eine bestimmte Situation
gebunden , die unsre Phantasie hinzuergänzen muss
um ihr wertvolles Dasein nachzuerleben, und solche
Association ist schon ein Übergang zu dem weiteren
Postulat , auch die andre Hälfte des Verhältnisses
mit dargestellt zu sehen.
Nicht allein die Haltung, die ein Ziel voraus-
setzt , die Gebärde , die aus der isolierten Sphäre
des Einzelwesens hinausgreift in die Gemeinschaft
andrer , auch die Tätigkeiten , die sich auf einen
Übergang zum Malerischen
121
andern Gegenstand richten, wie das Bearbeiten des
Bodens mit dem Spaten, das Pflücken einer Frucht
vom Baum, das Haschen einer Eidechse am Fels,
bringen die Gestalt in solche Verbindung, die ihre
Unabhängigkeit beeinträchtigen kann. Schon der
Baumstamm oder Felsblock, der neben der Figur
aus der Basis aufragt, um vielleicht nur Halt zu ge-
währen, erweitert durch seine Gegenwart den sonst
un bezeichneten Raum der Statue und lockt die
Anschauung über diese selbst hinaus in die um-
gebende Welt, die sich die Vorstellung bereitwillig
„ausmalt".
Selbst im Gewände giebt es einen durch-
greifenden Unterschied. Die rein plastisch gedachte
Bekleidung unterstützt die Unabhängigkeit der Figur;
sie wird so lange wie möglich der Einheit des
organischen Geschöpfes sich unterordnen, dieser für
sich allein zu zeugen gestatten, indem sie vom
Boden zurückweicht , wo es gilt auf eignen Füssen
zu stehen. Wo das Gewand , auch das leichteste
Manteltuch nachschleppt über die Basis hin, da lässt
es nicht nur eine voraufgegangene Bewegung nach-
wirken, also ein zeitliches Moment hineinspielen, das
wir hinzudichten, sondern auch den Zusammenhang
mit dem Erdboden hervortreten, an dem so ein Teil
der Erscheinung haften bleibt. Ein nachflatternder
Zipfel oben, oder gar eine schwebende Blähung des
Schleiers stellen, als Wirkungen der Luftbewegung
oder des entgegenkommenden Windes, die Gestalt
vollends in die Bedingungen der umgebenden Welt
hinein, die leicht ihre weiteren Konsequenzen, erst
122
Die plastische Gruppe
in der Phantasie, dann in der Darstellung selber,
nach sich zieht. Das heisst : nur das zusammen-
gehaltene, dem Gesetz des selber sich bewegenden
Leibes allein folgende und seiner Form sich an-
schliessende Gewand ist rein plastisch , das weiter
wallende, sich selbst oder andern Einflüssen als dem
des Trägers anheimgegeben , wird unfehlbar erst
zum unorganischen Stoff und dann zur malerischen
Draperie.
So liegt in der Statue als Ebenbild des Menschen
selber nach allen Seiten hin der Antrieb , in Be-
ziehungen zur umgebenden Natur oder zur mensch-
lichen Gesellschaft überzutreten, deren Zuwachs die
Mittel der Plastik bald zu Nebenzwecken in An-
spruch nimmt, deren Erfüllung wieder den Sinn
ihrer ursprünglichen Aufgabe gefährdet. Am zahl-
reichsten sind diese Verlockungen auf dem Gebiet
der Motive, wo die Schwesterkunst Mimik mit ihrem
Drang nach ausdrucksvoller Bewegung und nach
dem ganzen Beziehungsreichtum des processierenden
Lebens sich so nah mit der Plastik berührt und die
beharrliche vollends ausgestaltende Körperbildnerin
zum Wettstreit herausfordert. Da stellt sich denn
das Übergreifen aus einem Moment in einen vorauf-
gehenden oder nachfolgenden ein, oder die „Prägnanz
des dargestellten Augenblicks", die zeitlicher Vor-
stellungen zur Mitwirkung bedarf und die Wieder-
gabe des Wandels selbst in das Problem des Bildners
aufnimmt. Davon ist oft genug gehandelt worden.
Die Gewohnheit plastischen Denkens und Schaf-
fens, von der Körpervorstellung auszugehen und in
Entstehung der Gruppe 123
vollrunder Körperform allein sich auszudrücken, mag
sich lange noch bei solchen Anwandlungen be-
haupten. Aber grade sie drängt über die poetische
Ergänzung durch die Phantasie hinaus zur leib-
haftigen Darstellung auch des fehlenden Faktors der
Handlung oder zur Vervollständigung der Situation
durch einen zweiten oder gar einen dritten Körper.
So entsteht die Gruppe, die notwendig einen
weitern Schritt über den ureignen Boden der
plastischen Schöpfung hinaus bedeutet, so sehr sie
dem Bildner als Steigerung seines eigenen Erfolgs
erscheinen mag. In wessen Bereich der Übergriff,
der dazu helfen muss, vollzogen werde, ist eine
andre Frage.
Wir sprechen ja von Gruppe im ästhetischen
Sinne nicht allein bei der Plastik, sondern ebenso
in der Architektur und in der Malerei. Die land-
läufige Definition freilich geht vom Standpunkt der
Poesie oder der Mimik aus , wie so manche Be-
stimmung sich von dort auf die Ästhetik der bilden-
den Künste übertragen hat, die sich ihrerseits nur lang-
sam auf sich selber besinnt. Die gewohnte Definition
versteht unter Gruppe eine Mehrzahl von Einzel-
wesen , die zu einander in Beziehung stehen. Sie
geht also von der Tätigkeit dieser Lebewesen aus,
die auf einander gerichtet ist, d. h. von den Kate-
gorieen zeitlicher Anschauungsform, die vom mimi-
schen Ausdruck flüchtigster Relationen bis zum
poetischen Kausalnexus einer Fabel aufsteigen.
Dagegen erhebt mit Recht auch Hildebrand
Einspruch, wenn er ('S. 98) erklärt: ,,Eine Gruppe
124
Die plastische Gruppe
im künstlerischen Sinne beruht nicht auf einem Zu-
sammenhang, der durch den Vorgang entsteht,
sondern muss ein Erscheinungszusammen-
hang sein, welcher sich als ideelle Raumeinheit
gegenüber dem realen Luftraum behauptet." Damit
ist sicher das Hauptinteressse der bildenden Kunst
gewahrt , dass es sich auf ihrem Gebiet stets zuerst
um die räumliche Anschauungsform handelt. Nach
dieser müssen sich ihre Definitionen bestimmen,
nicht nach dem sekundären Moment transitorischen
Scheines.
Unter seinem Ausdruck „ideelle Raumeinheit"
versteht aber Hildebrand selbst nicht die allein in
der Vorstellung vorhandene Synthesis , die wir für
das Gesamtgebiet der bildenden Künste als sehr
erwünschte Formel annehmen könnten, sondern wie
wir wissen, ,,das einheitliche Flächenbild vom ent-
fernteren Standpunkt, wie es das ruhig schauende
Auge ohne Bewegung aufnimmt." Jedenfalls wider-
strebt ihm die kubische Auffassung des Architekten,
der eine ,, ideelle Raumeinheit" aus dreidimensio-
nalen Körpern aufbaut, bei der den Anforderungen
unseres Führers an den „Erscheinungszusammen-
hang" noch keine Rechnung getragen wäre. Zwischen
der Auffassung des Malers und des Architekten in
der Mitte läge jedoch die des Bildhauers zunächst,
nach der Auslegung seines Schaffens als Körper-
bildner, die wir bisher versucht haben. Und wenn
jeder dieser bildenden Künste ein andersartiges Ge-
staltungsprincip innewohnt, so muss das Wesen der
Definition
125
Gruppe" auch in jeder von ihnen eine Modifikation
erfahren.
Wir verstehen unter Gruppe einen Komplex
von Körpern, wenn es erlaubt ist, dies Fremdwort
zunächst in voller Dehnbarkeit des Begriffes zu ge-
brauchen. Je nach dem Standpunkt aber, von dem
wir diesen Komplex auffassen, ändert sich die Be-
deutung des Wortes.
Am freiesten wechselt dieser Standpunkt in der
Architektur, da bei ihren Schöpfungen die Beiträge
der Ortsbewegung und des Getasts ebenso mit-
sprechen wie die des Gesichts , die ihrerseits ent-
weder mit jenen verbunden sind oder darüber hinaus-
gehen. So können die Baukörper, die eine ,, archi-
tektonische Gruppe" bilden, ziemlich weit von-
einander abstehen, wie etwa die Umgebung des
Platzes, von dem wir im vorigen Kapitel gesprochen,
oder die Türme, die Bastionen einer Festung, wenn
nur die Vorstellung des menschlichen Subjekts sie
vom Mittelpunkt aus oder aus der Vogelperspektive
als zusammengehörige Teile eines Ganzen erfasst.
Es ist eine ,, ideelle Raumeinheit", aber eben nur mi-
die Vorstellung, in der sich die Synthesis vollzieht,
nicht für das Auge allein; denn die Vogelperspek-
tive bleibt ja für gewöhnlich ausgeschlossen und erst
der Aufstieg auf eine hohe Warte, von der die Um-
schau möglich ist, vermag sie zu ersetzen. Viel-
leicht wäre es richtiger eine solche Konstellation von
Baukörpern, deren Gesetz nicht von einem der ge-
wöhnlichen Standpunkte des Beschauers aus deut-
lich erschaut werden kann, vielmehr als ,, Syst e m "
126
Die plastische Gruppe
zu bezeichnen. Sowie sie jedoch soweit zusammen-
rückt, dass sie dem Beschauer auf der Erdoberfläche
schon übersichtlich erscheint, stellt der Ausdruck
Gruppe sich unbedenklich ein, wie bei einer Veste,
einem Fort, einem Schloss von gleicher Anlage.
Die Gesetze architektonischer Gestaltung mögen im
ersten Falle ebenso walten , wie im letztern , d. h.
Proportionalität in der Höhen- , Symmetrie in der
Breiten- und Rhythmus in der Tiefen-Dimension.
Betrachten wir darnach etwa die Chorpartie
einer spätromanischen Kirche von reichster Ent-
wicklung, z. B. in den Rheinlanden, so haben wir
die festere Zusammenfassung im Sinne des Kom-
plexes noch mit der systematischen Aufstellung im
Lufträume zusammen vor uns. Legen wir durch die
Drei-Konchenanlage mit ihren Turmtrabanten am
Chorhaupt, ihrem Vierungsturm dazwischen, eine
Horizontalebene in der Höhe, wo jeder dieser Bau-
teile als selbständiger Körper heraustritt , so haben
wir ein gesetzmäfsig gegliedertes System im obigen
Sinne, eine Gruppe, aber ohne körperlichen Zusam-
menhang, — jedoch für jede natürlich sich bietende
Ansicht einen ,, Erscheinungszusammenhang" für das
Auge. *) Erst wenn wir den untern Teil dieser
Chorpartie mit überschauen, wo die genannten Einzel-
glieder eng mit einander verbunden sind , kommt
auch der körperliche Zusammenhang hinzu und be-
rechtigt uns von einer „tektonischen Gruppe"
im strengeren Sinne zu reden. Ja, wenn wir die
i) Man vergleiche hiermit z. B. das Lutherdenkmal in Worms.
Modalitäten des Zusammenhangs
127
Entwicklung der selbständigen Bauteile nach oben
aus dem gemeinsamen Baukörper unten nach Ana-
logie des organischen Wachstums auffassen, als seien
sie wie aus einem Stamm oder Grundstock er-
wachsen", sosteilt auch die Benennung „plastische
Gruppe" sich ein, obwol die Analogie mit dem
organischen Gebilde nicht genauer zutrifft.
Nehmen wir, wie es bei weiterem Abstand von
dieser Chorpartie sich darbietet, jenseits der Vierungs-
kuppel noch das Paar von hohen Westtürmen hinzu,
so kommt in den Charakter dieser Gruppe von Bau-
körpern wieder ein neues Moment, oder wird wenig-
stens fühlbarer als bisher : die perspektivische Ver-
kürzung der weiter zurückliegenden Teile. Und
diese Verschiebung des Augenscheins gegenüber der
architektonischen Vorstellung macht sich bemerklich
eben darin, dass wir uns beim Gesichtseindruck
allein nicht mehr sofort klare Rechenschaft geben
können über den systematischen und körperlichen
Zusammenhang der letzten Glieder, die nur in Ver-
kürzung noch zum Vorschein kommen. Die Gesetze
der Proportionalität, der Symmetrie, ganz besonders
aber die des Rhythmus , d. h. der räumlichkörper-
lichen Entfaltung in der dritten Dimension', liegen
nicht so offen vor uns , wie bei den Turmspitzen
um die Vierung am Chore. So können wir bei
diesem letzten Turmpaar im Verhältnis zum Ganzen
nur von einem „Erscheinungszusammenhang" reden,
d. h. die Gruppe bekommt einen „malerischen"
Sinn, weil die Einheit in der Bildvorstellung gesucht
werden muss, nachdem sowol die Körpervorstellung
128
Die plastische Gruppe
als die Raumvorstellung , die wir zur Rechenschaft
aufgefordert, versagt haben. Wir vermögen uns aus
dem Bilde allein , ohne weitere Hülfsmittel , keine
klare Auskunft mehr über die Gesamtausdehnung
des Kirchenkörpers zu verschaffen ; besonders die
Grösse des Langhauses zwischen Vierung und West-
türmen fehlt.
Verlassen wir deshalb unsern bisherigen Stand-
punkt in der Mittelaxe vor der Chorpartie, und
suchen das Bauwerk von seiner Langseite zu über-
schauen, so giebt der Augenschein abermals keine
vollständige Vorstellung, so lange wir nach dem
architektonischen Zusammenhang und der
gesetzmäfsigen Anlage des Ganzen fragen. Die auf-
steigenden Spitzen oder selbständig heraustretenden
Baukörper sind unter sich von verschiedener Höhe,
und das westliche Paar ist von dem östlichen Kom-
plex soweit entfernt, dass ihre steilere Vertikale
erstrecht den Anforderungen der Symmetrie und
Proportionalität zu widersprechen scheint, also wie
ein irrationaler Faktor beurteilt wird , — weil wil-
den Sinn für das Ganze nicht absehen können. Das
Breitbild der romanischen Basilika bietet also eine
Gruppe dar, die ebenfalls nur als „malerisch"
genossen werden kann , weil sie weder architek-
tonisch noch plastisch befriedigt. Erst wenn wir sie
als ,, ideelle Raumeinheit" mit Hülfe der Vorstellung,
d. h. den Anblick nach der andern Seite zum
System ergänzen, eröffnet sich der Weg zum ästhe-
tischen Wolgefallen auch unter diesen Gesichts-
punkten der Raumbildung und der Körperbildung.
Malerische und architektonische Auffassung
129
Und verzichten wir darauf, um dem malerischen
Genuss allein zu folgen, so bedarf der lineare Ge-
samtumriss von der Langseite und die Modellierung
der Glieder dieses Baukörpers wiederum einer Er-
gänzung, die erst die Bildeinheit herstellt : wir fühlen
uns instinktiv gedrängt, den umgebenden Raum, den
Erdboden darunter, wie die Luftregion darüber, in
grösserem Umfang mit aufzufassen , begrüssen wol
andere Körper, wie Häuser und Bäume in der Nach-
barschaft, ja die landschaftliche Ferne dahinter als
Woltat, weil sie dazu helfen, den „Erscheinungs-
zusammenhang" zwischen dem Kirchenkörper
und seiner gegebenen Örtlichkeit zu vermitteln.
Der architektonischen Schöpfung als Ganzem
werden wir aber so nicht besser gerecht , und sie
bleibt doch die Hauptsache dieses Kunstwerks. In
Wirklichkeit muss das menschliche Subjekt sich, als
Körper auf eigenen Füssen, schon in das Innere des
Raumgebildes begeben, um hier in mannichfaltigem
Wechsel des Standpunktes die Idee des Ganzen zu er-
fassen, die wieder als Vorstellung auf einer Synthesis
von Wahrnehmungen beruht, und zwar weder Gesichts-
vorstellung noch Bewegungsvorstellung allein genannt
werden kann. Hier im Innern liegt der entscheidende
und zugleich der ursprünglichste Standpunkt, eben
im Mittelpunkt des dreidimensionalen Komplexes
selber. Und nehmen wir ihn ein , indem wir uns
selber mit der Dominante dieses Koordinatensystems
identificieren , so entfaltet sich auch ringsum die
Raumgruppe, d. h. der Komplex von Raum-
körpern, - Hohlräumen, die wir als Krystalle
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. q
130
Die plastische Gruppe
fassen können , die wir vom grössten in der Mitte,
in dem wir uns befinden, durchschauen. Hier aber
wird sich der Ausdruck ,, plastische Gruppe" gewiss
nicht einstellen, wie bei der Aussenansicht der näm-
lichen Chorpartie, und zwar deshalb nicht, weil die
Raumvorstellung mit ihrer Weite die Körpervorstel-
lung überwiegt, weil nicht die äussere, sondern die
innere Form uns erscheint, und weil unser Körper-
gefühl der kompakten Rundung, der gewachsenen
Gliederung, der näheren Analogie mit den Erfah-
rungen der Tastregion entbehrt. Viel eher wird der
Augenschein mit der Abstufung des Helldunkels in
diesen Räumen dazu veranlassen, auch den Genuss
malerischer Gruppierung und perspektivischer
Durchblicke zu suchen. Das Unsystematische , also
auch das Disproportionierte , das Unsymmetrische
sind grade das Malerische; es fragt sich, wie weit
auch schlechthin das Arhythmische?
Im Werk des Malers verstehen wir unter Gruppe
immer einen Komplex von Figuren oder andern
Gegenständen, die für den Augenschein eine Einheit
bilden. Aber diese Einheit ist wieder keine abso-
lute, sondern nur eine relative ; denn die Gruppe ist
nur ein Teil des Ganzen , das sie und alle andern
desselben Bildes umfasst. Auch sie enthält also
einen sozusagen irrationalen Faktor, der nicht völlig
in ihrer Rechnung aufgeht, sondern darüber hinaus-
weist und so weiterleitet zur Nachbarin oder zum
korrespondierenden Gliede gegenüber. Aus dem-
selben Grunde können wir von einer solchen Gruppe
im Gemälde nicht sagen, sie sei ein Komplex von
Gruppe in der Malerei
131
Figuren, die unter sich in Beziehung stehen oder
deren Tätigkeit auf einander gerichtet sein müsse.
Sie können ebenso gemeinsam nach aussen auf das
gleiche Ziel gerichtet sein. Ja, es braucht überhaupt
kein geistiger Zusammenhang, keine mimische Rela-
tion, keine poetische Kausalität zwischen ihnen zu
walten, ebensowenig wie dies bei einer „malerischen
Baumgruppe" der Fall ist. Die Bildeinheit ist für
das Gemälde die höchste Instanz und auf den ,, Er-
scheinungszusammenhang" eines Teiles dieser Ein-
heit bezieht sich der Ausdruck Gruppe allein, so-
lange wir den Augenschein ausschliesslich für sich
selber betrachten.
Die Plastik dagegen, — das kann nach diesen
Erörterungen nicht mehr zweifelhaft sein — erkennt,
solange sie auf ihrem eignen Grund und Boden
waltet, als höchste Instanz die Einheit des mensch-
lichen Organismus, soweit sich diese in der äussern
Körperform ausprägt , der sichtbaren und tastbaren
Gestalt, bis an die Gränze der Ortsbewegung aussen
und die Gränze des Stoffwechsels innen. Für ihren
Anschauungskreis ist also die Definition Hildebrands,
die Gruppe sei ein „Erscheinungszusammenhang",
zu weit. Sie müsste als Lösung dieses Problems
zunächst die Herstellung eines organischen Zusam-
menhangs fordern. Eine „organische Einheit" zwi-
schen zwei oder mehreren Geschöpfen giebt es je-
doch nur bei der Mutter mit dem ungeborenen Kind
in ihrem Schofs. Wollten wir auf die Tierwelt
übergreifen , kämen wir bis zum Känguruh , das
seine lebendigen Jungen wieder in der Tasche mit
9*
132
Die plastische Gruppe
sich herumträgt. Dies musste aber ausgesprochen
werden, da die Mythe von der Geburt des Bacchus
uns gar in die Pflanzenwelt führt, und als plastischer
Vorwurf für solche Einheit gedient hat. Es galt zu
zeigen, dass unter ungesuchten Verhältnissen die
höchste Forderung der specifisch plastischen Kunst
von der Gruppe schon nicht mehr erfüllt werden
kann. Auf die Darstellung der organischen Einheit
muss verzichtet werden, wenn die Skulptur den Fort-
schritt zu einer Mehrheit von Einzelwesen erreichen
will. Sie kann also nur andre Auffassungs weisen
substituieren, die von der ihrigen mehr oder minder
abweichen. Eben deshalb bezeichnet die Gruppe
für die Plastik bereits einen Abweg nach der einen
oder nach der andern Seite.
Sucht sie an dem Umkreis der Bedingungen
organischer Geschöpfe festzuhalten, so vermag sie als
ihre Aufgabe nur die Herstellung eines möglichst
nahen Zusammenhangs zwischen den organischen
Körpern zu erstreben, der durch die natürliche Be-
weglichkeit des menschlichen Leibes und seiner
Gliedmafsen entstehen und aufrecht erhalten werden
kann. Uniäugbar geraten also die organischen Ge-
schöpfe, die so miteinander verbunden werden, ent-
weder einzeln oder insgesamt in Abhängigkeit von
einander. Das höchste Anrecht des Individuums
muss preisgegeben oder geschmälert werden, —
wieder eine Einbusse des echt plastischen Empfin-
dens , ein Opfer des Selbstgefühls , das die Seele
ihres Schaffens ausmacht ! Nur grosse Vorzüge
andrer Art vermögen sie aufzuwiegen. Die innigste
Die Einheit der Gruppe
133
Verschlingung aller Körper, wo alle als Teile eines
Ganzen von einander abhängig und in ihrer Haltung
gegenseitig bedingt erscheinen, wäre die letzte Kon-
sequenz ; aber sie enthält auch die grösste Gefahr,
dass die Körpervorstellung, die klare Rechenschaft
über die ganze Gestalt des Einzelwesens, die der
Plastiker verfolgen muss , bei diesem körperlichen
Zusammenhang nicht mehr zu ihrem Rechte komme.
Die Ringergruppe in Florenz wäre darnach eine der
vollkommensten Lösungen dieses plastischen Pro-
blems. Die Verschlingung der Körper hat auch
Lionardo von der Gruppenbildung gefordert. Aber
es ist bezeichnend, dass die zahlreichen Darstellun-
gen der Madonna, der heiligen Familie oder S. Anna
selbdritt , die wir ihm selbst oder seinem Einfluss
auf die italienische Kunst am Anfang der Hoch-
renaissance verdanken, doch fast ausnahmslos ge-
malt sind , nur selten einmal in Rundplastik auf-
treten, - - Beweis genug für die Schwierigkeit. Im
Gemälde allerdings wirkt solche Gruppe in eminent
plastischem Sinne. *)
Das Princip der möglichsten Annäherung an die
organische Einheit verbindet sich in diesen Leistun-
gen der Hochrenaissance, zu denen ja auch Rafaels
i) Ebendeshalb ist es aber ein Irrtum , wenn man sich Lio-
nardos Karton zur Reiterschlacht , also ein Breitbild vom Umfang
der „badenden Soldaten" von Michelangelo, allein mit dem Knäuel
von Reitern und Fussgängern im Kampf um eine Fahne ausgefüllt
denkt. Was die Überlieferung bewahrt hat, ist nur die Mittelgruppe,
der es an seitlichen Vermittlungen sicher nicht gebrach. Vgl. Heft I,
S. 57, wo allerdings „Austrag" statt „Ausdruck" gelesen werden muss.
134
Die plastische Gruppe
und Fra Bartolommeos Madonnen gehören, mit
einem zweiten : der Einordnung der Gruppe in die
Form des regelmässigen stereometrischen Körpers
oder mindestens der Umschreibung durch eine geo-
metrische Figur. Damit rühren wir an die zweite
Möglichkeit der Auffassung , die sich auch bei pla-
stischer Gruppenbildung darbietet. Es ist der Auf-
bau nach Art tek tonischer Körper. Die
Plastik sucht ihr Wesen als Körperbildnerin auch
bei der Behandlung einer Mehrzahl wenigstens da-
durch zu befriedigen, dass sie diese Einzelkörper
unter das gemeinsame Gesetz eines Koordinaten-
systems bringt und einen sie alle zusammenfassenden
dreidimensionalen Komplex aus ihnen herstellt. Es
ist also die Einheit der Körperbildung, die sie zu
erreichen sucht, und zwar nach Analogie der Ge-
setze , die in der unorganischen Natur besonders
klar hervortreten. Aber, da sie Ebenbilder orga-
nischer Geschöpfe, Menschengestalten, zusammen-
ordnet, die diese stereometrische Form eines regel-
mäfsigen Körpers nicht massiv ganz ausfüllen, son-
dern nur innerlich gliedern und durchsetzen, so
bleibt die Körpereinheit, die erreicht wird, doch
eine ideelle, nur in der Vorstellung hervorgebrachte.
Betrachten wir das Volumen, das die zur Gruppe
vereinigten Körper einnehmen, als den ästheti-
schen Raum dieser Gruppe, der zunächst
nichts anderes ist als ihr Gestaltungsraum, so könn-
ten wir auch hier Hildebrands Ausdruck, freilich
nicht seinen Sinn , verwertend von der ,, ideellen
Raumeinheit" sprechen.
Monumentale Körpereinheit
135
Der tektonische Charakter des Aufbaues
solcher Gruppen bewährt sich auch darin, dass ein
tektonischer Körper nicht selten als Äquivalent des
organischen Menschenleibes verwertet wird, wie z. B.
der Baumstumpf neben S i 1 e n mit dem Bacchus-
knaben auf den Armen (Louvre und sonst). Mit
diesem Abweg vom rein plastischen Wesen ver-
bindet sich aber ein grosser Vorzug in dieser tek-
tonischen Körperbildung : es ist die Verwertung der
Gestaltungsprincipe, der Proportionalität, der Sym-
metrie und des Rhythmus im Aufbau, die dem Gan-
zen wieder die bleibende Existenzberechtigung, den
Wert selbständiger Beharrung sichern, der den ge-
setzmäfsigen Gebilden der Tektonik eigen ist, wie
den regelmäfsigen Gebilden der Krystallisation.
Gelingt es diese Eigenschaften des tektonischen
Aufbaues auf die echt plastische , nur aus Ebenbil-
dern des Menschen bestehende Gruppe zu über-
tragen, so erreicht diese die höchste Vollendung des
monumentalen Stils. Nach allen drei Dimensionen
ist dies bei der berühmten Gruppe des Menelaos
mit der Leiche des Patroklos der Fall. Das
erhobene Haupt des behelmten Helden wirkt nicht
allein als Gipfel des pyramidalen Gesamtkörpers,
sondern auch als Dominante der symmetrischen Ab-
wägung der Massen zu beiden Seiten der Mittelaxe.
Das Eigentümliche ist aber die starke Entfaltung
der dritten Dimension, besonders durch die nach-
schleppenden Beine des nackten Leichnams, die
zwischen den ausschreitenden Beinen des Trägers
hindurch gehen. Die Tiefe wird jedoch ausschliess-
136
Die plastische Gruppe
lieh durch die plastischen Körper selbst erreicht,
wie es grade dieser Gegenstand gestattete.
Sowie dagegen diese Tiefe nicht dem plastisch
erfüllten Gestaltungsraum selber angehört, sondern
leer bleibt und nur als Schattentiefe für den Augen-
schein erzeugt wird, da geht die Gruppenbildung
selbst auch unfehlbar in die Rechnung des male-
rischen Bildraums über. Wir unterscheiden deshalb
von der rein plastischen, mit den Mitteln or-
ganischer Körperbildung auskommenden Gruppe,
wie auf der einen Seite Abweichungen nach dem
Gebiet der Architektur, die wir unter dem Namen
tektonische Gruppe zusammenfassen wollen, nun
auf der andern Seite Abweichungen nach dem Ge-
biet der Malerei, die wir als speeifisch malerische
Gruppe bezeichnen dürfen.
Das Wesentliche aller Abweichungen nach dieser
Seite liegt eben darin , dass der Bildhauer auf die
eigenste Auffassung der Plastik als Körperbildnerin
verzichtet und, statt der Gesetze organischer oder
wenigstens tektonischer Körper, die Gesetze des
Augenscheines zum leitenden Princip erhebt. Er-
geht von der Raumvorstellung als solcher aus und
erstrebt für sein Figurengebilde die Bildeinheit.
Das Ergebnis ist ein ,, Erscheinungszusammenhang",
also für das schauende Auge, wenn wir Hildebrands
Sinn aeeeptieren, und damit für einen festen Stand-
punkt in gewisser Entfernung. Wir mögen auch
von ihr sagen, sie „behaupte sich als ideelle Raum-
einheit gegenüber dem realen Luftraum", dürfen
dann aber nicht vergessen, dass dies nur unter ganz
Tektonische und malerische Gruppe
137
bestimmten tatsächlichen Bedingungen geschieht,
nämlich in fühlbarer Umrahmung. Die malerisch
gedachte Gruppe verträgt die Aufstellung im freien
Luftraum nicht , sondern will mit dem Hintergrund
und seinen Schatten in Beziehung treten und min-
destens zu beiden Seiten von der realen Räumlich-
keit, die nicht mehr zu ihrer Situation gehört, deut-
lich geschieden sein. Hinter der Distanzschicht, die
diese Rahmung einschliesst , beginnt ihr Bildraum.
Damit werden alle übrigen Ansichten bis auf die
eine Vorderansicht ausgeschlossen ; die Behandlung
dieser Vorderansicht selbst aber soll ganz den An-
forderungen der Bildanschauung entsprechen. Das
ist wenigstens das Streben des malerisch denkenden
Künstlers , der auf Bildeinheit ausgeht. Hier aber
steht ihm ja die wechselnde Beleuchtung des Tages
entgegen, die er hinnehmen muss, die er durch die
Aufstellung wol einzuschränken und zu dämpfen ver-
mag, niemals jedoch selber allein herstellt wie der
Maler auf seiner Fläche.
Das heisst, auch hier bleibt das Ganze nur ein
Kompromiss , bleibt hinter dem einheitlichen Ziel
zurück. Es sind freilich sogleich die letzten Kon-
sequenzen, die wir mit diesen Aufstellungen gezogen
haben , und es versteht sich von selbst , dass zahl-
reiche und allmähliche Übergänge bis dahin vor-
handen sind.
Das allbekannte Beispiel für den Ubergang zu
malerischer Auffassung der plastischen Gruppe ist der
Laokoon mit seinen Söhnen unter der Schlangen-
umstrickung, nur darf an dieser Stelle nicht un-
138
Die plastische Gruppe
betont bleiben , dass die malerische Auffassung hier
nicht allein in dem Erscheinungszusammenhang,
sondern auch in der dargestellten Handlung nach-
weisbar ist, und zwar in der Aufnahme zeitlicher
Momente , ja in der Erweckung des dringendsten
Anspruchs an den poetischen Kausalnexus , der
unsere Phantasie in die Sphäre tragischer Dichtung
versetzt. Noch ist allerdings der Zusammenhang
durch organische Körper hervorgebracht ; indess die
Windungen der Schlangenleiber haben für unser
Körpergefühl etwas so Fremdes , Unberechenbares,
dass sie unheimlich wie elementare Naturkräfte
hereinbrechen. Die drei menschlichen Wesen er-
liegen dieser furchtbaren Überrumpelung trotz aller
vcrzweifelten Gegenwehr, in der sich die Haupt-
person — die Dominante des symmetrischen Systems
— soeben zu erschöpfen droht. Der Zusammen-
hang aber, der so zur vollen Abhängigkeit von der
Umgebung geworden ist, und im letzten Aufbäumen
der eigenen Kraft den tragischen Widerspruch auf
den eigensten Darstellungsgegenstand der Plastik
überträgt, wird durch diese tierischen Leiber nicht
vollständig versinnlicht. Uber das Grässliche eines
blos zufälligen Unglücks hinaus verlangt unsere Vor-
stellung nach einer weitern Motivierung, um in der
tragischen Auffassung eine Lösung des ethischen
Konflikts zu suchen, der beim Anblick der brutalen
Gewalt als Siegerin über drei unschuldige Opfer sich
in jeder Menschenbrust bis zum Abscheu steigert.
Der poetische Kausalnexus allein, der hinter dem
Geschauten liegt, vermag die Wirkung als Kunst-
Laokoon
139
werk zu retten , also ein Zusammenhang , der nicht
einmal Vorgangseinheit ist, sondern an eine weitere
unsichtbare Ferne appelliert, und so erst aus dem
Unglück der Menschen eine Strafe der Götter
macht. — Daran musste erinnert werden , um auch
von unserm Standpunkt in der Reihe der hier an-
gestellten Beobachtungen das Richtige zu treffen.
So erst gewinnt auch der Raum, der plastisch nicht
durchgeformte darüber und dahinter , die Schatten-
tiefe der Nische, für die das Werk gearbeitet ist,
eine Übermacht über den Vollzug des Geschehens,
nach dessen Anfang und Ende zu fragen, wir durch
die Prägnanz des dargestellten Momentes selber ge-
drängt werden. Die Aufgabe , die sich der Bildner
gestellt hat, ist, wenn sie einmal für die räumliche
Anschauung gestaltet werden sollte, ihrem innersten
Wesen nach malerisch ; ja sie gehört darüber hinaus
der Historienmalerei an , die schon mit poetischen
Beziehungen und zeitlichen Vorstellungen durchsetzt
ist. Aber auch die Behandlung der Körper selbst
strebt nach malerischen Wirkungen und rechnet mit
malerischen Bedingungen, kraft deren wir berechtigt
sind, die ursprüngliche Aufstellung des Bildwerks in
einer schattenden Nische zu behaupten und im
Interesse seiner künstlerischen Wirkung zurück-
zuverlangen. Dann erst wird sich die Gruppe in
dem Medium des Helldunkels als Bild entfalten vor
unserm Blicke, der verweilend und zusammenfassend
notwendig in die Tiefe dringt, wo der Schlüssel
des Ganzen , den das Körpergebilde selbst nicht
giebt, allein gesucht werden kann.
140
Die plastische Gruppe
Während in der Gruppe des Laokoon der
Schattenraum seine Wirkung bis in das Innere der
Erscheinung hinein erstreckt, will er sich bei der
,, Gruppe des Farnesischen Stieres" nirgend recht
ergeben, und sie bleibt ein tektonischer Aufbau, der
sogar durch die Wucht des daherstürzenden Stieres
in seinem zufälligen Bestand gefährdet erscheint.
Nur die poetische Vorstellung kann mit Hülfe der
Fabel die Einheit des Vorgangs zusammenlesen. Es
ist keine künstlerische Gruppe zu Stande gekommen,
trotz aller Schönheit der Gestalten im Einzelnen.
Ganz anders aber liegt die Sache bei den
Giebelgruppen an der Front griechischer Tempel.
Hier ist es grade der entstehende Schattenraum, der
die klare , scharfe Auseinandersetzung mit der tek-
tonischen Fläche, der Giebel wand dahinter, hervor-
bringt. Auch hier bildet die sogenannte Gruppe
von Figuren oder sonstigen Gegenständen ursprüng-
lich nur eine Zusammenschiebung vollausgerundeter
Körper, nach mehr oder minder tektonischen Prin-
cipien, wie z. B. bei den „Ägineten". Erst allmäh-
lich schieben sich die Figuren mit deutlicher Rech-
nung auf die Vorderansicht zurecht. Aber ein freies
Gehaben nach dem Gesetz unserer Körperbewegung
allein wird schon in den engen Winkeln vollends
ausgeschlossen. (So die thronenden Götter, der so-
genannte Theseus, auftauchende Pferdeköpfe — ab-
geschnitten !) Die Einheit müsste, solange wir solche
Zusammenstellung in bequemer Nähe , wie jetzt in
unsern Museen erblicken, auch hier immer mit Hülfe
der Poesie, d. h. als Einheit des Vorgangs oder der
Giebelgruppen
141
Situation , oder gar als Einheit der Idee , gesucht
werden. Aber alle drei Einheiten, der Handlung,
der Zeit, des Ortes, die man im höchsten poetischen
Kunstwerk sucht , sie helfen bekanntlich nicht zur
Einheit in der bildenden Kunst. Da kann nur noch
Eins erreicht werden, nämlich die Einheit der Wir-
kung, — freilich nur für den entfernten Standpunkt,
für den sie gedacht sind , und von dem sie allein
betrachtet werden dürfen. In der Tat wirken sie an
ihrer Stelle am ganzen Bauwerk wie ein starkes
Hochrelief vollkommen befriedigend, und zwar nicht
ausschliesslich in der Richtungsaxe , die grade auf
die Mitte der Front geht, sondern in ziemlicher
Breitenausdehnung der parallelen Standlinie, nach
links und rechts, so lange die Giebelseiten nicht
eigens durch ihren Vorsprung den seitlichen Anblick
verschliessen.
Sie tragen also ihren Namen ,, Gruppe" nur
noch in uneigentlichem Sinne , was die Plastik als
solche angeht , können aber , ihres kubischen Be-
standes wegen, auch zur Reliefkunst noch nicht ge-
rechnet werden. Sie zeigen uns nur den Ubergang
zu dieser, auf den die dekorative Skulptur im Ein-
vernehmen mit der Baukunst selber gekommen war.1)
i) Vgl. zum Folgenden E. H. Toelken, Über das Basrelief
und den Unterschied der plastischen und malerischen Komposition.
Berlin 1815. Weiteres schon Heft I, S. 2, Anm. 3.
V.
RELIEF- ANSCHAUUNG
as*>X8^:achdem Hildebrand im vierten Kapitel seiner
Kj$vFb Schrift über ,, Flächen- und Tiefenvorstellung"
.Kakraa gehandelt und gezeigt hat, wie der Künstler
,,bei seiner Aufgabe, für die kompilierte dreidimen-
sionale Vorstellung eine einheitliche Bildvorstellung
zu schaffen, zu einer immer koncentrierteren Gegen-
überstellung der gegenständlichen (d. h. gegenständ-
lich auslegbaren) Flächenwirkung zu der allgemeinen
Tiefenvorstellung gezwungen wird", — kommt er
im folgenden Kapitel auf das Ergebnis. „Mit dieser
Gegenüberstellung gelangt der Künstler zu einer
einfachen Volumenvorstellung, also der einer Fläche,
die er nach der Tiefe fortsetzt."
„Um sich diese Vorstellungsweise recht deutlich
zu machen , denke man sich zwei parallel stehende
Glaswände und zwischen diesen eine Figur, deren
Stellung den Glaswänden parallel so angeordnet ist,
dass ihre äussersten Punkte sie berühren. Alsdann
Relief - Anschauung
143
nimmt die Figur einen Raum von gleichem Tiefen-
mafs in Anspruch und beschreibt denselben, indem
ihre Glieder sich innerhalb desselben Tiefenmafses
anordnen. Auf diese Weise einigt sich die Figur,
von vorn durch die Glaswand gesehen, einerseits in
einer einheitlichen Flächenschicht als kenntliches
Gegenstandsbild , — andererseits wird ihr Volumen
durch das einheitliche Tiefenmafs des allgemeinen
Volumens, welches sie im Ganzen einhält, aufgefasst.
Die Figur lebt sozusagen in einer Flächenschicht
von gleichem Tiefenmafse, und jede Form strebt, in
der Fläche sich auszubreiten, d. h. sich kenntlich zu
machen. Ihre äussersten Punkte , die Glaswände
berührend , stellen , auch wenn man sich die Glas-
wände wegdenkt, noch gemeinsame Flächen dar.
„Diese Vorstellungsweise beruht also auf der
Auffassung des Gegenständlichen als eine Flächen-
schicht von gleichem Tiefenmafse. Das Gesamt-
volumen eines Bildes besteht aber, je nach
der Art des Gegenständlichen , aus mehr oder
weniger solchen hintereinander gereih-
ten imaginären Flächen schichten, welche sich
wiederum zu einer Erscheinung von einheitlichem
Tiefenmafs einigen."
„Diese Vorstellungsweise ist also das notwendige
Produkt des Verhältnisses unsrer dreidimensionalen
Vorstellung zum einheitlichen Gesichtseindrucke und
wird zur notwendigen künstlerischen Auffassung von
allem Dreidimensionalen , gleichviel , ob es sich um
die Darstellung einer Einzelform oder einer weitern
Gesamtheit handelt , gleichviel , ob wir diese Er-
144
Relief - Anschauung
scheinungsweise als Bildhauer oder als Maler er-
reichen" (65).
„Diese so entwickelte allgemeine künstlerische
Vorstellungsweise ist aber nichts Anderes" , wie
Hildebrand erklärt (66), — „als die in der grie-
chischen Kunst herrschende Reliefvor-
stellung." Sie preist er als das allgemeine künst-
lerische Verhältnis zur Natur, das einzige, das es
überhaupt geben kann und darf. Da liegt also der
Kern seiner ganzen Kunstlehre beschlossen.
„Diese Reliefvorstellung markiert das Verhältnis
der Flächenbewegung zur Tiefenbewegung oder das
der zwei Dimensionen zur dritten. Sie setzt uns
in ein sicheres Verhältnis als Schauende zur
Natur. Die allgemeinen Gesetze unseres Verhält-
nisses zum sichtbaren Raum werden durch sie erst
in der Kunst festgehalten und durch sie wird die
Natur erst für unsere Gesichtsvorstellung
geschaffen. So formt sich in dieser Vorstellungs-
weise gleichsam das Gefäss, in welches der Künstler
die Natur schöpft und fasst. Eine Anschauungsform,
die in allen Zeiten das Kennzeichen der künst-
lerischen Empfindung und der Ausdruck ihrer un-
wandelbaren Gesetze ist. Ein Mangel an dieser
Empfindungsweise bedeutet einen Mangel an künst-
lerischem Verhältnis zur Natur, eine Unfähigkeit,
unser wahres Verhältnis zu ihr zu verstehen und
konsequent zu entwickeln. In dieser Vorstellungs-
weise findet die tausendfältig bewegte Anschauung
erst ihren Schwerpunkt, ihr stabiles Verhältnis, ihre
Klarheit. Sie wird notwendig für alles künstlerische
Prinzipielle Bedenken
145
Formen, sei es bei einer Landschaft oder einem
Kopfe ; überall ordnet sie die Wahrnehmung , ver-
bindet und beruhigt sie. In allen bildenden Künsten
ist sie dieselbe , ist sie Führer , wirkt sie in der-
selben Weise als ein allgemeines Verhältnis und Be-
dürfnis, dem sich Alles unterordnet, in dem sich
Alles schichtet, vereinigt."
So warm und freudig uns dieser Siegespäan
über die Lösung des Problems der Form in der
bildenden Kunst auch anmutet, so kann doch der
Historiker nicht ohne starken Zweifel zuhören, wenn
die griechische Reliefvorstellung, also doch immer
eine historisch bedingte Errrungenschaft, als einzig
gültiges künstlerisches Verhältnis zur Natur für alle
Zeiten gefeiert wird. Und mag ihr für die Reliefkunst
als solche auch noch so klassische Bedeutung bei-
gemessen werden, so ist doch die Ausdehnung ihres
Princips auf alle bildenden Künste wol nicht minder
Veranlassung zu ernstlichen Bedenken des Ästhe-
tikers.
Im Verfolg unserer Erörterungen haben wir aber
vor Allem die Pflicht, auf einen innern Widerspruch
dieser Lehre aufmerksam zu machen, oder doch auf
die Tatsache , dass ein wesentlicher Unterschied
zwischen der vorher erörterten Bildvorstellung und
der klassischen Reliefvorstellung der griechischen
Kunst übergangen wird.
Man lese einmal die beiden Sätze, die in Hilde-
brands Besprechung des „plastischen Reliefs" nahe
aufeinander folgen, unmittelbar im Zusammenhang,
den Inhalt der Aussagen vergleichend durch :
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. jO
146
Relief - Anschauung
„Die Reliefvorstellung fusst auf dem Eindruck
eines Fernbildes. Aus der Nähe geschaute Natur
ist nicht als Relief gesehen" (S. 70).
„Für die Plastik ergiebt sich die Reliefvor-
stellung vom ganz flachen Relief bis zum vollständig
runden, wo zuletzt das einheitliche Tiefenmafs dem
realen Tiefenmafs der Figur entspricht," — d. h.
„alle Abstufungen vom Flachrelief bis zum Hoch-
relief" (S. 71).
Damit wird zutreffend die Gränze des klassi-
schen Hochreliefs in der griechischen Kunst be-
zeichnet : „wo das einheitliche Tiefenmafs dem realen
Tiefenmafs der Figur entspricht." Das heisst, es
handelt sich für diese plastische Reliefvorstellung
immer um die Auffassung des Gegenständlichen als
einer Flächenschicht von gleichem Tiefenmafse, und
zwar um eine solche einheitlich durchorganisierte
Flächenschicht, deren Tiefenmafs hier dem realen
Tiefenmafs der Figur entspricht. Das Gesamtvolumen
eines Bildes dagegen besteht, wie wir soeben ge-
lesen haben, „aus mehr oder weniger solchen hinter-
einander gereihten imaginären Flächenschichten", d.h.
nach Hildebrand selbst , immer aus einer Mehrzahl,
die sich freilich wiederum zu einer Erscheinung
von einheitlichem Tiefenmafs einigen müssen, ima-
ginär aber jedenfalls über das reale Tiefenmafs der
Figur resp. der neben einander gereihten Figuren
der ersten Flächenschicht (des Vordergrundes) weit
hinaus reichen darf. Das Fernbild , auf dem die
Bildvorstellung des Malers fusst, geht also über die
Gränze der klassischen Reliefvorstellung hinaus und
Innerer Widerspruch der Formel
147
kann eine Tiefenbewegung anregen, die sich an das
Normalvolumen der Figuren nicht bindet. Wir
unterscheiden eben deshalb einen Vordergrund vom
Mittelgrund und Hintergrund. Die Bildvorstellung
des Malers verwertet auch das Fernbild, ,,das alles
unter Lebensgrösse zeigt" (S. 68 Anm.). Da liegt
der Unterschied, den Hildebrand übergeht oder in
seinem Ausdruck ,, Fernbild" für zwei verschiedene
Dinge unvermerkt verschleift.
Es hängt freilich ganz von der Schärfe des
Auges ab, wie er selbst (68) hervorhebt, auf welche
Distanz es die Gegenstände scharf und präcis sieht,
und ,,die Entfernung, welche das Fernbild erfordert,
hat an und für sich nichts mit der Deutlichkeit oder
Undeutlichkeit des Bildes zu tun, wenn sie auch
auf die Härte oder Weichheit der Erscheinung Ein-
fluss nimmt." Aber es müsste doch ein Durch-
schnittsmafs zwischen diesen Extremen kurzsichtiger
und weitsichtiger Beschauer angenommen werden,
also eine Durchschnittsdistanz für den Künstler.
Und wenn andrerseits ,,der Mafsstab einer Darstel-
lung auch nicht mit einer Distanzvorstellung ver-
knüpft ist, wenn die perspektivische Verkleinerung
in natura von uns garnicht empfunden wird", — so
ist uns Hildebrand doch die Bestimmung der An-
fangsgränze für sein „Flachrelief" schuldig geblieben.
Tatsächlich giebt es ja in der italienischen Renais-
sance ein Flachrelief, das den umgebenden Raum
in beträchtlicher Tiefe mit darstellt , wie etwa der
Drachenkampf des heiligen Georg unter dem Stand-
bild dieses Helden an Orsanmichele, eine Arbeit
IO*
148
Relief - Anschauung
des Donatello. Das ist ein andres Flachrelief als
der Christus im Grabe von demselben Meister in
London. Noch glücklicher nähert sich jedoch Luca
della Robbia dem klassischen Vorbild der Griechen
sowol in flachem als im höheren Relief. Bedürfen
wir also, um das Wesen des klassischen Reliefstils
zu bestimmen, nicht für die Anfangsgränze des Flach-
reliefs eines festen Mafsstabes ebenso , wie für die
letzte Gränze des Hochreliefs, die nach dem realen
Tiefenmafs der Figur bestimmt ward? — Ist es
nicht die Übereinstimmung des Höhenmafses ,,der
Figur" mit dem realen Höhenmafs der vordem
Relieffläche, d. h. der ersten Distanzschicht selber?
Oder , anders ausgedrückt : die möglichste Ausbeu-
tung der ganzen Vertikalausdehnung des Vorder-
grundes für die plastische Gestaltung? Und was be-
deutet dieses feste Verhältnis zwischen Reliefrand
und Figur andrerseits für den verschiebbaren Ab-
stand des Beschauers von diesem Objekte, also für
die reale oder die imaginäre Distanz vom Darge-
stellten ?
Damit kommen wir auf einen andern Unter-
schied zwischen Malerei und Plastik, der die Be-
stimmung Hildebrands , die Reliefvorstellung fusse
auf dem Eindruck eines Fernbildes, — aus der Nähe
gesehene Natur sei nicht als Relief gesehen, sehr ins
Schwanken bringen muss.
Die perspektivische Raumdarstellung im Bilde,
wie wir sie besonders deutlich auf Gemälden italie-
nischer Quattrocentisten als Linearkonstruktion auf-
gerechnet finden, weist dem Beschauer seinen festen
Das Fernbild des Malers
149
Standpunkt an, indem sie nicht allein die Rich-
tungsaxe , auf den Centraipunkt dieser perspekti-
vischen Konstruktion zu, sondern auch die normale
Distanz zwischen der Bildfläche und dem Auge des
Beschauers bestimmt. Die dargestellte Raumtiefe,
die im Gemälde vor dem Beschauer liegt, ist ebenso
gross wie die wirkliche vom Beschauer bis an die
Bildfläche , d. h. die innere Distanz des Centrai-
punktes von der Oberfläche in ihrem Rahmen ist
gleich der äussern Distanz des Rahmens vom Auge
des Betrachters. Wenn dagegen nicht von der
Raumdarstellung, sondern von der Figurendarstel-
lung ausgegangen wird , und der Mafsstab der Nor-
malfigur des Vordergrundes möglichst gleich der
Höhe der Bildfläche angenommen ist, so rückt mit
dieser umgekehrten Rechnung auch der Beschauer
aus der früher angewiesenen Entfernung in viel
grössere Nähe. So weit auch faktisch sein Abstand
von der Bildwand sein möge , imaginär ist er den
Gestalten, oder sind die Gestalten ihm näher als bei
jenen Musterstücken perspektivischer Raumdarstel-
lung. Man vergleiche als solches etwa Peruginos
Schlüsselübergabe in der Cappella Sistina mit
Mantegnas Triumphzug aus M a n t u a.
Noch weiter belehrt uns aber Rafaels Teppich-
karton mit dem Hinweis des guten Hirten auf seine
Herde ,, Pasee oves". Jedermann wird sagen, dass
Rafaels Bild sich der Reliefvorstellung nähert, obwol
eine ziemlich umfassende Landschaft als Schauplatz
bei der Erscheinung des Auferstandenen mitwirkt. Die
Gestaltenreihe ist aber weit mehr ,,aus der Nähe ge-
150
Relief- Anschauung
sehene Natur" als die Ferne dahinter. Nehmen wir
diesen landschaftlichen Hintergrund vollends weg und
beschneiden den Karton oben so weit, dass die Höhe
der Hauptfigur das Mafsgebende wird für die neben-
einander gereihte Schar der Jünger, so ist damit das
malerische Interesse sozusagen auch beschnitten und
das plastische gewinnt die Oberhand, zumal wenn wir
von dem poetischen Interesse an dem dargestellten
Vorgang und an der Charakteristik der Individuen
noch ganz absehen. Wir können auf diese Reihe von
menschlichen Körpern das Experiment mit den bei-
den Glasplatten vorn und hinten anwenden und sagen,
diese Figuren leben in einer einheitlichen Schicht
von gleichem Tiefenmafs, und dieses entspricht un-
gefähr dem realen Tiefenmafs der Figur Christi.
Das heisst, das Gemälde ist in die klassische Relief-
vorstellung übertragen. Da diese Gestaltenreihe je-
doch gemalt ist, d. h. Schatten und Licht in fester
Verteilung darbietet, so kann sie befriedigend für
unser Auge nur für den bestimmten Standpunkt
wirken, für den sie berechnet ist.
Denken wir uns dagegen die nämliche Gestalten-
reihe plastisch ausgeführt, etwa in Marmor- oder Stuck-
relief, so enthält sie nicht selbst mehr die bestimmte
Verteilung von Licht und Schatten, sondern muss
diese vom wechselnden Tageslicht erwarten, sei dies
unter freiem Himmel oder unter der vorherrschend
einseitigen Beleuchtung in einem Innenraum. Je nach
der stärkeren oder schwächeren Verschiebung , die
im Verhältnis der Schatten und Lichter eintreten kann,
wird auch der Standpunkt des Betrachters variabel.
Gemälde und Relief
151
Der Gegensatz der Bedingungen zwischen Ma-
lerei und Plastik in diesem Fall ist klar : das ge-
rahmte Bild ist selber verhängbar ; aber es weist
dem Beschauer stets, — je bestimmter die Modellie-
rung der Gestalten durch Hell und Dunkel oder die
perspektivische Darstellung des Raumes durchgeführt
sind, desto zwingender — seinen Standort an , von
dem es als Ganzes betrachtet sein will. Das Relief
dagegen hat als tektonischer Bestandteil einer Wand
seinen festen Standort, während der Beschauer seine
Stelle wechselt, wie das Tageslicht mehr oder min-
der erheischt; — je stärker die Modellierung, je
höher das Relief, desto abhängiger ist er von der
Beleuchtung am Orte, je flacher das Relief, je ,, durch-
gängiger es das Licht auffängt", desto freier auch
die Verschiebbarkeit des Standpunktes , und zwar
nicht allein in der Parallele zum Bildwerk, sondern
auch in der Distanz.
Damit sind wir zu einem neuen Widerspruch
zu Hildebrand geraten, der auch für das Relief wie
für das Gemälde verlangt, dass alle räumlichen Be-
ziehungen und alle Formunterschiede von einem
Standpunkte aus, sozusagen von vorn nach
hinten abgelesen werden.
Was wir von Rafaels Komposition in Relief-
übertragung behauptet haben, gilt unseres Erachtens
auch von dem klassischen Relief der Griechen , mit
dem wir sie verglichen. Dagegen giebt es in der
Geschichte der Reliefkunst, sowol im Altertum wie
in neueren Zeiten Beispiele genug, in denen die For-
derung Hildebrands, d. h. die Anweisung eines festen
152
Relief - Anschauung
und entfernten Standpunktes für den Beschauer er-
füllt ist. Nennen wir als besonders schlagend für
die Darstellung sowol eines Innenraumes wie einer
Landschaft nebst andern Kombinationen nur die
Kanzelreliefs des Benedetto da Majano mit Geschich-
ten des heiligen Franciscus in Sta Croce zu Florenz.
An jeder Seite des Polygons der Kanzelbrüstung be-
findet sich ein stark eingerahmtes und dadurch selb-
ständig gemachtes Bild, das durch seine Raum- und
Formenperspektive dem Beschauer seinen Stand-
punkt, besonders in den Reliefs der Hauptaxen ganz
bestimmt, anweist. Grade diese und alle verwandten
Reliefs, wie sie etwa in der Alexandrinischen Kunst
mit Einbeziehung des landschaftlichen Schauplatzes
vorkommen, entsprechen sonst aber keineswegs mehr
den Principien der klassischen Reliefkunst. Denn
ein mehr oder minder entfernt gedachter Hinter-
grund kehrt sich nicht mehr an das Tiefenmafs der
Figuren u. s. w. Dagegen entsprechen grade sie
dem Charakter des Fernbildes nach Hildebrands
Definition, deren Gültigkeit wir für die realistische
Malerei unbedingt anerkannt haben.
Es kann also nicht richtig sein, wenn Hilde-
brand für das plastische Relief der Griechen erklärt,
die Reliefvorstellung fusse auf dem Eindruck eines
Fernbildes. Aus der Nähe gesehene Natur sei nicht
als Relief gesehen.
Die Differenz kann nur in der relativen Be-
deutung des Ausdruckes Nähe und Entfernung lie-
gen, und es käme darauf an, die Schwelle zu be-
zeichnen oder doch eine Gränzregion zu finden, wo
Nähe oder Ferne
153
der Übergang aus der einen in die andre Auffassung
sich vollzieht.
Unzweifelhaft richtig bleibt Hildebrands Be-
hauptung, aus der Nähe gesehene Natur sei nicht
als Relief gesehen, solange unter Nähe die unmittel-
bare unsrer Tastregion verstanden werden soll und
unter Natur in erster Linie die Dinge um uns her.
Denn in diesem Umkreis führt auch das Sehen zur
kubischen Auffassung der Einzelkörper und über
diese hinaus höchstens zu einer Orientierung über
das Verhältnis unseres eigenen Leibes zu dieser
Nachbarschaft. Aber unser Gesichtskreis erweitert
sich bald, da das Auge dem Antrieb zur vollen An-
spannung seiner Sehkraft folgt und die Vorstellung
ebenso nach der Tiefe strebt. Unser Blick um-
spannt in seiner notwendigen Abwechslung , ob
tastend noch, ob schweifend oder ausruhend, je
nach der Breite dieses Spielraums ein Nebeneinander,
und dies ist entweder ein Körper mit einem Stück
der weiteren Umgebung dahinter oder eine Mehr-
zahl von Körpern mit solchem gemeinsamen Grunde,
mag diese Gränzfläche hinten auch noch so nahe
stehen, dass auch eine Mehrzahl von Körpern sich
nur in einer Distanzschicht auszubreiten vermag, also
noch keine Verschiebung hinter einander aufweist.
Dies wäre doch wol schon eine Entfernung, bei der
die Reliefauffassung eintreten könnte , aber noch
lange nicht das Fernbild , wie wir es als Domäne
der Malerei betrachtet.
Auch das Relief giebt, wie die Malerei, — haben
wir uns früher gesagt — Körper und Raum zu-
154
Relief - Anschauung
gleich. Es behandelt also , wird man meinen , den
selben Gegenstand, den wir der Malerei zugewiesen.
Aber es versucht diese Aufgabe noch ganz mit den
Mitteln der Plastik, d. h. als Sache der Körper-
bildnerin zu lösen. Die Reliefkunst gehört also in
ein Zwischenreich zwischen Malerei und Plastik, wie
die tektönische Körperbildung ein solches zwischen
Plastik und Architektur erfüllt. So weit hatten wir
die Unterscheidung, wo es auf die Bestimmung des
Malerischen sozusagen in der Malerei selber ankam
(Heft I, 40), zunächst geführt, zumal ,,da die kritische
Beleuchtung dieser Mittelregion selbst erst Erfolg
versprach, wenn vorher das Wesen der beiden Nach-
barinnen im Innersten erfasst war."3)
Wenn es nun aber darauf ankommt, die Gränzen
der Malerei und der Plastik zu bestimmen, indem
wir grade dies Übergangsgebiet genauer auf seine
Zugehörigkeit zur einen oder zur anderen Nach-
barin prüfen, so greifen wir am besten auf Hilde-
brands eigene Limitation des Fernbildes zurück.
,,Erst von einer bestimmten Distanzschicht an
sehen unsre Augen parallel" — mögen sie nun
kurzsichtig oder weitsichtig sein, es giebt eine Durch-
schnittsmitte für diese Gränzregion — ,,und nehmen
die Erscheinungsobjekte mit einem Blick als einheit-
liches Flächenbild oder als Fernbild auf. Was in
1) Trotzdem hat ein Berliner Recensent, der nicht einmal den
Gesamtplan dieser Beiträge beachten wollen, schon von jenem ersten
Heft verlangt, es müsste doch auch über den malerischen Charakter
gewisser Reliefs z. B. am Kaiser Wilhelmsdenkmal in Berlin
Rechenschaft geben.
Sehfeld und Tastregion
155
der Mitte unseres Sehfeldes liegt, wird am stärksten
wahrgenommen, nach dem Rande zu verschwindet
dieser Eindruck. — Ebenso wird das, was direkt
vor der Distanzschicht, vor der eigentlichen
Bühne ist, noch als Übergang mit wahr-
genommen. Der eigentliche Raum aber,
welcher erscheint, liegt hinter dieser
Distanzschicht oder fängt mit dieser erst
eigentlich an."
Dieser eigentliche Raum , der als Fernbild im
engern Sinne erscheint, ist der Bildraum, sagen wir
einmal des Landschaftsmalers vorzugsweise. Wir
müssen ihn hier ausscheiden, wo es gilt den Spiel-
raum für die Plastik zu finden. Wenn nun jener
„Übergang", der noch mit wahrgenommen wird,
eben die Übergangsregion wäre , die wir suchen,
d. h. grade die Zone, wo unsere Tastregion noch in
das Sehfeld hineinragt und direkt vor der Distanz-
schicht auftritt, mit der oder hinter der das Reich
des Fernbildes beginnt?
Hier liegt der Rahmen des Bildes , der mehr
oder minder reliefmäfsig ausgeführt zu sein pflegt,
und eben als Übergang zwischen dem wirklichen
dreidimensionalen Raum , in dem wir stehen , und
dem idealen Raum des Bildes , in den wir hinaus
schauen, zugleich vermittelt und scheidet. Er ist
für die Bildfläche eine positive Instanz , die ihr
das selbständige Schalten und Walten im Innern
dieses Ausschnittes sichert und den Aufbau der
Welt, die der Maler darin ertäuschen kann, als eigne,
für sich bestehende garantiert. Er ist für den Be-
156
Relief - Anschauung
schauer dagegen eine negative Instanz , die ihm die
Verwechslung mit dem wirklichen Raum und der
vollen Körperlichkeit um ihn her verbietet. Der Be-
schauer kann nicht tatsächlich „in den Raum hinein
schreiten" x), durch eigne Ortsbewegung seines Körpers
das Tiefenvolumen durchmessen, ebenso wenig wie
sich stossen an den andern Körpern darin ; sondern
das Gefühl der einheitlichen Tiefenbewegung beruht
ganz auf der Vorstellung, die der optische Schein
in uns anregt.
Das ist es, jener Bildraum liegt jenseits unsrer
Tastregion und wird uns ausschliesslich durch das
Auge als Gesichtseindruck übermittelt; er ist nicht
greifbar , wie der Rahmen des Bildes und wie die
andern ,, wirklichen" Gegenstände um uns her, die
ausser ihm vielleicht noch in unser vom entfernteren
Standpunkt sich bietendes Sehfeld hineinragen. Der
Rahmen selbst aber sagt uns durch seine Relief-
behandlung, dass er sich an der Stelle befindet, wo
nach alter Erfahrung Relief am Platze ist. Aber
nicht immer wird er reliefmässig profiliert oder als
glatte Leiste doch, von aussen nach innen verlaufend,
als schräge Übergangsfläche gegeben ; sondern es
kommt auch die glatte Leiste als senkrechte Ebene
behandelt vor, oder mit einem First in der Mitte
nach beiden Seiten absteigend profiliert, ja ganz
umgekehrt, von innen nach aussen abgeschrägt, so
dass die Bildfläche als Parallelebene vor die Wand-
i) Vgl. oben die Stelle aus Hildebrand und die Erklärung,
S. 34-
Rahmen und Bildregion
157
fläche hinaustritt. Es muss also mit dem Rahmen
ausserdem noch eine andre Bewandnis haben. Jeden-
falls wirkt bei seiner Behandlung noch eine andre
Mafsnahme mit als der Abstand des Beschauers allein,
der sich verändern und bis zur Greifbarkeit dieses
untern Rahmens annähern lässt. Es ist dies die
Höhe, in der wir Gemälde anzubringen pflegen, und
damit kommen wir auf einen andern ausserordent-
lich wichtigen Punkt für die Bestimmung der Gränzen
zwischen Fernbild und Relief, oder zwischen male-
rischer und plastischer Auffassung überhaupt.
Diese Höhe ergiebt sich schon bei der physio-
logischen Bestimmung unseres Sehfeldes aus dem
natürlichen Bedürfnis der bequemen Funktion unserer
Organe in ihrer normalen Lage. Die horizontale
Lage der beiden Augäpfel im oberen Teil unseres
Kopfes würde beim Anblick einer vor uns , nicht
allzu entfernt stehenden Wand eine Neigung des
Kopfes nach vorn nötig machen, sobald wir auch
den untersten Teil dieser senkrechten Fläche und
weiter die daranstossende Horizontalebene des Fuss-
bodens überblicken wollen, wenn diese Neigung
nicht schon von Natur vorgesorgt wäre. Um so mehr
gilt es, wenn wir nach oben über eine gewisse Höhe
hinausschauen, erst die leise natürliche Inklination
unseres Augenpaares aufzuheben und dann weiter
noch eine Neigung des Kopfes nach rückwärts zu
Hülfe zu nehmen. In dem letztern Fall, nach oben
zu, ist das entstehende Muskelgefühl also stärker
bemerklich als im erstem Fall, nach unten zu. Ähn-
liche Organgefühle entstehen aber ausserdem noch
158
Relief - Anschauung
bei der seitlichen Drehung im Verfolg einer Strecke
nach rechts oder links herum.
Vor allen Dingen aber bildet unser Sehraum als
Ganzes eine innere Kugel fläche, deren Mittel-
region nur — unser Sehfeld — nach jeder Seite,
wohin wir grade schauen, in eine senkrechte Ebene
überzugehen scheint und als solche vorgestellt wird.
Ausserhalb dieser mittleren Ebene, die vor uns steht,
liegen nach unten, wie nach oben, und nach beiden
Seiten dieses Sehfeldes, Übergänge von sphärischer
Kurvatur, bei deren Verfolg mit unsern Augen not-
wendig Bewegungsgefühle entstehen, die aus dem
begleitenden Muskelapparat, der dabei in Anspruch
genommen wird , herstammen , aber gewiss in der
weiteren motorischen Region nachzittern und zu
Bewegungsvorstellungen disponieren.
Zwischen unsern Fussfpitzen und dem Anfang
des bequem sich darbietenden Sehfeldes liegt sozu-
sagen ein Anlauf. Die reliefmäfsige Behandlung des
Rahmens unten giebt also den letzten Teil der
untern Kurvatur der Kugelfläche unseres natürlichen
Sehraums wieder. Die glatte Leiste, die sich in der
selben Richtung von aussen nach innen abschrägt,
ist nur die Reduktion dieses Ausdrucks auf eine ebene
Fläche , also eine Assimilation an unsre Auffassung
des Sehfeldes oder an die regelmäfsige Form der
Wand , die die Architektur bereits in diesem Sinne
behandelt hat. Legen wir die Horizontale des
untern Rahmens genau in diese Höhe der Wand
über dem Boden, auf dem wir stehen, so funktio-
niert er ganz exakt als Gränze zwischen Tastraum
Relative Höhe der Bildzone
159
(oder realem Schauplatz) hier und Bildraum (oder
idealem Schauplatz) dort, oder, bleiben wir im Reiche
der Kunst, zwischen der architektonischen Schöpfung
hier und der malerischen dort.
Legen wir diesen untern Rand des Bildes oder
der Bühne auch nur etwas tiefer, so fällt der vordere
Streifen dieses sich öffnenden Raumes, wie etwa von
der Lampenreihe und dem Souffleurkasten bis an
das erste Koulissenpaar auf unserm Theater , noch
ebenso unter den natürlichen Zwang der von aussen
nach innen zurückweichenden Reliefanschauung, wie
vorher der Rahmen selbst sich dieser Kurvatur
unseres Sehens bequemte. Das kann besonders in
Wandgemälden geschehen, die den Eindruck er-
wecken wollen, als blickten wir in anstossende Räum-
lichkeiten hinaus. So ist bei Rafaels Disputa und
Schule von Athen der ziemlich tief herabreichende
Vordergrund eben deshalb für die plastische Behand-
lung, die ihn auszeichnet, berechtigt und trägt nicht
wenig dazu bei, die Illusion der Raumentfaltung im
Anschluss an die Bedingungen der vorhandenen Archi-
tektur hervorzubringen. Im Parnass erhöht sich der
Boden, links und rechts vom einspringenden Fenster,
und die Stirnseite des Podiums wird gar mit grau
in grau gemalten Reliefbildern geschmückt; aber
durch das ansteigende Terrain des Musenhügels wird
grade die plastische Auffassung der vordersten Ge-
stalten als voll sich rundende Körper wieder energisch
herausgefordert. Drüben endlich, unter der Justitia,
sondern sich die Bestandteile auch in selbständige
Ganze von zweierlei Charakter. Unten links und
160
Relief - Anschauung
rechts auf gleicher Höhe ein schmälerer und ein
breiterer Einblick in anstossende Gemächer, wo der
Kaiser mit seinen Räten, der Papst mit seinen Kar-
dinälen in leibhaftiger Gegenwart vor Augen stehen.
Droben über dem verbindenden Architrav in der
Bogenöffnung, durch die der blaue Himmel herein-
schaut, die plastisch körperhaft auf den Terrassen-
stufen aufgebaute Gruppe der drei Tugenden mit
ihren Genien dazwischen, — Alles gemalt, aber aus
dem sichern Gefühl heraus in voller kubischer Stärke,
weil in dieser Höhe vor dem Deckengewölbe wieder
die günstige Region für plastische Rundung beginnt.
Nur verläuft hier die Kurvatur des Übergangs
zwischen den Ebenen, die aufeinanderstossen, zwischen
Wand und Decke also , sozusagen in umgekehrter
Richtung als der Übergang zwischen Fussboden und
Wand unten. Deshalb bewegt sich das Profil des
Simswerks ebenso wie das des Rahmens, die wir in
dieser Höhe anzubringen pflegen, in aufsteigender
Richtung und kragt immer weiter vor, wo immer
eine Ausgestaltung dieser Kurvatur mit tektonischer
Plastik versucht wird.
In dem folgenden Zimmer des Vatikans , der
Stanza d'Eliodoro liegt der vordere Bühnenrand
aller Gemälde höher ; ihre Gestalten rücken auch
im Vordergrund dem Beschauer nicht so nah; sein
Abstand, tatsächlich nur im gleichen Spielraum sich
bewegend, wird für das Auge freier, und weiter für
die Vorstellung. Es sind historische Ereignisse, die
in der Vergangenheit liegen ; aber die Gegenwart
des Papstes und seiner Begleiter bringt sie dem Be-
Das Reich des Plastischen und des Bildlichen \ß\
schauer, und brachte sie dem damals Lebenden erst-
recht, noch immer ^n den Umkreis des Selber-Er-
lebten. Unzweifelhaft ist hier ein weiterer Schritt
zum malerischen Standpunkt getan.
Aber , — bei der wechselnden Unbestimmtheit
im Abstände, die durch das subjektive Ermessen und
durch die objektive Beschaffenheit des Platzes un-
vermeidlich wird, kann erst in ziemlicher Höhe über
dem Boden die Erscheinung des Bildes in optischer
Reinheit wirken und von der Einmischung unsrer
Tastgefühle sozusagen frei gehalten werden.
So sondern wir in einem Innenraum , je mehr
wir täglich darin verkehren, die untere Region der
Wände durch Holzvertäfelung oder andre mehr oder
minder plastisch-tektonische Behandlung von der
oberen Region , wo die bildliche Anschauung allein
regieren soll. Auch dafür sind die Stanzen des
Vatikans lehrreich, besonders das Zimmer des Burg-
brands , wo die Sockelfiguren durch ihre plastische
Malerei gradezu den Raum verengern. Ganz unten
am Boden ist ja der Platz für die Postamente der
Statuen und andre tektonische Körper, die vor der
Wand stehen oder aus ihr hervortreten, — d. h.
eine eminent plastische Region, soweit es das Gefühl
des Besuchers oder gar Bewohners ihr gestattet sich
auszudehnen. Es ist der Bannkreis des Gestaltungs-
raumes für kubische Gebilde gleich uns selbst. Hier
blicken wir den Sachen, schon durch die natürliche
Stellung unsres paarigen Sehorgans veranlasst, sozu-
sagen zuerst auf den Kopf, sie nach ihrem Ver-
hältnis zu uns nach Höhe, Umfang und Abstand zu
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. jt
162
Relief - Anschauung
fragen. Es ist ein Abtasten der Körper mit den
Augen, von dem wir uns erst allmählich zu ruhigerer
Anschauung zurückziehen.
Die Zone dagegen, in der unser Schauen dem
Körperdrange vollends enthoben wird, wo das Fern-
bild in voller Freiheit sich vor uns ausbreiten mag,
liegt über der realen Höhe unserer Augen oder gar
unsres Kopfes , d. h. über der Horizontale zwischen
unsern Augäpfeln oder gar über unserm Scheitel,
also an der Wand gemessen etwa in Manneshöhe,
wo wir der Wandbekleidung wol gar ein abschliessen-
des Sims verleihen, vorgekragt, um die Gränze gegen
das idealere Obergeschoss zu markieren, wo unsre
Gesichtsvorstellungen allein walten. Diese Zone
reicht hinauf bis zum Ende des Sehfeldes, wo wieder
die Kurvatur unseres Sehraumes sich geltend macht,
indem wir, durch die Anlage unseres Sehapparates
gezwungen, Alles, was sich zeigt, zunächst wieder aul
seine Vertikalaxe prüfen.
Nach den Seiten zu bestehen aber, wie wir uns
gesagt, ähnliche Übergänge von dem Sehfeld vor
uns, oder der Bildfläche , die wir grade betrachten,
zu den folgenden links und rechts, wie sie etwa im
Innenraum rechtwinklig aufeinanderstossen. Die archi-
tektonische Raumbildung führt hier für gewöhnlich
die regelmässige stereometrische Form durch , be-
tont eben im rechtwinkligen Aufeinanderstossen der
Wände die Gesetzmässigkeit ihrer Schöpfung nach
den Anforderungen der abstrakten Raumvorstellung.
Für das lebendige Gefühl des menschlichen Subjekts
in solchem Räume walten hier ebensogut die natür-
Gestaltungsräume und Bildflächen
163
liehen Bedingungen unseres Sehens ; die Muskel-
empfindungen, die unsere Augenbewegung begleiten,
erregen die verwandte Sphäre der Tastregion und
qualificieren auch diese Stelle der überleitenden
Kurvatur als Spielraum für unsere Bewegungsvor-
stellungen und die Formvorstellungen nach Analogie
unsres organischen Leibes.
So finden wir den Bildraum des Malers an den
Wänden ringsum, nach unten und oben, nach links
und rechts umgeben von Gebietsteilen des bildsamen
Gestaltungsraumes und kommen zu dem Schluss:
Wo der nahe Umkreis um uns selbst, in dem
wir dreidimensionale Körper gleich dem unseren er-
warten und anzutreffen gewohnt sind, also das Be-
reich der Rundplastik, aufhört und sich der ent-
fernteren Distanzschicht des Fernbildes nähert, da
liegt, zum Teil noch in dieses Sehfeld hineinragend
oder doch häufig noch mit wahrgenommen, die
Übergangssphäre, wo die Reliefanschauung
waltet. Hier ergiebt sie sich für unsere menschliche
Organisation ganz natürlich ; denn hier gleitet für
unser Auge wie für unser Körpergefühl die Auffas-
sung der Einzelkörper für sich in die Auffassung
ihres Zusammenhanges über, sei es unter einander,
sei es mit ihrer räumlichen Umgebung. So erklärt sich
die Entstehung der Reliefkunst aus der Natur dieser
in unserem Verhältnis zur Aussenwelt vorhandenen
Übergangssphäre und zugleich ihr Charakter als
Zwischenreich zwischen Plastik und Malerei.
Ihr Gestaltungsraum unterscheidet sich von dem
der Rundplastik dadurch, dass er nach hinten von
1 1 *
164
Relief - Anschauung
einer festen und undurchsichtigen Gränzfläche ab-
geschlossen wird und an dieser tektonischen Scheide-
wand des bildsamen und durchschaubaren Raumes
haftet. Diese tektonische Fläche, mag sie (wie bei
Grabstelen) frei aufgerichtet stehen oder als Bestand-
teil zu einer massiven Mauer gehören, schneidet die
Möglichkeit ab , das Bildwerk anders als von der
Vorderseite zu betrachten. Im Übrigen jedoch lässt
sie den Wechsel des Standpunktes gegenüber dieser
vorderen Parallelebene ebenso offen, wie sonstige
tektonische Gebilde, die an einer Fläche haften, d. h.
sowol seitliche Verschiebung auf der Standlinie des
Beschauers als auch Veränderung des Abstandes
selber. Die tektonische Scheidewand hinten hebt
jedoch, für diese Betrachtung selbst, das Vordringen
des Blickes in die Tiefe dadurch auf, dass sie den
weitern Raum abschneidet. So wirkt sie als nega-
tive Instanz, indem sie die Konsequenz des
Schauens von einem festen und entfernten Stand-
punkt verbietet. Eben dadurch hält sie positiv
die freie Wahl seitlicher Bewegungen und die Be-
rechtigung des tastenden Sehens aus der Nähe —
zur Ergänzung offen. Sie wirkt als positive Instanz
ferner dadurch, dass sie selbst wie den weiteren
Raum auch den weiteren Zusammenhang überhaupt,
die Garantie aller sonstigen Bedingungen räumlich-
körperlicher Existenz bedeutet. So zwingt sie die
Anwandlungen zu fortschreitender Tiefenbewegung,
die unsre Vorstellung vollzieht, zurückzustauen
und in der einen Schicht des Gestaltungsraumes sich
auszubreiten, damit aber zur Körpervorstellung, von
Das Zwischenreich der Reliefkunst
165
der die Gestaltung ausgegangen, immer als zur Haupt-
sache heimzulenken.
Die Reliefvorstellung fusst also auf
dem Eindruck eines Fernbildes ebenso
wenig, wie sie auf dem nahen Standpunkt
kubischer Körperschau allein beruhen
kann. Das wenigstens glauben wir grade vom
klassischen Relief der Griechen aussagen zu dürfen.
VI.
DIE RELIEFKUNST
us diesen Erwägungen über die verschiedenen
Faktoren, die zur Reliefvorstellung zusam-
menwirken und die Übergangssphäre charak-
terisieren, wo deren künstlerische Behandlung sich
ergehen kann , muss aber noch Eins hervortreten :
Die Beziehungen der Reliefkunst erstrecken sich
nicht allein nach der Seite der Malerei, deren Pro-
blem, den räumlichen Zusammenhang zwischen den
Körpern darzustellen, sie aufnimmt und mit den
Mitteln der Plastik zunächst zu lösen versucht, son-
dern sie erstrecken sich auch ebenso nach der Seite
der Tektonik. Ja diese müssen ihr näher liegen, so
lange sie ihre Gestaltung vorerst als Körperbildnerin
fortzusetzen trachtet. An die Nachbarin Tektonik
lehnt sie sich an, an die Bedingungen ihrer regelmä-
fsigen Formen, an ihre stereometrische Gesetzmäfsig-
keit knüpft sie die Darstellung organischer Körper,
wo diese nicht mehr auf sich selber allein beruhen
Darstellung des Zusammenhangs
167
können, wo nicht deren Körperlichkeit, sondern
deren Zusammenhang im Räume zum Hauptanliegen
geworden ist. Zu den Errungenschaften der Kry-
stallisation und zum Glauben an die Beharrung ihrer
Gebilde muss die Plastik ihre Zuflucht nehmen,
wenn der dreidimensionale Komplex in ihrer eige-
nen Organisation nicht stark genug mehr ausfällt,
um sich selber aufrecht zu erhalten, oder wenn die
Bewegung, die sie zu fassen sucht, den Grundstock
ihrer Körperbildung ins Schwanken bringt. Das
heisst also , das Zwischenreich , das die Reliefkunst
für sich gründen mag, liegt nicht zwischen Malerei
und Plastik im engeren Sinne , sondern wir müssen
Plastik hier in dem weiteren Sinne verstehen, den
wir für die ,, Körperbildnerin" aufgestellt haben, ver-
möge dessen sie auch den verwandten Charakter
der Tektonik mit umfasst ; dies Zwischenreich be-
rührt also die Gränze des tektonischen Schaffens
und' übernimmt die Handhabung seiner Gesetze, so-
weit sie selber sich dadurch zu sichern oder son-
stige Vorzüge zu gewinnen vermag. Die eigentlich
plastische Behandlung aber , die Körpervorstellung
nach dem Ebenbilde des Menschen , also die Orga-
nisation und Belebung in diesem Sinne, bleibt doch
der Mittelpunkt, wo der Kern ihres Wesens zu
suchen ist. So stellt also in der Reliefkunst sich
ein ähnliches Verhältnis heraus, wie in der Gruppen-
bildung, als deren weitere Fortsetzung wir ihre Be-
strebungen nach Wiedergabe eines Zusammenhangs
auffassen dürfen. Auch hier giebt es eine specifisch
plastisch gesonnene Mittelregion und zwei Abzwei-
1G8
Die Reliefkunst
gungen davon : einmal nach der Seite der Tektonik,
das andre mal nach der Seite der Malerei. Inso-
fern aber das Relief über die Gruppe hinausstrebt
auf das nämliche Ziel hinüber, muss auch die Ten-
denz zum Malerischen überwiegen, und zwar, so
weit dies nicht in der Natur des Problemes selber
liegt, jedenfalls durch den Erfolg und den Fortgang
der geschichtlichen Entwicklung, der die Zukunft
gehörte.
So gelangen wir dazu, im Unterschied von der
bisher üblichen Bezeichnung nach den beiden Ex-
tremen der plastischen Rundung Flach- und Hoch-
Relief, und im Unterschied von Hildebrand, der das
klassische Hochrelief der Griechen lieber als Tief-
Relief definieren möchte (S. 71), eine erste grund-
legende Dreiteilung aufzustellen, die sowol den na-
türlichen Bedingungen unsres Sehraumes , unsrer
Tastregion und unsrer Ortsbewegung auf der einen
Seite, wie dem Charakter der künstlerischen Auf-
fassung, der sich ebenso natürlich nur auf solcher
psychologischen Grundlage entwickeln kann, gerecht
zu werden versucht. Wir unterscheiden als Haupt-
klassen das Flachrelief, das Hochrelief und
das Tiefrelief von einander, indem wir unter
dem letzten etwas ganz anderes, als Hildebrand
vorschlägt, verstehen müssen. Es liegt auch hier
in der Natur der Sache, dass der Zweck solcher
Einteilung nur die Klärung der Begriffe und die
Übersichtlichkeit des historischen Materials oder der
künstlerischen Richtungen sein kann, nicht aber die
Aufrichtung starrer Gränzen, zwischen denen es keine
Drei Hauptarten
169
Vermittlung gäbe. Im Gegenteil, wir werden schon
im Interesse der Ästhetik hier auf solche Mittelstufen
ausdrücklich eingehen. Unsere Auffassung der Relief-
kunst als ein Ubergangsgebiet bestätigt sich grade
durch den Sachverhalt, dass die Gränzen der ver-
schiedenen Stadien in einander fliessen , also nur
relativ bestimmt werden können. Das Gestaltungs-
princip ist jedoch in den drei Hauptklassen so grund-
sätzlich von einander verschieden, dass eine genaue
Definition versucht werden muss. J)
Das Hochrelief bestimmt sich nicht allein nach
dem äussersten Mafs der Erhebung, von dem der
Name ausgeht, indem es die dritte Dimension der
dargestellten Körper bis zur Ubereinstimmung mit
der Wirklichkeit ausdehnen kann. Denn mit diesem
Mafsstab wäre ja zunächst auch die Forderung der
Lebensgrösse gegeben, an die sich die Relief kunst
jedoch ebensowenig bindet wie die Rundplastik.
Es gehört als ergänzende Bestimmung vielmehr hinzu,
dass die Normalhöhe der Figuren die Gesamthöhe
der Bildfläche für sich in Anspruch nimmt, über
den Köpfen also keinen leeren Luftraum übrig lässt.
Damit ist die Wirkung unter Lebensgrösse für die
Vorstellung ausgeschlossen, mag das Mafs in Wirk-
lichkeit sein, welches es will. Es giebt keinen Raum
ausser dem durch die Körper selbst erfüllten, also
auch weder in der Höhe noch in der Tiefe eine
i) Ich gebe sie, wie seit Anbeginn meiner Lehrtätigkeit, im
Sinne meiner ganzen Kunstlehre, darf also anderweitige Versuche,
die von fremden Gesichtspunkten ausgehen, ausser Betracht lassen.
170
Die Reliefkunst
Macht, die diese dargestellten Wesen herabdrücken
oder verkürzen, gefährden oder irgendwie beeinflussen
könnte. Nur gleich organisierte Geschöpfe treten mit
ihnen auf, sei es als Gefährten, sei es als Gegner;
also der Mensch und sein Ideal, der Heros oder gar
der Gott, dazu das bodenständige Tier in seiner
Gemeinschaft, das Ross, der Hund, das Rind u. s. w.,
oder im Kampfe wie der Löwe, der Hirsch, der
Eber u. s. w., während der Adler aus der Luftregion
nur als Körper unter gleichen Bedingungen zugelassen
wird und selbst der Drache, die Schlange sich zum
gleichwertigen Gebilde zusammenballt. Das Höhen-
mafs des Menschen überträgt sich gar auf die andern
organischen Geschöpfe, die grösser sind als er, auf
die Tiere sowol wie auf den Baum, indem es sie
herabmindert, oder auf die kleineren, indem es sie
vergrössert. Der Wert des Hochreliefs aber besteht
grade in diesem Festhalten der Körpervorstellung
im Sinne der echten Plastik, also des organischen
Menschenleibes vor allen Dingen. Nur Einer Macht,
die über sie alle hingeht, haben sie ausserdem sich
anzubequemen, das ist die des Bundesgenossen, durch
den sie als Formgebilde sichtbar werden, das Licht.
Die Gliedmafsen der Vorderseite mögen sich in voller
Rundung vom Rumpfe abheben ; aber sie dürfen
keinen Schatten werfen auf die Nachbarformen, so
dass diese dadurch zerrissen oder unkenntlich werden,
- also die Deutlichkeit der Erscheinungsform für die
Erkennung des Gegenstandes ist die erste Forderung.
Eine gewisse freie Entfaltung jedes Einzelkörpers,
die dabei unsrer Vorstellung entgegenkommt, wird
Das Hochrelief
171
die Komposition beherrschen. Sie ist auch für die
weitere Durchbildung der Leiber in der dritten Di-
mension von Vorteil , indem sie alle schwierigen
Komplikationen vermeidet. Da kommt es auf wirk-
lichkeitsgemäfse Verhältnisse in der Dicke wenig an,
wenn nur die volle Wirkung ihres Scheines erreicht
wird, und auch dieser verläuft am sichersten ohne
Überschneidungen und Unterbrechungen bis zur ge-
lungenen Rechenschaft über die Gegenseite der Ge-
stalt im Grunde. Dient doch diese offene Haltung
und freie Uberschau des ganzen Körpergebildes auch
am besten dem innersten Anliegen des plastischen
Künstlers, die „plastische Schönheit" der Kreatur zu
zeigen und dem Genuss des Beschauers aufzutischen.
Aber freilich der Reliefbildner geht nicht auf die
Wiedergabe der organischen Schönheit des Einzel-
wesens allein aus ; er will sie im Zusammenhang
mehrerer zeigen, wo die Reize der Bewegung und
Beziehung sich so viel reicher entfalten.
Wo kann also bei einer Vielheit von Organismen,
die nebeneinander ausgebreitet werden, die Einheit
liegen, die das Kunstwerk erst zum Ganzen erhebt? Die
Frage liegt ähnlich wie bei der Gruppe. Aber die Ant-
wort wird schon durch die grössere Anzahl von Figu-
ren, die das Relief zu enthalten vermag, noch eher von
der Aufrechterhaltung des organischen Gesichtspunktes
oder der möglichsten Annäherung an diesen zurück-
stehen und die einheitliche Zusammenfassung anderswo
suchen als in der Komposition allein. Verschliesst
sich nicht dieser die Möglichkeit eines strengeren
Koncentrierens durch die Abschneidung der Tiefen-
172
Die Relief kunst
dimension, die über das Volumen des Einzelkörpers
nicht hinausreicht? Da bleiben nur die erste und
die zweite Dimension übrig, die zusammen in der
Fläche liegen. Wieder die tektonische Scheidewand,
die den Figuren ihren Rückhalt gewährt? Nein, sie
garantiert schon den wirklichen Zusammenhang als
Ding der Wirklichkeit oder höchstens, wenn ein
Rahmen an der Vorderseite hinzukommt, als Sache
der Schwesterkunst Tektonik. Aber eben die Vorder-
seite, an der dieser Rahmen schon die Hand der
Kunst bezeichnet, sie muss es sein, die auch das
plastische Schaffen zuerst durch seine Behandlung
zur Einheit zu entwickeln strebt. Die vordere Pa-
rallelebene muss auch die Einheit des Zusammen-
hangs darbieten, die dem Bildwerk als künstlerischer
Schöpfung das Recht des Daseins gewährt. Die
Höhendimension aber ist bereits der organischen
Einheit gewidmet, kein Versuch darüber hinauszugehen
möglich. In der Breite reihen sich diese organischen
Einheiten nebeneinander. Hier allein könnten die
ersten Versuche gemacht werden, und hier werden
sie in der Tat angestellt. Zuerst können sie nur
wieder auf die Anordnung der Einzeigrössen im
Nebeneinander verfallen, also die zweite Dimension
als Länge von einem Ende bis zum andern auffassen,
für den entlang schreitenden oder blickenden Be-
trachter, oder aber als Breite von der Mittelaxe aus
nach beiden Seiten, also für den stillstehenden Be-
schauer auf seinem festen Standpunkt. Die Erste
führt zu den Gesetzen der regelmäfsigen oder alter-
nierenden Reihung, die Andre zu den Gesetzen der
Das Hochrelief
173
Symmetrie auf beiden Seiten der ideal eingelegten
Mittelaxe oder einer körperlich ausgebildeten Do-
minante. Das sind aber Beides nur Übertragungen
der Gliederungsprincipe , die aus der Ornamentik
stammen, und deren letztes erst zur Einheit führen
mag, indem es mit gleichwertigen organischen Ge-
bilden eine Gruppierung ermöglicht, die in der Fläche
schon zum Ausdruck kommt. Eben damit ist aber
auch ausgesprochen, dass sie keine specifische Lei-
stung des Hochreliefs bedeutet, das seine Figuren
voll ausrundet. Sie erscheint bei solchem Aufwand
von Mitteln der Körperlichkeit wie ein Surrogat;
diese Einheit kann durch andre Verfahren auch schon,
vielleicht gar vollkommener geleistet werden. Also
muss auch die charakteristische Eigenschaft des Hoch-
reliefs, die grade in der adäquaten Entwicklung der
Tiefendimension seiner Gestalten liegt, zu der Einheit
wenigstens soweit mitwirken, wie sie gegeben wird.
Nicht in der Vorderfläche allein, sondern in der
Flächenschicht, die den Gestaltungsraum ausmacht,
muss die Einheit erreicht werden. So tritt zur Aus-
breitung der organischen Gebilde in ihrer gegebenen
Höhe und ihrer gewählten Aufreihung noch ein Drittes
hinzu, das auch den Zusammenhang in der dritten
Axe der Körper vermittelt, das ist die Entfaltung
dieser Figuren nach hinten zu. Aber nicht direkte
Betonung dieser Koordinate in ihrer senkrechten
Stellung zur Breiten- und Höhenaxe ist das Ver-
mittelnde , also nicht die volle Vorderansicht und
Rückansicht der Körper oder die scharfe Profilstellung,
sondern die diagonale Richtung erfüllt diese aus-
174
Die Reliefkunst
gleichende Verbindung, also die Schrägstellung der
Figuren. Diese Dreiviertelansicht ist aber grade der
offenen Haltung und freien Überschau günstig, von
der wir gesprochen. Indess die Leitungsbahn, auf
der sich allein die Vermittlung bewegen kann, die
Körperform selbst, versagt ja bald, da die Gränz-
fläche hinten, wie gesagt, die weitere Raumtiefe
schliesst. Nicht sie also, die Raumvorstellung als
solche, vermag die Trägerin der gesuchten Einheit
zu werden, sondern nur die innigste Gemeinschaft
der Gestalten und ihres eigensten zugehörigen Raum-
volumens, in der gegebenen Flächenschicht.
Hier aber waltet als Medium, das sich über alle
ergiesst , die selbe Macht , durch die sich die Ge-
schöpfe des Bildners dem Auge darstellen, das Licht.
Es dringt wie die Formen selber, die des Bildners
Hand gerundet, bis an jene Scheidewand und um-
giebt die festen Bestandteile der Masse mit dem
Hell und Dunkel , das sie fürs Auge ,, modelliert",
in dem wir ein Ergebnis unsrer tastenden Hände auf
den Gesichtseindruck übertragen. Sollen wir Rechen-
schaft ablegen , was im Relief wirklich vorliegt , so
können wir nur auf Ausdrücke verfallen, die an
zeitliche Vorstellungen appellieren, wie ,, Flächen-
bewegung", die also mehr auf die Frage nach dem
Werden als nach dem Sein antworten. Oder wir
verbinden diese Stadien künstlich, indem wir von
der ,,Undulation der Masse" behaupten, sie müsse
plötzlich ,, geronnen" sein. Dabei aber übergehen
wir ganz die Gegenstandsvorstellungen , die dies
Substrat erweckt, und deren weitere Associationen.
Das Hochrelief
175
Genug, die Einheit besteht nicht etwa in einer ge-
läuterten Gesichtsvorstellung allein , nicht in dem
optischen Genuss , wie ihn harmonische Verteilung
der Schatten und Lichter zu gewähren vermag,
sondern auch hier in einer Synthese, die unsre Vor-
stellungstätigkeit auf Grund aller Anregungen leistet,
die der Künstler ihr zuführt.
Unsere Erörterung der Möglichkeiten bei Ge-
legenheit des Hochreliefs muss schon die Punkte
hervortreten lassen, wo die Abweichungen anzusetzen
vermögen. Es wäre darnach leicht, die Umbildung
nach ihren verschiedenen Richtungen hin als all-
mähliche Verschiebung des Princips zu schildern ;
doch wird es an dieser Stelle ratsam , auch die
Gegensätze scharf hervortreten zu lassen.
Wenn das Hochrelief als die eigentlich plastische
Lösung des Problems , den Zusammenhang orga-
nischer Körper in den Gränzen ihres Gestaltungs-
raumes selber mit Hülfe nur eines festen unbezeich-
neten Hintergrundes darzustellen, betrachtet werden
muss, und auch seine stärkste Modellierung durch
die entstehenden Gegensätze von Hell und Dunkel
zunächst nur als Äusserung des nämlichen eminent
plastischen Sinnes aufgefasst werden darf, dem es
um die vollrunde Körperlichkeit seiner Gebilde zu
tun ist, so fragen wir uns, bis zu welcher Gränze
dieses Princip der Gestaltung auf der andern Seite
aufrecht erhalten werden kann, wo es gilt, der vollen
Modellierung durch Schatten und Licht zu entsagen.
Ihre kräftigen Kontraste beschränkten, wie wir sahen,
die Darstellung der Figuren auf offene Haltungen
176
Die Reliefkunst
und freie , durch keine Überschneidungen gestörte
Ansichten des Ganzen, die selbst kontrastierende Be-
wegung der korrespondierenden Glieder eines Leibes,
den sogenannten Kontrapost, nicht leicht verträgt.
Der Ubertritt aus den Bedingungen im Freien zu
der einseitigen oder durch Reflexe zerstreuteren
Beleuchtung im Innenraum kann ebenso dazu bei-
tragen, auf die volle Rundung zu verzichten.
Da begegnen wir zunächst einer Übergangs-
klasse, die zwischen dem Hochrelief und dem Flach-
relief in der Mitte liegt, und deshalb von den
Italienern ,,mezzo rilievo" genannt wird. Wir können
es , dem Gesichtspunkt , den wir verfolgen , ent-
sprechend , nach der andern Bedeutung des selben
Wortes, als Halbrelief bezeichnen, weil seine
charakteristische Eigenschaft darin besteht, dass es
die Hälfte des menschlichen Körpers, von der jedes-
maligen Schauseite bis an die Vertikalaxe, wieder-
giebt und für diese den natürlichen Eindruck zu er-
reichen sucht, so dass es sich zuweilen zu wirklicher
Übereinstimmung herausmodelliert. Die vordersten
Formen, die dem Beschauer am nächsten liegen,
erhalten auch hier die stärkste Erhebung, aber sie
lösen sich nirgends wie im Hochrelief zu freier
Rundung los. Noch immer kommt es dem Bildner
darauf an, die Gliederung der Formen in ihrem
Reichtum zu vermitteln ; aber die starken Kontraste
der Lichter und Schatten gleichen sich aus, und ihre
mildere Auseinandersetzung eignet sich besonders
für Innenräume mit seitlichem oder zerstreutem
Licht, die dem Hochrelief widerstreben.
Das Halbrelief
177
Dies Halbrelief pflegt auch bei Münzen,
Medaillen und geschnittenen Steinen angewandt zu
werden , wo es sich also um kleinen Mafsstab und
nähere Betrachtung handelt, solange der Beschauer
sie in die Hand nimmt, um sie zu begucken. Hin-
kommt die Beweglichkeit des Verhältnisses , die
zwischen ihm und dem Bildwerk eben durch die
wechselnde Verschiebung der Lage sich einstellt,
begünstigend hinzu, um die natürliche Beweglich-
keit der Oberfläche organischer Formen zu ge-
messen, wie sie im Spiel der zufälligen oder will-
kürlichen Beleuchtung zu erscheinen pflegt.
Und in der Tat, die Grundfläche wirkt immer
wie ein schimmerndes Medium, das uns die weitere
Form entzieht , um so entschiedener natürlich , je
mehr von der Fläche über und neben den Figuren
stehen bleibt. Im Verein mit der weichen fliessen-
den Ausgleichung der Formen für den darüber hin-
gleitenden Blick unsrer Augen vermag dieser Hinter-
grund, weiss oder gar blau getönt, vielleicht auch in
zarter Vergoldung, zum Luftraum zu werden, der
lichtdurchtränkt und duftig keine scharfe Durch-
schneidung der Raumaxen mehr erkennen lässt und
keine stereometrische Härte mehr duldet.
Noch einen weitern Schritt im Verzicht auf den
nahen Genuss der Schönheit organischer Formen
bedeutet das Basrelief, das die eingehendere Model-
lierung und innere Gliederung aufgiebt, indem es
die Schatten hier zu Gunsten des Umrisses aussen
unterdrückt. Indessen, diese Ableitung aus dem
Halbrelief entspricht sicher nicht der Entstehung des
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. 12
178
Die Reliefkunst
Flachreliefs, das von dieser raffinierteren Übergangs-
stufe grade weit entfernt liegt. Es kommt vielmehr
auf die andre Seite seines Charakters an, die es
der Tektonik nähert.
Das Flachrelief bewahrt das Wesen der
tektonischen Flächenschicht auch für seine künstle-
rische Existenz als bildliche Darstellung fast immer
in mafsgebender Stärke. Es empfängt die Abbilder
der lebendigen Geschöpfe ursprünglich nur zur Be-
lebung seiner Schauseite, wie jede sonstige Flächen-
ornamentik, als Zutat von sekundärer Bedeutung.
Auch die menschlichen Gestalten sind an sich nicht
mehr als die geläufigen Tier- und Pflanzenmotive,
ja als stereometrische und planimetrische Elemente,
die zur einfachsten, — von allen Gegenstandsvor-
stellungen vielleicht noch freien Rhythmisierung der
Flächendimension dienten. Ihre ästhetische Funktion
ist so lange gewiss nur die : den simultanen Ein-
druck der tektonischen Form in successive Auf-
fassung zu übertragen ; denn so allein vermögen wir
Menschen die starre, an sich aller Bewegung fremde
Raumgrösse zu ermessen, also auch die ,, Aus-
dehnung" — unsere Sprache übersetzt ja mit diesem
Wort schon die Ruhe in Tätigkeit — nachzufühlen,
an uns zu erleben. Es ist also eine Durchdringung
von Beharrung und Bewegung, die hier stattfindet,
wie in aller künstlerischen Behandlung. Aber im
tektonischen Körper will die Beharrung weit über-
wiegen. Es wird also der feste Bestand der Stein-,
Thon- oder Erzplatte nur an der Oberfläche ein
wenig aufgelockert. Nur wie ein Hauch des Lebens
Das Flachrelief
179
haftet die einfache Bemalung oder Zeichnung darauf;
etwas weiter dringen Einritzung und Auskerbung,
bis zur Gränze der ersten dünnen Flächenschicht,
wo wir von Basrelief reden. Der feste Charakter des
tektonischen Bestandes prägt sich auch in dieser
konservativsten aller Reliefarten aus , wo immer sie
zum plastischen Bildwerk ausgestaltet wird. Der
Künstler sucht die Einheit in dem massiven Volumen,
dessen Vorderseite er bearbeitet, selbst. Die reale
Fläche mit ihren zwei Dimensionen überwiegt ja so
stark. Sie repräsentiert den Raumkörper , aus dem
auch die Figuren sich nur wie leise Protuberanzen
hervorheben, die den Gesamteindruck der Ebene
kaum alterieren. Die dritte Dimension ist also nur
latent in dieser Masse , noch ungetrennt von den
beiden andern Ausdehnungen , vorhanden , und nur
das geringe Quantum, das zwischen der tektonischen
Fläche und der ideellen Parallelebene vorn liegt, das
niedrige Mafs der Erhebung, mit dem die Figuren
aus dem Grunde vorspringen, gehört dieser dritten
Richtung als wirklicher Spielraum, in dem sie ihre
Kraft versuchen kann.
So wird jede weitere Konsequenz der vollen
Körperlichkeit für die organischen Gebilde , sofern
sie nicht schon in der flächenhaften Erscheinung
ihrer Gesamtform gegeben liegt , von vorn herein
abgewiesen. Dem Umriss allein fällt die Aufgabe
zu, beim ersten Blick schon die zutreffende Gegen-
standsvorstellung zu erwecken. Das Höhenlot oder
doch die Wachstumsaxe bleibt das unentbehr-
lichste Wahrzeichen, das uns nicht vorenthalten
180
Die Relief kunst
werden darf, wo immer es gilt, Unsresgleichen
zu erkennen. Und die nämliche Richtungsaxe des
Wachstums brauchen wir bei den Tieren, bei
denen sie anders liegt, nämlich mit der Rich-
tungsaxe der Ortsbewegung zusammenfällt, wie beim
Vierfüssler und beim Fisch. Bis an das Rückgrat
muss der Körper des Löwen erscheinen, wenn die
Auffassung des organischen Gewächses die Haupt-
sache bleiben soll. Um diese Mittelaxe des Wachs-
tums reihen sich die Paare homologer Glieder. Sie
wenigstens muss der Umriss bieten, den das flache
Relief zu seinem wesentlichsten Mittel der Dar-
stellung ausbildet. Von der Wachstumsaxe geht des-
halb auch die Körperauffassung des Bildners wie des
Beschauers aus und folgt der Entfaltung von der
Grundfläche bis an die vordere Parallelebene , mit
der wir die Schauseite wie mit einer Glasplatte be-
deckt denken mögen. Sie gewinnt den Schein der
Rundung, weil die Erhebung aller vor der Mittelaxe
gelegenen Körperteile, wie der Schultern, der Arme
oder was sonst dem Betrachter am nächsten steht,
grade die geringste bleibt. Die Andeutung dieser
inneren Gliederung begnügt sich mit den einfachsten
Hauptsachen, unterdrückt, wie gesagt, die Schatten
zum grossen Teil, um den äusseren auf der Grund-
fläche keine Konkurrenz zu machen ; denn diese sind
die unerlässliche Voraussetzung der Deutlichkeit.
Um den Umriss auch auf hellem Grunde noch hin-
reichend sich abheben zu lassen, wird er so be-
handelt , dass die Erhebung unvermittelt und senk-
recht gegen den Grund abtällt, und wo auch dieses
Das Flachrelief
181
nicht hinreicht , wird sie wol gar unterschnitten,
so dass eine kräftige Schattenlinie den Rand der
Form begleitet. Grade der Verzicht auf genauere
Detaillierung im Innern sichert auch dem Umriss den
Schein der Rundung.
Mit diesem Verzicht gewinnt aber das Flach-
relief ausserdem einen Zuwachs an Körperhaltungen
und Bewegungsmotiven, die dem Hochrelief versagt
blieben. Der Kontrapost z. B. und mancherlei Ver-
kürzungen oder Überschneidungen lassen sich mit
voller Klarheit wiedergeben, und mit ihrer Hülfe
eröffnet sich ein Reichtum von Beziehungen, der mit
dem starken Schattenschlag des höheren Reliefs
versucht nur Verwirrung zerrissener Formen dar-
bieten würde.
Freilich die tektonische Herkunft und Zurück-
haltung des Flachreliefs erhält auch in der Kompo-
sition lange eine ausgesprochene Neigung zu strenger
Gesetzlichkeit. Sie versucht wol gar mit den
Gliederungsprincipien der regelmäfsigen oder alter-
nierenden Reihung und der symmetrischen Grup-
pierung der Körper im schlichten Nebeneinander
auszukommen, d. h. sie begnügt sich mit einer
einzigen Figurenreihe und vermeidet jede Anwand-
lung zu weiterer Tiefenbewegung. Aber die histo-
rische Entwicklung im engen Bunde mit der Tek-
tonik und der Baukunst selbst , in denen diese Ge-
setze walten , hat auch die plastische Behandlung
und die Komposition des Flachreliefs weiter ge-
trieben, wie es schon das unvergleichliche Meister-
stück, der P a r t h e n o n f r i e s , in der verschiedenen
182
Die Reliefkunst
Ökonomie vereinzelter oder zusammengeschobener
Figuren je nach dem Bestimmungsort am Bauwerk
erkennen lässt.
Ein andrer Ansatzpunkt für weitere Abwei-
chungen der Reliefkunst liegt sowol im Flachrelief,
wie im Hochrelief und deren Mittelglied, dem Halb-
relief, an der Stelle, wo die Grundfläche sich dem
Fortschreiten der Tiefenbewegung, die unser Auge
und unsre Vorstellung zu vollziehen trachten, ent-
gegenstellt. Diese Gränze zwischen der durchgestal-
teten Schicht und dem unbezeichneten tektonischen
Rückhalt weiter hinauszuschieben, ist ein natürlicher
Antrieb , der sich bei jedem der bisher erwähnten
Gestaltungsgrundsätze einstellen mag. Wie nahe
der Drang nach dem Hintereinander mehrerer Er-
scheinungen liegt, selbst im Flachrelief, lehrt ein
Blick auf das soeben genannte Beispiel vom Par-
thenon. Bei der Höhe, in der dieser Zug der
Panathenäen die Cella des Tempels schmückte, und
dem verhältnismäfsig nahen Standort der Betrachter
im Peristyl, hat sich von selbst ergeben, die Höhe
des Frieses statt der Tiefe auszubeuten : die Reiter
besonders steigen, wo die Bewegung staut, zum Teil
übereinander hinaus. Unter andern Verhältnissen
muss ebenso noch die Grundfläche selber für eine
weitere Figurenschicht herhalten, aber schon wirk-
lich hinter der vorderen Reihe. Dies kann nur da-
durch erreicht werden, dass man zwei Principien der
Gestaltung, einen stärkeren und einen schwächeren
Mafsstab der Erhebung, mit einander verbindet, wie
an den Triumphalreliefs im Titusbogen, die für die
Mischung der Gestaltungsprincipe
183
vorübergehende Betrachtung beim Durchschreiten
des Tores gedacht, auch nur unter diesen Be-
dingungen der successiven Auffassung die volle
Lebendigkeit und plastische Berechtigung gewinnen.
In späteren Versuchen kühnster Art steigert sich die
Verbindung wol zu drei verschiedenen Abstufungen
des Hoch-, Halb- und Flachreliefs, freilich stets mit
dem Zwang , die Höhendimension des Grundes an
Stelle der Tiefe mitfungieren zu lassen. Wenn es
auf einen gemeinsamen Namen für diese Kombina-
tionen ankäme , so würde sich wol die Bezeichnung
als gemischtes Relief am natürlichsten anbieten.
Denn sie bedeuten allesamt keine einheitliche Lösung
im Sinne eines neuen Gestaltungsprincipes und ver-
tragen deshalb fast nie eine längere eingehende Be-
trachtung, ja nicht einmal ein dauerndes Verweilen
auf dem günstigsten Standpunkt, wo die wirksame
Erscheinung doch beim ersten Anblick machtvoll
genug überraschen mag.
Schon der Aufbau einer Gruppe von Körpern,
deren Zusammenhang auch nach der dritten Dimen-
sion sich aussprechen soll , lässt ohne locker hinzu-
geordnete Lückenbüsser eben unausgefüllte Lücken
offen, wo der Raum als solcher mit seinem eigenen
Anspruch hineinschaut. Die reichen Motive der
Verbindung und Durcheinanderschlingung , die den
sichtbaren Zusammenhang organischer Geschöpfe vor-
wiegend im Nebeneinander von einem Ende bis zum
andern verfolgen, sind schnell erschöpft. Es wird
also leicht zu Beziehungen und Verknüpfungen
innerer Art vorgeschritten, die sich nicht völlig,
184
Die Reliefkunst
sondern nur teilweise veranschaulichen lassen, also
der ergänzenden Nachhülfe der Phantasie bedürfen.
Damit aber wird die an sich schon successive Auf-
fassung im Verfolg des durchgehenden Zuges noch
transitorischer , ja sozusagen kryptopoetisch. Nicht
allein Verkürzungen und Überschneidungen rechnen
mit einer Stärke der dritten Dimension, die sich
nicht im Relief selber bewährt, sondern auch der
Kausalnexus giebt uns Anweisungen auf eine da-
hinter liegende Welt, die wir nicht gewahren. Das
Alles drängt weiter und findet eine gemeinsame
Möglichkeit der Befriedigung erst dann , wenn die
Einheit nicht mehr in der Körpervorstellung, im
Sinne des plastischen Schaffens gesucht wird , son-
dern in der Raumvorstellung, nach Art der Malerei.
So entsteht die dritte Hauptklasse des Reliefs , die
wir aufgestellt haben :
Das T i e f r e 1 i e f ist es , das die künstlerische
Einheit von den Körpern auf den Raum verlegt und
diesem räumlichen Zusammenhang die tonangebende
Rolle im Ganzen überlässt. Wenn aber die Einheit
nicht in der ersten und zweiten Dimension, die
schon die Fläche bietet, sondern erst in der dritten
erreicht werden kann und soll, so muss diese Tiefen-
dimension mächtiger werden, als sie im Gestaltungs-
raum der Reliefschicht bisher in allen Fällen ge-
wesen ist. Nicht mehr das reale Tiefenmafs der
Körper ist der entscheidende Faktor, noch der
Körperschein im Nebeneinander einer gemeinsamen
Flächenschicht, sondern eine Mehrzahl von solchen
Gründen schiebt sich hintereinander, die obere Luft-
Das Tiefrelief
185
region über den Köpfen der Figuren gewinnt einen
Zuwachs, der den Einfluss einer unbezeichneten
Region der weitern Welt fühlen lässt, und erst hinten
im Centraipunkt, in dem alle Parallellinien nach der
Tiefe zu zusammenzugehen scheinen , d. h. in der
letzten Konsequenz des perspektivischen Raum-
scheines wird auch die greifbare Einheit wieder er-
reicht. Damit ergiebt sich als Gesetz dieser Klasse
die sogenannte Reliefperspektive, die den natür-
lichen Bestand organischer Körper zurechtdrückt, ver-
kürzt und auflöst nach dem Bedürfnis des optischen
Scheines. Die ganze Rechnung nähert sich also,
soweit dies irgend im plastischen Material erreichbar
wird, dem Bildraum der Malerei, und die malerische
Aufgabe ist es , die dies Relief zu lösen versucht.
Und zwar kann hier , da es sich nicht wie bei den
Anfängen der Malerei um eine Projektion auf die
Fläche handelt, sondern um einen Hohlraum, in dem
körperliche Elemente nach Art der Koulissen auf
unsrer Bühne und mehr oder minder flachgequetschte
Figuren dazwischen disponiert sind , auch für den
Beschauer nur um einen festen und entfernten Stand-
punkt handeln , der noch enger als unser Theater
jede seitliche Verschiebung ausschliesst, weil sie so-
fort einen Teil der illusionären Wirkung aufhebt.
Diese Klasse des Reliefs muss also nach dem Grund-
princip, das darin waltet, als das speciflsch male-
rische bezeichnet werden, während bei andern
immer nur von einzelnen „malerischen Wirkungen"
oder in die andersartige Gesamtrechnung aufgenom-
menen Kunstmitteln der Malerei die Rede sein darf.
186
Die Relief kunst
Hier stellen sich auch im Fortgang der histo-
rischen Entwicklung alle Folgerungen ein, die sich
unter der Herrschaft der Raumperspektive ebenso für
die körperlichen Bestandteile ergeben : die Ver-
kleinerung ihres Mafsstabes schon im Vordergrund,
die Gleichstellung der organischen Geschöpfe mit
den Baugliedern der Architektur oder mit andern
Gegenständen, die zur Bezeichnung des Schauplatzes,
der umgebenden Welt dienen. Nur dieses Tief-
relief entspricht also allen Bedingungen und allen
Anwartschaften des Fernbildes, wie es unser Seh-
feld eröffnen mag. *) Aber es setzt sich im Inter-
esse der Bildvorstellung" auch über die letzten
Rücksichten auf annähernde Übereinstimmung mit
der Körperform in natura, besonders in der Dicke,
vollends hinweg. Ebendeshalb haben alle Verehrer
des klassischen Reliefs der Griechen stets Einspruch
dagegen erhoben , und auch Hildebrand sollte wol
vor dieser Konsequenz seines Princips zurück-
schrecken.
Eine ganze Entstehungsgeschichte dieses male-
rischen Tiefreliefs aus verschiedenen Anläufen stellt
uns die Reihe von zehn ,,Erzbildern" an der Porta
del Paradiso von Ghiberti am Baptisterium zu Florenz
vor Augen. Ein weiteres lehrreiches Beispiel sind
die Kanzelreliefs von Benedetto da Majano, die wir
sogleich eingangs erwähnten. Diesseits der Alpen
i) Ob diese Art des Tiefreliefs aber die Forderungen erfüllt,
die Hildebrand mit der „einheitlichen Tiefenvorstellung" in der
Reliefanschauung vom entfernten Standpunkt geleistet glaubt (S. 67),
das ist eine andre Frage.
Perspektivisches Flachrelief
187
mag auf das typisch malerische Verfahren am Grab-
mal Maximilians in Innsbruck hingewiesen werden,
das dem ganzen Norden geläufig wird. Die folgenden
Jahrhunderte bis zum Ausgang des Rokoko sind über-
reich an den mannichfaltigsten Leistungen solcher Art.
Wie wir aber ein ausgeführtes Gemälde in der
Zeichnung gleichsam auf einen linearen Auszug zu
reducieren versuchen, so kann das Grundprincip des
Tiefreliefs auch auf die Bedingungen des Flach-
reliefs eingeschränkt werden, um auch hier die
malerische Anschauung, bei der die Raumeinheit
überwiegt , durchzuführen. So entsteht eine Misch-
art zwischen den beiden äussersten Extremen, die
wir als „perspektivisches Flachrelief" kurz-
weg bezeichnen. Donatello hat in seiner Schlüssel-
übergabe (im South Kensington Museum zu London)
ein Beispiel geliefert, das über den malerischen Cha-
rakter der Intention keinen Zweifel lässt. Seine Ge-
hülfen in Padua treiben die perspektivische Kon-
struktion noch weiter.1) In der ganzen Reliefkunst
des Quattrocento spielt es eine wichtige Rolle. Das
allerflachste Relief nähert sich dann selbstverständ-
lich im Grunde der Gravierung und Zeichnung, be-
sonders der einritzenden Vorbereitung damaliger
Fresken und der Silberstiftarbeit auf farbig grundier-
tem Papier in ihren Studien, — d. h. auch den
technischen Verfahrungsweisen der Malerei als Kunst.
i) Vgl. Schmarsow, Donatello, Breslau 1886, p. 16. 27. 33 fr.
37. 41. 49. M. Semrau, Donatellos Kanzeln in S. Lorenzo. Bres-
lau 1891 , besonders das aus unsern Seminarstudien erwachsene
Kapitel über Donatellos Reliefkunst.
VII.
RELIEF ANSCHAUUNG UND DEKORATION
enn die Unterscheidung dreier Hauptarten von
Relief, die wir zugleich im Hinblick auf Misch-
arten und Übergangsstufen von häufig nicht
minder ausgebreiteter Verwendung entwickelt haben,
im künstlerischen Charakter jeder Einzelnen begrün-
det war und in der Lösung des Problems einen
Fortschritt vom Tektonischen zum echt Plastischen
und von da weiter zum Malerischen erkennen Hess,
den die normative Ästhetik sich veranlasst fühlen
könnte, sogleich als Aufstieg zur Höhe und Abstieg zu
bezeichnen, und gewiss, so lange sie den Standpunkt
der Bildner ei als mafsgebend festhält, mit einigem
Recht, — so erhebt sich für den Weiterblickenden
doch die Frage, ob die praktische Verwendung dieser
verschiedenen Reliefarten an der Hand geschichtlicher
Beispiele und theoretischer Erwägung dieser Tatsachen
nicht auch noch zur Erklärung beizutragen vermöge.
Tektonische Wandgliederung
189
Wurden wir doch beim Aufsuchen der Übergangs-
region zwischen der kubischen Nachbarschaft des
menschlichen Subjekts hier und der Distanzschicht
des eigentlichen Fernbildes dort, wo die Reliefanschau-
ung 'sich von selbst, als Übergang zwischen Rund-
plastik und Flächenbild ergab, schon auf solche
praktischen Beispiele, wie den Rahmen des Bildes,
geführt.
Wir fanden den Rahmen reliefmässig profiliert
entweder nach innen gegen die Bildfläche, oder nach
aussen gegen die Wandfläche schräg verlaufend ; wir
fanden ihn aber auch von beiden Flächen ansteigend
mit einem First in der Mitte überhöht; wir fanden
ihn endlich als glatte Leiste nur als Gränze, mehr
als andersfarbenen Intervall, denn als selbständiges
Glied, in der gleichmäfsig durchlaufenden Fläche
behandelt. Jedesmal unter andern Bedingungen; und
nur die Relief behandlung, die bis zur vollen Aus-
rundung vortretender Säulen auf den Seiten, wie
Sockel unten und Sims oben, fortschreiten mochte,
haben wir verfolgt. Die Analogie mit den tektoni-
schen Gliedern des Raumgebildes selbst leuchtet ein
und damit der Zusammenhang aller dieser Möglich-
keiten mit der Behandlung der Dekoration des Innen-
raumes oder des Aussenbaues, wie die Architektur
als Kunst sie in ihrer Rechnung verwertet,
Es ist die Frage, wie weit die Reliefanschauung
sich auf die Ausgestaltung des Raumgebildes im Innern
oder des Raumkörpers nach Aussen übertragen muss
oder darf, in deren Zusammenhang wir auch die Frage
nach der Wahl dieser oder jener Reliefart und damit
190
Reliefanschauung und Dekoration
zugleich die ebenfalls berührte Frage nach der An-
bringung rundplastischer Werke, Statuen oder Gruppen
an der Wand, zu beantworten hätten.
Das Kriterium, nach dem wir zu befinden haben,
ist bereits aufgestellt, wo es galt den Ursprung und
das Wesen der Reliefvorstellung selber zu erklären.
Es ist in der Natur des menschlichen Sehraumes
als einer innern Kugelfläche gegeben. Diese hat
sich mit der regelmäfsigen stereometrischen Form des
architektonischen Raumgebildes, dessen Wände als
senkrechte, dessen Boden und Decke als horizontale
Ebenen rechtwinklig aufeinander stossen, sei es als
Ganzes im Innern, oder gegenüber jeder Aussenansicht
eines Bauwerks, wenigstens nach einer Seite hin künst-
lerisch auseinander zu setzen. Gewisse Bauwerke, deren
Innenraum sich der Form der Sehsphäre annähert, so-
weit es die Statik auf dem Erdboden als notwendiger
Unterlage gestattet, wie das Pantheon und verwandte
Kuppelbauten, nehmen diesen Ausgleich in den Bau-
gedanken selber auf und geben somit eine architek-
tonische Lösung des Problems, die gewisse Zeiten
als Ideal beherrscht. Im Grossen und Ganzen der
geschichtlichen Entwicklung sind sie jedoch Aus-
nahmen, und die Auseinandersetzung des natürlichen
Sehraums mit den rechtwinkligen stereometrischen
Raumformen der Architektur bleibt die Regel, die
wir ins Auge zu fassen haben. Jene Centraibauten
negieren sogar, da sie fast nie weiträumig genug
sein können, eine Tatsache, wo Sehraum und Raum-
form sonst übereinstimmen, nämlich die Auffassung
des Sehfeldes, das von einer gewissen Distanz an
Sehraum und Bauwerk
191
nicht mehr als Ausschnitt einer innern Kugelfläche,
d. h. als Kalotte, in die wir hineinschauen, sondern
als senkrechte Ebene, die vor uns steht, genommen
wird. Zwischen den vier senkrechten Ebenen des
Innenraumes ringsum, wie zwischen ihnen und den
horizontalen Ebenen des Bodens unten und der Decke
oben, liegen indess, wie wir besprochen haben, die
Übergangskurven des Sehraums, die sich für unser
Gefühl auch gegenüber der rechtwinkligen Form des
Aufbaues geltend machen, und in der künstlerischen
Ausgestaltung dieser Zonen ihr Recht behaupten.
Dies Gefühl wird in unsern gewohnten Raumverhält-
nissen, besonders in Wohnungen grade in der untern
Region zwischen Fussboden und Wand sehr ein-
geschränkt, und zwar durch die Höhenlage des Fuss-
bodens zu unserm Augenpaar, so dass nur der oberste
Teil der Kurvatur gegen das Sehfeld ansteigt. In
seiner ganzen Stärke aber meldet es sich in weiten
hohen Räumen, zumal wenn wir in deren Mitte ein
Podium besteigen oder eine Kanzel, die den Fuss-
boden für unser Schauen ringsum tiefer legt als ge-
wöhnlich, die Lage unsres Augenpaars dagegen
höher , dem Centrum des Axensystemes der Räum-
lichkeit näher rückt. Ähnlich ist es bei offenen
Treppenanlagen der Fall , bei deren Anstieg etwa
ein Podest die Überschau nach unten frei legt.
Eben dieses Beispiel selbst giebt die erste starke
Bewährung unsres Princips in dem nach unten vor-
springenden, nach oben zurückweichenden Stufen-
lager , etwa bei der Frontansicht eines Tempels,
oder im grösseren Mafsstab beim Aufgang zur Akro-
192 Reliefanschauung und Dekoration
polis, zum Kapitol, zur Walhalla. Die Säulen auf
der letzten Stufe, dem Stylobat selber, sei es mit
Fussplatte und Wulst oder ohne sie in einfacher
Ausladung des dorischen Schaftes nach unten, —
sie beweisen, dass hier die Kurvatur des Übergangs
vor dem entschieden senkrechten Aufsteigen zur Höhe
wirksam genug waltet. Wo statt der Säulen, dieser
eminent plastischen voll ausgerundeten Bauglieder,
dagegen die massive Mauer aufsteigt, wie am Unterbau
des Mausoleums von Halikarnass oder der Altarstätte
von Pergamon, da bietet die Wandfläche, wol gar durch
Stufengang daneben erstrecht herausgefordert, eine
Zone des Anlaufs für unsern Blick, der in vorquellen-
den Formen nach unten, in zurückweichenden nach
oben seinen bildnerischen Ausdruck sucht, und ent-
weder in analogen Kurven tektonischer Profile oder
vollends in plastischer Gestaltung befriedigt wird.
Jemehr wir durch die leise Neigung unsres Augen-
paares nach abwärts dazu kommen, den Erscheinungen
dieser Sockelregion sozusagen auf den Kopf zu sehen,
da nähert sich dieses Sehen der abtastenden Prüfung
ihres Volumens , die das Vorhandensein dreidimen-
sionaler Körper ausser uns konstatiert. „Vorhanden
sein" heisst im ursprünglichsten Sinne unsrer Mutter-
sprache ja ,,vor Händen sein", d. h. in greifbarer
Nähe, im Umkreis der Tastregion.
Grade im untersten Streifen des monumentalen
Raumkörpers dicht über dem Fussboden liegt also
ein Bereich für die Gestaltung, wo ihr die mächtig-
sten Associationen mit den Erfahrungen unsres eigenen
Leibes entgegenkommen, wo überall die Analogieen
Sockelregion — Hochrelief
193
leiblicher Berührung hervordrängen, d. h. für uns die
natürliche Disposition zu vollplastischer Auffassung
entsteht. Tektonik und Plastik aber setzen sich klar
auseinander , indem der Erstem die stereometrische
Form des Postaments bis zur Ausladung in Stufen-
absätzen zufällt, der Letztern aber die Darstellung
organischer Körper selbst. Und so bestimmt sich
der Charakter des untersten Sockelreliefs als ein
besonders starkes Hochrelief, in dem der For-
mendrang sich noch elementarer und urwüchsiger
regen darf als in den höheren Regionen , wo auch
die reinem Formen wohnen. Je tiefer die Plastik
herabgreift, desto mehr quellen ihre Gebilde nach
unten vor — ■ nach Analogie des ablaufenden tek-
tonischen Profils, das an ihre Stelle treten müsste.
Da ist es denn ein erdgeborenes Geschlecht, das
sich wuchtiger und massiger noch daherwälzt , als
der leichtfüssigere Menschensohn auf den heiteren
Gefilden , wo die Ordnung der Olympischen sich
ausbreitet. Der Titanenkampf am Unterbau von
Pergamon ist das schlagende Beispiel für unser
ästhetisches Verhältnis zu diesem untern Bezirk,
das natürlich erst zu einer Zeit so klar zum Austrag
kommen konnte, in der die Plastik sich frei zu be-
wegen, nicht nur dem strengen Gesetz der Archi-
tektur sich zu bequemen gelernt hatte, ja gelegent-
lich auch aufgelegt war, der altern Schwester ihren
Boden abzuringen für den plastischen Drang nach
Organisation.
Ringsum am Anstieg eines cylindrischen Bau-
werks, turmartig, oder bei weiterer Reduktion des
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. 13
194
Reliefanschauung und Dekoration
Hohlraums als einzeln aufragende Ehrensäule, wäre
die nämliche Behandlung am Platze, nur unter be-
stimmender Herrschaft natürlich des architektonischen
Gesamtprofils.
Denken wir uns aber die selbe Reliefart in das
Innere einer Tempelcella, eines Säles versetzt, so
wird sie sich sofort, bei nicht sehr weiten Dimen-
sionen als Verengerung des untern Spielraums er-
weisen. Sie dringt dem menschlichen Subjekt so
mächtig mit dem Anspruch gleichorganisierter Körper
entgegen, dass es sich beunruhigt fühlt, als rückten
diese Wesen ihm auf den Leib. So verbietet es sich,
je mehr der Raum zum dauernden Aufenthalte dient,
und je mehr andrerseits die besondern Bedingungen
der Beleuchtung aus dieser untern Region auch eine
dunklere Region machen, in der die Ausgestaltung
nur als einheitliche Masse zu wirken vermöchte. So
hat gegossene Erzarbeit noch länger Berechtigung
als die Bildhauerei, in Marmor gar, kann aber durch
monochrome, vielleicht direkt bronzefarbene Malerei
ersetzt werden, da sie in der Gesamtrechnung doch
nur dekorativen Wert besitzt.
So steigt die Reliefanschauung im Innern über
tektonischem Sockel etwas mehr in die Höhe und
gewinnt hier kurz vor dem Übergang in das Sehfeld
die bequem sichtbare, aber nicht mehr angetastete
Zone der eigensten Berechtigung, die wir als Ursprungs-
bereich anerkannt haben. Nur die Bedingtheit der
Beleuchtung zwingt im Innenraum das Hochrelief
auf diese Stelle zu verzichten, die es am Aussenbau
so glücklich behauptet. Es ist die Höhe der attischen
Innenraum — Mezzorilievo
195
Grabstelen mit ihren vollausgerundeten Figuren —
vor einer Rückwand, frei oder auch von beiden Seiten
durch schmale Wandstücke eingeschlossen , — die
noch den Bedingungen der plastischen Gruppe ganz
nahe stehen. Etwas höher hinauf gewinnt die Tendenz
zur Ausbreitung in der Fläche schon mehr die Ober-
hand. Wo aber im Innern eines Gemaches seitliche
Lichtzufuhr die Schlagschatten der ersten Figuren
am Fenster auf die Nachbarn wirft , und wol gar
weiter in der Reihe, da muss schon das Hochrelief
verschwinden und wird durch das nächstverwandte,
das Halbrelief, ersetzt.
In der Tat gewinnt an dieser Stelle das Mezzo-
rilievo seine eigentümlichste Ausbildung, und zwar
in beträchtlichem Umfang. Es eignet sich vorzüglich
für den Innenraum durch die intimste Eigenschaft
seines Wesens, da es nämlich vom tektonischen
Grunde aus, in dem die Höhenaxen seiner Figuren
liegen, sich plastisch entfaltet, wie im leisen Hervor-
schieben der organischen Gestalt, die sich gegen die
vordere Parallelebene , wie gegen eine Glasfläche
drängt, die ihrerseits als Gränze der obersten und
nur noch schwächsten Erhebung den Charakter der
Wand als Fläche oder des darüber hin sich aus-
breitenden Sehfeldes aufrecht erhält. — Am Aussen-
bau dagegen räumt ihm das Hochrelief sein natür-
liches Vorzugsrecht, in dieser Region unter freiem
Himmel zu gedeihen, nur da ein, wo es gilt, den
architektonischen Gesamtumriss nicht durch Aus-
ladung und Auflockerung zu beeinträchtigen, sondern
ihn am ganzen Bauwerk geschlossen zusammenzu-
13*
196
Relief an schauung und Dekoration
halten. So z. B. am choragischen Monument des
Lysikrates und an Ehrensäulen, wo man darauf ver-
fallen, sie oberhalb des Sockels und der Basis noch
figürlich zu schmücken, oder an festen Marmorvasen,
wo ähnliche Bedingungen vorhanden sind.
Je mehr aber in dieser Höhe, die wir prüfend
mustern, der Charakter der tektonischen Fläche be-
wahrt wird, also die Wand in durchgehender Eben-
heit sich ausbreitet , desto stärker macht sich an
dem Ende des Sehfeldes links und rechts, oder gar
in den Ecken des Sales , wo die Wände aneinander
stossen, dies bewegliche Wesen der überleitenden
Kurvatur unseres sphärischen Sehraums bemerkbar.
Es ist, als ob die Schärfe des architektonischen Ge-
setzes, die diese Stelle schweifender Bewegung im
rechten Winkel einschliesst , grade den Drang nach
Rundung und Schwellung organischer Formen her-
vortriebe. Hier treten nicht nur die Pfeiler als Ein-
fassung der Wandflächen und als Träger des hori-
zontalen Gebälks gern sichtbar heraus , sondern
nehmen zu zweit wol gar die volle Säule in ihre
Mitte, so dass sie, gleichwie die Genossin am andern
Ende der Wand gegenüber, als kräftigste plastische
Bildung den Winkel erfüllt. Und wo die tektonische
Gliederung des Architekten nicht zu solchem Grade
plastischer Organisation des Innenraums vorgeht, da
ersieht sich der Bildhauer den günstigen Platz für
eine Statue oder gar eine Gruppe, je nach der Breite,
zu der er sich im Verhältnis zu den beiden an-
stossenden Wänden hervorwagen darf. Sei dies Bild-
werk aber auf eigenem Sockel nur in die Ecke ge-
Vor der Wand oder in der Ecke
197
schoben oder mit Hülfe des Baumeisters durch eine
Nische mit den Wänden vermittelt , immer spielt
der Schattenraum für die Wirkung mit und verschafft
dem figürlichen Wesen darin eine ziemlich selbstän-
dige Existenz und Bedeutung. Das liegt nur an dieser
Stelle unseres Sehraums , in dessen Natur wir die
Erklärung gesucht haben, wie wir uns sofort über-
zeugen , wenn wir dasselbe Bildwerk vor die Mitte
einer Wand aufstellen. Sofort wirkt es einerseits
mehr als tektonisches Mal, indem es die Beziehung
zum Axensystem des Raumes erhält und körperlich
signalisiert ; andrerseits aber fordert es reliefmäfsige
Ausgleichung mit der tektonischen Fläche, büsst also
an selbständigem Wert ein, indem es mit Baugliedern
in einen Rang tritt, die sich dem baulichen Zu-
sammenhang einordnen, also notwendig zum deko-
rativen Faktor herabsinken, — in eine Reihe mit
Wandsäulen, Pilastern, seitlichen Rahmenstücken
und dergleichen, d. h. als Teil von einer Gesamt-
heit abhängig werden.
Damit kommen wir zu den Cäsuren und Inter-
vallen, die das Sehfeld, wo seine Breitenausdehnung zu
gross erscheint, in sich zerteilen und in eine Reihe von
mehr oder minder gleichberechtigten Ausschnitten
auflösen.
Wie aber kommen wir dazu? — Wir nähern
uns bei der Betrachtung der verschiedenen Höhen-
lagen des Raumes der Gränze, wo das menschliche Sub-
jekt sich vorwiegend nur noch als Augengeschöpf be-
währen kann. Ortsbewegung und Tastbewegungen be-
haupten nicht mehr den Vortritt, sondern die Gesetze
198
Reliefanschauung und Dekoration
unsres Sehapparates werden mafsgebend. Da stellt
sich bald eine Scheidung ein zwischen dem schwei-
fenden Blick, der jenen Körperbewegungen sich an-
zuschliessen vermochte, und dem ruhiger verweilen-
den Schauen , das sich von dieser Verbindung los-
zumachen im Stande wäre, sowie einmal die Mög-
lichkeit zum Gefühl gekommen. Erst wenn auch
der Beschauer selbst stillsteht , vollzieht sich die
Scheidung wirklich , je nachdem die relative Ruhe
oder die Bewegung in der rastlosen Tätigkeit des
Auges die Oberhand erhält oder das Ergebnis cha-
rakterisiert. Dem schweifenden Blick, dem wechseln-
den Standpunkt, dem entlang gleitenden Tastorgan
— wie der Hand, so des Auges — bleibt die Wand
und das Sehfeld darauf eine Fläche oder wenigstens
ein Zweidimensionales, dessen ebene Ausdehnung
alle etwaigen Protuberanzen überstimmt. Sowie der
Beschauer jedoch auf einem festen Standpunkt be-
harrt, macht sich auch die Neigung des Sehfeldes
bemerkbar, sich zur sphärischen Fläche einzurunden,
oder unser Auge fängt an, in die Tiefe zu streben,
d. h. auch auf die Ebene der Wand die Forderung
der dritten Dimension zu übertragen. Nun aber
giebt es in dem rechtwinkligen Raum , den wir als
Paradigma behandeln, bevorzugte Grundrichtungen,
in denen sich die Bewegung des menschlichen Sub-
jekts vollzieht, also auch bevorzugte Richtungsaxen
des vorwärtsschauenden Blickes , der in die Tiefe
dringt. Sind die vier Wände nahezu gleich , der
Grundriss also fast quadratisch, so sind die Mittel-
punkte der vier Wände gleich berechtigt und als
Schweifender und ruhiger Blick
199
fünfter kommt noch die Höhe über uns hinzu , die
sich zur Dominante aufzuschwingen vermag. Die
Diagonalen fungieren daneben ja schon für die Raum-
bildung entscheidend und bieten in dieser zum Voll-
zug der Tiefe Gelegenheit. Sind die Seiten des
Planes ungleich , der Raum ein ausgesprochenes
Oblongum , so herrscht auch die längste Richtungs-
axe vor und wird ohne Weiteres als Tiefe dieses
Raumes angesehen. Dann sind ihre Endpunkte, in
der Mitte der Eingangs- und der Schlusswand also
die Hauptstellen , während an den Langseiten die
transitorische Betrachtung des entlangwandelnden
Subjektes vorwaltet und nur in der Mitte noch ein
Ruhepunkt, hüben und drüben, von geringerm Werte
sich darbietet, der nur durch besondere Vorkehrungen,
die zum Verweilen auffordern, gesteigert werden
kann. So scheiden sich in dieser ganzen Region des
Sehfeldes ringsum die Stellen simultaner von denen
successiver Auffassung, und die Diagonalen in die
Winkel des Raumes hinein stehen dazwischen wie
Intervalle , in denen der Aufbau selber sich aus-
spricht.
Stellt sich also, wie wir vorhin versucht, in der
Mitte der Schlusswand, grade in der Richtung des
stärksten Tiefenvollzuges für unsern Blick, eine
Statue dar, so muss sie im Bunde mit der Baukunst,
die den Raum nach diesem Axensystem geschaffen,
zum Widerhalt gegen den Anspruch an weitere Aus-
dehnung der dritten Dimension gefestigt werden.
Sie muss als Mal ihm Halt gebieten wie die Wand.
Schieben wir sie wieder bei Seite oder vollends in
200 Relief anschauung und Dekoration
die Ecke, wo sie viel selbständiger auftritt, dann
zeigt sich sofort , dass das leere Wandfeld geeignet
ist, kraft des Tiefblickes zum raumöffnenden Faktor
zu werden, d. h. sich als Fenster ins Freie oder in
einen Nachbarraum durchbrechen oder wenigstens
zur Nische erweitern lässt. Das ist auch ein Platz
für ein Gemälde , das den Bildraum im Sinne
eines eigenen Raumganzen entwickelt , oder für ein
Relief — und zwar ohne Zweifel für das Tiefrelief
mit der selben Eigenschaft der Raumentfaltung, ja
der Perspektive. Die nächsten Wandflächen zu
beiden Seiten dieses Mittelstückes etwa, entsprechen
der örtlichen Voraussetzung schon nicht mehr so
vollauf, werden besser nicht im selben Sinne be-
handelt, ob gemalt oder gemeisselt. Die Ökonomie
ihrer Gestaltung wird sich mehr auf den wandern-
den Gesichtspunkt verlassen, also zu den tektonischen
Reliefarten greifen , die sich der successiven Auf-
fassung darbieten , und selbst im Flachrelief mehr
dekorativen Charakter bewahren. So vollends an
den Langseiten, an denen wir vorüberschreiten, be-
sonders wenn ihre Ausdehnung nicht so gross ist,
dass sie in sich wieder stärkere Abwechslung zwischen
Ruhepunkten und Fortschritt nahe legt.
Als eigentliche Region der Bildanschauung für
die Malerei haben wir die nächsthöhere anzusehen
gelernt, wo das Hineinragen unsrer Tastempfindungen
und unsrer Ortsbewegung ganz aufhört bis auf An-
klänge, die unser aktives Schauen allzeit hervorruft.
In dieser freien Bilderzone ist auch kein Platz mehr
für Statuen, Gruppen und Reliefs von stärkerm
Bildregion — Flachrelief
201
Anspruch an unser Körpergefühl. Je nach der Stärke
der Organisation, die der Architekt dort hinaufführt,
erhält sich allerdings dieser Anspruch auch für die
Plastik ; wo aber die Architektur sich mit dem schlich-
ten Bestand ihrer Wände oder mit Pilastern von
schwachem Relief begnügt, da sinkt auch die organi-
sche Gestalt nach unserm Ebenbild, die an diese Stelle
tritt, zu dekorativer Durchschnittsbedeutung herab.
Dazwischen aber eröffnen sich die Bildflächen zu
freier Behandlung des Malers im Anschluss an den
Grad der Bestimmtheit, der durch die konstitutiven
Faktoren der Raumbildung oder schon vorhandene
Bestandteile der Dekoration noch verlangt wird.
Der Unterschied zwischen simultaner und successiver
Auffassung gleicht sich aus, und zwar je höher diese
Bilderzone hinaufreicht, desto entschiedener im Sinne
der gleichmäfsig umlaufenden Bewegung. Dass die
Malerei mit ihren Farben auch ein Zusammenwirken
des übrigen Raumganzen nach ihren Bedingungen
fordern mag, soll hier ausser Betracht bleiben, um
die Frage nicht zu komplicieren.
So sondert sich hier bei andrer Rechnung des
Gesamtschmuckes unmittelbar vor dem letzten zu-
sammenfassenden Gesims der Wand ein ebenso ver-
bindender Streifen für Reliefbehandlung aus. Es ist
der Fries. Gehört er den Höhenverhältnissen nach
vorwiegend zur Wand, so dass er als ihre oberste
Lage vor dem Abschluss betrachtet werden muss,
so kann auch nur das Flachrelief verwendet werden,
das diesen tektonischen Charakter der Flächeneinheit
aufrecht erhält. Gehört dieser Streifen jedoch schon
202 Reliefanschauung und Dekoration
zum bekrönenden Abschluss der Wand, nur als
breiteres Kranzgesims, so stellt sich die umgekehrte
Auffassung ein wie beim Fussgesims, aber ebenso
in eminent plastischem Sinne. Es ist die Übergangs-
kurve zwischen dem senkrechten Sehfeld der Wand
und dem horizontalen der Decke, die sich für unser
Augenpaar fühlbar macht, und zwar um so stärker,
je grössere Anstrengung der Auf blick kostet. Sofort
stellt sich die Beurteilung nach den Eigenschaften
vollerer Körperlichkeit ein, also auch ein stärkeres
Relief, ebenso wie im ausladenden, nach oben immer
stärker hervorspringenden Profil der Kranzgesimse
mit ihrer rein tektonischen Bildung.
In beiden Reliefarten herrscht aber für den Fries
die nämliche Kompositionsweise, nämlich der fort-
laufenden Reihung mit ihren Variationen. Nur wird
sich beim Flachrelief der einheitliche Verlauf ringsum
um so lieber zur Geltung bringen, als das Gesims
darüber nur schwach profiliert ist. Beim stärkern
Hochrelief dagegen wird, wo immer es auftritt, auch
eine vielfache Teilung nach Einzelkörpern überwiegen,
also auch entschiedenere Abteilung oder gar Grup-
pierung sich einstellen. Beim Erstem wirkt der
Zusammenhang in der Horizontale, beim Letztern
dagegen in der Vertikale der Gestalten selbst. Und
so findet sich nicht selten der Übergang auch archi-
tektonisch fortgesetzt, im Sinne aufwärts strebender
Kräfte, indem statt der flachen Decke die Wölbung
zwischen den Wänden vermittelt und selbständigen
Aufschwung gewinnt. Tritt auch an diesen Stellen
die Malerei statt der Plastik ein, so bringt sie doch
Fries — Kranzgesims — Decke
203
die nämliche Auffassung zum Ausdruck und durch-
dringt sich mit den nämlichen Gesetzen, sei es der
Dekoration , sei es der Raumbildung selber. Die
plastische Malerei wie die Stuckplastik des Barock
haben hierfür ja viele Beispiele geliefert, aber auch
in seiner Weiterbildung zum Rokoko das richtigere
ästhetische Gefühl betätigt , dass dort oben über
unsern Häuptern der plastische Drang leibhaftiger
Kreaturen gleich uns oder gar gigantische Verkör-
perungen elementarer Kraft nicht lange vertragen
werden, dass sie das menschliche Subjekt bedrängen,
ihm den Aufenthalt in solchem Raum, wenn nicht
verleiden, doch so lange zu stören drohen, bis es
sich gegen die Illusion abstumpft.
Die Decke schliesst ja zunächst nur das Reich
der Lüfte über uns von dem eigenen Raum, in dem
wir leben und weben, aus. Damit bestimmt sich
auch das Gewicht, das sie verträgt, sobald sie nicht
mehr als tektonisches Gefüge allein , sondern als
plastisches Gebilde oder als Bild gar weiter aus-
geführt werden soll. Die Tendenz zur Wölbung oder
gar Durchbrechung ist aber bezeichnend für die Kraft,
die die natürliche Form unsres Sehraumes auch hier
bewährt.
Wir begnügen uns mit diesem Fingerzeig für
die zahlreichen Versuche befriedigender Lösung ihres
künstlerischen Formproblems, die der geschichtliche
Fortschritt der beteiligten Künste selber aufweist.
Hier kommt es nur noch darauf an, einen verglei-
chenden Blick zum Aussenbau hinüber zu werfen,
zu dessen Bedingungen wir sofort zurückkehren,
204
Reliefanschauung und Dekoration
wenn wir die Decke wegdenken und den Innenraum
des Hypäthraltempels dafür ins Auge fassen.
Das von oben einfallende Licht bringt in dieser
Cella um so schärfer alle Besonderheiten solcher Be-
leuchtung mit sich, als der verhältnismäfsig geringe
Abstand der Langwände eine breitere Verteilung
zerstreuten Lichtes ausschliesst. Darin unterscheidet
sich wesentlich jede weiträumigere Anlage eines
Binnenhofes, die wir sonst zunächst damit vergleichen
müssten. Das Innere des Tempels ist als letztes
Stück des Processionsweges gedacht und ausgestattet,
deshalb nur eine schmale Strasse, und nur eine
Richtung herrschend. So kommen die Seiten links
und rechts, mögen die Umfassungsmauern der Cella
selbst oder Säulenstellungen davor dem Eintretenden
gezeigt werden , vollständig unter das Gesetz der
successiven Betrachtung, der Ortsbewegung auf das
Ziel hin, die sich rhythmisiert, und in dieser künst-
lerischen Fassung stehen bleibt. Nur der Anblick
des Zieles selber, der Gottheit an ihrem Platz, bietet
sich der simultanen Anschauung vom entferntem
Standpunkt, der sich aber mit jedem Schritt vorwärts
dem Gegenstande der Verehrung nähert, bis auch die-
ser ganz kubisch wirkt, wie das Säulenpaar zur Seite,
in leibhaftiger Gegenwart. Der Einfall des Lichtes
von oben aber gestattet, ja fordert ein starkes Hoch-
relief überall, wo die Organisation durch plastische
Bauglieder auch ins Innere getreten ist, während
ohne diese die Innenseite der Mauern natürlich den
tektonischen Charakter der Wand als einheitliche
Fläche bewahrt und darnach für die Horizontalstreifen
Binnenhof — Aussenbau
205
je nach ihrer Höhenlage die Gesetze walten lässt,
die wir aufgewiesen (vgl. z. B. Phigalia).
Der Binnenhof eines Palastes , eines Klosters
dagegen unterliegt andern Bedingungen, die seine
Anlage schon hervorbringt. Bei annähernd quadrati-
schem Grundriss ergiebt sich die Gleichberechtigung
aller Seiten, wie die Bedeutnng des Mittelpunktes,
der als Standpunkt des idealen Subjektes sich auch
praktisch geltend zu machen drängt. Erst beim
Überwiegen einer Axe wird auch diese Richtung
des Verkehres zum tonangebenden Faktor, dessen
Wirkung wir soeben berührt haben, während die
Eingangs- und die Ausgangsseite, die schmälern
des Rechtecks, den ruhigen Anblick gewähren.
Unter diesen Modifikationen gilt, was Hildebrand
für die Einigung zum Relief bild aufstellt, auch da,
wo unsres Erachtens nicht das ruhige Schauen vom
entfernten Standpunkt, sondern ein näheres Verhältnis
zum schweifenden Absehen und zur Körperbewegung
anzuerkennen wäre. ,,Bei allen Stilunterschieden,
welche die Architektur aufweist," schreibt er, ,, bleibt
ihre Aufgabe die, ihre Formen als Reliefwirkung zu
einigen. Der romanische Stil z. B. führt die Relief-
auffassung konsequent und selbständig durch, und
fasst jede Öffnung als ein Durchbrechen von hinter-
einander gereihten Raumschichten auf, welche er
durch die Profilierung der Öffnung zur Anschauung
bringt" (62). Damit aber hat er, wie sich von selbst
versteht, nur die tektonische Aufgabe der Durch-
gliederung des Baues oder der sogenannten „Organi-
sation" im Auge , deren Wesen im Charakter der
206 Reliefanschauung und Dekoration
Wand oder der Säulenreihe als Raumgränze gelegen
ist, mag auch unter dieser Hauptinstanz wieder von
raumschliessenden und raumöffnenden Faktoren im
engern Sinne die Rede sein. Wenn er aber behauptet,
durch diese Reliefbildung allein ,, erhalte der Bau
erst seine künstlerische Einheit", so vergisst er das
Wesen der Architektur als Schöpferin kubischer
Raumgebilde, und zwar in erster Linie für ein Subjekt,
das nicht Augengeschöpf allein ist , sondern als
dreidimensionaler Körper in die Raumform ein-
gehen will
Am Aussenbau des griechischen Tempels bewährt
sich wieder die natürliche Entstehung unsres Seh-
raumes unter Einfluss der Augenlage und ihres um-
gebenden Bewegungsapparates, indem wir von den
Säulenstämmcn zur Kapitellzone aufblicken. Ein
wenig höher noch begegnet die alternierende Reihe
der Metopen und Triglyphen oder der durchlaufende
Fries mit seinem rhythmisch aufgereihten Relief-
schmuck. Bei der Erstem waltet der vertikal
durchgreifende Zusammenhang zwischen Oben und
Unten, beim Letztern überwiegt die horizontale
Bindung; das hängt von der Gesamtökonomie der
beiden verschiedenen Stile allein ab. Unser Er-
klärungsprincip aber bewährt sich bei Beiden durch-
aus. Die Metopen haben starkes Hochrelief mit
ausgesprochener Neigung, nach oberhalb auszuladen;
dunkle Färbung des Grundes hebt das Gebilde erst-
i) Was die Stelle über den griechischen Tempel S. 81 betrifft,
vgl. Heft II dieser Beiträge S. 24 f.
Kapitellzone, Metopen und Triglyphen, Friese 207
recht. Im Gegensatz zu den senkrechten Spalten
der Triglyphen bevorzugt ihre Komposition die
Diagonalen; der Zug der organischen Formen ver-
mittelt also in die Breite. Der Fries des ionischen
Tempels hat einheitliches Licht, also flacheres Relief,
aber auch hier, als Gegenmittel gegen verdunkelnde
Schatten von oben her, den Kontrast der Farben
zwischen Grund und Figuren. Bei der Komposition
aber spielen ausser dem durchgehenden Gesamtzuge
der Bewegung von einem Ende zum andern grade
die Vertikalaxen aller dargestellten Körper die wich-
tigste Rolle; denn sie halten im Reich der Horizontal-
bindung grade den durchgreifenden Zusammenhang
zwischen Unten und Oben aufrecht.
Wie wichtig dieser Antagonismus des organischen
Zusammenhanges im Einzelkörper, den die Plastik
verfolgt, und des architektonischen Zusammenhanges,
den die Baukunst will , im gemeinsamen Wirken
beider Künste auf dem Gebiet der Dekoration zu
werden vermag, zeigt ein Seitenblick wenigstens auf
den berühmten Fries des Parthenon, der sich rings
um die Tempelcella unter dem Schatten des Peristyls
hinzog, also nur von unten und durch Reflexe be-
leuchtet. Vom durchgehenden Charakter dieser Reliefs
ist oben schon gesprochen worden ; auf die Unter-
schiede der Komposition kommt es hier an. Auf den
Langseiten herrscht der fortlaufende Zug, Bewegung
von einem Ende bis zum andern, nur ein Unterschied
im Tempo des fliessenden oder sich stauenden Fort-
schrittes, — der successiven Auffassung des Subjektes,
die hier allein walten kann, entsprechend. Auf den
208
Reliefanschauung und Dekoration
Schmalseiten aber vereinzeln sich die Gestalten, lockern
sich die Glieder, zur Betonung der Vertikale, des
organischen Zusammenhanges im Gewächs, von Unten
nach Oben. Warum dies? An der Stirnseite, wie
an der Rückseite ist der Abstand der Säulen von
der Wand weiter, also die Entfernung des Beschauers
grösser und die Richtung seiner Bewegung nicht
die transitorische des Entlangschreitens, sondern die
stetige dem Ziel entgegen ; die Tiefenaxe dominiert,
und das ruhige Verweilen auf einem Standpunkt
stellt sich ein.
Von allen Tiefenaxen auf einzelne Gestalten zu
unterscheidet sich wieder die mittelste auf den Ein-
gang zu als die Herrscherin, die Axe der Symmetrie,
der Diremtion nach beiden Seiten, und sie weist
weiter in das Innere des Heiligtums. Oder treten
wir vom Parthenonfries zurück, vor die Front des
griechischen Tempels überhaupt. Auch da meldet
sich die Scheidung zwischen dem schweifenden Über-
blick über das Ganze und der festen Richtung des
Vorwärtsschreitens auf seine Mitte zu früh genug.
Die Spitze des Giebeldreiecks kündigt ja schon von
ferne, dass hier die Dominante des Ganzen liegt.
Nicht umsonst bildet die Mitte der Säulenreihe nicht
eine Säule, sondern ein Intervall. Es handelt sich
nicht um eine allgemeine Tiefenbewegung des Be-
schauers zwischen den Säulen durch, sondern um
eine besondere Tiefenbewegung des Besuchers selbst
in ganzer Person : er soll wirklich hineinschreiten
in den Raum, wo er sich öffnet! Und droben ge-
hört zum verbindenden Gebälk , zur wechselnden
Giebelfeld — Statuenschmuck
209
Reihung von einem Ende zum andern, eben auch
der Giebel, der von beiden Enden ansteigend zur
Mitte, beide Hälften in einem Höhepunkt vereinigt.
Die Stirnseite des Daches aber, das Giebelfeld drinnen,
verkündet wieder in Gestalten nach dem Ebenbild
des Menschen das höchste Gesetz, das hier gelten
soll. Symmetrische Gruppierung breitet sich nach
beiden Seiten, von einer Dominante in der Mittel-
axe beherrscht. Es ist, für den entfernten Standpunkt
der ruhigen Zusammenfassung gedacht und durch-
geführt, eine Aufreihung mehr oder minder vollrunder
Gestalten vor der Scheidewand, die jeden weitern Ver-
such des Auges in die Tiefe zu dringen abschneidet,
aber auch so nicht als Gruppe, sondern an die Wand
gedrückt, als stärkstes Hochrelief wirken muss und
soll. Noch liegt ja der ganze Baukörper des Daches
dahinter, und erst auf seiner Firsthöhe wird der Luft-
raum frei für die isolierte Rundplastik, die für ihr
höchstes Ideal, die göttliche Gestalt selber, keinen
näher definierten Raum als zugehörige Umgebung
duldet. Zwischen der Freiheit des Äthers und der
ersten ,, Situation", wo ihr Fuss die Erde berührt,
bewegt sich ihre ganze Geschichte, von den Olympi-
schen selbst bis zur Nike des Paionios.
Warum aber stellt der Grieche den Gott, dem
der Tempel geweiht ist, nicht auf die Zinne des
Daches, sondern in die Umwandung der Cella, unter
freiem Himmel noch lange, aber doch als Ziel der
Wallfahrt, am Ende des zurückgelegten Weges, auf
den Boden nicht, sondern auf geweihten Grund,
aber doch auf Erden vor sich hin? Ohne Zweifel
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. 14
210 Reliefanschauung und Dekoration
in keinem andern Gedanken vorerst als dem Zweck
der ganzen Verkörperung: — der überzeugenden Nähe
des Daseins, der sinnlich wahrnehmbaren Gegenwart.
Ob das Bild seines Zeus sich zur Reliefanschauung
einige an seinem Standort, ist eine Frage, die dem
Phidias ebensowenig gekommen sein dürfte , wie
seinen Landsleuten, für deren Glauben er das Ko-
lossalbild erschuf, und die Athene Promachos, die
zwischen Baukörpern aufragte . will sich erstrecht
nicht mit dieser Situation zu harmonischer Gesamt-
erscheinung für den malerischen Sinn des objektiven
Beschauers ausgleichen, noch als Teil einer Gesamt-
heit aufgefasst werden, wie die Reliefanschauung es
fordert, sondern sich selber behaupten, trotz all dem
kleinen Menschenwerk, das sie beschirmt, wie die
Herrin der Stadt, die mit ehernem Fuss die Akro-
polis bestiegen hat und dasteht, — schon von Ferne
dräuend für den Feind, der begehrlich von Meer
oder Land herüberschaut.
Und warum stellt die plastisch denkende Kunst
der Griechen auch die kleineren Götter an der Front
ihrer Tempel nicht als Einzelstandbild auf, sondern
nur in vorübergehender historischer Situation, wenn
auch von bleibender Bedeutung, d. h. im Reliefbild?
Warum macht sie es nicht wie die christliche Kunst an
ihren Kirchenfassaden? Wir können die Antwort aus
einem künstlerischen Ganzen holen, das zeitlich da-
zwischen liegt, aus dem Pantheon des Agrippa in
Rom. Mit der Verschleifung der selbständigen Seh-
felder auf jeder Seite zu einer einzigen cylindrischen
Flächenbewegung ringsum ist auch das Schicksal der
Monumentale und dekorative Statuen
211
Götter entschieden. Die Innenfläche dieser Raum-
form muss sich nach dem Bedürfnis des mensch-
lichen Subjekts darin natürlich wieder rhythmisieren
für die successive Auffassung, die allein möglich ist,
sobald der Centraipunkt eingenommen wird , von
dem es das Ganze versteht. Aber diese architek-
tonische Gliederung durch Wandnischen und weiteren
Recessen entwickelt nur relativ Ruhepunkte, relativ
selbständige Stellen, die sich alle dem fortlaufenden
Zusammenhang einordnen. Auf diese Standorte
ringsum werden die Götter verteilt. Einer dem
Eingang gegenüber , am Ende der Tiefenaxe , zwei
andre an beiden Enden der Breitenaxe gewinnen
höheren Wert, aber keinen, der es mit dem Kuppel-
centrum, wo in kreisrunder Öffnung das Himmelslicht
eintritt, irgendwie aufzunehmen vermöchte. Alle
sind abhängig geworden, auch Jupiter selbst, von
einer höheren Gemeinschaft , die über sie alle hin-
geht. Erst als Gesamtheit bedeuten sie vollauf, was
sie vorstellen können. Die Mehrzahl geht ein in
Reliefanschauung ; aber sie sind keine Standbilder im
Sinne der isolierten Rundplastik mehr, deren jedes ein
Monument für sich, die Einheit der organischen Gestalt
als Ausdruck persönlichen Wesens allein verkündigt,
sondern Bestandteile eines Ganzen, dekorative Plastik.
Das sind auch die Heiligen des christlichen
Himmels an den Kirchenfassaden der Renaissance
und des Barock, trotz aller Kraft des plastischen
Sinnes ; das sind die unzählbaren Statuen, Statuetten
und Halbfiguren an gotischen Kathedralen, — von halb
tektonischen, noch nicht einmal in der Hauptsache
14*
212
Reliefanschauung und Dekoration
völlig durchorganisierten Gebilden romanischer Bau-
skulptur nicht zu reden. Die Kirche anerkennt ja
das Einzelwesen überhaupt nur als abhängigen Be-
standteil, als einverleibtes Glied des grossen Gottes-
reiches. Mit der Entwöhnung von diesem Princip
erst erschliesst sich auch der Weg zur selbständigen
Bedeutung des Individuums wieder, die der Grieche
von seinem Gott, vom geringsten Götzen, wie für
sich selber voraussetzt und als erstes Erfordernis
einer Person zu sehen verlangt. Wie eng reihen
sich noch die gotischen Nischen am Campanile zu
Florenz mit Donatellos Statuen darin! Wie weit
wehren sich diese gegen den Zusammenhang , unter
dem sie der Blick begreifen will, oder wie abhängig
sind sie schon im Gedanken noch, im Grundmotiv, von
weitergehender Beziehung? Erst an Orsanmichele
rücken die Nischen weiter von einander, so dass wir
kaum noch mit einem Blick mehrere zugleich um-
spannen; sie bilden sich, als Raumöffnungen in der
wuchtigen Masse gedacht, zu selbständigeren Taber-
nakeln aus und bereiten so den eigenen Raum auch
für die Statue darin. Aber welch ein Weg von der
Bedingtheit des Täufers Johannes von Lorenzo Ghiberti
bis zur Wucht des selbstbewussten Wertes im Auf-
treten eines ganzen Mannes, wie der Marcus des Dona-
tello! Freilich, sie alle stehen gegen die Rückwand
ihrer Nische, die sich als solche geltend macht, oder
gegen den Schattenraum ihrer Tiefe, und wir fragen
unwillkürlich im Erfassen des Motivs auch nach der
Situation, die es veranlasst. Und Verrocchios Gruppe,
Thomas und Christus, will sich freilich mit ihrer
Statuen in bestimmender Situation
213
Nische nicht recht vertragen, wirkt aber grade so,
wie an zufälliger Stelle sich ergebend , auch desto
transitorischer in ihrer Handlung, und da sie Beide,
der Meister wie der Jünger, nur für einander da sind, als
Erscheinung eines innern Zusammenhanges, der höch-
stens malerisch seinen Ausdruck hätte finden können.1)
,, Figuren mit einem architektonischen Hinter-
grund," lesen wir auch bei Hildebrand gelegentlich
des Grabmals von Canova, dessen vollplastische
Ausiührung er mit Recht tadelt, ,,das ist im Grunde
eine Bildvorstellung. Sie kann als ein Ganzes nur
als Relief dargestellt werden" (95). Vollkommen ein-
verstanden; nur ziehen wir auch umgekehrt die
Folgerung : Rundplastik in einer bestimmten Situation,
die einen weiteren Zusammenhang um sie anspinnt,
Figuren, die nur als Teil einer Gesamtheit aufgefasst
werden können , in der sie erscheinen , sind nicht
mehr als selbständige Schöpfung der Plastik allein
anzuerkennen, sondern fallen zugleich unter das
Problem der Malerei oder der Reliefkunst.
Der feste und entfernte Standpunkt, den der
Beschauer einnimmt, drängt seine Vorstellung zum
Vollzug der Tiefe, und wenn der Blick in" der Mitte,
an Stelle des Augenpunktes, gleichsam einbohrt, so
ergreift die Tiefenbewegung die organischen Körper
oder sonstigen Gegenstände ebenso wie den archi-
tektonischen Hintergrund und die Scheidewand der
vordersten Raumschicht mit. Sie wandelt den Ge-
1) Vgl. Schmarsow, Donatello S. 17 fr. u. Festschrift zu Ehren
des kunsthistorischen Instituts zu Florenz, Leipzig 1897 p. 36 — 53.
214
Reliefanschauung und Dekoration
staltungsraum in den Bildraum, der sich selbst in
der Ferne verliert. Solch ein Tiefrelief aber hat
dringend der festen Umrahmung nötig, damit dem
Drang in die dritte Dimension ein Widerhalt ge-
geben sei , der wenigstens die Nachbarschaft der
tektonischen Fläche vor der weiteren Ausdehnung
dieses Wandels sichert. Wir brauchen diesen körper-
lichen Widerstand für die Dynamik des psychischen
Erlebens der Raumweite, die sich innerhalb des Rah-
mens eröffnet; er ist der sicher gefühlte Ausgangs-
punkt des Einströmens und Endpunkt des Aus-
strömens, dieGränze der rhythmisch sich vollziehenden
Systole und Diastole ästhetischen Schauens.
Allermodernste Beispiele haben allerdings ge-
zeigt, dass auch dafür der Sinn abhanden kom-
men kann. Eine Bronzemasse von Würfelform als
Postament benutzt , auf den Aussenflächen aller-
wärts auftauchende Gebilde , wie im gemeinsamen
Element auch bereit, wieder zu verschwinden, —
dieser Anblick des Werdens und Zerrinnens ohne
irgendwelchen tektonischen Rahmen, verläugnet voll-
ends den widerstandsfähigen Charakter des Blockes,
also die konstitutiven Eigenschaften, die er als
Untersatz für eine Statue am allernotwendigsten
braucht. Auf Grund der historischen Beispiele
aus guter Zeit aber , die wir bis an den Aus-
gang des achtzehnten Jahrhunderts verfolgen dür-
fen, kann als Regel angesehen werden, dass das
Tiefrelief im Sinne der malerischen Perspektive
am Aussenbau wie im Innenraum nur an solchen
Stellen Aufnahme findet, wo im tektonischen Gan-
Gerahmte Relief bilder
215
zen auch eine Raumöffnung durchgebrochen werden
könnte. Die wirksame, zugleich vorbereitende und
widerstandsfähige Umrahmung wird nie verabsäumt.
Ja, selbst das perspektivische Flachrelief fordert diese
entschiedene Trennung zwischen dem realen Raum,
wo es sich befindet, und dem idealen Raum, den es
eröffnet, überall so gut wie das Gemälde, mag es
einen festen Platz an der Wand erhalten oder einen
veränderlichen. Und diese beliebige Verhängbar-
keit ist es, die auch ein kleines Bild wol den Be-
dingungen der graphischen Blätter überantwortet.
An der Härte oder an der Weichheit des
Materials scheitert schliesslich jeder Versuch, die
Bildvorstellung in der bildsamen Masse mit den
Mitteln der Plastik allein herzustellen. So kehrt
die perspektivische Reliefkunst, nach dem äusser-
sten Bemühen in der Auflockerung der tektoni-
schen Schicht oder in der Abstufung der feinsten
Nuancen des Vor- und Zurücktretens , am Ende
zur Oberfläche selbst zurück, lässt die Ebene als
solche unangetastet, und versucht es, statt mit mini-
maler Subtraktion mit ebenso minimaler Addition,
mit dünnen Pigmenten den Schein der Körper und
des Raumes zu ertäuschen. Nicht, als wäre das der
Ursprung der Malerei. Davon sind wir weit entfernt.
Aber es gilt , sich zu erinnern , dass auch von der
Seite dieser Nachbarkunst die Eroberungszüge ins
Land der Plastik nicht fehlen , noch der Wetteifer,
das plastische Problem mit Hülfe der Farbstoffe
allein zu lösen. Bildet doch die Darstellung der
216
Reliefanschauung und Dekoration
Körper selbst einen Teil des malerischen Problems,
und nicht allein die Darstellung des Raumes , nur
dass Beides nicht in kubischer Realität, sondern als
Augenschein auf der Malfläche hervorgebracht werden
soll. Weite Strecken im Reich der Malerei, als ent-
wickelte Kunst schon , scheinen nur zu beweisen,
dass auch hier die Reliefanschauung der Schlüs-
sel all ihrer Erfolge sei.
Doch dem ist nicht so ; dieser Schlüssel liegt auch
hier nicht in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern in
der Vorstellung, oder in der Organisation des mensch-
lichen Intellekts, die auf Entwicklung der räumlichen
Anschauungsform ebenso wie auf die der zeitlichen an-
gelegt ist. Man denke sich einen Menschenkopf mit
den einfachsten Mitteln nur soweit auf die weisse
Fläche , eines Papiers etwa , skizziert , wie es grade
hinreicht, die Erkennung zu gewährleisten, also
beim Beschauer unter Unsresgleichen die Gegenstands-
vorstellung auszulösen , so sieht dieser nicht allein
den Kopf in der gegebenen Ansicht plastisch ge-
rundet, obgleich das Bild flach ist, sieht diese ge-
wohnte kubische Formvorstellung in die Fläche
hinein, sondern der Rest des weissen Blattes be-
deutet auch das zugehörige Raumvolumen , ja nicht
der einen Hälfte des kugligen Kopfes, die gezeigt
wird , allein , sondern auch der andern nicht sicht-
baren Hälfte dahinter. Die geringste Andeutung des
Schattens , das leiseste Zeichen einer Modifikation
des weissen Blattes durch den Kopf sei vermieden;
trotzdem glaubt der Beschauer an den Schein, den
nicht vorhandenen , des erforderlichen Raumquan-
Zeichnung — Malerei
217
tums , das den Kopf beherbergen könnte. Dafür
giebt es wol nur die eine Erklärung, dass die Pro-
jektion des dreidimensionalen Kopfes auf die Fläche,
wie die Skizze sie , noch so primitiv vollzogen hat
oder bedeutet, auch weiterwirkt auf die leere weisse
Umgebung. Da diese aber tatsächlich nicht das ge-
ringste Symptom objektiv aufweist, so kann die Ur-
sache nur in dem Zwang unserer Anschauungsform
gesucht werden , die auch da die dritte Dimension
ergänzt, wo sie nicht vorhanden ist.
Aber die Malerei geht ja von diesen Anfängen
weiter. Mit Hell und Dunkel ertäuscht sie nicht
allein den Schein gerundeter Körper, sondern auch
der Raumtiefe zu starker Illusion. Und für die Ab-
stufungen der Farbstoffe , für die Kunstgriffe der
Linearperspektive ist die Bildfläche geduldiger und
empfänglicher als die bildsame Masse für die müh-
samsten Operationen des Bildhauers. Mit den zarte-
sten Nuancen der Arbeit eröffnet sich die ganze
Weite des Horizonts ; der Bildraum vertieft sich in
die Ferne , wie es das gewagteste Tiefrelief nicht
annähernd erreichen kann. Erst dadurch lernt die
Kunst der Malerei selber ihr eigenstes Problem in
seinem rechten Sinn und Umfang verstehen , den
Zusammenhang zwischen Körpern und Raum, die
sichtbare Einheit zwischen den Dingen dieser Welt,
das Walten der durchgehenden Abhängigkeit aller
Teile vom Ganzen, eben eine Ansicht dieser Weite,
ein Weltbild zu geben, wie es weder die Architektur
noch die Plastik vermögen, und uns so das Allgefühl zu
vermitteln, das uns erhebt, indem es uns entkörpert.
<r>.<r>.<Ti.<r>.<r>.<^.<^.<^.<r>.<r>.<r>.<r^.
SCHLÜSSBETRACHTUNG
DAS REICH DER KUNST
o bewährt sich das Princip, das mensch-
liche Subjekt, sowol als schöpferisches wie
als empfangendes, nicht allein als ein Augen-
geschöpf, sondern mit dem weitern Zusammen-
hang seiner Organisation auch da in Rechnung
zu setzen, wo wir es mit der Ästhetik der Künste
zu tun haben. Die Rücksicht auf die Körper-
lichkeit unsres Leibes, die Ortsbewegung, die Tast-
empfindungen im ganzen Umkreis der Aktivität uns-
rer Arme und Hände , und das Körpergefühl , das
nicht allein diese physischen Betätigungen begleitet,
sondern auch von Gesichtseindrücken wie von Vor-
stellungen mit erregt wird, — all Das kam uns zu
Statten und führte zu der Erkenntnis , dass unmög-
lich allen bildenden Künsten ein und dasselbe Ge-
staltungsprincip innewohnen könne, dass unmöglich
der Antrieb, der zu ihrer Entstehung und Weiter-
Das Reich der Kunst
219
bildung führt, in einem gleichen Problem, in der
nämlichen Aufgabe gesucht werden dürfe.
Die Lehre des alten Griechen , das Mafs aller
Dinge sei der Mensch, ist aus dem Geiste der künst-
lerischesten Nation entsprungen. Der Satz gilt im
Reich der Künste ohne Widerspruch ; ja er ist die
Grundlage für ihr Verständnis.
So betrachten wir die Kunst als eine Aus-
einandersetzung des Menschen mit der Welt, in die
er gestellt ward , — gleichwie deren ethische Be-
handlung und deren wissenschaftliche Erkenntnis es
auch sind. Aber die Kunst unterscheidet sich von
diesen Nachbarinnen durch ein glückliches Vorrecht.
Sie allein befriedigt das natürliche Verlangen nach
dem Einklang zwischen dem Menschen und seiner
Welt, bei dem allein auch der Einklang mit sich
selber gedeihen kann, oder richtiger, sich von selbst
ergiebt ; denn die Übereinstimmung mit der mensch-
lichen Organisation, der innern wie der äussern, ist
die Voraussetzung all ihrer Probleme und der Schlüs-
sel all ihrer Lösungen.
Der Antrieb zum künstlerischen Schaffen kann
ebensogut von der Innenwelt des Menschen wie von
der Aussenwelt, entweder von der Vorstellung oder
von den Sinneseindrücken ausgehen. Jedes wahre
Kunstwerk ist an seinem Teil eine solche Auseinander-
setzung mit der Welt, von welcher Seite immer es eine
Aufgabe in Angriff nehme. Und die Gesamtheit der
Einzelkünste, die wir mit vollem Recht als ein Reich
menschlichen Geisteslebens unter dem Namen ,, Kunst"
zusammenfassen , schafft an einer umfassenden und
220
Schlussbetrachtung
vollständigen Auseinandersetzung, die als Ganzes die
Natur des Menschen und die der Welt erschöpfend,
ein Spiegelbild darstellt, das in glücklichster Har-
monie mit dem eigensten Wesen des Menschen, ihn
als Schöpfer durch seine eigene Schöpfung be-
seligt, mögen jene Nachbarinnen Ethik und
Wissenschaft dabei einzuwenden haben , was sie
wollen.
Dies Spiegelbild, das Menschenkunst zu weben
weiss , muss aber notwendig den Faktoren ent-
sprechen , die das Urbild aufweist , mögen wir sie
vom schöpferischen und geniessenden Subjekt aus be-
zeichnen oder von dem naiven Standpunkt des Glaubens
an ihre Objektivität ausgehen. Da stehen sich die
beiden Anschauungsformen , die zeitliche und die
räumliche, einander gegenüber. Bewegung dort, Be-
harrung hier heissen die beiden Pole, zwischen denen
sich eine gegenseitige Verbindung vollzieht, wie ein
objektiver Ausgleich, während das menschliche Sub-
jekt weder absolute Beharrung, noch absolute Be-
wegung kennt, sondern nur gradweise sich beiden
Polen anzunähern vermag, sei es mit Sinnesempfin-
dungen , sei es mit Vorstellungen. Und zwischen
diesen Extremen, Zeit und Raum, erscheint als dritte
Kategorie die Kausalität. Mag auch der Philosoph
noch weiter fragen , ob und wieweit sich unsre
Kausalvorstellung noch auf jene des Raumes und der
Zeit zurückführen lasse , bei deren Durchdringung
erst sie selber auftritt, so behauptet sich doch im
rein menschlichen Gebiete des künstlerischen Schaf-
fens die Notwendigkeit unsrer geistigen Organisation,
Das Reich der Kunst
221
und die Ursächlichkeit gilt als dritter Faktor in der
Welt sogut wie in uns.
Darnach gliedert sich schon das Reich der
Künste von den beiden Polen her, nach räumlicher
und zeitlicher Anschauung und stuft sich ab unter
dem Gipfel des Geistigen , wo Bewegung und Be-
harrung einander am innigsten durchdringen, wo im
Vorwärts oder Rückwärts die Frage nach Ursache
und Wirkung oder nach Grund und Folge gestellt
wird, das heisst, wo das Princip der Kausalität in
mannichfaltigsten Beziehungen waltet, gleichwie im
Menschenleben selber.
Wo die Bewegung, die zeitliche, in abstraktester
Form fast allein regiert, da suchen wir nur Analo-
gieen unsrer Innenwelt. Dort liegt am einen Ende
dieser Reihe das Reich der Töne und ihre Kunst,
die Musik. Sie scheinen wol Manchem nur wie eine
Färbung — eine Stimmung des leeren Zeitverlaufes
selber — , aber bald wie eine Sprache innerer Er-
regungen, die wenn nicht unmittelbar wie der eigene
Laut, doch bald geläufig und vertraut durch diesen
Mittler, zur Ausdrucksform unsrer Gemütsbewegungen
wird. Das Gemeinsame zwischen Laut und Ton,
zwischen Vokal- und Instrumentalmusik liegt aber
völlig in der Sphäre rhythmisierter Bewegung unsres
eigenen Organismus, bis in Atemzug und Herzschlag
hinein, der Systole und Diastole unsres Lebens,
wie sie Goethe genannt hat.
Gegenüber am andern Ende der Reihe, wo die
Beharrung im Räume feste Form für sich gewinnen
will, da suchen wir die Baukunst, die Raumgestalterin
222
Schlussbetrachtung
selber. Auch sie rechnet überall mit der Rhythmik
menschlicher Bewegungen, wie mit dem eigenen
Körper des Subjektes , die allein den Mafsstab für
die Ausdehnung gewähren, während auf der andern
Seite die Aufrichtung der Raumform nach ihrem
Willen zur Sicherung ihres Bestandes der Verkör-
perung in dauerhaftem Material bedarf, je mehr ihr
darum zu tun ist, die Grundlagen des Menschen-
daseins, die sie darstellt, gegen den ewigen Wechsel
des Zeitlichen zu behaupten.
So stehen schon Innenwelt und Aussenwelt in
ihren elementarsten Voraussetzungen vor uns da,
um im nächsten Paar der Künste, Mimik und Plastik,
die unmittelbarste Verbindung mit dem Menschen,
wie er leibt und lebt, zu bewähren. Ist doch die
Eine nur seine Darstellung für die successive, die
Andre seine Darstellung für die simultane Anschau-
ungsform, wenn auch wieder Beide der Ergänzung
durch den zweiten Faktor bedürfen 1).
Im letzten Paare, Poesie auf Seite der zeitlichen,
Malerei auf Seite der räumlichen Vorstellung, nimmt
das Schaffen des Menschen es mit dem Zusammen-
hang der Dinge auf, der sichtbaren Aussenwelt hier,
der hörbaren Innenwelt dort in erster Linie, die sich
wieder gegenseitig ergänzen und durchdringen. In
der Darstellung der Kausalität, nach der unser Er-
klärungsbedürfnis verlangt, erreichen sie den Gipfel
der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Mit
dieser Vermittlung eines Vorstellungsinhaltes, eines
I) Vgl. femer Heft I, S. 21 ff., 24 ff.
Das Reich der Kunst
223
Denkprocesses aber rühren sie auch an die Gränze
des Abstrakten, wo der Zauberstab künstlerischer
Gestaltung versagt.
Dass auch im Reich der Künste solche Abstufung
vom Elementaren, von den Grundmächten des Daseins
zu den Höhen des Geistigen hinauf anerkannt werden
muss, wenn wir uns nur bewusst bleiben, dass das
Werturteil, das diese Bezeichnungen gestempelt hat,
anderswoher stammt und sachlich garnichts damit
zu schaffen hat, diese Tatsache lehrt uns auch eine
andre Erwägung einsehen, die das einfachste Gebild
ins Auge fasst, das jede dieser Künste hervorbringt,
um daraus immer kompliciertere Schöpfungen zu-
sammen zu setzen. Bei der Musik ist es der natür-
liche Laut oder der künstlich erzeugte Ton, bei der
Mimik die Gebärde, unter der wir vorwiegend Körper-
bewegung verstehen , und die Miene , die wir auf
Bewegung der Gesichtsmuskulatur beschränken. Die
Poesie aber verbindet die Elemente beider Schwester-
künste zu einem neuen Element, der Lautgebärde,
dem Wort, in dem beide Grundlagen, der Laut
sowol wie die Gebärde , miteinander verwachsend,
einen Teil ihrer ursprünglichen Kraft aufgeben, um
so zu einem „konkretem" Ausdrucksmittel für die
Mannichfaltigkeit der Dinge selbst, ihre Äusserungen
und ihre Beziehungen zu werden. In dem Vokalis-
mus der Sprache ist die elementare Gewalt der Töne
auf eine kleine gedämpfte Scala eingeschränkt, im
Konsonantismus die ausgreifende Gebärdensprache
des ganzen Körpers und das sichtbare Mienenspiel
zu einer verhaltenen Kryptomimik um den Atmungs-
224
Schlussbetrachtung
traktus herum gemäfsigt; aber das Neue, das so
erwächst, das Wort erobert die Welt1). — Auf der
andern Seite liegt ein ganz ähnliches Verhältnis vor,
das die Malerei über ihre beiden Schwesterkünste
hinausgehen lässt. Die Architektur ist Raumgestalterin,
so dass das kleinste Element, das sie verwertet, schon
eine dreidimensionale Raumgrösse ist, und zwar ein
Hohlraum, dessen Koordinatensystem nicht indifferent,
eine beliebige Vertauschung der Axen gestattet, auch
wo sie gleiche Ausdehnung haben, sondern sozusagen
accentuiert ist, indem die Richtung vom Menschen
aus die treibende Kraft enthält, also die Tiefenaxe2).
Die dritte Dimension ist Dominante auch im embryo-
nalen Zustande, im ersten Keim der architektonischen
Schöpfung. Die Plastik ist Körperbildnerin ; das
kleinste Element, das sie verwertet, ist Körper, ein
Molekül von drei Dimensionen, ein konkreter Punkt.
Aber auch hier ist das Koordinatensystem nicht ohne
ausgesprochene Richtung: die erste Dimension, die
Vertikalaxe ist Dominante, die Richtungsaxe unsres
eigenen Wachstums die erste Bedingung, einen Gegen-
stand ausser uns als Körper für sich anzuerkennen. So
kann die Wurzel der plastischen Schöpfung nur in der
Höhe gesucht werden. Das einfachste, wie das reichste
Werk der Malerei dagegen dürfte wol nicht anders
1) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen (Heft I dieser Bei-
träge 1896) S. 105.
2) Das Raumvolumen, mit dem die architektonische Schöpfung
eigentlich vor sich geht, ist der „ästhetische Raum" des leib-
haftigen Menschen selber, dies also die natürliche Mafseinheit, die
wiederholt wird.
Das Reich der Kunst
225
definiert werden, denn als flächenhafter Auszug aus
Raum und Körper zugleich, den wir „Bild" nennen.
Auch hier ist das neue Mittel zur Eroberung des
räumlich -körperlichen Ganzen als Einheit, d. h. der
sichtbaren Welt, zur Darstellung des Zusammenhangs
der Dinge nach seinem Augenschein, nicht anders
möglich , als durch Verzicht der beiden Elemente
auf einen Teil ihrer vollen Existenz. Körper und
Raum büssen in ihrem Abbild auf der Fläche tat-
sächlich die dritte Dimension ein, aber nur, um sie,
im Augenscheine wenigstens, bald desto reiner wieder
zu gewinnen und sie desto unmittelbarer unsrer Vor-
stellung zu vermitteln, — im ,, Fernbild" als „reinem
Gesichtseindruck von sozusagen latenten Bewegungs-
vorstellungen" (H. 12).
Bezeichnen wir demgemäfs zu klarer Zusammen-
fassung des Ergebnisses die vollkräftigen Elemente
der „Wirklichkeit" Raum und Körper hüben,
Laut und Gebärde drüben , einmal mit ihrem
Anfangsbuchstaben, so liesse sich für das Bild die
Formel |/(R-j-K)~, für das Wort die entsprechende
Formel (/(L -f- G) aufstellen, die selbstverständlich
jeden mathematischen Anspruch ausschliessen, uns
aber nützlich werden können, um innerhalb der
Malerei hier, wie der Dichtung dort, noch Zonen
mannichfaltiger Ökonomie mit diesen Grundelementen
zu unterscheiden. Hier kommt es vorerst nur darauf
an, das notwendige Verhältnis der Malerei und Poesie
als eines oberen Paares zu je zwei andern Künsten als
ihren natürlichen Vorstufen zu charakterisieren. Das
mag etwa in diesem Schema veranschaulicht werden :
Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. k
226
Schlussbetrachtung
Räumliche
Anschauungsform
Kausalität
(C)
Zeitliche
Anschauungsform
Malerei [/ (R -f K)
Plastik (K)
Architektur (R)
Raum. Beharrung. -< —
Poesie
V (L + G)
Mensch
Mimik (G)
Musik (L)
— >- Bewegung. Zeit.
Dann schliessen sich Poesie und Malerei wieder
uriter dem höhern Princip der Kausalität (C) zu-
sammen, in dem sich die Darstellungen des innern
und des äussern Zusammenhangs begegnen. Archi-
tektur und Musik dagegen erscheinen als die weitest-
gehenden Gestaltungen des Elementaren, der Grund-
faktoren dieser Welt, Raum und Zeit, weswegen man
sie wol vom objektiven Standpunkt aus als ,, kos-
mische Künste" bezeichnet, oder als die konsequen-
testen Erfolge der räumlichen Anschauungsform dort,
der zeitlichen hier, weswegen sie vom Subjekt aus
den Vorzug des „systematischen" Charakters gewinnen.
Beide Paare jedoch, das unterste, Baukunst und Musik,
wie das oberste, Malerei und Dichtkunst, erweisen
sich als Erweiterungen des künstlerischen Schaffens,
als Auseinandersetzungen mit der weiten Welt da
draussen, sowie wir sie mit dem innersten Paar,
Plastik und Mimik, vergleichen, in denen es sich
zunächst ausschliesslich um den Menschen selber
handelt. Von dieser Beschäftigung des Menschen
mit sich selbst und Seinesgleichen als seiner nächst-
gelegenen Sphäre, nach den beiden Seiten, die wir
Leib und Seele nennen, also vom centralen Stand-
punkt des Ich aus betrachtet, bedeuten alle vier
Das Reich der Kunst
227
Nachbarinnen ringsum ebensoviel verschiedenartige
Eroberungszüge in die Welt hinaus , bis an die
Gränzen der Unendlichkeit, — des Unerreichbaren,
des Unermesslichen, des Unabsehbaren, und wie die
negativen Ausdrücke unsrer Sprache sonst lauten,
die, klüger als unser begriffliches Denken, keinen
positiven Namen dafür ausspielt.
Damit haben wir den Standpunkt gewonnen,
von dem die Betrachtung der ganzen Reihe dieser
Künste als schöpferische Betätigungen des Menschen
am natürlichsten ausgeht. Es ist der Mittelpunkt
und Ausgangspunkt alles künstlerischen Schaffens
und Geniessens selber , das Mafs aller Dinge : —
der Mensch.
Die ursprünglichste Äusserung des künstlerischen
Triebes , die nicht mehr wie die Ausdrucksgebärde
im Augenblick zerrinnt, sondern dauernd wahrnehm-
bare Form hinterlässt, ist sicher die Ornamentik.
Sie ist in ihrem eigentümlichen Wesen nichts Anderes
als Wertbezeichnung. Sie prägt also mit ihren
Zeichen nur den Sinn alles künstlerischen Schaffens
aus , das die Werte des Daseins und des Lebens
dem Strom des Werdens und Vergehens zu entrücken
trachtet und sie verewigen will , zu bleibendem
Genuss. Aber sie selbst ist noch keine Kunst, wie
die andern sechs ; denn sie vermag diese Werte
nicht selber darzustellen und wiederzugeben, sondern
nur auszuzeichnen durch den Niederschlag des
mimischen Spieles um sie herum. Eben-
deshalb aber ist sie allen Schwestern ohne Aus-
nahme gleich vertraut und schlingt um das Ganze
15*
228
Schlussbetrachtung
der Kunstwelt das Band, das diesen heiligen Bezirk
mit den profaneren Bestrebungen der Kunstgewerbe
vermittelt. Treten wir aber in den Umkreis der
Auserwählten, so stehen dem gemeinsamen Aus-
gangspunkt zunächst Mimik und Plastik; von
da zweigen die Andern ab , die das Problem um-
fassender zu stellen wagen. Versuchen wir auch
hier statt der sphärischen Darstellung in drei Dimen-
sionen , die das Spiegelbild unsrer Welt eigentlich
erfordert , uns mit einem Flächenschema zu be-
gnügen , das ja nur zur übersichtlichen Veranschau-
lichung unsres Ergebnisses dienen soll, so steht die
Reihe der Künste am besten in einem Kreise. Da-
bei kommen allerdings, eben weil wir auf die dritte
Dimension verzichten, die nachbarlichen Berührungen
der Einzelgebiete nicht vollständig zum Ausdruck.
Und ferner darf das früher festgestellte Verhältnis
der Poesie zu ihren beiden Vorgängerinnen auf der
einen und der Malerei zu den ihrigen auf der andern
Seite nicht vergessen werden. Zumal, wenn es sich
etwa um die Frage nach dem Zuwachs der Bewegung-
oder der Abnahme der Beharrung handelt, ergiebt sich
schon aus jenem Verhältnis des Wortes zur Gebärde
und zum Laute hier, des Bildes zum Körper und
zum Räume dort, dass an keinen einfachen Fort-
schritt rein quantitativer Art durch die ganze Reihe
hin gedacht werden darf1) , sondern dass qualitative
Modifikationen stattfinden. Und wieder ist es das
i) So hat z. B. Schasler, System der Künste , die Sachlage zu
sehr vereinfacht.
Das Reich der Kunst
229
mittlere Paar , Plastik und Mimik , das durch die
engere Beziehung zum Menschen allein und seinem
Körper als Bewegungsapparat hier, als organisches
Gewächs dort, die Möglichkeit des Fortschrittes sehr
einschränkt. Dagegen macht unser Schema den
Gegensatz beider Hemisphären , der zeitlichen und
der räumlichen Anschauungsform , besonders deut-
lich und besagt , dass die wirkliche Bewegung , die
auf der einen Seite stattfindet, z. B. in der Mimik,
auf der andern Seite dieser Mittelaxe sofort in den
Schein der Bewegung umschlagen muss , weil hier
die Beharrung im Räume herrscht, wie z. B. in der
Plastik , wo erst das menschliche Subjekt , der Be-
trachter, den Schein der Bewegung am unbeweg-
lichen Marmor aus dem Bann erlöst und in das zeit-
lich verlaufende Erlebnis zurück übersetzt. Ebenso
230
Schlussbetrachtung
gilt dies aber für Architektur und für Malerei , wie
das umgekehrte Verhältnis für Musik und Poesie.
Das heisst zugleich für unser Schema, dass die ein-
geschriebenen Zeichen immer nur das Grundelement
berücksichtigen , dass eine Formel für jede Kunst
aber auch diese Faktoren der Bewegung und Be-
harrung, der Kraft und des Stoffes nicht unbenannt
lassen dürfte. Doch nicht darauf kommt es uns an,
noch auf irgend eine Befürwortung äusserlichen
Formelkrams , sondern nur auf eine Erleichterung,
die Leistungsfähigkeit unsres Princips zu über-
blicken.
So ist schon in unserer Bezeichnung des
zweidimensionalen Auszuges aus Raum und Körper,
welchen das Bild auf der Fläche zu geben hatT
|/(R~+~Kj ^ie Stellung der beiden Faktoren variabel,
je nach dem man von Plastik (K) oder Architektur
(R) ausgeht, d. h. die K ö r p e r Vorstellung oder die
Raum Vorstellung als leitendes Interesse verfolgt.
Stellen wir K voran, so entspricht die Formel mehr
dem Ubergang, der sich — mit plastischen Mitteln
allein — auch in der Reliefkunst vollzieht, die wir
als Zwischenreich zwischen Plastik und Malerei ein-
tragen könnten. Dies Verhältnis würde noch ein-
leuchtender, wenn man den körperlichen Bestandteil
als stark überwiegenden mit dem grossen Buch-
staben , den räumlichen mit dem kleinen benennt,
also K + r , wo es sich um Hochrelief handelt. Da-
mit können aber auch die Gebiete der Malerei selbst
unterschieden werden, nach dem wichtigen Fort-
Das Reich der Kunst
231
schritt, den die Raumdarstellung über die Körper-
darstellung, oder gar die summarische Andeutung
dieser durch Umriss und Silhouette, als Hieroglyphen
der Gegenstandsvorstellung, kurz und schlagend aus-
gedrückt werden. Den nämlichen Verdeutlichungs-
wert allein beansprucht die Formel für das Gebiet
der Poesie, wo das Überwiegen des Lautlichen oder
Tonelements natürlich die Neigung zum reinen Ge-
fühlsausdruck, d. h. das Lyrische, ja das Eindringen
musikalischen Strebens bedeutet, während die Hege-
monie der Gebärdung , des Motorischen , der Akti-
vität, auch den Charakter der Dichtung dem Epischen
zutreibt, das auf der ausschliesslichen Bevorzugung
des Mimischen beruht, da wir als Gebiet der Mimik
alle ausdrucksvolle Betätigung des Menschenkörpers
verstehen. Doch leuchtet von selber ein , dass im
Gesamtreich der geistigen Vorstellung , wo das un-
sichtbare Innenleben regiert, jeder Versuch zur Ver-
anschaulichung eine Gefahr mit sich bringt , durch
dies Erleichterungsmittel mehr zu schaden als zu
nützen , — eine Gefahr , der selbst unsre experi-
mentelle Psychologie nicht entgangen ist, indem sie
die ,, Dimensionen" des Raumes auf die ,, Charak-
teristik" der psychischen „Erscheinungen" — lauter
Ausdrücke der räumlichen Auffassung und deshalb
der bildenden Künste — überträgt.
Wäre dieser Missbrauch nicht zu fürchten, würde
ich in das obige Schema auch die Farben des Spek-
trums eintragen, und zwar das Feld der Architektur
als Violett, das der Plastik als Blau, das der Malerei
als Grün, auf der andern Seite das der Poesie als
232
Schlussbetrachtung
Gelb, das der Mimik als Orange, und das der Musik
als Rot erscheinen lassen, um so wenigstens noch
eine Analogie zur Anschauung zu bringen, nämlich
die Beziehung zwischen je zwei Künsten der ent-
gegengesetzten Vorstellungsform, wie zwischen den
Paaren der Komplementärfarben. Wie je zwei von
diesen, Violett und Gelb, Grün und Rot, Blau und
Orange einander fordern und zusammen zur Her-
stellung der ursprünglichen Einheit im weissen Licht
verbinden, so fordern und ergänzen einander je zwei
Künste und geben zusammengenommen erst einen
zureichenden Ausdruck für eine künstlerisch ver-
arbeitete Weltanschauung. Deshalb war schon früher
von Komplementärwirkungen zwischen Mimik und
Plastik, Malerei und Musik, Architektur und Poesie
die Rede (I). Doch sei diese Spektralanalyse der
Kunst, die in den wolfeilen Verdacht eines Farben-
spiels kommen könnte, nur den Wenigen anvertraut,
die auch im Spiel den tiefen Sinn zu finden und
auch im künstlerischen Drang des Schaffens wie des
Geniessens der Sophrosyne treu zu bleiben wissen.
-H>*<3-
Druck von Fischer & Wittig in Leipzig.
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VERLAG VON S. HIRZEL IN LEIPZIG.
AUGUST SCHMARSOW
BEITRÄGE ZUR AESTHETIK DER BILDENDEN KÜNSTE
i.
ZUR FRAGE
NACH DEM
MALERISCHEN
SEIN GRUNDBEGRIFF UND SEINE ENTWICKLUNG
PREIS M. 2.—.
II.
BAROCK UND ROKOKO
EINE KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG
ÜBER
DAS MALERISCHE IN DER ARCHITEKTUR
PREIS M. 6.—.
Druck von Fischer & Wittig in Leipzig.