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Full text of "Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur"

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BKITIIÄGE    ZUR   GESCHICirrE 

DER 

DEUTSCHEN  SPEICHE  MD 
LITEMTTJE 

nERAU.S({KGEBEN 


HERMANN  PAUL  um,  WILIllllJl  HUAUNK. 


M 
'b''   ^ 


Xm.  BAND. 


HALLE  »/S. 

MAX    NIEMEYER. 

IbbS. 


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INHALT 


Seite 

Der  Stoff  des  spielmannsgedichtes  Orendel.  Von  L.  Beer  ...  1 
§  1.  Die  drei  sagen  (s.  3).  §  2.  Charakteristiiv  nnd  kritik  der 
Müllenhoffschen  theorie  (s.  18).  §  3.  Die  Milller-Uhlandsclie  heim- 
kehrgruppe  und  die  totenreichtheorie  (s.  35).  §  4.  Ausserdeutsche 
analogien  mit  deutschen  parallelen  (s.  83).  §  5.  Ein  hypothetisches 
analogon  (s.  99).  §  ß.  Facit  (s.  105). 
Die  entstehung  des  deutschen  reimverses.  I.  Von  E.  Sievers  .  121 
Etymologische  Studien  über  germanische  lautverschiebung.   Zweiter 

artikel.    Von  S.  Bugge .167 

Der  gott  Bragi  in  den  norrönen  gedichten.    Von  demselben   .    .    187 

Altnordisch  v.    Von  H.  Gering 202 

Zu  Beowulf  107  if.    Von  G.  L.  Kittredge 210 

Grammatische  darstellung  der  mundart  des  dorfes  Ottenheim.    Laut- 
lehre.    Von  K.  Heimburger 211 

Zur  kritik  und  erklärung  des  Winsbeken  und  der  Winsbekin.    Von 

A.  Leitzmann 248 

Heinrich  Gödings  gedieht  von  Heinrich  dem  Löwen.    Von  P.  Zim- 
mermann    278 

Etymologische  Studien  über  germanische  lautverschiebung.    Dritter 

artikel.    Von  S.  Bugge 311 

Ein  neues  bruchstück  der  niederrheinischen  Tundalusdichtung.    Von 

F.  Grimme 340 

Bemerkungen  zu  den  lausavisur  der  Egilssaga.    Von  Hjalmar  Falk.    359 

Miscellen.    Von  F.  Holthausen 3(»7 

Ueber  uo  =  ö  im  Heliand.    Von  demselben 373 

Graphische  Varianten  im  Heliand.    Von  J.  H.  Galice 376 

Ahd.  leo,  Uo,  leuuo,  louuuo.    Von  0.  Bremer 384 

Zur  theorie  der  entstehung  der  schwellverse.    Von  K.  Luick    .    .    388 

Geschlossenes  e  aus  e  vor  i.     Von  Fr.  Kauffmann      393 

Etymologica  l.    Von  H.  Ost  hoff 395 

1.  Got.  ufaikan  (s.  395).  2.  Asche,  esse  (s.  396).  3.  Flehen,  gr. 
Xaixüq,  lat.  lena  (s.  399).  4.  Fleisch,  gr.  kuQivöq,  lat.  läridum 
(s.  401).  5.  Fliehen,  \ait.  locusta,  \it.  lekiü  (s.  i\2).  6.  Häher, 
reiher  {s.  Wh).      7.    i\nt.  lumdugs.     Vjy.  ootföq,    lat.  /Wft^r  (s.  41S). 


IV  INHALT. 

Seite 

8.  Hanse,  lat.  Consus,  cönsi/J  (s.  425).  ',).  (Ger-)mar,  s]av.  (V/adi-) 
mcrä,  gr.  {^y/_fol-)/ao(j()i:,  an.  nidr;  mclir,meisl  (ß.  A',\\).  10.  Oheim 
(s.  447).  11.  (lenu.  S((/jt/n,  gr.  fAfä-,  ?MT^nv  (s.  4r)7).  12.  Scha- 
den, gr.  aGXijih'jQ  (s.  459).  \'.i.  Stehlen  und  hehlen  (s.  4(iU). 
14.  T^vV/fc'«  (s.  461).  15.  Ziverch,  gr.  TtitaTiüSfq  {9.  \{\\). 
Behaghels    argumente    für   eine  mittelhochdeutsche  Schriftsprache. 

Von  Fr.  Kau  ff  mann 4f>4 

Zur    altgermanischen    Sprachgeschichte,      (lermanisch    ug    aus    uiv. 

Von  S.  Bugge .•)04 

Einige  bemerkungen  über  ge-  bei  verben.     Von  P.  Pietsch      .    .    516 

Wurstener  Wörterverzeichnis.     Von  0.  Bremer 530 

Die  <?-reime  bei  Opitz.     Von  E.  Heilborn 567 

Zu  den  deutschen  <?-lauten.    Von  W.  Braune 573 

Keinhart  Fuchs.     Von  demselben 585 

Nachtrag  zu  \ü\\i\.  ein.     Von  demselben 586 

(üeschlossenes  e  für  ii  vor  st.     Von  K.  T.,uick 588 

Nachtrag.     Von  F.  Ilolthause  n 590 


DER  STOFF  DES  SPIELMANNSGEDICHTES 
ORENDEL. 

Das  (in  dem  zwölften  jahihuudeit  veifasste)  spieimanns- 
gedicht  Orendel  ist  die  (legendarische)  Verarbeitung  eines  älte- 
ren stotfes  (nach  E.  H.  Meyer,  Zs.  fda.  XII,  387  ff.  unter  ein- 
flechtung  historischer  tatsachen  des  zwölften  Jahrhunderts i)). 
Das  ergibt  sich  aus  folgenden  er  wägungen:  1.  der  name  des 
beiden  ist  in  Urkunden  zu  verfolgen:  zeitlich  bis  in  das  achte 
Jahrhundert  zurück,  ethnisch  bei  Franken,  Baiern  und  auf 
italischem  boden.2)  2.  Die  persönlichkeit  des  Orendel  erscheint 
als  held  zweier  weiterer,  im  norden  im  12/13.  Jahrhundert  auf- 
gezeichneter sagen,  welche,  bei  verhältnissmässig  ursprüng- 
lichem Charakter,  unter  einander  wie  gegen  das  erwähnte  spiel- 
mannsgedicht  hinsichtlich  des  Inhaltes  auffallend  abweichen, 
in  einem  masse,  das  bis  zur  annähme  ihrer  Unvereinbarkeit 
geführt  hat.  3.  Der  name  des  beiden  erscheint  angelsächsisch 
bereits  als  appellativ,  und  zwar  als  ein  appellativ  von  bedeut- 
samer färbung. 

Mit  diesen  Verhältnissen  der  Überlieferung  ist  der  forschung 
die  aufgäbe  gestellt,  zu  untersuchen:  1.  besteht  zwischen  den 
drei  sagen,  die  sich  des  gleichen  beiden  berühmen,  ein  innerer 
Zusammenhang:  so  nämlich,  dass  sie  verschiedene  abarten  des 
gleichen  grundstoifes,  oder  aber  verschiedene  entwickelungs- 
stufen  desselben,  oder  endlich  verselbständigte  einzelne  selten 
der  ältesten  sagenform  darstellen?  2.  Wenn  ein  grundstoff 
der  drei  bezeichneten  sagen  anzunehmen  ist:  ist  derselbe  ein 
alter  mythus?     3.   Wenn  die  zweite  frage  zu  bejahen:  welche 


')  Eine  andere  ansieht  begründet  Berger  in  seiner  neuen  Orendel- 
ausgabe. 

^)  MüUenhoff,  Deutsche  altertumsk.  I,  33. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutscheu  spräche.    XIII.  1 


2  BEER 

Stellung  niniint  derselbe  ein  in  der  g-esamtlieit  der  germanischen 
niytheuniasseV  4.  Bezüglich:  welche  Stellung  innerhalb  der 
indogermanischen  mythik  i)? 

Keine  der  vier  fragen  lässt  sich  unabhängig  von  der  an- 
deren lösen.  •  Denn  gesetzt,  den  drei  sageufornien  liege  ein 
gemeinsamer  mythus  zu  gründe,  so  ist  das  Verhältnis  jeder 
einzelnen  zu  der  urgestalt  erst  nach  der  feststellung  und 
erörterung  dieser  urgestalt  zu  ermöglichen.  Die  erkenntnis 
eines  mythus  als  solchen  und  die  deutung  seines  anschauungs- 
gehaltes  ist  widerum  bedingt  von  der  Untersuchung  seines  Ver- 
hältnisses zu  der  gesamten  einschlägigen  deutschen,  und,  unter 
umständen,  ausserdeutschen  mythenmasse.  Denn  mehr  und 
mehr  bricht  sich  seit  den  epochemachenden  arbeiten  von  Kuhn, 
Schwartz  und  Mannhardt  die  Überzeugung  bahn,  dass  die  deu- 
tung eines  mythus  nicht  dem  nachempfindenden  genie  einzelner 
dichternaturen  oder  dem  Spürsinn  ihrer  nachtreter  aufbehalten 
ist  sondern  sich  als  das  werk  sorgfältig  kritischer  analogien- 
sammlungen   und   vergleichungen  darstellt,   welche  schliesslich 


1)  Unter  dem  namen  mythik  begreife  ich  den  gesamten  mythen- 
bestand  eines  Volkes  (bezügl.  einer  Völkergemeinschaft):  im  gegensatz 
zu  dem  begriff  mythologie,  das  ist  der  wissenschaftlichen  Systematik 
dieses  mythenbestandes.  Diese  Scheidung  erscheint  heute  um  so  an- 
gebrachter, als  die  Wissenschaft  nach  missverstandenen  klassischen 
mustern  zu  der  voreiligen  annähme  (bezüglich  constiuction)  eines  ger- 
manischen gütterhimmels  geschritten  ist,  der  sich  nur  nordisch  (und  auch 
da  erweislicher  massen  als  das  letzte  erzeugnis  einer  ganz  andersartigen 
entwickelung),  westgermanisch  überhaupt  nicht  feststellen  lässt.  Der 
von  anderer  seite  vorgeschlagene  name  sagenkunde  erscheint  nicht  an- 
wendbar: 1.  weil  es  sich  beispielsweise  in  der  indogermanischen  mythik, 
wie  andrenorts  ausführlicher  dargetan  werden  soll,  wahrscheinlich  über- 
haupt nicht  um  gebilde  handelt,  auf  die  der  name  sage  in  irgend  einer 
der  bisher  üblichen  bedeutungen  angewendet  werden  könnte,  sondern 
um  die  primitiven  ansätze  der  sage,  die  naiv  personificierten  natur- 
anschauungen ;  2.  weil  unter  dem,  in  einer  zeit  unklarster  wissenschaft- 
licher anschaiiung  eingeführten  ausdruck  sage  beinah  jeder  mythologe 
etwas  anderes  versteht.  Mancher  wird  sich  noch  entsinnen,  mit  welcher 
entrüstung  Müllenhoff  einen  anfänger  abkanzelte,  der  das  wort  sage  in 
einer  anderen  als  der  von  ihm  geprägten,  keineswegs  unanfechtbaren 
bedeutung  anwenden  wollte.  Bei  jeder,  besonders  aber  einer  jungen 
Wissenschaft  handelt  es  sich  vornemlich  um  eine  feste,  allen  gemein- 
same terminologie,  und  es  ist  zu  empfehlen  unabgenützte  ausdrücke 
strittigen  benennungen  vorzuziehn. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  3 

ZU   einem   erleuchtenden  punkte  führen,    der  die  gesamte,    um 
ihn  geschaarte  iiberlieferungsmasse  erhellt. 

Die  beantwortung  der  angeführten  vier  fragen  bietet 
somit  nicht  sowol  die  disposition,  vielmehr  den  endzweck  der 
folgenden  erörterungeu. 

§  1.    Die  drei  sagen. 

I.    Die   dänische  sage. 

Unter  den  nordischen  Überlieferungen  der  Orendelsage  ist 
die,  hinsichtlich  der  handschriftlichen  tixierung,  ältere  die  auf- 
zeichnung  in  des  Saxo  Grammaticus  Gesta  Danorum  III.i) 
Horvendillus,  der  sehn  des  Gervendillus,  war  ein  grosser  see- 
könig,  das  ist  ein  Viking,  ein  pirata.  Damit  erregte  er  den 
eifersüchtigen  hass  eines  anderen  Viking,  des  königs  CoUerus. 
Als  ihre  beere  zu  beiden  selten  einer  insel  lagern,  treffen  sich 
die  beiden  führer  durch  zufall,  offenbar  auf  einer  recognoscie- 
rung.-)  Unter  ritterlichen  bedinguugen  wird  ein  Zweikampf 
beredet  und  inmitten  einer  lieblichen  frühlingslandschaft  in 
dramatisch  dargestellter  weise  zu  ende  geführt.  Koller  fällt. 
Darauf  verfolgt  Horvendillus  noch  seines  feindes  Schwester 
Sela  und  tötet  sie.  Nachmals  vermählt  er  sich  mit  einer 
königstochter  Gerutha.  Nachmals  wird  er  von  seinem  nei- 
dischen bruder  Fengo  erschlagen,  von  seinem  söhn  Amleth 
gerächt. 

Die  Gesta  Danorum  sind  eine  reichlich  fliessende,  aber 
durch  mancherlei  üble  zutaten  getrübte  sagenquelle.  In  dem 
gedächtnis  des  dänischen  mönches  mischte  sich  ein  buntes 
durcheinander  von  sagen,  das  er  mit  möglichster  Vollständig- 
keit und  in  durchaus  willkürlicher,  mit  eigenen  poetisclien  zu- 
taten verbrämter  darstellung  und  anordnuug  dem  leser  unter- 
breitete.    So  entstand  ein  historisierender  roman,   eine  pseudo- 


1)  Bei  Holder  s.  85. 

'^)  Saxo  berichtet:  der  liebliche  anblick  der  afer  hätte  die  beiden 
führer  veranlasst  die  insel  zu  betreten,  der  frühling^sherrliche  anblick 
des  Waldes  sie  verleitet  denselben  zu  durchstreifen.  Der  moderne  natur- 
sinn des  civilisierten  geistlichen  und  der  innere  drang,  selbsttätig  poe- 
tische ausschmückungen  zu  den  originalen  vorlagen  zu  fügen,  haben  hier 
deutlich  das  ursprüngliche  übertüncht. 

1* 


4  BEEfe 

ehrouik,  zu  einem  guten  teil  auf  grund :  wahrscheinlich 
einer  umfangreichen  traditionellen  sagenkenntnis,  nachweis- 
lich einer  ansehnlichen  zahl  verschiedenzeitiger  und  verschie- 
denartiger, vielfach  unvereinbarer  lieder,  die  ebenso  locker  wie 
willkürlich  ineinandergearbeitet,  vielfach  missverstauden,  viel- 
fach rationalistisch  ausgedeutet  oder  mit  chronistenhafter  phan- 
tasie  in  das  historische  weiter  ausgeführt  und  mit  moralisie- 
renden betrachtungen  durchsetzt  sind.  Für  ihre  benutzung 
sind  folgende  gesichtspunkte  massgebend:  1.  die  lieder,  aus 
welchen  Saxo  schöpft,  sind  von  sehr  verschiedener  Zuverlässig- 
keit. Einige  von  ihnen  sind  unverkennbare  spielmanusliederi), 
motivieren  auf  das  nachlässigste,  mischen  anderweitig  ent- 
nommene motive  ein  oder  tragen  vielleicht  gar  einem  ver- 
derbten geschmack  frivole  rechnung;  es  wird  sich  noch  ge- 
legenheit  finden,  ein  beispiel  für  die  letztere  gattung  anzu- 
führen.2)  Andere  erweisen  das  gepräge  eines  höheren  stils. 
Einige  sind  durchaus  modern  empfunden  und  tragen  ritterliche 
Sitten  in  ein  anders  geartetes  Zeitalter.  Mit  einem  worte:  die 
lieder  sind  von  ihren  verschiedenartigen  und  verschiedenzeitigen 
Verfassern  individuell  gestaltet  und  bereits  mit  accessorischen 
elementen  ausstaffiert  worden.  2.  Diese  modificierten  lieder 
wurden  von  Saxo  des  weiteren  verunstaltet,  indem  er  sie 
a)  schlechtweg  missverstand"'),  b)  einem  inneren  dichterischen 
dränge  folgend  mit  ausführlichen  dialogen  bereicherte'*),  c)  mit 
den  eigenen  kindlichen  motivierungen  versah,  d)  zu  einem 
ganzen  zusammenarbeitete,  wobei  er  taten  und  menschen  ziem- 
lich willkürlich  untereinander  gemengt  zu  haben  scheint. 

Auf  grund  dieser  beobachtung  ist  der  kämpf  des  Horvendil 
mit  Koller  nach  rückwärts  von  der  historischen  anknüpfung, 
nach   vorwärts   von  der  angeschweissten  Amlethsage  zu  lösen. 


')  Vgl.  die  unten  folgenden  besprechungen  der  sagen  von  Hother 
und  Halfdan. 

^)  Gelegentlich  der  besprechung  der  Mitothinsage. 

'■')  Vgl.  die  analyse  der  Hothersage;  ferner  die  Verschiebung  des 
dichterischen  königstitels  Gram  (zu  vgl.  Uhland  Schriften  VI,  11 1  u.  112); 
endlich  die  widerholte  zweimalige  erzählung  der  niimlichen  sage,  wenn 
ein  paar  namen  verändert  sind:   beispiele  weiter  unten. 

*)  Vgl.  die  langatmige  anrede  des  Othinus  an  Bous  a.  a.  o.  H2  und 
die  analyse  der  Hothersage. 


DER  STOFF  DES  OKENDEL.  5 

Seine  eigensehaft  als  seekönig  ist  bedeutungslos  bei  einem  be- 
richterstatter,  der  mit  Vorliebe  seine  beiden  zu  Vikingen  maclft 
und  selbst  den  Hotber  über  Balder  eiuen  seesieg  erfechten  lässt. 
Die  zufällige  begegnung  auf  der  insel  ist  ein  missverständnis 
des  in  der  nordischen  Sagenwelt  typischen  Holmgangmotivs, 
die  begegnung  auf  der  recognoscierung  statlage  nach  beliebten 
mustern,  der  ritterliche  zweikamjjf  mit  dem,  was  darum  und 
daran  hängt,  eigentum  des  dichters  der  vorläge.  Es  bleibt: 
1.  Horvendillus  ist  der  söhn  des  Gervendillus.  2.  Horvendillus 
besiegt  und  tötet  den  köuig  Collerus.  3.  Wahrscheinlich:  der 
kämpf  findet  in  einem  frlihling  statt  (darüber  später).  4.  Viel- 
leicht: der  weitere  kämpf  mit  8ela,  b.  Vielleicht:  die  Ver- 
mählung mit  Gerutha,  sofern  diese  nicht  in  die  Amlethsage 
gehört.  Von  Uhlands  versuch,  eine  beziehung  zwischen  ihr 
und  der  eddischen  Groa  herzustellen,  wird  später  die  rede 
sein.  Sollte  die  Vermählung  als  dem  originale  zugehörig  be- 
trachtet werden,  so  würde  die  Wahrscheinlichkeit  dafür  sprechen, 
dass  der  kämpf  um  den  besitz  der  braut  statt  gefunden  habe: 
ein  häufiges  Holmgangsmotiv  in  nordischen  quellen;  um  so 
mehr,  da  die  kriegerische  eifersucht  als  motiv  mit  dem  sce- 
königtum  steht  und  fällt  und  leicht  einem  missverständnis 
Saxos  entsprungen  sein  kann.  Das  ihm  wörtlich  oder  inhalt- 
lich gegenwärtige  lied  würde  alsdann  nichts  enthalten  hat)en 
als  den  kämpf  zwischen  Horveudil,  dem  söhn  Gervendils,  und 
Koller  auf  einer  insel  im  frühling,  mit  einer  Schlussbemerkung, 
dass  nachmals  Horvendil  und  Gerutha  sich  vermählt  hätten. 
Alles  dies  wird  andrenorts  weiter  erörtert  werden. 

II.  Die  norwegische  sage. 
Das  siebzehnte  capitel  der  Skalda  knüpft  an  die  i)äucr- 
liche  erzähkuig  von  dem  kämpfe  'rii(»rs  mit  Hrungnir')  die 
norwegische  Überlieferung  der  Orendelsage.  Ein  stück  von 
Hrungnis  scldeifstein  ist  in  Thors  stirnc  gedrungen  und  nicht 
zu  entfernen.  Thor  wendet  sich  an  die  zaubcrkuiidige  Groa, 
die  frau  Oervandils  des  kecken.  Als  ihre  lieder  den  stein  zu 
lockern  beginnen,  will  Tiior  ihr  den  dienst  mit  froher  botsciiuft 
danken   und    verkündet  ihr,   er  liabc,  von  norden  her  über  die 


')  Der  später  erürtert  wertlen  wird. 


6  BEER 

Eliwagar  watend,  auf  seinem  rücken  im  korb  ihren  galten 
Oervandil  aus  dem  riesenbeini  herübergetragen.  Zum  Wahrzeichen 
führt  er  an,  dass  ein  zeh  jenem  aus  dem  korb  gestanden  und 
erfroren  sei;  den  habe  er  an  den  himmel  als  einen  stern  ge- 
worfen, welcher  Oervandils  zeh  heisse.  Bei  dieser  nachricht 
ist  Groa  so  erfreut,  dass  sie  ihre  lieder  vergisst  und  der 
Schleifstein  stecken  bleibt.  Daran  knüpft  der  erzähler  die 
mahnung,  solche  steine  wegzuwerfen:  dann  rühre  sich  der 
stein  in  Thors  köpf.  Diese  ermahnung,  die  etwas  dunkel  ist, 
nimmt,  wie  es  scheint,  auf  einen  volksbrauch  bezug,  der  aber 
jedenfalls  nicht  aus  dem  mythus  herrührt  sondern  nur  von  dem 
erzähler  mit  ihm  in  beziehung  gesetzt  wurde. 

Die  kritik  und  Charakteristik  dieser  erzählung  und  ihrer 
quelle  wird  später  statt  haben,  lieber  das  Verhältnis  der  namen 
Oervandil  und  Orendel  hat  MüUenhoffi)  erschöpfend  gehandelt. 
Die  etymologie  wird  weiter  unten  zur  spräche  kommen. 

in.  Das  spielmannsgedicht. 
Das  spielmannsgedicht  Orendel  ist  eine  complicierte  er- 
scheinung.  Spät  überliefert,  gibt  es  der  philologischen  wie  der 
sagengeschichtlicheu  kritik  manches  rätsei  auf.  Steht  jene  vor 
einem  verderbten,  mehrfach  interpolierten  text,  so  muss  diese 
mit  zahlreichen  Umbildungen  rechnen,  die  der  stoff  erfahren, 
und  mit  zudichtungen,  um  die  er  bereichert  wurde.  Die  zu- 
dichtungen  sind  im  wesentlichen:  1.  vervielfältigende  wider- 
holungen  des  nämlichen  abenteuers;  2.  einführung  von  ander- 
weitig beliebt  gewordenen  Situationen  und  motiven;  3.  viel- 
leicht: episodische  einflechtung  historischer  beziehungen.2)  Die 
zweite  klasse  von  Zusätzen  ist  durch  analogiensammlung  in 
vergleichung  zu  den  anderen  erhaltenen  Spielmannsdichtungen, 
die  dritte  durch  historische  kritik  auszumeizen;  mit  der  ersten 
gruppe  muss  man  sehr  vorsichtig  umgehen;  nicht  allein,  dass 
sich  schwer  bestimmen  lässt,  welche  redaction  original,  und 
welche  Vervielfältigung  ist:  es  kann  geschehen  sein,  dass  in 
dem  köpfe  des  spielmannes  zwei  verschiedene  fassungen  der 
nämlichen  episode  durcheinander  geraten  sind  und,  in  ziemlich 


')  A.  a.  0.  53;  vgl.  auch  Eschmann,  Zs.  fda.  XI,  169. 
'■')  Vgl.   E.  H.  Meyer  a.  a.  o. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  7 

paralleler  und  hinlänglich  widersinniger  gestalt,  neben  einander 
ihre  statte  gefunden  haben.  Die  kritik  des  spielmannsgedichtes, 
soweit  sie  in  diese  sagenuntersuchung  einschlägt,  wird  sich  mit 
der  Wahrscheinlichkeit  zu  befassen  haben,  dass  dem  Verfasser 
der  vorliegenden  Überlieferung  verschiedene  behandlungen  des 
Orendel Stoffes,  wenn  nicht  als  lieder,  so  dem  Inhalte  nach  be- 
kannt waren,  die  er  für  die  herstellung  der  letzten  ungeheuer- 
lichen gestalt  verwante;  ein  genetisches  Verhältnis,  das  auch 
für  die  Eudrun  sehr  lebhaft  in  erwägung  zu  ziehen  ist. 

Die  vorliegenden  erörterungen  werden  sich  mit  der  gene- 
tischen Untersuchung  des  spielmannsgedichtes  nur  insoweit  be- 
schäftigen, als  es  für  die  lösung  der  anfänglich  gestellten  auf- 
gaben von  nutzen  erscheint. 

Der  Trierer  königssohn  Orendel  ist  heiratslustig.  Das  ist 
die  ausschlag  gebende  Situation,  mit  welcher  der  Oswald,  der 
Salman,  der  Rother  beginnen,  die  in  der  Kudrun  eine  hervor- 
ragende Stellung  einnimmt  und  auch  widerholt  in  das  Nibe- 
lungenlied hineinspielt.i)  Gewöhnlich  tritt  der  könig  unter  seine 
grossen  und  befragt  sie  über  die  schönen  der  erde;  aber  Orendel 
ist  noch  knabenhaft  jung  und  hat  einen  regierenden  vater, 
den  könig  Oeugel;  an  ihn  wendet  er  sich  mit  seinen  wünschen. 
Die  antwort  lautet  in  der  regel:  ich  weiss  eine  schöne  Jung- 
frau, aber  sie  ist  nicht  zu  gewinnen;  und  als  begründung  wird 
gern  angegeben:  ihr  vater  gibt  sie  nicht  her.  Hier  weicht 
unser  gedieht  bedeutsam  ab.  Der  könig  weiss  eine  Jungfrau, 
sie  ist  königin  des  heiligen  grabes,  sie  ist  auch  zu  gewinnen: 
geh  hin,  wirb  um  sie  und  weihe  dein  leib  und  seel  dem  hei- 
ligen grab.  Also  eine  brautfahrt  nach  beliebten  mustern,  aber 
individuell  eine  fahrt  in  das  heilige  land.  Und  so  wird  sie 
denn  auch  eingeleitet:  kein  ritter  soll  zur  teilnähme  gezwungen 
werden.  Wer  sich  beteiligen  will,  der  nehme  —  mau  er 
wartet,  das  heilige  kreuz?  nein,  aber  einen  goldenen  sporn 
Die  fahrt  beginnt;  es  folgen  zwei  abcntcuer.  Die  Seefahrer 
geraten  in  das  klebcrmecr  und  kommen  durch  ein  wunder 
frei;  sie  werden  von  beiden  angegrifi'en  und  siegen.     Auf  diese 


')  Um  die  beliebtheit  der  brauttahrten  in  der  spieliuannspoesie  zu 
beurteilen,  vergleiche  mau  die  häufigkeit  dieses  motives  in  der  iHÖreks- 
saga.     Auch  bei  Saxo  findet  sich  einschlägiges. 


8  BEER 

bedeutungslosen  episoden  folgt  der  grosse  schritt  der  hand- 
lung:  die  ganze  flotte  versinkt  im  stürm,  Orendel  allein  er- 
reicht auf  einer  planke  treibend  das  land. 

Nackt  und  bloss  findet  ihn  ein  fischer,  der  ihm  miss- 
trauisch  die  aufnähme  verweigert;  auch  als  sich  Orendel  selbst 
als  einen  gescheiterten  fischer  bezeichnet,  schwindet  sein  arg- 
wöhn nicht;  er  will  erst  die  probe  auf  seine  kunst  machen: 
Du  willst  ein  fischer  sein?  wirf  aus!  ziehst  du  nicht  gut,  bist 
du  verloren.  Der  himmel  legt  sich  in  das  mittel:  das  zweite 
wunder  geschieht:    Orendel  zieht  eine  gewaltige  ladung. 

Fischer  Ise  ist  ein  grosser  herr;  er  hat  eine  bürg  mit 
sieben  türmen,  und  achthundert  fischer  dienen  ihm.  Auf  der 
burgzinne  empfängt  ihn  sein  weib  im  kreise  ihrer  Jungfrauen: 
wol  eine  typische  Situation.  Hier  widerholt  sich  die  gleiche 
scene:  die  frau  traut  dem  ankömmling  nicht.  Aber  Ise  ist 
durch  den  fischfang  gewonnen,  und  Orendel  wird  sein  knecht. 

Man  darf  die  haudlung  nicht  fest  anfassen.  Das  natür- 
liche wäre  gewesen,  dass  Orendel  seinen  stand  und  reisezweck 
angegeben  hätte;  aber  wo  wäre  dann  das  wunder  geblieben! 
und  zudem  wird  der  wunderbare  fischzug  folgenreich  für  die 
ganze  dichtung. 

Der  empfang  durch  die  fischerkönigin  ist  nur  eine  breite 
epische  ausmalung  der  Situation.  Zu  dem  greisen  könig  ge- 
hört die  königin.  Ihr  misstrauen  gegen  den  ankömmling  ist 
begründet:  seit  unvordenklicher  zeit  ist  kein  fremder  in  diese 
abgelegenheit  gekommen:  ein  bemerkenswerter  zug. 

Diese  und  eine  gleich  folgende  Situation  waren  trotz  ihrer 
nebensächliehkeit  zu  erörtern,  weil  Müllenhoff  auf  sie  weit- 
gehende Schlüsse  gegründet  hat. 

In  dem  leibe  eines  der  von  Orendel  mit  göttlicher  hülfe 
gezogenen  fische  findet  sich  der  graue  rock  Christi,  der  dem 
legendarischen  Überarbeiter  des  alten  Stoffes  (vielleicht  nicht 
dem  letzten  Überarbeiter,  wie  sich  ergeben  wird)  das  wichtigste 
ist  und  nicht  wider  aus  dem  äuge  schwindet.  Orendel  erbittet 
ihn  von  seinem  herrn;  aber  meister  Ise  tut  nichts  um  gottes 
willen,  und  Orendel  hat  kein  geld.  So  muss  er  denn  nackt 
weiter  arbeiten.  Eine  Interpolation  erzählt  freilich,  das  fischer- 
ehepaar,  in  einer  plötzlichen  anwandelung  von  anstaudsgefühl, 
habe  auf  bitten  der  frau  dem  knechte  bekleidung  gekauft,  da- 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  9 

mit  er  zu  sankt  Thomä  Dicht  nackt  einhergehe  i);  aber  gleich 
darauf  erfährt  man,  dass  der  junge  könig  noch  ungebesserte 
blosse  erdulde,  bis  der  himmel  ihn  mit  geld  ausstattet  und  der 
geizige  Ise,  dem  das  himmlische  angebet  nicht  genügt,  durch 
ein  wunder  zur  herausgäbe  des  heiligtums  gezwungen  wird. 

Damit  ist  das  dritte  Stadium  der  handlung  erreicht: 
Orendel  hat  seinen  grauen  rock 2),  nimmt  Urlaub  und  geht  nach 
Jerusalem.  Unterwegs  begegnet  ihm  noch  ein  abenteuer:  er 
wird  von  beiden  eingekerkert,  und  die  königin  Maria  muss 
ihren  söhn  für  ihren  Schützling  wider  in  bewegung  setzen,  wie 
vormals  bei  dem  klebermeer.  In  Jerusalem  kommt  er  just  zu 
einem  grossen  turnei:  die  tempelherrn  zeigen  vor  ihrer  fürstin 
ihre  ritterlichen  künste,  und  frau  Bride,  umgeben  von  ihren 
Jungfrauen,  schaut  von  der  burgzinne  zu.  Es  scheint  aber, 
dass  auch  heidnische  könige  an  demselben  teil  nehmen;  beiden 
wie  templer  sind  frau  Bride  Untertan,  wenn  auch  die  templer 
die  eigentlichen  Schützer  des  grabes  sind.  Ja,  es  scheint,  dass 
es  mit  dem  turnier  eine  besondere  bewandnis  hat:  frau  Bride 
ist   unvermählt,  und  die  hohen  taten,   welche  vor  ihren  äugen 


')  Aus  der  combination  dieser  lret)estat  mit  der  Situation  von 
Orendels  empfang  bei  der  fischerkönigin  folgerte  Milllenhoft",  dass  dem 
mythus,  ähnlich  der  IlymiskviÖa  (s.  §  2)  ein  zug  eigentümlich  gewesen 
sei,  dass  der  gescheiterte  Orendel  von  Ise  mit  gefährlicher  feindschaft, 
von  seinem  weibe  mit  schützender  freundlichkeit  aufgenommen  worden 
sei;  sehr  mit  unrecht,  einmal,  weil  die  empfangssituation  episodische 
mache,  das  mitleid  der  fischerkönigin  zu  st.  Thomä  augenscheinliche 
Interpolation  ist;  sodann  weil,  wenn  eine  der  beiden  darstellungen  ur- 
sprünglich sein  soll,  die  erstere  jedenftills  für  die  zuverlässigere  gelten 
muss,  der  zu  folge  die  fischerkönigin  den  Orendel  nichts  weniger  als 
freundlich  aufnimmt. 

^)  Der  graue  rock  ist  undurchdringlich  (v.  d.  Ilagen  729).  Hieraus 
eine  unverletzlichkeit  Orendels  zu  folgern,  wäre  im  höchsten  grade  ge- 
wagt. Der  unverletzlichmachende  rock  tritt  in  der  deutscheu  sage  mehr- 
fach auf,  aber  immer  so  physiognomielos,  dass  er  aus  dem  glauben  er- 
wachsen zu  sein  scheint,  dass  durch  beobachtung  gewisser  heiligender 
gebrauche  ein  unverletzliches  gewebe  herstellbar  sei  (vgl.  Grimm,  My- 
thologie !t20).  Das  motiv  der  unverletzlichkeit  hat  überhaupt  mit  der 
zeit  immer  melir  an  glaubwürdiger  ursprünglichkeit  verloren;  der  Achilles- 
sage ist  es  nach  Prellers  nachweis  (Gr.  m.  II,  iiH'>,  a.  1)  accessorisch,  für 
die  Sigfridsage  zum  mindesten  anfechtbar,  für  die  Baidersage  ebenfalls 
durchaus  nicht  über  allen  zweifei  erhaben  (s.  u.). 


10  BEER 

vollbracht  werden,  sind  ritterliche  Werbungen  um  ihre  minne; 
Werbungen,  die  nicht  unerhört  bleiben,  da  sie  dem  nachmaligen 
Sieger  (Orendel)  bereit  ist  ihre  band  zu  reichen.  Es  ist  dies 
eine  Situation,  die  ganz  den  höfischen  anschauungen  der  zeit 
entsprach;  mau  braucht  nur  an  das  waffenspiel  vor  Herzeloide 
zu  denken. 

Als  Orendel  in  seinem  grauen  röcklein  das  ritterliche 
Schauspiel  vor  den  äugen  der  umworbenen  sich  vollziehen 
sieht,  jammert  er  bitterlich,  dass  er  in  erzwungner  Untätigkeit 
zuzuschauen  verurteilt  ist.  Hier  hebt  eine  scene  an,  in  wel- 
cher durch  das  läppische  gewand  eines  kindischen  überarbei- 
beiters  ein  liebenswürdiges  talent  schaut.  Orendel  findet  zwei 
briider  beim  brettspiel,  zwei  heidnische  könige,  welche  für  die 
junge  herrin  sehr  warme  gefühle  hegen.  Der  eine  der  milde 
bruder,  der  andere  der  hochfahrende.  Der  milde  stattet  den 
unscheinbaren  graurock  auf  seine  schmerzlichen  bitten  mit  ross 
und  waflen  aus,  der  hoffärtige,  darüber  erbittert,  greift  den 
Jüngling  an  und  muss  sein  leben  lassen.  Hier  ist  wirklich 
eine  tragische  Situation  vorhanden,  die  der  Überarbeiter  freilich 
verzettelt.  Zu  bemerken  ist:  1.  Orendel  verspricht  dem  bei- 
den, falls  er  sein  ross  oder  seine  wafifen  verliert,  als  eigen- 
mann ersatz  zu  leisten.  2.  Das  ross  des  beiden  ist  ein  wildes 
tier,  es  hat  ihm  schon  manchen  knecht  erschlagen;  freundlich 
mahnt  er  Orendel  zur  vorsieht.  Orendel  aber  springt  ohne 
Steigbügel  auf  seinen  rücken;  ein  kunststück,  das  noch  mehr- 
fach, und  von  anderen,  berichtet  wird.  Auf  beide  umstände 
baute  Müllenhoff  weitergehende  Schlüsse. 

In  besitz  von  ross  und  waffen,  stösst  der  junge  held  nie- 
der, was  ihm  entgegentritt;  aber  wol  lauter  beiden,  da  er  später 
frau  Bride  versichert,  er  habe  ihr  keinen  Christen  erschlagen. 
Die  schöne  königin  staunt  den  furchtbaren  kämpen  an  und 
lässt  ihn  zu  sich  entbieten.  Keiner  kennt  seinen  namen,  allen 
heisst  er  nach  seinem  unscheinbaren  äusseren  der  graurock. 
Bescheidenlich  lehnt  er  die  ladung  ab;  er  sei  nur  ein  geringer 
knecht.  Die  tempelherrn  zürnen  auf  die  königin  ob  dieser  aus- 
zeichnung  und  berufen  einen  feindlichen  riesen,  dessen  Über- 
windung Orendels  waffenglanz  nur  steigert. 

Nach  solchen  taten  geht  ihm  die  königin  entgegen  und 
begrüsst  ihn.     Da  wir   eine  legende   vor   uns   haben,    folglich 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  H 

eine  göttliche  fiiguug,  weiss  natürlich  frau  Bride  die  ankunft 
ihres  ihr  vom  himmel  bestimmten  gemahls  voraus  und  ver- 
mutet ihn  in  dem  fremden;  aber  Orendel  verschweigt  seinen 
namen.  Wichtig  ist  bei  dieser  ersten  Zusammenkunft  die  klage 
der  Bride:  du  erschlägst  mir  meine  mannen,  die  mir  das 
heilige  grab  behüten  sollen!  und  seine  antwort:  nein  herrin, 
ich  erschlug  dir  keinen  Christen;  aber  deine  heidnischen  knechte 
tun  übel  an  mir,  ich  schone  sie  nur  um  deinetwillen. i)  Hier 
stellt  sich  das  obenerwähnte  Verhältnis  klar:  Christen  sind 
die  hüter  des  grabes,  aber  auch  beiden  die  mannen  der 
Bride. 

Ein  zweiter  heidnischer  riese  erscheint  mit  heeresmacht 
und  droht  die  Zerstörung  des  heiligen  grabs,  wenn  ihm  der 
graue  rock  nicht  ausgeliefert  werde.  Auch  er  wird  bewältigt, 
und  nun  geht  frau  Bride  dem  beiden  zum  zweiten  mal  ent- 
gegen und  redet  ihn  mit  Worten  an,  die,  zum  teil  typisch,  im 
gegensatz  zu  der  begrüssung  nach  dem  ersten  riesenkampf 
äusserst  ursprünglich  und  frei  von  legendarischem  klingen: 
seid  willkommen,  herr  graurock!  wüsste  ich  euren  namen, 
würde  ich  euch  gern  anders  nennen.  Doch  auch  so  sollt  ihr 
mein  gemahl  und  könig  sein.  Nachdem  ein  engel  die  Ver- 
mählung verhindert,  und  nach  beliebten  mustern  das  schwert 
der  beiden  brautlager  getrennt  hat,  ist  ein  dritter  kämpf  zu 
bestehen  gegen  einen  beiden,  der  aber  diesmal  seine  heraus- 
forderung  in  höchst  charakteristischer  weise  begründet:  er  ist 
nicht  aus  rauflust  erschienen  den  grauen  rock  zu  überwinden, 
sondern  als  freier  der  frau  Bride:  sie  soll  sein  eigen  werden,  der 
graurock  hängen;  und  zwar  am  burggraben  soll  er  hängen,  allen 
bemerkbar.  Die  anschliessenden  scenen  sind  dementsprechend 
von  durchaus  individuellem  gepräge.  Die  königin  hat  den 
templern  entboten,  ihren  eigenmann  (d.  i.  Orendel)  zu  be- 
schirmen. Aber  die  treulosen  ritter  haben  ihn  im  stich  ge- 
lassen, so  dass  nur  das  persönliche  eingreifen  des  heldenhaften 
weibes  den  jungen  könig  in  der  höchsten  not  errettet.  Wie 
die  tempelherrn  die  königin  im  kämpfe  sehn,  eilen  sie  auf  das 
Schlachtfeld.  Aber  frau  Bride,  auf  das  höchste  erbittert,  steht 
im  begriff  sich  wider  ihre  eigenen  mannen  zu  wenden;    es  ist 


1)  Bei  V.  d.  H.  1443  tf. 


12  BEER 

zu  erwarten,  dass  sie  in  dem  originalen  gedieht  nicht  ganz 
allein,  wie  es  lediglich  die  wunderwut  der  legende  forderte, 
ihren  hehlen  herausgeschlagen  habe,  den  treubrüchigen  folglich 
mit  wenigen  getreuen  gegenübersteht;  ein  blutiger  kämpf 
scheint  unvermeidlich:  da  gibt  sich  Orendel  zu  erkennen,  und 
die  hoheit  der  Situation  schimmert  noch  durch  die  kindereien 
des  Überarbeiters.  Die  tempelherrn  beugen  und  unterwerfen 
sich,  und  Orendel  besteigt  den  tron. 

Und,  sollte  man  erwarten,  herrscht  fortan  glücklich  und 
in  frieden?  Da  erscheint  der  fischer  Ise  und  fordert  seinen 
knecht  zurück.  Frau  Bride  kauft  Orendel  los,  und  reich  be- 
schenkt zieht  Ise  von  dannen.  Aber  kaum  ist  er  fort,  tritt 
Orendel  vor  die  königin  und  kündet  ihr  an,  dass  er  zu  seinem 
herrn  zurückkehren  müsse.  Um  dies  zu  verhindern,  wird  Ise 
von  neuem  berufen.  Er  erscheint  in  grauem  rock,  sein  rüder 
in  der  band,  riesisch,  die  brauen  zwei  spannen  von  einander 
entfernt.  Frau  Bride  macht  ihn  zum  herzog  und  hüter  des 
heiligen  grabs. 

Hier  sind  zum  ersten  mal  augenfällig  zwei  Versionen  in 
einander  geraten.  Entweder  Ise  kommt  Orendel  zu  holen  und 
frau  Bride  kauft  ihn  los,  oder  Orendel  fühlt  sich  verpflichtet 
zu  Ise  zurückzukehren,  und  frau  Bride  lässt  diesen  holen,  den 
gemahl  zu  lösen;  herzogswürde  und  der  rang  des  grabschützers 
sind  nur  legendarische  mittel  diesen  zweck  zu  erreichen.  Spä- 
tere erörterungen  werden  wahrscheinlich  machen,  dass  die 
zweite  wendung,  in  welcher  sich  auch  die  charakteristische  und 
altertümliche  Schilderung  Ises  befindet,  die  ursprünglichere  ist; 
nur  ist  natürlich  von  der  art  der  entschädigung  abzusehen. 

Hier,  wo  der  erste  grosse  abschnitt  in  der  handlung  ist, 
muss  einen  augenblick  halt  gemacht  werden.  König  Orendel 
unternimmt  nach  berühmten  mustern  eine  brautfahrt  über  das 
meer.  Diese  fahrt  ist  eine  ostfahrt,  legendarisch  gleichzeitig 
eine  wallfahrt  zum  heiligen  grabe.  Auf  dieser  ostfahrt  schei- 
tert er  im  stürm  und  treibt  an  ein  land,  wohin  seit  menschen- 
gedenken  kein  lebendes  wesen  gekommen  ist;  ein  fischerkönig 
von  riesischer  gestalt  nimmt  ihn  als  knecht  an;  der  knecht 
findet  in  einem  fischleib  einen  heiligen  rock,  mit  dem  bekleidet 
er  seine  orientfahrt  fortsetzt.  Er  kommt  nach  Jerusalem  ge- 
rade zu  einem  furnier,  in  welchem  die  mannen  und  umwerber 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  13 

der  jungen  königin  ihre  künste  zeigen,  vielleicht:  um  ihr  herz 
zu  gewinnen.  Eine  dramatische  seene  folgt:  ein  milder  heide 
stattet  ihn  aus  mit  ross  und  waffen,  aber  er  muss  den  hof- 
färtigen  bruder  seines  woltäters  erschlagen.  Er  ist  der  sieger 
im  turnier,  die  königin  wird  auf  ihn  aufmerksam.  Es  folgt 
der  erste,  ganz  physiognomielose  kämpf  mit  einem  heidnischen 
riesen,  noch  eingeschoben  vor  der  ersten  begegnung  mit  der 
königin,  wahrscheinlich  nur  eine  interpolation ,  eine  Verviel- 
fältigung der  folgenden.  Die  erste  begegnung  gehört  der 
legende  an:  frau  Bride  ist  durch  himmlische  Offenbarung  über 
Orendels  kommen  unterrichtet;  er  aber  gibt  sich  nicht  zu  er- 
kennen. Der  zweite  kämpf  ist  abermals  physiognomielos; 
aber  wichtig  ist  die  zweite  begegnung  mit  Bride  durch  ihr  be- 
kenntnis,  dass  sie  nicht  wisse,  wer  der  fremde  held  sei.  Trotz- 
dem begehrt  sie  ihn  zum  gemahl.  Der  dritte  kämpf  ist  aus- 
schlaggebend: 1.  der  riese  verlangt  Bride  zum  w-eib  und  hasst 
den  graurock  als  nebenbuhler.  2.  Es  folgt  eine  äusserst  wirk- 
same und  dramatisch  durchgeführte  handlung,  deren  inhalt  ist, 
dass  Orendel,  durch  den  verrat  von  Brides  mannen  in  die  höchste 
not  gebracht,  durch  Brides  treue  gerettet,  sich  in  dem  augen- 
blick,  wo  die  erbitterte  Bride  (mit  wenigen  getreuen)  sich  auf 
die  ungetreuen  stürzen  will,  zu  erkennen  gibt  und,  sofort  als 
rechtmässiger  herrscher  anerkannt,  den  thron  besteigt.  Durch 
diese  zwei  eigentümlichkeiten ')  gibt  sich  der  dritte  kämpf  als 
Urbild  der  beiden  ersten  zu  erkennen;  aus  dem  zweiten  ist 
vielleicht  das  bekenntnis  der  Bride,  dass  sie  den  graurock 
nicht  kenne,  und  ihr  begehr  nach  seiner  band  als  züge  des 
Originals  herauszuheben,  die  aber  nicht  von  anfang  an  neben- 
einander gestanden  zu  haben  brauchen. 

Sehen  wir  ab  von  typischen  spielmannssituationen  und 
legendarischen  zügen,  so  bleibt  als  ergebnis:  ein  held  scheitert 
auf  einer  ostfahrt,  gelangt  nach  längerem  knechtesdienst  in 
unscheinbarem  gevvande,  von  niemand  gekannt,  zu  einer  um- 
worbenen königin,  besiegt  deren  ungestümen  oder  ungestüme 
freier  und  besteigt  als  ihr  gemahl  den  thron. 

Hinzuzufügen  ist,  dass  Orendel  in  die  knechtschaft  Ises 
zurückzukehren    sich   verpflichtet   fühlt,    aber   durch    seine   ge- 


1)  Die  zweite  wird  nocli  weiter  unten  gewürdigt  werden. 


14  BEER 

mahlin  losgekauft  wird.  Was  an  diesem  zuge  ursprünglich 
sei,  wird  später  erörtert  werden. 

Der  legendarische  tiberarbeiter  führt  die  handlung  weiter. 
Ihm  ist  der  graue  rock  Christi  die  hauptsache,  der  nach  Trier 
gelangen  muss.  Ein  engel  verkündet  dem  Orendel,  dass  seine 
Vaterstadt  in  heidnischer  bedrängnis  schwebe;  in  begleitung 
von  frau  Bride,  seiner  unberührten  gemahlin,  eilt  er  zum  ent- 
satz  herbei.  An  dieser  fortführung  sind  zwei  umstände  wesent- 
lich wegen  der  folgerungen,  die  man  daran  geknüpft  hat: 
i.  (2906  flf.)  frau  Bride  übergibt  die  hut  des  heiligen  grabes 
zweien  herzögen,  ehemaligen  beiden,  die  sich  dann  haben 
taufen  lassen.  Vielleicht  ist  es  ein  interpolator,  der  hinzu- 
bemerkt: nachmals  verkauften  sie  das  grab  an  die  bei- 
den um  einen  schätz.  2.  Orendel  und  die  seinen  sollen 
herrlich  ausgestattet  werden.  Ise  macht  sich  auf  nach  einem 
Strand,  an  dem  er  apfelgraue  rosse  hat  laufen  sehen;  er  jagt 
sie  mit  seiner  furchtbaren  ruderstange,  aber  es  gelingt  ihm 
nicht,  sie  ohne  die  hülfe  ihrer  eigentlichen  herrn  zu  fangen. 
Das  bild  des  riesigen,  fürchterlich  einherschreitenden  graurocks, 
der  die  apfelgrauen  rosse  am  strande  mit  der  ruderstange  vor 
sich  herjagt,  hat  Müllenhoffi)  mit  recht  hervorgehoben  als  ein 
altes  und  ursprüngliches;  über  die  Schlüsse  freilich,  die  er 
daran  knüpfte,  lässt  sich  streiten. 

So  ist  denn  der  graue  rock  nach  Trier  gelangt,  und  hier 
dürfte  die  legende  schliessen.  Sie  scheint  auch  hier  geschlos- 
sen zu  haben  in  dem  text,  der  dem  Verfasser  des  Strassburger 
heldenbuchs^)  zu  obren  gekommen  war:  'und  kam  wider  gen 
Trier,  und  starb  auch  zu  Trier,  und  liegt  auch  zu  Trier'.  In 
der  auf  uns  überkommenen  bearbeitung  hat  die  legende  einen 
fortsetzer  gefunden,  der  sie  vielleicht  auch  mehrfach  interpo- 
liert hat^);  dieser  letzten  band  war  es  lediglich  um  eine  mög- 
lichst reichhaltige  abenteuererzählung  zu  tun.  Ein  träum  be- 
lehrt frau  Bride,  dass  das  heilige  grab  in  den  bänden  der 
beiden  ist.  Die  Trierer  beiden  eilen  nach  Ackers,  die  reli- 
quie  zurücklassend.    Von  Ackers  zieht  frau  Bride  dem  beer  in 


1)  A.  a.  o.  41. 

2)  S.  v.  d.  Hagen:  der  graue  rock  V. 

3)  Bei  der  späten  handschriftlichen  Überlieferung  ist  ein  philologi- 
scher beweis  nicht  zu  führen. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  15 

pilgerkleidern  voran i),  um  zu  sehen,  wie  es  in  ihrem  lande 
steht.  Ein  herzog  Daniel  und  sein  bruder  könig  Wolffhart 
nehmen  sie  gefangen  und  führen  sie  auf  die  bürg  eines  königs 
Minolt,  welcher  ihre  minne  begehrt  und  den  graurock  hängen 
will.2)  Bride  erklärt  sich  bereit  sein  weib  zu  werden,  wenn 
er  sich  taufen  lasse.^)  Darauf  übergibt  er  sie  einem  ritter, 
der  sich  anheischig  macht,  sie  durch  misshandlungen  zu  zwingen, 
dass  sie  mit  ihrer  minne  minder  karge.4) 

Orendel,  durch  einen  pilger  von  dem  geschicke  seines 
weibes  benachrichtigt,  macht  sich  mit  heeresmacht  auf,  lagert 
aber  seine  leute  in  einen  hinterhalt  (nach  beliebten  mustern) 
und  gelangt  mit  Ise  in  pilgertracht  durch  die  hülfe  eines  treuen 
christlichen  torwartes  in  die  bürg  des  königs  Minolt.  Es  folgt 
eine  äusserst  dramatische  scene.  Der  torwart,  der  die  beiden 
nicht  kennt  und  sie  als  boten  gebrauchen  will,  um  könig 
Orendel  das  Schicksal  seines  weibes  wissen  zu  lassen,  erbittet 
von  Minolt  ein  freundliches  geleit  für  seine  schwestersöhne, 
als  welche  er  die  fremden  beiden  ausgibt.  Der  könig,  nach 
bekannten  mustern  durch  träume  gewarnt,  fordert  ihn  auf,  so 
lieb  ihm  seine  huld,  die  fremden  vor  ihn  zu  führen.  Der 
könig:  seid  willkommen,  ihr  waller!  wo  habt  ihr  den  grau- 
rock und  meister  Ise  gelassen?  sagt  mir  die  Wahrheit.  Ise: 
herr,  wir  kennen  sie  nicht,  nach  denen  ihr  fragt!  Minolt  (mit 
einer  heftigen  Verwünschung,  die  aber  unverständlich  über- 
liefert ist):  ihr  seid  es  selbst,  nach  denen  ich  gefragt  habe! 
was  schafft  ihr  in  meinem  lande?  Ihr  müsst  beide  sterben. 
Er  lässt  frau  Bride  bringen:  wenn  sie  die  pilger  kennt,  wird 
sie  dieselben  willkommen  heissen.  Hört,  frau  Bride,  sagt  der 
könig,    begrüsset   diese    leute,    sie   hat   der  graurock   gesant! 


1)  Ein  beliebtes  motiv;  nicht  allein  Salman  als  pilger  ist  heranzu- 
ziehen: eine  ganze  sippe  von  Volksliedern,  -sagen  und  -märchen  alten 
gepräges,  des  inhalts,  dass  eine  gattin  in  pilgertracht  auszieht,  ihren 
in  der  ferne  bei  den  Türken  gefangenen  gemahl  zu  befreien  (bis  nach 
Siebenbürgen  zu  verfolgen). 

2)  Zu  vergleichen  die  nämliche  formel  in  dem  dritten  riesen- 
kampf. 

2)  Eine  offenbare  entstellung. 

*)  Hier  ist  bekannter  boden.  Die  gefangene  Jungfrau,  die  nicht 
ihres  vergewaltigers  weib  werden  will,  ist  aus  der  überlieferten  gestalt 
der  Kudrun  und,  ähnlich,  aus  dem  Karl  Mainet  159,  38  f.  bekannt. 


16  BEER 

Aber  Bride  nimmt  sich  zusammen:  ich  sah  sie  nie!  und,  da 
sie  fühlt,  dass  der  könig  seine  feinde  erkannt  hat,  setzt  sie 
schnell  hinzu:  wenn  ich  nun  dein  weih  werden  wollte,  würdest 
du  diese  männer  ziehen  lassen?  Minolt  weicht  aus:  und  wäre 
diese  bürg  silber  und  gold,  sie  sollte  dir  Untertan  sein!  Aber 
Bride  steigert:  und  wenn  ich  nun  dein  weib  würde,  und  der 
graurock  wäre  da,  würdest  du  ihn  am  leben  lassen?  Da 
bricht  der  könig  los:  so  wäre  mir  sein  tod  doch  erspriesslicher! 
den  muss  er  auch  erleiden,  das  wisse  gewiss!  und  dagegen 
das  hochherzige  weib:  so  behüte  mich  gott,  dass  ich  von  mei- 
nem ersten  gemahl  Hesse!  Wie  der  graurock  sieht,  dass  er 
erkannt  ist,  springt  er  zu  den  waffen,  reisst  das  schwert  heraus 
und  ruft:  könig,  hier  geht  eine  enge  pforte  aus,  die  hab  ich 
dir  verstanden!  und  hilft  dir  nicht  der  teufel  durch,  du  stirbst 
von  meinen  bänden!  Der  könig  flieht,  Orendel,  Ise,  Bride,  der 
pförtner  stürmen  nach,  die  beiden  laufen  hinzu  —  und  alle 
werden  gefangen. 

Hier  bricht  in  mitten  eines  kindischen  sagengewirrs  eine 
grossartige  dichtung  durch.  Die  gefangenen  werden  natürlich 
durch  das  zu  hilfe  eilende  beer  gerettet;  ob  hier  eine  Um- 
arbeitung nach  spielmännischen  mustern  vorliegt  und  Orendel 
ursprünglich  sofort  den  könig  erschlägt,  ist  kaum  zu  entschei- 
den; sicher  aber  ist,  dass  dem  fortsetzer  der  legende  ein  selb- 
ständig bestehendes  und  bedeutendes  gedieht  auf  Orendel  vor- 
lag, dessen  Inhalt  war:  Orendels  weib  wird  von  einem  stür- 
mischen freier  in  banden  gehalten;  der  in  pilgertracht  un- 
erkannt heimkehrende  gatte  erschlägt  den  buhler  und  befreit 
sein  weib. 

Und  zwar  lag  diese  sagenform  dem  fortsetzer  in  zwei 
Versionen  vor.  Das  ergibt  sich,  indem  es  1.  ein  Widersinn  ist, 
dass  der  könig  Wolffhart  die  gefangene  Bride  einem  anderen 
könig  überlässt,  der  nun  seinerseits  ihre  minne  begehrt;  2.  der 
pilger  dem  Orendel  ausdrücklich  berichtet  (3327  ff.),  dass  könig 
Wolffhart  seine  gefangene  auf  eine  bürg  geführt  habe,  wo  er 
sie  zur  ehe  zwingen  wolle;  3.  sich  an  das  erzählte  abenteuer 
eine  scheinbare  widerholung  des  nämlichen  motivs  schliesst: 
als  die  heimkehrenden  sieger  nach  Ackers  kommen,  nimmt 
Bride  pilgerkleider  und  zieht  nach  Jerusalem.  Beim  opfern 
an   heiliger   statte   wird  sie  von  einem  beiden  Durian  erkannt 


Der  STOFF  DES  ORENDEL.  17 

und  dem  könig  Wolffhart  ausgeliefert,  welcher  ihre  minne 
verlangt.  Nachdem  sie  ihm  diese  verweigert  hat,  trinkt  der 
könig  einen  Schlaftrunk  und  wird  von  eben  jenem  Durian, 
den  plötzlich  die  ehrlichkeit  angekommen  sein  muss,  erschlagen, 
Durian  wappnet  frau  Bride,  sie  schlägt  dem  pförtner  das  haupt 
ab,  stellt  sich  vor  die  geöffnete  pforte  und  lässt  Orendel  ver- 
melden, das  grab  sei  gewonnen;  er  kommt  dann  sogleich  (von 
Ackers?!),  dringt  ein,  und  innen  erhebt  sich  ein  grosses  blut- 
bad.  Die  reine  form  beider  Versionen  von  einander  zu  schälen, 
ist  nicht  möglich.  Das  motiv,  dass  Bride  gewappnet  vor  die 
pforte  tritt,  kommt  in  weit  ursprünglicherer  und  dramatiischerer 
form  in  der  ersten,  freilich  im  übrigen  nicht  allzuklaren  Situa- 
tion vor.  König  Minolt  ist  in  einen  türm  geflohn,  die  ver- 
folgenden Christen  sind,  wie  es  scheint,  mit  ihm  in  demselben 
eingeschlossen.  Als  das  beer  Oreudels  von  aussen  die  bürg 
angreift,  übernimmt  Bride,  die  pforte  des  turmes  zu  wahren 
und  eine  flucht  Minolts  zu  verhüten,  während  die  drei  männer 
in  den  burghof  ausfallen,  Ise  dem  pförtner  das  haupt  abschlägt, 
die  pforte  sprengt  und  die  anhänger  einlässt. 

Müllenhoff  hat  die  Wichtigkeit  dieser  episoden  des  letzten 
gedichtteiles  hervorgehoben,  aber  ihre  ursprüngliche  Selbständig- 
keit nicht  erkannt,  gemäss  seiner  annähme,  dass  das  lied  in 
seiner  vorliegenden  gestalt  im  wesentlichen  die  einzügige  nieder- 
schrift  des  nämlichen  dichters  sei,  der,  einen  alten  stofl"  in  eine 
legende  umwandelnd,  einzelne  alte,  echte  teile  durch  das  ge- 
dieht hin  versprengte,  welche  die  litterarische  kritik  nunmehr 
wider  zusammen  zu  lesen  habe.  Zu  diesen  verstreuten  schätzen 
rechnet  er  auch  die  obige  handlung,  behandelt  sie  aber  in  einer 
durchaus  willkürlichen  weise,  indem  er  als  ihre  quintessenz 
hinstellt,  dass  frau  Bride  auf  ihrer  pilgerfahrt  von  den  treu- 
losen hütern  des  grabes  gefangen  genommen,  ja,  der  zwei- 
ten Version  zu  folge  gar  dem  ungetreuen  Statthalter  von  Jeru- 
salem übergeben  worden  sei.  Diese  darstellung  vergewaltigt 
die  ausdrückliche  auffassung  des  gedichtes,  nach  welcher  Jeru- 
salem von  zwei  christlichen  herzögen  an  die  beiden  ver- 
kauft worden  sei,  und  der  gemäss  Bride  auf  der  reise  nach 
dem  heiligen  grab  von  den  beiden,  und  zwar  von  dem 
könig  Minolt  oder  aber  dem  könig  Wolffhart  aufgegritien 
wurde. 

Beiträge  zur  gescliichte  der  deutschen  spräche.     XIII.  2 


18  BEER 

Ma^r  man  übrigens  über  diese  versprengungstbeorie  Müllen- 
hofis  abweicbender  meinung  sein:  Jedenfalls  wird  man  anzu- 
erkennen haben,  dass  seine  erörterung  der  Orendelsage  das 
bedeutsamste  oder  das  einzig  bedeutsame  ist,  was  über  diesen 
stoti'  geschrieben  wurde;  und  da  seine  auffassung  des  0er- 
vandilmytbus  bei  manchen  Wunderlichkeiten  und  willkürlich- 
keiten einen  äusserst  fruchtbaren  gedanken  enthält,  ist  sie 
näher  in  das  äuge  zu  fassen. 

§  2.    Charaliteristik  und  kritik  der  Müllenhoifschen 

theorie. 

MüUenhofts  Orendeluntersuchung  ist  eine  gelegenheitsarbeit: 
gelegentlich  einer  Isolierung  des  der  Odyssee  zu  gründe  liegen- 
den alten  nostos  fällt  ihm  ein  merkwürdiger  parallelismus 
zwischen  den  Schicksalen  des  Ithakers  und  des  Trierer  königs- 
sohns  auf.  Diese  entdeckung  verfolgt  ihn  auf  schritt  und  tritt; 
ihr  zu  liebe  bemisst  er  nach  den  sieben  jähren')  des  Kalypso- 
abenteuers  den  griechischen  winter  statt  auf  vier  auf  sieben 
monde;  sie  lässt  ihn  bei  dem  treuen  torwart  vor  Minolts  bürg 
an  Eumaios,  bei  der  ankunft  Orendels  zu  dem  templerturnier 
an  die  spiele  der  freier  bei  Odysseus  ankunft  denken.  Die 
Odyssee  ist  ihn»  eine  schiffersage,  und,  von  dem  parallelismus 
befangen,  zwingt  er  auch  den  Orendelstoff  zu  einer  schiffersage 
zu  recht. 

Odysseus  ist  auf  einer  grossen  fahrt  gescheitert;  sieben 
jähre  hat  er  auf  einer  entlegenen  insel  weilen  müssen;  in  an- 
deren abenteuern  ist  diese  fesselung  an  ein  fernes  gestade  in 
andere  formen  geprägt  worden.  Als  er  endlich  in  unkennt- 
licher bettlergestalt  heimkehrt,  findet  er  sein  haus  von  freiem 
wimmelnd;  er  erlegt  sie  und  tritt  in  seine  alten  rechte  als  ehe- 
herr  und  landesfürst  ein. 

Der  norwegisch-isländische  Oervandill2)  weilte  auch  in  der 


')  Die  siebenzahl ,  die  uns  auch  in  vielen  deutschen  Versionen  be- 
gegnen wird,  ist  in  den  seltensten  füllen  mythisch  auszulegen;  sie  ist 
eine  jener  althieratischen  zahlen,  welche  die  stehende  bemessung  eines, 
durch  andere  umstände  nicht  begrenzten  Zeitraums  abgeben.  Eine  deu- 
tung  auf  die  sieben  wintermonate  ist  nur  in  überzeugungskräftigen 
fällen  zulässig. 

^)  Die  dänische  fassung  der  sage  lässt  Müllenhoff  als  für  seinen 
zweck  untauglich  bei  seite. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  19 

ferne,  im  riesenland  jenseits  der  Elivagar:  über  diese  hat  ihn 
Thor  zurückgetragen,  und  seine  heimkehr  steht  bevor.  Wie 
sie  sich  vollzieht,  wird  nicht  erzählt:  wie  Oervandill  zu  den 
riesen  gekommen  ist,  ebensowenig.  Aber  gesagt  ist:  er  wird 
zu  seinem  weihe  zurückkehren.  Die  Vorgeschichte  und  das 
nachspiel  ergänzt  Müllenhoff  aus  dem  deutschen  gedieht. 

Umgekehrt  will  er  auch  mit  der  nordischen  Überlieferung 
die  deutsche  ergänzen.  Dass  Orendel  eine  fahrt  nach  dem 
heiligen  grab  unternahm,  ist  eine  concession  an  den  Zeit- 
geschmack, dass  er  eine  brautfahrt  unternahm,  eine  spielmanns- 
schablone.  Der  spielmann  berichtet:  er  ist  erst  gescheitert  und 
dann  könig  und  eheherr  der  frau  Bride  geworden.  Der  stoff 
soll  gelautet  haben,  er  war  erst  Bridens  könig  und  eheherr 
und  ist  dann  gescheitert.  Die  brautfahrt  des  gedichtes  ist  eine 
heimkehr  in  der  sage;  wie  Odysseus  findet  er  ein  haus  voll 
freiem,  das  er  säubern  muss.  Mit  diesem  Säuberungswerk  ist 
die  geschichte  eigentlich  zu  ende. 

Vergleicht  man  die  nordische  und  die  deutsche  quelle, 
liest  in  letzterer  die  echten  bestandteile  zusammen  und  zieht 
das  facit,  so  soll  es  lauten:  könig  Oervandill  geht  auf  reisen. 
Er  gerät  in  das  klebermeer,  das  nach  erweislichen  britischen 
anschauungen  das  geronnene  meer  des  Pytheas  nördlich  von 
den  Orkaden  um  den  polarkreis  ist,  jenseits  dessen  das  eis- 
meer  des  Adam  von  Bremen  beginnt.  Jenseits  dieses  eismeers 
wohnt  nach  der  HymiskviÖa  am  ende  des  himmels  der  riese 
Hymir,  der  dämmerer,  zwischen  den  eisbergen  in  weiten  hallen 
wie  ein  fürst,  umgeben  von  vielköpfigem,  ihm  gehorsamem 
Volke,  der  täglich  auf  fischfaug  zu  gehen  scheint,  und  dem  zur 
Seite  eine  schöne,  allgoldene,  weissbrauige  frau  freundlich  sich 
gegen  fremde  gaste  bezeigt,  wie  es  Thor  und  Tyr  bei  ihrer 
fahrt  nach  dem  kessel  erfahren.  Von  einer  anderen  fahrt 
Thors  über  die  Elivagar  (das  ist  eben  das  eismeer)  als  dieser 
letzteren  ist  Müllenhoff  nichts  ])ekannt;  er  folgert  also,  dass 
Thor  von  der  fahrt  zu  Hymir  den  Oervaudil  mitgebracht  habe. 

Und  welche  aualogie  in  der  Situation!  Hymir  fängt  fische, 
Ise  desgleichen;  den  weiten  hallen  des  ersteren,  einem  bilde 
getürmter  eismassen,  entspricht  die  siebentürmige  bürg  des 
letzteren;  der  gegen  fremde  gütigen  leuchtenden  kebse  des 
nordischen   riesen    die    frau   des  fischers,    welche  dem  nackten 


20  BEER 

knecht  später  kleider  kcauft.i)  Wenn  Orendel  aus  dem  kleber- 
meer  wider  freikommt,  ist  das  willkür  des  diehters;  nach 
Miillenhoff  bleibt  er  unerlöst.  Ise,  der  riesische  greis  mit  der 
ruderstauge,  ofl'enbart  sich  durch  seinen  namen  als  eisriesen 
und  durch .  seine  achthundert  Untertanen  als  riesenkönig,  wie 
ja  auch  Hymir  nach  Müllenhoflf  ein  riesenkönig  ist.  Mit  einem 
Worte:  Oervandill  und  Orendel  sind  beide  im  eismeer  geschei- 
tert; und  wenn  den  gescheiterten  Oervandil  Thor  heimführt, 
so  erinnert  das  Miillenhoff  wider  an  Hermes,  der  die  heimkehr 
des  Odysseus  veranlasst. 

So  wol  wird  es  allerdings  Orendel  nicht,  auf  eines  gottes 
schultern  heimzukehren;  hier  reicht  also  das  licht  der  eddi- 
schen Überlieferung  nicht  hin,  die  rätsei  der  deutschen  sage  zu 
erhellen.  Aber  diese  selbst  bietet  zwei  momente,  deren  Ver- 
knüpfung ein  Müllenhoff  befriedigendes  resultat  ergibt.  Orendel 
erhält,  um  an  dem  turnier  vor  Bride  teil  zu  nehmen,  von  einem 
beiden  ein  wildes  ross  geliehen  mit  dem  beding,  falls  er  es 
im  Wettspiel  verliert,  mit  seiner  person  einzustehn.  Er 
verliert  es  nicht;  aber  der  beide  nennt  ihn  später  in  eifersüch- 
tigem zorn  seinen  knecht.  Ferner:  auf  der  fahrt  nach  Trier 
jagt  Ise  an  einem  strande  eine  hin-  und  widerlaufende  apfel- 
graue rossheerde  mit  seiner  ruderstange  auf,  um  Orendel  ein 
ross  zu  fangen.  Nimmt  man  hinzu,  dass  Orendel  öfters  ein 
fische rkne cht  genannt  wird,  und  dass  Ise  erscheint  seinen 
knecht  zu  holen  und  Orendel  sich  erbietet  in  seine  knecht- 
schaft  zurückzukehren,  so  ergibt  sich:  Ise  hat,  um  Orendel 
die  heimkehr  zu  ermöglichen,  eines  seiner  grauen  rosse  am 
strande  gefangen  und  ihn  über  das  meer  geführt,  unter  der 
bedingung,  dass  er  wider  als  sein  knecht  heimkehre.-)  Das 
turnei  der  templer  bietet  die  Situation  von  Orendels  heimkehr, 


^)  Hierüber  s.  9  a.  1. 

-)  Nach  Müllenhoö'  hätte  sich  diese  Situation  gespalten,  und  die 
bruchstüciie  schienen  hier  und  dort  aufzutauchen,  etwa  wie  schiflfstrüm- 
mer  auf  den  wellen  eines  meeres:  hier  ein  liöaig,  der  dem  Orendel  ein 
ross  leiht,  wenn  er  sich  zur  knechtschaft  verpflichtet;  dort  Ise,  der  dem 
Orendel  ein  ross  fängt.  Ist  aber  diese  anschauung  nicht  sehr  über- 
zeugend, so  ist  es  schlechthin  unwahrscheinlich,  dass  der  spielmann  sich 
eine  so  schöne,  phantastische  Situation  hätte  entgehen  lassen,  wie: 
Orendel  von  Ise  durch  die  luft  auf  einem  wunderpferd  geführt! 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  21 

der  kämpf  mit  den  riesen  ist  durchweg  dichterische  zutat,  aus- 
einanderzerrung-  der  katastrophe;  diese  selbst  ist  erhalten  in 
den  beiden  schwungvollen  Situationen  der  pilgerfahrt  Bridens: 
Bride  in  den  bänden  treuloser  vasallen,  Bride  die  pforte  wah- 
rend und  niemand  ein-  noch  auslassend,  während  Orendel 
darinnen  das  werk  der  räche  vollbringt:  natürlich  wider  wie 
Telemach  und  Odysseus;  auch  hier  sitzt  Müllenhoff  sein  paral- 
lelismus  als  der  schelm  im  nacken. 

Und  die  deutung?  Oervandill  ist  ein  compositum,  dessen 
erstes  element  aur  sich  mit  der  bedeutung  des  feuchten  nach- 
weisen lässt;  er  hat  einen  vater  Oeugel,  dessen  etymologie 
über  Ouwilo  auf  ouwa  ^=  wasserland,  wasserlauf  führt.  Folg- 
lich ist  die  bedeutung  des  ersteren  namens:  der  auf  dem 
wasser  umfahrende;  ein  rechter  Odysseus-name.  Sein  weib 
heisst  eddisch  Groa,  und  gröa  heisst  grünen,  wachsen;  folglich 
ist  sie  ein  chthonisches  wesen.  Da  nun  Bride  Orendels  frau 
ist,  so  ist  sie  ebenfalls  ein  chthonisches  wesen.*)  Vor  der 
heimkehr  des  Oeivandil  hat  Thor  dessen  erfrorene  zehe  an 
den  himmel  geworfen;  folglich  geht  das  erscheinen  des  sterns 
Oervandilstä  der  heimkehr  des  beiden  vorauf.  Diese  knüpfung 
seines  erscheinens  an  das  erscheinen  eines  sternes  ist  ein  neuer 
beweis  für  die  natur  der  sage  als  eines  schiffermythus.  Da 
nun  der  Orendel  des  spielmannsgedichtes  aus  der  knechtschaft 
kommt  und  wider  in  die  knechtschaft  zurückkehren  muss,  so 
ergibt  sich:  der  sommerliche  held  ist  an  eine  riesische,  ihm 
entgegengesetzte  macht  gebunden  und  ihr  verhaftet,  weil  die 
zeit  seiner  herrschaft,  beschränkt  auf  die  sommermonde,  der 
winternacht  erliegt.  Im  sommer,  wenn  die  see  fahrbar  ist, 
kann  er  auf  dem  meere  schweifen;  im  winter  versinken  seine 
schüfe,  und  er  verfällt  der  macht  des  eisriesen,  welcher  als- 
dann das  meer  beherrscht  und  seine  apfelgrauen  rosse  zahllos 
am  strande  laufen  lässt.  Unholde  gesellen,  die  winterlichen 
stürme,  nehmen  indes  besitz  von  des  beiden  reich  und  weib, 
umbuhlen,    misshandeln   dieses   vielleicht.     Mit  dem  lenz  aber 


1)  Folglich  ist  Penelope  auch  ein  chthonisches  wesen;  obwol  man 
anführen  dürfte,  dass  der  name  'gewandweberin'  schlechtweg  ein  griechi- 
scher frauenname  war,  und  dass  die  eigenschaft  des  webens  für  chtho- 
nische  gottheiten,  durch  nichts  festgestellt,  nur  eine  recht  gewagte  hy- 
pothese  ist. 


22  BEER 

kehrt  er  rächend  zurück  als  rechtmässiger  gatte  und  gebieter: 
freilich,  um  dereinst  der  macht  des  eisriesen,  welcher  ihm  jetzt 
gewichen  ist,  wider  zu  verfallen. 

Die  Müllenhoffsche  deutung  ist  ein  zwittergebilde  von 
schiÖer-  und  jahreszeitenniythus.  Der  held  muss  eine  sommer- 
liche gottheit  sein,  denn  der  name  seines  weibes  bedeutet  das 
cbthonische  friihlingsgrün;  aber  er  ist  der  Seefahrer  xar  e^o-pjv 

1.  um  des  paraUelismus,  2.  um  der  etymologie  willen.  Die 
Schiffer  bilden  sich  ein  ideal,  das  im  sommer  umfährt  und  im 
winter  scheitert;  gleichsam  eine  personification  ihrer  erfah- 
rungen.  Das  meer  ist  im  sommer  wirtlich,  im  winter  unwirt- 
lich; folglich  beherrscht  es  im  sommer  ein  gott,  im  winter  ein 
dämon.  Wenn  jedoch  der  sommergott  im  sommer  das  meer 
beherrscht,  im  winter  im  eis  stecken  bleibt  wie  auf  einem  süss- 
wasserteich,  und  im  winter  der  dämon  das  meer  beherrscht, 
im  sommer  aber  entweicht:  so  würde  das,  abgesehen  von  der 
absurdität  der  anschauung,  einen  mythus  des  Inhalts  ergeben: 
der  winterriese  erobert  im  winter  das  meer  und  nimmt  den 
sommerlichen  meeresgott  gefangen;  im  sommer  lässt  er  ihn 
los,  mau  weiss  nicht,  warum,  mit  der  gewissheit,  ihn  wider  im 
winter  in  die  bände  zu  bekommen.  Au  einen  derartigen  mythus 
hat  selbstverständlich  Müllenhofl"  nie  gedacht;  er  ist  aber  das 
unausweichliche  ergebnis  seiner  erklärungsversuche.  Das  Ise 
im  winter  das  meer  beherrsche,  ist  eine  durch  seine  eigenschaft 
als  fischer  und  durch  die  jagd  auf  die  grauen  rosse  nicht  ge- 
nügend gestützte  annähme;  dass  er  im  sommer  entweiche, 
widerspricht  ausdrücklich  dem  Inhalt  der  sage.  Dass  Orendel 
ein  seeheros  gewesen  sei,  kann  sich  auf  das  scheitern  seiner 
schiffe  oder  auf  den  scheiternden  Odysseus  unmöglich  aus- 
reicheud  stützen.  Es  bleiben  also  nur  zwei  gründe  für  Müllen- 
hoffs  deutung:    1.  eine  gewagte  etymologie  des  namens  Orendel, 

2.  die  genealogische  anknüpfung  an  einen  Oeugel. 

MüUenhoffs  etymologie  des  namens  Orendel  ist  in  der  tat 
nur  aus  seinem  Vorurteil  heraus  verständlich.  Der  name  Aur- 
vandil  soll  in  seinem  ersten  bestandteil  die  wurzel  aur  in  der 
bedeutung  des  feuchten  enthalten.  Wenn  aber  MüUenhoff  selbst 
das  angelsächsische  appellativ  eärendel  =  leuchte  heranzieht 
und  eingesteht,  dass  es,  mit  jener  ableitung  schlechthin  unver- 
einbar, nur  mit  skr.  vas  =  glänzen  zusamraenzuordnen  ist,  so 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  23 

gibt  es  nur  zwei  möglichkeiten:  entweder  das  wort  aurvandil 
ist  von  je  her  mit  der  wurzel  vas  gebildet  gewesen,  oder  das 
angelsächsische  appellativ  ist  ein  ewiges  rätsei. 

Auch  der  name  des  vaters  Oeugel  kann  den  verlorenen 
posten  nicht  retten.  1.  ist  jede  genealogie  in  der  göttersage 
(um  die  es  sich  ja  hier  handeln  soll),  und  meist  wol  auch  in 
der  heldensage,  accessorisch:  entweder  ein  compromiss  concur- 
rierender  Wesenheiten,  bezüglich  uamen,  oder  aus  dem  dichte- 
rischen bedürfnis  entsprungen,  einem  individuum  charakte- 
ristische eitern  zu  geben,  bezüglich:  eine  ehe  mit  charakte- 
ristischen kindern  zu  segnen.  Von  vorn  herein  also  ist  der 
name  eines  vaters  ein  bedenkliches  kriterium  für  die  ursprüng- 
liche natur  des  sohnes.  2.  ist  es  gar  nicht  wahrscheinlich, 
dass  der  name  Oeugel  in  sehr  alter  zeit  mit  Aurvandil  ver- 
knüpft wurde;  denn  der  name  ist  eine  hypochoristische  kose- 
form,  und  es  wäre  doch  höchst  eigentümlich,  wenn  der  name 
des  uninteressanten  vaters  sich  abgegrifteu  hätte  und  der  name 
des  viel  besungenen  sohnes  unverändert  geblieben  wäre.  3.  Ge- 
setzt den  fall,  dass  Müllenhoflfs  etymologie  des  namens  Oeugel 
zutreffend  wäre  (was  ja  durchaus  sein  kann,  aber  keineswegs 
sein  muss),  und  dass  ferner  der  name  des  vaters  um  seiner 
bedeutung  willen  dem  namen  des  sohnes  nachträglich  beige- 
sellt worden  wäre,  so  würde  das  eben  nur  beweisen,  dass  man 
zu  der  zeit  dieser  genealogischen  Verknüpfung  unter  Aurvandil 
den  Seefahrer  verstand;  und  wirklich  wäre  eine  Verschiebung 
in  dieser  richtung  nicht  erstaunlich,  da  sich  für  die  Verwen- 
dung eines  aur^)  entsprechend  skr.  vas  deutsch  nur  noch  sehr 
wenige  und  zweifelhafte  beitrage  liefern  lassen.^) 


^)  Andere  germanische  gebilde  dieser  wurzel  in  der  bedeutung 
glänzen  sind  nachzuweisen:  vgl.  Fick  I,  218:  skr.  vasara  t'rühling,  altn. 
var  (=  vasra);  lit.  auszta  es  tagt,  germ.  austa,  austana,  austra  ost, 
Osten,  Ostern  (vgl.  avotor,  und  skr.  usas  zu  lat.  aurora). 

-)  Der  interessanteste  ist  der  name  der  OerltoÖa:  Fiölsvinnsm.  38 
sitzt  MenglüÖ,  die  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  als  eine  sonnenjungfrau 
erweisen  lässt,  auf  einem  berg,  umgeben  von  den  Jungfrauen:  schütz, 
thursenschutz,  volksschirmerin,  die  glänzende,  die  gute,  die  gütige;  die 
schöne,  die  heilende,  OerboÖa.  In  diesem  Zusammenhang  ist  eine  Zu- 
sammensetzung aur  =  feucht  mit  boÖi  =  Hut  zu  der  bedeutung:  die 
feuchtflutende  weit  unwahrscheinlicher  als  die  Zusammensetzung  aur  = 
glänz  und  boÖi  =  darbieter  zu  Oerboöa  =  glanzspenderin. 


24  BEER 

Also  etymologisch  ist  die  theorie  der  schiftersage  nicht  zu 
halten;  um  sie  sagengeschichtlich  durchzuführen,  ist  Müllenhoflf 
in  ein  recht  bedenkliches  verfahren  geraten.  Er  hat  sich  eine 
sage  construiert,  deren  anfang  aus  einem  deutschen  spielmanns- 
lied,  deren  mitte  aus  der  Edda,  deren  ende  —  aus  der  Odyssee 
entnommen  ward.  Nach  diesem  Prokrustesbett  hat  er  dann  die 
norwegische  Überlieferung  gereckt  und  die  deutsche  beschnitten. 
Wenn  er  aus  der  eddischen  sage  entnimmt,  dass  der  held  in 
der  deutschen  nicht  auf  der  brautfahrt  sondern  auf  einer  rück- 
kehr  begriffen  ist,  so  wird  man  ihm  das  um  so  eher  zuge- 
stehen, als  sich  in  dem  spielmaunsgedicht  reste  einer  in  dieser 
richtung  entscheidenden  tradition  nachweisen  lassen. i)  Wenn 
er  aber,  nach  analogie  der  deutschen  Überlieferung,  den  eddi- 
schen Oeivandil  als  in  dem  eismeer,  d.  i.  den  Elivagar,  ge- 
scheitert betrachtet  und  umgekehrt  den  deutschen  Orendel  in 
dem,  unter  anderen  abenteuern  ganz  episodisch  nach  beliebten 
mustern  eingeführten  klebermeer  endgültig  stecken  bleiben 
lässt,  so  zerstört  er  durch  seine  willkür  beidemal  die  an- 
schauung;  denn  einerseits  wagte  sich  der  nordländische  schifier 
überhaupt  schwerlich  in  das  eismeer,  und  wenn  er  sich  einmal 
hineinwagte,  hatte  er  weniger  das  scheitern  als  das  einfrieren 
zu  befürchten;  und  andrerseits:  wäre  Orendel  wirklich  in  dem 
klebermeer  endgültig  stecken  geblieben,  so  wäre  er  eben  nicht 
gescheitert,  folglich  nicht  allein  sondern  mit  allen  gefährten 
dem  fischer  Ise  in  die  bände  gefallen.  Gerade  wenn  der  name 
Ise  den  eisigen  bedeutet,  hat  für  die  Vermutung  die  Edda, 
welche  nichts  von  einem  Schiffbruch  weiss,  sondern  ihren  bei- 
den jenseits  der  eisströme  in  das  winterland  versetzt,  das  ur- 
sprünglichere,   und   das   deutsche  lied,    das  ihn  auf  einer  see- 


')  Heranzuziehen  ist  besonders  die  Situation  von  s.  13:  die  mannen 
der  Bride  haben  Orendel  im  liampf  mit  dem  riesischen  freier  im  stich 
gelassen;  die  erzürnte  königin  steht  in  begrilf,  (mit  wenigen  getreuen) 
die  treubrüchigen  anzugreifen;  die  Situation  ist  bis  zur  katastrophe  ge- 
spannt: da  gibt  sich  Orendel  zu  erkennen,  und  sofort  ist  alles  beglichen, 
er  ist  der  herr,  und  die  widerspenstigen  mannen  huldigen  ihm.  Diese 
als  ursprünglich  erkannte  entwickelung  muss  man  sich  an  der  stelle,  wo 
sie  steht,  notdürftig  aus  dem  umstand  erklären,  dass  der  legendarische 
held,  von  gott  gesant,  unterwürfig  aufgenommen  wird;  streicht  man  die 
legende,  so  bleibt  einzig  die  unkenntliche  rückkehr  des  rechtmässigen 
berrschers. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL,  25 

fahrt  scheitern  lässt,  das  verschobeue.  Jedenfalls  aber  sind 
der  scheiternde  Orendel  und  der  jenseits  der  Elivagar  befind- 
liche Oervandill  unmittelbar  nicht  vereinbare  Versionen. 

Nicht  glücklicher  ist  Müllenhoff  mit  dem  unternehmen,  den 
ausgang  der  norwegischen  Überlieferung  durch  die  deutsche  zu 
controlieren.  Der  Groa,  die  jauchzend  die  künde  von  ihres 
gatten  naher  heimkunft  vernimmt  und  darüber  ihre  zauber- 
lieder  vergisst,  einen  oder  gar  eine  schaar  von  freiem  aufzu- 
laden, heisst  doch  etwas  gewaltsam  mit  der  Überlieferung  um- 
springen. 

Geradezu  verblüffend  wirkt  das  verfahren  Müllenhofts,  die 
eddischen  lieder  untereinander  in  einer  weise  in  beziehung  zu 
setzen,  welche  die  ansieht  zu  involvieren  scheint,  dass  diese 
lieder  sich  untereinander  zu  einem  ganzen  ergänzen,  während 
wir  in  der  tat  nicht  zwei  eddische  götterlieder  haben,  welche 
einander  inhaltlich  nahe  stehen  wie  bruchteile  des  nämlichen 
mythus.  Sämtliche  eddische  mythendichtungen,  ob  in  prosa 
oder  in  versen  überliefert,  sind  künstlerisch  individuelle  Schöpf- 
ungen, für  den  mythologen  quellen  zweiter  band;  sie  repräsen- 
tieren nicht  allein  einen  späten  Standpunkt  der  mythenent- 
Wickelung,  sie  sind  gedichte  auf  mythen.  Ihr  raaterial  also 
ist  bereits  ein  verschobenes,  ein  in  der  Überlieferung  durch 
einander  geratenes,  auf  dem  wege  des  compromisses  geschlich- 
tetes; und  weiter  ist  die  behandlung  dieses  materials  eine 
freie,  individuelle,  dem  bildungskreis  des  Sängers  wie  seiner 
hörer  entsprechende.  Müllenhoft"  selbst  hat  darauf  hingewiesen '), 
dass  die  |?ulir  des  nordens  fahrende  vom  bettler  bis  zum  ehren- 
werten grundbesitzer  waren;  sein  freund  Liliencron  hat  für 
das  HarbarÖslied  dargetan-),  dass  es  vor  einem  vornehmen 
kreis  gesungen  wurde;  andere  lieder  lassen  sich  als  vor  und 
für  die  bäuerliche  bevölkerung  gesungen  nachweisen.  Unter 
solchen  umständen  findet  man  nicht  leicht  eine  Situation  in  deu 
liedern,  die  man  fest  anfassen  dürfte;  eben  weil  sie  phantasie-, 
dichterische  producte  sind.  Der  ursprüngliche  mythus  ist  stets 
concrete  naturanschauung;  wenn  der  nachtrabe  mit  eiserner 
schwinge  eine  bürde  zerschlägt,   wenn  die  maruts  die  wolken- 


M  Deutsche  altertumsk.  V,  291. 
2)  Zs.  fda.  X,  isi  ff. 


26  BEER 

kübe  melken,  das  kanu  man  sich  vorstellen;  aber  wenn  Har- 
barÖ  den  Thor  nicht  über  den  sund  lässt  und  der  arme  mann, 
um  in  den  himmel  zu  kommen,  einen  umweg  über  die  erde 
machen  muss  —  so  kann  man  sich  drehen  und  wenden:  mit 
dieser  mythischen  geographie  kommt  man  nicht  ins  reine. 

Natürlich  waren  den  eddischen  dichtem  ganze  massen 
von  reinen  naturerscheinungen  bekannt;  aber  nicht  minder 
viele,  in  denen  sich  diese  primitive  mythengestalt  schon  zu 
einer  fabel,  oder  gar  die  fabel  zu  einem  roman  fortentwickelt 
hatte,  V'^iele  ihrer  primitiven  mythen  waren  auch  als  bestand- 
teile  von  romanen  fortgewandert;  während  die  naturanschauung 
sich  wandelte,  blieben  sie  formelhaft,  missverstanden,  um- 
gedeutet bestehen.  Andere,  die  der  dichter  noch  selbst  ver- 
stand, verwante  er  willkürlich  zur  ausschmückung  seiner  ge- 
dieh te,  oder  vereinigte  sie  willkürlich.  Mit  einem  worte:  der 
eddische  dichter  gestaltete  nicht  einzelne  mythen,  sondern 
er  wirtschaftete  mit  ererbtem  mythischem  capital. 
Wenn  der  mythologe  ihn  ausnutzen  will,  muss  er  jede  einzelne 
anschauung  aus  dem  gegebenen  Zusammenhang  herausheben 
und  durch  sorgfältige  Sammlung  von  analogieen,  durch  ver- 
gleichung  der  einzelneu  gebilde  die  alte  anschauung  zu  ge- 
winnen suchen,  nicht  ein  gedieht  vornehmen  und  schritt  vor 
schritt  auslegen:  'Loki  und  Thor  wollen  sieden,  der  stuimriese 
Thiazi  verhindert  es  =  der  trockene,  kalte  nordwind  macht 
das  frühlingsdampfen  der  erde  unmöglich;  Loki  wird  von 
Thiazi  an  der  stange  geschleift  =  die  temperaturdifferenz 
zwischen  dem  eisigen  bergwind  und  dem  lauen  frühlingswind 
ist  zu  gross,  als  dass  die  berührung  ohne  niederschlag  vor  sich 
gehen  könnte'  (Laistner,  Nebelsagen  287).  In  ganz  der  näm- 
lichen weise  müssen  die  Situationen  verglichen  werden;  und 
wo  sich  ihre  mythische  ursprünglichkeit  nicht  schlagend  fest- 
stellen lässt,  soll  man  es  sich  dreimal  überlegen,  ob  hier  nicht 
der  dichter  ein  eigenes  zugetan  hat. 

Unter  solchen  Verhältnissen  ist  es  nicht  zu  billigen,  wenn 
sich  MüUenhoff  die  frage  vorlegt:  Thor  trägt  den  Oervandil 
über  die  Elivagar:  wo  kam  er  da  vvol  her?  unter  den  eddi- 
schen liedern  spricht  nur  ein  einziges  davon,  dass  Thor  über 
die  Elivagar  gefahren  ist:  die  HymiskviÖa;  folglich  wird  er 
Oervandil  von  Ilymir  mitgebracht  haben,  folglich  war  Oervandil 


DER  STOFF  DES  ÜRENDEL.  27 

bei  Hymir,  folglich  ist  Ilyniir  gleich  Ise.  Es  ist  schon  au  und 
für  sich  sehr  fraglich,  ob  Thor  bei  seinen  Ostfahrten  nicht 
regelmässig  die  Elivagar,  die  nach  HymiskviÖa  und  dem,  aller- 
dings sehr  späten,  Hrafnagaldr  im  Osten  liegen,  überschritten 
hat.  Es  soll  nun,  bei  den  wichtigen  folgerungen,  welche 
Müllenhoft*  auf  seine  Verknüpfung  des  skaldaberichtes  mit 
HymiskviÖa  gründete,  dieses  gedieht  einer  näheren  erörterung 
unterzogen  werden,  welche,  zugleich  mit  der  beleuchtung  des 
eigentümlichen  Verhältnisses  beider  Überlieferungen  in  dem  vor- 
liegenden fall,  den  praktischen  massstab  für  die  weitere  aus- 
nutzung  dieser  quellen  unserer  Untersuchung,  besonders  für  die 
ausnutzung  des  auf  Oervandil  bezüglichen  skaldaberichtes  ge- 
währen wird. 

Str.  1.  Die  götter  nahmen  einst  die  erjagten  tiere, 
zechlustig,  ehe  sie  das  gelage  abhielten,  beschauten 
weissagend  das  opferblut')  und  die  geworfenen  stäbe  und  ent- 
deckten bei  Oegir  die  ermanglung  des  kesseis.  2.  Das  be- 
nutzt Thor,  ihn  in  not  zu  bringen;  drohend  tritt  er  vor  den 
bergbe wohner  und  verlangt  von  ihm,  dass  er  den  göttern 
alsbald  ein  gelage  rüste.  'S.  Der  riese  erschrickt,  ersinnt 
aber  schnelle  räche:  ich  will  es  gern  tun;  jedoch  ihr  seht:  ich 
habe  keinen  kessel;  den  sollt  ihr  mir  schatten.  4.  Nun  geht 
not  bei  den  göttern  an  den  mann;  aber  Tyr  weiss  einen  aus- 
weg:  östlich  jenseits  der  Eligavar  an  des  himmels  ende  wohnt 
sein  vater,  der  weise  Hymir:  der  besitzt  einen  geräumigen 
kessel.  G.  Thor  und  Tyr  machen  sich  auf  die  fahrt.  7.  In 
Hymis  behausung  finden  sie  seine  hunderthäuptige  mutter 
(die  dann  nicht  wider  in  dem  gedieht  vorkommt)  S.  und 
eine  allgoldige,  weissbrauige  frau,  Tys  mutter,  die  kebse 
Hymis.    9.  Sie  versteckt  die  beiden  gaste  unter  kesseln,  denn 


>)  Die  auffassung  Lünings  (Edda  ISS),  dass  die  götter  tiere  erjagt 
hätten,  um  opferbhit  zum  weissagen  zu  erhalten,  ist  eine  üble  auskauft, 
bedingt  durch  das  (später  zu  beleuchtende)  Vorurteil ,  dass  die  götter 
vor  dem  gelage  bei  Oegir  ständen,  welches  das  folgende  lied  der  sauim- 
lung  schildert:  eine  mit  dem  Wortlaut  des  gedichtcs  nur  durch  advoka- 
torische  winkelzüge  zu  vereinbarende  annähme.  Die  götter  rüsten  ihr 
eigenes  mahl;  und  wenn  sie  zu  dessen  beginn  aus  opferblut  weissagen, 
so  ist  dies  eine  sehr  naive,  aber  verstäudliche  Übertragung  menschlicher 
gebrauche  auf  das  himmlische  gelage. 


28  BEER 

Hyniir  ist  manches  mal  den  gasten  gram.  10.  Hymlr  kommt 
heim  von  der  jagd  wie  ein  wandelnder  eisberg.  11.  Seine 
kebse  fordert  ihn  zu  gastlicher  gesinnung  auf:  der  söhn  ist 
gekommen,  den  wir  erwarteten  von  langen  wegen;  mit 
ihm  der  grosse  Thor.  12,  Am  ende  der  halle  ducken  sie 
hinter  einer  säule  (unter  kesseln)  sich  zu  retten  (so  bange  sind 
sie  vor  dir).  Vor  Hymis  blick  birst  die  säule;  13.  kessel 
stiirtzen  herab  und  zersplittern;  nur  einer  bleibt  ganz.  14.  Hy- 
mir  ahnt  nichts  gutes  bei  Thors  anblick.  15.  Thor  verzehrt 
zwei  riesenochsen  zum  nachtmahl,  zu  Hymis  missvergnügen: 
wir  werden  uns  nun  morgen  selbst  speise  erjagen.  17.  Der 
folgende  tag  ist  angebrochen:  sie  wollen  fischen  gehn,  Thor 
vermisst  den  köder;  Hymir  verweist  ihn  auf  seine  all- 
schwarze riesische  rinderheerde.  19.  Erste  stärkeprobe: 
Thor  holt  ein  stierhaupt  als  köder,  zu  Hymis  steigendem  miss- 
vergnügen. 20.  Thor  will  immer  weiter  ins  meer  fah- 
ren, aber  Hymir  weigert  sich  (die  strophe  fällt  in  ihrer 
ausgeprägten  skaldischen  vergleichsspielerei  etwas  aus  dem 
tone  des  ganzen).  21.  Zweite  stärkeprobe:  Wettangeln:  Hymir 
zieht  zwei  walfische;  Thor  befestigt  vor  dem  fischzug 
die  leine  am  Steuer:  22.  Er  fängt  mit  dem  stierhaupt  die 
Mitgardsschlange,  23.  zieht  sie  an  den  schififsrand  und  trifft 
ihr  haupt  mit  dem  hammer,  24.  worauf  sie  zurücksinkt. 
25.  Hymir  ist  äusserst  verstimmt  auf  der  heimkehr.  26 — 27. 
Dritte  stärkeprobe:  Thor  trägt  das  schiff  mit  allem  Inhalt  in 
den  kessel  der  bergwaldhalde.  28 — 32.  Vierte  stärke- 
probe: die  Zerschmetterung  des  kelches  an  Hymis  haupt  (auf 
den  hülfreichen  rat  der  kebse).  33 — 34.  Fünfte  und  letzte 
stärkeprobe,  von  Hymir  als  solche  auferlegt:  Thor  hebt 
den  kessel  auf  das  haupt.  35.  Er  trägt  ihn  fort;  als  er  und 
Tyr  sich  umschauen,  sehen  sie  sich  verfolgt  von  Hymir  und 
vielhäuptiger  schaar.  36.  Thor  setzt  den  kessel  ab  und  er- 
schlägt mit  dem  hammer  die  felsriesen  (von  Tyr  ist  bei 
dem  kämpfe  keine  rede).  [37 — 38  sind  durch  irrtum  oder 
Willkür  hineingeraten.]  39.  So  bringt  er  den  kessel  zu  der 
götterversammlung:  aus  ihm  trinken  die  götter  öl  jede  lein- 
ernte. 

Diese    schlussstrophe  enthält  den   kern  des  kesselmythus: 
die    götter    trinken   jede    leinernte    bei   Oegir    öl    aus    einem 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  29 

kessel.i)  Wie  kommt  der  kessel  zu  Oegir?  er  muss  ihm  nach 
dem  ursprüDglichen  mj'thus,  wie  ihn  die  letzte  Strophe  an- 
deutet, eigentümlich  zugekommen  sein;  da  nun  möglicherweise 
auch  ein  mythus  bestand,  dem  zu  folge  Thor  mit  vielhaup- 
tigem  Volke  um  einen  kessel  kämpfte,  so  antwortet  der  dichter: 
den  kessel  hat  Thor  dem  Oegir  verschafit;  wie  er  zu  diesem 
liebesdienst  kommt,  wird  in  witziger  weise  erzählt:  die  beiden 
Parteien,  die  sich  wenig  wolwollen,  suchen  sich  gegenseits  in 
Verlegenheit  zu  setzen:  Oegir  mit  grösserem  erfolg.  Ganz 
charakteristisch  beginnt  das  gedieht:  die  götter  ersehen  aus 
ihren  weissagemitteln,  dass  dem  Oegir  ein  kessel  fehlt.  Das 
ist  nicht  gerade  eine  hohe  erkenntnis;  aber  der  dichter  braucht 
einen  weg,  in  der  beliebten  dramatischen  weise  frischweg  auf 
sein  kesselmotiv  loszusteuern.  Ohne  kessel  kann  Oegir  kein 
mahl  richten;  darum  verlangt  Thor  drohend  sofortige  herrich- 
tung eines  gelages.  Oegir  weiss  sich  zu  helfen:  sobald  ihr 
mir  einen  kessel  verschafit  habt.  Was  für  einen  kessel 
bringt  nun  Thor?  Der  dichter  bleibt  die  autwort  nicht 
schuldig:  einen  gebirgskessel  (str.  27).  Jenseits  der  Elivagar 
wohnen  die  bergrieseu;  bei  denen  gibt  es  kessel  die  fülle 
(str.  13). 

Die  wirkliche  bedeutung  des  kesselmythus  ist  vergessen; 
man  deutet  ihn  um.  Die  ausleger  haben  in  dem  kessel  Oegis 
das  meer  sehen  wollen.  Das  müsste  richtig  sein,  wenn  der 
mythus  aus  derjenigen  zeit  stammte,  zu  welcher  Oegir  meer- 
dämon  geworden  war.  Dass  er  vordem  einen  athmosphäri- 
schen   dämon   bedeutete,    erweist    1.   die  vergleichende  mytho- 


*)  Es  ist  eines  der  giundgesetze  der  mj'thenentwickelimg,  dass  in 
der  Überlieferung  von  nmnd  zu  mund  die  ehemalige  auffassung  eines 
immer  widerkeluenden  natuiereiguisses  als  ein  einmaliges  ereignis  sich  ge- 
staltet. Man  vergleiche  bei  Laistner,  Nebelsagen  s.  37  die  sage  von  der 
gewittermühle :  im  gewitter  mahlt  der  teufel  felsen;  warum  tut  er  dasV 
er  hatte  sich  einst  eine  kanzel  errichtet;  ein  engel  erbaute  eine  con- 
currenzkanzel  und  lockte  ihm  seine  hörer  weg;  zornig  schuf  er  sich  eine 
mühle  und  übertäubte  mit  seinem  felsenmahlen  die  engelsstimme,  bis 
gott,  dessen  hingmut  riss,  ihn  wider  den  felsen  schleuderte,  an  dem  er 
sich  abdrückte.  Seitdem  mahlt  er  nur  noch  im  gewitter.  Bedeutsam  für 
die  gesetze  der  sagengenesis  ist  die  einverwebung  der  ganz  anderweitig 
entstammten  teufelskanzel  und  bergeindrückung  in  den  einmaligen  fall 
der  gewittermühle. 


30  BEER 

logie  durch  ihre  zuriickfühiung-  des  namens  auf  das  in  den 
Veden  Ahi  genannte  wesen;  2.  die  benennung  bergiiese 
(str.  2),  welche,  wie  sich  erweisen  lässt,  nicht,  wie  Uhland 
glaubt,  sich  auf  die  wirklichen,  sondern  entsprechend  dem 
vedischeu  glauben,  auf  die  wolkenberge  bezieht.  Der  eddische 
dichter  denkt  tatsächlich  bei  dem  namen  an  wirkliche  berge; 
und  wenn  dieser  umstand  nicht  für  den  meerdämon  passt  — 
die  formel  bleibt  bestehn. 

Zur  ermittelung  der  ursprünglichen  bedeutung  hat  man 
mit  mehr  recht  an  die  Volksanschauung  eines  brauenden  ge- 
witters  erinnert.  Wenn  ferner  im  harz  die  nebel  im  gebirge 
aus  dem  wald  steigen,  sagt  der  bauer:  die  bergmutter  braut 
(Kuhn,  Westf.  s.  II,  88).  Westfälisch  wie  holsteinisch  ver- 
leihen und  entlehnen  die  unterirdischen  i)  gern  braukessel; 
hennebergisch  besitzen  sie  einen  grossen  braukessel  (ähnlich 
bei  Scharfenberg);  anderenorts  betonen  sie,  vor  der  erfindung 
des  bierbrauens  gelebt  zu  haben  (Müllenhoff,  Sagen,  märchen 
etc.  270.  284;  Kuhn  a.  a.  o.  I,  200.  201.  214).  Dazu  vergleiche 
man  die  anrufung  OÖins  beim  bierbrauen  (Uhland  VII,  511), 
die  im  saale  Brimir  (rauscher)  hier  trinkenden  riesen  der 
Völuspa  und  die  Zusammensetzung  prumketill  =  brausekessel 
(Grimm,  MythoL  I,  151)  neben  der  bekannteren  }^rketill.  Auch 
die  noch  nicht  genügend  klargelegte  sage  über  OÖroerir  ver- 
spricht licht  für  die  erklärung  des  kesselmythus  abzugeben, 
und   zu   empfangen. 2)     Vieles   spricht  für  eine  anschauung  des 


'}  Ueber  die  eine  monographie  recht  wünschenswert  geworden  ist, 
seitdem  Mannhardt  in  bedauerlicher  einseitigkeit  den  gesamten  Volks- 
glauben in  eine  vegetationsdämonie  vergraben  hat,  unter  übergehung 
eines  umfangreichen,  gegen  diese  anschauung  zeugenden  materials.  Es 
ist  dies  gewiss  kein  Vorwurf  gegen  den  hochsinnigen,  gediegenen  for- 
scher, dem  die  mythologische  Wissenschaft  viel  anregung  und  noch  mehr 
material  verdankt ^  aber  eine  eingehende  kritik  kann  durch  strengere 
Sichtung  von  Volkskunde  und  volksmythen  und  durch  mythengeschicht- 
liche erwägungen  darlegen,  dass  die  folgerungen  Mannhardts  vielfach 
den  Sachverhalt  getrübt  haben.  Für  alle  zwerggebilde  ist  mit  wenig 
ausnahmen  jede  ursprüngliche  beziehung  auf  vegetative  Verhältnisse  zu 
verneinen  und  eine,  wenigstens  ursprünglich,  athraosphärische  natur 
anzunehmen.  Der  Stoff  ist  diesmal  sehr  reichlich  gegeben.  —  Zu  der 
bergmutter  vgl.  auch  Rochholz,  Sagen  aus  dem  Aargau  I,  nr.  117. 

^)  Weiteres  vgl.  Mannhardt,  Germanische  mythen  96 — 105. 


DER  STOPF  DES  ORENDEL.  31 

gewitterhinimels  als  eines  brauenden  kesseis,  um  welchen 
göttei"  und  dämonen  kämpfen,  oder,  nach  anderer  auffassung, 
um  den  ein  grosses,  jährlich  widerkehrendes  mahl  statt  findet. 
Für  beides  lassen  sich  belege  beibringen. 

Der  Oegisdrekka  hat  der  Sammler  eine  prosa  vorange- 
setzt, in  welcher  er  das  göttermahl  bei  Oegir  stattfinden  lässt, 
nachdem,  'wie  vorher  erzählt',  der  kessel  beschafft  worden  sei. 
Zu  anfang  von  Bragarödur  besucht  Oegir  die  götter  und  wird 
von  ihnen  bewirtet.  Skaldsk.  33  ist  Oegir  bei  den  göttern  zu 
gast  gewesen  und  lädt  sie  bei  der  heimreise  ein,  ihn  drei 
monate  später  zu  besuchen.  Daraus  hat  man  gefolgert,  das 
gelage,  welches  Thor  in  HymiskviÖa  fordert,  sei  1.  das  in 
Oegisdrekka  geschilderte,  2.  das  Sk.  33  mit  beziehuug  auf 
Bragar.  versprochene.  Die  letztere  beziehung  ist  ausgeschlossen 
1.  weil  das  gelage  in  dem  momente,  wo  die  götter  ihr  eigenes 
mahl  rüsten,  auf  einen  plötzlichen  einfall  hin  von  Thor  ge- 
fordert wird;  2.  weil  das  gedieht  mit  einem  hinweis  auf  ein 
periodisch  widerkehreudes  gelage  schliesst.  Damit  ist  auch 
die  erste  folgerung  hinfällig;  der  an  sich  bestehende  mythus 
eines  göttermahles  bei  Oegir  wird  nun  in  Oegisdr.  als  dich- 
terische Situation  verwant,  um  ein  mythologisches  streitgedicht 
mit  möglichst  reicher  beibringung  mythischen  materials')  dra- 
matisch ins  werk  zu  setzen.  Auch  der  anfang  von  Bragar.  ist 
nur  situationsmacherei,  welche  Skaldsk.  mit  Oegisdr.  in  will- 
kürliche beziehung  setzt,  während  in  Wirklichkeit  die  Situation 
von  Oegisdr.  die  originalere 2),  die  von  Bragar.  die  nach- 
geahmte ist. 

Auch  in  Hymiskv.  ist  der  ehrwürdige  kesselmythus  nur 
benutzt,  um  eine  abenteuerfahrt  des  volkstündichen  Thor  wirk- 
sam  einzuleiten.     Denn  nur  um  abenteuer  handelt  es  sich  für 


')  Gemäss  den,  in  der  verfallzeit  des  heidenturas  bereits  vor- 
herrschend gewordenen  didaktischen  tendenzen. 

2)  Alles  in  allem  handelt  es  sich  sowol  in  Oegisdr.,  in  Hymiskv., 
wie  in  Bragar.  um  die  dichterische  anwendiing  eines  ursprünglichen 
Volksglaubens,  indem  der  mythus  des  periodischen  kesselgelages  dreimal 
die  künstlerische  einzelsituation  abzugeben  hat:  1.  für  ein  mythologi- 
sierendes Streitgedicht,  2.  für  den  rahmen  einer  abenteuererzählung, 
3.  (indirect)  für  den  rahmen  einer  didaktischen,  dialogisierten  mythen- 
auf  zähhing. 


32  BEER 

dichter  uud  publikum,  Thor  fährt  einmal  wider  in  das  riesen- 
laud  und  misst  seine  stärke  mit  einem  eisriesen  in  fünf  stärke- 
probeu.  Mau  liat  mit  recht  den  starken,  dummen  Hans  des 
märcheus  mit  Thor  in  beziehung  gesetzt;  er  ist  ein  analoger 
Charakter:  plump,  gutherzig,  furchtbar  stark  und  besieger  aller 
möglichen  uijgeheuer;  kurz,  das  heldenideal  des  bauern,  wenn 
er  sich  auf  das  fabulieren  verlegt.  Der  sänger  des  Hymiskv. 
singt  vor  dem  volke;  die  einleitung,  wie  dem  Thor,  welcher, 
esslustig,  im  begriff  steht  sich  an  sein  mahl  zu  machen,  plötz- 
lich der  gedanke  kommt  den  Oegir  in  Verlegenheit  zu  setzen, 
und  wie  er  in  seiner  eigenen  grübe  sich  fängt,  ist  schon  ein 
derber  spass;  mit  dem  antritt  der  reise  sind  wir  auf  märchen- 
boden.  Da  ist  die  hundertköpfige  riesenmutter,  die  gar  nichts 
mit  der  erzählung  zu  schaffen  hat;  da  ist  die  gute  riesenfrau, 
welche  die  fremden  gaste  vor  dem  bösen  eheherrn  versteckt; 
da  sind  Thor  und  Tyr,  die  sich  unter  kesseln  verkriechen  — 
und  wozu  schliesslich  der  lärm?  Hymir  sieht  schlimmer  aus, 
als  er  ist;  er  krümmt  ihnen  kein  härchen.  Und  wie  verträgt 
sich  die  ganze  burleske,  nach  kindergraus  schmeckende  scene 
mit  dem  durchschimmernden  mythischen  einzelzug,  dass  Tyr 
als  erwarteter  söhn  heimkehrt?  Es  ist  die  märchensituation 
im  hause  des  menschenfressers,  welche  der  dichter  mit  keckem 
humor  zur  ergötzung  seiner  hörer  verwendet. 

Das  hauptstück  des  gedichtes  ist  nicht  die  kesselholung, 
welche  der  abenteuerlustige  dichter  schnell  aus  den  äugen 
lässt,  sondern  der  fischzug.  Indem  wir  ihn  in  Gylf.  48  in 
einer  weit  besseren  Überlieferung  hal)en,  die  uns  erst  in  den 
stand  setzt,  die  widerholten  flüchtigkeiten  des  dichters  der 
kviÖa  zu  controlieren,  ist  es  möglich  den  beweis  zu  führen, 
dass  um  den  fischzug  als  den  alten  kern  der  kviÖadichter 
freischöpferisch  eine  abenteuermasse  gruppiert  hat,  für  welche 
die  kesselholung  nur  wider  den  rahmen  abgibt.  Das  ganz 
vortreff"liche,  altertümliche,  in  sich  geschlossene  gedieht,  wel- 
ches Gylf.  zu  gründe  liegt,  hat  den  inhalt,  dass  Thor  als 
junger  gesell  zu  Hymir  zog,  sich  gegen  ihn  zu  messen,  mit 
ihm  auf  die  see  fuhr,  trotz  Hymis  protest  die  Mitgardsschlange 
angriff"  und  unfehlbar  erschlagen  hätte,  wenn  Hymir  nicht  die 
an  dem  schiff  befestigte  angelleine,  von  welcher  der  wurm 
nicht  loskonnte,    durchschnitten  hätte.     Wütend  erschlägt  Thor 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  33 

den  riesen  und  watet  au  das  laud.  Damit  ist  die  gcsehichte 
zu  ende.  Hier  erfährt  mau  also,  warum  Thor  in  der  kvi?!»a 
immer  tiefer  in  die  see  rudern  will  und  Hymir  sich  dagegen 
sträubt  (str.  20):  Hymir  fürchtet  die  Mitgardsschlanj;e,  auf 
welche  es  Thor  gerade  abgesehen  hat;  nun  begreift  man 
ferner,  warum  Thor  str,  18  sveinn  genannt  wird:  als  ein  ganz 
junger  bursche  hat  er  die  fahrt  unternommen;  jetzt  endlich 
wird  klar,  warum  die  versinkende  schlänge  das  boot,  an 
dessen  Steuer  Thor  sie  gebunden,  nicht  mit  binabzieht:  Hymir 
hat  das  seil  durchschnitten.  Der  kämpf  Thors  mit  der  schlänge 
ist  die  pointe  des  liedes  gewesen;  die  beiden  geborenen  feinde 
mussten  sich  einmal  begegnen.  Indem  die  pointe  in  den  hinter- 
grund  trat,  wurde  der  fischzug  im  gründe  gegenstandslos:  ein 
abenteuer  wie  andere. 

Das  ergebnis  der  erörterung  ist:  der  dichter  der  kviÖa 
bat  auf  grund  eines  vorhandenen  fabel-  und  mythenmaterials 
eine,  seinem  eigenen  wie  dem  geschrnack  seiner  hörcr  als 
ganzes  wie  in  den  einzelheiten  entsprechende,  freie  schöj)fung 
compouiert.  Das  mythcnmaterial  ist  nur  zu  verwerten^  indem 
man  es  isoliert;  folgende  umstände  sind  herauszuheben:  1.  ein 
jährlicher  göttertrunk  bei  Oegir  aus  einem  kessel,  zur  zeit  der 
leinernte.  2.  Oegir  der  bergriese.  3.  Tyr  kehrt  heim  in 
das  riesenland,  erwartet,  nacb  langer  Wanderung. 
4.  Hymir  besitzer  einer  allschwarzen  riesischen  rindcrheerde; 
der  eine  stier  wird  in  Bragar.  himmelbrecher  genannt.  5.  Hy- 
mir der  eisriese.  0.  Ein  vielköpfiges  riesenvolk  jenseits  der 
Elivagar.  7.  Thors  auch  anderweitig  bezeugte  gefrässigkeit. 
8.  Vielleicht:  ein  kamjjf  Thors  mit  riesen  um  den  gewitter- 
kessel.  Ob  ein  uachdruck  auf  die  fischcrkünstc  Hymis  zu 
legen  ist,  ist  sehr  fraglich;  sie  stehen  ziemlich  vereinzelt  in 
unserer  kenntnis  der  riesenweit  da  und  scheinen  nur  erfunden 
zu  sein,  um  den  kämpf  mit  der  Mitgardsscblange  zu  ermög- 
lichen. 

Hiermit  ist  der  Standpunkt  auch  für  die  ausnutzung  der 
skalda  bezüglich  des  Oervandilmythus  gegeben.  Ihre  crzäli- 
lung  beginnt  mit  dem  umstand,  dass  Thor  zu  Groa  kommt  um 
sich  einen  stein  aus  der  stirne  zaubern  zu  lassen,  und  endet 
damit,  dass  Groa  ihre  lieder  vergisst  und  der  stein  stecken 
bleibt.    Das  ist  der  rahmen,  in  welchem  sich  jedenfalls  zweierlei 

Beiträge  zur  geachichte  der  deutscheu  spräche.     XUl.  3 


34  BEER 

befand:  1.  ein  galdigedieht  ähnlich  Grogaldr:  die  hauptsache. 
2.  der  bevicht  Thors  über  Oervandil  in  gestalt  einer  gelegent- 
lichen erwäbnung:  eigentlich  zur  rahmenerzählung  gehörig, 
den  rahmenschluss  motivierend.  Dieser  bericht  ergibt:  1,  0er- 
vandill  weilte  längere  zeit  jenseits  der  Elivagar  im  riesenlande 
und  ist  nunmehr  auf  der  riickkehr  begriffen.  2.  Oervandill, 
der  gatte  der  Groa,  die  seiner  riickkehr  harrt,  3.  Eine  an- 
schauung,  nach  der  Thor  den  Oervandil  auf  dem  rücken  in 
einem  korbe  trägt.  4.  Ein  nach  Oervandil,  und  zwar  0er- 
vandils  zeh,  benanntes  gestirn.  Die  zusammenfügung  dieser 
Züge  muss  schon  deshalb  eine  willkürliche  gewesen  sein,  weil, 
wenn  Oervandil  über  die  Elivagar  getragen  ist,  man  nicht  be- 
greift, wie  Thor,  der  ihn  hinübergetragen,  vor  ihm  die  götter- 
weit erreichte.  liei  der  endgültigen  deutung  werden  die  vier 
elemente  genauer  betrachtet  werden. 

Das  endergebnis  der  vorstehenden  Untersuchungen  ist: 
1.  es  ist  methodisch  unzulässig,  die  Oervandilsage  aus  der 
Hymirsage  zu  ergänzen.  Anzuerkennen  ist,  dass  Ise  und  Hy- 
mir  den  Charakter  eines  eisriesen  haben;  alle  anderen  analo- 
gieen  sind  hinfällig.  2.  Es  ist  methodisch  unzulässig,  die  Oer- 
vandil Überlieferung  aus  der  Orendelüberlieferung,  oder  diese 
aus  jener  zu  ergänzen.  Anzuerkennen  ist,  dass  die  nordische 
fassung  mit  der  rückkehr  des  beiden  das  ursprüngliche  be- 
wahrt hat,  und  dass  dieses  ursprüngliche  erst  von  dem  legenden- 
schreiber  in  eine  brautfahrt  umgewandelt  wurde.  Alle  ande- 
ren   Vergewaltigungen   der  deutschen   sage  sind  zu  verwerfen. 

Einen  bedeutenden  schritt  hat  also  die  erkenntnis  der 
deutschen  sage  vorwärtsgetan;  ihr  Inhalt  war:  ein  held  schei- 
tert auf  einer  fahrt,  weilt  längere  zeit  bei  einem  eisriesen  und 
kehrt  dann  zu  seinem  weibe  heim,  das  er  aus  den  bänden 
eines  (oder  mehrerer)  freier  erlöst.  Und  zwar  kehrt  er  un- 
kenntlich heim  (in  einem  schlechten,  grauen  rock).  Vielleicht 
endlich  hat  er  dem  eisriesen  kncchtesdienste  getan  und  ist  ge- 
halten, dereinst  in  seine  frohnde  zurückzukehren. 

In  einer  derartigen  fassung  ist  die  sage  als  eine  in  Deutsch- 
land weit  verbreitete  zu  erweisen.  Das  meiste  material  für 
sie  hat  Wilhelm  Müller  in  dem  anhang  der  niedersächsischen 
sagen  beigebracht;  allerdings  verquickt  mit  einer  theorie,  von 
welcher  es  erst  zu  erlösen  ist,  um  nutzbar  zu  werden. 


DER  STOFF  DES  ÜRENDEL.  35 

§  3.    Die  Müller-Dhlaudsche  lieiiukelirgriipiie  unil  die 
toteiirelchlheorie. 

Die  von  Müller  •)  beigebrachte  erzählungsgruppe,  die  zu- 
nächst aus  Uhland,  Schriften  VIII,  419  ft".  und  einigen  anderen, 
wenig  ergiebigen  Sammlungen,  in  zweiter  linie  aber  sehr  wert- 


')  Schambach-Miiller,  Niedersäcbsische  sagen  3S9ff.  Anderweitige 
verweise  werden  bei  denjenigen  berichten  erfolgen,  welche  nicht  nach 
Müllers  Zusammenstellung  widergegeben  sind.  —  Im  übrigen  erhebt  die 
aufziihlung  keinen  anspruch  auf  lückenlosigkeit-,  ein  inductivc  methode 
hat  ja  nicht  alle,  sondern  die  beweiskräftigen  belege  beizubringen.  An- 
hangsweise seien  hier  erwähnt  die  anglo-normannischen  sagen  von  könig 
Hörn  (roman  et  les  aventures  de  Hörn,  ed.  Michel:  besonders  in  Schott- 
land populär)  und  von  Pontus  und  Sidonie  (das  letztere  französische 
gedieht  ist  in  Deutschland  als  Volksbuch  verbreitet  gewesen:  bei  Simrock 
XI,  1);  ferner  das  englische  gedieht  ürfeon  (ed.  Zielke).  Schwerlich  in 
betracht  zu  ziehen  ist  die  sage  von  graf  Udairich  bei  Ekkehard  (mon. 
germ.  II,  119,  bei  Uhland  VIII,  397):  vielmehr  zusammenzustellen  mit 
Airaoin  I,  13.  14  (zu  vgl.  auch  Greg.  Tur.  11,28;  aufgenommen  in  Grimm, 
Deutsche  sagen  II,  nr.  430).  —  In  letzter  stunde  teilt  mir  Berger  mit, 
dass  er  auf  grund  eines  märchens  in  dem  Cabinet  des  Fces  die  von 
Müller  und  Uhland  beigebrachten  uiärchen  und  sagen  fast  durchweg  als 
aus  dem  orient  eingewanderte  von  der  folgenden  analogieensamniluug 
auszuschliessen  wünscht.  Dieselben  bilden  einen  minder  wichtigen  teil 
meiner  beweisführung;  da  sie  mir  einerseits  nicht  durchgängig  in  ab- 
hängigkeit  von  dem  orientalischen,  augenscheinlich  buddhistischen,  Vor- 
bild zu  stehen  scheinen,  andrerseits  die  grenze,  wo  das  originalgerma- 
nische aufhört  und  die  angleichung  an  die  orientalische  Überlieferung 
oder  die  directe  Übernahme  der  letzteren  beginnt,  schwer  zu  bestimuien 
ist:  so  führe  ich  mein  material  in  unveränderter  Vollständigkeit  an  und 
überlasse  es  der  erwägung  der  einsichtigen,  wo  sie  den  schnitt  zu  legen 
gedenken.  In  eine  mythengesehichtliche  erörterung  des  buddhistischen 
märchens  (das  so  auffallend  mit,  nach  unserer  kenntnis  der  Überliefe- 
rungsverhältnisse, originalen  griechischen,  indisch-hieratischen  und  ger- 
manischen Überlieferungen  übereinstimmt)  trete  ich,  bei  unserer  fast  voll- 
kommenen Unkenntnis  der  stotVrjuellen  buddhistischer  legenden,  nicht 
ein.  —  Dass  die  aufrechterhaltung  meiner  sanunlung  nicht  unberechtigt 
war,  beweist  auch  das,  erst  nach  abschluss  dieser  abhandluiig  mir  be- 
kannt gewordene,  von  Laistner  ns.  b(»  f.  reproducierte  Eifelmärchen  von 
dem  Trierer,  der  von  dem  uralten  auf  dem  bock  zu  seiner  sich  neu 
vermählenden  gattin  heim  gesant  wird;  eine  jener  Überlieferungen,  bei 
denen  es  schwer  zu  sagen  ist,  üb  heimische  demente  an  ein  fremdes 
wandermärchen  oder  fremde  demente  an  ein  heimisches  mythcnmärchen 
angewachsen  sind.  —  Weitere  verweise  s.  Bcitr.  XII,  i:;i  (Vogt,  Moringcr). 

3* 


36  BEER 

voll  aus  den  Gesta  Danorum  und  den  Edden  zu  ergänzen  ist, 
hat  den  gemeinsamen  inlialt,  dass  ein  edler  herr,  auf  einer 
fahrt,  vornehndich  nach  dem  osten,  hegritfen,  in  der  ferne  die 
nach  rieht  erhält,  dass  sein  weih  im  begriHie  stehe,  eine  neue 
che  einzugehen,  auf  wunderbare  weise,  fast  durchweg  in  üblem 
und  unkenntlichem  aufzug,  im  momente  der  hochzeit  zurück- 
kehrt und  seine  rechte  geltend  macht.  Die  sage  ist  sehr  be- 
liebt gewesen  und  viel  gewandert,  zum  teil  vielleicht  von  spiel- 
leutcn  verbreitet  worden;  wenigstens  kehrt  mit  einer  gewissen 
hartnäckigkeit  das  in  des  Volksüberlieferung  wenig  häufige,  in 
der  spielmännischen  kunst  beliebtere  motiv  wider,  dass  der 
heimkehrende  gatte  sich  vermittelst  eines  ringes  zu  er- 
kennen gibt. 

Ein  fürst  von  Braunschweig,  oder  auch  direet  Heinrich 
der  löwe,  wallfahrtet  zum  heiligen  grabe;  scheidend  teilt  er 
mit  seiner  gattin  einen  ring.  Nach  einer  laugen  abenteuerzelt 
erfährt  er  von  einem  bösen  dämon,  oder  direet  dem  teufel, 
dass  sein  weib,  überzeugt  von  seinem  tode,  eine  neue  che  ein- 
zugehen im  begriff  steht.  Der  böse  macht  mit  ihm  einen  pakt 
auf  seine  seele,  bei  dem  er  aber  dann  zu  kurz  kommt,  und 
trägt  ihn  dafür  durch  die  luft  vor  seine  bürg.  Unkenntlich, 
mit  langem  haar  wie  ein  wilder  mann,  erscheint  er  just  beim 
hochzeitsschniauss,  erbittet  sich  einen  trunk,  in  den  er  seine 
ringhälfte  fallen  lässt,  und  alles  nimmt  ein  gutes  ende. 

Gerbard  von  Holenbach  (Caes.  Heist.)  und  Wernhart  von 
Strättlingen  (Kohlrusch,  Schw^eizer  sagen  I,  56)  wallfahren  jeder 
zu  seinen»  besonderen  heiligen,  nachdem  sie  mit  ihrer  gattin 
den  ring  geteilt  haben,  Gerhard  ihr  ausdrücklich  die  erlaubnis 
gegeben,  falls  er  innerhalb  einer  bestimmten  frist  nicht  wider- 
kchre,  eine  neue  ehe  einzugehen.  Beide  verabsäumen  die  zeit; 
ein  dämon  oder  der  teufel  selbst,  dem  sie  einmal  gutes  er- 
wiesen, trägt  sie  rechtzeitig  heim.  Sicut  barl)atus  (Caes.  lleist.), 
wie  ein  wilder  mann  erscheint  Gerhard  bei  der  hochzeit  seines 
weibes,  lässt  die  ringhälfte  in  den  bechcr  fallen,  und  alles 
nimmt  ein  gutes  ende. 

Der  Moringcr')  des  spielmannliedes  (Uhland,  Volksl.  nr.  298) 

')  Die  Widerlegung  der  theorie,  dass  nicht  der  bekannte  iyriker 
neinrich  von  Alorungen  gemeint  sei,  sondern  die  entstellung  eines  appel- 
lativ  meringer  =  marinaro  (seefahrer)  vorliege,  durch   Vogt,  Beitr.  XII, 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  37 

und  ein  französischer  ritter  (Ijei  Bosquet)  wallfahren  in  das 
heilige  land;  jener  verpflichtet  sein  weib  sieben  jähre  zu 
harren  und  verabsäumt  die  zeit,  dieser  duldet  siebenjährige 
knechtschaft;  beide  führt  ein  heiliger  heim,  just  als  die  gattiu 
zu  einer  neuen  ehe  schreitet;  unerkannt  erscheinen  sie,  dei- 
Moringer  als  pilger;  der  ehering  dort,  die  ringhälfte  hier  oftcn- 
baren  den  ankummling,  und  alles  nimmt  ein  gutes  ende. 

Grimm,  Deutsche  sagen  II,  96  (nach  dem  cod.  pal,  336, 
fol.  259 — 67):  könig  Karl  fährt  nach  Ungarn  wider  die  beiden. 
Zehn  jähre  soll  sein  weib  seiner  harren.  Sende  er  seinen 
goldenen  ring,  so  solle  sie  der  botschaft  glauben.  Nach 
neun  jähren  lässt  sie  sich  um  der  not  des  landes  willen  über- 
reden, sich  wider  zu  vermählen.  Karl,  durch  einen  engel  be- 
nachrichtigt, reitet  durch  gottes  wunder  in  gestrecktem  galop{) 
heim  und  kommt  am  hochzeitstage  an.  Er  lässt  ihn  aber  ruhig 
vorübergehen,  dieweil  er  in  einer  w^irtschaft  schmaust  und 
schläft;  nur  dingt  er  einen  kuecht  um  seinen  gold ring,  dass 
er  ihn  mit  dem  singosläuten  wecke.  Das  tut  denn  der  knecht, 
und  der  kaiser,  um  in  den  dorn  zu  kommen,  muss  unter  der 
burgpforte  durchschlüpfen  und  setzt  sich,  bis  zur  Unkennt- 
lichkeit mit  kot  besudelt,  auf  den  königsstuhl,  das  schwert 
über  knie;  denn  es  steht  im  Frankenrecht  geschrieben:  wer 
auf  dem  stuhl  im  dorne  sitzt,  muss  könig  sein.  Allgemeine 
Verblüffung  über  den  fremden  gast  und  rührende  erkcnnungs- 
sceue  sind  selbstverständlich.  Offenbar  ist  alles  verschoben; 
der  könig  lässt  nicht  die  hochzeit  erst  vorübergehn.  sondern 
gibt  sich  beim  mahl  durch  seinen  ring  zu  erkennen,  und  alles 
nimmt  ein  gutes  ende. 

Uhl.  VIII,  419  ff.:  Hans  von  Bodmann  aus  einem  geschlecht, 
dem  das  land  fahren  im  blute  gesteckt  hat,  ist  gegenständ  ver- 
schiedener Überlieferungen  geworden.  Er  macht  eine  lange 
oder  eine  siebenjährige  reise  an  das  ende  der  weit  oder  um 
die  weit;  er  lässt  sogar  in  einer  fassung  sein  weib  versj)rechcn, 
sieben  jähre  seiner  zu  harren.  Nach  einer  version  scheitert 
er  und  kommt  auf  eine  wüste  insel,  nach  anderen  au  das  ende 

437  ist  mir  zu  spät  bel<annt  gewurdon ,  um  sie  zu  vcrwL'rtcn.  Icli  Itin 
von  der  ansieht  aus^a'gan^^en,  dass  der  deutsclio  spielmami  durch  den 
marinaro  einea  ilioi  bekannten  liedea  auf  den  viel  beliebten  .Moringer  ge- 
raten sei. 


38  BEER 

der  weit,  jedenfalls  zu  dem  ncbcliiiäuiielieu,  das  ihn  unter  ge- 
wissen bedingungen  (s.  Uhl.  a.  a.  o.  und  Laistncr,  Nebelsagen 
184:  hier  ist  eine  andere  sage  eingewachsen)  heimführt  in 
dem  augenblick,  wo  sein  weib  sich  neu  vermählen  will. 
Ebenso  geht  es  dem  herrn  von  Stadion:  ihn  trägt  eine  nebel- 
wolke  heim.  Herr  Hans  kommt  als  bettler  oder  pilger  zum 
hochzeitssehmaus,  an  einem  trauring  fehlt  es  nicht,  und  alles 
nimmt  ein  gutes  ende. 

Etwas  von  der  allgemeinen  Schablone  weicht  ein  dänisches 
heldenlied  (bei  Grimm  213)  ab.  Herr  Lowmann  freit  schön 
Ingerlild  und  geht  auf  reisen.  Acht  jähre  soll  sie  seiner 
harren.  Die  zeit  vergeht,  der  bräutigam  bleibt  aus.  Die  brü- 
der  zwingen  die  betrübte  braut,  herrn  Jord  die  band  zu  reichen. 
Doch  wie  es  an  die  hochzeit  geht,  erscheint  der  bräutigam, 
und  mit  ihm  noch  einmal  ein  gutes  ende. 

Zum  letzten  mal;  denn  nunmehr  führen  die  Zeugnisse 
weiter  rückwärts,  die  tändelei  hört  auf,  und  der  ernst  beginnt. 
Zuvor  sollen  noch  einige  märchen  citiert  werden,  auf  welche 
die  gruppe  einfluss  gewonnen  zu  haben  scheint:  Baader  405, 
Kinder-  und  hausmärchen  92  (H,  41.  III,  167),  eine  von  Köhler 
(Germania  III,  199  ff.)  beigebrachte  märchengruppe,  in  welcher 
mit  der  asiatischen  wanderfabel  von  dem  Jüngling,  der  eine 
leiche  vor  Schändung  beschirmt  und  von  dem  dankbaren  toten 
Vergünstigungen  und  schliesslich  eine  frau  erhält,  widerholt 
das  motiv  verwachsen  ist,  dass  der  held  von  seiner  verlobten 
durch  die  ranke  eines  nebenbuhlers  getrennt,  auf  eine  wüste 
insel  ausgesetzt  oder  verschlagen,  von  dem  dankbaren  toten 
wunderbar  heimgeführt  wird,  rechtzeitig,  zuweilen  in  unkennt- 
licher gestalt,  bei  der  hochzeit  seiner  braut  mit  dem  neben- 
buhler  erscheint  und  sich  zuweilen  durch  den  ring  ausweist. 
Eine  interessante  gruppe  stellt  Müller  (a.  a.  o.  400)  zusammen, 
die,  in  verschobener  fassung,  den  inhalt  erschliessen  lässt:  ein 
mann  verlobt  sich  mit  einem  mädchen,  dient  dem  teufel  sieben 
Jahre  und  wird  reich  unter  der  bedingung,  dass  er  sich  in 
dieser  zeit  nicht  wäscht,  nicht  die  haare  schlichtet  noch  die 
kleider  wechselt,  so  dass  er  abscheulich  entstellt  heimkehrt 
und  sich  durch  den  ring  zu  erkennen  geben  muss. 

Auf  eine  besondere  stelle  habe  ich  mir  die  interessanteste 
erzählung  der  Müllcrschcn  Sammlung  aufgespart:   ein  graf  von 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  39 

Calw  veilässt  seine  gattin,  wandert  in  sclilecliter  klci- 
duug')  in  das  gebirge  (die  Schweiz)  und  tut  liirteudicnstc  (in 
einem  doife).  Er  kehrt  heim  (entlassen  von  den  unzufriedenen 
bewohnern,  weil  er  immer  den  nämlichen  berg  abweide),  er- 
scheint in  dem  momcnt,  wo  seine  gattin  hochzeit  machen  will, 
erbittet  unerkannt  einen  becher,  lässt  seinen  trauring  hinein- 
fallen  —  und  zieht  wider  zurück  in  das  gebirge  an  seine 
hirtenbeschäftigung.-) 

Damit  scliliesse  ich  die  erste  teilgruppe,  die  modernen  er- 
zählungen,  und  gehe  zur  heldensage  über.  Wir  haben  drei, 
bezüglich  vier  beispiele  zu  vermerken,  alle  von  öaxo  über- 
liefert; die  beiden  ersten  zweimal  das  nämliche  berichtend,  nur 
mit  veränderten  namen:  der  held  wird  das  eine  mal  mit  sei- 
nem echten  namen  Haldanus  genannt,  das  andere  mal  mit 
dem  dichterischen  königstitel  Gram 3),  den  Saxo  für  den  namen 
hielt;"  ein  missverständnis,  das  ihm,  abermals  bei  Haidan,  noch 
einmal  passiert  ist. 

Die  Halfdansage  bei  Saxo  gehört  zu  den  interessantesten 
capiteln  seiner  Überlieferung.  Es  ist  ebenso  schwer  bei  ihr 
festzustellen,  wo  die  heldensage  aufhört  und  die  göttersage 
beginnt,  als  inwieweit  die  aljenteuer  dem  beiden  sagengeschicht- 
lich zukommen,  und  wo  Saxo  anfängt  anderweitige  stofte  an- 
zuflechten. Saxo  scheidet  drei  verschiedene  persönlichkeiten: 
den  als  einen  Halfdau  durch  eddische  parallelstellen  belegten 
könig  Gram,  söhn  des  Skioldus,  den  Haldanus  Biargrammus, 
der  für  einen  söhn  des  Thor  gegolten  habe,  und  den  Haldanus 
mit  der  gespaltenen  lippe,  den  söhn  Borkars.  Allen  dreien  ist 
es  geraeinsam,  dass  sie  Jungfrauen  von  unerwünschten  be- 
werbern  befreien.  Eine  originellere  physiognomie  hat  im 
gründe  nur  der  söhn  Borkars,  und  gerade  er  scheint  sie  aus 
einem  ganz  fremden  Sagenkreis  empfangen  zu  haben;  die  Ver- 
knüpfung mit  der  Drottasage  ist  jedenfalls  das  werk  Saxos, 
und  auch  dieser  dritte  Ilaldan  ist,  wie  die  folgenden  erörtc- 
rungen  wahrscheinlich  machen  werden,  Halfdan  der  alte,  ein 
weit  und  breit  im  norden  sagenberühniter  held.     Eines  jcden- 

*)  Was  au  der  falschen  stelle  steht. 

*)  Diese  überlicfcninf;  steht  Jcdcnt'alls  ausser  hoiühriiiig  mit  der 
wanderlegende. 

3)  Uhl.  VI,  111  11.  112. 


40  BEER 

iiills  darf  man  aus  Saxos  beriebt  ersebcu:  dass  des  llalfdau 
aiikiiiipfuug-  au  das  Skiölduugeüg-escblecht  nicht  liberall  durch- 
gedrungen ist;  wenn  er  als  Biargramni  seine  feinde  vernichtet, 
indem  er  mit  hülfe  eines  gewissen  Thoro^)  steinmassen  von 
einem  felseu  auf  sie  herabwälzt,  wenn  er  den  riesen  Hartli- 
beuus  mit  einem  ungeheuren  hammer  erschlägt  und  schliesslich 
direct  für  einen  söhn  des  Thor  gehalten  wird,  so  zeigt  sich 
eine  local  durchgedrungene,  völlig  ausgebildete  genealogische  an- 
knüpfung  an  Thor,  und  man  kann  wider  daraus  ersehen,  dass 
genealogieeu  sagengeschichtliche  resultate,  nicht  ausgangs- 
punkte  sind.  Als  identisch  aber  mit  dem  Skiöldungen  Haidan 
(genannt  'dem  alten')  erweist  ihn  Saxos  bericht,  er  habe  'als 
alter  mann'  den  Grimmo  erschlagen  und  die  von  ihm  l)egehrte 
köuigstochter  sich  vermählt. 

Von  Ilaldan,  dem  söhne  des  Borkar,  weiss  Saxo  zu  be- 
richten'-), er  habe  liebe  gefasst  zu  einer  köuigstochter  Gyuritha 
oder  Guritha,  die  ihm  aber  als  dem  söhne  eines  uuebenbürtigen 
und  ob  einer  entstellenden  wunde  an  der  lippe  wenig  geneigt 
gewesen  sei.  Er  aber  habe  erklärt,  er  werde  die  schmach 
dieser  abweisung  mit  grossen  taten  tilgen;  sie  solle  ihm  ihre 
band  frei  wahren,  bis  sie  die  künde  seiner  widerkuuft  oder 
aber  seines  todes  erhalten.  So  zieht  er  aus  in  kriege 
und  gefahren;  aber  während  er  einen  hohen  rühm  begründet, 
gibt  Guritha  dem  werben  eines  anderen  königs  nach.  Die 
künde  dringt  zu  Haidan;  er  verlässt  eilend  sein  beer  und  er- 
scheint just  bei  der  hochzeit,  von  niemand  erkannt.  Da  tritt 
er  vor  die  braut  und  singt  eine  herbe  strophe  auf  seine  hohen 
taten  und  die  unverlässlichkeit  der  wciber;  sie  gesteht  ihm 
in  einer  gegenstrophe  ihre  liebe:  al)er  ol)  der  ungewissheit 
über  sein  Schicksal  habe  sie  sich  durch  das  drängen  ihres 
hauses  zu  der  neuen  ehe  bestimmen  lassen.  Noch  ehe  sie  ge- 
endet, durchbohrt  er  den  bräutigam  und  erschlägt  seine  trunke- 
nen leute. 


')  Uhl.  VI,  114  führt  die  herbeirtifung  eines  grossen  i<riegers 
Thoro,  wie  die  folgenden  erörteningcn  dartiin  werden,  mit  recht  auf  eine 
anriifiing  des  gottes  'J'hor  im  original  zurück,  welche  Saxo  wie  so 
manches  andere  missveratand:  mit  um  so  mehr  recht,  als  s.  73  (bei 
Holder)  der  gott  Thor  selbst  mit  dem  namen  Thoro  bezeichnet  wird. 

^)  A.  a.  0.  242. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  41 

Der  spielmannsroraan,  den  diese  daistelluug  übermittelt, 
würde  nur  wenig  mit  der  heimkelirgrupjje  zu  stimmen  schei- 
nen, wenn  nicht  anderweitiges  sagenmaterial,  das  eingehend 
zu  erörtern  hier  nicht  der  platz  ist,  auf  die  einmischuug  einer 
fremden  fabel  hindeutete.  Nur  soviel  sei  gesagt,  dass  der 
charakteristische  sagenzug  des  helden  mit  der  gespaltenen 
lippe  darauf  hinaus  zu  laufen  scheint,  dass  die  geliebte,  die 
er  sich  ersehen,  ihm  ihre  hand  nicht  reichen  will,  bis  sich  die 
scharte  seiner  lippe  ausgefüllt  habe,  und,  als  es  eine  gewalttat 
gilt,  ihm  zu  verstehen  gibt,  diese  tat  könne  wol  die  scharte 
seiner  lippe  ausfüllen.')  Wir  sind  so  glücklich,  die  uns  hier 
interessierende  sage  bei  Saxo^)  in  reinerer,  entscheidender  ge- 
stalt  nachzuweisen.  Sie  lautet:  könig  Gram  zieht  wider  einen 
könig  zu  felde;  er  erblickt  dessen  tochter,  sein  herz  wird  ent- 
zündet, und  ein  Verlöbnis  besiegelt  den  frieden.  Von  einem 
grossen  kriege  fern  gehalten,  vernimmt  er  plötzlich,  dass  der 
treulose  vater  seine  braut  einem  anderen  könige  versprochen 
habe.  Heimlich  verlässt  er  sein  beer  und  erscheint  iu  niederer 
kleiduug  beim  hochzeitsmahl,  unerkannt  an  unwürdiger  stelle 
sich  lagernd.  Als  sich  aber  die  feiernden  halb  berauscht, 
singt  er  ein  mächtiges  lied  auf  seine  grosse  und  die  treu- 
losigkeit  der  weiber,  erschlägt  den  falschen  bräutigam  und 
die  meisten  seiner  trunkenen  genossen  und  reisst  die  braut 
an  sich. 

In  einer  ganz  ähnlichen  Situation  erscheint  Ilakhui  in 
einem  weiteren  bcricht  bei  Saxo.'')  £bbo '),  ein  pirata  von 
niederer  abkunft,  verlangt  Sygrutha,  die  tochter  des  königs 
Unguinus,  und  das  halbe  reich  dazu.  Dieses  verlangen  ist  iu 
den  sagen  bei  Saxo  und  auch  anderwärts'')  ein  häutiges;  und 
zwar  ist  der  fordernde  gern  ein  riesc,  und  die  folge  der  for- 
derung   ist  in   allen  fällen,    dass  tochter  und  reichsliälfte  dem 


»)  Vgl.  die  Svarfdäiasaga  (angeführt  auch  bei  Uhl.  VI,  125). 

^)  A.  a.  o.  Is. 

3)  A.  a.  0.  221. 

')  Ebbo  der  pirata  aoll  andrcrorts  der  vater  dca  Othor,  des  uui- 
werbera  der  Syritha  (einer  mit  Sygrutha  identischen  porsünliclikeit:  8.  u.) 
gewesen  sein  (bei  Holder  225);  der  nainc  ist  vielleicht  von  hier  aus 
übernommen,  wie  denn  Saxo  mit  nameu  sehr  willkürlich  umspringt. 

•')  Zu  vgl.  z.  b.  Grimm,  Altdän.  heldenlieder  b\). 

\ 


42  BEER 

licldeu  verbeisscu  werden,  welcher  dem  unwillkommeneu  be- 
werber  das  handwerk  legt.  In  dem  vorliegenden  fall  ist  diese 
einfache  eutwickelung  nicht  gegeben.  Unguinus  bittet  den 
Haidan  um  hülfe,  und  dieser  rät  ihm,  scheinbar  sein  Jawort 
zu  geben  und  die  hochzeit  zu  rüsten.  Bei  dieser  hochzeit  er- 
scheint Halclan  unkenntlich  in  niederer  tracht  (aber  so 
hohcitsvoll,  berichtet  der  erzähler,  dass  alle  die  grosse  des 
fremden  anköramlings  ahnen),  beschimpft  den  Ebbo  als  einen 
unebenbürtigen,  zwingt  ihn  zum  kämpf  und  erschlägt  ihn. 

Endlich')  erfährt  Gram,  der  söhn  des  Skioldus,  dass  der 
könig  Sigtrugus  seine  tochter  Gro  einem  riesen  verlobt  habe. 
Entrüstet  über  diese  unebenbürtige  ehe  erscheint  er  in  der 
tracht  eines  wilden  mannes  unkenntlich  und  erschlägt  —  man 
sollte  meinen,  den  riesischen  bräutigam?  nein,  den  vater  der 
Jungfrau.  Das  miss Verständnis  Saxos  besteht  darin,  dass  er 
aus  dem  bräutigam  Sigtrugus  den  vater  gemacht  hat.  Aus 
dem  Hyndlulied  str.  15  verknüpft  mit  Skaldsk.  64  ersehen  wir, 
dass  Halfdan  der  alte  die  tochter  Almweig  (Hndll.)  oder  Alvig 
(Sk.)  eines  nachmals  ihm  befreundeten  Eymund  ehelicht,  nach- 
dem er  einen  könig  Sigtrygg  im  Zweikampf  erschlagen  (nach 
Hyudll.  mit  dem  Schwerte).  In  diesem  falle  ist  der  bericht 
Saxos,  abgesehen  von  dem  bezeichneten  missverständnis,  der 
glaubwürdigere;  denn  1.  ergibt  sich  aus  ihm,  dass  die  ehe  mit 
der  königstochter  und  die  erschlagung  Sigtryggs  in  innerer  be- 
ziehung  stehen:  insofern  nämlich  letzterer  der  (riesische)  um- 
werber  der  ersteren  war;  2.  dass  Halfdan  zu  diesem  kämpf 
in  entstellender  Verwilderung  erschien:  ein  durch  obige  ana- 
logieen  als  echt  belegter  zug;  3.  dass  Halfdan  seinen  gegner 
in  einer  äusserst  charakteristischen  weise  erschlug:  Saxo  er- 
zählt, Sigtrugus  sei  ein  mit  w äffen  unbesiegbarer  held,  aber 
(nach  einer  Wahrsagung)  mit  gold  zu  bewältigen  gewesen; 
darum  habe  Gram  an  seine  keule  gold  befestigt  und  mit  ihm 
seinen  gegner  erschlagen.-)  Der  name  der  befreiten  und  nach- 
mals Halfdan    vermählten  Jungfrau    scheint    verschiedenerorts 


1)  A.  a.  o.  V6. 

'^)  Vgl.  die  keule  mit  eisernen  knoten  oder  die  durch  ausreissen 
eines  baumstammes  improvisierte  keule  neben  dem  Hammer  als  waffe 
des  Haldanus  Biargrammus,  und  in  einer  sage  bei  Saxo  die  baurakeule 
als  waffe  des  Ilaldan,  söhn  Borkars. 


DER  STOFf^  DES  ORENDEL.  43 

verschieden  gcnauut  worden  zu  sein,  üa  aber  die  darstclhing 
des  Saxo  als  die  echtere  sich  herausstellt,  hat  auch  der  von 
ihr  beigebrachte  name  Gro  die  Vermutung  der  urspriinglichkeit 
für  sich. 

Ist  aber  der  name  Gro  der  ursprüngliche,  so  ergibt  sich 
eine  überraschende  combination.  Nach  der  an  erster  stelle 
angeführten  erzählung  verlobt  sich  Haidan  (wahrscheinlich 
endgültig,  zum  mindesten  einseitig)  einer  königstochter  Gu- 
ritha,  die  in  seiner  abwesenheit  von  einem  anderen,  ungelieb- 
ten bewerber  in  anspruch  genommen,  im  augenblick  der  hoch- 
zeit  von  dem  unkenntlich  oder  unerkannt  zurückkehrenden 
Haidan  befreit  wird:  der  afterbräutigam  wird  erschlagen.  Bei 
der  besprechung  von  Saxos  Horvendil-fassung  nun  nahm  Uhland ') 
die  nachmals  dem  beiden  anvermählte  Gerutha^)  als  eine  der 
Groa  der  Oervandilsage  wesensidentische  persönlich kcit  in  an- 
spruch, indem  er  den  uamen  über  dänisch  groede  auf  altn. 
grü(5i,  grüör  gleich  fruchtbarkeit  überleitete;  eine,  trotz  etymo- 
logischer bedenken,  bei  Saxos  nicht  allzugewissenhafter  wider- 
gabe  der  ihm,  wol  vielfach  nur  nach  dem  gehör  bekannten 
namen,  durchaus  nicht  von  der  band  zu  weisende  hypothese. 
Weit  gewagter  erscheint  eine  derartige  ableitung  des  namens 
Guritha,  Gyuritha,  wird  aber  durch  starke  wahrscheinlichkeits- 
grUnde  nahezu  gefordert.  In  der  lieblichen  sage  von  Alfs 
Werbung  um  Alvilda  berichtet  Saxo '),  wie  Alf  und  sein  freund 
Borkar*)  die  als  viking  verkleidete  Alvilda  überwältigen  und 
als  weib  erkennen.  Alf  erzeugt  mit  ihr  Guritha,  Borkar  mit 
ihrer  freundin  Gro  den  Harald  Hyldetand.  Nach  Saxo  240 
aber  ist  dieser  Harald  der  söhn  der  Guritha  und  des  Haidan, 
söhn  Borkars.  Erwägt  man  nun,  dass  das  eintreten  des  bluts- 
brüderschaftsmotivs   in   der   späteren    deutschen    sagenliteratur 


»J  VI,  :(2. 

-)  Das  'nachmals'  ist  so  nichtssaj^cnd  wie  iiiüglicli;  im  liyndlu- 
lied  erschlägt  auch  llalfdan  den  Sigtrygg  und  heiratet  naclinial?;  die 
Almveig. 

3)  A.  a.  0.  22'J. 

*)  Das  freundschaftsuiotiv,  das  in  der  gesamten  nordischen  litoiatur 
eine  sehr  einliussreiche  Stellung  einnahm  und  auch  für  die  entwickelung 
der  Nibelungen-  und  der  Hildensage  von  belang  wurde,  spielt  auch  bei 
Saxo  eine  rolle  und  verdoppelt  widerhult  die  gestalt  seiner  beiden :  vgl. 
Gram  —  Bessus,  Ilading  —  Liserus,  Ilotherus  —  Gelderus. 


44  BEER 

fast  durchweg  ein  accessorisches  ist,  folglich  eine  gewisse  Ver- 
schiebung des  sagenbestaudes  bedeutet,  so  ist  anzunehmen, 
dass  unter  den  beiden  genealogieen  Saxos  die  letztere  die 
vertrauenswürdigere  ist,  dass  diese  nach  rückwärts  auf  den 
neu  eingetretenen  freund  zurückverlegt  wurde,  und  dass  dabei 
an  die  stelle  der  Guritha  die  gleichbedeutende  Gro  trat.i) 
Rechnet  man  hierzu,  dass  eine  Gro  wie  eine  Guritha  durch 
einen  Halfdan  in  niederer,  unkenntlicher  gestalt  einem  after- 
bräutigam  entrissen  wird,  so  ist  zu  schliessen,  dass  Gro  und 
Guritha  in  der  Halfdansage  verwechselt  wurden,  weil  sie  mehr 
gemeinsames  als  das  G  und  das  r  in  ihren  namen  hatten. 

Nach  einer  anderen  richtung  wird  die  zu  dritt  angeführte 
fassung  der  Haldansage  von  Wichtigkeit.  Unguinus  hat  eine 
tochter  Sygrutha,  die  ein,  wie  es  scheint,  riesischer  bewerber 
begehrt;  Unguinus  ruft  Haldanus  Biargrammus,  den  man  für 
einen  söhn  des  Thor  hält,  zu  hülfe,  Haidan  erscheint  in  nie- 
derer tracht  bei  der  hochzeit  und  erschlägt  den  bewerber. 

Des  Unguinus  söhn  hat  eine  tochter  Syritha,  und  diese 
hat  einen  liebeshandel  mit  einem  Othar.  Nun  hat  bereits 
W.  Müller 2)  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  Syritha  ein 
beiname  der  Freya  ist,  und  wenn  der  roman  von  Othar  und 
Syritha,  wie  er  bei  Saxo  vorliegt,  eine  ganz  unmythische,  frei 
und  schön  erfundene,  menschliche  llebesgeschichte  bietet,  so 
ist  doch  die  wähl  der  namen  bedeutungsvoll.  Sicher  ist,  dass 
Sygrutha  und  Syritha  der  nämliche  name  ist  3),  von  Saxo  aus 
zwei  liedern  entnommen,  deren  heldinnen  er  wegen  der 
namensgleichheit  genealogisch  verknüpfte.  Unguinus  hat  unter 
diesen  umständen  Müller  mit  gutem  grund  für  eine  entstel- 
lende latinisierung  des  Frey-namens  Ingvi  genommen  und 
daraus  auf  eine  entstellte  sagenüberlieferung  geschlossen,  deren 
ursprünglicherer  unterläge  ich  in  folgender  fassung  nahezu- 
kommen glaube:    Ingvis    Schwester   Syritha    wird   von    einem 

>)  Zu  der  Verschiebung  des  Borkar,  des  vaters  von  Gurithas  gatten 
und  grossvater  des  Harald,  zu  Borkar,  dem  gatten  der  Gro  und  vater 
des  Harald,  vgl.  die  oben  vermutete  Verschiebung  des  Ebbo,  des  vaters 
von  Syrithas  bewerber,  zu  Ebbo,  dem  bewerber  Sygruthas. 

2)  System  238.  283.  293  a.  1. 

3)  Vgl.  in  der  isländischen  sage  von  Asmund  und  Egil  (Sagabi. 
II,  611)  Asmund,  söhn  des  Othar  und  der  Sigrid. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  45 

riesen  begehrt;  der  herbeigerufene  Thor  erscheint  in  niederer 
traeht  und  erschlägt  den  falschen  freier. 

Hiermit  sind  wir  bei  der  dritten  teilgruppe  angelangt: 
der  göttersage.')  I.  Eine  iiiytliische  fabel  in  der  gestall, 
dass  ein  riese  die  hand  nach  Freya  streckt  und  der 
aus  dem  Osten  heimkehrende  Thor  ihn  erschlägt,  ist 
eddisch  nachweislieli.  Die  wichtigste  sagenform  muss 
etwas  genauer  betrachtet  werden.  Nach  Gylf  42  haben  die 
götter  eben  Mitgard  erschaffen  und  Walhall  erbaut,  als  ein 
baumeister  zu  ihnen  kommt  und  sich  erbietet,  ihnen  in  drei 
halbjahren  eine  bürg  gegen  die  riesen  zu  erbauen  um  den 
preis  der  Freya,  der  sonne  und  des  mondes.  Die  äsen 
sind  es  zufrieden,  bemessen  aber  die  zeit  auf  einen  winter; 
ist  er  um  und  fehlt  ein  stein,  ist  der  lohn  verfallen.  Auf 
Lokis  rat  darf  der  meister  sein  ross  gebrauchen.  Dieses 
schleppt  ungeheure  lasten,  der  bau  wächst  riesenschnell;  als 
noch  drei  tage  an  der  frist  fehlen,  ist  schon  das  tor  in  angrifl' 
genommen.  Da  fragen  sich  die  götter,  wer  geraten  hätte 
Freya  den  riesen  zu  übergeben  und  luft  und  himmel  so 
zu  verderben,  dass  sonne  und  mond  hinweggenommen 
und  den  riesen  gegeben  würden.  Resultat:  wie  immer 
der  arge  Loki.  Nun  muss  Loki  helfen;  er  hilft  mit  der  be- 
kannten list,  dass  er  als  stute  den  beugst  weglockt.  Der  bau- 
meister gerät  in  riesenzorn,  und  nun  erst  erkennen  die  götter, 
dass  er  ein  riese  ist,  rufen  den  im  osten  abwesenden  Thor 
herbei,  und  dieser  erschlägt  den  riesen. 

Die  stelle  aus  Gylf:  *da  fragen  sich  die  götter'  bis:  'den 
riesen  gegeben  würden'  enthält  eine  willkürliche  Umschreibung 
eines  Völuspaverses,  den  Gylf.  zum  schluss  der  darstcUung 
anführt:  die  götter  hielten  rat,  wer  die  ganze  luft  mit  ver- 
derben gemischt  und  Freya  den  riesen  gegeben  habe.  Der 
Verfasser  von  Gylf.  kennt  also  die  Völuspa;  aber,  und  das  ist 
festzuhalten:  er  umschreibt  sie  nicht  lediglich,  sondern  er  gibt 
aus   seiner   persönlichen   sagenkenntnis   die  darstellung  und 


')  Indem  ich  das  einschlägige  eddische  raaterial  heranziehe,  dsi'f 
ich  mich  (mit  einer  ^ausnähme)  wol  auf  meine  erürterungen  gelegentlich 
der  Hymirsage  hernl'en  und  bei  minder  wichtigen  oder  allxn  complicier- 
ten  belegen  von  einer  eingehenden  kritik  der  einzelsage  absehen. 


46  BEER 

sucht,  wo  seine  kenntnis  der  sage  eine  abweichende  ist,  sich 
mit  Völuspa  auseinanderzusetzen.  Es  ist  also  methodisch  un- 
zulässig-, einseitig  die  Vülusi)a  aus  Gylf,  zu  ergänzen;  in  erster 
linie  ist  der  späte  und  unzuverlässige  bericht  von  Gylf.  aus 
der  weitaus  altertümlicheren  Völuspa  zu  controlieren. 

Gylf.  setzt  den  burgbau  unmittelbar  nach  der  weltschöpfung 
an,  Völuspa  hinter  den  vanenkampf;  Gylf.  als  abzweckend 
auf  schütz  der  göttcr  gegen  die  riesen,  Völuspa  als  dem  be- 
diirfnis  der  äsen  nach  einer  neuen  bürg  entsprechend,  nachdem 
die  alte  im  vanenkampf  zerstört  worden  war.^)  Beide  sind  in 
diesem  })unkte  gleich  unzuverlässig;  Gylf.  motiviert  kindisch 
darauf  los:  wenn  die  götter  eine  bürg  brauchten,  war  es 
natürlich  gegen  die  riesen!  Völuspa  schafft  aus  vorhandenem 
mythenmaterial  ein  frei  dichterisches,  monumentales,  epoche 
machendes  werk,  eine  theorie  der  ersten  und  letzten  dinge, 
von  weltbeginn  bis  Weltuntergang;  aber  kaum  ein  mythus  der 
Völuspa  ist  in  ursprünglichem  sinne  gefasst,  und  ferner  erfolgt 
die  Zusammenordnung  der  mythen  nach  freier  combination  und 
künstlerischen  principien.  Die  Völuspa  weiss:  die  götter 
schliessen  mit  einem  riesen  einen  burgbauvertrag  und  setzen 
als  pfand  Freya;  nach  Gylfaginning  wissen  sie  nicht,  mit  wem 
sie  abschliessen,  erkennen  die  riesische  natur  des  baumeisters 
erst,  als  die  wettgefahr  beseitigt  ist;  und  ferner  setzen  sie 
ausser  Freya  noch  sonne  und  mond  als  pfand.  Indem  sich 
der  Verfasser  aber  bemüht,  den  ihm  vorliegenden  Völuspavers 
mit  seinem  bericht  in  das  reine  zu  bringen,  interpretiert  er 
einerseits  in  seine  auflösung  des  verses  kecklich  sonne  und 
mond  hinein  und  lässt  sich  andrerseits  nicht  durch  den  um- 
stand stören,  dass  auch  die  also  modificierte  auflösung  seinem 
bericht  strikt  widerspricht.-)  Nach  Völuspa  ist  Thor  der  retter 
in  der  not,    nach  Gylf.  Loki  durch  eine  list^),    die  der  si)äten 


J)  Vgl.  Müllenhoif,  D.  a.  V,  99. 

^)  Man  vergleiche  die  götterfrage  in  der  Völuspa,  wer  die  luft  mit 
verderben  gemischt  und  Freya  den  riesen  gegeben  habe,  mit  deren  Um- 
schreibung in  Gylf.,  wer  geraten  habe  Freya  den  riesen  zu  übergeben 
und  die  luft  so  zu  verderben,  dass  sonne  und  mond  hinweggenommen 
und  den  riesen  gegeben  würden?  Sonne  und  mond  sind  also  hinein 
interpretiert,  die  riesen  versäumt  auszumerzen. 

"j  Man   hat  aus  Lokis  list  die  geistreichsten  athmosphärischen  alle- 


DER  STUFF  DES  ORENDEL.  47 

Oegisdrekka  bekannt  ist,  aber  darum  nicht  der  altertümlichen 
Vüluspa  vorgelegen  zu  haben  braucht;  keine  quelle  ist  so  übel 
geeignet  einen  mythischen  wertmassstab  abzugeben  als  die 
offenbar  ungenaue  und  allenthalben  verdächtige  Oegisdrekka. 
Nach  Völuspa  bricht  Thor  mit  der  tötung  des  baumeisters  den 
vertrag,  nach  Gylf.  ist  der  vertrag  erfüllt,  indem  die  bürg  mit 
sommers  anbruch  noch  unvollendet  ist.  Somit  ergibt  sich  für 
Völuspa  folgende  fassung  der  sage  als  wahrscheinlich:  wäh- 
rend Thor  den  winter  über  im  osten  ist,  schliesst  ein 
riese  mit  den  göttern  den  wettvertrag,  im  verlauf  eines  win- 
ters eine  bürg  fertig  zu  bringen;  gegeneinsatz  ist  Freya.  Den 
rat  gab  Loki.  Die  götter  verlieren;  aber  der  im  lenz  wider- 
kehrende Thor  missachtet  den  vertrag  und  erschlägt  den  riesen. 
Damit,  kündet  Völuspa  in  ihrer  grossartigen  weise,  schuf  Thor 
das  Vorbild  für  alle  Vertragsbrüche  und  so  einen  grund  mehr 
für  den  Weltuntergang. 

Diese  gestalt  der  Überlieferung  ist  natürlich  kein  primi- 
tiver mythus  sondern  ein  roman,  dem  ein  primitiver  mythus, 
eine  naturanschauung,  zu  gründe  liegt.  Diese  hier  klar  zu 
stellen,  würde  zu  weit  führen.  Soviel  ist  jedenfalls  der  dar- 
stellung  zu  entnehmen:  1.  dass  die  riesen,  was  noch  mehrfach 
bezeugt  ist'),  nach  Freya  strebten,  sie  während  Thors  ab- 
wesenheit  im  osten  in  die  bände  zu  bekommen  suchten  und 
wol  auch  ursprünglich  bekamen,  bis  der  rückkchrende  Thor 
ihrer  misswirtschaft  ein  ende  machte;  2.  dass  diese  misswirt- 
schaft  und  Thors  abwesenheit  auf  den  winter  fiel. 

Weit  schwieriger  klar  zu  legen  ist  die  parallelerzählung 
von  Thiazi  und  lÖun;  schwierig  besonders  deshalb,  weil  die 
natur  der  löun  noch  nicht  genügend  festgestellt  ist.  Sie 
scheint  sich  in  ihrer  mythischen  bedeutung  sehr  nahe  mit 
Freya  zu  berühren;  immerhin  erscheint  es  gewagt  ihren  viel 
umstrittenen  mythus  in  den  bereich  dieser  Untersuchungen  zu 
ziehen,  lieber  die  natur  der  Freya  herrscht  verhältnismässige 
klarheit;  gesichert  jedenfalls  ist  ihre  enge  bcziehung  zur  frucht- 
barkeit. 


gorieen  herausdeuten  wollen,  während  sie  kaum  mehr  ist  als  ein  derlicr 
spielmannswitz! 

')  Vgl.  Prymskviöa   und   die   weiter   unten   erfolgende  anaijse  des 
Hrungnirkampfes. 


48  BEER 

Eine  feinere  wichtige  parallel  Überlieferung  verdanken  wir 
dem  Alvisnial:  einem  lehrhaften  wettgediclit  ganz  im  geschmack 
der  sinkenden  kunst  und  des  sinkenden  heidentums,  dessen 
ausgedüftelte  weehselredeu  aber  in  einen  wertvollen  rahmen 
gespannt  sind,  eine  altraythische  Situation,  des  Inhaltes,  dass 
während  Thors  abwesenheit  im  osten  ein  zwerghaftes  wesen 
Alvis  sich  seiner  tochter  verlobt  habe;  in  dem  augenblick,  da 
Alvis  die  braut  abholen  will,  folglich  die  hochzeit  statt  finden 
soll,  kehrt  Thor  zurück  —  und,  meint  man,  erschlägt  ihn? 
Aber  wo  bliebe  dann  die  mythische  haarspalterei  des  Ver- 
fassers! nein,  er  lässt  sich  auf  einen  wortkampf  mit  ihm  ein, 
bis  die  aufsteigende  sonne  den  zwerg  in  stein  verv^^andelt. 

Man  darf  sich,  um  die  Situation  zu  verstehen,  nicht  auf 
den  zwerg  versteifen.  Riese  und  zwerg  sind  mythisch  keine 
gegensätze  sondern  differenzierungen.  In  der  vedischen  wie 
der  germanischen  mythik  lässt  sich  aus  zahlreichen  belegen 
feststellen,  dass  sie  in  einander  iibergehn.i)  Sie  sind  ursprüng- 
lich dämonen  des  winters,  der  finsternis,  des  athmosphärischen 
Übels;  ]>urs  bedeutete  für  ein  nordländisches  ohr  nicht  riese 
sondern  säufer,  iötunn  nicht  riese  sondern  fresser;  der  troll 
steht  für  den  Volksglauben  zwischen  riesen  und  zwerg  mitten 
inne,  und  wenn  Thor  an  Alvis  etwas  thursenhaftes  bemerkt, 
so  ist  das  nicht  höhn  sondern  bitterer  ernst. 

Die  tochter  des  Thor  könnte  uns  hier  leicht  zu  weitgehen- 
den Untersuchungen  verleiten.  Es  ist  uns  ein  name  t>ruÖr  für 
sie  überliefert,  der  ein  valkyrjenname  ist.  Eine  Untersuchung 
des  valkyrjenmythus^  die  erst  noch  zu  führen  ist,  kann  belege 
für  die  ansieht  beibringen,  dass  die  valkyrjen  keineswegs  von 
anbeginn  ein  monopol  OÖins  waren,  dass  sie,  oder  vielmehr 
die  athmosphärischen  dämonen,  aus  welchen  sie  nachweislich 
hervorgiengen,  auch  eine  starke  beziehung  zu  Thor  hatten. 
Hier  wage  ich  mythengeschichtlich  aus  dem  angeführten  ma- 
terial  nur  folgende  Schlüsse  zu  ziehen:  1.  Thor  ist  den  winter 
über  im  osten.  2.  Während  dessen  sucht  eine  thursischc  macht 
sich  einer  göttlichen  Jungfrau  athmosphärischer  natur  zu  be- 
mächtigen,  welche  von  Wichtigkeit  für  die  sommerliche  frucht- 


')  Vgl.  Mannhardt,  Germ,  mythen  207  ff. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  49 

barkeit  der  erde  ist.  3.  Im  frübjalir  kehrt  Tlior  /Airlick  und 
vernichtet  den  thurs. 

Diese  auffassung  von  Alvismal  findet  eine  bestätiguno;  in 
dem  bruehstück  eines  skaldenliedes  (bei  Rask,  Sn.  E.  162; 
schon  von  Uhland  VI,  48  beigebracht),  welches  Hrungnir  als 
dieb  der  Thru?»  bezeichnet;  eine  bezeichnung,  welclie  zugleich 
die  handhabe  bietet  für  das  mythische  Verständnis  der  in  eap.  17 
der  skalda  erhaltenen  spielmannsüberlieferung  von  llrungnis 
kämpf  mit  Thor.') 

In  Snorris  widergabe  lässt  dieselbe  fünf  teile  unterschei- 
den. Der  erste  berichtet,  dass,  während  Thor  im  osten 
weilt,  um  unholde  zu  bekämpfen,  O^iinn  auf  Sleipnir  nach 
Jötunheim  reitet  (also  auch  in  den  osten),  wo  er  mit  Hrungnir, 
einem  ricsen  (also  einem  jener,  von  Thor  zu  bekämpfenden 
unholde,  und  zwar,  wie  später  gesagt,  deren  stärkstem)  einen 
wettkampf  um  den  preis  seines  kopfes  eingeht,  ob  sein  ross 
Sleipnir  oder  Hrungnis  ross  Gullfaxi  das  schnellere  sei. 
Hrungnir,  in  seinem  jötunenzorn  und  Übereifer,  den  siegenden 
OÖin  zu  überholen,  gerät  unversehens  inneriialb  der  asen- 
mauern,  hat  somit  die  wette  verloren  und,  da  in  der  wette 
einsatz  gegen  einsatz  steht,  seinen  köpf  verspielt.  2.  Davon 
ist  jedoch  keine  rede;  vielmehr  laden  die  äsen  in  liebens- 
würdigster weise  ihren  erbfeind  zum  trinkgelage.  Es  folgt 
eine  derbe,  in  den  übermütigsten  zUgen  gehaltene  Schilderung, 
wie  der  riese  trunken  gemacht  wird  und  sich  in  den  ärgsten 
Prahlereien  ergeht,  Valhall  davontragen,  Asgard  versenken, 
alle  götter  töten,  aber  Freya  und  Sif  für  sich  behalten 
will;  augenscheinlich  zum  vergnügen  seiner  göttlichen  Um- 
gebung; wenigstens  schenkt  ihm  Freya  immer  von  neuem  ein, 
bis  das  trunkene  ungetüm  (wir  hören  wahrhaft  sein  lallen) 
sich  vermisst,  den  göttern  all  ihr  öl  wegzutrinken.  Seines 
tollen  treibens  endlich  müde,  berufen  diese  den  Thor,  der,  sei- 
nen hammer  schwingend,  sich  über  eines  ricsen  bewirtung  in 
Valhall  sehr  aufgebracht  gebärdet.  Der  bedrohte  Hrungnir, 
durch  den  anblick  seines  crzfeindes  oftenbar  ernüchtert,  beruft 
sich   auf  Oftins    frieden,    den   er,    von    ihm  geladen,    geniesse 


1)   Eine    analyse    der    sage    gab    bereits    Mannlianit,  Germ.   myth. 
181  iY.,  wozu  zu  vergleichen  180.  154  IV.,  besonders  lt;3  und  1(54. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutscben  spräche.    XIII.  4 


50  BEER 

(wozu  allevdinc;s  Thors  feindselige  berufung-  wenig  passt),  wirft 
Thor  ein  ueidiugswerk  vor,  wenn  er  ihn  wehrlos  töte,  und  er- 
bietet sich  zu  einem  holmgang  bei  GriottunagarÖ.  Eine  solche 
herausforderung  ist  Thor  noch  nicht  vorgekommen;  um  so 
mehr  willigt  er  ein.  3.  Thor  wird  begleitet  von  Thialfi. 
Dieser  zweizahl  gegenüber  ist  auch  eine  zweizahl  der  gegner 
erforderlich.  Die  jötune,  für  ihren  stärksten  beiden  besorgt, 
fertigen  ihm,  merkwürdiger  weise  künstlich,  einen  gefährten, 
widerum  merkwürdiger  weise,  aus  lehm.  Der  kämpf  wird  mit 
mehr  ausführlichkeit  als  anschaulichkeit  beschrieben.  Man 
stelle  sich  vor:  Hrungnir  schleudert  auf  den,  in  blitz  und 
donner  heranfahreuden  Thor  seinen  Schleifstein,  der  im  flug 
von  Thors  hammer  zerschmettert  wird;  ein  teil  fährt  in  Thors 
Stirn  und  wirft  ihn  kopfüber  zur  erde;  zugleicb  stürzt  Hrungnir 
vorwärts  mit  zerschelltem  haupte  und  zwar  so,  dass  sein  fuss 
auf  Thors  hals  zu  liegen  kommt.  Wer  glaubt  dem  dichter, 
dass  er  sich  diesen  Vorgang  klar  gemacht  habe? 

An  diesen  ausgang  knüpfen  sich  zwei  weitere  episoden: 
a)  des  riesen  fuss  ist  eicht  von  Thors  hals  zu  entfernen.  Da 
kommt  Magni,  Thors  dreijähriger  knabe,  stösst  ihn  fort  und 
sagt:  Schmach  und  schände,  dass  ich  zu  spät  gekommen  bin; 
ich  hätte  den  riesen  mit  der  faust  zu  Hei  gesant.  Thor  steht 
auf,  belobt  ihn,  er  werde  ein  tüchtiger  mann  werden,  und 
schenkt  ihn  zum  lohne  Gullfaxi,  zum  ärger  OÖins,  der  das 
ross  selbst  gern  gehabt  hätte,  b)  Das  bruchstück  des  Schleif- 
steines ist  nicht  aus  Thors  stirn  zu  entfernen;  und  daran 
schliesst  sich  die  Groaepisode. 

An  diesen  bericht  fügt  Snorri  ein  bruchstück  aus  Haust- 
löng,  einem,  unter  cyclischem  gesichtspunkte  verfassten  ge- 
dichte  des  skalden  Thiodolf  aus  dem  neunten  Jahrhundert, 
das  so  wenig  seine  quelle  war  wie  die  Völuspa  für  seine 
widergabe  der  baumeistersage.  In  einer  grossartigen  gewitter- 
scene  kämpft  Thor  wider  Hrungnir  und  fällt  ihn  auf  den 
Schild  (wol  skaldisch  für:  tötet  ihn).  Ein  stück  von  des  riesen 
Schleifstein  fliegt  in  Thors  haupt  und  wird  nachmals  von 
Oelgefjun,  d.  i.  der  tranksjjcnderin,  entfernt.  Das  gedieht 
offenbart  eine  von  »Snorris  bericht  völlig  abweichende  Über- 
lieferung; nichtsdestoweniger  hat  man  Jene  in  diese  hinein- 
gelesen:   bei  Snorri    will  Thor  seines  Steines  durch  Groa  ledig 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  51 

werden,  bei  Thiodolf  durch  Oelgefjun;  folglicli  ist  Oelgefjim 
gleich  Gioa;  obgleich  Oelgefjun,  die  trankspenderin,  unaus- 
weichlich ein  valkyrjcniianic,  Groa  aber  nicht  allein  nirgends 
unter  letzteren  aufgezählt,  auch  nach  ihrer  sinnfälligen  be- 
deutung  als  valkyre  unmöglich  ist;  obgleich  ferner  bei  Thio- 
dolf Thor  des  Steines  ledig  wird,  also  für  die  Groacpisode 
kein  rauni  verbleibt;  obgleich  somit  sich  für  eine  vorurteils- 
freie kritik  der  schluss  ergibt,  dass  die  ursprüngliche  Über- 
lieferung, nach  welcher  Thor  seines  Steines  durch  runeuzauber 
einer  göttlichen  Jungfrau  ledig  ward^),  von  einem  galdr- 
dichter,  um  als  rahmensituation  für  ein  runengedicht  nutzbar 
zu  werden,  auf  den  gehalt  der  Oervandilsage  hin  umgeprägt 
wurde. 

Eine  tatsache  ist  jedenfalls  mit  der  Überlieferung  gegeben: 
dass  der  kämpf  Thors  wider  Hrungnir  als  solcher  abgeschlossen 
besungen  wurde.  Es  fragt  sich  nun,  ob  Thiodolfr  einen  teil 
der  sage  besungen  oder  Snorri,  bezüglich  seine  vorläge,  ver- 
schiedenartiges verschweisst  hat. 

Die  Überlieferung  Hnorris  fordert  allerlei  bedenken  heraus. 
1.  Die  ersten  abschnitte  widersprechen  sich  selbst:  der  erste: 
Thor  zieht  nach  dem  osten  riesen  zu  bekämpfen;  zu  derselben 
zeit  reitet  auch  0?)inn  aus,  und  zwar  auch  er  zu  den  riesen. 
nach  dem  osten,  und  zwar  schliesst  sich  auch  an  seinen 
ausritt  ein  kämpf:  ein  wettkampf.  Dieser  wettkampf  wird 
widerum  nicht  ausgetragen,  denn  nachdem  OÖinn  gesiegt  hat, 
bleibt  der  riese  am  leben.  Der  zweite:  die  götter  gewähren 
dem  riesen  Oöins  frieden;  als  sie  aber  seiner  irunkenen  spässe 
überdrüssig  sind,  berufen  sie  Thor:  natürlich,  iim  zu  töten. 
Auch  diese  wendung  führt  noch  niciit  zur  entscheidung: 
Hrungnir  scheidet  unversehrt;  nur  ein  sjjätercr  kämpf  wird  be- 


')  Eine  cinfiiclie  logische  consequcnz  der,  wulirscliciiilich,  mytliiscli 
bedeutsamen  Überlieferung  von  Thors  Verletzung,  welche  für  die  phan- 
tasie  unmöglich  endgültig  sein  konnte  (um  so  weniger,  als  die  auf- 
fassung  des  also  entstellten  gottes  weiterhin  nicht  selbständig  belegt  und 
ohne  mythisclies  analogon  xu  sein  scheint).  Es  ist  überhaupt  für  die 
sagenkritik  wol  zu  iteachten,  dass  die  phantasie  stets  die  con.sccjuenziMi 
der  gegebenen  Verhältnisse  zieht:  den  sturaijiigcr,  den  sie  aut  der  wolkoii- 
jagd  ein  weib  verl'ulgen  sieht,  ebenda,  die  erbeutete  i|iifr  ülur  jitcrd, 
auf  der  rückkehr  wider  findet. 

4* 


52  BEER 

redet.  2.  Die  einzelnen  teile  des  berichtes  zeig-en  die  über- 
mütige band  eines  ecbten  und  recbten  spielmannes:  a)  llrungnir 
siebt  OÖin  reiten  und  meint  bewundernd,  er  babe  ein  gutes 
pferd.  OÖinn  erwidert  böbniseb,  er  verwette  sein  baupt,  dass 
Hrungnir  kein  so  gutes  babe.  Hrungnir,  erbost,  will  diese 
schmacb  niebt  auf  seinem  ross  Gullfaxi  sitzen  lassen,  wirft 
sieb  auf  dasselbe  und  setzt  dem  fliebenden  OÖin  naeb.  Sollte 
man  glauben,  dass  ein  mytbologe  diese  scene  ernst  zu  nebmen 
gedäcbte?  b)  Die  scbilderung  des  asengelages:  Hrungnis  durst 
und  unmässigkeit,  seine  trunkeubeit,  seine  prablereien  und  als 
deren  bobepunkt,  dass  er  den  äsen  all  ibr  öl  austrinken  will: 
eine  scene  von  solcb  köstlich  drastischem  realismus,  dass 
man  die  bäuselung  des  ungefügen  gastes  von  seinem  ersten 
becherzug  bis  zu  seiner  plötzlichen  schlimmen  ernüchterung 
durchlebt:  ein  echtes  spielmannsstückchen.  c)  Hrungnir,  ob- 
gleich der  stärkste  riese,  soll  einen  belfer  im  kämpfe  haben 
und  zwar  keinen  riesen,  sondern  einen  kunstvoll  belebten  lehm- 
koloss.  Der  koloss  ist  aber  so  ungefüg  geraten,  dass  sich  kein 
herz  für  ihn  findet,  bis  man  ihn  mit  —  einem  stutenherzen 
versieht:  vermutlich  zur  bebung  seiner  tapferkeit.  Gegenüber 
dem  Steinriesen  mit  dem  steinherzen  der  lebmriese  mit  dem 
stutenberzen  —  eine  echt  spielmännische  erfindung.  Er  be- 
zeigt sich  auch  seines  berzens  würdig:  als  er  Tbor  kommen 
siebt,  lässt  er  vor  angst  das  wasser.  Wer  denkt  da  nicht  an 
den  entdeckten  Morolf,  der  vor  angst  seinen  wind  fahren  lässt? 
d)  Hrungnir  steht  mit  ungeheurem  schild  beschützt;  der  schnell- 
füssige  Thialfi,  seinem  genossen  voraufeilend,  äfft  ihm  vor,  dass 
Tbor  ihn  gesehen  habe  und  nunmehr,  unterhalb  der  erde  ein- 
berfahrend,  ihn  von  unten  ankommen  werde.  Der  geprellte 
riese  wirft  den  schild  unter  die  füsse  und  entblösst  so  sein 
baupt  dem  bammer.  Diese  erfindung  ist  so  naiv,  dass  sie 
sehr  gläubige  gemüter  voraussetzt,  e)  Die  episode  mit  Hrungnis 
fuss:  die  kraftprobe  des  dreijährigen  Magni,  seine  burleske 
klage,  dass  er  zu  spät  komme,  um  dem  riesen  mit  einem 
faustscblage  den  garaus  zu  machen,  Thors  vaterstolz,  der  sich 
genau  so  ausnimmt  wie  der  stolz  eines  behäbigen  landmannes 
auf  seinen  kräftigen  erstgeborenen,  und  OÖins  ärger,  dass  ihm 
das  schöne  riesenross  vor  der  nase  weggeschenkt  wird,  f)  Die 
bemerkung,    dass  aus  den  trUmmern  von  Hrungnis  Schleifstein 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  53 

sämtliche  wetzsteiue  der  weit  entstanden  seien,  ist  einerseits 
von  einem  durchaus  bäurisch-burlesk  praktischem  Charakter 
und  stimmt  andrerseits  zu  der  schliesslichen  ankniipfung  eines 
Volksbrauches,  Schleifsteine  wegzuwerfen,  an  die  zu  fünft  er- 
zählte Groa-Oervandilepisode. 

Unter  diesen  Verhältnissen  ist  es  geboten,  anzunehmen, 
dass  1.  sämtliche  fünf  teile  des  Snorrischeu  berichtes  von 
spielmännischer,  und  zwar  der  nämlichen  band  herrührten; 
2.  der  hiermit  gegebene  grosse  spielmannsgesang  a)  in  bäuer- 
lichen kreisen  gesungen  wurde,  b)  in  durchaus  willkürlicher 
weise  gestaltet  und  vornehmlich  auf  die  lachlust  der  hörer 
berechnet  war,  c)  ähnlich  den  grossen  deutschen  spielmanns- 
gedichten  des  zwölften  Jahrhunderts  und  ähnlich  andrerseits 
der,  ebenfalls  in  bäurischen  kreisen  gesungenen  HymiskviÖa, 
einer,  augenscheinlich  sehr  ausgebildeten  hörelust  durcii  Ver- 
knüpfung möglichst  vieler  abenteuer  zu  genügen  suchte. 

Hiermit  ist  die  oben  aufgeworfene  frage  dahin  entschie- 
den, dass  der  skalde  Thiodolfr  nicht  einen  teil  der  sage  be- 
saug, sondern  dass  der  in  seinem  lied  enthaltene  kern  der- 
selben von  dem  spielmann  mit  anderweitigen  bestandteilen 
versetzt  wurde.  Gegeben  war  also  ursprünglich  ein  kämpf 
Thors  mit  einem  riesen  Hruugnir.  Diesen  begründete  der 
spielmann  mit  einer,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  selbstän- 
digen oder  selbständigem  Vorbild  nachgebildeten  Überlieferung, 
nach  welcher  OtÜinn  und  Hruugnir  in  einem  wettritt  auf  tod 
und  leben  nach  Asgard  kommen  und  Hrunguir  unversehens 
in  die  asenniauern  hineingerät.  Diesen  wettritt  hat  der  spiel- 
mann mit  burlesker  willkür  eingeleitet  und  mit  dem  holni- 
gang  durch  ein  burleskes  mittelglied  verbunden,  das  jedoch, 
wie  sich  zeigen  wird,  eines  ernsthaften  hintergrundes  nicht 
entbehrt. 

Wideruni  ist  der  holmgang  seinerseits  von  dem  spielmann 
burlesk  ausgeschmückt  worden:  den  skaldenstropben  fehlen 
sowol  Thors  beglciter  Thialfi  wie  der  stutenherzige  Ichniriese, 
womit  alle  oben  als  spielmänniscb  bezeichneten  clcnientc  in 
Wegfall  kommen.  Allein  da  Thor  und  Thialii  eine  durch  allit- 
teration  beglaubigte  zweiheit  bilden,  so  ist  eine  Überlieferung 
nicht  ausgeschlossen,  der  zu  folge  sie  auch  in  den  kämpf  mit 
Hruugnir   verbunden   eintraten.     Diese   zweiheit    würde   dann, 


54  BEEK 

wie  sichon  oben  angedeutet,  den  spielmann  bewogen  haben, 
dem  Thialti  einen  Möckurkalfi ')  gegenüberzustellen,  woraus 
sieh  denn  alles  weitere  ergab.  Dass  im  übrigen  die  zweiheit 
Thor-Thialfi  die  Verknüpfung  von  donner  und  blitz  bedeute, 
hat  Simrockj  Haudb.  300  erraten  und  Weinhold,  Zs.  fda.  VII,  16 
mit  gründen  nahe  gelegt  und  ist  durch  Mannhardts  Untersuch- 
ungen über  den  bockmythus  (Germ,  mythen  s.  43 — 63)  nahezu 
bis  zur  gewissheit  erhoben. 

Die  Situation,  mit  welcher  der  spielmann  den  holragang 
einleitet:  der  wettritt  Ocüins  und  Hrungnis,  kann  nur  zu  einem 
einzigen  ergebnis  geführt  haben:  zu  Hrungnis  tod  nach  ver- 
lorener wette.  Die  bedeutsame  wendung  der  Überlieferung, 
dass  der  übereifrig  verfolgende  Hrungnir  unversehens,  gleich- 
sam im  schuss,  innerhalb  der  asenmauern  gerät,  gibt  den 
fingerzeig  für  die  auffassung  des  weiteren  Verlaufs:  sie  stellt 
sich  zu  der  Verfolgung  des  falken  Loki  durch  den  adler  Thiazi, 
der  seinen  flug  nicht  mehr  aufhallen  kann  und  innerhalb  der 
asenmauern  gerät,  wo  er  in,  wie  es  scheint,  verschieden  über- 
lieferter weise  getötet  wurde 2);  und  ferner  zu  dem  wettflug 
des  adlers  0(5in  und  des  adlers  Suttung,  dessen  ende  in  der 
äusserst  complicierten,  verwirrten  und  unvollständigen  Über- 
lieferung nicht  erzählt  wird.  Bemerkt  sei  hier,  dass  Suttungr 
der  brauser  und  Hrungnir  der  rauscher  (schaller:  vgl.  Wein- 
hold, Wiener  sitzungsber.  1858  s.  272 — 73)  wol  zu  einander 
passen. 

Um  so  weniger  passt  diese,  von  Wcinhold  aufgestellte 
wahrscheinlichste  etyniologie  des  namens  Hrungnir  zu  seiner 
cigenschaft  als  steinriesen.  Als  einen  steinricsen  hat  ihn  der 
spielmann  gefasst:  darum  findet  der  kämpf  bei  Griottünagar^, 
der  geröllgrenze,  statt,  hat  der  ricse  eiu  steinernes  herz,  ein 
steinernes  liaupt,  einen  steinernen  schild  und  eine  steinerne 
waflfe,  und  darum  ist  sein  feiger  gefährte  ein  gebilde  von 
lehm.    Es  ist   schon  früher  angedeutet  worden  und  kann  auch 


1)  Ea  ist  nicht  ausgcsclilossen,  dass  der  spielmann  in  dem  wasser- 
lassenden Mückurkalfi  einen  verbreiteten,  auch  westgermanisch  belegten 
ursprünglichen  legenmythus  verwendete,  der  auch  zur  ausschmückung 
von  'l'hors  GeirrüÖlahrt  herhalten  musste. 

2)  Es  kann  hier  nicht  ausgeführt  werden,  dass  auch  diese  über- 
li'jferung  von  sehr  iweifelli;ifter  ursprUnglichkeit  ist. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  55 

hier  nur  mit  hiuweis  auf  eine  andreuorts  'zu  führende  nähere 
begründung-  wider  hervorgehoben  werden:  dass  die  angebliehen 
stein-  und  felsriesen  in  Wahrheit  bergriesen,  und  diese  berg- 
riesen  riesen  nicht  der  erdenberge  sondern  der  wolkenberge 
waren:  eine  anschauung,  die  sich  indogermanisch  wie  germa- 
nisch genügend  begründen  lässt,  "Wie  sicli  oben  ergab,  dass 
Oegir  und  Hymir  keine  irdischen  bergriesen  waren,  so  wird 
der  riese  Suttungr,  der  den  himmelstrank  in  einem  berg  ver- 
birgt, der  vater  der  reifriesen  genannt  (vgl.  Weinhold,  W.  s. 
273),  und  so  ist  Hrungnir,  der  rauscher,  mit  seinen  steinigen 
attributen  unvereinbar. 

Aus  der  gesamten  Überlieferung  der  Snorra-Edda  ist  somit 
zunächst  nur  zu  entnehmen:  1.  vielleicht  ein  mythus  von  einem 
wettritte  des  alten  windgottes  05in  und  des  (sturmriesen?) 
Hrungnir.  2.  Bestimmt:  ein  mythus  des  inhalts,  dass  Thor 
einen  Hrungnir  im  kämpfe  erschlägt.  Der  aulass  dieses  kampfes 
erhellt  1.  aus  der  angeführten  benennung  Hrungnis  als  des 
räubers  der  ThruÖ.  2.  aus  seiner  drohung,  Freya  und  Sif  mit- 
zunehmen: beides  gottheitcn,  die  in  den  angeführten  heindvehr- 
sagen  die  rolle  der  bedrohten  spielen;  eine  bemerkung,  die  um 
so  wichtiger  ist,  als  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die  vielen 
erzählungen  von  dem,  stets  rechtzeitig  vereitelten  fahnden 
riesischer  mächte  auf  göttliche  Jungfrauen  fortbildungeu  eines 
mythus  sind,  dem  zu  folge  die  begehrte  Jungfrau  in  der  tat 
zeitweise  in  die  bände  des  buhlerischen  riesen  liel.')  3.  aus 
dem  umstand,  dass  in  Thors  abwesenheit  im  osten  Valhall 
von  einem  riesen  bestürmt  und,  wie  es  scheifit,  bedroht  wird: 
denn  eine  bedrohung  der  götter  war  wol  die  Veranlassung  für 
die  rückkehr  des  'J'hor,  die  der  spielmann  in  einer  tollen 
trunkenheitsscene  begrub.'^)  Resultat  der  gesamten  untersuchuug 
ist  somit  die  Wahrscheinlichkeit  eines  mythus,  dem  zu  folge 
während    Thors    abwesenheit    im    wintcrland    ein    winterlicher 


1)  Belege  für  letzteren  bieten  der  diebstalil  der  ThriiÖ  und  der 
lÖun,  die  zu  erwäliuende  bulilerei  der  Sit",  der  Frigg  und,  viellciclit,  der 
gattin  des  Tyr,  endlich  die  ralunenerziiidung  von  Alvisnial. 

-)  Dass  die  letztere  an  ein  niytliiscli  gegebenes  uiouient  des  Tlior- 
glaubens  anknüpfte,  bat  Maunliardt,  Germ.  myth.  lol  walirsciieiulich 
gemacht. 


56  BEER 

(stürm-?)  dämon  auf  erden  und  im  bimmel  sein  wesen  trieb  ^), 
Freya,  Sif  oder  TbruÖ  (je  uacb  der  Überlieferung)  sieb  zu 
eigen  zu  maeben  suchte  und  scbliesslicb  von  dem  heimkehren- 
den Thor  erscblagen  vvurde.^) 

II.  Es  lässt  sich  ferner  aus  der  Liederedda  der  he- 
weis  für  einen  mythus  erbringen,  dass  Thor  im  lenze 
aus  dem  osten  zuriickkehrend  in  niederer,  übler  klei- 
dung  erscheint,  ganz  geeignet,  ibn  unkenntlich  zu  machen. 
Beizubringen  ist  für  Thor  persönlich  allerdings  nur  ein  einziges 
gedieht;  doch  kann  man  mit  der  fabel  sagen:  eines,  aber  ein 
löwe!  Das  HarbarÖslied  ist  eines  der  kecksten,  willkürlichsten, 
aber  auch  künstlerisch  bedeutsamsten  und  an  altmythiscbem 
gehalt  in  relativ  ursprünglicher  gestalt  reichsten  gedichte  der 
Edda.  Auf  unwahrscbeiulichkeiten  und  Widersprüche  hin  darf 
man  es  freilich  nicht  prüfen;  es  strotzt  von  beiden.  Gleich 
die  Situation  wäre  ein  kreuz  für  mythische  hermeneutik.  Thor 
kommt  an  einen  sund:  wo  liegt  derselbe?  ist  er  die  grenze 
zwischen  riesen-  und  götterlandV  nein,  denn  Thor  kommt  aus 
dem  osten,  und  später  ist  die  rede  von  einem  fiuss,  den  er  im 
osten  gegen  die  riesen  verteidigte.  Fliesst  er  noch  auf  riesi- 
schem gebietV  es  scheint  so,  denn  Thor  bält  es  für  gefährlich, 
an  dem  ort,  an  welchen  er  sich  befindet,  seinen  namen  zu 
nennen:  er  ist  dort  vogelfrei.  Wie  aber  kommt  dann  Obinn 
an  den  sund?  wie  kommt  OÖinn  überhaupt  dazu,  den  fähr- 
mann  zu  machen?  und  wie  kann  er  sich  als  viehhirten  vor- 
stellen in  diesem  Zusammenhang?  Der  dichter  wollte  ein 
niytbisches  streitgedicht  gestalten,  didaktischen  inbalts,  aber 
von  dramatischer  form,  ein  grosszügiges  kunstvverk;  er  braucht 
eine  wirksame  Situation,  und  er  schafft  sie  mit  kecken  strichen: 
irgendwo  kommt  Thor  auf  seinem  wege  vom  riesen-  zum 
götterland  an  einen  sund,  und  just  hier  hat  sich  OÖinn  auf- 
gestellt,   um    ihn   zu    hänseln;    der   sund   ist   blosse  situations- 


*)  Immer  als  einmaliges  ereigiiis  aus  der  anschauung  heraus- 
gehoben. 

'■')  Der  kämpf  donnerkeil  gegen  steinkeil  sciieint,  wie  andrenorts 
auszuführen  ist,  einen  kämpf  im  (friihlings- V)  gewitter,  blitz  gegen  blitz 
zu  bedeuten:  wideruni  eine  bereits  indogerinaniseh  belegbare  natur- 
anschauung:  vgl.  dies  schlagende  vedische  analogon  Mannhardt,  Germ. 
myth.   Ki!}. 


DER  STOFF  DES  OKENDEL.  57 

mache.  Denn  dass  ein  sund  den  grrossen  durchwater  der 
himmelsströme  aufhält,  so  dass  er  ihn  tatsächlich  nicht  zu 
überschreiten  vermag,  würde  entweder  bezeugen,  dass  der 
glaube  an  den  watenden  Thor  nicht,  oder  doch  zur  zeit  der 
entstehung  des  gedichtes  nicht  mehr  gemeingültig  gewesen 
wäre,  was  nicht  zu  erwarten  ist,  da  er  in  dem,  an  altertüm- 
lichkeit und  eigenartigkeit  der  mythischen  eiuzelzüge  nicht 
hinter  dem  HarbarÖsliede  zurückstehenden  Grimnismal  bezeugt 
ist;  oder  aber  er  ist  mit  souveräner  laune  überschlagen.  Man 
muss  sich  überhaupt  hüten,  die  Situation  nach  irgend  einer 
Seite  hin  ernst  zu  nehmen,  etwa  ein  feindseliges  Verhältnis 
Thors  und  OÖius  zu  folgern;  ein  solch  eingreifender  mythus 
müsste  doch  überzeugender  belegt  sein  als  durch  dieses  harm- 
los scherzende  streitgedicht.  Schon  Rlüllenhot!"  hat  es  mit 
recht  als  das  charakteristische  machwerk  eines  spielmauus 
bezeichnet,  gesungen,  wie  Liliencron  bewies,  in  ritterlichen 
kreisen:  Obin  kennzeichnend  als  das  kecke,  galante  rittcrideal 
gegenüber  der  im  schweisse  ihres  angesichts  bei  karger  kost 
gegen  naturgewalten  ringenden  bauernkraft;  hier  der  adelige 
lebensgenuss,  dort  der  'stinkende  atem'  des  niederen  Volkes; 
hier  schneidiger  witz,  dort  tölpelhaft  zuschlagende  baucrn- 
plumpheit. 

Aber  dieser  gegensatz  erklärt  nicht  alles  in  dem  gedieht, 
erklärt  namentlich  nicht  die  ganz  unl)äuerliche  erscheinung 
des  Thor.  Ich  scheide  darum  folgende,  für  diese  erörtcrungen 
beträchliche  mythischen  züge  aus:  1.  Thor  kommt  aus  dem 
Osten  zurück:  im  l)ettlergewand  (l)aarhcinig,  chne  hosen,  schier 
wie  ein  strolch  oder  rossdicb),  einem  landstreicher  ähnlicher 
denn  einem  gott.  2.  Thor  findet  aus  dem  osten  zurückkehrend 
seine  mutter  tot  oder  in  einem  totenähnlichen  zustand.') 
3.  Thor  findet  aus  dem  osten  zurückkehrend  l)ei  seinem  weil)e 
einen  buhlen.  1.  Thor  wird  einen  korb  auf  dem  rücken  dahin- 
schreitend  gedacht.  Hierzu  ist  zu  erinnern,  dass  für  den  ent- 
wicklungsgrad  eddischer  niythenauffassung  Thors  mutter  un- 
zweifelhaft,   Thors   gattin    wahrscheinlich    die    erde    bedeutet. 


>)  Vgl.  dass  nach  dem  zongiiis  von  l'r.vmakv.  I'lior  einem  mythus 
zu  folge  den  winter  über  schläft;  und  hierzu  die  eigentiimliehe  phry- 
gische  Überlieferung,  der  zu  folge  der  jahreszeitengott  den  winter  über 
schläft  (Preller  I,  1U7). 


5S  BEER 

Auf  eine  nivtbiscbe  bulilerei  der  Sif  mit  Loki  scheint  Oegis- 
drekka  anzuspielen;  aber  es  ist  scbon  bemerkt,  dass  Oegis- 
drekka  ein  durchaus  unzuverlässiger  zeuge  ist,  widerholt i) 
controlierbare  mvtlien  von  anderen  erzählt,  als  sie  sonst  be- 
richtet Averden,  und  namentlich  die  Lokimauie,  die  eine  ge- 
wisse periode  der  nordischen  mythengestaltung  beherrscht  hat, 
auf  die  äusserste  spitze  treibt:  geschieht  eine  buhlerei,  ist  Loki 
der  buhler'-);  und  so  soll  er  auch  der  buhler  der  Sif  gewesen 
sein.  Das  ist  an  sich  sehr  unwahrscheinlich,  und  man  wird, 
wenn  nicht  beide  Zeugnisse  auf  Thor  und  Sif  einen  mythus 
übertragen-*),  welcher  zum  mindesten  ebenfalls,  wie  sich 
zeigen  wird,  zwischen  OÖin  und  Frigg  gespielt  hat,  den  mythus: 
'Thor  findet  aus  dem  osten  zurückkehrend  bei  seiner  gattiu 
einen  buhlen',  nach  analogie  der  parallelmythen  zu  erklären 
haben,  nicht  nach  den  faseleien  der  Oegisdrekka. 

Einen  weiteren  belegt)  für  einen  mythus  des  Inhalts,  dass 
ein  gott  aus  dem  winterland  in  übler,  entstellter,  unkenntlicher 
gestalt  heimkehrt,  bietet  eine  sagensippe,  die  von  FiölsviÖmal, 
Skirnismal,  Svendallied  5),  Grogaldr,  Himiubjargarsaga^),  Rindr- 
sage')  gebildet  wird.  Ohne  mich  auf  eine  eingehende  analyse 
dieser,  eine  eigene  grosse  Untersuchung  beanspruchenden  sippe 
einzulassen^),  scheide  ich  folgende  selbständige,  in  den  er- 
wähnten gedichteu  in  einander  verwachsene  primitive  mythen 
aus:  ].  Ein  gott  oder  halbgott  wirbt  um  eine  Jungfrau,  die 
sich   ihm   nicht  ergeben   will  und  erst  durch  list,   gewalt  oder 


1)  Str.  17.  20.  26. 

-)  So  in  äusserst  verdächtiger  weise  str.  K)  mit  Tys  weih  (hierüber 
wild  weiter  unten  geharulelt  werden)  und  str.  52  mit  Skadi:  an  die  letz- 
tere angäbe  schliesst  sich  das  auf  Sif  bezügliche  strophenpaar. 

^)  Was  spätere  erörterungen  über  die  Tyrsage  ebenfalls  sehr  un- 
wahrscheinlich machen  werden. 

*)  Ein  dritter  wJrd  später  beigebracht  werden. 

')  Bei  Grundtvig,  Danm.  gauil.  Folkv.  II,  239  ff.  (übersetzt  von 
LUning  Edda  2:i  ff.). 

'^)  K.  Maurer,  Isländische  volkssagen  .{12. 

")  Besonders  ausführlich  bei  Sa.xo  a.  a.  o.  78. 

^)  Ich  verwahre  mich  aber  ausdrücklich  gegen  den,  vielleicht  nahe 
liegenden  verdacht,  als  ob  ich  den  mit  dieser  sippe  getriebenen  nnfug 
mitmachte  und  beispielsweise  die  Stiefmutter  des  Svendalliedes  in 
FiölsviÖmal  hineinprakticierte. 


DER  STOFF  DES  OKENDEL.  59 

drohungen  bezwungen  weiden  nmss.  2.  Eine  Jungfrau  wird 
gefangen  gebalten  binter  gewaltigem  gitter,  bebütet  von  beu- 
lenden bunden  und  einem  furcbtbaren  wäcbter  (die  wabeilobc 
erlaube  ich  mir  zu  übergeben;  sie  erfordert  ein  eigenes  capitel); 
ein  gott  oder  balbgott  erschlägt  dieselben  und  befreit  sie.  3.  Ein 
gott  oder  balbgott  niuss  den  winter  über  in  einem  fernen 
lande  verweilen,  fern  von  einer  geliebten,  welche  seiner 
harrt.  4.  Die  Jungfrau  wird  zuweilen  in  dieser  zeit  schlafend 
vorgestellt  (eine  vielfach  belegbare  uud  bis  in  den  beutigen 
Volksglauben  zu  verfolgende  anschauung).')  5.  In  einem  fall 
erscheint  der  Jüngling  (Svipdagr)  in  schlechter  landstrcicber- 
hafter  tracbt,  unkenntlich  selbst  der  geliebten,  bis  ersieh 
nennt.  In  der  ganzen  gruppe  aber  handelt  es  sich  nach- 
weislich um  lauter  Jahreszeiten mythen 2);  freilich  in  sehr 
verschobener  und  dichterisch  individualisierter  gestalt. 

Man  sieht  also,  dass  die  rückkchr  aus  dem  winterland 
1.  keine  innerlich  naturnotwendige  beziehung  zu  der  buhlerei 
der  gattin  hat  (Svipdagr),  2.  ohne  das  momcnt  der  bettlcrtraclit 
vorkommt  (Öveudal). 

Nunmehr  haben  wir  den  überblick  gewonnen,  um  mit  bc- 
stimmtheit  erklären  zu  können:  entweder  sind  in  der  lielden- 
sage  au  die  per.süulichkeit  llalfdans  des  alten  eine  reihe  Tlior- 
sagen  angewachsen,  oder  sie  sind  auf  ihn  von  Saxo  übertragen 
worden,  llaldanus,  der  in  unkenntlicher  gestalt  lierl)cieilt  einen 
riesen  zu  erschlagen,  welcher  um  eine  Jungfrau,  seine  gegen- 
wärtige oder  zukünftige  braut,  buhlt,  und  ihn  mit  einem  hammer 
oder  einer  keule  bewältigt,  vollbringt  eine  Thorstat;  der  ricse, 
der  nur  mit  der  vergoldeten  keule  erschlagen  wcM-deu  kann, 
wird  mit  dem  goldleucbtenden  blitze  dahingeratlt;  Haidan,  der 
auf  den  bülfcruf  des  Unguinus  in  unkenntlicher  niederer  ge- 
stalt erscheint  uud  Öygrutha  aus  den  armen  eines  unwürdigen 
bräutigams  reisst,  ist  direct  Thor,  der  aus  dem  osten,  dem 
winterland,  zurückkehrend  den  riesischen  uniwerber  der  Freya 
erschlägt.  Hier  ist  noch  eine  interessante  Überlieferung  zu  er- 
örtern.    Gram  (Haidan)   der   die  Gro   aus  öigtrugs  bänden  er- 


')  Vgl.  das  oben  zu  dci"  aclilafendon  inutter  Tliois  bonicrkte. 
^)  Hier   sei   nur    darauf  verwiesen,    dass    Svipdagr   sich    soiin    des 
FrUhlingskalt  nennt. 


60  BEER 

löst,  heisst  der  soliii  des  Skioldus  und  der  Avilda  (bei  Saxo 
gleich  Alf  hihi).  Guritha,  die  durch  Haidan  (Borkars  söhn)  aus 
den  liüuden  eines  unwillkommenen  freiers  erlöst  wird,  heisst 
die  tochter  des  Alf  und  der  Alvilda.  Die  tochter  eines  Alf 
namens  Alfhild  nun  wird  Forns.  1,  412  ff.  von  einem  riesen 
StarkaÖ  geraubt,  der  vater  ruft  Thor  zu  hülfe,  und  dieser 
erschlägt  den  räuber.  Von  dem  nämlichen  StarkaÖ  wird 
(ebenda)  berichtet,  dass  eine  ihm  verlobte  Jungfrau  während 
seiner  abwesenheit  Jenseits  der  Elivagar  das  weib  des 
riesen  Hergrim  (nachmals  vaters  eines  Grim)  geworden  sei, 
StarkaÖr  aber  zurückkehrend  den  uebenbuhler  erschlagen  habe. 
Die  anknüpfung  der  so  gestalteten  sage  an  den  riesen  und 
frauenräuber  StarkaÖ  ist  auf  den  ersten  blick  äusserst  un- 
wahrscheinlich; in  der  tat  haben  wir  bei  Saxo^)  den  inter- 
essanten bericht,  dass  Haidan  einen  Grimmo^),  welcher  eine 
köuigstochter  Thorhilda  begehrte,  erschlagen  und  diese  ge- 
ehelicht habe.  Nach  den  obigen  erörterungen  über  Haidans 
sageugeschichtliche  bedeutung  ist  es  gestattet  zu  schliessen, 
dass  ursprünglich  Thor  von  den  Elivagar  zurückkehrend  den 
Grim  oder  Hergrim  erschlug,  so  dass  sich  aus  einer  sage: 
Thor  erschlägt  den  riesen  StarkaÖ,  der  eine  Jungfrau  umbuhlt? 
und  einer  weiteren:  Thor  erschlägt,  von  den  Elivagar  heim- 
kehrend, den  riesen  Grimm,  der  eine  Jungfrau  umbuhlt,  eine 
verwirrte  überlieferrung  sich  bildete,  nach  welcher  StarkaÖr  sei- 
nen nebenbuhler  Grim  erschlug. 

Mit  diesen  ergebnissen  ist  ferner  der  Standpunkt  gewonnen, 
um  einen  weiteren  sagencomplex  heranzuziehen,  dessen  Über- 
lieferung an  Schwierigkeit  ihresgleichen  sucht  und  für  den  hier' 
in  bctracht  kommenden  Theil  ihre  aufklärung  wesentlich  dem 
Scharfsinn  Laistners  verdankt.  Die  Baldrsage  ist  in  zwei 
sippen  von  gedichten  und  traditionen  erlialten,  deren  eine  in 
den  Edden,  deren  zweite  in  den  gestis  Danorum  überliefert 
ist.  Die  erstere  ist  ganz  in  den,  einen  grossen  teil  der  eddi- 
schen mythik  beherrschenden  weltuntergangscyclus  eingear- 
beitet; für  das  göttersystem,  den  götterhimmel  der  Edden  ist 
Baldr  lediglich  der  junge,  allgeliebic  gott,  dessen  tod  den  welt- 

I)  A.  a.  o.  223. 

'^)  Vgl.  s.  40  a.  1    i'huio  für  Thor. 


DER  STOFF  DES  ÜRENDEL.  61 

Untergang  eröffnet.  Darum  sind  an  die  Schilderung  dieses 
welterscbütteruden  ereiguisses  mit  liebevoller  Sorgfalt  künst- 
lerische zutaten  geknüpft  worden,  welche,  ganz  anderen  an- 
schauuugskreisen  zugehörig,  durch  ihre  innere  grossartigkeit 
die  bedeutsamkeit  des  ereignisses  hervorzuarbeiten  und  in 
eine  düstere,  ahnungsschwere,  abendliche  gewitterbeleuchtung 
zu  versetzen  geeignet  sind.')  Aber  der  alte  Jahreszeitenmythus 
schimmert  durch:  nachdem  Baldr  gestorben  ist,  erzeugt  der 
Jahreszeitengott  OÖinn  mit  der  starren,  winterlichen  erde  einen 
neuen  frühling;  oder  aber:  nachdem  der  frühere  sommergott 
dem  wintergott  erlegen,  erscheint  sein  bruder,  der  neue  früh- 
ling und  erschlägt  den  Widersacher:  ein  mythus,  der,  in  un- 
seren Überlieferungen  mit  dem  ersteren  verwachsen,  ursprüng- 
lich wol,  unabhängig,  dem  deutschen  zwillingsmytbus  angehörte, 
dem  ihn  Müllenhoff  zug:eordnet  hat. 

Ich  habe  die  Saxosche  Überlieferung  der  Baldrsage  als 
eine  sippe  von  liedern  und  traditionen  bezeichnet.  In  der  tat 
tritt  nirgends  so  grell  die  unvereinbarte  mannigfaltigkeit  der 
quellen  des  dänischen  Chronisten  hervor  wie  in  dieser  partie 
seiner  pseudogeschichte.  Als  ein  typisches  beispiel  hierfür,  wie 
für  seine  art,  die  ihm  zu  geböte  stehenden  vorlagen  zu  ver- 
arbeiten, benötigt  sie  eine  eingehende  behandlung.-) 

I.  Hotherus  ist  der  söhn  des  Schwedenkönigs  Hodbroddus 
und  bruder  des  Athislus,  mit  dem  er  einem  gewissen  Gewarus 
(einem  verdienten  mann:  s.  52;  nach  s.  09  ff.  einem  könig,  s.  S2 
scheint  es:  von  Norwegen)  zur  erziehung  übergeben  wird.  Nach- 
dem sein  vater  auf  einem  kriegszug  gegen  Dänemark  durch 
Helgo  dem  Hundingtöter  gefallen  ist^)  (s.  53),  verbleibt  er 
allein  an  des  Gewarus  hof  (die  taten  des  Athislus  werden 
53  f.  erzählt).  II.  Herangewachsen,  zeichnet  er  sich  durcii 
grosse   leibesstärke ')   uud    in   allen    körperlichen    Übungen  wie 


')  Eine  eingehende  klarlegung  dieser  ersten  sippe  wird  :in  aTulereui 
ort  erfolgen. 

'^)  Sie  ist  im  wesentlichen  im  dritten  hiuh  der  gesta  ciitlialten  (hei 
Holder  (j!)  ft'.).     Weiteres  im  zweiten  hucli  (I).  II.  .")'2.  ;');!). 

•'')  Sehr  bezeichnend  für  Saxos  Verknüpfung  seiner  lielden  mit  s.igen- 
berühmten  geschlechtern. 

*)  Das  muss  collacteis  et  coaevis  summa  corporis  firmitate  prac- 
stabat  ((59,  11.  12)  bedenten,  wenngleich  7(i,  ;j5  sacrani  corporis  firmitatem 


62  BEER 

schwimmen,  l)Oi::enspannen,  riemenkam pf  aus;  besonders  aber 
war  er  jeder  art  saitensjjieles  mächtig  und  beherrschte  mit 
ihm  alle  guten  und  schlechten  leidenschaften  der  menschen. 
III.  Durch  diese  künste  entzündet,  begehrte  Nanna,  die  tochter 
Gewars,  nach  Hothers  umarmung  (folgt  eine  sentenz  über  die 
Ursachen  der  liebe).  IV.  Es  geschah  aber,  dass  des  Othinus 
söhn  IJalderus  Nanna  im  bade  erblickte  und  in  heftiger  leiden- 
schaft  zu  ihr  entbrannte  (denn  der  stärkste  anreiz  der  begierde 
ist    die    Schönheit).     Darum    beschliesst    er    Hother    zu    töten. 

V.  Zu  der  nämlichen  zeit  etwa  verirrt  sich  Hother  auf  der 
jagd  im  nebel  und  gelangt  in  das  gemach  von  waldjungfrauen, 
die  ihn  mit  namen  anreden  und,  über  ihre  Wesenheit  befragt, 
sich  als  valkyrjen  bekennen:  sie  walten  des  kriegsschicksals, 
unsichtbar  den  schlachten  beiwohnend  und  unvermerkt  ihren 
Schützlingen  zur  seite  stehend.  Sie  belehren  ihn,  dass 
Balder  seine  (des  Hother)  milchschwester  beim  bade 
belauschte  und  in  liebe  zu  ihr  entzündet  sei.  Sie  war- 
nen ihn  ferner,  den  gegner,  so  hassenswürdig  er  sei,  mit  waflen 
zu  bekämpfen,  als  einen  halbgott  aus  göttlichem  samen.  Nach- 
dem sie  also  gesprochen,  schwinden  behausung  und  wald,  und 
auf  freiem  feld,  unter  freiem  himmel  findet  Hother  sich  wider. 

VI.  Er  berichtet  Gewar  sein  erlebnis  und  hält  sofort  um  Nanna 
an.  Der  vater  bedauert,  ihm  nicht,  seinem  herzen  folgend, 
sein  Jawort  geben  zu  können;  aber  er  fürchtet  Balders  hass, 
dessen  Werbung  dem  nebenbuhler  zuvorgekommen.  Denn  die 
heilige  unverletzlichkeit  seines  körpers  sei  jeder  waffe  unzu- 
gänglich. Nur  ein  ihm  verderbliches  schwert  gibt  es:  es  be- 
findet sich  in  den  bänden  eines  waldgeistes  Miming,  zugleich 
mit  einem  schätze  mehrenden  armring.  Der  Zugang  aber  sei 
schwierig  für  menschen  zu  gewinnen:  über,  von  entsetzlicher 
kälte  starrende  joche  führe  der  pfad,  den  er  am  ehesten  mit 
einem  schnellen  hirschges})anu  überwinden  werde.  Angelangt, 
habe  er  sein  zeit,  der  sonne  abgekehrt,  so  zu  richten,  dass  es 
den  schatten  von  Mimings  grotte  empfange,  ohne,  bei  wech- 
selnder i)  beleuchtung,  den  geist  mit  seinem  ungewohnten  schat- 


auf  die  unverwundbaikeit  Balders   gelit.     Andrenfalls  würde  sich  Saxo 
anders  ausgedrückt  haben. 

')  Dies  ist  die   hier   allein  mögliche  Übersetzung  von  mutua  (obum- 
bracione). 


DER  STOFF  DES  ÜRENDEL.  63 

ten  von  dem  ausgarg  der  höhle  ('/Aivück)  zu  scheuchen  (näm- 
lich: wenn  er  sie  verlassen  will).  VII.  Hother  befolgt  den  ge- 
gebenen rat.  Nachts  hängt  er  im  zelte  seineu  sorgen  i)  und 
Vorbereitungen  nach,  tags  versieht  er  sich  jagend  mit  lebens- 
mitteln.  Als  er  einst  nachts  in  seinen  sorgen  erschlafft,  trifft 
der  schatten  des  geistes  sein  zeit-);  er  schleudert  ihn  mit  der 
lanze  nieder,  fesselt  ihn  und  erzwingt  mit  schlagen  die  heraus- 
gäbe der  kleinodien  (folgt  eine  sentenz  über  die  liebe  zum 
leben).  Mit  anderen  Worten:  Hother  lauert  allnächtlich,  ob 
der  geist  nicht  die  höhle  verlässt.  In  dem  momeut,  wo  er 
des  Wartens  müde  wird,  fällt  der  schatten  des  geistes  auf  sein 
zeit,  und  er  bewältigt  ihn. 

Saxo  spricht  sich  zu  anfang  des  dritten  buches  über  die 
grundsätze  aus,  nach  denen  er  die  geschichte  Hothers  er/älilt.'-^) 
Er  will  pragmatisch  verfahren,  nicht  die  Überlieferungen  wider- 
geben sondern  auf  grund  des  überlieferten  die  dinge  darstellen, 
wie  sie  auf  einander  folgten  und  sich  auseinander  entwickel- 
ten. Er  nimmt  also  aus  seinen  quellen  vorauf,  was  ihm  für 
die  darstellung  vorauf  zu  gehören  scheint,  und  ergänzt,  die 
handlung  schritt  für  schritt  weiter  führend,  die  sprünge  der 
Überlieferung  nach  eigener  phantasie,  die  einzelnen  scenen 
widerum  nach  eigenstem  dichterischem  nachempfinden  ausge- 
staltend. Erste  frage  ist:  von  wem  stammt  Hother,  wann 
ward  er  geboren,  wie  reiht  er  sich  in  die  nordischen  königs- 
reihen  und  geschichtlichen  Verkettungen  ein.  Die  nflchste 
lautet:  wie  ward  er  mit  Nanna  bekannt?  Die  antwort  wird 
gemäss  einer  sehr  verbreiteten ■•)  nordischen  sitte  gegeben: 
Hother  wird  in  Gewars  haus  erzogen.  An  eine  derartige  er- 
ziehung  eines  jungen  edlen  in  befreundetem  hause  knüpfen 
sich  gern  blutsbrüderschafteu;  Hother  findet  zwar  keinen  bluts- 
bruder,  aber  eine  milchschwester.  Indem  der  dichter  nun  den 
herrlich  heranwachsenden  Jüngling  schildert,  wie  er  an  körpcr- 


')  So  ist  curas  zu  übersetzen:  vgl.  71,18  attoiiita  curis  mcntc. 

'^)  Trotz  der  verblüffenden  construction:  obumbrantcni  tabernacuio 
ist  dieselbe  sinnfällig  notwendig  anzunelmien. 

^)  huius  terapora,  si  ab  ctatia  eins  origine  cepero,  apliiis  oxplica- 
buntur.  pulchrius  enina  i)lenius(|ue  extronia  annorum  illius  ciirricnla 
perstringuntur,  ubi  prima  silencio  non  damnantur,   b.  H.  (ifi,  (1  ff. 

*)  Vgl.  Weinhold,  Altnord,  leben  285  f. 


64  BEER 

stärke  und  jeglicher  leibestugend  alle  altersgennssen  übertrifft, 
zieht  er  eine  eigenschaft  seines  liekleu  heran,  über  die  ihn  ein 
später  benutztes  spielmannslied  (XIX)  belehrte:  Hother  war 
auch  ein  grosser  spielmann.')  Bei  solchen  eigenschaften  war 
es  kein  wunder,  dass  Nanna  ihr  herz  an  ihn  verlor. 

Diese  kritik  der  Überlieferung  Saxos  ist  um  so  berech- 
tigter, als  sie  sich  an  der  erzählung  von  Balders  erwachender 
liebesnot  bestätigt.  Zweimal  wird  dieselbe  berichtet:  einmal 
pragmatisch  vorausgenommen,  das  zweite  mal  innerhalb  einer 
ausführlich  widergegebenen  quelle.  V  ist  augenscheinlich  ein 
in  sich  geschlossenes  lied:  Hother,  auf  der  jagd  durch  nebel 
irre  geleitet,  kommt  zu  der  behausung  von  waldjungfrauen. 
Sie  reden  ihn  mit  namen  an.  Er  befragt  sie  erstaunt  nach 
ihrer  Wesenheit.  Sie  bekennen  sich  als  valkyrjen,  belehren 
ihn,  dass  Balder  Nanna  liebt,  und  warnen  ihn,  Balder  zu 
bekämpfen.  Als  sie  gesprochen,  zerfliesst  und  verschwindet, 
alles,   und  Hother  steht  auf  offenem  feld  unter  freiem  himmel. 

Die  begründung  ihrer  warnung  vor  einem  kämpf  mit 
Balder  ist  allerdings  von  echtem  gepräge  mönchischer  chro- 
nistenerfindung.  Hother  ist  ein  schwedischer  könig,  Balder  ein 
gott;  wie  kann  ein  mensch  gegen  einen  gott  kämpfen?  Mit 
diesem  wirrsal  sucht  sich  Saxo  in  seinem  ganzen  bericht  ver- 
gebens abzufinden. 

Andrerseits  kann  das  gespräch  schon  ökonomisch  mit  der 
Warnung  nicht  abgeschlossen  haben;  die  warnung  muss  ver- 
nünftig begründet  worden  sein.  Die  folgende  Unterredung  mit 
Gewar,  die  mit  einer  naiv  banalen  familienscene  beginnt  (her- 
vorgerufen durch  das  pragmatische  bedürfnis,  nunmehr  die 
Werbung  Hothers  eintreten  zu  lassen,  und  weiter  unten  (X)  in 
verstärkter   kindlichkeit   sich  widerholend)   widerholt  die  war- 


1)  Man  hat  in  sehr  unvorsichtiger  weise  die  spielmannskünste 
Hothers  als  eine  altmythische  vorstciUinig  mit  den  sturmesraelodien  des 
wilden  heeres  zusammengestellt,  ohne  auch  nur  den  geringsten  anhält 
für  eine  sturmnatur  Hothers  oder  gar  ein  einherfahren  in  der  wolken- 
jagd  zu  haben.  Mit  derselben  berechtigung  könnte  man  aus  Saxos  be- 
richt schliessen,  dass  Hother  ein  grosser  Jäger  war  wie  Ulier,  ein  grosser 
Schwimmer  wie  Beowulf  und  15reka,  gewaltig  mit  dem  kampfriemen  wie 
—  nun,  wenn  sich  kein  analogon  findet,  so  vielleicht  eine  geistreiche 
homonymie,    um  auch  hier  die  Überlieferung  wort  für  wort  auszudeuten. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  65 

nung,  aber  mit  einer  ursprünglicheren  begrlindung:  Balder  ist 
unverwundbar.  Es  gibt  allerdings  ein  Werkzeug,  ihn  zu  ver- 
nichten; dieses  aber  ist  in  den  eisregionen,  den  winterbergen 
verborgen  und  schwer  zu  gewinnen.  Hother  gewinnt  es  in 
einer  stimmungsvollen  mondschcinscene. 

In  diesem  teile  der  Überlieferung  hat  die  eddische  sippe 
das  ursprünglichere.  Ein  gott,  der  allein  unter  seinesgleichen 
unverwundbar  ist,  ist  als  solcher  ein  mythisches  unding  und 
der  heldensage  angehörig  •);  in  der  eddischen  Überlieferung 
aber  sehen  wir  dieses  motiv  organisch  aus  dem  bediirfuis  er- 
wachsen, den  götterliebling,  mit  dessen  tod  der  Weltuntergang 
anhebt,  am  leben  zu  erhalten.  Er  ist  nicht  unverwundbar, 
aber  alle  dinge  haben  sich  verpflichtet  ihn  nicht  zu  versehren; 
übersehen  wurde  nur  die  mistel,  und  diese  verdankt  wol  ihre 
wähl  dem  zusammenklang  mit  mist  nebel.  Das  lied,  welches 
Saxo  vorlag,  steht  auf  dem  standjjunkt  der  eddischen  sippe: 
Balder  soll  sterben.  Es  gibt  aber  diesen  sagenstand  in  einer 
noch  späteren,  entstelleuderen  weiterhildung:  Balder  ist  unver- 
wundbar, nur  ein  bestimmtes  seh  wert  vermag  ihn  zu  töten, 
dieses  ist  nicht  in  sondern  jenseits  der  eisregion'^)  verborgen, 
diese  mit  einem  schnellen  hirschgcspann  zu  überwinden,  der 
hüter  ein  Miming,  in  dessen  bänden  ausserdem  noch  der  typische 
schätze  mehrende  ring.  Offenbar  eine  inhaltlich  verschobene, 
und  ferner  willkürlich  ausschmückende  dichtung;  wie  sich  noch 
eine  zweite  quelle  (XIX)  der  dänischen  sippe  als  eine  sageu- 
geschichtlich  späte  ergeben  wird. 

Die  beiden  abenteuer,  welche  Saxo  an  die  gewinnung  von 
ring  und  schwert  knüpft,  sind  sehr  l)ezeichnend  für  sein  ver- 
fahren. Das  erste  (VIII)  ist  ein  kämpf  mit  einem  Sachsen- 
könig Gelderus,  der,  in  einer  kriegslist  gipfelnd,  in  dieser 
eigentlich   seinen   Inhalt   hat.     Angeknüpft  wird  er  durch  Gel- 


l 


')  Auch  in  anderer  bezieluing  gehört  diese  vorläge  Saxos  der 
heldensage  an:  liother  und  Bahler  stehen  einander  nicht  als  gJitter  son- 
dern als  heroen  gegenüber;  der  siegreiche  held  ist  der  von  den  valii3-rjen 
bevorzugte;  und  indem  nacii  beliebter  Schablone  der  sagengchalt  in  ein 
prophetisches  gespräch  gekleidet  wird,  ergeht  der  siegverheisscnde  nor- 
nenrat  an  den  unholden  winterdäiuon. 

-)  Die  eierschalen  des  jahreszcitenniytlius  hat  der  nordische  wclt- 
untergangscyclus  nie  abzustreifen  vermocht. 

Beitiägo  zur  gcschichte  der  doutachon  Bprnclio.     XIII.  5 


66  BEER 

ders  begierde,  die  berühmten  kleinodicu  ihrem  glücklichen  ge- 
wiuncr  zu  entreissen;  der  abschluss  ist  verdiente  niederlage, 
Versöhnung  und  freundschaft.  Das  zweite  (IX)  ist  die  übliche 
Werbung  durch  einen  gewichtigen  gönner^),  die  Hother  für 
einen  llelgo  von  Halogaland  um  die  tochter  des  stolzen  Finuen- 
königs  übernimmt:  eine,  augenscheinlich  übel  widergegebene 
Schablonenerzählung.  X.  Während  dieser  ab  Wesenheit 
Hothers^)  erscheint  Balder  mit  heeresmacht,  um  Nanna  zu 
verlangen.  Der  vater  zuckt  die  achseln  und  verweist  ihn  an 
die  tochter;  die  tochter  erteilt  ihm  einen  regelrechten  korb: 
eine  ehe  zwischen  göttern  und  menschen  könne  nicht  zum 
guten  ausschlagen:  einmal,  weil  der  unterschied  zu  gross  sei; 
sodann,  weil  auf  die  treue  der  götter  nicht  zu  bauen;  sodann, 
weil  der  unterschied  zu  gross  sei,  sodann,  weil  noch  einmal 
der  unterschied  zu  gross  sei,  endlich  aber,  weil  noch  einmal 
der  unterschied  zu  gross  sei.  Und  Balder  zieht  mit  seinem 
beere  wider  ab.  Diese  partie  ist  auch  für  den  tollsten  spiel- 
mann zu  einfältig  und  trägt  ganz  das  gepräge  Saxoschcr  er- 
findungsgabe.3)  Sie  ist,  wie  vieles  andere,  von  der  kritik  der 
Überlieferung  einfach  zu  kassieren. 

XI.  Hother  ist  über  Balders  frechheit  auf  das  äusserste 
entrüstet  und  beklagt  sich  bitter  bei  Helgo  (folgt  eine  sentenz 
über  die  woltat  freundschaftlicher  herzensergiessungen).  Nach 
langem  schwanken  wird  krieg  beschlossen.  XII.  Eine  See- 
schlacht von  göttern  wider  menschen:  gegen  Hother,  Gelder 
und  Helgo  mit  ihren  beeren  streiten  Balderus,  Othinus  und 
Thoro  mit  den  heiligen  götterschaaren.  Hother,  in  einem  un- 
durchdringlichen ge wände,  wütet  unter  den  göttern,  soweit 
das  ein  mensch  unter  göttern  kann;  Thoro  aber  schmettert 
alles  mit  einer  einer  entsetzlichen  keule  nieder*),  bis  es  Hother 
gelingt,  dieselbe  durch  abschlagen  des  griffs  untauglich  zu 
machen.  Dieser  waöe  beraubt,  fliehen  die  götter:  unglaublich, 
aber  wahr;  es  waren  eben  nur  sogenannte  götter.  Balder 
rettet  die  flucht. 


>)  Vgl.  Weinhold  239  f. 

2)  Man  beachte  die  pragmatische  Verknüpfung. 

8)  Vgl.  76, 19—23. 

■*)  Er  fordert  die  feinde  auf,  mit  gleicher  zahl  wider  gleiche  zahl 
zu  kämpfen  (73,30.  31):  also  ein  Zweikampf,  den  aber  Saxo  sofort  wider 
fallen  lässt:   irgend  eine  erinnerung  klingt  in  seinen  ohren. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  67 

XII  a.  Die  feindlichen  schiffe  werden  zerstört,  der  fliehende 
rest  verfolgt  (folgt  eine  scntcnz  über  die  masslosigkcit  des  er- 
folges).  Das  andenken  der  schlacht  bewahrt  die  örtliche  be- 
zcichnung:  Balders  hafen.  Der  in  der  schlacht  gefallene 
Gelder  wird  feierlich  begraben,  Helgo  und  seine  junge  gattin 
in  herrlichkeit  heimgeleitet.  Kother  heiratet  nun  seine  geliebte 
Nanna,  damit  nicht  von  neuem  etwas  dazwischen  kommt.  Er 
führt  seine  junge  gattin  nach  Schweden:  so  ruhmreich  durch 
seinen  sieg  wie  Balder  lächerlich  durch  seine  niederlage.') 

Die  Überlieferung  dieses  abschnittes  erklärt  sich  durch 
Saxos  Vorliebe  für  schlachteuschilderungen  in  romanhafter 
breite.  Ein  kämpf  Hothers  einerseits  gegen  Balder,  Othin  und 
Thor  ist  selbstverständlich  mythisch  nie  überliefert  worden, 
vielmehr  ein  kämpf  lediglich  zwischen  Hother  und  Balder. 
Immerhin  schmückt  die  Überlieferung  diesen  kämpf  mit  echten 
Zügen;  dass  Thor  nach  einer  (für  sich  bestehenden)  jahreszeit- 
lichen anschauung  den  winter  über  des  hammers  verlustig  war, 
lehrt  der  anfang  von  DrymskviÖa,  und  den  verkürzten  hammer- 
stiel  hat  bereits  Grimm  (M.  150)  durch  eddische  Überlieferung 
als  (an  sich)  mythisch  belegt.^)  Beide  umstände  sind  hier,  wie 
die  ortsbenennung:  Balders  hafen,  ganz  willkürlich  herange- 
zogen und  ein,  weiterhin  (XIII.  XIV)  durch  andere  belege  ge- 
stützter anhält,  dass  Saxo  alles,  was  sich  irgend  an  Balders 
oder  Ilothers  namen  knüpft:  lieder,  traditionen,  ortsbennungen, 
in  seine  gesamterzählung  einzuHechten  bestrebt  war. 

XUI.  Aber  Hother  musste  bald  den  wankelmut  des  glückes 
erfahren.  Von  Balder  geschlagen,  floh  er  zu  Gewar.  Der  sieg- 
reiche Balder,  um  seinem  verdurstenden  beere  labung  zu  ver- 
schaffen, wühlte  den  boden  auf  und  erweckte  einen  quell,  der 
noch    heute   seinen   namen   trägt.^)     Im    übrigen    blicl)  der  sieg 


•)  Eine  für  Saxos  missverständnis  des  eigentlichen  mythischen  ge- 
haltes  seiner  vorlagen  sehr  bezeichnende  bemerk ung. 

*)  Vielleicht  sogar  eine  indogermanische  anschauung:  vgl.  Mann- 
hardt,  Germanische  raythen  K)^.  Einen  weiteren,  sehr  bedeutsamen 
beleg  des  deutschen  hammermythus  bringe  Wolf,  Heiträge  z.  d.  m.  I,  iKi  bei. 

■')  Mit  ihm  erscheint  auch  der  gütter  Statthalter  Fro  und  nimmt  den 
sitz  zu  Upsala  ein,  allda  scheuslichc  opfer  empfangend :  ein  neuer  beleg, 
dass  Saxo  keine  gelegenheit  sich  entgehen  liisst,  irgend  eine  ihm  bekannte 
locale  oder  sonst  traditionelle  mythische  beziehung  einzuflechtcn. 


68  BEER 

resultatlos,  denn  Nanna  blieb  ungewonnen,  und  gleich  darauf 
erfahren  wir,  dass  Hotber,  sieb  Seelands  bei  ibm  günstigen 
politiscben  umständen  bemäebtigend,  könig  von  Dänemark  und, 
uacb  seines  bruders  tod  ^),  könig  von  Schweden  wird.  Dagegen 
fühlt  sich  Balder  von  liebessehnsucht  und  -aufregungen  so  er- 
schöpft, dass  er  nur  noch  auf  einem  Zweigespann  einberfährt. 
XIV.  Er  folgt  (wann?  sogleich?)  dem  Hotber  nach  Seeland, 
während  derselbe  gerade  in  Schweden  ist,  gewinnt  die  herr- 
schaft  über  Dänemark  (so  wankelmütig  waren  unsere  vor- 
fahren) und  schlägt  den  herbeieilenden  Hother  zum  zweiten 
male,  der  sich  nunmehr,  nachdem  er  zuvor  in  Jütland  die 
Winterquartiere  bezogen  (hybernis  peractis)  und  einem  platz 
daselbst  den  namen  gegeben,  verzweifelnd  in  die  einöde  zurück- 
zieht (folgt  eine  sentenz  über  die  vereinsamende  Wirkung  des 
Schmerzes). 

Diese  chronologisch  haarsträubende  Überlieferung  ist  nach 
jeder  richtung  hin  verdächtig.  Hother  wird  geschlagen;  trotz- 
dem bleibt  ihm  zeit,  erst  Dänemark  und  dann  Schweden  zu 
gewinnen;  erst  während  er  hier  weilt,  folgt  ihm  Balder,  wird 
Dänenkönig  und  schlägt  den  herbeieilenden  gegner.  Diese 
zweimalige  schlacht  ist  für  die  ursprüngliche  Überlieferung  ein 
Unding.  Ein  lächerliches  unding  ist  die  erotische  erschöpfung 
Haiders,  die  Saxo  augenscheinlich  lediglich  erfand,  um  eine 
ihm  bekannte,  sehr  merkwürdige  anschauung  einzuflecbten,  der 
zu  folge  Balder  auch  auf  einem,  von  zwei  rossen  gezogenen 
wagen  vorgestellt  wurde;  wie  er  nach  klassischem  muster  die 
jütischen  Winterquartiere  erfand,  um  einen,  nach  Hother  be- 
nannten platz  einzuflecbten.2) 

Auf  diese  weise  erklärt  sich  auch  die  erste  schlacht.  An 
einen  Baldersbrunnen  knüpfte  sich  der  mythus,  dass  der  gott 
nach  (vielleicht  auch:  während)  einer  siegreichen  schlacht  sei- 
nen durstenden  schaaren  eine  quelle  schlug.  Dass  diese  fas- 
sung  der  fabel  geprägt  vorlag,  beweist  ihre  widerkehr  in  der 
Karlsage  und  anderen  Überlieferungen.^)     In  allen  diesen  fällen 


*)  Der  nunmehr  erzählt  wird. 

'-')  Weitere  belege  für  einflechtung  disparater  elemente. 

•')  Karl  der  Grosse  nach  einer  siegreichen  schlacht.  Karl  V.  wäh- 
rend einer  belagerung;  ähnlich  Gangolf.  Oswald  nach  einer  siegreichen 
schlacht  (aber  zu  legendarischem  zweck).    Vgl.  Gi^pim  M.  783.  Laistner, 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  69 

mag  sie  angewachsen  sein;  aber  als  typus  ist  sie  hiermit  er- 
wiesen. Ist  in  unseren  quellen  von  sonstigen  kämpfen  Hai- 
ders keine  rede,  so  weisen  der  von  einem  beer  begleitete  Hai- 
der, der  reitende  Haider  des  Merseburger  Spruches  ebenfalls 
über  die  grenzen  unserer  Überlieferung  hinaus.  Es  ist  unab- 
weisbar und  wurde  schon  von  Grimm  angedeutet,  dass  Halder 
zu  einer  zeit,  zu  welcher  ihn  die  ausbildung  einer  götter- 
hierarchie  noch  nicht  auf  einen  kleinen  Wirkungskreis  be- 
schrcänkte,  als  der  leuchtende  gott  der  athniosphärischen  er- 
scheinungen  mittelpunkt  einer  eigenen  mythenweit,  und  jeden- 
falls Vertreter  des  götterkampfes  wider  die  dämonen  war  so 
gut  wie  OÖinn  und  Freyr,  die  beide  in  unseren  quellen  von 
dem  specifischen  dämoneubekämpfer  Thor  bis  auf  wenige  an- 
haltspunkte  zurückgedrängt  sind.  Das  göttersystem  ist  nicht 
der  ausgang  sondern  die  letzte  phase  der  mythischen  ent- 
wickelung,  und  es  lässt  sich  nahezu  schlagend  beweisen,  dass 
die  einzelnen  göttev,  verschicdnenorts  entstanden,  sich  in  ihrer 
bedeutung  sehr  nahe  berührten,  in  ihren  Wirkungskreisen  nahezu 
deckten  und  erst,  als  sie  durch  die,  in  allen  Stadien  der  sageu- 
entwickelung  so  stark  waltende  Wanderung  gemeingut  grösserer 
distrikte  geworden,  in  einem  natürlichen  ausgleich  sich  in  die 
fuuctionen  teilten  und  genealogisch  verknüpften;  wie  ja  auch 
ursprünglich  gleichbedeutende  wurzeln  und  stamme,  verschied- 
nenorts  entstanden  und  dann  durch  Wanderung  gemeingut  ge- 
worden, in  unwillkürlichem  ausgleich  auf  begrenzte  nuancie- 
rungsgebiete  eingeschränkt  wurden. 

In  der  tat  verläuft,  wie  bemerkt,  der  erste  kämpf  völlig 
resultatlos;  der  zweite  aber  hat  ein  sehr  wichtiges  rcsultat: 
Hother  wird  vertrieben.  Und  somit  lassen  sich  aus  den  bis- 
herigen abschnitten  des  Saxoscben  l)erichtes  vier  Überliefe- 
rungen herausschälen:  1.  Halder  und  llother  sind  nebenbublcr 
um  Nanna.  2.  Hotlicr  gewinnt  eine,  in  den  eisregionen  ge- 
borgene warte,  mit  welcher  allein  der  unvcrsehrbare  HaUlcr  zu 
vernichten  ist,  3.  Hother  besiegt  und  vertreibt  Halder.  l.  Hal- 
der zurückkehrend  besiegt  und  vertreibt  llother.    Unter  diesen 


Nebelsagen  199.  Wolf,  Heiträge  I,  133.  191  (woselbst  weiteres  bedeut- 
sames material);  diese  Beiträge  XI,  400;  ebenda  4lö  weitere  vtM- weise. 
Schwedisch  das  dürstende  beer  bei  Afzelius  III,  2-l(). 


70  BEER 

vier  Überlieferungen  nimmt  die  zweite  i)  eine  Sonderstellung 
ein:  unvereinbar  mit  der  dritten  und  vierten,  widerstrebt  sie 
auch  dem  folgenden  berieht:  das  seh  wert  Hothers  und  die  un- 
verwuudbarkeit  ßalders  kommen  nie  wider  vor,  und  Hother 
bedarf  ganz  anderer  mittel,  um  Balder  zu  bewältigen. 

XV.  Hother,  in  der  einsamkeit  irrend,  gelangt  auf  unbe- 
tretenen wegen  unversehens  in  die  grotte  unbekannter  Jung- 
frauen. Es  waren  dies  aber  die  nämlichen  (setzt  der  bericht- 
erstatter  hinzu-)),  die  ihn  einst  mit  einem  unverletzlichen 
gewande  ausgestattet  hatten.  Befragt,  wie  er  an  diese 
statte  komme,  klagt  er  sein  missgeschick  und  beschuldigt 
sie  des  wortbruches,  weil  der  verheissene  sieg  aus- 
gebt ieben.^)  Sie  trösten  ihn  mit  seines  feindes  ehemaliger 
niederlage,  und  dass  das  blutbad  auf  beiden  selten  das  gleiche 
gewesen.  Sie  verheissen  ihm  sieg,  wenn  es  ihm  gelinge,  einen 
für  Balder  ersonnenen  stärketrunk  zu  geniessen.  XVI.  Diese 
verheissung  erfüllt  Hother  mit  der  höchsten  kampflust,  obwol 
es  für  menschen  schwer  wider  götter  zu  streiten;  daher  ihm 
manche  den  kämpf  widerraten.  Aber  die  begierde  besiegt 
seine  ehrerbietuug  vor  der  götter  hoheit  (wie  nicht  immer  die 
Vernunft  gegenüber  der  tapferkeit  zu  ihrem  rechte  kommt); 
vielleicht  auch  vertraute  er  auf  die  Unbeständigkeit  der  macht. 

XVII.  Balder  erscheint  mit  einem  Dänenheer;  eine  blutige 
Schlacht    folgt,    entscheidungslos   von   der   nacht   unterbrochen. 

XVIII.  Während  alles  ruht,  sehleicht  Hother,  von  niemand  ver- 
merkt, auf  kundschaft  in  das  feindliche  beer  (folgt  eine  Sen- 
tenz über  die  schlummerlose  sorge)  und  kommt  gerade  dazu, 
wie  drei  Jungfrauen,  die  trägerinnen  des  stärketrunks,  Balders 
lager  verlassen.  Er  folgt  ihren  spuren  im  thauigen  gras^) 
bis   zu   ihrer  behausung,    (XIX)  gibt  sich  für  einen  spielmann 


')  Die  als  der  eddischen  sippe  zugehörig  gekennzeichnet  wurde. 

'■*)  easdem  esse  constabat. 

'■')  Alan  bemerke,  dass  sie  soeben  als  ihm  unbekannt  bezeichnet 
wurden, 

^)  Man  sollte  also  annehmen,  dass  sie  so  schnell  entschweben,  dass 
Hother  ihnen  nicht  folgen  kann;  bei  dem  gesammtcharakter  dieser,  später 
zu  erörternden,  partie  ist  aber  eher  anzunehmen,  dass  sich  Saxo  über- 
haupt nichts  vernünftiges  dabei  gedacht  hat  sondern  einen  irgendwo 
aufgelesenen  poetischen  zug  unpassend  verwertete. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  71 

aus  und  bewährt  sofort  seine  kunst  in  bezaubernder  weise, 
während  die  Jungfrauen  aus  dem  geifer  dreier  schlangeuweib- 
chen  den  wundertiank  brauen.  Die  eine  in  ihrer  mensehen- 
freundlichkeit  hätte  gern  Hother  an  dieser  speise  anteil  ge- 
währt; aber  die  älteste  wehrt  den  verrat  an  Balder,  seines 
feiudes  kräfte  zu  stärken.  Der  spielmann  leugnet  Hother  zu 
sein;  er  sei  nur  einer  seiner  gefährten.  Dieselben  Jungfrauen 
nämlich  (heisst  es  wörtlich),  beschenken  ihn  in  ihrer  gute 
mit   einem    leuchtenden   gurt  und  einem  siegmächtigen  giirtel. 

XX.  Als  er  den  pfad  zurückwandelt,  begegnet  er  Balder  (der 
augenscheinlich  soeben  seinem  stärketrunke  nachgeht),  ver- 
wundet ihn  tötlich  in  der  seite  und  lässt  ihn  halbtot  liegen. 
Dort   grosser  jubel   im  einen,    Jammer  in   dem  anderen  lager, 

XXI.  Balder,  der  seinen  tod  nahen  fühlt,  lässt  sich  in  die,  um 
seiner  wunden  schmerz  erneute  schlacht  tragen,  um  nicht  im 
zelte  zu  sterben.  XXÜ.  In  der  folgenden  nacht  erscheint  ihm 
Proserpina  (Hei)  und  verkündet  ihm,  dass  er  am  folgenden 
(also  zweiten)  tag  in  ihren  armen  ruhen  werde.  Am  dritten 
tag  stirbt  er  und  wird  feierlich  begraben. 

Diese  letzte  Überlieferungsmasse  rechtfertigt  die  an  dem 
voraufgehenden  geübte  kritik.  Hother  kommt  ein  zweites  mal 
zu  waldfrauen;  es  sind  dies  die  nämlichen,  die  ihm  einst  ein 
unverletzliches  hemd  verliehen  und  sieg  zugesichert  haben. 
Beide  züge  sind  der  ersten  begegnung  (V)  vollkommen  fremd; 
dagegen  erscheint  in  der  grossen  see-  und  götterschhicht  (XII) 
Hother  mit  einem  undurchdringlichen  gewand  bekleidet.  Dass 
l)eide  züge  in  jener  lückenhaften  partie  V  gestanden,  ist  darum 
fraglich,  weil  die  Verknüpfung  mit  VI,  dessen  echte  züge  genau 
da  einsetzen,  wo  die  echten  von  V  aufhören  (bei  der  warnung 
vor  einem  kämpfe  mit  Balder),  für  Saxos  vorläge  das  wintcr- 
schwert  als  siegesmittel  Hothers  wahrscheinlicher  macht  wie 
das  gänzlich  physiognomielose  undurchdringliche  hemd,  welches 
nichts  ist  als  ein  müssiges  wauderrequisit,  während  Baldcrs 
unverletzlichkeit  und  die  walle  in  den  cisregionen  als  natür- 
liches crgebnis  einer  überschaubaren  sagenentwicklung  sich 
darstellten.  Ob  Saxo  eine  weitere  Überlieferung  zu  geböte 
stand,  der  zu  folge  einer  Unterredung  llothers  mit  waldfrauen 
jene  beiden  züge  eigen  waren;  mit  anderen  Worten:  ob  die 
prophetische   valkyrjenbegegnung  Hothers  auch  in  anderer  ge- 


72  BEER 

stillt  gesuiigeu  wurde  und  Saxo  bekanut  war,  muss  dahin  ge- 
stellt bleiben,  Sicher  aber  ist  die  XV  geschilderte  begegnung 
ein  Saxoschcs  mach  werk.  Die  Jungfrauen  sind  Hüther  un- 
bekannt; nichtsdestoweniger  bezichtigt  er  sie  des  wortbruchs. 
Und  womit  verteidigen  sie  sich?  dass  Hother  nicht  minderen 
schaden  zugefügt  wie  erlitten  habe!  Farbloses  Ungeschick  ist 
das  gepräge  des  ganzen  abschnittes  gegenüber  der  knappen 
gcschlossenheit  jener  vorläge.  Weil  in  ihr  des  winterschwertes 
gewinuung  von  nornen  prophetisch  angekündigt  ward,  musste 
der  raub  des  stärketrankes  mit  gleichem  aufwand  in  scene  ge- 
setzt werden,  die  gespenstische  nebelscene  in  verschlechterter 
aufläge  figurieren.  Der  ganze  abschnitt  XV  ist  unecht,  um  so 
unechter,  als  natürlich  die  drei  den  stärketrank  brauenden 
Jungfrauen  valkyrjen  sind;  Saxos  Ungeschick  somit  eine  val- 
kyrjenscene  mit  einer  anderen  ankündigt. 

AVie  töricht  widerum,  wie  stümperhaft  wird  die  echte 
valkyrjeuscene  eingeleitet!  Hother,  auf  nächtlichen  Schleich- 
wegen, sieht  die  trankjungfrauen  Balders  lager  verlassen. 
Dass  diese  Situation  schon  deswegen  ganz  sinnlos  ist,  weil 
lialder  seine  schützeriunen  später  um  des  trankes  willen  auf- 
sucht, kümmert  Saxo  nicht;  ihm  schwebte  eine  scene  vor,  in 
der  ein  held  nebelfrauen  nachschleicht,  und  er  flocht  sie  frisch- 
weg ein.  Der  verlauf  ist  des  anfanges  wert.  Hother  kommt 
zu  den  Jungfrauen  um  des  stärketrunks  willen,  und  er  verlässt 
sie,  ohne  ihn  genossen  zu  haben.  Der  stärketrunk  wird  ihm 
versagt,  weil  er  Hother  sei,  und  er  gibt  sich,  um  ihn  von  Hai- 
ders schützerinnen  zu  erhalten,  für  einen  genossen  Hothers 
aus.  Warum  überhaupt  Hother  als  spielmann  eingeführt  wird: 
auf  dass  die  macht  seiner  kunst  ihm  den  trank  gewinne,  hat 
Saxo  vergessen;  und  die  schlicssliche  spende  der  freundlichen 
Jungfrauen,  der  kraftgürtel,  verwandelt  sich  aus  der  dichteri- 
schen Schilderung  der  vorläge:  ein  stärkegurt,  ein  leuchtender 
gUrtel!  für  Saxos  Verständnis  in  das  geschenk  zweier  gürtel. 

Es  ist  offenbar:  Saxo  hatte  seine  quelle  weder  verstanden 
noch  recht  im  gedächtnis.  Die  einleitung  durch  einen  unent- 
schiedenen kami)f  ist  nach  der  Schablone  der  kriegsberichte, 
das  nächtliche  schleichen  auf  kundschaft  vermittelt  die  sinn- 
lose episode  von  den,  dem  lager  entwaudolnden  Jungfrauen. 
Da    nun   an   der   sinnlosesten   partie  des  ganzen  letzten  teiles, 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  73 

dem  abschnitt  XV,  erst  recht  nichts  zu  halten,  so  ergibt  sich: 
XV — XVIII  sind  lediglich  machweik  Saxos,  in  der  Über- 
lieferung nicht  begründet.  Für  den  ganzen  abschnitt  XV — XXII 
lag  Saxo  im  wesentlichen  eine  Überlieferung  vor:  llother  kommt 
unversehens  zu  der  bchausung  dreier  valkyrjen.  Er  fragt,  was 
sie  treiben;  sie  erklären  ihm,  dass  sie  aus  Schlangengift  einen 
stärketrank  für  Balder  brauen.  Durch  spielmannskünste ')  ge- 
winnt er  ihnen  denselben  ab  und  einen  kostbaren  stärkegUrtel 
dazu.  Als  er  sie  verlässt,  begegnet  er  Balder,  der  sie  gerade 
aufsucht,  und  verwundet  ihn  tötlich. 

Diese  quelle  Saxos  ist  ein  spielmannslied.  Die  stimmungs- 
volle Situation:  die  Jungfrauen  in  der  grotte,  unter  gemurmel- 
ten Zauberworten  den  herabträufenden  geifcr  von  den  lippen 
dreier  Schlangenweibchen  auffangend,  bezeugt,  dass  es  ein 
gutes  lied  war,  wenn  auch  ein  lied  von  wenig  altertümlichem 
gepräge.-)  In  der  mythischen  entwickelung  tritt  auf  allen 
stufen  eine  Umbildung  hieratischer  Überlieferung  zu  mensch- 
lichen nutz-  und  hausgebräuchen  ein:  der  amuletismus.  Dinge 
und  ceremonieen  hieratischer  bedeutuug  sollen  die  mensch- 
heitsschranken  erweitern:  wunden  und  kraiikheiten  heilen 
und  verhüten,  unüberwindlichkeit  und  unverletzlichkeit  schallen. 
Diese  abergläubischen'')  gebrauche  werden  widerum  in  den 
götterhimmcl  übertragen:  so  gut  die  götter  vor  dem  mahle  aus 
dem  blute  der  (wem?)  geopferten  tiere  weissagen  (Hymiskv.), 
bereiten   die   nornen  dem    bedrohten  Balder  einen  stärkctrunk. 

In  der  bedrohung  Balders  aber  liegt  das  wichtige  moment 
der  Überlieferung.  Balder  ist  bedroht;  daru'.n  wird  ihm  ein 
stärketrunk    bereitet,    der    ihn    unüberwindlich    macht.      Aber 


')  Hier  ist  die  (luelle  tilr  Hothers  sangesknnst  in  II  aiizum'hmen. 

-')  Wie  schon  die  ganz  iiheifliissige  liäufiing  des  stärketrunkes  dnrcli 
das  Wanderrequisit  des  stiirkegilrtels  veiimiten  lässt. 

')  Es  gibt  christlichen  so  gut  wie  heidnischen  aherglauben;  aber- 
glaube  ist  entartung  religiöser  anschauungen  und  ceremonien ,  ent- 
arteter glaube.  Er  besteht  im  wesentlichen  aus  aniuletisnius  (hand- 
lungen,  die  unheil  verliüten,  bezüglich:  deren  Unterlassung  unheil  nacli 
sich  zieht)  und  schanianisnius  (gespensterglauben,  spuk).  Der  von  der 
Völkerpsychologie  für  ersteren  geprägte  nanie  ist  fetischisraus.  Doch 
ist  dieser  begritT  dahin  zu  erweitern,  «last;  unter  ilin  alle  'wunsch- 
dinge' und  viele  'unmögliche  handlungen',  besonders  der  luärchen- 
wetten,  fallen. 


74  BEER 

Hotber  i^ewiimt  diiieli  spiclnuiuuskiinste  den  gcnuss  dieses 
zaubeniiittels,  und  Balder  erliegt.  Man  sieht:  diese  Überliefe- 
rung ist  1,  weit  ursprünglicher  als  die  von  V — VII,  2.  mit 
der  letzteren  conciirrierend,  also  unvereinbar.  Die  eddische 
sippe  verkündet:  Balder  niuss  nach  einer  prophezeiung  ster- 
ben; darum  suchen  ihn  die  götter  zu  schützen  (denn  sein  tod 
erötinet  den  Weltuntergang):  alle  dinge  verheissen  ihn  nicht 
zu  verletzen  —  bis  auf  eines.  Daraus  erklärt  sich  V:  Balder 
ist  unverletzlich,  aber  eine  im  winterlaud  ruhende  waffe  wird 
ihn  durch  Hothers  band  töten;  und  XIX:  Balder  ist  bedroht; 
die  valkyrjen  bereiten  ihm  zum  schütze  einen  stärketrank,  aber 
diesen  gewinnt  Hother  als  spielmann,  und  Balder  muss  ster- 
ben. V  vergisst  den  anlass  der  unüberwindlichkeit,  XIX  führt 
als  mittel  derselben  ein  amulet  ein. 

Auf  die  bedrohung  Balders  aber  ist  jedenfalls  XXII  zu- 
rückzuführen: Hei  erscheint  Balder  und  verkündet  ihm  seinen 
Untergang.  Der  tod  am  dritten  tag  ist  wol  nach  der  legenden- 
schablone  und  stimmt  nicht  mit  Saxos  eigenem  bericht  des 
Sachverlaufes;  der  zug,  dass  der  totwunde  Balder  sich  in  die 
Schlacht  tragen  lässt,  nach  einem  berühmten  muster.  Ob  die 
Verwundung  in  der  seite  nicht  auch  mythisch  sinnlos  und 
übernommen  ist,  bleibe  einstweilen  dahingestellt.  Jedenfalls 
sind  XXI  und  XXII  willkürlich  und  unursprünglich,  und  der 
einzige  echte  zug,  die  todesprophezeiung  Hels,  wahrschein- 
lich herauszunehmen  und  in  der  bezeichneten  weise  zu  ver- 
werten: als  die  veranlassung  des  trankschutzes. 

Alles  in  allem  hat  die  kritik  der  dänischen  Überlieferung 
folgende  sagenzüge  herausgeschält:  1.  Hother  und  Balder  sind 
nebenbuhler  um  Nanna  (III — V).  2.  Hother  besiegt  und  ver- 
treibt Balder  (XII).  3.  Balder  kehrt  zurück  und  vertreibt 
Hother  (XIII.  XIV).  4.  Balder  ist  unverletzlich;  aber  ein  in 
der  eisregiou  ruhendes  schwert  wird  ihn  durch  Hothers  band 
töten  (VI).  5.  Balder  ist  bedroht,  darum  bereiten  ilim  val- 
kyrjen einen  stärketrunk,  der  ihn  unüberwindlich  machen 
wird:  Hother  aber  gewinnt  diesen  (durch  spielmannskünste) 
und  erschlägt  Balder  (XV — XXII).  Von  dieser  Überlieferung 
stehen  4.  und  ö.  der  eddischen  sippe,  wie  dargetan,  nahe:  die 
unverletzlichkeit  wie  die  bedrohung  führen  zurück  auf  den 
weltuntergangsmytlius.     Dagen  enthalten  1. — 3.  eine  ganz  neue 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  75 

übeilieferuDg:  Hotbcr  und  Balder  sind  nebeul)ublcr  um  Nauua; 
Ilotber  vertreibt  Bakler,  muss  aber  danu  selbst  vor  dem  zu- 
riickkebrendcu  eutweicbeii.  Diese  Überlieferung  stellt  Saxo  so 
dar,  als  ob  Hotber  der  begünstigte,  Balder  der  versebmäbte 
liebbaber  sei;  jeuer  der  berrliebe,  rubmreicbe  bcldenjUngling, 
dieser  der  bassenswürdige  (V.),  scbmaebvoUe  (XII  a)  bubler. 
Der  irdiscbe  liebbaber  stebt  dem  möncbe  näber  am  herzen  als 
der  verfluchte  heidengott.  Diese  an  sieb  tendenziös  gefäri)te 
(XII  a)  darstellung  weicht  in  einer  weise  von  der  besseren 
eddischen  Überlieferung  ab,  welche  sie  richtet.  Der  allgeliebte 
lichtgott,  dem  sein  treues  weib  Nanna  nachstirbt,  konnte 
mythisch  nie  zu  dem  hässlichen  nebenbuhler  eines,  in  recht- 
mässiger ehe  eben  jener  Nanna  vermählten  winterdämons  wer- 
den. Und  hier  setzt  Laistners  geniale  bemerkung  (Nebels.  201) 
ein:  auch  in  der  dänischen  sippe  war  Nanna  Baldcrs  weib; 
ein  winterlicher  dämon  verdrängt  ihn  von  ihrer  seile,  au  der 
nunmehr  er  sein  buhlerwesen  treibt,  bis  der  rUckkehrende 
gott  der  Wirtschaft  ein  ende  macht. 

Laistner  kommt  auf  die  Hothersage  bei  gelegenheit  seiner 
besprechung  der  Gangolf  legende  (196 — 204),  die  er  in  innere 
beziehung  zu  jener  zu  setzen  geneigt  ist.  In  der  tat  werden 
von  Gangdlf  (Wolfgang)  mythisch  klingende  dinge  berichtet'), 
und  er  ist  andrerseits  ein  sehr  zweifelhafter  heiliger;  historisch 2) 
weiss  die  legende  nur  von  ihm,  dass  er,  ein  Burgunder,  zu 
Pippins  Zeiten  ein  grosser  kriegsmann  vor  dem  herrn  gewesen 
sei;  die  ihm  zugeschriebenen  wunder  sind  teils  schablonen- 
haft»),    teils  accessorisch'*);    daraus   freilich    zu   folgern,    dass 


>)  Er  ist  ein  grosser  Jäger  (b.  L.  19H):  eine  eigenscliaft,  deren  Ver- 
einbarkeit mit  einem  heiligen  leben  den  tlieologen  Ivopf/.crljreelien  ver- 
ursaehte  (Heiligenlexicun  II,  .37;!);  nach  einem  voli<sghiuben  (b.  L.  2(hi) 
fahrt  Wolfgang  zu  wagen  über  das  wasser;  vgl.  (ebenda)  einen  Gangoll- 
berg als  Wetterpropheten,  ferner  seine  Verehrung  zu  piingsteu,  den  fall 
seines  gedenktages  auf  den  II.  oder  13.  mai:  den  sehluss  der  frühlings- 
zwölften,  zu  deren  anfang  der  Balder  geweihte  Pfultag  steht;  den  i:«. 
Servatius,  den  14.  Bunifaziiis,  beides  (luellerweckonde  heilige  (b.  L.  202); 
über  letzteren  vgl.  wichtige  nachweise  bei  Wolf.  Heitr.  /-.  d.  m.  I,  l'.il.  IH.i. 

-)  Heiligenle.xicon  II,  ;»7:<. 

•')  Die  von  vielen  heiligen  erzählte  ((uelhveckung. 

*)  Der  kesselfang,  der  lediglich  eine  combination  des  quellcnwun- 
ders  mit  der  untreue  der  frau. 


76  BEER 

Gangolf  ein  lieiduiscber  gott  gewesen  sei,  wäre  gewagt,  da 
wol  göttliche  Züge  auf  heilige  iiheitiagen  wurden,  kaum  aber 
wol  ein  gott  zum  heiligen  erhoben.  Die  zu  der  Baidersage 
(bei  Saxo)  stimmenden  zUgc  der  legende  sind:  1.  eine  quell- 
erweckung.  2.  Untreue  der  gattin  (V).  3.  Tötung  des  heiligen 
durch  den  buhler,  4.  und  zwar  durch  Verwundung  in  der 
Seite.  5.  An  seinem  Sterbelager  eugelische  paradiesesprophe- 
zeiung.  Den  letzteren  zug,  der  nur  dem  dichterisch  verbrei- 
ternden bericht  der  Hroswitha  eigen  ist,  mit  Hels  todesver- 
kündung  zusammenzustellen,  ist  gewagt:  nicht  allein,  weil  der 
zug  in  Saxos  lesart  schwerlich  an  der  rechten  stelle  steht, 
sondern  namentlich,  weil  derartige  eugelsbotschaften  in  der 
legendenschablone  beliebt  sind;  man  vergleiche  ihre  widerholte 
an  Wendung  in  dem  spielmannsgedicht  Orendel.  Ebensowenig 
kann  die  quellervveckung  Gaugolfs  für  die  gleichsetzung  beider 
Überlieferungen  in  frage  kommen;  abgesehen  davon,  dass  die 
quellerweckung  Gangolfs  einer  ganz  anderen  sippe  der  quell- 
sagen und  -legenden')  angehört,  wird  sie  auch  in  dieser  ge- 
stalt  von  sehr  verschiedenen  heiligen  berichtet  (Laistn.  203.204)*, 
und  feiner  ist  es  äusserst  fraglich,  ob  die  quellerweckung  ßal- 
ders  zu  seinem  kämpfe  mit  Hother  in  beziehung  steht.  Bleibt 
also  für  die  begründnng  der  combination  als  mögliche  Überein- 
stimmung die  buhlerei  der  gattin,  als  tatsächliche  der  tod 
durch  den  buhler  einerseits,  die  Verwundung  in  der  seite  an- 
dererseits. Letzteren  zug  anders  als  durch  zufall  oder,  in 
letzter  linie,  gemeinsamer  vorläge  zu  erklären,  vermag  ich 
nicht,  bevor  mir  die  mythische  bedeutung  desselben  dargetan 
ist;  jene  beiden  züge  mögen  einen  mythus  enthalten:  ihn 
für  diese  Sammlung  zu  verwerten,  wage  ich  nicht,  noch 
weniger  aber,  ihn  mit  Saxos  Hotherüberlieferung  zusammenzu- 
stellen. 

Diese  crörterungen  haben  den  rahmen  der  Müllerschen 
Sammlung  bereits  wesentlich  überschritten;  das  hauptstück  der- 
selben und  ein  angelpunkt  seiner  theoretischen  ausführungen 
ist  noch,  um  seiner  eigentümlichkeit  willen,  in  einer  kleineu 
gruppe  für  sich,  getrennt  von  der  göttergruppe,  zu  untersuchen. 


*)  Nämlich  den  (|uellübertragungen,  gegenüber  der  erweckung  durch 
hufschlag,  lanzen-  (schwort-,  stab-)  stoss,  nachgrabung. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  77 

Es  ist  von  Saxo  nach  zwei  berichten  niedergeschrieben  i):  das 
eine  mal  in  sehr  geschmacklos  ausgeschmückter  weise,  ent- 
weder auf  gruud  eines  frivol  motivierenden  spielniannsliedes 
oder  unter  zutat  eigenster  albernheiten;  das  zweite  mal  in  un- 
vollständiger, aber  einfacher  und  vielsagender  widergabe.  Ein 
gewisser  Othinus,  der  in  ganz  Europa  einer  unverdienten 
heiligkeit  genoss,  verweilte  mit  Vorliebe  in  Upsala.  Ihn  zu 
ehren,  santen  die  nordischen  fürsten  ihm  seine  schwer  um- 
goldete,  mit  geschnieide  verzierte  bildsäule  nach  Byzanz  (offen- 
bar seiner  residenz),  über  die  sich  der  gott  nicht  wenig  freute. 
Aber  Frigga,  sein  böses  weib,  Hess  aus  blosser  schmucksucht 
die  Statue  des  goldes  (d.  i.  wol  des  geschmeidcs)  berauben, 
und  als  der  erzürnte  besitzer  die  frechen  diebe  hängen  Hess, 
gab  sie  sich  einem  diener  hin,  auf  dass  er  die  statue  zerstören 
helfe,  mit  deren  gold  sie  sich  nunmehr  schmückte.'^)  Und 
solch  böses  volk,  ruft  der  fromme  Saxo  mit  mönchischer  ent- 
rüstung,  konnten  die  menschen  anbeten!  Othinus,  nicht  minder 
betrübt  über  die  Zerstörung  seines  bildes  wie  über  die  Schän- 
dung seines  bettcs,  wandert  in  die  ferne.  Nach  seinem  weg- 
gehn  erwirbt  ein  zauberer  Mithotynus^)  durch  gaukeleien  bei 
den  menschen  göttliche  Verehrung.  Jene  nützen  ihm  aber 
nichts,  als  Othinus  heimkehrt:  er  muss  den  usurpierten  thron 
räumen,  mit  ihm  die  ganze  sippe  von  kleinen  und  grossen 
Usurpatoren,  die  sich  unterdes  breit  gemacht  haben;  Othinus 
zerstreut  sie  gleichsam  durch  den  siegreichen  glänz 
seiner  gottheit. 

Wilhelm  Müller  hat  mit  recht  aus  dieser  fässung  lediglich 
gefolgert:  1.  dass  Frigg  dem  OÖin  untreu  wurde,  2.  dass  OÖinn 
in  die  ferne  zog  und  ein  MeÖoÖinn  an  seine  stelle  trat,  der 
aber  wider  verschwand,  als  OÖinn  zurückkam,  und    3.  dass  die 


')  A.  a.  o.  25  und  81. 

'^)  Man  beachte  die  zweimalige  anwendung  des  nämlichen  motivs, 
an  die  sich  noch  die  wendung  schllesst,  dass  die  säule  mit  der  rede  be- 
gabt wurde. 

^)  Die  Schreibung  -otynus  für  -othinus,  welche  letztere  sich  durch 
die  zweite  Überlieferung  als  die  richtige  ergibt,  ist  ein  belog  für  die  un- 
genauigkeit  Saxos  in  der  widergabe  der,  ihm  wol  meist  nur  aus  dem 
gehör  bekannten  namen.  Als  eigentliche  gcstalt  des  namens  ist  Me^o- 
Sinn  anzunehmen. 


78  BEER 

untreue  Friggs  nicht  die  ursaclic  von  0(5ins  ahwesenheit  war 
sondern  während  dieser  erfolgte,  das  heisst,  dass  sie  dem  zwei- 
ten OÖin  auch  als  gattin  angehörte. 

Die  zweite  erzählung  bericlitet,  Othin,  der  mit  den  göt- 
tern  in  ßyzanz  residierte,  habe  durch  seine  unanständige  Wer- 
bung um  Rindr  sieb  als  götterkönig  unmöglich  gemacht,  der- 
artig dass  die  gJUter  ihn  ausgcstossen  und  an  seine  stelle 
einen  gewissen  OUerus  gewählt  hätten,  den  sie  ebenfalls 
Othin  US  nannten.  Nach  längerer  zeit  aber  hätten  sie,  in 
mitleid  mit  dem,  in  bettlergewand  sich  kleidenden,  ver- 
triebenen gott,  ihm  erlaubt  in  die  alte  würde  zurückzukehren; 
der  falsche  Othinus  sei  entwichen. 

Bemerkenswert  ist,  dass  in  dem  zweiten  fall  der  andere 
0(5inn  seinen  platz  \on  rechtswegen  inne  hat,  in  beiden  fällen 
mit  dem  namen  0?Jin  benannt  und  somit  als  gleichberechtigt 
anerkannt  wird;  so  dass  auch  darin  die  zweite  fassung  recht 
behält,  dass  er  mehr  abdankt  als  flieht:  wie  denn  von  einer 
tötung  durch  den  heimkehrenden  gatten  und  herrscher  nirgends 
eine  rede  ist.  Bemerkenswert  ist  ferner,  dass  OÖins  gegner  in 
der  zweiten  Überlieferung  Ollerus,  das  ist  Ullr  heisst:  also 
den  namen  eines  bündig  belegten  wintergottes  trägt.  Unter 
diesen  umständen  ist  kein  zweifei,  dass  auch  hier  eine  jabres- 
zeitensage  vorliegt,  des  eigenartigen  Inhalts:  der  OÖinn,  der  im 
Sommer  herrscht,  weilt  im  winter  in  fernem  land  und  tritt 
seine  gesamte  machtsphäre  in  dieser  zeit  einem  andern  OÖin 
ab,  welcher  mit  seinem  weibe  lebt,  aber  bei  der  rückkehr  des 
sommer-OÖins  zu  weichen  hat.  Sommer-  und  wintergott  wechseln 
in  bester  Ordnung,  und  so  heisst  ja  auch  Ullr  der  beste  freund 
Baldrs. 

Um  die  byzantinische  residenz  OÖins  recht  zu  beurteilen, 
ist  Yngls.  c.  5  heranzuziehen:  OÖinn  hatte  in  Türkland  grosse 
besitzungeni);    ferner   Paul.  Diak.  1,9:    Wodan  ....   qui  non 


>)  Nördlich  vom  schwarzen  mcer  liegt  Schweden,  durch  Schweden 
fliesst  der  Tanais:  das  land  /.wischen  seinen  armen  ist  Vanaland;  östlich 
von  ihm  liegt  Asaland  (Asien),  westlich  Europa  (c.  1 — 4).  Ein  von 
nordost  gen  Südwesten  verlaufendes  gebirge  trennt  Schweden  von  an- 
deren ländern,  unter  denen  Türkland  ist.  OÖinn  herrscht  in  Asaland 
(das,  wie  bemerkt,  einen  teil  von  Schweden  ausmacht),  hat  aber  be- 
sitzungen   in   Türkland.     (Der  rationalistische   Verfasser  verlegt  gemäss 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  79 

circa  haec  tempora  sed  longe  anterius  ....  in  Graecia  fuisse 
perhibetur.  Bei  Paulus:  Wodan,  der  früher  einmal  in  Griechen- 
land gewesen  sein  soll  —  bei  Snorri:  O^inn,  der  eigentlich  in 
Schweden  residierte,  aber  auch  in  'J'ürkland  sich  grosser  be- 
sitzungeu  erfreute  —  und  dem  gegenüber  bei  Saxo:  Othinus, 
der  in  Byzanz  sass,  aber  zuweilen  nach  dem  norden  kam: 
man  kann  nicht  zweifeln,  wer  das  ursprüngliche  gibt.  OMnn 
herrscht  im  norden,  aber  zeitweise  ist  er  fern  im  osten;  der 
Osten  ist  schlechtweg  Byzanz,  Griechenland,  der  Yngls.  Türk- 
land: und  so  wird  aus  OÖins  ostfahrt  eine  orientfahrt. 
Diesen  Übergang  wollen  wir  uns  bemerken.') 

Oegisdrekka,  die  es  ja  nicht  allzugenau  mit  namen  nimmt, 
wirft  der  Frigg  buhlerei  mit  Vili  und  Ve  vor,  und  wol  im  an- 
schluss  an  sie"^)  erzählt  Yngls.  c.  2  unsere  sage  in  folgender 
gestalt:  OÖinn  machte  öfters  grosse  reisen,  bei  denen  er  viele 
jähre  fort  blieb.  Während  dessen  walteten  seine  brüder  Vili 
und  Ve  des  reiches;  als  er  aber  einmal  gar  keine  miene 
macht  widerzukommen,  geben  sie  das  w'arten  auf,  teilen  unter 
einander  das  reich  und  eignen  sich  sein  weib  zu.  Da  unver- 
sehens erscheint  OÖinn  wider  und  tritt  in  seine  alten  rechte. 
Man  hat  aus  dieser  Überlieferung  schliessen  w'ollen,  dass  die 
sage  lediglich  eine  schlechte  erfindung  sei  zur  erklärung  einer 
alten  dreieinigkeit  OÖinn,  Vili,  Ve,  der  natürlich  weib  und 
herrschaft  gemeinsam  war  eben  um  der  einheit  der  drei  willen. 
Ist  eine  solche  auffassung  nach  den  obigen  analogieu  unhalt- 
bar, so  steht  es  um  die  angebliche  ursprünglichkeit  der  drei- 
einigkeit nicht  besser;    nicht  allein,  dass  jede  dreieinigkeit  bc- 


seinen  geographischen  kenntnissen  Tiirkland  nach  dem  süden,  wie  er 
Asaland  zu  Asien  macht;  er  weiss  aber  doch  noch,  dass  die  alten  güttor 
in  Schweden  herrschten,  und  dass  üciinn  nur  zeitweilig  in  Türkland,  d.  i. 
dem  osten,  verweilt). 

*)  Dafür,  dass  OÖin  überhaupt  ustfahrten  und  kämpfe  im  osten 
eigen  waren,  lässt  sich  manches  anführen:  besonders  die  Bäarmagasaga, 
dann  die  rahmensituation  von  Grimnisuial,  ferner  Vaf}>ruÖnisnial  und, 
vielleicht,  die  einleitung  des  Ilrungnirkarapfes,  vergl.  OÖins  wander- 
namen. 

^)  Dafür  spricht  auch  die  Übereinstimmung  beider  (piellen  in  dem 
bericht  von  des  NjörÖ  geschwisterehe.  —  Vielleicht  erklärt  sich  die  ent- 
stellung  der  Mitoöinsage  aus  einer  Überlieferung,  der  zu  folge  die  bei- 
den jahreszeitcngüttcr  brüder  waren  wie  Baldr  und  Ilöt^r. 


80  BEER 

reits  (He  phase  der  (mystischen)  systematisierung  repräsentiert, 
ist  eine  dreieiiiigkeit  ethischen,  abstracten  inhalts  besonders 
spät  anzusetzen. 

Müller  hat  sieh  über  die  weit,  in  der  OÖinn  die  zeit  seines 
fernweilens  verbrachte,  eine  eigene  anschauung  gebildet:  OÖinn 
weilt  im  totenreiche. i)  Alle  beiden  der  heimkehrgruppe  waren 
fern  im  totenreiche.  Gründe:  1.  sie  kehren  in  unkenntlicher 
Vernachlässigung  zurück,  und  ebenso  sieht  Thorkill  ganz  welk 
aus,  als  er  von  Utgardloki  zurückkommt,  erscheinen  tote  ent- 
stellt und  übel  gekleidet,  der  tod  selbst  und  die  geister  nicht 
besser,  kehren  menschen,  die  in  geister-  oder  teufelsgesellschaft 
waren,  blass  und  mit  entstellten  zügen  zurück,  werden  leute, 
die  Jahrhunderte  wie  stunden  im  geisterreich  zugebracht  haben, 
bei  dessen  verlassen  von  niemand  mehr  erkannt:  Alles  belege, 
dass  die  unkenntlich  und  verwildert  heimkehrenden  götter  und 
beiden  aus  dem  totenreich  kommen.  Umgehrt  kehrt  ein  mann, 
der  im  paradies  gewesen,  ganz  unkenntlich  schön  zurück. 
2.  Alle  jene  beiden  sind  in  die  ferne  gezogen;  und  das  toten- 
reich wird  gern  im  äussersten  westen  (also  warum  nicht  auch 
Osten?)  auf  eine  insel  (z.  b.  die  britischen  inseln)  verlegt.  Der 
letztere  beweisgrund  verdient  die  Widerlegung,  dass  man  sich 
das  totenreich  jenseits  eines  Stromes 2),  und  darum  jenseits  des 
kanals  dachte.  Die  ersteren  gründe  sind  kaum  ernst  zu  neh- 
men und  widerlegen  sich  am  besten  durch  gruppieruug  des  in 
diesem  capitel  gewonnenen  materials. 

Wir  fanden:    I.   eine  reihe  von  beiden,   die  eine  wallfahrt 


1)  Die  andere  hälfte  seiner  theorie  wird  Müller  wol  selbst  nicht 
mehr  aufrecht  erhalten.  In  dem  methodischen  irrtum,  die  sagenunter- 
suchung  mit  einer  Synthese  des  getrennten  statt  mit  einer  analyse  des 
aneinandergeratenen  zu  beginnen,  hat  er  die  Rindrsage  mit  der  Ullrsage 
verknüpft:  Ot5inn  ist  nicht  um  der  buhlerei  mit  Rindr  willen  vertrieben 
sondern  buhlt  mit  Rindr,  weil  er  vertrieben  ist;  Rindr  ist  ein  wesen  des 
totenlandes.  Also  Oöinn  in  der  unterweit  mit  Rindr  buhlend  und  gleich- 
zeitig MitoÖinn  auf  der  oberweit  mit  Frigg  buhlend.  Dem  entsprechend 
ergänzt  Müller  die  heimkehrgruppe  durch  eine  brautfahrtsgruppe,  der 
z.  b.  der  könig  Rother  zugehören  soll :  der  vertriebene  könig  buhlt  wäh- 
rend seiner  abwesenheit  mit  einem  wesen  des  totenreiches. 

2)  Aut  diesen  interessanten  glauben,  zu  dem  besonders  Mannhardt 
in  den  germanischen  mythen  wertvolle  belege  beigebracht  hat,  näher 
einzugehen,  muss  ich  mir  hier  leider  versagen. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  gl 

bezüglich  orientfahrt  oder  grosse  reise  unteruehmeD,  zu  hause 
nach  ablauf  einer  bestimmten  frist  (widerholt  sieben  jähre)  für 
tot  gelten,  in  dem  moment,  wo  ihre  gattin  zu  einer  neuen  Ver- 
mählung schreitet,  unkenntlich  und  in  niederer  tracht  (von 
geisterhand  getragen)  zurückkehren  und,  nachdem  sie  sich  zu 
erkennen  gegeben,  friedlich  in  ihre  rechte  eintreten.  Der  eine 
dieser  beiden  scheint  in  einem  spielmannsgedicht  schlechtweg 
marinaro,  der  Seefahrer,  genannt  worden  zu  sein.  Dazu  ge- 
hört P  ein  märchen,  dessen  held  in  dieser  zeit  (7  jähre) 
knechtesdienst  (beim  teufel)  geleistet  hat;  P  eine  sage,  deren 
held  nicht  in  den  Orient  sondern  in  die  berge  zieht,  dort  als 
knecht  heerden  weidet,  unvermutet,  als  sein  weib,  an  seiner 
heimkehr  verzweifelnd,  sich  eben  neu  vermählen  will,  erscheint, 
sich  zu  erkennen  gibt  und  dann  in  die  berge  zu  seinen  heer- 
den zurückwandert. 

IL  a)  Halfdan  verlobt  sich  mit  einer  Jungfrau,  zieht  in 
den  krieg,  hört  nach  längerer  zeit,  dass  seine  braut  im  begrift" 
steht  einem  andern  vermählt  zu  werden,  erscheint  in  niederer, 
unkenntlich  machender  tracht  bei  der  hochzeit  und  erschlägt 
den  nebenbuhler.  Die  braut  heisst  in  dem  einen  fall  Guritha, 
in  dem  anderen  trägt  sie  einen  durchschnittsnamen.  b)  Half- 
dan hört,  dass  eine  Jungfrau  einem  riesen  vermählt  werden 
soll,  erscheint  in  niederer,  unkenntlich  machender  tracht,  er- 
sehlägt ihn  und  vermählt  sich  mit  der  Jungfrau.  Die  Jungfrau 
heisst  Gro.  Ergebnis:  ein  held  hört  in  der  ferne,  dass  seine 
braut  einem  unliebsamen  freier,  oder  gar  einem  riesen  ver- 
mählt werden  soll,  erscheint  in  niedriger,  unkenntlich  machen- 
der tracht,  in  einigen  fällen  bei  der  hochzeit,  und  erschlägt 
den  nebenbuhler.  Die  Jungfrau  heisst  Gro  oder  Guritha,  der 
held  steht  mit  Thor  in  enger  beziehung. 

ni.  Thor,  von  der  ostfahrt  ende  winter  zurückkehrend, 
oder  herbeigerufen  (oder  der  ihm  wesensverwante  held  Half- 
dan herbeigerufen),  erscheint  in  niederer,  unkenntlich  machen- 
der tracht  bei  einer  hochzeit,  zu  der  ein  riese  eine  Jungfrau 
zwingen  will,  und  erschlägt  ihn  (oder  findet,  in  uiedeicr 
tracht  aus  dem  riesenland  zurückkehrend,  bei  seinem  weib 
einen  buhlen). 

IV.   OÖinn,  in  niederer  tracht  aus  dem  osten  zurückkehrend, 

Beiträge  zur  gesohichte  der  deutsclieu  spräche.     Xlll.  fj 


82  BEER 

macht  den  wintergott  Ullr  von  seinem  thron  und  seinem  weih 
entweichen. 

V.  Baidur,  durch  den  wintergott  HöÖur  vertrieben  und  der 
gattin  beraubt,  kehrt  siegreich  wider,  verjagt  den  Usurpator 
und  tritt  in. seine  alten  rechte. 

VI.  Svipdagr  kehrt  in  niederer,  unkenntlich  machender 
tracht  zu  der  seiner  harrenden  geliebten. 

Mau  sieht,  dass  I,  IV  und  V,  II  und  III  gruppenweise 
einander  näher  stehn,  während  VI  ihnen  gegenüber  steht.  In 
I,  IV  und  V  kehrt  der  rechtmässige  gatte  zurück,  und  der  un- 
rechtmässige entweicht.  In  II  (III)  erschlägt  der  rechtmässige 
den  unrechtmässigen.  In  V  ist  gar  kein  unrechtmässiger  vor- 
handen. 

Soviel  ist  bereits  jetzt  mit  voller  bestimmtheit  zu  sagen: 
in  der  gesammten  heimkehrgruppe  handelt  es  sich  um  jahres- 
zeitenmythen.  Thor  ist  im  osten  im  wiuterland  und  kehrt  im 
lenz  heim.  OÖinn  ist  im  osten  im  winterland  und  kehrt  im 
lenz  heim.  Die  befreite  gottheit,  wenn  sie  Freya,  ThruÖr,  Sif, 
Nanna,  Gro  oder  Guritha  heisst,  hat  eine  beziehung  zur  som- 
merlichen fruchtbarkeit.  OÖins  nebenbuhler  Ullr  ist  notorischer 
wintergott.  Und  so  ist  auch  Oerv.andill-Orendel  im  winterland 
und  kehrt  im  lenz  heim.  Und  so  ist  Horvendils  kämpf  mit 
KoUr  dem  kalten^)  jedenfalls  ein  holmgang  um  Gerutha  und 
ein  Jahreszeitenmythus  wie  alle  anderen. 

Dieser  kämpf  mit  Koller  hat  bei  Saxo^)  ein  interessantes 
Seitenstück.  Skioldus  und  Skatus  sind  nebenbuhler  in  der 
liebe  um  eine  Alvilda.  Sie  fordern  sich  zum  holmgang,  und 
Skioldus  erschlägt  den  Skatus.  Das  klingt  sehr  einfach  und 
oft  dagewesen.  Aber  wenn  man  Saxos  ungenaue  Schreibung 
der  namen  in  betracht  zieht,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass 
Skiölds  gegner  jener  Skadi  war,  der  in  der  Völsungasaga  c.  1 
als  Schöpfer  eines  namens  für  grosse  Schneehaufen  auftritt 3), 
und  der  auch  durch  die  natur  seiner  namensschwester  als  ein 
winterlicher  dämon  belegt  wird.  Sehr  zu  statten  würde  es 
dieser   hypothese  kommen,    wenn   es    uns   gelänge    auch   den 


1)  Vgl.  Uhland  VI,  31  a.  1. 

2)  A.  a.  o.  12. 

»)  Vgl.  Beiträge  III,  291. 


DER  STOFF  DES  ORRNDEL.  83 

Skiöld   durch    aualogiensainuilung:  in  den  kreis  unserer  jahres- 
zeitenmythen  zu  ziehen.') 

Ehe  wir  also  an  die  endgültige  dentung  und  sagenge- 
schiehtliche  klarlegung  der  Orendelsage  und  ihrer  epochen 
gehen,  werden  noch  einige  analogieu  zusammenzutragen  sein. 
Zuvörderst  einige  wichtige  ausserdeutsche. 

§  4.    Ausserdeutsche  analogieu  mit  deutsclieu 
parallel  eu. 

Eine  episode  des,  die  eutwickluugsphase  der  heldensage 
repräsentierenden,  indischen  Mahabharata-)  enthält  einen  ronian, 
der,  in  seiner  allerdings  sehr  fortgebildeten  gestalt,  eine  auf- 
fallende Übereinstimmung  mit  der  erzählung  von  MitoÖin  be- 
kundet. Indra  streitet  mit  Vrtra  ohne  ihn  überwinden  zu 
können.  Für  beide  teile  ist  ein  frieden  nicht  unwillkommen, 
und  die  götter  schliessen  mit  Vrtra  einen  vertrag,  der  den 
letzteren  gegen  jede  Schädigung  durch  seine  erbfeinde  sicher 
stellt.  Aber  als  sich  eine  allzugünstige  gelegenheit  bietet,  kann 
Indra  nicht  widerstehn,  und  indem  er  sein  gewissen  mit  feiler 
klügelei  niederhält,  erschlägt  er  den  nebeubuhler.  Die  Wir- 
kung wird  geschildert  wie  sonnendurchbruch  nach  wetterdunkel 
oder  lenzeseinkehr  nach  winternacht.  Aber  Indra  kann  sich 
seiner  tat  nicht  freuen;  von  reue  gepeinigt  entflieht  er  und 
birgt  sich  in  zusammengeschrumpfter  gestalt  am  himmelsende 
in  den  wassern  in  einem  lotossteugel.  Wie  er  aber  ver- 
schwindet, fällt  fürder  kein  regen,  verdorren  die  wälder,  ver- 
siechen die  ströme;  allenthalben  waltet  not  und  elend.  Die 
götter,  nach  abhülfe  begehrend,  erwählen  den  frommen  men- 
schen Nahusha  au  Indras  statt.  Aber  der  mensch  kann  die 
macht  nicht  vertragen;  er  wird  ein  übermütiger  tyrann,  und 
die  götter  zittern  vor  ihm.  Als  er  schliesslich  seine  band 
nach  Indras  gattin  ausstreckt,  ersinnt  ein  brahmane,  zu  dem 
die  beängstigte  entflicht,  eine  list,  welche  den  gewalthaber  zu 
tiefster    Versündigung    verleitet.     Er    wird    als    schlänge    vom 


*)  Als   Skiülds  gattin  nennt  Heimskrinfijla  Getjon:    eine  Wesenheit, 
deren  athmosphärische  natiir  durch  weitere  uiytheu  belej^t  ist. 
^)  Uebersctzt  von  üoltzmann.  Indische  sagen  I,  1 1  IV. 

6* 


84  BEER 

binimel  gestürtzt,  während  Indra,  von  den  göttern  gesucht,  ge- 
funden und  entsühnt,  seine  alte  henlichkeit  wider  erhält. 

Ich  habe  die  erzählung,  wie  sie  uns  erhalten,  als  einen 
roman  gekennzeichnet.  Ich  unterscheide  dabei  in  der  sagen- 
entwickelung  scharf  drei  phasen:  den  primitiven  mythus,  das 
ist  die  einfache  naturanschauung;  die  fabel,  das  ist  die  natur- 
anschauung  gefasst  als  ein  motiviertes  ereignis;  und  den  roman, 
das  ist  die  phautasievolle  ausgestaltung  der  primitiven  fabel. 
Wenn  zum  beispiel  ein  mythus  existierte,  dass  ein  jahres- 
zeitengott  periodisch  in  ein  fernes  land  verschwinden  muss,  so 
ist  dies  eine  schlichte  naturanschauung;  wird  dieses  verschwin- 
den mit  einer  Verschuldung  motiviert,  so  haben  wir  eine  fabel; 
und  werden  die  umstände  und  die  folgen  dieser  Verschuldung 
und  dieses  verschwindens  ausgestaltet,  so  ist  der  roman  fertig. 
Wäre  eine  derartige  genetische  Unterscheidung  von  unseren 
vergleichenden  mythologen  beobachtet  worden,  so  wäre  ihnen 
viel  arbeit  —  und  viele  Irrtümer  erspart  geblieben. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  die  obige  erzählung  zu  be- 
urteilen. Sie  ist,  wie  alle  späteren  sagengestaltungen  der 
Inder,  nach  dem  princip  der  Verherrlichung  des  brahmanen- 
tums^)  zurechtgestutzt;  eine  dem  entsprechende  starke  neigung 
zu  moralisieren  hat  die  motivierung  der  handlung  allenthalben 
deutlich  beeinflussf^);  aber  überall  schimmern,  die  alten,  echten 
Züge  durch.     Die  erschlagung  des  Vrtra  ist  als  ein  athmosphä- 


*)  Man  vergleiche  den  brahmanen,  der  die  lieilige  opferflamme,  den 
gott  Agni,  als  boten  aussendet  den  Indra  zu  suchen:  überall  sucht 
Agni,  aber  in  das  wasser  wagt  er  sich  als  feuer  nicht;  der  brahmane 
muss  ihn  zuvor  durch  Zaubersprüche  schützen.  Nun  durchfährt  Agni 
alle  gewässer;  widerum,  als  er  den  Indra  endlich  entdeckt,  ist  er  nur 
der  böte  und  muss  den  brahmanen  benachrichtigen.  Indra  ist  zusammen- 
geschrumpft um  seiner  sünden  willen;  aber  ein  erhebendes  wort  des 
brahmanen  gibt  ihm  seine  alte  grosse  zurück.  Der  brahmane  fordert  Indra 
auf,  den  Nahusha  zu  stürtzen,  aber  ein  rishi  ist  es,  der  ihn  als  schlänge 
vom  himmel  schleudert. 

^)  Vgl.  v.  183  ff.  die  moralische  rede  über  die  heiligkeit  und  wol- 
tätige  Wirkung  des  feuers,  127  ff.  über  die  bestrafung  des  mannes,  der 
einen  schutzfliehenden  seinen  Verfolgern  preis  gibt;  dem  entsprechend 
die  einführung  des  Nahusha  als  eines  menschlichen  königs,  der,  auf 
erden  ein  edler  fürst,  die  alimacht  nicht  vertragen  kann  und  zum  wol- 
lüstigen frevler  wird,  und  die  begründung  von  Indras  Verbannung  mit 
einem  Vertragsbruch. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  85 

rischer  mythus  längst  dargetan;  die  flucht  ludras  offenbart 
sich  in  unverkennbarer  weise  als  ein  Jahreszcitenmythus.  Der 
indische  winter  ist  die  zeit  entsetzlicher  dürre;  die  zeit,  wo 
Cusna,  der  austrockner,  die  macht  hat,  an  dessen  stelle  auch 
Vrtra  genannt  wird '),  für  welchen  widerum  der  name  des  als 
schlänge,  drachen  gefassten  Ahi  eintritt.2)  Diese  drei  dänionen, 
welche  im  gründe  verschiednenorts  aus  verschiedenen  beobach- 
tungen  entstandene  namen  des  nämlichen  wesens  sind,  halten 
die  wasser  zurück,  bis  sie  Indra  im  gcwitter  erschlägt,  wobei 
von  Vrtra-Ahi  berichtet  wird,  dass  er  als  schlänge  zur  erde 
stürtzt.  Auch  dass  sich  der  abwesende  gott  im  wasser  (in 
einem  lotosstengel)  verbirgt,  erinnert  an  ähnliche  mythen.^) 

Namentlich  der  letztere  zug  ist  ein  deutlicher  wink,  dass 
der  vorliegende  mythus  viel  älter  ist  als  die  ausprägung  der 
göttergestalt  Indra.  Es  gab  einen  mythus,  nach  welchem  der 
die  sommerliche  fruchtbarkeit  gewährende  gott  über  winter  für 
abwesend  galt,  die  herrschaft  einem  ausdörrenden  dämon 
überlassend;  wenn  er  aber  im  lenze  heimkehrte,  stürtzte  der 
dämon,  wol  von  dem  blitze  des  gottes  getrollen '),  als  schlänge 
herab;  woltätige  wasser  strömten  erlöst,  die  natur  atmete  auf 
und  feierte  die  widerkehrende  schöne  Jahreszeit.  Nachdem 
auch  dieser  mythus  an  Indra  angewachsen  war,  lag  es  nahe, 
sobald  seine  bedeutung  vergessen  wurde,  die  flucht  des  Indra 
mit  seiner  eigentlich  typischen  tat,  der  erschlagung  des  Vrtra, 
in  beziehung  zu  setzen.  Indra  hatte  mit  ihr  eine  schuld  auf 
sich  geladen;  er  musste  entweichen.  liier  setzte  die  braiima- 
nische  entstellung  ein,  so  frei  gestaltend,  dass  alles,  was  ül)or 
den  einfachen  rahmen  des  jahreszeitlichen  fernewcilcns  und 
widerkehrens   des   hauptgottes,    der   dürre  während  seiner  al)- 


•)  Vgl.  Ludwig  Rigveda  457,  10. 

2)  Ebenda  4^4,21. 

^)  Auch  vediach  flicht  ludra,  nachdem  er  den  (schlangongestaltigen) 
Ahi  erschlagen,  über  die  '.l'.i  ströme  (Mannh.,  (i.  m.  2111.  Indra  wird 
genannt  der  aus  dem  wasser  geborene,  desgleichen  der  schlangcn- 
bekämpfende  wesensgleiche  Trita  (Mannh.  2i:{.  215)  und  Agni  der  feuor- 
gott.  Letzterer  wird  auch  als  im  wasser  weilend  betrachtet  (Zeitschr.  f. 
mythol.  II,  323);  ebenda  wahren  die  meereagütter  (Mannh.  IDT)  Indras 
blitzbogen. 

*)  Vgl.  s.  69  a.  1,  dass  der  brahmane  ihn  auffordert  den  nebcnbuhler 
zu  vernichten. 


S6  BEER 

Wesenheit  und  des  juhcLs  über  seine  riickkelir,  des  intcrregnums 
eines  büsewiebtes  und  seines  Sturzes  vom  bimmel  in  scblangeu- 
gestxilt')  hinausgeht,  als  verdächtig  bei  seite  zu  schieben  ist. 
Namentlich  das  verlangen  Nahushas  nach  Indras  gemahlin  hat 
einen  höchst  romanhaften  anstrich  und  schmeckt  zu  sehr  nach 
dichterischer  ausgestaltung  der  Situation,  um  als  analogen  zu 
anderweitigen  mythen  geltend  gemacht  zu  werden. 

Aber  auch  unter  diesen  einschränkungen  ist  das  ergebnis 
äusserst  wertvoll  und  wird  noch  wertvoller,  wenn  es  gelingt 
einschlägige  griechische  analogien  anzuziehen. 

Miillenhotfs  Scharfsinn  verdanken  wir  die  entdeckung  des 
auffallenden  parallelismus  des  alten  nostos  der  Odyssee  und 
der  deutschen  heimkehrgruppe.  Allerdings  weigerte  sich  der 
entdecker,  die  analogie  für  die  mytbenvergleichung  nutzbar  zu 
machen;  Orendelsage  und  Odyssee  waren  ihm  schiffermythen 
und  die  in  ihnen  vorausgesetzte  seebefahrenheit  erst  in  der  zeit 
der  vollzogenen  Völkerscheidung  anzunehmen.  Nachdem  das 
oben  beigebrachte  material  für  die  deutsche  Überlieferung  mehr 
und  mehr  die  schiüersage  gegen  den  Jahreszeitenmythus  zu- 
rücktreten Hess,  können  wir  letzteres  bedenken  bei  seite  schie- 
ben. Die  Odyssee  trägt  allerdings  die  zUge  einer  schift'ersage; 
aber  bereits  MüUenhotf  betonte,  dass  der  name  des  beiden  erst 
aus  seinem  geschick  erwachsen,  folglich  der  sage  dieser  so  ge- 
artete held  uuursprünglich,  oder  schärfer  gefasst:  die  sage 
mutter  des  beiden,  nicht  der  held  vater  der  sage  war.  Wenn 
nun  der  alte  nostos,  unangesehen  die  individualität  des  aus 
ihm  heraus  benannten  beiden,  den  Inhalt  hat:  ein  heros  weilt 
gezwungen  eine,  mit  hieratisch-mythischer  zahl  näher  begrenzte 
zeit  fern  von  seinem  lande  und  seinem  weihe  auf  einer  insel, 
welche  sich  aus  dem  namen  ihrer  sagenhaften  berrin  als  ein 
wölken- ncbelland  darstellt,  und  findet  zurückkehrend  weib  und 
land  usurpiert  von  einem  oder  mehreren  gewalthabern,  so  ist, 
in  anbetracht,  dass  genau  die  nämliche  formel  deutsch  wie 
indisch  widerkeiirt,  anzunehmen,  dass  der  nostos  die  sagen- 
hafte Verschiebung  eines  uralten  indogermanischen  mythus  dar- 


*)  Vielleicht  auch  die  auffinduiif^  Indms  durch  das  hin-  und  wider- 
fahrende himmelsfeucr:  eine  anschauung,  welche  im  kreise  der  gewitter- 
iiiythen  interessante  parallelen  linden  dürfte. 


DER  STOFF  DES  ORENÜEL.  87 

stellt:  sofern  dieser  mythus  in  anderweitigen  gcstal- 
tungen  sich  als  griechisch  erweisen  lässt. 

Zunächst  ist  der  Hyperboreerniythus')  in  das  augc  zu 
fassen.  1.  Nach  der  delischen  Version,  die  Herodot  überliefert 
hat,  kamen  zwei  hyperboreische  Jungfrauen  nach  Delos,  um 
der  Eileithyia  den  dauktribut  für  die  schnelle  geburt  der  Leto 
zu  bringen:  weizengarben,  die  eine  o})fergabe  umschlossen. 
Mit  ihnen  schickten  die  Hypeiborecr  der  Sicherheit  halber  fünf 
bürger  als  begleiter,  die  nunmehr  (in  Delos),  IltQcphghc,  ge- 
nannt, sehr  verehrt  würden.  Nachdem  aber  die  entsanten  nicht 
heimkehrten,  fürchteten  die  llyj)eiboreer,  dass  es  Jedes  mal  so 
geschehen  würde,  und  brachten  ihie  garbengabcn  nur  bis  an 
die  grenze  des  nächsten  Stammes,  von  wo  aus  sie  von  stamm 
zu  stamm  weiter  befördert  wurden,  bis  sie  in  Delos  eintrafen. 
Auch  von  zwei  anderen  hyi)erboreischeu  Jungfrauen  wird  eine 
ähnliche  fahrt  berichtet.  Endlich  kommt  Leto  selbst  von  den 
Hyperboreern  nach  Delos  um  zu  gebären,  i.  Die  delphische 
sage  (enthalten  besonders  in  einem  Päan  des  Alkäos  bei  liime- 
rios)-)  berichtet:  als  Apoll  (in  Delos)  geboren  war,  cutsaute 
ihn  Zeus,  geschmückt  mit  goldener  mitra  und  lyra,  auf  einem 
schwanenwagcu,  in  Delphi  den  Hellenen  das  recht  zu  verkün- 
den. Er  aber  lenkte  sein  schwanengespann  zu  den  Hyper- 
boreern. Als  die  Delphier  dies  vernehmen,  rufen  sie  den 
gott  durch  einen  päan,  von  Jünglingen  um  einen  drei- 
fuss  gesungen,  von  den  Hyperboreern  zu  ihnen  zu 
kommen.  Apoll,  nachdem  er  ein  Jahr  den  Hyperboreern  ge- 
weissagt, hält  es  für  an  der  zeit,  dass  der  delphische  dreifuss 
töne,  und  erscheint,  von  seinen  schwanen  gezogen,  in  sonmicrs- 
mitte  unter  dem  sang  der  nachtigallen,  schwalben,  cicadcn  und 
dem  aufrauschen  des  kastalischeu  (juclls  und  des  lidchwogcn- 
den  Kephissos.  '^.  llekatäos  von  Abdcra  verlegte  die  llyi)er- 
boreer  auf  eine  inscl  im  norden  Jenseits  des  Keltenlaudes. 
4.  Für  Claudian  ist  A|)(»ll  der  alljälirlich  von  den  Hyperboreern 
zur  frühlingszeit  widcrkelncnde  gott. 

Mannhardt,  der  in  verdienstvoller  weise  antike  culte  dmcli 


')  Das   m!iteri:il   in  guter  übcrsiclit  zusiimmengestellt  von  Wdcker, 
Griechische  güttcrlehre  11,  iil'J  IV. 
2)  A.  a.  0.  359. 


SS  BEER 

aiialogie  beutiger  volksbräuehe  aufzuhellen  suchte,  bat  end- 
gültig dargetan'),  dass  hinter  dem  delischen  Hyperboreer- 
mythus sieb  ein  alter  ackercult  verbirgt:  die  periodische  dar- 
briuguug  einer  ländlichen  opfergabe  an  dem  heiligtum  des 
truchtbarkeit  spendenden  Apoll.  Im  anschluss  an  andere  ge- 
lehrte vertritt  er  die  ansieht,  dass  aus  dem  namen  der,  viel- 
leicht nordländiscben,  Überbringer  des  opfers  jitQ(ftQhg  gleich 
v.TEQffFQetQ  und  vielleicht  makedonisch  vjrsQßeQiTcu-)  der  sagen- 
name  eines,  im  norden  angenommenen  Volkes,  der  Hyperboreer, 
entstanden  sei.  Diese  annähme,  wenn  sie  auch  nicht  allge- 
mein geteilt  ist,  hat  viel  für  sich;  der  boden  vorsichtiger  folge- 
rung  wird  aber  verlassen,  wenn  Maunhardt,  im  anschluss  an 
Ottfried  Müller,  der,  wie  alle  schöpferischeu  naturen,  seine 
epoche  machenden  priueipieu  in  der  praxis  zu  straff  spannte, 
auch  die  delphische  Überlieferung  aus  dem  ackercult  heraus- 
wachsen lässt,  indem  er  annimmt,  dass  ihr  ein  historisches, 
völlig  unverbürgtes  factum  zu  gründe  liege,  etwa  des  inhalts, 
dass  thessalische  Griechen  festtheoiien  nach  Delos  eutsant 
hätten.  Denn  wenn  es  richtig  geschlossen  ist,  dass  die  garben- 
gabe  der  delischen  sage  keine  einmalige  sondern  eine  cyklische 
war,  so  ist  es  auch  erlaubt,  ja  geboten  zu  schliessen,  dass 
jener  päan  der  delphischen  Jünglinge,  der  den  gott  von  den 
Hyperboreern  herbeirief,  ein  regelmässig  widerkehreuder  ge- 
wesen sein  muss.  Nun  ist  es  zwar  belegbar,  dass  aus  einem 
unverstandnen  cult  eine  fabel  erwuchs,  schwerlich  aber,  dass 
aus  einer  missverständlichen  fabel  ein  cult.  Der  name  der 
Hyperboreer  konnte  eindringen;  tatsächlich  aber  bleibt  bestehn, 
dass  die  Delphier  jährlich  in  einem  festlichen  päan  den  gott 
in  das  land  riefen. 

Der  päan  bei  Himerios  setzt  die  ankunft  des  Apoll  in 
Delphi  auf  mitte  sommer.  Röscher 3)  hat  die  ungenauigkeit 
dieser  angäbe  schlagend  erwiesen.  ApoUon  erscheint  in  Delphi 
mitte  frühjahr  (etwa  im  april):  1.  weil  der  sommer  für  schäd- 
lich galt,  für  die  zeit  des  tötenden  Apoll,  der  frühling  für  die 
zeit   der   lust   und   wolfahrt,     2.    weil    bei   des    Apoll    ankunft 


')  A.  W.  F.  232  flF. 

2)  Vgl.  Rhein,  mus.  XVII,  341. 

3)  Apollon  und  Mars  33  ff. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  89 

quellen  und  fliisse  schwellen,  3.  die  schwane  mit  ihm  erschei- 
nen, die  uachtigallen  und  schwalben  ihren  gesang  anstimmen, 
4.  und  dies  ist  ausschlaggebend:  bei  seiner  ankunft  der  drei- 
fuss  tönt,  dass  ist:  die  pythia  weissagt,  was  ursprünglich  nur 
einmal,  und  am  siebenten  tage  des  friibliugsmondes  Bysios 
geschah.  Dem  entsprechend  wurde  auch  Apoll  als  im 
lenz  geboren  gedacht:  eben  am  siebenten  Bysios;  und  eben 
darum  weissagte  an  diesem  tage  die  Pythia. i) 

Um  den  beweis  vollzumachen,  verweist  Koscher-)  auf  die 
angäbe  des  Hesiod  Erga  526,  dass  die  sonne  (und  Apoll  ist 
nachweislich  in  erster  linie  Sonnengott)  im  wintcr  verschwinde 
und  bei  den  Aethiopen  weile;  so  auch  auf  die  sitte  der  iftroi 
xhjTixoi,  mit  denen  Apoll  im  friihjahr  eingeladen  wurde,  wäh- 
rend ihm  bei  winters  eintritt  geradezu  mit  eutlassungsgesängen 
({'itroi  ajioTct^jiTixoi)  das  geleite  gegeben  wuide.  Auch  stellen 
des  Theognis  und  des  Dion.  Perieg.  ergeben,  dass  Apolls 
widerkehr  im  friihling  festlich  begangen  wurde.  Derartige 
feiern  geschahen  ausser  in  Delphi  und  Delos  nachweislich  in 
Milet,  Megara,  Böotien. 

Wenn  also  eine  sage  entstand,  dass  Apoll,  in  Delos  ge- 
boren, von  da  zu  den  Hyperboreern  und  von  da  nach  Delphi 
zog,  so  sind  an  ihr  drei  elcmente  schöpferisch  gewesen:  1.  die 
sage  von  seiner  delischen  geburt;  2.  die  sage  von  dem  wunder- 
baren Jüngling,  der,  von  schwanen  gezogen,  licht  bringend,  aus 
einem  unbekannten  land  im  frühling  kommt  und  in  dieses  land 
im  herbste  heimkehrt;  3.  der  name  des  Hyperboreerlandes  für 
die  angebliche  heimat  des  gottes. 

Nach  dem  Volksglauben 3)  war  Ai)oll  unmittelbar  nach 
seiner"  geburt  von  feindseligen  dämonischen  gewalten,  drachen 
oder  riesen,  gefährdet.  Nach  sieben  übereinstimmenden,  durch 
bild werke  noch  weiterhin  als  j)opulär  belegten  Zeugnissen  er- 
legte er  unmittel l)ar  nach  seiner  geburt,  noch  auf  dem  nuittcr- 


')  "Wenn  die  delische  geburtsfeier  des  Apoll  getrennt  von  dem 
früblingsfeste  der  cpiphanien  aui  siebeuten  tage  des  attischen  Thar- 
gelion,  also  zu  Sommeranfang  gefeiert  wurde,  so  weist  Koscher  (a.  a.  o. 
37)  darauf  hin,  dass  allem  anschein  nach  beide  feste  ursprünglich  zu- 
sammenfielen und  erst  bei  einer  widererneuerung  getrennt  wurden. 

2)  A.  a.  o.  31. 

=•)  A.  a.  0.  39/40. 


90  BEER 

an»),  oder  nach  delphischer  traditioii  doch  als  knabe,  einen 
drachen,  der  ihn  vernichten  wollte.')  Koscher  deutet  diesen 
kämpf  des  sommergottes  unmittelbar  nach  der  geburt  auf  die 
mit  seinem  erscheinen  zusammenfallende  Überwältigung  des 
winters;  uml  der  Germane  wird  unwillkürlich  an  Vali  erinnert, 
der  den  wintergott  HöÖr  kaum  geboren  erschlägt;  ursprüng- 
lich, das  ist  vor  der  cyklischen  Verknüpfung,  wahrscheinlich 
ohne  bezug  auf  die  ermordung  Baldrs,  nur  als  sieg  des  jung 
erstandenen  lenzgottes  über  den  winter.^)  Immerhin  kommen 
wir  hier  über  die  Vermutung  nicht  hinaus.  Von  Wichtigkeit 
aber  wird  uns  der  mythus,  insofern  er  in  Delphi  dramatisch 
dargestellt  wurde.  Ein  knabe  erschlug  das  ungetüm,  musste 
aber  dann  als  betleckt  Hiehn  und  entsühnt  werden.  Aus  diesem 
cult  soll  sich  die  sage  entwickelt  haben,  dass  Apoll  acht  jähre 
lang  als  knecht  die  stuten  des  Admet  oder  die  rinder  des 
Laomedon  gehütet  habe.  Grund  des  zweiten  teils  des  ceremo- 
niellen  Spieles  sei  gewesen,  dass  Apoll  als  Katharsios  sich  auch 
selbst  von  seiner  bluttat  habe  entsühnen  müssen. 

Es  muss  nun  jedem  überlassen  bleiben,  sich  mit  der  Wahr- 
scheinlichkeit dieser  hypothese  abzufinden;  eine  mindestens 
nicht  geringere  Wahrscheinlichkeit  jedoch  wird  für  eine  weitere 
theorie  zu  beanspruchen  sein:  nachdem  dargetan  ist,  dass  ein 
altgriechischer  mythus  (für  sein  alter  spricht  sein  auftreten  in 
durchweg  verschobener  gestalt)  den  Apoll  als  im  sommer  an- 
wesend, im  winter  fern  weilend  betrachtete;  nachdem  die  Wahr- 
scheinlichkeit hervorgehoben  wurde,  dass  Apoll  der  drachen- 
töter  den  über  den  winter  triumphierenden  neugeborenen  früh- 
lingsgott  darstelle,  ist,  bei  der  sofort  in  einem  weiteren  cultus 
zu  belegenden  neigung  der  Griechen,  anfang  und  ende  des 
cyklisch  aufgefassten  Jahresverlaufs  in  einer  einzigen  zusammen- 
hängenden culthandlung  darzustellen,  anzunehmen,  dass  die 
drachentötung  als  winterbesiegung,    das  entweichen  im   herbst 


1)  Vgl.  eine  entsprechende  indische  Überlieferung  Mannh.,  G.  m.  233. 

'^)  Ich  mache  ausdiücklich  darauf  aufmerksam,  dass,  die  richtigkeit 
der  Roscherschen  hypothese  vorausgesetzt,  von  Apoll  zwei  jahreszeiten- 
mythen  in  schwang  waren:  1.  dass  er,  im  winter  abwesend,  im  lenz 
heimkehre,  2.  dass  er,  im  lenz  geboren,  den  winterdämon  erschlage.  Eine 
ganz  ähnliche  doppelüberlieferung  wird  uns  auf  deutschem  boden  als 
Wahrscheinlichkeit  begegnen. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  91 

und  die  widerkehr  im  lenze  in  einer  liandlung  zusaninien- 
gefasst,  und  später  durch  missverständnis  das  entweichen  auf 
befleckung-  und  die  widerkehr  auf  eutsühnuug  gegründet  wurde; 
denn  Apoll  ist  erst  später  ein  Katharsios  geworden.  In  dieser 
gestalt  würde  der  cultus  eine  interessante  ähnlichkeit  mit  der 
indischen  sage  haben,  in  der  auch  dämouentötung,  Üucht  und 
widerkehr  einen  cyklus  bilden,  der  fälschlich  durch  das  be- 
fleckungs-  und  entsühnungsmoment  motiviert  wird. 

Unter  diesem  gesichtspunkt  wird  Otfried  Müllers')  hinweis 
von  belang,  dass  Ädfir^rog  ein  häufiger  beiname  des  gottes  der 
unterweit  ist  und  dem  entsprechend  Apoll  wol  eigentlich  nicht 
dem  frommen  Admet  von  Pherä  die  stuten  weidete.'^) 

Der  letzte  ausserdeutsche  mythus,  dem  wir  in  diesen  er- 
örterungen  einige  aufmerksamkeit  zu  schenken  haben,  ist  der 
des  Adonis.  Er  ist  uns  um  so  wichtiger,  als  er,  ursprünglich 
semitisch,  sich  als  ein  drittes  neben  die  indische  und  die 
griechische  parallele  stellt.  Das  einschlägige  materiaP)  ist 
folgendes:  1.  das  Alexandrinische  fest  (nach  den  Adoniazuseu 
des  Theokrit):  auf  einem  prachtpolster  ruht  der  junge  Adonis 
neben  Aphrodite  gebettet.  Eine  Sängerin  singt  ein  üppiges 
festlied,  welches,  beginnend  mit  der  Schilderung,  wie  nach 
Jahresfrist  die  Hören  den  Adonis  von  dem  Achcron  zurück- 
geführt haben,  mit  der  aufforderung  schliesst:  jetzt  möge  die 
göttin  des  geliebten  sich  erfreuen;  in  der  frülie  werde  man 
ihn  unter  grossem  geleite  zum  meere  tragen,  unter  ekstatischen 
schmerzensgebärden  und  rufen:  komm,  theurer  Adonis,  einzig 
bevorzugter  hier  wie  am  Acheron,  sei  uns  günstig  jetzt  und 
im  kommenden  jähre !  Freundlich  k  a  m  s t  d  u ;  sei  uns  freund- 
lich, wenn  du  wider  kehrst!  Die  Sängerin  weiss  mehr,  als 
sie  kündet.  —  Also  zwei  feste  an  zwei  tagen:  eines  der  freude, 


1)  Dorier  I,  320. 

2)  Diese  bemerkung  würde  von  grüssler  Wichtigkeit,  wenn  Preller 
(I,  107)  mit  recht  einen  kleinasiatisch-griechischen  Zeusmythius  und  -cultus 
annalim,  dem  zufolge  Zeus  als  im  tVühling  geboren,  iui  winter  gestorben 
betrachtet  und  gefeiert  wurde.  In  eigeutiimlicher  parallele  stünden  zu 
einem  derartigen  mythus  die  nordischen  Überlieferungen  über  Freys, 
OSins,  Baldrs  tod,  über  die  W.Müller,  System  267,  Simrock,  Handbuch 
366,  Uhland  VII,  70  gehandelt  haben. 

^)  Zusammengestellt  von  Engels,  Kypros  D,  537  ff. 


92  BEER 

eiues  der  klage.  Charakteristisch  ist,  dass  das  liebespaar  auf 
dem  lager  umg-eben  ist  von  fruchten  des  Jahres,  lauben,  salben, 
vögeln.  Auch  Adonisgärtchen  wurden  angelegt,  indem  in  ge- 
wisse gefässe  weizen  und  gerste  oder  fenchel  und  auch  lattich 
gepflanzt  wurden;  die  rituelle  Verwendung  und  bedeutung  der 
letzteren  kann  hier  nicht  erörtert  werden.^)  2.  Auch  die  my- 
sterieufeier  von  Byblos  (Lukian,  Syr.  gött.  c.  6  ff.)  betont  zwei 
tage:  am  ersten  schlug  man  sich  unter  leidenschaftlichen  klagen 
mit  fausten  und  opferte  dem  Adonis  als  einem  toten,  am  fol- 
genden verkündete  man  seine  auferstehung.  3.  Kyrill  (z.  Jesaias 
c.  18)  bemerkt:  die  Griechen  trauern  und  jammern  mit  Aphro- 
dite um  den  tod  des  Adonis;  sobald  er  aber  aus  der  unter- 
weit zurückkehrt,  sagen  sie:  er  ist  gefunden!  und  beglück- 
wünschen sich  und  jubeln  in  ausgelassener  freude.  —  Das  fest 
scheint  mitsommer  statt  gefunden  zu  haben.  4.  Nach  der  einen 
sagenform  liebt  Aphrodite  den  Adonis  und  übergibt  ihn  der 
Persephone  zur  pflege,  die  ihn  nunmehr  ihrerseits  lieb  gewinnt 
und  nicht  mehr  entlassen  will.  Zeus,  als  Schiedsrichter  an- 
gerufen, entscheidet,  dass  Adonis  einen  teil  des  Jahres  bei 
Aphrodite,  den  anderen  bei  Persephone  verweile.  5.  Nach  der 
anderen  Überlieferung  liebt  und  raubt  ihn  Aphrodite.  Von 
einem  eher  auf  der  jagd  getötet,  steigt  er  in  die  unterweit, 
wo  er  bei  der  ihn  liebenden  Persephone  weilt,  darf  aber  im 
lenz  zu  Aphrodite  zurückkehren  und  bis  zum  herbste  mit 
ihr  leben. 

Die  griechische  sage  hat  den  semitischen  mythus  jedenfalls 
sehr  stark  fortgebildet,  wie  schon  aus  der  Verwandlung  des 
phönizischen  gottes  (für  einen  solchen  zeugt  der  name  Adon  = 
herr)  in  das  liebreizende  kind  der  blutschande  erhellt.  Klar 
aber  tritt  aus  allen  gestaltungen  hervor:  1.  Ein  gott,  der  im 
Winter  fern  weilt,  im  lenz  widerkehrt  (der  griechische  sterb- 
liche Jüngling  weilt  natürlich  in  der  unterweit;  dies  ist  auch 
das  einzige,  was  die  liebe  der  Persephone  bedeutet,  während 
Aphrodite  als  eine  mit  der  befruchtung  in  beziehung  stehende 
gottheit  erweislich  ist),  2.  dass  dieser  gott  eine  innige  beziehung 
zu  der  chthonischen  fruchtbarkeit  hat  (vgl.  die  Adonisgärtchen). 


')  Vgl.  hierüber  Mannhardt,  A.  W.  F.  279/80,    dessen   folgerungen 
ich  mich  allerdings  nicht  durchweg  anschliesse. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  93 

Unter  deu  aiulereu  griechisclieu  mytben  ist  wabrscheiulich 
der  von  den  Dioskuren  ähnlicher  natur;  der  von  Köre  kommt 
erst  sehr  in  zweiter  linie  in  betracht. 

Das  ergebnis  unserer  ausserdeutschen  analogiensammluug 
ist  also:  I.  ein  indiscbes  analogon:  ein  jabreszeitengott,  der  im 
Sommer  zugegen,  im  winter  abwesend  ist  und  einem  Usurpator 
platz  macht,  den  er  dann  im  lenze  heimkehrend  vertreibt  oder 
vernichtet.  II.  Drei  griechiscbe  analoga:  1.  Apoll  weilt  über 
winter  in  einem  unbekannten  lande,  aus  dem  er  im  lenze  von 
schwanen  gezogen  heimkehrt.  2.  Apoll  über  winter  in  hirten- 
frohnde:  vielleicbt  in  der  unterweit;  das  angegebene  zeitmass 
hat  wol  katharsische  bedeutung.  3.  Ein  held  (Odysseus),  ur- 
sprünglich ein  gott,  weilt  eine  hieratisch  bemessene  zeit  in 
einem  nebellande,  kehrt  unkenntlich  als  bettler  heim  und  er- 
löst sein  weib  und  reich  von  gewalthabern.  1.  a)  Anzu- 
merken ist,  dass  Apoll  als  im  lenze  geboren  betrachtet  wird. 
III.  Ein  phönizisches  analogon:  der  gott  Adon  im  winter 
fern,  im  lenze  widei kehrend  zu  seiner  sehnsüchtig  harrenden 
gattin.') 

Zu  II  ist  eine  ganz  merkwürdige  deutsche  parallele  an- 
zuführen. Unter  den  rätseln  der  deutschen  sagenforschung, 
welche  Älüller  mit  seiner  synthetischen  methode  mehr  verwirrt 
als  gelöst  hat,  gehört  die  sage  vom  schwanenritter.  Eine  be- 
trächtliche anzahl  von  Überlieferungen  berichtet  von  einem 
herrlichen  Jüngling,  der,  aus  einem  unbekannten  lande,  von 
schwanen  gezogen,  erscheinend,  einer  bedrängten  frau  beisteht, 
ihr  gatte  wird,  längere  zeit  bei  ihr  verweilt  u'id  dann  in  sein 
Wunderland  heimkehren  muss.  In  zwei  Überlieferungen,  bei 
Wolfram  und  im  Lohengrin,  ist  der  bedränger  ein  ungestümer 
freier.     Die   motivierung   der   heimkehr   des  beiden  fliesst  der 


')  Zur  stütze  diese  belege  sei  noch  auf  den  paphlagunisclien  mytlius 
verwiesen,  dass  der  jabreszeitengott  im  winter  gebunden  und  cingesi)ent 
und  im  sommer  befreit  sei  (vgl.  Pieller  I,  1(>7);  wozu  als  bedeutsame 
deutsche  parallelen  anzuführen  sind:  1.  die  worte  der  carm.  bur. :  serato 
ver  carcere  exit  (vgl.  Grimm,  Mythol.  III,  75).  2.  OÖins  gefangcnschaft 
bei  GeirröS  (verwendet  in  der  offenbar  verworrenen  rahmencrzählung 
von  Grimnismal,  welche  die  verschiedensten  überlielerungen  ctimbiniert; 
dass  ein  derartiger  mythus  erzählt  wurde,  zeigt  die  Übertragung  der  ge- 
fangcnschaft auf  Loki  im  achtzehnten  capitel  der  Skalda;  vielleicht  auch 
die  sage  von  Thorsteinn  Büarmagn). 


94  BEKR 

Überlieferung  aus  der  eigeuen  Unkenntnis:  sie  weiss  nicht,  von 
wannen  der  lield  kam;  ein  heiliges  geheiranis  waltet  darüber, 
und  wehe,  wer  es  zu  lüften  versucht!  Sein  weib  kann  der 
neugierde  nicht  widerstehn;  sie  fragt  trotz  seiner  warnung  — 
und  er  zieht,  von  seinem  schwane  geholt,  von  dannen.') 

Der  schwan  als  Zugvogel  kehrt  im  lenze  zurück  und 
scheidet  im  herbst;  der  schwan  ist  erweislich  als  das  bild  der 
sommerwolke  und  scheint  vielleicht  belegbar  zu  sein  als  bild 
der  sonne.  Ein  interessanter  umstand  erhöht  den  mythischen 
Zauber  der  Überlieferung:  in  mehreren  Versionen  erscheint  der 
held  in  dem  schwaueunachen  schlummernd  auf  einem  schilde. 
Der  Schild  ist  eddisch  und  anderwärts  erweislich  als  bild  der 
sonne.  Aber  mehr  als  dies:  wir  haben  zwei  sagen,  die  ein- 
ander fast  gleich  lauten:  nach  dem  Beowulf  erschien  Skyld, 
der  söhn  des  Skeaf,  auf  einem  kahn  als  kind,  man  wusste 
nicht,  woher,  und  als  er  als  greis  verschied,  setzte  man  ihn 
auf  den  nämlichen  kahn,  und  er  entschwand,  man  wusste  nicht, 
wohin.  Nähere  umstände  über  seine  ankunft  erhellen  nicht; 
da  aber  der  als  sein  vater  genannte  Skeaf  seinen  namen  daher 
hat,  dass  er  in  gleicher  weise  schlummerd  auf  einem  getreide- 
schaub  landete,  so  wird  sich  der  name  Skyld  auf  seine  an- 
kunft schlummernd  auf  einem  schild  beziehn.  Diejenigen  un- 
serer mythologen,  die  bei  ihren  forschungen  mit  dem  genealo- 
gischen element  anfangen  statt  mit  ihm  aufzuhören,  haben 
kurz  entschlossen  erklärt,  dass  das  Beowulfslied  sich  habe  eine 
Verwirrung  zu  schulden  kommen  lassen  und  kecklich  den 
mythus  von  Skeaf  auf  seinen  söhn  übertragen  habe;  da  aber 
die  Skiöldunge  nicht  nach  Skeaf  sondern  nach  Skyld  benannt 
wurden  und  in  der  tat  die  genealogische  ankuüpfung  an  Skeaf 
nicht  einmal  durchgedrungen,  zum  beispiel  eddisch  schlechtweg 
durchbrochen  ist-),  so  ist  anzunehmen,  dass  die  Vaterschaft 
des  Skeaf  eine  accessorische  und  wol  gerade  durch  den  um- 
stand veranlasste  ist,  dass  von  beiden  beiden  eine  ganz  ähn- 
liche sage  erzählt  wurde.^) 


*)  Eö  kann  nicht  entschieden  genug  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  die  sagen  aus  sich  heraus  organisch  weiter  wachsen,  und  dass  die 
Volksphantasie  ganz  logisch  aus  den  prämissen  die  folgerungen  zieht. 

'■')  In  der  jüngeren  Edda  ist  Skiöld  der  söhn  OÖins. 

")  Die  sage  von  Skeaf  ist  übrigens  zuerst  bei  Ethelwerd  (gestorben 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  95 

Die  aDgelsfiehsisehcn  geneal(>g:ieu  machen  es  walirsohein- 
lich,  dass  Skeaf  wie  Ökyld  urspriiriglieh  götter  wareu,  und 
zwar  von  einer  Frey  älinliclien,  das  lieisst:  in  befruchtender 
weise  wirkenden  natur.  Die  mythische  bedeutung  des  namens 
Skeäf  ist  schlechtweg  unaufgekhirt,  wenn  auch  aus  mancherlei 
beobachtungen  eine  dereinstige  aufklärung  zu  erhotlcu  ist.  So- 
viel lässt  sich  aber  aus  der  einreihung  der  drei  beispiele  in 
unsere  Sammlung  schliessen:  in  allen  drei  fällen  liegt  ein 
Jahreszeitenmythus  vor,  dass  ein  sommerlicher  gott  im  wiuter 
fern  weilt  und  im  lenze  widerkehrt;  in  der  schwauensage  zu 
einem  sehnlich  harrenden  oder  gar  von  einem  freier  bedräng- 
ten weihe.  Und  zwar  wird  in  der  ursprünglichen  mythenform 
Skyld  nicht  auf  dem  schilde  in  dem  nachen  sondern  auf  dem 
Schilde  als  nachen,  und  desgleichen  Skeaf  auf  dem  schaube 
als  fahrzeug  erschienen  sein;  der  schild  als  sonne  ist  wie  ge- 
sagt erweislich,  und  in  dem  sinne  eines  sonnenwesens  fühle 
ich  mich  angeregt  meinerseits  den  Skiöld  zu  verstehn. 

Aus  dieser  mytheiimasse  heraus  erhellen  sich  auch  die 
rätselworte  des  angelsächsischen  liedes  zu  der  rune  Ing'):  Ing 
war  zuerst  unter  den  üstdänen;  später  ging  er  ostwärts 
über  die  flut.  Die  widerkehr  verschweigt  das  lied,  wie  die 
sagen  von  Skeaf,  Skyld  und  dem  Schwanenritter:  die  sage 
kennt  in  der  regel  nur  einmalige  ereignisse.  Vielleicht  er- 
hellt sich  auch  in  dieser  weise  die  berüchtigte  Überlieferung 
des  Tacilus  c.  HI:  Ulixes  sei  auf  seiner  berühmten  Irrfahrt 
auch  nach  Deutschland  gekommen,  habe  Asciburg  (kann  heissen: 
Schiffsstätte)  gegründet  und  sogar  einen  altar  mit  seinem  vater 
gemeinsam  gehabt:  wenn  nur  die  ganze  nachricht  nicht  von 
vornherein  durch  das  quidam  opinantur  in  die  lult  gehoben 
würde,  das  ebenso  auf  unzu\erlässige  gewährsmänucr  wie  zwie- 
spältige uachiichten  gehen  kann. 

10!)0)  überliefert  (vgl.  Griiuiu,  iMythoI.  III,  391):  bei  dem  coaipilatoiischen 
Charakter  der  angelsäclisiächen  gencalogien  ist  somit  kein  grund  vor- 
handen, ihnen  zu  liebe  dieser  späten  nachricht  den  vorziig  vor  dem  be- 
richt  des  Beowulf  zu  gelien.  Sehr  zu  bemerken  ist,  dass  bei  Ethelwerd 
Skeaf  nicht  auf  einer  garbe  ruht  (wenigstens  weiss  E.  nichts  von  einer 
solchen  zu  berichten)  sondern  armis  circumdatus  erscheint  wie  der  Skyld 
des  Beowulfliedes. 

')  Grimm,  Ucber  deutsche  runen  2;n. 


96  BEER 

Dem  Ingvi-Frey  schliesst  sich  billig  sein  'vater'  NjörÖr 
an,  der  wol  auch  einmal  eine  sonderexistenz  ohne  familien- 
belastung  geführt  hat  und  jedenfalls  sehr  verschiednenorts  vater 
des  Frey  und  gatte  der  Skadi  geworden  ist;  wenn  es  auch 
vielleicht  an  stimmen  nicht  fehlen  wird,  welche  auf  grund  einer 
späten  eddischen  compromiss-nachricht  darauf  schwören,  dass 
Freyr  der  söhn  der  Skadi  sei.^) 

Die  einschlägige  sage  von  Skadi  und  NjörÖ  hat  in  einem 
in  sich  geschlossenen  gedieht  dem  Verfasser  von  Gylfaginning 
vorgelegen;  wahrscheinlich  einem  der  beliebten  Streitgedichte, 
welches  die  wirksame  Situation  der  unglücklichen  ehe  der  bei- 
den ungleichen  gatten  zu  einem  schalkhaften,  allerliebsten  klei- 
nen roman  ausnutzte.  Man  darf  unter  solchen  umständen 
natürlich  nicht  an  die  lustigen  verse  das  bleigewicht  tief- 
sinniger mythendeutungen  hängen;  doch  lässt  sich  etwa  ersehen, 
dass  der  arme  NjörÖr  in  dem  ehelichen  streit  den  kürzeren 
zog  und,  seinerseits  die  Verabredung  einhaltend,  neun  monde 
des  Jahres  (neun  nachte,  sagte  das  lied)  in  den  winterlichen 
bergen  frieren  musste,  welche  Skadi  nicht  wider  verliess.  Denn 
der  augenscheinliche  grundgehalt  der  altmythischen  Situation 
ist  ein  periodisches  langes  verweilen  des  befruchtenden  vanen 
in  dem  winterland. 

Und  somit  zeichnet  sich  auch  dieser  mythus  durch  eine 
eigentümlichkeit  aus,  welche  einem  teil  der  mythen  des  Para- 
graphen eine  inhaltsschwere  bedeutung  gibt:  Apollon  kommt 
aus  seinem  heimatlichen  Wunderland  und  kehrt  in  dasselbe 
zurück.  Adonis  ist  der  unterweit  verhaftet:  er  kommt  aus  ihr, 
aber  er  kehrt  in  sie  zurück.  Der  schwanenritter  erscheint  aus 
einer  wunderheimat  und  kehrt  in  sie  zurück,  Skeaf  und  Skyld 
kommen  aus  unbekannter  ferne  und  kehren  in  sie  zurück. 
NjörÖr  kommt  aus  den  winterbergen,  muss  aber  in  sie  zu  Skadi 
zurück  kehren.  Und  so  erinnere  ich  an  Orendel,  der  aus  Ises 
knechtesdienst   zu   frau   Bride   kommt,    aber  zu  Ise  zurückzu- 


^)  Vgl.  dagegen  die,  allerdings  vielleicht  aus  Oegisdr.  stammende 
nachlicht  der  Yngls.  c.  4,  dass  NjörSr  als  vaue  seine  Schwester  zur  frau 
und  mit  ihr  Frey  und  Freya  zu  kindern  gehabt  habe,  dass  aber  diese 
geschwisterehe  bei  den  äsen  (kann  heissen :  bei  den  Völkern  und  zeiten, 
unter  und  zu  welchen  das  asensystem  herrschte)  nicht  erlaubt  und  an- 
erkannt gewesen  sei. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  97 

kehren  hat.  Und  an  den  giafen  von  Calw,  der  seine  berge 
und  heerden  verlässt,  um  seine  gattin  vor  einer  zweiten  ehe 
zu  wahren,  aber  wider  in  seine  berge  und  zu  seinen  heerden 
zurückkehrt. 

Und  noch  eine  fernere  eigentiimlichkeit:  Apollon  erscheint 
im  lenze  neugeboren.  Skeaf,  Skyld  erscheinen  neugeboren, 
ebenso  Vali.  Hierzu  aber  halte  man  vorläufig  die  eigentüm- 
liche anschauung,  dass  Thor  den  Oervandil  in  einem  korb  auf 
dem  rücken  über  die  Elivagar  trägt:  eine  zehe  lugt  aus  dem 
korb  und  erfriert.  Ist  dies  das  bild  eines  erwachsenen  mannes? 
oder  eines  kindes?! 

An  das  periodische  scheiden  und  widererscheinen  deut- 
scher und  ausserdeutscher  götter  und  beiden  ist  noch  eine 
interessante  Überlieferung  anzureihen.  Bei  der  analyse  der 
Hymiskvib'a  haben  wir  als  ein  mythisches  einzelgebilde  die 
nachricht  herausgehoben,  Tyr  kehre  heim  in  das  riesenland, 
von  langer  Wanderung,  erwartet  von  seiner  mutter  und  deren 
riesischem  gemahl,  oder  von  seinem  vater  und  dessen  kebse. 
Die  frage,  in  welchem  Verhältnis  Tyr  zu  seiner  riesischeu  ver- 
wantschaft  steht,  ist  eine  äusserst  heikele;  es  ist  aber  mit 
einiger  Sicherheit  aus  der  rede  der  kebse:  sei  freundlich,  dein 
söhn  ist  heimgekommen  —  auf  ein  directes  kindesverhältnis 
Tys  zu  einem  riesen  (der  natürlich  ursprünglich  nicht  gerade 
Hynür  geheissen  haben  muss,  wenn  auch  der  dämmerer  als 
vater  des  Sonnengottes  für  allegorische  gemüter  etwas  sehr 
überzeugendes  haben  mag)  zu  schliessen.  Daraus  allerdings 
eine  entstammung  der  götter  von  den  riesen  zu  folgern,  wie 
es  Weinliold  und  andere  getan,  ist  unmöglich  geworden,  nach- 
dem die  Untersuchungen  Kuhns  und  besonders  Mannhardts  (in 
den  von  Kuhn  so  hart  verurteilten,  aber  bei  viel  jugendlicher 
flüchtigkeit  und  methodischer  unfertigkeit  epoche  machenden 
germanischen  mythen)  den  nachweis  geführt  haben:  1.  dass 
die  germanische  götterweit  eine  zweigentwickelung  eines  indo- 
germanischen mythenstammes  ist,  2.  dass  dieser  mythenstamm 
bereits  den  kämpf  der  götter  und  dämonen  zu  energischstem 
ausdruck  brachte.  Nur  ist  fest  zu  halten,  dass  jener,  den  un- 
getrennten Indogermauen  gemeinsame  mythenstock  aus  demen- 
ten bestand,  die  im  wesentlichen  die  entwickelungsstufe  un- 
differenzierter   naturanschauungen    einnahmen,    vielleicht    liier 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutsehen  spraelio.     XI H.  7 


98  BEER 

und  dort  die  ersten  primitiven  motivansätze  zur  fabelbildung 
aufwiesen,  loeal  gewiss  vielfach  in  dem  Übergang  zu  compli- 
cierteren  gebilden  begriffen  waren:  nur  dass  letztere  gebilde 
schwerlieh  bereits  über  grössere  gebiete  Verbreitung  gefunden 
hatten.  Dieses  Verhältnis  ergibt  sich  aus  den  erfolgen  und 
misserfolgen  der  vergleichenden  mythenforschung,  die  jeden 
enttäuschen  mussten,  der  sich  auf  ein  gemeingut  ganzer  romane 
reehnung  gemacht  hatte,  so  dass  gar  mancher  über  der  ent- 
täuschung  das  kind  mit  dem  bade  ausschüttete.  Eine  summe 
primitiver  mythen  aber  ist  als  gemeinsames  ureigentum  be- 
reits nachgewiesen  worden  und  wird  noch  fernerhin  nach- 
gewiesen werden. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  gesehen,  und  in  anbetracht  der 
beigebrachten  analogien  erscheint  der  mythus,  dass  Tyr  nach 
langen  Wanderungen  in  das  heimatliche  riesenland,  das  Ost- 
land (in  den  osten  verlegt  ja  HymiskviÖa  die  Elivagar)  heim- 
kommt, als  der  periodische  Jahreszeitenmythus  von  dem  Sonnen- 
gott, der,  im  winterlaod  heimisch,  allsommerlich  über  der  erde 
erscheint  und  allwinterlich  in  die  kalten  regionen  zurück- 
kehren muss. 

Und  im  anschluss  an  diese  erwägungen  wage  ich  eine 
weitere  combination.  In  einem  viel  umstrittenen  passus  der 
Germania  leiten  sich  nach  Tacitus  die  Germanen  ab  von  einem 
Mannus,  dem  söhne  eines  Tuisko  oder  Tuisto  (beides  gleich 
gut  überliefert),  der  widerum  als  ein  söhn  der  erde  gelten  soll. 
Müllenhofif  bevorzugt  mit  Lachmann  die  lesart  Tuisto  und 
deutet  den  so  bezeichneten  gott  auf  den  zweifachen,  das  ist: 
den  himmel  und  erde  umspannenden:  eine  deutung,  so  geist- 
reich, dass  sie  das  gepräge  der  Unmöglichkeit  auf  der  stirne 
trägt:  es  wäre  wol  das  einzige  (wenigstens  alt  überlieferte) 
beispiel  eines  nach  einer  mathematischen  abstraction  benann- 
ten gottes.i)  Die  andere,  von  Müllenhofif  zurückgestellte  lesart 
hat   man   auf    ein   ursprüngliches   Tivisko   zurückgeführt,    mit 


1)  Ein  gott  als  träger  des  von  Lachmann  und  Müllenhofif  angenom- 
menen Inhaltes  hätte  vielleicht  'der  umfassende'  oder  'der  allmächtige' 
geheissen;  obwol  auch  solchen  namen  kein  hohes  alter  wahrscheinlich 
ist.  Die  von  anders  denkenden  Wissenschaftlern  geltend  gemachten  be- 
nennungcn  wie  'söhn  der  kraft'  bedeuten  nichts  als:  'der  kraftvolle', 
sind  also  durchaus  conoreten  Inhalts. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  99 

mehr  recht,  als  Miillenhoff  zugesteht,  da  die  Veränderung  der 
Überlieferung  eines  Tiuisko  in  Tuisko  durch  verlust  des  ersten 
i  eine  paläographisch  unwesentliche  ist.  Ist  diese  lesart  richtig, 
so  ist  zwar  Tivisko  söhn  der  erde,  aber  Mannus  nicht  söhn 
des  Tivisko,  so  wenig  wie  Sigmundr  söhn  des  Völsung  ist, 
sondern  Mannus  ist  selbst  Tivisko  (abkömmling  des  Tiu),  wie 
sein  abkömmling,  mennisko,  der  mensch,  ist.  Ist  aber  Mannus 
Tivisko  und  söhn  der  erde,  somit  die  erde  gattin  des  Tiu,  so 
ist  es  gestattet  die  Überlieferung  der  Oegisdrekka  heranzuziehen, 
die  Str.  40  der  gattin  des  Tyr  buhlerei  vorwirft:  nach  dem  von 
Oegisdr.  beliebten  verfahren  natürlich  mit  Loki,  der  hier  so 
wenig  in  betracht  kommen  wird  wie  für  die  buhlerei  der  Sif. 
Erlaubt  man  sich  die  combination  beider  nachrichten,  so  er- 
gäbe sich  ein  mythus,  dem  zu  folge  Tyr,  mit  der  erde  ver- 
mählt, ihr  zeitweise  fern  weilte,  indes  ein  buhler  sich  ihr  zu- 
gesellte. Eine  Vermählung  des  lichten  himmelsgottes  mit  der 
erde  ist  ein  mythisch  allenthalben  zu  belegendes  factum;  die 
winterliche  buhlerei  eines  chthonischen  wesens  ein  in  dieser 
erörterung  für  die  germanische  mythik  mehrfach  belegter  zug. 
Es  würde  dann  von  Tyr  genau  wie  von  Orendel  erzählt  wer- 
den: 1,  dass  während  seiner  winterlichen  abwesenheit  ein 
winterlicher  däraon  sein  weib  umbuhlte;  2.  dass  er  die  zeit 
seiner  winterlichen  abwesenheit  im  winterland  verbracht  habe. 
Die  scheinbare  Unvereinbarkeit  dieser  beiden  züge  wird  später 
erörtert  werden. 

Wenn  es  gestattet  ist,  noch  eine  fast  übe/kühue  hypothese 
aufzustellen,  so  wäre  es  möglich,  dass  auch  Lokis  behauptung 
von  Skadis  buhlerei  eines  berechtigten  hintergrundes  nicht  ent- 
behrte: insofern  hier  die  buhlerei  des  männlichen  Skadi 
(über  dessen  kämpf  mit  Skiöld  oben  gehandelt  ist)  irrtümlich 
auf  seine  namens-  und  wesensschwester  übertragen  wäre. 

§  5.    Ein  hypothetisches  aiialogoii. 

In  der  folgenden  erörterung  wage  ich  weit  weniger  sicher 
aufzutreten.  Das  gebiet  ist  ein  strittiges,  die  methode  un- 
sicher. Der  erste  anblick  meines  analogons  zeigt  allerdings 
eine  verblüffende  Übereinstimmung  mit  Mahabharata  und  Mi- 
to(^inmythus;  eine  ausgezeichnet  geschickte,  wenn  auch  metho- 


100  BEER 

disch  uicht  unanfechtbare  arbeit  Varnhagens  •)  in  Benfeys  bah- 
nen scheint  diese  ganz  über  den  häufen  zu  werfen  —  und 
wideruni  bei  einer  eingehenden  kritik  dieser,  auf  den  ersten 
blick  durchaus  überzeugenden  auseinandersetzung  bleibt  von 
der  hypothese  genug  übrig,  um  sie,  mit  aller  vorsieht,  als 
hypothese  aufrecht  zu  erhalten. 

Es  handelt  sich  um  die  sage  von  Salomon  und  Asch- 
medai,  deren  inhalt  kurz  gefasst  lautet:  Salomon  vpird  durch 
list  von  Aschmedai  seines  zauberrings  beraubt  (vermöge  dessen 
er  die  dämonen  beherrscht)  und  muss  unkenntlich  als  bettler 
wandern,  während  Aschmedai  in  Salomons  gestalt  herrscht  und 
seinen  weibern  naht.  Durch  seine  eigene  niedrigkeit  entlarvt 
er  sich,  wird  des  ringes  beraubt,  Salomon  wird  zurückgeholt, 
und  Aschmedai  entflieht.  Man  sieht:  die  ähnlichkeit  ist  über- 
raschend, zug  für  zug. 

Da  erscheinen  Benfey  und  Varnhagen:  afflant,  et  omnia 
dissipantur.  Eine  märchenfamilie  wird  vorgeführt:  einfachstes 
beispiel:  ein  greiser  könig  fährt  in  eines  Jünglings  körper, 
flugs  fährt  ein  zauberer  in  den  seinen,  tötet  den  Jüngling  und 
ist  nun  seinerseits  könig.  Fortgeschrittnere  form:  ein  könig 
fährt  in  einen  bettler-  oder  tierkörper,  flugs  fährt  ein  anderer 
in  den  seinen,  und  der  könig  muss  wandern,  während  der  an- 
dere könig  ist;  der  falsche  könig  sucht  aber  der  königin  zu 
nahen,  diese  schöpft  verdacht,  der  echte  wird  entdeckt,  der 
falsche  bewogen,  zum  beweis  seiner  kunst  in  einen  papagei 
oder  esel  zu  schlüpfen,  worauf  der  echte  könig  seine  alte 
hülle  wider  in  besitz  nimmt:  und  der  betrüger  ist  betrogen. 

An  stelle  des  überschlüpfens  aus  einem  körper  in  den  an- 
deren soll  nun  der  gestaltenwechsel  getreten  sein.  Salomon- 
sage-):  in  talmudischen  Überlieferungen  (also  in  den  ersten 
sechs  Jahrhunderten  n.  Chr.).  1.  Die  nach  Varnhagen  ursprüng- 
lichste form:  jerusal.  Tal.  (c.  350  n.  Chr.):  gott  heisst  Salomon 
seinen  thron  verlassen,  ein  engel  nimmt  diesen  ein  in  des 
königs   gestalt,    Salomon   wandert   von   schule  zu  schule:    ich, 


»)  Ein  indisches  märchen  (auch  E.  H,  Meyer,  Gandharven  und  Ken- 
tauren 151  ist  von  ihm  überzeugt). 

'^)  An  Salomon  angewachsen  in  folge  einer  stelle  des  pseudosalomo- 
nischen, c.  500;40(t  V.  Chr.  fallenden  predigers  Salomon:  ich,  prediger, 
war  könig  in  Israel! 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  DU 

prediger,  war  könig  in  Israel.  Die  leute  glauben  iliui  nicht 
und  schlagen  ihn.  2.  (Die  quelle  ist  leider  nicht  näher  an- 
gegeben): Salomon  versündigt  sich;  gott  heisst  den  dänioneu- 
fürsten  Aschmedai  den  könig  des  ringes  berauben  und  in  sei- 
ner gestalt  herrschen.  Salomon,  durch  einen  Sturmwind  vom 
thron  geschleudert,  irrt  umher:  ich,  prediger  u.  s.  w.  Während 
dessen  macht  Aschmedai  die  reihe  von  Salomons  trauen  durch; 
bei  der  letzten,  der  er  zur  zeit  ihrer  unreinlichkeit  naht,  wird 
seine  niedrigkeit  entdeckt,  Salomon  wird  zurückgeholt,  Asch- 
medai des  rings  beraubt,  Salomon  erhält  seine  alte  gestalt 
wider  und  herrscht  fürder.  3.  Babil.  Talm.  (mitte  des  sechsten 
Jahrhunderts  n.  Chr.):  Salomon  spricht  zu  dem  gefesselten 
Aschmedai  verächtliche  worte;  dieser  erbietet  sich,  seine  macht 
zu  erweisen,  wenn  ihm  Salomon  die  kette  abnehme  und  seinen 
ring  übergebe.  Sobald  dies  geschehen,  verschlingt  und  speit 
er  den  Salomon  weit  in  die  ferne  und  herrscht  in  des  königs 
gestalt;  Salomon  wandert  und  spricht  die  üblichen  worte.  Hier- 
durch und  durch  Aschmedais  niedrigkeit  kommt  der  betrug  an 
den  tag;  man  gibt  Salomon  einen  (!)  ring  (mit  heiligen  zeichen) 
und  eine  kette,  und  wie  ihn  Aschmedai  konmien  sieht,  entläuft 
er,  4.  Eine  weitere  fassung  aus  der  Kabbala  ist  verschoben; 
wichtig  nur,  dass  in  ihr  widerum  Salomon  um  seiner  sünden 
willen  leidet.  5.  Verwant:  Buch  Daniel  (c.  167  v.  Chr.):  Nebu- 
kadnezar  berühmt  sich  seiner  macht  vor  gott;  zur  strafe  wird 
ihm  sein  reich  genommen,  er  von  den  menschen  ausgestosseu, 
und  muss  sieben  Jahre  bei  dem  wilde  des  feldes  hausen  und 
gras  fressen,  in  entstellter,  verwilderter  gestrvlt.  Nach  sieben 
Jahren  suchen  den  gedemütigten  seine  rate  und  setzen  ihn 
wider  ein  in  seine  herrlichkeit. 

Diese  l)elegkctte  klingt  äusserst  überzeugend.  Ich  war 
nach  der  ersten  lecture  ganz  niedergeschlagen  und  bereit 
mich  zu  ergeben.  Al)er  nach  und  nach  stiegen  mir  einige 
zweifei  auf,  und  sie  gestatte  ich  mich  hier  zunächst  nieder- 
zulegen. 

Die  älteste  indische  version,  des  Inhalts,  dass  der  greise 
könig  in  den  Jüngling  schlüpft,  der  zauberer  in  den  köuigsleil), 
den  Jüngling  erschlägt  und  fürder  selbst  herrscht  —  wird  von 
Vikramäditya  erzählt,  der  im  ersten  Jaiirliundert  vor  Christus 
regierte,    ein    liebling    nachmals  der  indischen  sage.     Da  nach 


102  BEER 

Benfeyi)  von  ihm  nachweislich  sagen  auf  Salomou  übertragen 
wurden,  so  soll  nach  Varnhagen  von  dieser  fassung  aus  der 
übertritt  in  die  jüdische  Überlieferung  erfolgt  sein.  Dem  ent- 
sprechend hält  Varnhagen  für  die  älteste  jüdische  sagenform 
die  im  vierten  Jahrhundert  n.  Chr.  aufgezeichnete  Überlieferung, 
nach  welcher  gott  den  Salomon  um  seiner  Sünden  willen  ent- 
thronte und  einen  engel  an  seiner  statt  und  in  seiner  gestalt 
zum  herrscher  über  die  Juden  setzte,  während  Salomon  im 
elend  irrte  und  die  worte  des  'predigers'  sprach  ohne  glauben 
zu  finden.  Vergleicht  man  die  beiden  erzählungen,  so  ist  die 
discrepanz  dieser  fassungen  offenbar  so  gross,  dass  gerade  sie 
zu  combinieren  niemandem  beigekommen  wäre.  Ausserdem 
aber  ist  die  jüdische  fassung  keine  ursprüngliche  sondern  eine 
abgeleitete:  1.  weil  der  engel  wider  einem  irdischen  könig 
platz  machen  musste,  2.  v/eil  eine  ältere,  aus  dem  zweiten 
Jahrhundert  v.  Chr.  stammende  Überlieferung  bereits  eine  pa- 
rallele bietet,  der  zu  folge  ein  könig  (Nebukadnezar),  um  seiner 
Sünden  willen  von  gott  entthront,  nach  busse  im  elend  wider 
eingesetzt  wurde.  Hatte  aber  die  älteste  Salomonversion  eine 
derartige  gestalt,  so  hatte  sie  mit  der  ältesten  indischen  version 
nichts  zu  schaffen. 

Die  verschobene  indische  Überlieferung  wurde  nicht  vor 
dem  vierten  Jahrhundert  n.  Chr.  aufgezeichnet.  Sie  stimmt 
mit  der  späteren  jüdischen  Salomonrelation  in  verblüffender 
weise  überein;  weit  weniger  verblüffend  schon  mit  der  des 
vierten  Jahrhunderts,  in  welcher  keine  rede  von  einem  weibe 
Salomons  ist.  Diese  Übereinstimmung  durch  sagenwanderung 
zu  erklären,  existiert  kein  überzeugender  historischer  grund, 
da  von  Vikramaditya,  der  notorisch  sagen  an  Salomon  abge- 
geben hat,  eine  so  geartete  fabel  nicht  erzählt  wird.  Es 
bleibt  nur  die  allgemeine  motivierung,  dass  tatsächlich  sagen- 
übergänge  von  Indern  auf  Juden  vorgekommen  seien.  Ein 
derartiger  Übergang  wäre  vor  dem  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr. 
nur  dergestalt  anzunehmen,  dass  die  nachmals  an  Vikrama- 
ditya geknüpfte  einfache  Überlieferung  das  kind  einer  älteren, 
complicierteren  sagenform  darstelle,  bezüglich:  dass  bereits  vor 
der   Vikramadityaversion   eine   compliciertere   behandlung   des 


*)  Pantscbatantra  1,  129. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  lO;^ 

nämlichen  Stoffes  bestandeu  hätte.  Eine  derartige  iu  der  lul't 
stehende  combiuation  ist  von  vornherein  als  unwissenschaftlich 
zu  verwerfen.  Folglich  müsste  die  sage  n.  Chr.  übergewaudcrt 
und  wol  auch  entstanden  sein.  Nun  tritt  zwar  die  ent- 
sprechende jüdische  Salomonsage  erst  in  aufzeichnungen  n.  Chr. 
auf,  aber  ihre  abstammung  von  der  indischen  wäre  erst  als- 
dann anzunehmen,  wenn  sie  innerhalb  der  jüdischen  sagen- 
tradition  isoliert  dastände,  ohne  einen  fühler  jenseits  des  be- 
ginnes  unserer  Zeitrechnung  zu  strecken.  Dies  ist  nicht  der 
fall.  Das  charakteristische  der  talmudischen  Salomonsage 
(mit  ausnähme  einer  Überlieferung  des  sechsten  Jahrhunderts) 
ist,  dass  Salomon  zur  strafe  für  seine  sünden  gestürtzt  und 
nach  seiner  demütigung  wider  erhöht  wird.  In  dieser  fassung 
aber  ist  eine  jüdische  königslegende  an  den  könig  Nebukad- 
nezar  geknüpft,  und  die  wichtigen  züge  dieser,  in  dem  zweiten 
Jahrhundert  v.  Chr.  aufgezeichneten  sage  lauten,  dass  Nebu- 
kadnezar  1.  wegen  seiner  sünden  von  gott  entthront  w'urde, 
2.  sieben  jähre  entstellt  im  elend  weilen  musste,  3.  nach  ab- 
laufe dieser  bussezeit  und  seiner  demütigung  wider  eingesetzt 
wurde.  Die  anknüpfung  einer  derartigen  erzühluug  an  Salomon 
lag  nahe  in  folge  der,  wie  es  scheint,  populär  gewordenen 
Worte  des  pseudosalomonischen  'j)redigers':  ich,  prediger,  war 
könig  in  Israel;  aus  denen  leicht  gefolgert  werden  konnte, 
dass  Salomon  wirklich  einmal  nicht  mehr  könig  war;  zumal 
der  zoru  gottes  über  Salomons  sünden  und  die  drohung  seiner 
entthronung  der  biblischen  Überlieferung  entsprach.')  So  er- 
klärt sich  auch,  dass  der  büssende  Salomon  wandern  muss 
und  immer  jene  worte  spricht;  es  bedarf  dazu  gar  nicht  erst 
einer  indischen  Überlieferung.  Endlich  erklärt  sich  vielleicht 
aus  der  biblischen  Überlieferung,  nach  der  gott  dem  Salomon 
einen  Widersacher  erweckte*),  die  ausfüUung  des  Interregnums 
während  der  busse  durch  einen  engel  in  Salomons  gestalt  — 
wenn  nicht  ein  derartiger  remplacant  schon  der  ursprünglichen 
fabel  eigen  war  und  nur  im  Buch  Daniel  verschwiegen  bliel). 
Erst  an  seine  stelle  trat  dann  (auch  nach  Varnhagena  ansieht) 
der   faunische-)   Aschmedai,    der  aus   einem   ganz   unabhängig 

»)  Vgl.  Vogt,  Salman  IL. 

*)  üeber  den    durchaus  faunischen   charaktcr  des  jüdischen  Asch- 
medai vgl.  Grünbaum  i.  d.  Zeitscln-.  d.  d.  morgl.  gesellsch.  XXM,  '2Jl'. 


104  BEER 

um  Salomon  entwickelten  sagencomplex  entnommen  wurde,  um 
der  erzählung  noch  den  letzten  Stempel  aufzudrücken;  denn 
die  faunische  biunst  nach  der  menstruierenden  frau  und  die 
begierde  nach  Salomons  mutter  hat  keine  ähnlichkeit  mit  dem 
begehren  des  indischen  Usurpators  nach  der  gattin  des  ent- 
thronten königs.  Das  wesentliche  ist  gerade  die  in  Aschmedais 
brunst  verräterisch  hervorbrechende  unreinliche  natur  des 
faunischen  dämons;  dass  in  der  indischen  legende  wie  der 
jüdischen  sage  der  Usurpator  die  band  nach  der  königin  streckt, 
ist  ebenso  zu  erklären  wie  die  einführung  von  Indras  gattin 
in  die  sage  von  Nahusha:  das  weib  darf  dem  roman  nicht 
fehlen.  In  der  talmudischen,  von  Varnhagen  als  ursprüng- 
lichste angenommenen  Überlieferung  ist,  wie  bemerkt,  von  einer 
königin  noch  keine  rede. 

Somit  ergibt  sich:  1.  eine  alte,  jüdische  tradition,  schon 
im  zweiten  Jahrhundert  v.  Chr.  nachweislich,  der  zu  folge  ein 
könig  wegen  seines  hochmuts  von  gott  entthront  im  elend 
leben  muss  (nach  der  ältest  erhaltenen  Überlieferung  die  alt- 
hieratische zahl  von  sieben  jähren),  bis  er,  gedemütigt,  wider 
zu  der  alten  herrlichkeit  erhoben  wird.  2.  Diese  sage  wird 
an  Salomon  geknüpft:  vielleicht  in  anschluss  an  die  citierten 
Worte  des  pseudosalomonischen  'predigers';  die  zeit  des  Inter- 
regnums wird  jetzt  (oder  war  von  vorn  herein)  mit  einem,  in 
des  königs  gestalt  regierenden  engel  ausgefüllt.  3.  An  dessen 
stelle  tritt  der  aus  den  dämonenkämpfen  Salomons  über- 
nommene Aschmedai,  4.  dessen  (schon  in  jenen  kämpfen  zu 
tage  tretende)  faunische  natur  die  gestaltung  der  lösung  be- 
herrscht. 

Mit  Vogt  (a.  a.  o.)  anzunehmen,  dass  die  ganze  legende 
aus  den  Worten  des  'predigers'  und  einigen  bibelstellen  heraus- 
gewachsen sei,  hindert  der  umstand,  dass  sie  in  ältester,  ein- 
fachster gestalt  nicht  an  die  person  Salomons  geknüpft  ist.  Die 
Überlieferung  in  der  unter  1.  mitgeteilten  fassung  als  eine 
legende,  eine  priestererfindung  anzunehmen,  hindert  der  um- 
stand, dass  sie  in  zug  um  zug  entsprechender,  und  zwar  viel- 
fach in  die  heldensage  übergetretener  form  indisch  (Nahusha), 
griechisch  (Apoll  bei  Admet),  deutsch  (MitoÖinn)  und,  in  ander- 
weitiger, aber  ganz  entsprechender  Verschiebung,  phönizisch, 
also  semitisch  erhalten  ist:  ein  gott  oder  halbgott  muss  wegen 


I 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  105 

einer  Verschuldung  (semitisch :  periodisch  in  folge  seines  Schick- 
sals) verschwinden,  darf  aber  nach  seiner  eutsiihnung  (semi- 
tisch: seiner  zeit,  nämlich  im  lenze)  widerkehren.  Verschul- 
dung und  sühne  sind  übereinstimmend  als  motiv  zugewachsen. 
Da  man  nun  darauf  aufmerksam  geworden  ist,  dass  in  dem 
jüdischen  glauben  und  cult  altheidnische  demente  mitUber- 
kommen  sind,  so  scheint  auch  hier  als  eine  königssage  erzählt 
zu  werden,  was  einst  von  einer  gottheit  berichtet  wurde. 
Natürlich  braucht  diese  keine  jüdische,  wol  aber  eine  semi- 
tische gewesen  zu  sein.i) 

§  6.    Facit. 

Hiermit  ist  der  in  betracht  kommende  stoff,  soweit  er 
fruchtbar  ist,  erledigt,  und  das  facit  der  Untersuchung  kann 
gezogen  werden.  Die  hypothesc  des  letzten  paragraphen  soll 
dabei  ausser  acht  gelassen  werden. 

Wir  haben  herangezogen:  1.  eine  gruppe  von  deutschen 
und  romanischen  erzählungen,  denen  zu  folge  ein  mann  von 
rang  eine  wallfahrt  in  den  Orient,  oder  eine  wallfahrt,  oder 
einen  zug  gegen  die  beiden,  oder  endlich  eine  reise  um  oder 
bis  an  das  ende  der  weit  unternimmt,  lange  ausbleibt  (in 
den  meisten  fällen  über  eine  verabredete  zeit  hinaus,  die  widcr- 
holt  auf  sieben  jähre  bemessen  ist),  im  falle  der  Weltreise 
auf  einer  wüsten  insel  scheitert,  von  einem  dämon  oder 
engel  oder  heiligen  erfährt,  dass  sein  weib  im  begrift"  stehe 
eine  neue  ehe  zu  schliessen,  durch  die  lüfte  zurückgeführt  just 
bei  der  hochzeit  entstellt,  meist  bettelhaft,  stets  un- 
kenntlich erscheint,  sich  (durch  einen  ring)  zu  erkennen  gibt 
und  in  seine  alten  rechte  eintritt.  In  einem  ausländischen  gedieht 
(wol  spielmannslied)  scheint  er  schlechtweg  marinaro,  der 
Seefahrer,  geheissen  zu  haben.  In  einem  raärchen  vollbringt  er 
die  zeit  in  des  teufeis  dienst.  In  einer  sage  ist  er  (der  graf 
von  Calw)  nicht  über  meer  sondern  in  die  berge  gezogen, 
wo  er  heerden  geweidet  hat,  zu  denen  er,  nachdem  er 
sein   weib   in  der  weise  der  Schablone  an  der  eiugehung  einer 


')  Vielleicht  klingt  eine  ähnliche  erinnerung  in  der  rabbinischen 
tradition  nach,  dass  Elias  dereinst  widerkehren  und  den  bösen  Samuel 
töten  werde  (Eisenmenger  II,  690.  S51,  vgl.  Grimm,  Mythol.  145). 


106  BEER 

ueueu   ehe  verhinderte,    zurückkehrt.    Auch  hier  fehlt  die  ent- 
stellte kleidung  nicht,  steht  aber  am  unrechten  ort. 

2.  Ein  held  (Halfdan)  hört  in  der  ferne,  dass  seine  (gegen- 
wärtige oder  nachmalige)  braut  im  begriff"  steht  eines  anderen 
(in  charakteristischen  fällen  eines  riesen)  weib  zu  werden,  er- 
scheint in  niederer  tracht  (meist  im  momente  der  hoch  zeit) 
und  erschlägt  ihn.  Die  Jungfrau  heisst  in  charakteristischen 
fällen  Gro  oder  Guritha,  was  wesensidentisch  erscheint  und 
eine  beziehung  zur  chthonischen  fruchtbarkeit  offenbart.  Die 
Persönlichkeit  des  beiden  ist  eine  derartige,  dass  Thorsagen 
entweder  an  ihn  angewachsen  oder  auf  ihn  übertragen  er- 
scheinen. 

3.  Thor,  in  niederer  tracht  aus  dem  osten  kommend,  findet 
bei  seinem  weib  einen  buhlen. 

4.  Thor,  aus  dem  osten,  dem  winterland,  mit  winters  ende 
zurückkehrend  (in  der  Haldanüberlieferung  bei  Saxo  in  nie- 
derer, unkenntlich  machender  tracht)  erschlägt  einen  riesen, 
der  anspruch  auf  eine  göttliche,  für  die  befruchtung  der  erde 
belangreiche  Jungfrau  erhebt. 

5.  OÖinn,  aus  der  ferne  in  niederer  tracht  im  lenze  zu- 
rückkehrend, treibt  einen  nebenbuhler  aus  der  herrschaft  und 
von  seinem  weibe. 

6.  Baidur,  von  HöÖur  vertrieben  und  seiner  gattin  be- 
raubt, verjagt  heimkehrend  den  Usurpator  und  tritt  in  seine 
alten  rechte. 

7.  Svipdagr  kehrt  im  lenz  aus  der  ferne  in  niedrer, 
unkenntlich  machender  tracht  zu  der  seiner  harrenden  ge- 
liebten. 

8.  Der  schwanenritter  kommt  aus  fremdem  land,  von 
einem  schwan  gezogen,  befreit  eine  Jungfrau  von  ihren  be- 
drängern  und  kehrt  zurück  (vgl.  die  rückkehr  des  grafen  von 
Calw  unter  1.). 

9.  Skeaf  und  Skyld  erscheinen  aus  fernem  land  und  ent- 
schwinden in  dasselbe. 

10.  NjörÖr  weilt  periodisch  neun  wintermonde  bei  Skadi 
in  den  bergen  (vgl.  den  grafen  von  Calw)  im  winterland  und 
drei  sommermonde  über  der  erde. 

11.  12.  Ing  zieht  gen  osten  über  die  flut.  Tyr  kehrt  von 
langer  Wanderung  heim  in  das  winterland,   in  die  berge  (vgl. 


1 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  107 

NjöiÖ  und  den  grafen  von  Calw).  Vielleicht  auch:  während 
Tys  abwesenheit  ist  die  erde,  seine  g-attin,  umbuhlt. 

13.  Skeaf,  Skyld,  Vali  erscheinen  als  kinder. 

14.  Skioldus  erschlägt  den  Skatus  ina  kämpf  um  eine 
Jungfrau. 

Dazu  an  ausserdeutschen  parallelen: 

A.  Indisch:  während  der  abwesenheit  des  sommergottes 
herrscht  ein  dörrender  dämon;  jener  kehrt  zurück  und  er- 
schlägt ihn. 

B.  Griechisch:  1.  Apoll  kommt  und  scheidet,  von  schwa- 
nen gezogen,  in  sein  heimatliches  Wunderland. 

2.  Apoll  weidet  in  der  ferne  eine  frist  die  stutenheerden 
des  Admet. 

3.  Odysseus  (ursprünglich  ein  andersnamiger  gott),  aus 
der  ferne,  einem  nebelland,  nach  langer  abwesenheit  (hieratisch 
sieben  jähren)  unkenntlich  in  bettlertracht  heimkehrend,  erlöst 
sein  land  und  sein  weib  von  vergewaltigeru. 

C.  Semitisch:  Adon  (Adonis)  weilt  im  winter  fern  (als 
mensch:  in  der  unterweit),  im  sommer  bei  Aphrodite,  die  vou 
belang  für  die  (irdische)  befruchtung  erscheint. 

Hierzu  gesellen  sich  drei  recensionen  der  Orendelsage: 
A.  Die  dänische:  Horvendil  erschlägt  könig  Koller  (den  kalten) 
im  kämpf  um  Gerutha  (der  name  ist  wesensidentisch  mit  Gro 
und  Guritha),   die   er   nachmals  heiratet.     B.  Die  norwegische: 

1.  Aurvandill  kehrt  aus  dem  rieseuland,  dem  winterland  jen- 
seits  der  Elivagar,    zu  seiner  harrenden  gattin  Groa  zurück. 

2.  Aurvandill  wird  von  Thor  auf  dem  rücken  in  einem  korb 
über  die  Elivagar  getragen.  3.  Ein  gestirn  heisst  Aurvandils 
zeh.  C.  Die  deutsche:  1.  Orendel  scheitert  auf  einer  orient- 
fahrt, tut  bei  einem  riesischen  fischer  Ise  auf  einer,  seit  nien- 
schengedenken  unbetretenen  insel  knechtesdienst  und  kommt 
von  da  in  schlechter  tracht  (einem  grauen  rock)  zu  einer  frau 
Bride,  erschlägt  einen  (oder  mehrere)  gewalttätigen  freier  und 
besteigt,  von  allen,  sobald  er  sich  zu  erkennen  gibt,  aner- 
kannt,   unbestritten  als  Bridens  gemahl  den  thron  des  reiches. 

2.  Orendel  findet,  in  pilgertracht  heimkehrend,  sein  weib  Bride 
in  den  bänden  eines  gewalttätigen  freiers  und  erschlägt  diesen. 

3.  Orendel,  der  knechtesdienste  bei  Ise  getan  hat,  ist,  von  ihm 


108  BEER 

entlassen,  verpflichtet  zu  ihm  zurückzukehren.  4.  Eine  Vor- 
stellung, nach  welcher  Ise  graue  rosse  mit  seiner  ruder- 
stange  jagt. 

Alle  diese  sagen  sind  heimkehrsagen.  Thor,  OÖinn,  Tyr, 
Baldr,  NjörÖr,  Ing,  Svipdagr,  Skeaf,  Skiöld,  der  schwanenritter, 
alles  götter  athmosphärischer,  die  fruchtbarkeit  fördernder  Vor- 
gänge, kehren  heim:  Thor,  OÖinn,  Ing  aus  dem  osten;  Tyr, 
NjörÖr,  Svipdagr  aus  dem  winterland,  dem  riesenland,  das  als 
im  Osten  gelegen  aufgefasst  wurde;  Skeaf,  Skyld  und  der 
schwanenritter  aus  einem  ungenannten  land.  Thor,  OÖinn, 
Svipdagr  erscheinen  in  niederer,  entstellter  gestalt.  KjörÖr 
wird  von  keinem  weihe  im  götterland  erwartet;  Svipdagr  kehrt 
heim  zu  einer  sehnend  oder  in  Schlummer  harrenden  geliebten; 
OÖinn,  Baldr  (Tyr?)  finden  bei  ihrer  gemahlin  einen  buhlen- 
den gewalthaber,  der  vor  ihnen  entweicht.  Thor  findet  bei 
seinem  weibe  (wie  es  scheint,  der  erde)  oder  einer  anderen, 
für  die  chthonische  fruchtbarkeit  belangreichen  göttin  einen 
buhlerischen  riesen  (wol  als  gewalthaber),  den  er  erschlägt. 
Der  schwanenritter  befreit  eine  bedrängte  Jungfrau,  sein  nach- 
maliges weib,  indem  er  den  bedränger  erschlägt.  Die  ein- 
schlägigen sagen  von  Ing,  Tyr,  Skeaf,  Skyld  (Skiöld)  sind  un- 
vollständig überliefert.  Doch  erscheinen  Skeaf  und  Skyld, 
ähnlich  Vali,  als  kinder,  und  Skiöld  erschlägt  in  einer  fassung 
im  kämpf  um  eine  geliebte  den  Skadi.  Endlich  ist  bei  Tyr, 
NjörÖ,  Skeaf,  Skyld  und  dem  schwanenritter  die  (periodische) 
rückkehr  in  das  winter-  oder  Wunderland  bezeugt,  bei  Thor  so 
gut  wie  bezeugt,  und  ist  bei  Svipdag  nur  von  der  ankunft 
aus,  bei  Ing  und  Tyr  nur  von  der  rückkunft  in  das  winter- 
land die  rede. 

Aus  dieser  Zusammenfassung  der  göttersage  und  ihrer  ver- 
gleichung  mit  den  ausserdeutschen  parallelen  ist  zu  schliessen: 
1.  Es  gab  einen  indogermanischen  Jahreszeitenmythus,  dem  zu 
folge  eine  gottheit  im  winter  fern  weilte,  mit  dem  sommer  zu- 
rückkehrte. Diesem  mythus  ist  die  rückkehr  zu  einer  gattin 
nicht  unbedingt  wesenseigen  (vgl.  NjörÖ,  Hyperboreermythus, 
Dioskuren).  2.  Der  mythus  hat  unter  umständen  die  gestalt 
angenommen,  dass  der  zurückkehrende  gott  von  einer  gattin 
oder  braut  erharrt  wurde  (vgl.  Svipdag,  Svendal).  3.  Diese 
mythengestaltung  präzisierte  sich  weiter  dahin,  dass  die  gattin 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  109 

oder  braut  von  einem,  das  reich  inne  habenden  gewaltbaber 
buhlerisch  bedrängt  wurde,  oder  aber,  dass  der  rückkehrende 
gott  eine,  von  einer  derartigen  persönlichkeit  bedrängte  Jung- 
frau befreite.  Der  bedränger  entwich  (MitoÖinn)  oder  wurde 
getötet.  4.  Das  weibliche  wesen  stellt  sich  nur  in  einem i) 
fall  mit  bestimmtheit  als  die  erde  dar;  Aphrodite,  die  vanin  Freya, 
ThruÖr  sind  nur  als  athmosphärische  Spenderinnen  von  irdi- 
scher und  anderer  fruchtbarkeit  zu  erweisen,  Frigg  durch  den 
Volksglauben  in  ähnlicher  richtung  zu  belegen.  5.  Der  be- 
dränger ist  in  den  controlierbaren  fällen  (Ullr,  HöÖr,  Skadi,  die 
riesen)  ein  winterlicher  dämon.  G.  In  allen  deutschen  götter- 
sagen  ist  nur  von  einem  nebenbuhler  oder  vergewaltiger  die 
rede.  7.  In  deutschen  wie  griechischen  und  semitischen  sagen 
wurde  das  kommen  und  scheiden  des  sommergottes  periodisch 
aufgefasst,  und  erklärt:  bei  Thor  durch  widerholte  abenteuer- 
züge  gegen  die  winterdämonen,  bei  NjörÖ  durch  Vermählung 
mit  einer,  im  winterland  wohnenden  göttin,  bei  Tyr,  Skeaf, 
Skyld  und  dem  schwanenritter  wie  bei  Apoll  als  die  heim- 
kehr  in  ein  heimatland.  In  den  anderen  fällen  ist  die  moti- 
vierung  verwischt.  8.  Ueber  das  land  selbst  scheint  nirgends 
volle  klarheit  oder  Übereinstimmung  geherrscht  zu  haben;  man 
wusste  nur,  dass  der  sommer  entschwand,  aber  nicht,  wohin 
er  entschwand.  Die  Inder  Hessen,  wie  es  scheint,  den  feuer- 
gott  in  die  Sphäre  seines  Ursprungs,  das  wasser,  zurückkehren. 
Die  Griechen  malten  sich  ein  Wunderland  oder  auch  ein  fernes 
nebelland  aus  oder  Hessen,  scheint  es,  den  gott  in  die  unter- 
weit hinabsteigen.  Die  Deutschen  stellten  sich  im  eisigen  nor- 
den oder  Osten  ein  winterland  vor,  von  wo  der  gott  erschien, 
und  in  das  er  kehren  musste.  9.  Aus  diesem  letzten  grund 
erscheint  der  deutsche  gott  bei  seiner  rtickkehr  in  übler  tracht. 
Die  natur  ist  im  winter  bettelarm,  greis,  entstellt;  die  naive 
gedankenassociation  betrachtete  den  jahreszeitengott  den  winter 
über  in  gleicher  gestalt.  Eine  derartige  anschauung  ist  für 
den  Marsglauben  und  in  weiterem  umfange  über  deutsches 
und  slawisches  gebiet  von  Usener^)  und  Mannhardt^)  dargetan 


1)  Wenn  man  von  Tyr  absieht. 

2)  Rheinisches  museum  XXX,  1S2  ff. 

•')  In  den  Korndiimonen  und  beiden  bänden  der  Wald-feldkulte  an 
verschiedenen  stellen. 


110  BEER 

Indem  aber  beide  solch  eine  anschauungsweise  unabhängig  von 
den  vorbesprochnen  mythenreihen  nachgewiesen  haben,  ergibt  sich 
die  berechtigung  anzunehmen,  dass  die  auffassung  des  jahres- 
zeitengottes  im  winter  als  eines  bettelhaften,  entstellten  greises^) 
ursprünglich  .  absolut  nichts  zu  tun  hatte  mit  dem  mythus  von 
dem  zurückkehrenden  gott,  und  dass  somit  auch  hier 
wider  disparate,  den  verschiedensten  erfahrungen 
entsprungene  anschauungen  aneinander  gewach- 
sen sind. 

Wenn  somit  für  Orendel  bezeugt  wird,  dass  er  in  un- 
scheinbarem grauem  rock  unkenntlich  zurückkehrte,  so  lässt 
diese  sagengestaltung  für  Oervandil  und  Horvendil,  von  denen 
solches  nicht  bezeugt  ist,  keine  Schlüsse  zu.  Wenn  Groa  als 
die  frau  des  Oervandil  bezeugt  wird,  so  folgt  daraus  nicht, 
dass  die  nachricht  Saxos  von  der  Vermählung  des  Horvendil 
mit  Gerutha  nach  dem  sieg  über  Koller  eine  Verschiebung 
sei 2),  würde  auch  nicht  daraus  folgen,  dass  frau  Bride  die  ge- 
mahlin  des  Orendel  gewesen  sei,  wenn  sich  nicht  1.  in  der 
katastrophe  vor  den  toren  von  Jerusalem  Orendel  selbst  als 
den  einheimischen  könig  zu  erkennen  gäbe  und  anerkannt 
würde,  und  2.  die  accessorische  fortsetzung  der  legendenfassung 
augenscheinlich  ein  unabhängiges  gedieht  auf  die  rückkehr 
Orendels  zu  seiner  gattin  gekannt  und  benutzt  hätte.  Wenn 
endlich  Horvendil  mit  Koller  und  Orendel  mit  dem  vergewal- 
tiger oder  um  Werber  seines  weibes  zu  kämpfen  hat,  so  folgt 
daraus  nicht,  dass  auch  Oervandill  bei  Groa  einen  nebenbuhler 
gefunden  hätte;  im  gegenteil  wird  eine  derartige  folgerung 
durch  die  überkommene  norwegische  fassung  auf  das  bündigste 
widerlegt. 


1)  Vielleicht  heranzuziehen  ist  Saxo  248 :  Ot5ins  erscheinen  hispido 
amiculo,  wozu  sich  manches  andere  zu  stellen  scheint:  vgl.  Grimm, 
Mythol.  121,  III,  56.  Vgl.  auch  Preller  I,  107:  argivisch  ein  kahl- 
köpfiger Zeus. 

^)  Nicht  allein  sichert  das  analogen  des  kampfes  des  Skioldus  wider 
Skatus  die  berechtigung  der  dänischen  wendung:  auch  in  der  gesamten 
Halfdangruppe  und  in  den  meisten  Thorsagen  ist  die  rede  von  einer 
vereitelten  hochzeit,  nicht  dem  buhlen  um  ein  vermähltes  weib.  Die 
Stellung  des  weiblichen  wesens  zu  dem  befreier  ist  zudem  in  der  Thor- 
sage eine  derartig  wechselnde,  dass  eine  abweichende  Überlieferung 
innerhalb  des  nämlichen  Sagenkreises  gar  nicht  auffallen  kann. 


DER  STOFF  DES  ORENÜEL.  Hl 

Demselben  princip  entsprechend,  darf  keine  willkür  die 
tatsacbe  aus  der  weit  sehaflfen,  dass  der  norwegischen  Groa, 
deren  chthonische  natur  etymologische  Wahrscheinlichkeit  hat, 
in  der  deutschen  Überlieferung  eine  Bride  gegenübersteht, 
welche  eine  derartige  ausdeutung  nicht  zulässt.  Nachdem  die 
erörterung  der  Halfdansage  ergeben  hat,  dass  analoge  erzäh- 
lungen  von  der  befreiung  einer  Gro  (oder  gleichbedeutenden 
Guritha)  an  einen  anderweitigen  beiden  geknüpft  worden  sind, 
ist  umgekehrt  unerlaubt  von  vorn  herein  zu  urteilen,  dass  der 
name  Bride  lediglich  durch  Verdrängung  einer,  deutsch  zudem 
wol  kaum  erweislichen  Gro  in  die  deutsche  Orendelsage  ein- 
gang  gefunden  habe.  Der  name  Bride,  das  ist  die  glänzende, 
ist  ein  durchaus  für  die  gattin  des  glänz wandlers  geeigneter; 
zudem  haben  sich  fast  sämtliche  Jungfrauen  der  göttersage 
nicht  als  chthonische  sondern  als  athmosphärische  wesen,  wenn 
auch  von  sommerlicher  bedeutung,  erwiesen;  so  dass  kein 
grund  vorhanden  ist,  dem  Oervandil  ein  für  alle  mal  und  für 
alle  Versionen  eine  chthonische  gemahlin  aufzubürden.  Endlich 
aber  hat  sich  ergeben,  dass  der  name  der  gattin  in  dem  heim- 
kehrmythus  durchaus  in  zweiter  linie  steht. 

Dass  die  beispiele  der  Halfdangruppe  und')  der  MüUer- 
Uhlandschen  Sammlungen  eine  teils  spielmännische  teils  tradi- 
tionelle fortentwickelung  des  alten  göttermythus  zur  heldensage 
und  abenteuererzählung  bieten,  wird  niemand  verkennen.  Der 
abschied  des  beiden  in  der  Halfdansage  wird  deren  Charakter 
gemäss  mit  einem  kriegszug  motiviert;  weit  eigentümlicher  ist 
die  begründung  der  Sammlungen.  Der  held  ist  entweder  in 
den  Orient  gezogen,  das  ist:  er  hat  eine  wallfahrt  in  das 
heidenland  gemacht;  oder  er  ist  auf  einer  wallfahrt  oder  gegen 
die  beiden  aus;  oder  endlich  er  ist  einfach  über  meer  gezogen, 
ein  mariuaro,  ein  landfahrer.  Die  letztere  begründung  ist 
eine  abgeblasste  allgemeinheit,  die  zweite  und  dritte  differen- 
zierungen  der  ersten,  Ist  aber  eine  Orient  fahrt  das  charak- 
teristische motiv  der  beiden  und  könige,  das  sie  so  lange  fern 
hält  und  erst  in  entstellter  tracht,  man  weiss  nicht  wie,  just 
zur  hochzeit  ihrer  gattin  mit  einem  ncbenbuhler  heimkehren 
lässt,  so  stellt  sich  diese  motivierung  zu  überraschend  mit  der 


1)  Wenigstens  teilweise. 


112  BEER 

0  st  fahrt  der  deutschen  götter  in  das  winterland,  besonders 
OÖins  orientfahrt,  und  ihrer  heimkehr  in  entstellter  traeht  zu- 
sammen, um  eine  combinierung  beider  momente  allzukühn  er- 
scheinen zu  lassen.  Ist  aber  eine  derartige  combination  ge- 
stattet, so  ist  es  auch  die  annähme,  dass  Orendel  tatsächlich 
von  einer  ostfahrt  zu  seinem  weibe  entstellt  zurückkehrt, 
ähnlich  dem  Oervandil  der  norwegischen  Überlieferung,  und 
dass  sich  so  die  zur  brautfahrt  gestempelte  orientfahrt  des 
beiden  erklärt;  so  dass  an  die  ostfahrt  Orendels  die  orient- 
fahrt, an  die  widerkehr  nach  langer  ab  Wesenheit  und  den 
kämpf  mit  dem  nebenbuhler  die  brautfahrt  und  an  die 
schlechte  traeht  des  widerkehrenden  der  graue  rock  sich  an- 
schloss. 

Wenn  diese  auffassung  richtig  ist,  so  ist  Orendel  ursprüng- 
lich gegen  osten  in  das  eisland  gezogen,  was  mit  der  norwegi- 
schen Überlieferung  übereinstimmen  würde.  Aus  dieser  mythi- 
schen entwickelungsphase  stammt  der  name  Ise;  schwerlich 
aber  seine  eigenschaft  als  fischer.  Nur  in  der  Hymirsage  ist 
ein  des  fischens  gewohnter  riese  überliefert,  und  zwar,  auf  dass 
sein  fischfang  die  Situation  für  Thors  kämpf  mit  der  Mitgard- 
schlange  abgäbe.  Desgleichen  bedarf  der  legendenschreiber 
eines  fischers  um,  jedenfalls  in  nachahmung  beliebter  muster, 
die  auffindung  von  Christi  rock  in  einem  fischbauche  zu  er- 
möglichen. Die  ursprüngliche  natur  Ises,  der  als  eisriese  für 
einen  fischer  so  ungeeignet  wie  möglich  erscheint,  ist  in  jener 
von  Müllenhoffs  Scharfsinn  entdeckten  episode  des  spielmanns- 
gedichtes  enthalten,  in  welcher  Ise  graue  rosse  jagend  dar- 
gestellt wird.  MüUenhoff  hat  seiner  schififersage  zu  liebe  die 
rosse  als  meereswogen  aufgefasst.  In  dieser  bedeutung  sind 
sie  deutsch  nicht  zu  belegen;  selbst  die  albstiere,  von  Grimm 
und  anderen  als  wasserwesen  gefasst,  lassen  sich,  im  Zusam- 
menhang mit  der  gesamten  deutschen  Volksanschauung  von 
gespenstischen  rossen  und  rindern,  durchweg  als  nebel-  oder 
Wolkenerscheinungen  1)  dartuen.  Man  darf  eine  Volksanschauung 
nie  vereinzeln;  die  geheimnisse  der  Volkskunde  sind  nur  durch 
Sammlung  aller  erreichbaren   analogien   zu   lösen.     In  der  ge- 


^)  Nebel  und  wölke  sind  für  die  volksphantasie  nichts  verschieden- 
artiges. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  113 

stalt  der  vom  winde  gejagten  wölke  erscheinen  die  rosse  der 
wilden  jagd,  erseheinen  sie  eddisch  als  die  rosse  des  Thrym; 
die  eddisch  mehrfach  belegten  rinderheerden  der  riesen  sind 
regelmässig  als  wölken,  und  besonders  stürm  wölken,  aufzu- 
weisen, und  der  riese  als  viehhirt  ist  eine  eddisch  mehrfach 
auftretende  mythengestalt. 

Aus  diesen  gründen  folgere  ich,  dass  der  graugewandige 
Ise  graue  rosse  jagend  eine  wolkenvorstellung  ist;  und  wenn 
er  sie  mit  der  ruderstange  jagt,  so  ist  nicht  allein  der  fähr- 
mann,  der  ein  viehhirt  ist,  im  HarbarÖslied  belegt  und  der 
riesische  fährmann  in  der  Edda  häufig  zu  finden,  sondern 
auch  der  fährmannglauben  mit  um  so  mehr  recht  auf  eine 
wolkenvorstellung  ausgedeutet  worden,  als  für  den  vanen- 
glauben  die  wölke  als  fahrzeug  durch  Alvismal  str.  19  direct 
belegt  ist.  An  den  fährmann  Ise  mag  sich  dann  der  fischer 
leicht  angeschlossen  haben. 

Ist  es  solcher  gestalt  wahrscheinlich,  dass  die  grauen  rosse 
dem  graugewandigen  riesen  als  wolkenheerde  zugestanden 
haben,  so  wird,  wenn  Orendel  in  der  tat  von  Uranfang  als 
dem  Ise  dienstbar  gegolten  haben  sollte,  seine  dienstbarkeit 
die  eines  hirten  gewesen  sein;  ähnlich  wie  in  dem  schlagend- 
sten analogon  zu  der  deutschen  Orendelüberlieferung  der  so- 
genannte graf  von  Calw  in  die  berge  (das  ist  das  winterland: 
zu  vergleichen  Njörbr  und  Tyr)  zieht  um  hirtendienste  zu 
übernehmen;  wozu  der  hirtendienst  des  Apoll  eine  eigentüm- 
liche parallele  bilden  würde.  Dass  Ises  graurosse  die  wogen 
bedeutet  hätten,  ist  schon  deshalb  sehr  unwahrscheinlich,  weil 
in  diesem  falle  Ise  nicht  der  riese  der  winterregion  gewesen 
wäre,  bei  dem  Orendel  zu  weilen  hatte,  sondern  der  winter- 
liche beherrscher  des  meeres  und  der  weit  überhaupt:  folglich 
nach  analogie  der  gesamten  göttergruppe  der  nebenbuhler, 
nicht  der  brodherr  des  Orendel. 

Denn  in  der  gesamten  heimkehrgruppe  durch  alle  gött- 
lichen und  menschlichen  gestaltungen  hindurch  ist  nur  von 
einem  nebenbuhler  die  rede.i)     Der  parallelismus  der  Odyssee 


^)  Wenn  Berger,  wie  er  mir  sagt,  an  allen  drei  riesenkämpfen  der 
Orendelüberlieferung  festhält  und  für  sie  ursprüngliche  züge  beizubringen 
weiss,    so  gesteht  er  mir  doch   zu,    dass   sie  augenscheinlich  die  dich- 

Beitriige  zur  gesrhichto  der  dcutselien  sjjraclie.    Xill.  y 


114  BEER 

hat  Mtillenhoff  bewogen,  seiner  kritik  von  Oiendels  rückkehr 
die  turniersituation  zu  gründe  zu  legen,  die  sich  als  eine 
durchaus  spielmännisch  schablonenhafte  offenbarte,  und  eine 
andere,  in  drei  fassungen  aneinander  gereihte  Situation  von 
Orendels  kämpf  mit  dem  riesischen  freier  seines  vveibes  für 
unursprünglich  zu  erklär'in,  die  in  ihrer  dritten  fassung  nicht 
allein  als  charakteristisch  und  original,  sondern  auch  als  ein 
schlagender  beweis  für  Müllenhoflfs  hypothese  dargetan  wurde, 
dass  Orendel  als  der  rechtmässige  herrscher  und  gatte  Bridens 
unerkannt  heimgekehrt  ist  und  sich  nur  zu  nennen  braucht, 
um  unbestritten  in  seine  rechte  einzutreten.  Eine  Situation, 
die  um  so  gewisser  echt  ist,  als  sie  mit  dem,  von  dem  weiter- 
dichter der  legende  zweifelsohne  benutzten,  schönen  spielmanns- 
lied  zwei  wesentliche  züge  gemein  hat:  einmal  den  zug,  dass 
Orendel  seinen  mächtigen  feind  mit  Bridens  hülfe  überwältigt, 
sodann  aber  gerade,  dass  dieser  feind  als  alleiniger  neben- 
buhler,  wenn  auch  mit  heeresmacht,  dem  heimkehrenden  könig 
gegenübersteht.  So  darf  mit  bestimmtheit  gesagt  werden,  dass 
auch  für  die  Orendelüberlieferung  von  einer  mehrheit  von 
freiem  keine  rede  ist;  und  es  muss  sehr  dahingestellt  bleiben, 
ob  die  mehrheit  der  freier  der  Odyssee  ein  mythisch  wesent- 
licher zug,  nicht  eine  ausgeburt  sagengeschichtlicher,  bezüglich 
dichterischer  entwickelung  ist. 

Die  hiermit  gewonnene  auffassung,  dass  der  held  der 
deutschen  Orendelsage  einerseits  aus  dem  winterlaud  heim- 
kehre, andrerseits  einen  winterlichen  nebenbuhler  bei  seinem 
weibe  finde,  scheint  auf  zwei  Schwierigkeiten  zu  stossen.  Die 
erste  ist,  dass  der  winterdämon  gleichsam  eine  doppelrolle  zu 
spielen  scheint:  hier  als  beherrscher  des  Winterlandes  und 
verknechter  Orendels,  dort  als  vergewaltiger  seines  reiches  und 
nebenbuhler  bei  seiner  gattin.  Aber  wenn  es  nicht  gestattet 
ist,  aus  der  einen  Überlieferung  züge  in  die  andere  hinüberzu- 
nehmen, welche  in  dieser  nicht  zu  verspüren  sind:  so  ist  es 
umgekehrt  methodisch  zulässig,  einen  zwei  Überlieferungen  ge- 
meinsamen   zug    nach  der  charakteristischeren   version  zu   be- 


terische Verdreifachung  des  ursprünglich  einmaligen  kampfes  aus  grün- 
den künstlerischer  Steigerung  darstellen.  Die  turniersituation  hält  auch 
er  für  einem  vorbild  nachgebildet,  wenn  .auch  bereits  der  vorläge  an- 
gehürig. 


DER  STOFF  DES  ORENDEL.  115 

urteilen;  wenn  es  sich  also  als  wahrscheinlich  ergab,  dass  auch 
dem  deutschen  Orendel  ein  einziger  nebenbuhler  entgegentrat, 
so  ist  es  um  so  berechtigter  den  dänischen  namen  dieses  neben- 
buhlers  Koller,  den  kalten,  für  die  deutsche  Überlieferung 
fruchtbar  zu  machen,  als  die  gesamte  göttergruppe  den  winter- 
lichen Charakter  des  unliebsamen  bewerbers  unverkennbar  zu 
tage  treten  Hess,  Und  ferner  ergibt  eine  kritik  der  nordischen 
Versionen  den  bemerkenswerten  umstand,  dass  die  norwegische 
Überlieferung  überhaupt  nur  von  dem  winterland  weiss  und  die 
dänische  widerum  nur  den  nebenbuhler  erwähnt:  das  bedeutet: 
nur  in  der  deutschen  Überlieferung  beide  züge  vereinigt  er- 
scheinen.i) 

Die  zweite  Schwierigkeit,  Ises  land  als  eine  eisregion  und 
den  beiden  der  sage  als  einen  sommerlichen  glanzwandler  auf- 
zufassen, besteht  in  der  ausdrücklichen  Überlieferung  des  deut- 
schen liedes,  dass  Orendel  durch  einen  Schiffbruch  in  Iscs 
knechtschaft  geraten  sei.  Auch  dieser  einwurf  ist  durch  frühere 
erörterungen -)  vorweggenommen  worden:  der  name  des  glanz- 
wandlers  musste  sich  in  folge  des  aussterbens  einer  deutschen 
Wurzel  aur  =  glänzen  mit  einer  gewissen  notwendigkeit 
in  den  flulenwandler  verschieben;  und  diesen  lange  in  der  ferne 
festgehaltenen  und  in  bettelhaftem  aufzug  widerkehrenden  fiuten- 
wandler  in  einen  schifi'brüchig  verschlagenen  seehelden  sich 
wandeln  zu  sehn,  kann  in  jenen  Zeiten  nicht  verwundern, 
welche,  dem  abenteuer  zugeneigt,  den  Orient  bereits  lebhaft  im 
äuge  hatten,  als  er  noch  nicht  das  heilige  grab  bedeutete,  son- 
dern das  byzantinische  reich.  Aus  letzterem  umstand  erklärt 
sich  wol,  dass  die  Orendelsage,  abweiciiend  von  anderen  deut- 
sehen   Überlieferungen    analogen    Inhalts,    ihren    beiden    nicht 


')  Diese  beobachtung  erhält  willkommene  bestütigiiiig  (luroh  den 
Volksglauben.  Die  forschungen  Grimms  (M)  und  MannhanUs  (Bk)  haben 
klar  gelegt,  dass  der  volksbrauch  des  sommer-winterkampfes  und  der  des 
sommereinznges  (letzterer  bemerkenswerter  weise  gern  verknüpft  mit 
dem  winteraustragen)  im  wesentlichen  geschieden  auf  verschiedenen  ge- 
bieten auftreten.  —  Zu  der  jahreszeitlichen  auffassung  des  aus-  und  ein- 
zuges  vgl.  das  dichterwort  der  carm.  bur.:  redit  ab  exilio  vor  conia 
rutilante,  und:  aestas  in  exiiium  iani  peregrinatur;  zu  der  jahreszeit- 
lichen kampfauffassung  die  nordischen  opfer  til  sigrs  (Grimm,  M}  th. 
35,  III,  75). 

2)  S.  23. 

S* 


116  BEER 

durch  eine  wallfahrt  in  das  heilige  land  seinem  weihe  ent- 
führte: so  nämlich,  dass  die  spielleute  der  kreuzzugsepoche 
hereits  den  im  osten  gescheiterten  helden  vorfanden  und, 
ob  sie  schon  den  osten  in  das  heilige  land  verschoben,  des 
schifi'bruchs  ftirder  nicht  zu  entraten  wagten. 

Hiermit  ist  die  kritik  der  deutschen  Überlieferung  ge- 
schlossen. Sie  liess  einen  schicksalsvollen  lebenslauf  erkennen: 
der  mythus  von  dem  im  winterlichen  osten  weilenden  lichtgott 
und  seiner  bettelhafteu  rückkehr  im  frühling  zu  seinem,  von 
einem  winterlichen  dämon  umbuhlten  weibe  gestaltete  sich  im 
munde  abenteuerlustiger  sänger  zu  dem  roman  eines  im  fernen 
osten  schiffbrüchigen,  nach  langer  knechtschaft  in  armseligstem 
zustand  widerkehrenden  seehelden;  spielleute  der  kreuzzugs- 
epoche stempelten  das  scheitern  im  osten,  das  auch  für  frühere 
Zeiten  einen  geographischen  inhalt  hatte,  zu  einem  scheitern 
auf  der  fahrt  in  das  gelobte  land,  und  ein  kecker  reimschmied 
stellte  die  Überlieferung  auf  den  köpf  und  machte  aus  der 
rückkehr  von  der  orientfahrt  die  typische  brautfahrt  in  den 
Orient  und  aus  den  kämpfen  des  heimkehrenden  königs  mit 
dem  buhlerischen  Usurpator  seines  thrones  und  weibes  die  bei 
seinen  hörern  beliebte  abenteuerreise  eines  heiratslustigen 
fürstensohnes. 

Die  norwegische  und  die  dänische  Überlieferung  der  Orendel- 
sage  haben  miteinander  äusserlich  nichts  gemeinsam  als  den 
namen  des  helden  und  einen  wenigstens  übereinstimmenden 
namen  seiner  geliebten;  so  dass  erst  durch  das  mittelglied  des 
deutschen  gedichtes  ihre  innere  Zusammengehörigkeit  klar  ge- 
legt wird.  Die  dänische  Überlieferung  enthält  nur  den  kämpf 
mit  dem  nebenbuhler,  die  norwegische  nur  die  rückkehr  aus 
dem  Winterland;  jene  hat  sich  in  einen  holmgang  aus  eifer- 
sucht  verwandelt,  diese  trägt  ein  durchaus  mythisches  gewand. 
Um  den  Zusammenhang  noch  mehr  zu  verdunkeln,  hat  sich  in 
die  norwegische  Überlieferung  eine  andere  Aurvandilsage  ein- 
geschlichen, die  mit  der  typischen  heimkehrsage  der  nordischen 
mythik  nichts  gemein  hat  als  die  anschauung,  dass  der  jahres- 
zeitengott  im  lenze  seinen  einzug  in  die  weit  hält. 

Man  betrachte  die  Überlieferung:  Thor  hat  soeben  im 
osten,  im  riesenland,  einen  grossen  holmgang  mit  Hrungnir 
bestanden.     Heimgekehrt   berichtet  er  der  Groa,   dass  er  ihren 


DER  8T0FF  DES  OKENDEL.  117 

gatten  Oervaudil  aus  dem  liesenland  über  die  Elivagar  ge- 
tragen habe,  und  dass  derselbe  demnäcliBt  zurückkehren 
werde.  Man  fragt  sich:  wann  hat  Thor  den  Oervandil  über 
die  Elivagar  getragen?  nach  dem  kämpfe  mit  Hrungnir?  aber 
warum  ist  dann  Oervandill  noch  nicht  erschienen?  oder  vor 
dem  kämpfe?  aber  dann  fragt  man  mit  um  so  mehr  recht, 
wie  es  kommt,  dass  Thor  seine  rückkehr  zu  dem  götterheim 
vollzogen  hat  und  Oervandill,  der  sich  doch  schon  diesseits 
des  trennenden  stroms  befinden  soll,  noch  nicht  zu  seiner  gattin 
heimgelangt  ist?  Schon  dieser  innere  Widerspruch  beleuchtet 
die  unZuverlässigkeit  der  mitteilung.  Thor  hat  Oervandil  über 
die  Elivagar  getragen;  das  ist  durch  sie  bezeugt;  Oervandill 
kehrt  heim  als  der  gatte  der  Groa;  daran  ist  nicht  mehr  zu 
zweifeln.  Aber  dass  diese  tatsachen  einander  unentbehrlich 
seien  oder  überhaupt  nur  zusammengehörten  —  das  ist  keines- 
wegs bewiesen. 

Und  nun  betrachte  man  die  art,  wie  Thor  den  Oervandil 
über  die  Elivagar  trägt.  In  einem  korb  (mais),  der  unabhängig 
von  unserer  sage  im  HarbarÖslied  als  requisit  Thors  erscheint, 
soll  Oervandill  so  gelegen  haben,  dass  der  taschenmesserartig 
zusammengeklappte  körper  ganz  in  ihm  verschwand;  nur  den 
fuss  schiebt  er  einmal  eine  zehe  breit  heraus:  und  sofort  er- 
friert die  zehe.  Diese  Vorstellung  ist  ist  für  den  Oervandil 
als  den  aus  dem  wiutcrland  zurückkehrenden  gatten  der  Groa 
durchaus  ungeheuerlich:  1.  weil  es  in  der  gesamten  mythik 
wol  aller  Völker  ein  unicum  wäre,  dass  ein  in  mannesgestalt 
gedachter  gott  eines  anderen  bedurfte  um  aus  dem  dämonen- 
gebiet  in  das  götterreich  zu  gelangen;  2.  weil  in  sämtlichen, 
deutschen  wie  ausserdeutschen,  parallelen  göttersagen  der 
Jahreszeitengott  die  Wanderung  in  und  aus  dem  winterland 
ohne  fremde  hülfe  bewerkstelligt;  3.  weil  man  sich  unwill- 
kürlich fragt,  wie  wol  der  gott  in  das  riesenland  hinüber- 
gelangt sei,  da  er,  um  wider  herüber  zu  kommen,  der  schul- 
tern Thors  bedurfte;  4.  weil  sich  die  ganze  anschauung  dieser 
schnürbündel-beförderung  nur  mit  einer  gewaltanstrengung  in 
die  auffassung  einränken  lässt,  dass  der  vollausgestaltete,  an 
körpergrösse  Thor  ebenbürtige  gott  auf  dem  rücken  des  don- 
nerers  in  einem  korb  zusammengekauert  den  weg  über  die 
Elivagar  gemacht  hätte.     Aus  allen  diesen  erwägungen  schliesse 


118  BEER 

ich,  (lass  mit  der  anschauuug  von  Oervaudils,  des  gattcn  der 
Gioa,  lückkehr  aus  dem  riesenlande  zu  seinem  liairenden 
wcib,  der  grünenden  erde,  eine  weitere  anscliauung  verwachsen 
ist,  der  zu  folge  der  im  winterlande  geborene  frühling  in  der 
befruchtenden  gewitterwolke  auf  den  schultern  des  Thor  seine 
einkehr  in  die  weit  hält,  und  berufe  mich  darauf,  dass  diese 
anschauung  des  im  lenze  neugeborenen  jahreszeitengottes  nicht 
allein  deutsch  zu  belegen  ist,  sondern  in  der  griechischen 
Apollonsage  gleichfalls  sich  neben  dem  heimkehrmythus  un- 
abhängig entwickelt  hat.  Die  episode  von  dem  erfrorenen  zeh 
bin  ich  dann  geneigt  für  eine  hübsche  erfindung  zu  halten, 
um  eine  dritte  anschauung:  die  benennung  eines,  vielleicht  im 
lenze  erscheinenden  sternes  mit  Oervandils  namen,  zu  der 
anderweitigen  Überlieferung  in  beziehung  zu  setzen;  aus  einer 
derartigen,  anklang  findenden  episode  würde  sich  dann  leicht 
die  wunderliche,  als  ursprünglich  kaum  denkbare  benennung 
eines  sternes  nach  der  zehe  eines  gottes  erklären. 

Es  ist  noch  eine  andere  lösung  möglich.  Oervandill  trägt 
in  seinem  namen  eine  beziehung  zu  dem  himmlischen  feuer. 
Nun  lehrt  eine  eingehende  Untersuchung  der  deutschen  wie, 
es  scheint,  der  vedischen  und,  vielleicht,  auch  der  griechischen 
niythik,  dass  in  der  volksanschauung  sonnenfeuer  und  blitzfeuer 
unzertrennlich  sind,  fortwährend  vermischt,  nahezu  als  das 
nämliche  betrachtet  werden.  Es  ist  dies  ja  im  gründe  gar 
nicht  anders  zu  erwarten,  da  die  naive  naturanschauung  die 
stets  verketteten  und  auseinander  scheinbar  entspringenden 
Wechsel  von  wetternacht  und  sonnengefunkel  als  eine  einheit, 
als  das  wirken  der  nämlichen  gottheit  empfinden  musste.  Da 
es  sich  nun  nachweisen  lässt,  dass  Loki  und  Thor  in  ihrer 
festgeprägteu  zweieinigkeit  die  einheit  von  donner  und  blitz 
bedeuten  1),  so  ist  die  möglichkeit  vorhanden,  dass  eine  ähnliche 


')  Genau  wie  Thor  und  Thialfi;  ebenso  ist  die  biutsfreundschaft 
von  OÖln  und  Loki  zu  erklären:  die  Verknüpfung  von  stürm-  und  ge- 
wittererscheinungen;  ebenso  auch  die  vielbesprochenen  eddischon  drei- 
einigkeiten,  welche  man  ganz  richtig  auf  wasser,  luft  und  feuer  aus- 
deutete, aber  abstract  naturphilosophisch  als  Verkörperung  der  drei 
demente  auffasste,  statt  concret  als  die  schöpferische  dreilieit  von  blitz, 
Sturm  und  regen  in  der  befruchtenden  gewitterwolke. 


DER  SrOFF  DES  ORENDEL.  1 1>I 

Vorstellung;'  den  Thor  in  seineni  wolkeukorb  die  liininielsfeuci- 
gottheit,  in  der  wölke  den  blitz  tragen  Hess.') 

Mit  dieser  controverse  ist  die  sagengeschichtliche  kritik 
sämtlicher  Überlieferungen  und  im  wesentlichen  unsere  Unter- 
suchung beendet.  Der  verlauf  derselben  war,  dass  in  dem 
ersten  paragrapben  die  Charakteristik  der  Überlieferungen  er- 
folgte, in  dem  zweiten  die  widergabe  und  controlierung  der 
Müllenhoftschen  kritik,  in  dem  dritten  bis  fünften  die  an- 
bahnung  einer  selbständigen  sagengeschichtlichen  erörterung 
vermittelst  der  Sammlung,  auoidnung  und  vergleichung  eines 
reichhaltigen  deutschen  und  ausserdeutschen  analogicnmatcrials, 
auf  dessen  grundlage  in  dem  letzten  paragraphen  die  end- 
gültige kritik  der  Oreudelsage  und  ihrer  versciiiedenen  Ver- 
sionen vorgenommen  werden  durfte.  Indem  wir  das  ergebnis 
unserer  Untersuchung  zusammenfassen,  beantworten  wir  zu- 
gleich die  vier  Vorfragen  der  einleitung,  wenn  auch  in  um- 
gekehrter reihenfolge: 

Dem  indogermanischen  urvolke  war  gleich  semitischen 
Stämmen  eine  naturanschauung  eigentümlich,  der  zu  folge  der 
sommergott  im  winter  als  abwesend  und  im  frühling  als  zu- 
rückkehrend gedacht  wurde.  Dieser  primitive  mythus  hat 
griechisch  eine  mehrfache,  deutsch  eine  vielfache  ausprägung 
erhalten  und  ist  in  beiden  Völkern  als  eine  heimkehrsage  in 
die  heldensage,  deutsch  auch  in  das  märchcn  übergetreten. 
Eine  Sondergestaltung  hat  der  deutsche  mythus  in  der  sage 
von  Aurvandil,  das  ist:  dem  glanzwandler,  erfahren.     DicscU>c 


')  Zu  der  ganzen  Vorstellung  des  Thor,  der  den  Oorvaiidil  ;mt  den 
schultern  über  die  Elivagur  trägt,  kaiiu  ich  mich  nicht  enthalten  zwei 
unautgeklärte  paralleliiberlieterungen  wenigstens  anzuführen:  die  deutsche 
der  Wielandsagc,  derzut'olge  Wate  seinen  söhn  Wieland  auf  den  schul- 
tern durch  den  sund  trägt  (merkwürdig  hesunders  durch  die,  wie  es 
scheint,  sturmriesenartige  natur  des  vaters  und  die  alfeuhalte  schnüede- 
fertigkeit  des  sohnes);  und  die  griechische  der  Orionsage,  welche  man 
allzuschnell  mit  der  ausdeutung  auf  Vorgänge  des  Sternenhimmels  abzu- 
tun  gedachte:  Orion,  riesisch  vorgestellt,  ein  ungestilui  stürmender  jäger, 
wölken  und  wogen  türmend  und  wirbelnd,  wird  auch  vorget^tellt  den 
schmiedegenossen  des  Hephäst  Kcdalion  (das  ist  fenerbrand)  auf  den 
schultern  (gen  Sonnenaufgang)  tragend.  Der  Vollständigkeit  halber  sei 
auch  die  Christophoroslegende  erwähnt,  obwol  aus  ihr  für  unseren  fall 
nichts  zu  lernen  ist. 


120  BEER,  DER  STOFF  DE«  ORENDEL. 

ist  iu  drei,  getrennt  und  unabhängig-  von  einander  entstandenen 
und  entwickelten  fassuugeu  überliefert.  Die  norwegische  fas- 
sung  gibt  dem  mythus  von  dem  heimkehrenden  lenzesgott  die 
Wendung,  dass  er  aus  dem  winterlaud  zu  der  ergrünenden 
erde  als  seiner  gattin  kommt  (was  in  der  Überlieferung  mit 
einer  disparateu  anderweitigen  naturanschauung  zusammen- 
geriet); die  dänische  fassung  gibt  dem  mythus  die  wendung, 
dass  der  heimkehrende  lenzesgott  den  winterdämon  erschlägt 
und  die  von  ihm  um  buhlte  Jungfrau  (ein  chthonisches  wesen) 
sich  vermählt;  die  deutsche  fassung  vereinigt  beide,  im  gründe 
unvereinbaren  Wendungen,  indem  sie  den  lenzesgott  aus  der 
gcfaugenschaft  des  wiuterdämons  zurückkehrend  den  seine 
gattin  (kein  chthonisches  wesen)  umbuhlenden  winterdämon 
erschlagen  lässt,  und  fügt  noch  zwei  weitere  anschauungen 
hinzu:  1.  dass  der  lenzesgott  verhaftet  ist,  sich  dereinst  widerum 
iu  die  gefangenschaft  des  winters  zu  begeben;  2.  dass  der 
Jahreszeitengott  im  winter  ein  bettelhaftes  gewand  genommen 
hat,  so  dass  der  heimkehrende  lenzesgott  seinem  weibe  un- 
kenntlich vor  die  äugen  tritt.  Das  Verhältnis  der  drei  Über- 
lieferungen ist  mithin  dahin  zu  bestimmen,  dass  alle  drei,  auf 
liedern  beruhend,  den  nämlichen  mythus  in  auseinandergehen- 
den entvvickelungen  darstellen,  das  ist:  drei  selbständige  ab- 
artungen  des  nämlichen  mythus  bieten,  die  dänische  und  die 
norwegische  abartung  sich  am  weitesten  von  einander  entfernen, 
die  deutsche  zwischen  beiden  in  der  mitte  steht,  die  dänische 
verhältnismässig  einfach  überliefert,  die  norwegische  mit  ander- 
weitigen Überlieferungen  versetzt  ist,  die  deutsche  eine  reihe 
von  entwickelungen  bis  zur  spielmännischen  brautfahrts-, 
kreuzzugs-  und  reliquienlegende  durchlaufen  hat;  mit  einem 
werte:  dass  die  drei  Überlieferungen  drei  abarten  des  nämlichen 
mythus  auf  verschiedenen  cntwickelungtstufen  und  mehr  oder 
minder  in  verquickung  mit  fremden  dementen  darstellen. 
LEIPZIG.  L.  BEER. 


DIE  ent8Tp:hijng  des  deutschen 

REDIVEU8E8. 


I. 

Ijachmauns  theorie  des  deutschen  rciniverscs  ist  von  der 
anschauuug  getiairen,  dass  dieser  vers  sich  auf  einer  reihe 
von  worttönen  aufbaut,  welche  in  gewisser  weise  zusammen- 
treten. Er  redet  wol  gelegentlich  von  'füssen',  aber  ich  kann 
nicht  finden,  dass  seine  verslehre  wesentlich  dadurch  beein- 
flusst  wäre.  So  sagt  er  zwar  z.  b.  gleich  zu  eingang  der 
ersten  abhandlung  über  althochdeutsche  betonung  und  vers- 
kunst  (Kl.  sehr.  I,  358):  'Hingegen  der  deutsche  vers,  beson- 
ders der  ältere,  bis  gegen  das  sechzehnte  jahrlunulert  wo  die 
romanische  form  überwiegt,  hat  eine  bestimmte  zahl  fdsse', 
aber  er  qualificiert  dies  sofort  wider  dahin  'das  iieisst  hebungen 
die  in  höher  betonten  silbcu  bestchn  als  je  die  nachfolgende 
Senkung:  und  die  Senkungen  vor  und  zwischen  den  hebungen 
dürfen  auch  ganz  fehlen'.  Das  verdienst  dieser  anschauung 
gegenüber  das  rhythmische  princip  der  gliederung  des  vcrscs 
in  füsse  betont  zu  haben,  gebührt  in  erster  linie  Kiegcr. 
Aber  seine  ausführungen  über  nihil,  verskunst  (in  Plönnies' 
Kudrun,  1853,  241—303;  für  den  in  rede  stehenden  punkt 
kommen  besonders  s.  260  ff.  in  betracht)  sind  von  seinen  nach- 
folgern    überhaupt  lange  nicht  nach  gebühr  gewürdigt  worden. 

Bei  einer  auffassung  wie  der  Lachmanns  mu.sste  die  Unter- 
suchung der  rhythmischen  einzelformen  des  reimverses  in  den 
hintergrund  treten.  Die  angesetzte  grundform  (x)-'-(x) - 
(x)  '  (x)  '  k<»»Dte  zwar  durch  synkope  der  Senkung  und  durch 
auflösung  betonter  wie  unbetonter  silben  (wie  ich  gleich  für 
silbenverschleifung  sagen  will)  variiert  werden,  und  diese 
Variationen   konnten  an  den  vcrscliicdcnstcn  stellen  des  vcrses 


1-22  SIE  VERS 

eintreten,  oft  auch  im  mehreren  stellen  des  verses  zugleich. 
Aber  man  scheint  sich  kaum  je  bewusst  und  im  zusammen- 
hange die  frage  vorgelegt  zu  haben,  in  welcher  weise  die  so 
entstandenen  unterfornien  typisch  von  einander  verschieden 
sind,  und  welche  Innern  zusammenhänge  zwischen  den  einzel- 
nen Variationen  bestehen.  Erst  allmählich  hat  sich  die  auf- 
merksamkeit  auf  einzelne  solche  punkte  gelenkt.  Vorange- 
gangen ist  Bartsch  mit  der  aufdeckung  der  'cretici'  in  der 
Schlusszeile  des  Nibelungenliedes,  d.  h.  der  neigung  zur  Syn- 
kope der  zweiten  Senkung  im  vierhebigen  stumpfen  verse 
(Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied,  1865,  s.  142  ff.),  einer 
neigung  welche  später  R.  Becker,  Der  altheimische  minnesang, 
1882,  s.  50  ff.,  für  die  älteste  lyrik,  neuestens  Seemüller  für 
den  sog.  Seifried  Helbling  (einleitung  zur  ausgäbe,  1886, 
s.  XL VIII  f.)  bestätigt  fand,  und  die  sich,  wie  unten  gezeigt 
werden  soll,  durch  die  ganze  ältere  reiradichtung  durchzieht 
und  zu  ihren  besonderen  charakteristicis  gehört.  Bei  Becker 
a.  a.  0.  finden  sich  dann  noch  weitere  beobachtungen  ähnlicher 
art  über  verse  mit  anderer  hebungszahl. 

Als  einen  weiteren  wesentlichen  fortschritt  der  theorie  über 
Lachmann  hinaus  betrachte  ich  es,  dass  man  angefangen  hat 
den  dipodischen  bau  des  deutschen  reimverses  gebührend  zu 
l)etonen.  Hier  ist  Grein  vorangegangen,  indem  er  in  seiner 
bearbeitung  von  Vilmars  Deutscher  verskunst  (1870)  §  17  f. 
zunächst  für  Otfrid  auf  die  Scheidung  von  haupt-  und 
nebenhebungen  drang.  Sieben  jähre  nach  ihm  hat  dann 
0.  Schmeckebier  in  seiner  dissertation  Zur  verskunst  Otfrieds 
(Kiel  1877)  s.  3 — 7  dasselbe  gelehrt,  ohne  Grein  zu  nennen, 
also  wol  ohne  kenntnis  von  ihm  zu  haben.  Neuestens  ist  denn 
endlich  das  Schlagwort  'dipodie'  auch  für  die  ältere  deutsche 
metrik  in  die  Öffentlichkeit  eingeführt  durch  R.  M.  Meyer  in 
seinen  verdienstlichen,  leider  nur  wenig  anschaulich  geschrie- 
benen Grundlagen  des  mhd.  strophenbaus  (Strassburg  1886  = 
Quellen  und  forschungen  LVIIl).i)     Aber  an   einer  alle  diese 


')  Nur  geht  Meyer  wider  zu  weit,  wenn  er  schliesslich  die  kata- 
lektische  trochaeische  dipodie  als  einziges  grundmass  des  deutschen 
verses  (resp.  satzea  überhaupt)  hinstellt.  Es  erklärt  sich  dies  daraus, 
dass  auch  er  noch  das  alte  scheni;i  '  vier  hebungen  stumi)f'  für  die 
einzige   grundforui   des   deutschen   reimverses   hält,   obwol  es  eigentlich 


DIE  ENTSTEHl  NG  DES  DEUTSCHEN  KEIMVERSES.  12;: 

eiuzelueii  ausätze  ziisamnicufassendeu  uucl  weiteifübieudeu  gc- 
sammttheorie  des  deutsehen  reimverses  fehlt  es  doch  immer 
noch,  und  nameutlieh  ist  das  Verhältnis  des  reimverses  zum 
alliterationsvers  noch  immer  ein  ungelöstes  rätsei  trotz  einer 
menge  von  einzel versuchen,  Übereinstimmungen  und  Verschie- 
denheiten in  diesem  oder  jenem  punkte  nachzuweisen.  Zu 
einer  solchen  theorie  miJchten  die  nachfolgenden  ausflihrungeu 
einen  beitrag  liefern.  Ich  sage  ausdrücklich  beitrag,  da  ich 
durchaus  nicht  den  anspruch  auf  abschliessende  darstellung 
erhebe.  Doch  hotte  ich  immerhin,  dass  man  dem  folgenden 
System,  das  ich  im  anschluss  an  meine  metrischen  arbeiten 
auf  dem  gebiet  der  alliterationsdichtung  in  den  letzten  jähren 
mehrfach  durchgeprüft  habe,  die  anerkennung  nicht  versagen 
wird,  dass  es  von  einem  richtigen  historischen  gesichtspunkt 
ausgeht  und  eine  reihe  von  erscheiuungen  in  einen  ungezwunge- 
nen Zusammenhang  bringt,  die  bisher  sich  einer  erklärung  ent- 
zogen. Ich  werde  mich  bemühen,  das  was  ich  vorzuljringen 
habe,  mit  fernhaltung  alles  nicht  streng  notwendigen  beiwerkes 
80  schlicht  wie  möglich  darzustellen,  auch  ohne  einzelpoleniik, 
80  weit  dies  angeht:  denn  diese  würde  nur  dazu  dienen  das 
gesammtbild  zu  verwirren.  Ebenso  ist  es  mir  im  augenblick 
unmöglich,  überall  im  einzelnen  festzustellen,  wem  das  erste 
Urheberrecht  au  den  gedankcn  gebührt,  die  ich  hier  verwerte. 
Als  mein  eigentum  möchte  ich  also  nur  die  Zusammen- 
fassung derselben  in  der  bestimmten  richtung  in  der  ich  sie 
vortrage,  in  anspruch  nehmen. 

Ich  beginne  mit  ein  paar  erörterungen  allgemeinerer  uatiir. 
denen  man  iiiren  elementaren  cliarakter  zu  gute  halten  möge. 
Gerade  dieser  ist,  wenn  ich  nicht  irre,  daran  schuld,  dass  die 
betrettenden  tatsaciien  in  der  praxis  unserer  zünftigen  altdeut- 
schen metriker  nicht  zu  ihrem  rechte  gekommen  sind.  Eigent- 
lich neues  habe  ich  bei  diesen  vorerwägungen  wol  gar  nicht 
vorzubringen;  namentlich  berühre  ich  mich  sehr  oft  mit 
den  in  vieler  beziehung  tretflichen  auseinandersetzungcn  von 
E.  Stolte,  Metrische  Studien  über  das  deutsche  \<dkslicd,  Crctcld 


schwer  erfindlich  ist,  wie  man  (iaraiif  gekommen  ist,  ^cra<le  (lieses 
Schema  xur  t^rundlaf^e  aller  iihri^^en  zu  machen,  da  doch  /..  lt.  lici  Otfrid 
ca. '.)()",„  aller  versc  klingend  ausgehen,  <l.  h.  ganz  anderen  rhythmischen 
Charakter  haben. 


124  SIEVERS 

1883,  und  deu  daran  angeknöpften  bemerkungen  von  Paul 
im  Lit.-ßlatt  1884,  460  fi",  auf  die  ich  ein  für  allemal  ver- 
weise. 

1.  Der  unterschied  zwischen  der  messung  nach  dipo- 
dieu  und  der  nach  einzelfüssen  (monopodien)  besteht, 
in  der  deutschen  metrik  wenigstens,  im  wesentlichen  darin, 
dass  in  der  dipodie  ein  fuss  dem  andern  untergeordnet  ist, 
d.  h,  schwächeren  ton  hat.  Dieser  unterschied  ist  auch  prak- 
tisch von  grosser  bedeutung.  So  viel  coordinierte  versteile 
(resp.  rhythmische  einheiten),  so  viele  höchstbetonte  silben  oder 
Wörter  kann  ein  vers  enthalten.  Während  ein  vierfüssiger 
vers  vier  gleichwertige  icten  enthalten  darf,  kann  ein  vers  aus 
zwei  dipodien  deren  nur  zwei  haben :  die  icten  der  unterge- 
ordneten füsse  (nebenfüsse)  müssen  auf  Wörter  oder  silben 
von  schwächerem  ton  fallen  (vgl.  Vilmar-Grein  §  17).  Hieraus 
folgt,  dass  die  kunstdichtung,  insofern  sie  auf  Steigerung  des 
gedankeninhaltes  der  einzelzeile  ausgeht,  zur  entwicklung  der 
fussmessuug  hindrängt:  je  grösser  die  anzahl  starker,  gleich- 
wertiger icten,  um  so  grösser  ist  auch  die  anzahl  gewichtiger 
Wörter,  die  sich  in  einem  verse  unterbringen  lassen.  Ein  stück 
wie  die  von  Meyer  a.  a.  o.  50  aus  einem  andern  gründe  her- 
vorgehobenen Zeilen  Gottfrieds  (Tristan  60  ff.) 

ir  süeze  sür,  ir  liebez  leit, 

ir  herzeliep,  ir  senede  not, 

ir  liebez  leben,  ir  leiden  tot, 

ir  lieben  tot,  ir  leidez  leben 

mit  den  vier  gleichtönenden  icten  zum  ausdruck  der  doppelten 
antithese  in  jeder  verszeile,  würde  man  in  einem  weniger 
kunstraässigen  werke  wol  vergeblich  suchen.  So  lange  der 
reimvers  als  volksmässige  dichtungsform  besteht,  ist  die  volks- 
tümliche dichtung  dem  dipodischen  bau  getreu  geblieben,  bis 
auf  den  heutigen  tag.  Aber  auch  die  kunstdichtung  benutzt 
den  unterschied  dipodischer  und  monopodischer  messung  mit 
mehr  oder  weniger  vollem  bewustsein  oder  doch  mehr  oder 
weniger  sicherem  empfinden.  Goethe  ist  auch  hier  der  uner- 
reichte meister.i)  Als  typisches  beispiel  für  ausgeprägte  fuss- 
messung  will  ich  nur  etwa  anführen 


1)  Einige  treffende  ausführungen  über  Goethes  rhythmik  siehe  bei 
Stolte  8.  4S  ff.   Interessant  ist  besonders  auch  der  s.  öl  wider  abgedruckte 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIM  VERSES.  125 

kennst'  du  das  |  länd  wo  |  die  ci-  |  tronen  I  blü'hn, 
im  II  dunkeln  \  läub  die  |  guido-  |  rängen  |  glii'hu, 
ein  II  sänfter  |  wind  vom  |  bläuen  |  himmel  |  weht, 
die  II  myrte  |  still  und  |  hoch  der  |  lörbeer  |  steht? 

11.  s.  w.  Hier  sind  alle  icten  ein  wenig,  aber  gleichmässig,  ge- 
dämpft, der  ganze  rhythmus  getragen.  Ictus  auf  schwacher 
silbe  kommt  nur  einmal  vor,  auf  dem  worte  die  der  ersten 
zeile.  Selbst  die  natürliche  dipodische  betonungsabstufung 
von  compositis  wird  dem  monopodischen  rhythmus  zu  liebe 
verändert:  goldorängen  mit  zwei  vollen  tönen,  weil  beide  teile 
gleiches  (malerisches)  gewicht  haben:  wie  absurd  wäre  hier 
göldorangen\  Hierneben  halte  man  z.  b.  als  beleg  für  dipodi- 
schen  gang  eine  Strophe  wie 

sah  ein  |  knäb  ein  ||  rö'slein  |  stehn, 
rü'slein  |  auf  der  ||  höiden, 
war  so  I  jung  und  ||  morgen-  |  sclm  n, 
lief  er  |  schnell  es  ||  näh  zu  j  sehn, 
säh's  mit  |  vielen  ||  freuden. 

Ebenso  schön  zeigt  sich  der  gegensatz  zwischen  dipodie  und 
monopodie  auch  im  dramatischen  vers,  am  aller  lehrreichsten 
und  kunstvollsten  vielleicht  im  Faust.  Fausts  mouolog  Habe 
nun  ach  jihilosophie  beginnt  dipodisch.  Aber  mit  dem  Wechsel 
der  Stimmung  wechselt  auch  der  rhythmus.  0  sähst  du  voller 
mondenschem  bis  in  deinem  tau  gesund  mich  baden  zeigt  fuss- 
messung,  mit  Weh\  steck  ich  in  dem  kerker  noch  beginnen 
dann  abermals  dipodien,  dann  mit  Ifa!  welche  ivonne  ßesst  in 
diesem  blick  wider  monopodien,  und  so  fort.  Aehnlich  sind 
auch  die  reden  des  schülers  durch  monopodischen  bau  charak- 
terisiert, während  Mephisto  sich  ihm  gegenüber,  wie  überhauj)t 


brief  an  Kaiser,  bei  dem  es  sich  in  letzter  Instanz  übrigens  doch  wol 
um  rhythmenwechsel,  |d.  h.  bindung  steigender  und  fallender  fiisse  oder 
dipodien  in  verschiedener  anordnung  handeln  wird.  —  Auch  was  Zarncke, 
Ueber  den  fünffiissigen  jambus  s.  90  f.  über  den  wirkungsvollen  Wechsel 
von  fünffUsslern  und  vierfüsslern  in  Goethes  gedieht  Ilmenau  ausführt, 
berührt  sich  nahe  mit  der  hier  autgestellten  Unterscheidung.  Die  fiinf- 
füssigen  Jamben  lassen  wegen  der  ungeraden  zahl  ihrer  füsse  keine 
dipodische  gliederung  zu,  sind  also  hier  wie  überall  nionopodisch  ge- 
baut. In  den  vierfüsslern  aber  brechen  sogleich  die  dipodien  durch, 
und  gerade  auf  diesem  Wechsel  beruht  zum  grossen  teile  die  schöne 
contrastwirkung  der  beiden  verschiedenen  versgattungen. 


12ß  SIKVERS 

meist,  der  dipodie  bedient.  Auch  im  dialog:  zwischen  Faust 
und  Wagner  zeigt  sich  ein  ähnlicher  gegensatz.  Wagner  redet 
strict  monopodisch,  und  dabei  ist  denn  der  gegensatz  zwischen 
dem  schweren  rhythmus  und  dem  dürftigen  inhalt  seiner  reden 
von  lebensvollster  Wirkung');  Fausts  reden  neigen  dagegen  auch 
in  dieser  scene  mehr  zur  dipodie  hin. 

Durch  dieses  'mehr'  ist  zugleich  eine  einschränkung  an- 
gedeutet, die  man  bei  dieser  ganzen  frage  zu  machen  hat. 
Scharf  ausgeprägt  ist  eigentlich  nur  die  dipodische  messung 
der  volkstümlichen  dichtung,  und  aus  leicht  ersichtlichen  grün- 
den. Die  regel,  dass  je  zwei  nachbarfüsse  eine  höhere  einheit 
l)ilden  müssen,  in  welcher  der  eine  fuss  dominiert,  ist  ja  leicht 
durchzuführen.  Und  diese  einfache  regel  bestimmt  allein  schon 
den  rhythmischen  Charakter  des  verses.  Es  verschlägt  nichts, 
wenn  nun  die  einzelnen  dipodien  unter  einander  abermals  ab- 
gestuft sind;  im  gegenteil,  das  wird  sogar  gewöhnlich  der  fall 
sein,  und  es  trägt  auch  nur  zum  wollaut  des  verses  bei.  Diese 
abstufung  der  dipodien  unter  einander  gehört  aber  nicht  in 
das  gebiet  der  rhythmik  als  solcher,  sie  hängt  vielmehr  von 
dem  gedaukeninhalt  und  -gewicht  der  einzelnen  dipodien 
ab.  Für  sie  lässt  sich  also  keine  allgemeine  regel  geben: 
jeder  einzelfall  hat  seine  besondere  form,  die  dem  inhalt  an- 
gemessen ist.  Innerhalb  der  dipodie  aber  muss  eine  ab- 
stufung stattfinden;  das  ist  ein  wirkliches  rhythmisches  gesetz 
oder  princip.  Wir  können  also  sagen,  dass  innerhalb  der 
dipodie  die  beiden  füsse  rhythmisch  gebunden  sind,  die  dipo- 
dien unter  einander  sind  principiell  gleichwertig,  ihre  abstufung 
hängt  von  der  freien  willkür  des  dichters  ab. 

Ueberträgt  man  dies  auf  den  'monopodischen'  vers,  so  er- 
gibt sich  das  resultat,  dass  in  diesem  die  einzelnen  füsse 
principiell  gleichwertig  sind,  aber  doch  auch  wider  der  freien 
abstufung  nach  dem  willen  des  dichters  unterliegen.  Ja,  eine 
gewisse  abstufung  muss  stattfinden,  damit  der  vers  nicht  zu 
einem  eintönigen  geklapper  werde.  Diese  abstufung  aber  lässt 
sich,  eben  weil  es  sich  abermals  um  einzelfälle  handelt,  wider 
nicht   unter   bestimmte   allgemeine   sätze   bringen.     Sollte  man 


')  Wie  ganz   anders   ergänzen   sich   rhythmus   nnd   inhalt  z.    I).   in 
Fausts  monoixxlischem  monolog  in  walil  und  höhle! 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  127 

nuu  darauf  gestützt  deu  unterschied  der  beiden  weisen  niclit 
rein  negativ  dadurch  ausdrücken,  dass  man  zwischen  dipo- 
discher  und  adipodischer  niessung  schiede?  Nützlich  wird 
es  immerhin  sein,  sich  das  negative  unterscheid uugsmoment 
stets  gegenwärtig  zu  halten.  Aber  viel  wäre  doch  mit  dieser 
bloss  negativen  terminologie  nicht  gewonnen.  Es  liegt  doch 
auch  ein  positiver  unterschied  vor,  eben  dass  im  'adipodischen' 
verse  die  einfachsten  rhythmischen  elemente,  die  füsse,  prin- 
cipiell  gleichw' ertig  sind,  und  sich  nur  nach  einzel- 
bedürfnissen  abstufen,  im  dipodischen  verse  aber  sich 
je  paarweise  gruppieren  und  innerhalb  jeder  gruppc 
principiell  ungleichwertig  sind.  Dieser  unterschied  be- 
dingt eine  ganz  verschiedene  Vortragsweise.  Der  Vortrag  des 
adipodischen  verses  ist  an  sich  ruhiger  und  getragener;  einzelne 
besonders  starke  sinnesaccente  werden  unter  umständen  wol 
deutlich  scharf  hervorgehoben,  aber  das  weniger  bedeutsame 
wird  wider  in  sich  mehr  nivelliert.  Und  das  sollte  man,  meine 
ich,  doch  auch  positiv  im  namen  ausdrücken.  Ich  möchte  also 
doch  bei  den  oben  vorgeschlagenen  namen  dipodisch  und 
monopodisch,  oder  vielleicht  einfacher  j)odisch,  stehen 
bleiben.  Innerhalb  der  'podischen'  verse  könnte  man  dann 
wider  zwischen  freierer  und  strengerer  durchfiihrung  des  niono- 
jiodischeu  princips  unterscheiden,  je  nachdem  der  einzclvers 
weniger  oder  mehr  auch  tatsächlich  gleichwertiger  füsse  ent- 
hält. Der  letztere  piinkt  al)er  hängt  widerum  von  dem  In- 
halt, der  Stimmung,  überhaupt  dem  Charakter  des  einzelnen 
verses  oder  gedichtes  ab. 

Parallelen  zu  dem  was  hier  über  deutschen  \ersbau  ge- 
sagt ist,  sind  in  den  kunstliteraturen  der  anderen  germanischen 
Völker  leiciit  und  sattsam  zu  finden.  Der  fünffiissige  Jambus 
wird  z.  1).  bei  den  Engländern  nicht  anders  gemessen  als  bei 
uns,  d.  h.  monopodisch:  aber  die  volkstündichen  liedchen  in 
vierhebigen  versen,  die  Shakespeare  z.  b.  einzulegen  liebt,  sind 
wider  meist  dipodisch  gei)aut  im  anschluss  an  die  allgemein 
gültige  art  des  Volksliedes. 

2.    Wir   besitzen  jetzt  zwei  grundverschiedene  vortrairs 
weisen  die  ich  als  die  rec^tierende')  und  die  takt  icrcnde 

')  Stolte,  welclicr  iil)t'r  dcMi  iiiitor.scliicil  dicsor  licitlcn  vortra;:»- 
weisen  auch  beroits  cino  roilu?  trolVcndcr  htuuorkunfjen  tfilit  (olinc  jotlocli 


128  SIEVERS 

bezeichnen  will.  Die  erstere  herrscht  beim  kunstmässigen 
Sprech  Vortrag,  d.  h.  in  der  recitation  und  declamation.  Sie 
bringt  vorzugsweise  den  mit  dem  versrbythraus  sich  ver- 
schlingenden natürlichen  satzrhythmus  zum  ausdruck.  Bei 
dieser  Vortragsweise  zeigen  alle  nicht  absolut  fremdartigen  verse 
einen  regelinässigen  Wechsel  von  hebung  und  Senkung, 
Die  Senkungen  sind  in  der  regel  einsilbig,  oft  aber  auch  zwei- 
silbig (im  daktylischen  und  anapästischen  vers,  auch  im  sog. 
knittelvers  und  gelegentlich  sonst),  selten  länger,  z.  b.  dreisilbig 
im  Blücherliede: 

was  II  blasen  die  trom-  |  peten  ?  hu-  |  sären  her-  |  aus. 
Dagegen  kennt  diese  Vortragsweise  keine  synkope  der 
senkungi),  und,  was  damit  im  Zusammenhang  steht,  keine 
icten  auf  silben  die  in  prosa  stets  unbetont  sind,  d.  h. 
die  nicht  auch  in  der  prosa  einen  wenn  auch  noch  so 
schwachen  rhythmischen  nebenton  haben. 

Dem  gegenüber  herrscht  die  taktierende  Vortragsweise 
allgemein  im  gesang;  ausserhalb  derselben  finden  wir  sie  auch 


wie  es  scheint  auf  das  vorkommen  des  streng  taktierenden  Vortrags 
ausserhalb  des  gesanges  aufmerksam  geworden  zu  sein),  zieht  hierfür 
den  ausdruck  declamatorisch  vor.  Ich  möchte  doch  das  neutralere 
recitierend  für  zweckdienlicher  halten,  namentlich  mit  rücksicht  auf 
seine  Verwendbarkeit  auch  für  die  ältere  dichtung,  die  eine  eigentliche 
declamation  schwerlich  gekannt  haben  wird.  [Erst  nach  der  nieder- 
schrift  des  vorstehenden  geht  mir  Useners  Altgriechischer  versbau,  Bonn 
1SS7,  zu.  Hier  weist  üsener  nachdrücklich  auch  auf  das  volks-  und 
kinderlied  als  erkenntnisquelle  für  altdeutsche  metrik  hin,  z.  b.  'Unser 
alter  deutscher  versbau  ist  noch  heute  in  den  liedern  des  volkes  und 
der  kinder  lebendig.  Trotzdem  dass  mehr  als  zwei  Jahrhunderte  mit 
erfolg  daran  gearbeitet  haben  unserer  dichtung  eine  neue  metrik  zu 
schaffen,  halten  unsere  kinder,  ohne  es  gelehrt  werden,  die  verse  ihrer 
lieder  und  reime  in  deren  alter  wertung  unerschütterlich  fest.  Wir 
müssen  uns  herablassen  bei  ihnen  in  die  schule  zu  gehn ',  s.  63.  In  der 
folgenden  Untersuchung  stützt  sich  Usener  dann  vielfach  gerade  auf 
kindersprüche.  Seine  weiteren  vergleichend  metrischen  folgerungen  ver- 
mag ich  freilich  nicht  zu  teilen,  da  ich  den  reimvers  nicht  für  so  ur- 
sprünglich halten  kann,  als  man  es  gemeinhin  tut] 

')  Abgesehen  natürlich  von  den  nachbildungen  antiker  metra  mit 
zusammenstoss  zweier  icten,  wie  etwa  Choriamben  [spindel  \  hold  dem 
gespinsl  \  gäbe  der  blau-  \  ä'ugigen  Pal-  \  las  du)  oder  hinkversen  {der 
cliü-  I  liäm-  I  be  scheint,  ein  vers  \  für  ktinst-  \  richler)  u.  dgl.,  die 
übrigens  ohne  taktierung  kaum  noch  für  verse  gelten  können. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  129 

im  gesprochenen  kindeilied  und  ähnlich  gebauten  volkstüm- 
lichen Sprüchen.  Hier  wird  die  taktmässige  gliederung  der 
rhythmischen  reihen  in  den  Vordergrund  gestellt,  gegenüber 
dem  natürlichen  rhythnius  des  gesprochenen  (als  prosa  reci- 
tierten)  satzes.  Diese  Vortragsweise  besitzt  sowol  synkope 
der  Senkung  als  icten  auf  silben  die  in  der  prosa  nie 
einen  nebenton  haben  (z.  b.  den  endsilben  zweisilbiger 
Wörter).  Doch  besteht  zwischen  dem  gesang  und  dem  taktie- 
renden Sprechvortrag  jetzt  in  der  regel  der  unterschied,  dass 
im  gesang  die  synkope  an  bestimmte  stellen  des  verses  ge- 
bunden ist  und  also  in  den  correspondierenden  verszeilen  stets 
an  gleicher  stelle  erscheint;  im  gesprochenen  kinderlied  dagegen 
ist  sie  im  princip  frei. 

Beim  gesang  von  liederu  iambischer  oder  trochäischer 
form  kann  die  'synkope'  natürlich  nicht  eintreten.  Dagegen 
ist  regelmässige  'synkope'  sehr  üblich  beim  gesang  von  versen, 
die  bei  recitierendem  Vortrag  mehrsilbige  Senkung  haben, 
also  insbesondere  bei  sog.  daktylischen  versen.  Wir  reci- 
tieren  z.  b. 

hier  ||  sind  wir  ver-  |  sammelt  zu  |  liü'hlichem  |  tun, 
drum  II  brü'derchen  |  ergu  bi-  |  bamus, 

aber  wir  singen  mit  'synkope'  und  prosawidrigem  ictus  auf 
unbetonten  silben,  indem  wir  jeden  sprcclitakt  durch  einschie- 
bung  eines  secundüren  ictus  in  zwei  hälftcn  zerlegen: 

hier  ||  sind  |  wir  ver- 1|  sam-  |  mclt  zu  ||  frii'h-  |  llciiem  ||  tun, 

drum  II  brü'-  |  dcrehen  ||  er-  |  gö  bi- 1|  bii- 1|  müs, 

u.  s.  w.  in  den  correspondierenden  Zeilen  der  strophe.  IJci  echt 
volkstümlichen  niclodien  finden  wir  aber  auch  öfter  eine  freiere 
behaudlung  der  synkoj)e,  so  z.  b.  in  den  bereits  von  Stoltc  s.  7 
hervorgehobenen  liedern 

o  II  Strass-  j  bürg  o  ||  Strilss-  |  bi'irg  du  ||  wunder-  |  scho  ne  ||  sfädt 
da-  II  rinnen  |  liegt  be- 1|  gra-  \  bön  so  ||  niäiini-  |  eher  sid-  j]  dat 
oder 

wir  II  hat-  |  ten  ge- 1|  bau-  |  et  ein  ||  statt-  |  llciies  1|  iiäus 

und  II  (hin  auf ,  g6tt  ver-  |  trau- 1  et  trotz  ||  wrttcr    stürm  und  ||  gräus. 

Noch  freier  als  hier,  wo  doch  immer  noch  eine  gewisse 
regelung  stattfindet,  ist  die  behaudlung  der  synkope  wie  ge- 
sagt im  kinderlied.  Hier  jdlcgt  synkope  gcw("d)nlich  einzu- 
treten   am    Schlüsse    von    versen    die  den  nihtl.  versen  mit  drei 

Beiträge  zur  gesohiclite  der  dentsclicu  spräche.     XII 1.  9 


130  SIE  VERS 

hebunyeii  und  klingendem  scliluss  entsprechen.  Das  schluss- 
wort  erhält  dann  zwei  icten.  Daneben  gibt  es  aber  auch  verse 
mit  zweisilbigem  schlusswort,  das  nur  einen  ictus  trägt.  Diese 
Zeilen  haben  dann  den  Charakter  der  mhd.  vierhebigen  verse 
mit  stumpfem  ausgang  und  auflösung  der  letzten  hebung.  Als 
beispiel  kann  dienen 

backe  1  backe  ||  ki'i-  |  chen, 

der  II  bä'cker  |  hat  ge- 1|  rii-  |  fen : 

wer  will  |  schö  ne  1|  kuchen  1  bücken, 

der  muss  |  hüben  1|  sieben  |  suchen 

u.  s.  w.  Ausserordentliche  mannigfaltigkeit  zeigt  ein  weit- 
verbreiteter Spruch,  den  ich  in  der  von  Winteler,  Kerenzer 
mundart  192,  mitgeteilten  form  gebe,  weil  ich  diese  von  Win- 
teler  selbst   habe  recitieren   hören   und  ihren   rhythmus  sicher 

kenne*): 

ri'ta  I  ri  ta  ||  rö'ss-  |  li, 

z  Wab-  I  stüt  8S  II  älö'ss-  |  li, 

z  Wesa  I  sütt  OS  ||  nünna-  |  hüs, 

da  II  lüego-  |  trf  junk-  ||  fräu9  |  dru  s: 

dl  II  äi  I  sbinnt  ||  sf-  |  da  , 

di  II  ünndar  |  gölld- 1|  wf  -  |  da 

dl  II  drit  I  sbinnt  ||  häbar-  |  kstrüu^): 

phü'ep  mar  |  göp  mis  ||  stetsseli  |  an. 

Aehnliche  beispiele  sind  leicht  zu  finden,  auch  bei  den  übrigen 
verwanten  Völkern.  Eine  reiche  ausbeute  für  das  Studium 
volkstümlicher  rhythmischer  formen  bieten  namentlich  die  eng- 
lischen nursery  rhymes.  Ich  will  abermals  nur  ein  beispiel 
fiir  dipodischen  bau  mit  synkope  der  Senkung  hersetzen: 

göosy  I  göosy  ||  gän-  |  d6r, 
where  |  dö  you  ||  wün-  |  der? 
üp  I  stüirs  and  ||  down-  |  stüirs 
and  II  in  the  |  lüdy's  ||  cham-  |  ber. 
where  I  |  föund  an  ||  old  |  man 
who  II  w6uld'nt  |  süy  his  ||  pray'rs: 
1  II  töok  him  |  by   the  ||  left  |  leg 
and  II  fli'ing  him  |  d6wn  the  ||  stairs. 


')  Ich   vereinfache  nur  die  Orthographie  etwas,    well  es  ja  hier  auf 
eine  genaue  lransscrii)tion  der  mundartlichen  laute  nicht  ankommt. 

2)  Für   diese   beiden    zeilen   kenne  ich   durch  mündliche  mitteilung 
von  Winteler  noch  die  etwas  abweichend  gebauton  Varianten: 
di  II  tsweit  i  sübak  ||  chri'-  |  da 
di  11  drit  |  .^niitzat  ||  habar-  |  kstrüu. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  131 

3.  Was  hier  als  metrischer  oder  rhythmischer  fuss 
oder  takt  bezeichnet  ist,  braucht  nicht  ohne  weiteres  mit  dem 
übereinzustimmen,  was  die  praxis  der  musiker  als  musika- 
lischen takt  durch  taktstriche  abzutrennen  pHegt;  vielmehr 
ist  das  nur  verhältnismässig  selten  der  fall.  Sehr  oft  werden 
zwei  rhythmische  takte  zu  einem  musikalischen  takt  zusammen- 
gezogen, d.  h.  der  sog.  musikalische  dreiviertel-  oder  Sechs- 
achteltakt setzt  sich  meist  aus  zwei  rhythmisch  selbständigen 
dreiachteltakten  zusammen,  der  musikalische  Viervierteltakt 
aus  zwei  zweiviertel-  oder  vierachteltakten.  Auch  der  musi- 
kalische zweivierteltakt  enthält  oft  zwei  rhythmisch  selbständige 
hälften.  Ja  oft  geht  die  rhythmische  teilung  noch  weiter.  j\Ian 
vergleiche  z.  b.: 

musikalisch; 

wir  I  hatten  ge-  |  bauet  ein  |  stattliches  |  haus  =  4  x  '  4^) 
rhythmisch: 

wir  II  hat-  |  ten  ge-  |1  bau-  |  et  ein  ||  statt-  |  liches  ||  htlus  =  S  x  -jt 

oder: 
musikalisch: 

was  I  blasen  die  trompeten  hu-  |  saren  heraus  =  2  x  Vi 
rhythmisch: 

was  II  blasen  |  die  trom-  ||  pe-  |  ten  hu-  ||  sa-  |  ren  lier- 1|  aus  =  S  x  -,8 

oder : 
musikalisch: 

wenn   |  ich    einmal    der  |   herrgott   wiir   mein  |  erstes   wäre  |  das 
=  4  X  -  , 
r  hy  thmisch: 

wenn  ||  ich  ein-  |  mal  der  ||  herrgott  |  wii  r  mein  ||  erstes  |  wä're  |  das 

=  8  X  V» 

oder: 
musikalisch: 

ich  I  weiss  nicht  was  soll  es   be-  j  deuten   dass  |  ich  so  traurig  | 
bin  =  4  X  "^/s 
rh  y  tli misch: 

ich  II  weiss  nicht  was  |  soll  es  be-  ||  dei'i-  |  tön  dass  ||  ich  so  |  traurig 
II  bin  =  8  X  «/«. 

Unsere  musikalische  notierung  bezeichnet  und  zählt  also,  wie 
man  sieht,  niciit  immer  nur  wirklich  einfache  takte,  sondern 
sehr  gewöhnlich  auch  dii)odicn.-) 


*)  Ich   rechne    hier   stets    volle   musikalische   takte,    <1.  h.   über  den 
angegebenen  versschliiss  hinaus  jedesmal  bis  zum  nächsten  taktstricli. 
'^)  Vgl.  hierzu  namentlich  wider  Stolte  und  Taul  a.  a.  o. 

9* 


1 32  SIEVERS 

4.  Ich  kehre  nach  dieser  absch weifung-  zu  den  oben  unter 
2.  gegebenen  beispielen  zurück.  Dass  in  ihnen  das  was  ich 
bisher  'synkope  der  Senkung' genannt  habe,  beim  taktieren- 
den Vortrag  nicht  absoluten  wegfall  der  Senkung,  sondern  deh- 
nung  der  hebung  auf  die  dauer  des  ganzen  fusses  be- 
deutet, darf  ich  wol  als  allgemein  zugegeben  betrachten.  Ebenso 
auch,  dass  der  umgekehrte  fall,  die  erweiterung  des  eigentlich 
zweisilbigen  fusses  auf  drei  oder  vier  sllben,  bei  welchem  man 
im  ahd.  und  mhd.  von  silbenverschleifung  zu  reden  pflegt, 
hier  deutlich  auf  dem  princip  der  auflösung  beruht.  Doch 
besteht  hier  ein  unterschied  zwischen  dem  gesungenen  und 
dem  taktierend  gesprochenen  vers.  Im  gesang  wird  auch  bei 
'auflösung  der  Senkung'  (d.  h.  im  dreisilbigen  fuss  mit 
lauger  hebung)  der  auf  die  Senkung  allein  entfallende  zeitteil 
gespalten,  beim  taktierenden  sprechen  aber  die  hebung  etwas 
verkürzt,  so  dass  also  die  gesamratheit  des  fusses  etwas  gleich- 
miissiger  auf  die  drei  silben  verteilt  wird.  So  ist  in  dem  drei- 
silbigen soetsceli  oben  s.  130  die  Stammsilbe  merklich  kürzer 
als  wenn  man  etwa  die  zweisilbige  (aber  hier  nicht  dem  dia- 
lekt  entsprechende)  form  .scetsU  einsetzen  wollte.  Eher  darf 
man  von  einer  reinen  auflösung  der  hebung  auch  im  tak- 
tierend gesprochenen  vers  reden.  Beide  arten  der  auflösung 
linden  wir  gut  veranschaulicht  in  einem  andern  spruch,  den 
ich  ebenfalls  Winteler  a.  a.  o.  entnehme: 

Ulli  I  fö  gseli  II  singad  |  W  || 
bis  am  I  sünutig  ||  y/a-  |  bo  d,  || 
älli  I  bU'ebfcli  ||  hcUgm-mi  j  gera:  | 
ach  wie  |  bin-i  au  ||  phV-  |  go  t!  ( 

Hier  haben  wir  auflösung  der  hebung  in  fögcüii,  heidm-mi  und 
hin-i  au,  auflösung  der  Senkung  in  bücbcclL  Am  schluss  von 
z.  1  wird  s(f  über  den  ganzen  fuss  ausgehalten,  in  2  und  4 
treten  pausen  zur  füllung  ein;  charakteristisch  ist  der  ausgang 
(/er9  in  3,  das,  als  erst  secundär  aus  einsilbigem  (fusslangem) 
(/em  entstanden,  nur  eine  hebung  trägt.^) 


')  Anmerkungsweise  will  ich  doch  hervorheben,  dasa  bei  dem  un- 
kiinstlerischen  Vortrag  durch  kindesniund  der  dipodische  rhythinus  leicht 
gestört  und  durch  eine  nicht  Hinngcniässc  monopodische  taktierung  er- 
setzt wird.  Namentlich  geschieht  dies  oft  hei  trochäischen  versen 
welche  eigentlich   steigende   dipodien   enthalten.    So  werden  z.  b.  meist 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  i;j:i 

llieinach  erlicbt  sich  nuu  die  frage,  welche  Stellung 
der  altdeutsche  reimvers  in  bezug  auf  rhythmische 
gliederung  wie  auf  Vortragsweise  einnimmt.  Die  ant- 
wort  ist  durchaus  leicht  und  einfach  zu  geben.  Ich  beginne 
mit  dem  zweiten  punkt. 

Wir  wissen  dass  Otfrids  vers  für  den  gesang  bestimmt 
war,  und  dieser  gesang  kann  bei  der  Stellung  des  werkes  von 
dem  kirchengesang  der  zeit  ])rincipiell  nicht  wesentlich  ver- 
schieden gedacht  werden.  Er  war  also  taktierend.  Ferner 
zeigt  nur  der  moderne  taktierende  Vortrag  alle  die  eigenheiten 
noch,  welche  wir  im  ahd.  und  mhd.  reimvers  finden,  d.  h.  vor- 
nehmlich die  Synkope  der  Senkung  und  icten  auf  silben  die 
in  der  prosa  stets  unbetont  sind,  in  zweiter  linie  auch  die 
auflösungen.  Da  nun  keinerlei  nötigung  vorliegt,  zwischen 
die  altdeutsche  und  die  moderne  taktierende  Vortragsweise 
eine  kluft  zu  legen,  so  wird  man  annehmen  dürfen,  dass  unser 
taktierender  Vortrag  (der  ja  längst  nicht  mehr  allgemein  gilt) 
ein  Überbleibsel  des  altdeutschen  taktierenden  Vortrags  ist, 
welcher  wahrscheinlich  einmal  die  gesammte  dichtuug  be- 
hcrrschte.i) 

Bei  Otfrid   finden   wir   noch   keine   sichere   spur  von  dem 

iiionopudiscli  rociticrt  struwwelpeterversc  wie  ob  der  Philipi>  heute  slill 
\\  wvl  bei  lisclie  sitzen  tvill  u.  dgl.;  bei  iainbischein  typus  bleibt  eher  die 
dipodiseiic  inessunf^  erhalten:  l'aulinchen  7vur  allein  zu  /it'ius,  \\  die 
eitern  ivüren  beide  aus  u.  a.  w.  Es  versteht  sich  über  wol  vuu  sell>st, 
dass  solche  ausnahmen  die  oben  aufgestellte  beliauptung  von  dem  ilipn- 
dischen  charakter  unserer  volkstümlichen  dichtung  nicht  stören. 

')  Auch  dies  ist  bereits  deutlich  von  Stolte  ausgesprochen;  vgl. 
namentlich  s.  41;  'Man  hat  von  der  neueren  dictitung  gesagt,  sie  sei 
darum  so  viel  einförmiger  als  die  alte,  weil  sie  nur  einerlei  hebung 
kenne,  während  jene  über  liochtonige  und  mitteltunige  licbungcn  ver- 
füge. Das  ist  nicht  riclitig;  mitteltonige  unti  schwaciitonige  hebungen 
hat  auch  die  neuere  poesie,  ihre  eigentümlichkeit  ist  nur,  dass  sie  zwei 
hebungen  nicht  zusammentreten  lässt,  sondern  stets  eine  Senkung  zwischen 
sie  schiebt.  Reicher  ist  der  rhythmus  der  älteren  poesie  allerdings,  aber 
wegen  der  mannigfaltigeren  (luantitätsverhältnisse,  wie  sie  auch  in  den 
vorhin  besclirielienen  gcradtaktigen  liedcrn  auftreten.  Aber  gerade 
dieser  reichere  rhythmus  mus.ste,  um  aufgefasst  zu  werden,  eine  Vor- 
tragsweise nötig  machen,  die  der  scansion  sich  nähernd,  immer  noch 
etwas  sangartiges  an  sich  hat  und  nicht  den  reichen  tonwechsel  ge- 
stattet, den  die  deklamation  unserer  gedichte  geradezu  fordert.' 


134  SIEVERS 

rec'itiercudeu  Vortrag.  Wie  seine  reime  zeigen,  tragen  die  end- 
silbeu  zweisilbiger  Wörter  der  form  ly  ^^^  versschluss  stets 
noch  einen  ictus^  also  wurde  auch  am  versschluss  noch  taktiert. 
Im  gesang  ist  die  taktierende  Vortragsweise  natürlich  stets  bei- 
behalten worden.  Aber  bei  den  gedichten,  welche  nicht  ge- 
sungen, sondern  gesagt  wurden,  wird  sich  bald  in  einem  punkte 
ein  Übergang  zur  recitierenden  Vortragsweise  bemerklich  ge- 
macht haben.  Der  schlussictus  zweisilbiger  Wörter  von  der 
form  1 X  ^^Ji'd  unterdrückt,  und  damit  entsteht  der  im  eigent- 
lichen sinne  als  'klingend'  bezeichnete  ausgang  des  mittel- 
hochdeutschen verses.  Wann  das  im  einzelnen  eingetreten  ist, 
lässt  sich  freilich  wol  nicht  bestimmen.  Im  volksepos  wird  die 
alte  weise  länger  gedauert  haben  als  bei  den  höfischen  dich- 
tem. Im  Innern  auch  des  gesagten  verses  aber  ist  die  taktie- 
rung sicher  überall  da  unversehrt  beibehalten  worden,  wo  sich 
Synkope  der  Senkung  findet.  •) 


')  Dies  gilt  auch  für  einen  grossen  teil  der  späteren  verse  die  man 
gewöhnlich  als  silbenzählende  bezeichnet.  Gegen  diese  auffassung  hat 
bereits  mit  recht  Goedeke  protestiert  (Gedichte  von  G.  R.  Weckherlin, 
Leipzig  IS73,  XVIII  flf.,  Dichtungen  des  Hans  Sachs,  P,  Leipzig  1883, 
XVI  f.).  Goedeke  hat  auch  bereits  auf  das  wichtige  argument  auf- 
merksam gemacht,  dass  in  diesen  gedichten  nie  mehr  als  zwei  unbetonte 
oder  zwei  betonte  silben  unmittelbar  auf  einander  folgen.  Der  vers  von 
Hans  Sachsens  spruchgedichten  und  dramen  ist  z.  b.  einfach  noch  der 
alte  reim  vers,  nur  dass  -x  ^t"  versschlusse  hier,  als  in  reinen  sprech- 
versen,  als  eintaktig  gerechnet  wird.  Der  einzige  wesentliche  unter- 
schied von  der  alten  metrik  der  sonst  noch  in  betracht  kommt,  ist  dass 
Synkope  der  Senkung  einerseits,  zweisilbige  Senkung  und  fehlen  oder 
stehen  des  auftakts,  auch  Wechsel  zwischen  ein-  und  zweisilbigem  auf- 
takt  andererseits,  mit  rücksicht  auf  die  geforderte  gleiche  silbenzahl 
aller  verse  in  einen  inneren  Zusammenhang  gebracht  sind,  während  sie 
früher  von  einander  unabhängig  waren.  Fällt  durch  synkope  der  Senkung 
eine  zählbare  silbe  aus,  so  muss  durch  eine  in  gleicher  zeile  eintretende 
zweisilbige  Senkung  (auflösung  der  Senkung)  oder  durch  einen  zwei- 
silbigen auftakt  ersatz  geschafft  werden;  fehlt  der  normaler  weise  ein- 
silbige auftakt,  so  tritt  ebenfalls  zum  ersatz  auflösung  einer  (der  ersten) 
Senkung  ein.  Man  brauclit  nur  einmal  den  versuch  mit  lautem  lesen 
nach  diesen  regeln  zu  machen,  um  zu  erkennen,  welch  trelfliclier  rhyth- 
miker  Hans  Sachs  noch  gewesen  ist.  Ks  steht  eben  bei  ihm  wie  bei  an- 
dern dichtem  seiner  zeit  so,  dass  sie  unbewusst  natürliches  rhythmisches 
gefühl  und  rhythmischen  schwang  von  haus  aus  mitbrachten,  gestützt 
auf  die  gute  alte   tradition,    dass  aber  ihre  theoretische  aufmerksamkeit 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  135 

Ueber  die  dipodisclic  j;licdcruiiy-  des  altdeutscbeu  reiiii- 
verses  wird  weiter  uuten  ausführlicher  gehandelt  werdeu.  Ich 
übergehe  daher  diesen  punkt  einstweilen,  und  versuche  zu- 
nächst die  beantwortung  der  frage:  wie  alt  ist  die  taktie- 
rende Vortragsweise  des  deutschen  verses? 

Ich  glaube  man  kann  hier  mit  einer  sichern  negative  be- 
ginnen: Der  germanische  alliterationsvers  in  den  wech- 
selnden gestalten  die  ich  in  meinen  früheren  abhandlungeu 
nachgewiesen  habe,  kann  nicht  taktierend  in  unserm 
sinne  gewesen  sein.  Ich  vermag  mir  wenigstens  keinen 
modus  vorzustellen,  nach  dem  etwa  ein  Bx-  I  x-  "'•*  einem 
D  L  I  J-^x  oder  E  llx  I  —  unter  einen  hut  gebracht  werden 
könnte,  oder  etwa  ein  C  x-^  I  v^x  "^^^  einem  A  mit  vielsilbiger 
Senkung,  wie  — XXXXX  I  — X>  ^^^  ^^ch  z.  b.  im  ags.  nicht 
selten  ist  und  mit  jenen  kürzesten  formen  von  B  und  C  ver- 
eint in  den  gleichen  gedichten  vorkommt.  Man  käme  bei  dem 
versuch  ein  nordisches  oder  ags,  gedieht  taktierend  vorzutragen 
zu  Ungeheuerlichkeiten  der  dehnung  auf  der  einen  und  kür- 
zungen  auf  der  andern  scitc,  und  beim  Heliand  gar  hört  die 
möglichkeit  ganz  auf.  Ich  bekenne  mich  also  in  dieser  frage 
ganz  zu  der  auffassung  von  Vetter  (Muspilli  41  f.),  der  den 
alliterationsvers  als  einfaches  taktloses  rccitativ  oder  molodram 
mit  harfenaccorden  auf  den  hebungcn  deliniert.  Womit  natür- 
lich die  annähme  nicht  ausgeschlossen  ist,  dass  das  gesammt- 
zeitmass  für  <len  Vortrag  der  einzelnen  zeilcn  ein  annähernd 
gleiches  gewesen  sein  möge,  so  dass  die  grössere  silbenzahl 
eines  verses  zu  einem  durchgehends  besciilounigten,  die  ge- 
ringere silbenzahl  zu  einem  durchgehends  langsameren  tnnpo 
führte.») 


(eben  deswefijen  vielleicht)  sicli  nur  mit'  dinge  richtete,  die  uns  als  nebon- 
aächlich  erscheinen  niiisacn.  Aehnlich  stellen  ja  auch  z.  b.  die  nordi- 
schen theoretiker  ihren  veranlassen  f,'egenüber.  Heber  alle  niöf^lichen 
details  skaldischer  techuik  haben  sie  register  gelührt,  über  die  rhyth 
mischen  formen  der  dichtung,  die  bei  den  skalden  mit  absoluter 
Sicherheit  und  strenge  gehandhabt  werden,  haben  sie  un.s  kein  worl 
verraten. 

')  [Man  vergleiche  hierzu  wider,  was  Usener,  Altgriech.  versbau  I  IT  i. 
über  den  Vortrag  des  altgriecliiaehen  verses  sagt:  'Das  alte  saitenin.stru- 
uient  der  Griechen  wurde  nicht  gestriciien  wie  die  altt'ranzösische  vicllc 
und   die  serbische  giislc,  sondern   geschlagen.     Der   Honieriache  aüugcr 


136  SIEVERS 

Dass  ein  solclier  melodramatischer  Vortrag,  wie  ihn  Vetter 
anuimmt,  als  singen  bezeichnet  werden  könne,  wird  niemand 
leugnen.  Dem  worte  'singen'  an  sich  kann  man  es  doch  nicht 
ansehen,  welche  art  musikalischen  Vortrags  es  von  haus  aus 
bezeichnet  hat.  Man  kann  auch  nicht  behaupten,  dass  es  eine 
bestimmte,  in  specie  unsern  heutigen  gewohnheiten  entsprechende, 
Vortragsart  habe  bezeichnen  müssen.  Ja,  denkt  man  an  das 
got.  ussiggrvan  'vorlesen'  (und  schliesslich  schlechthin  'lesen'), 
so  wird  man  leicht  zu  der  Vermutung  geführt,  dass  siggwan 
ursprünglich  eine  jede  gehobenere,  feierlichere  Vortragsart  im 
gegensatz  zur  gewöhnlichen  rede  bedeutet  haben  möge.  Es 
ist  aber  zwecklos,  hierüber  weiter  zu  speculieren,  da  man  doch 
zu  keinem  sichern  resultate  gelangt. 

Ich  bin  also  der  ansieht,  dass  der  Vortrag  des  epischen 
alliterationsverses  seinem  wesen  nach  mit  unserer 
recitierenden  Vortragsweise  zusammengestellt  werden 
müsse.  Ob  daneben  für  andere  dichtungsarten  etwa  ein 
taktierter  vers  bestanden  hat,  können  wir  nicht  wissen.  Wahr- 
scheinlich ist  es  nicht.  Es  genügt  aber  auch  für  unsere  zwecke 
vollkommen,  zu  constatieren,  dass  dem  gegensatz  von 
epischer  alliterationszeile  und  reimzeile  zugleich  ein 
gegensatz  von  recitierender  und  taktierender  Vor- 
tragsweise zur  Seite  steht.  Wir  haben  danach  einen  bruch 
mit  der  alten  tradition  nach  zwei  selten  hin,  den  man  wol  mit 
einem  fremden  vorbild  erklären  kann,  wie  man  das  bisher 
getan    hat.      Aber    auf   der   andern   seite   hängt  der   reimvers 


hat  seine  laute  scliwerlich  anders  gehandhabt  als  um  die  versschlüsse 
und  vielleicht  einzelne  hebungen  zu  markieren;  auch  wenn  er  ihr  eine 
dem  vers  silbe  für  silbe  folgende  melodie  entlockt  hätte,  würde  seine 
bcgleitung  nicht  vermocht  haben  die  tondauer  der  einzelnen  versailben 
zu  regeln  und  zu  bestimmen.  Der  geschlagene  ton  hat  keine  dauer; 
der  rhythmus  einer  so  vorgetragenen  melodie  liegt  in  der  wechselnden 
dauer  der  intervalle  zwischen  den  einzelnen  angeschlagenen  tönen,  und 
die  gebietende  rolle  füllt  letzlich  dem  gesprochenen  oder  gesungenen 
Worte,  dem  sprachlichen  oder  melodischen  rhythmus  zu.  Die  feste 
regelung  des  musikalischen  faktes  kam  wol  erst  mit  den  dauertönen 
der  blasinstrumente,  wurde  wenigstens  erst  durch  sie  zu  einer  unab- 
weisbaren pliicht  der  musikalischen  künstler.'  Treffender  kann  man  die 
Sachlage  bezüglich  auch  der  ältesten  gormanischen  dlchtung  nicht  aus- 
drücken]. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCUEN  REIMVERSES.  137 

wider  mit  dem  alliterationsvcrs  in  eigentümlicbkeiten  derteclmik 
zusammmen,  die  keinem  denkbaren  fremden  muster  nach- 
geahmt sein  können:  dem  zusammenstoss  zweier  ieteu,  der 
auflösung  und  der  auftaktbildung  (ßeitr.  X,  216  ff").  Also  ist 
der  reimvers  nicht  etwas  toto  genere  neues,  sondern  nur  eine 
prineipielle  Umbildung  eines  älteren  masses:  die  neuerung  be- 
steht —  abgesehen  von  der  ersetzung  der  alliteration  durch 
den  endreim  —  eben  in  dem  Übergang  von  der  freiereu 
recitation  zur  taktierung. 

Der  alliterationsvers  ist,  wie  ich  gezeigt  habe,  zweifüssig, 
die  reimzeile  viertaktig  oder  vierfüssig:  das  compliciertcrc 
System  ist  an  die  stelle  des  einfacheren  getreten.  Auffallend 
ist  dabei  der  rasche  sieg  des  neuen  über  das  alte.  Es  müs.sen 
mächtige  factoren  vorhanden  gewesen  sein,  die  diesen  raschen 
Umschwung  der  dinge  begünstigten.  Was  lüsst  sich  über  solche 
factoren  vermuten? 

Bereits  in  der  alliterationsdichtung  selbst  waren  elcmeutc 
vorhanden,  welche  die  Umbildung  des  zweigliedrigen  vcrses  zu 
einem  viergliedrigeu  nahe  legten  oder  begünstigten.  Wenn 
einmal  für  die  anzahl  der  versglieder  oder  füsse  die  anzahl 
stärker  betonter  silbeu  massgel)eud  ist,  die  in  einem  \erse 
stehen,  so  musste  fast  unwillkürlich  ein  A  mit  nebeutoncn  in 
den  Senkungen  den  eindruck  der  mehrglicdrigkeit  machen. 
Namentlich  gilt  das  von  versen  mit  zwei  nebentönen,  wie 
hreöslheord  blödreuw  etc.,  Beitr,  X,  2S0;  aber  auch  solche  wie 
feäsceaft  funclcn  ib.  27G,  oder  Grendles  ^äfücrw/'/  ib.  278  legen 
einer  vierteilung  nahe:  unwillkürlich  sucht  m«u  den  rhytiimus 
der  beiden  füsse  gleich  zu  machen,  betont  also  beim  lesen  fast 
wider  willen  feäsceaft  fluiden  und  Grendles  güöcnvft  u.  dgl. 
Auch  die  D  und  E  mit  ihren  drei  tonsilben  in  jedem  vers 
(_!-  I  Llx  "i^d  -1  — X  I  —  "•  s.  w.)  sind  ganz  dazu  angetan,  das 
rein  zweigliedrige  System  der  iil)rigen  versarten  zu  stören. 
Aber  alle  diese  versarten  zusammengenommen  sind  doch  kaum 
häufig  genug,  um  allein  den  anstoss  /u  der  neuordnung  ge- 
geben zu  haben.  Als  ergänzung,  Ja  ich  glaube  direct  als 
mächtigster  factor,  haben  die  vicrtaktigen  mclodicn  des 
kirchlichlichcn  hy muengesanges  eiiigcgrillen,  den  man 
ja  auch  sonst  zur  erklärung  des  Systemwechsels  herbeizuziehen 
pflegt.     Aber  nicht  die  form  des  verses  hat  der  hymnengesang 


138  SIEVERS 

geliefert  —  denu  der  deut!;icbe  reiniveis  ist  nicht  eine  iani- 
bisehe  oder  trochäisclie  dipodie  —  sondern  man  hat  versucht 
und  gelernt  die  alten  verse  nach  den  neuen  melodien  zu  singen 
und  wo  es  nötig  war  diesen  melodien  anzupassen. 

So  gelange  ich  zu  dem  einfachen  schlusssatz:  Der 
deutsche  reimvers  ist  das  resultat  eines  compro- 
misses  zwischen  dem  fiinftypensystem  der  allitera- 
tionszeile  und  neuen,  durch  den  kirchengesang  ein- 
geführten viertaktigen  melodien.  Die  Umbildung  des 
alten  verses  geschah  im  anschluss  an  einzelvorbilder 
welche  bereits  die  alliterationszeile  darbot,  zunächst 
dadurch  dass  man  in  den  gleichfüssigen  typen  A,  B,  C 
in  jeden  fuss  eine  nebenhebung  einschob,  in  den  un- 
gleichmässigen  typen  D  und  E  aber  die  alte  neben- 
tonsilbe  wie  die  eigentliche  senkungssilbe  zu  neben- 
hebungen  machte.  Nachdem  einmal  auf  diese  weise  das 
alte  gefüge  gelockert  war  und  ein  neues  rhythmusgefühl  sich 
ausgebildet  hatte,  traten  dann  als  nachzügler  der  grossen  be- 
wegung  noch  vereinzelte  Verschiebungen  auf,  welche  zu  vers- 
formen führen  die  nicht  direct  aus  dem  fünftypensystem  ab- 
geleitet werden  können. 

Ich  habe  mir  der  einfachheit  wegen  wider  erlaubt,  dieses 
resultat  meiner  Untersuchungen  dogmatisch  vorauszustellen, 
statt  es  sich  erst  aus  einer  masse  verwirrender  details  ergeben 
zu  lassen.  Der  beweis  der  richtigkeit  ergibt  sich  ja  auch  bei 
dieser  anordnung  leicht,  wenn  es  gelingt,  alle  wesentlichen  tat- 
sacheu  des  neuen  metrischen  Systems  ohne  zwang  aus  den 
aufgestellten  Voraussetzungen  zu  erklären.  Die  beweisführung 
wird  sich  dabei  in  erster  linie  auf  den  versbau  Otfrids  zu 
erstrecken  haben. 

Ehe  ich  auf  einzelheiten  eingehe,  sei  es  mir  gestattet  an 
einen  praktischen  beispiel  zu  zeigen,  wie  sich  die  Umsetzung 
des  alten  Systems  in  das  neue  im  Zusammenhang  ausnimmt. 
Ich  wähle  dazu  einen  abschnitt  aus  einem  capitel  das  man 
notwendig  zu  den  ältesten  stücken  des  evangelienbuches  rech- 
nen   muss'),    dem    capitel  1,5.     Man   kann  dieses  capitel, 

^)  Lachmanii,  KI.  sehr.  I,  450.  Warum  Erdmann  s.  LXII  gerade 
dieses  capitel  von  seiner  ältesten  schiebt  ausschliesst,  ist  mir  nicht  klar. 
—  Auch  I,  7  eignet  sich  gut  zu  einem  musterstiick. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  KEIMVERSES. 


i:j9 


wie  viele  andere  absebüitte  in  den  älteren  partien  des  werkes, 
fast  ganz  beliebig-  nacb  dem  fiinftypeusystcm  oder 
uaeb  dem  scbema  der  reimzeile  lesen:  ja  oft  gibt  die 
erstere  Vortragsweise  viel  bessere  verse  als  die 
zweite,  und  das  ist  der  beste  beweis,  dass  Otfrids  vers  nicbt 
nur  mit  dem  fünftypensystem  auf  gleicber  basis  ruht,  sondern 
sich  wirklieh  direet  aus  diesem  entwickelt  und  allmälilicli 
erst  zu  grösserer  freibeit  in  der  neuen  bewegung  durchge- 
rungen bat. 

Der  eingang  des  capitels  (mit  ausschluss  der  ersten  strophe, 
die  im  baue  nicht  so  aitertündicb  ist  wie  das  folgende  und 
vielleicht  erst  bei  der  einfüguug  des  capitels  in  seinen  jetzigen 
Zusammenhang  [vgl.  Erdmauu  LXll]  ihre  entstebung  gefunden 
hat)  zeigt  nach  dem  fünftypensystem  gerechnet  folgende  ge- 
stalt'): 


:i 

tlio  (luaiu  bütü  fona  gute, 

XX^X  1  xx-x 

B 

üiigil  ir  liimile, 

-  X  X  1  ^_X  X 

A 

4 

bläht  er  therera  uiKjrolti 

-xxxx 1 ^xx 

A 

diuri  äruiiti. 

-If-x^ 

D 

5 

floug  er  sünnun  päd, 

XX- 1 X- 

B 

sterrono  sträza, 

-XX 1 -X 

A 

6 

iiiicga  uu61kono 

^x 1 -^x 

D 

zi  theru  itis  frono. 

XX-^X  1  -X 

C 

7 

z|  ediles  fröuun, 

v^.XX  1  -X 

A 

sulljim  sancta  Alüriun: 

-XXX 1 -X 

A* 

8 

tliie  fördüron  hi  bäine 

X 1 -XXX 1 -X 

aA 

uuarun   chüninga  alle. 

xx^-x  1  -X 

C 

',) 

giang  er  iu  thia  palinza, 

-XXX  1  ^xx 

A 

fand  sia  drurenta, 

XX- 1 -X 

C 

10 

mit  sälteru  iu  henti, 

X  1  -XX  1  -'-X 

aA 

theu  säug  sj  iiuz  in  ciiti, 

X 1 -XX 1 -X 

aA 

II 

iiuaheio  duaclio 

-XX 1 -X 

A 

uuerk  iiiiirkento. 

-  1 X 

D 

')  Ich  iiatie  daliei,  um  die  ty\nin  dciitliclior  liorvoififti  ii  zu  lassen, 
auflüsungcn  als  solche  durch  untergeset/.tes  gckenuzeiclmct.  Für 
die  Zählung  der  silben  ist  zu  beachten,  dass  ich  üheiall  elisJDn  ange- 
nommen habe,  auch  \vu  sie  in  den  hss.  nicht  vorgeschrieben  ist. 


140 


SIEVERS 

VI 

diuiero  j,^a,i-iio 

-XX 1 -X 

A 

thaz  deda  siii  io  tifcrno. 

X  1  ^X  1  -X 

aA 

13 

tho  sprach  er  örlicho  iibar  dl, 

XXX- 1 XXX 

- 

B* 

so  man  zi  fröuuun  scal, 

XXX- ! X- 

B 

14 

80  böto  scal  io  güater 

X  1 ^xxx 1  - 

K 

aA 

zi  drühtines  muater: 

X 1 -XX 1 -X 

aA 

15 

'heil,  magad  zieri, 

-  1 ^x-x 

D 

thiarna  so  scöni, 

-XX 1 -X 

A 

16 

ällero  uuibo 

-XX 1 -X 

A 

gote  ZL'izosto! 

^X  i  --X 

D 

17 

ni  brütti  thih  müates, 

X 1 -XX 1 -X 

aA 

noh  thines  jinluzzea 

XXX- 1 -X 

C 

18 

farauua  ni  uuenti: 

^XXX 1 -X 

A 

i'ol  bistu  gutes  ensti. 

XXX^X 1 -X 

c* 

19 

forosagon  süngun 

^X^X 1 -X 

A2 

fon  tliir  Silligun: 

XX- ! -X 

C 

20 

uiiaruu  so  allo  iiuörolti 

-XXX 1 ^xx 

A 

zi  thir  zeigonti. 

XX- 1 -X 

C 

21 

giuima  thiu  uuiza. 

-XX 1 -X 

A 

magad  scinenta. 

-X 1 --X 

D 

22 

muater  thiu  diura 

-XX 1 -X 

A 

scalt  thu  uuesan  eina: 

-XXX  i  -X 

A 

23 

thu  scalt  heran  uinan 

-XXX 1 -X 

A 

alauualtendau 

-X  1 X 

D 

24 

erdun  ioh  himiles 

-XX 1 ^xx 

A 

int  alles  liphaftes, 

XXX- 1 -X 

C 

25 

scepheri  nu6rolti 

-XX  1  ^_xx 

A 

(theist  min  arunti) 

XX-  1  -X 

C 

2fi 

fätere  giburanan 

^xxx 1 ^xx 

A 

cbanthiuigan. 

'         1     '    ' 

D 

27 

gut  gibit  imo  uuiha 

X  1 ^xxx I  - 

X 

aA* 

ioh  eia  filu  liolia 

X  1  -XXX  1  - 

X 

aA 

2H 

(drof  ni  zuivolo  tliu  tliöa) 

XX- 1 XXX- 

B* 

Davides  sez  thcs  küninges. 

X ! -x-x 1 4 

XXaA* 

2!) 

er  richisot  githiuto 

X  1  -XXX  1  - 

X 

aA 

küning  therero  liuto: 

^XXXX 1 -X 

A 

:}() 

thaz  steit  in  götes  henti 

XXX^X 1 -X 

C 

ana  theheinig  cnti: 

-XXXX 1 -X 

A 

DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES. 


111 


31 

ällera  uuörolti 

-XX 1 ^XX 

A 

ist  er  üb  gebenti, 

XX- 1 ^xx 

c 

32 

thuz  er  ouh  inspi'rre 

-XXX 1 -X 

A 

himilrichi  manne.' 

-x-x-x 

A 

Gegen  den  strengen  gebrauch  des  ags.  alliterationsverses 
Verstössen  unter  diesen  60  halbzeilen  folgende  acht:  7''.  2S''.  32=* 
=  A  mit  stark  nebentonigen  silben  in  der  Senkung  {santa,  sez, 
-richi);  aber  derartiges  findet  sich  auch  im  Heliand,  und  32^' 
könnte  ein  correctes  erweitertes  E  sein,  -l-x  I  —  x;  ferner 
13*.  28*  =  B  mit  dreisilbiger  zweiter  Senkung,  die  aber  auch 
im  Heliand  vorkommt,  Beitr.  XII,  323  f.;  endlich  18'\  27-\  28*  mit 
fol,  got,  drof  in  der  eingangsenkung  von  B,  C,  während  sie 
als  erste  nomina  der  zeile  einen  ictus  tragen  müssten.  Schliess- 
lich ist  auch  noch  hervorzuheben,  dass  auftakte  vor  A  häufiger 
erscheinen  als  im  ags.,  aber  nicht  häufiger  als  im  Heliand, 
und  dass  sie  massvoller  sind  als  dort,  d.  h.  hier  das  mass  von 
einer  silbe  nicht  überschreiten.  Auf  alle  fälle  wird  durch  diese 
abweichungen  von  den  strengeren  regeln  des  ags.  Versbaues  — 
und  dieselben  finden  zum  guten  teil  noch  ihre  erkläruug  als 
berechtigte  licenzen  durch  die  parallelen  im  Heliand  —  der 
rhythmische  charakter  der  fünf  typen  nicht  erheblicli  ge- 
stört.    Dagegen   sind   als   taktierverse   unbedingt  schlecht  und 

schleppend  >) 

flüug  er  1  siiu- 1|  nun  j  päd  5^ 
80  man  zi  |  fröuu- 1|  im  |  sc4l  13b 

und,  wenn  nicht  uuolköno  zu  lesen  ist  (vgl.  uuolkou  dat.  jil. 
1,  15,  38)  auch 

uut'ga  I  uuul-  1  kö-  I  nü  (i»-') 

Ferner  sind  anstössig  die  reime  oder  eigentlich  uichtreime 
(jölc  :  Itimile  3  (wo  (lote  mit  verschlcifung  zu  lesen  ist)  und 
päd  :  slrdza  5.     Ausserdem  ist  noch  zu  beachten,  wie  uamcnt- 


')  Es  wird  weiter  unten  gezeigt  werden,  dass  und  warum  die  fol- 
genden verse  so  und  niclit  anders  zu  scandieren  sind  als  ich  bier 
angebe. 

■■*)  Schwerfällig  sind  alle  D-verse  des  stiioks,  I''.  1 1 '■.  ir>n.  h;|'.  21 '•. 
23''.  20'',  mit  ihren  vier  aneinanderstossendon  hebungen.  Durch  die  anl- 
lösungen  der  ersten  oder  zweiten  hebung,  welche  hie  und  da  aurtrcfcn. 
wird  diese  Schwerfälligkeit  nur  wenig  gemild<>rt. 


142  SIE  VERS 

lieb  zu  eiugaug  des  capitels  die  neigung  zur  alliterationsbildung 
an  vielen  stellen  durchbricht  (Lachmann,  Kl.  sehr.  I,  456). 

Dass  Otfrids  ictenzeichen,  deren  es  normaler  weise  höch- 
stens zwei  sind,  die  den  alten  hebungen  der  alliterationszeile 
entsprechenden  haupthebungen  des  neuen  verses  bezeichnen 
sollen,  ist  vermutungsweise  schon  oft  ausg;esprochen  worden. 
Schwerlich  aber  wird  man  dabei  eine  so  völlige  Überein- 
stimmung mit  den  alten  typen  erwartet  haben  wie  sie  jetzt 
zu  tage  tritt.  Bereits  an  unserem  kleinen  bruchstück  lassen 
sich  die  hauptregeln  für  Otfrids  ictenbezeichnung  ablesen:  In 
versen  des  typus  A  bekommt  die  erste  und  dritte 
hebung  den  accent,  in  versen  des  typus  ß  die  zweite 
und  vierte,  in  versen  des  typus  C  und  D  dagegen  die 
zweite  hebung  allein.  E  ist  in  der  probe  nicht  vertreten, 
ebenso  einige  andere  formen  des  entwickelten  reim  verses,  auf 
die  ich  erst  später  eingehe,  um  hier  noch  einiges  allgemeinere 
anreihen  zu  können. 

Wie  ist  die  verschiedene  behandlung  der  typen  A  und  B 
einerseits  und  C  und  D  andererseits  zu  erklären?  Bereits 
Lachmann  hat  (Kl.  sehr.  I,  458  anm.)  constatiert,  dass  Otfrid 
es  vermeidet,  zwei  nachbarhebungen  zu  accentuieren. 
Als  rein  willkürliche  abneigung  gegen  das  nahe  zusammen- 
stehen zweier  accentzeichen  wird  man  dem  dichter  dies  nicht 
auslegen  können.  Vielmehr  meine  ich  dass  er  durch  diese 
regel  ein  recht  gutes  rhythmisches  gefühl  bekundet.  Nur 
gleich  gewichtige  hebungen  werden  von  ihm  gleich- 
zeitig accentuiert.  Solche  gleich  gewichtige  hebungen  haben 
wir  vor  allem  in  den  typen  A  und  B  mit  gleichlaufendem 
rhythmus  in  beiden  füssen  (A  =  doppelt  fallend,  B  =  doppelt 
steigend).  Für  C  lässt  sich  dagegen  aus  dem  umstand,  dass 
die  zweite  hebung  auch  im  alliterationsvers  kurz  sein  (form 
X— jv^^x)?  ^Iso  hinter  dem  sonstigen  mass  der  normalen 
hebungen  zurückbleiben  darf,  der  schluss  ziehen,  dass  in  diesem 
typus  die  erste  hebung  dominierte,  d.  h.  dass  dieser  typus  auch 
im  alliterationsvers  nur  eine  haupthebung  im  vollsten  sinne 
des  Wortes  besass.  Bei  der  erweiterung  zum  viertaktigen 
reimvers  blieb  dies  Verhältnis  bestehen :  die  zweite  dipodie  tritt 
etwas  hinter  der  ersten  zurück  (vgl.  oben  126),  und  Otfrid 
war    daher  ganz   im    rechte,    wenn   er   in   solchen    versen  nur 


DIE  ENrSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIM  VERSES.  143 

einen  ictus  bezeichnete.  Für  D  ist  diese  erkläiunj^'  nicht  ohne 
weiteres  anwendbar.  Denn  wenn  im  alten  D  eine  hebung 
hätte  dominieren  sollen,  so  wäre  dies  sicherlich  die  erste  ge- 
wesen, die  für  sich  allein  einem  dreigliedrigen  fuss  gegenüber- 
steht, L  gegen  -i^x  t^der  -x->  und  doch  lässt  sie  Otfrid  un- 
bezeichnet.  Auf  der  andern  seite  ist  aber  zu  beachten,  dass 
ein  vers  von  der  form,  LL  —  x  niit  gleichmässig  absteigendem 
rhythmus  ziemlich  unerträglich  ist,  und  dass  er  vor  allem  die 
teilung  in  zwei  parallele  hälften  (dipodien)  nicht  zulässt,  welche 
die  weitaus  häufigsten  typen  A,  B  und  C  nicht  nur  gestatten, 
sondern  im  alten  reimvers  tatsächlich  stets  besitzen  und  welche 
hier  geradezu  als  eines  der  hervorstechendsten  kennzeichen  be- 
trachtet werden  muss.  Wenn  nun  Otfrid  im  D-vers  die  erste 
hebung  unbezeichnet  Hess,  so  denke  ich  geschah  das  deswegen, 
weil  er  sie  schwächer  gesprochen  haben  wollte.  Dadurch  er- 
hielt dann  die  erste  vershälfte  steigenden,  die  zweite  fallenden 
rhythmus,  und  in  der  mitte  war  so  eine  gelegenheit  zu  einem 
rhythmischen  einschnitt  gegeben.  Das  der  dipodischen  teilung 
widerstrebende  D  wird  eben  so  weit  umgemodelt,  als  not- 
wendig ist  um  diese  teilung  zu  gestatten.  Jedenfalls  enthält 
aber  Otfrids  accentuierung  bereits  einen  hinweis  auf  die  Ver- 
mischung der  typen  C  und  D,  deren  verlauf  uns  unten  noch 
näher  beschäftigen  wird. 

Für  die  weitere  entwicklung  des  reimverses  ist  dann  noch 
ein  gesichtspunkt  von  massgebender  bedeutung.  Es  gilt  die 
beantwortung  der  frage:  welche  geltung  hat  eine  silbcn- 
gruppe  der  form  ^x  ^.n  den  verschiedenen  stellen  des 
vers  es?  Unsere  herkömmliche  theorie  betrachtet  diese  grup|)c 
als  auflösung  von  _!_  (resj).  sieht  darin  einen  fall  von  sill)en- 
verschleifung)  in  zwei  fällen:  einmal  am  versschluss  (im  vcr- 
schleiften  stumpfen  reim),  sodann  im  innern  des  verses  wenn 
sie  in  einem  dreisilbigen  fuss  erscheint.  Sonst  unterscheidet 
die  theorie  nicht  zweisilbige  füsse  der  form  ^y^  und  solche 
der  form  Ly^.  Diese  praxis  ist  aber  schwerlich  zu  recht- 
fertigen. AVenn  der  reimvers  aus  dem  alliterationsvers  ab- 
geleitet ist  und  aus  diesem  das  ganze  priucip  der  auflösung 
mit  herüber  gebracht  hat,  so  folgt,  dass  überall  da  wo  im 
alliterationsvers  v!.  X  ^1^  auflösung  gilt  (und  das  ist  ja  meistens 
der  fall),    auch    im    reimvers  die  gleiche  geltung  angenommen 


144  SIEVERS 

werden  muss,  d.  h.  dass  v^x  i'^  ^^^  haupthebungen  des 
reimverses  (welche  den  alten  bebungeu  des  alliterationsverses 
entsprechen)  ursprünglich  stets  als  auflösung  zu  gelten 
hat.  Diese  auffassung  wird,  abgesehen  von  ihrer  allgemeinen 
Wahrscheinlichkeit  noch  durch  verschiedene  einzelgründe  ge- 
stützt. Als  wichtigstes  argument  tritt  uns  dabei  die  tatsache 
entgegen,  dass  Otfrid  im  grossen  und  ganzen  wenigstens  verse 
von  der  form  _!_  x  ^  x  —  x  so  behandelt  wie  verse  von  der  form 
_lx  — -x>  d-  1^-  ibnen  nur  einen  accent  gibt,  mithin  sie  zu  C 
stellt,  während  verse  von  der  gestalt  1  x  -  x  —  x  ^^  allgemei- 
nen zwei  accente  empfangen  und  so  dem  typus  A  zur  seite 
treten.i)  Eine  andere  frage  ist,  ob  dasselbe  nun  auch  für  die 
neuen  nebenhebungen  gelten  müsse?  Diese  frage  ist  zu  ver- 
neinen, schon  mit  rücksicht  auf  den  bau  des  alliterationsverses. 
Die  quantität  der  senkungssilbeu  ist  dort  durchaus  gleichgültig, 
und  wx  zählt  dort  ebensogut  für  zwei  volle  silben  als  _x; 
nur  bei  sehr  silbenreichen  Senkungen  wird  sich  zur  erleich- 
terung  des  rhythmus  öfter  die  neigung  einstellen,  silbengruppen 
von  der  form  ^x  zu  verschleifen,  d.  h.  in  beschleunigtem 
tempo  zu  nehmen.  Der  umstand  dass  im  reimvers  je  zwei 
silben  einen  nebenton  bekommen,  die  im  alliterationsvers  un- 
betont waren,  braucht  an  diesen  Verhältnissen  nichts  zu  än- 
dern; wir  dürfen  in  den  nebenfüssen  sowol  v^  x  (zweisilbig)  als 
eventuell  ^  x  x  (dreisilbig  mit  verschleifung)  erwarten.  Für 
die  Schlusshebung  von  versen  mit  'klingendem  ausgang'  ge- 
nügt ja  w  ohne  weiteres,  wie  jeder  zugesteht.  Auch  darf  man 
daran  erinnern,  dass  im  alliterationsvers  der  nebenictus  in  D 
eine  einfache  kürze  treffen  darf,  ja  dass  beim  ictenzusammen- 
stoss  selbst  in  A  und  C  eine  Verkürzung  der  nachfolgenden 
haupthebung,  _!-J.  |  ^x  und  x—  I  ^x  statthaben  kann.  Vor 
allem  ist  aber  aus  dem  reimvers  selbst  ein  wichtiges  argument 
für  die  entscheidung  dieser  frage  zu  gewinnen. 

Synkope  der  Senkung  nach  der  haupthebung  der 
dipodie  ist  im  reimvers  eine  der  gewöhnlichsten  erscheinungen; 
man   denke   z.  b.   nur   an   alle   die  klingenden  ausgänge.    Sie 


')  Es  versteht  sich  dies  natürlich  nur  niiter  der  Voraussetzung  dass 
die  verglichenen  verse  ungefähr  gleich  gebaut  sind  in  bezug  auf  das 
natürliche  gewichtsverhältnis  der  einzelnen  Wörter. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  145 

ist  an  dieser  stelle  durchaus  am  platze  und  von  guter  Wirkung, 
insofern  durch  die  mit  dem  ausfall  der  Senkung-  verbundene 
dehnung  der  hebung  das  gewicht  derselben,  also  im  falle  sie 
eine  haupthebung  ist,  das  gewicht  eines  der  nachdrücklichsten 
Wörter  des  verses,  gesteigert  wird.  Durch  das  fehlen  der 
Senkung  nach  einer  nebeuhebung  aber  wird  der  rhythmus  ge- 
stört, denn  es  ist  unnatürlich,  etwas  nebensächliches  in  dieser 
weise  hervorzuheben,  namentlich  auf  kosten  des  wesentlicheren. 
Die  Synkope  der  Senkung  nach  einer  nebenhebung  wird  daher 
im  ganzen  vermieden.  Sobald  aber  die  gruppe  ^x  statt  L 
ins  spiel  kommt,  ändern  sich  die  Zahlenverhältnisse  sofort.  Wo 
die  gruppe  wx  1  x  i^iit  einer  haupthebung  beginnt,  haben  wir 
nach  dem  was  oben  erörtert  wurde,  ebenfalls  synkope  der 
Senkung  anzunehmen;  die  gruppe  ist  dann  der  gruppe  L  \  x 
gleich  zu  achten.  Der  fall  ist  recht  häufig,  aber  doch  lange 
nicht  so  häufig  wie  synkope  nach  einsilbiger  langer  hebung, 
weil  ja  doch  einsilbige  hebung  die  regel  und  auflösung  die 
ausnähme  ist.  Dagegen  finden  wir  zahllose  male  die  gruppe 
v^x  I  ->  ^-  b-  dieselbe  silbenfolge  nur  mit  anderer  Verteilung 
von  haupt-  und  nebenton,  während  -\  —  zu  den  grössten 
Seltenheiten  gehört.     Also 


L  I  ^  sehr  gewöhnlich 
v^X  I  ^  seltener 


-  I  L  sehr  selten 

v^x  I  —  durchaus  gewöhnlich. 

Die  natürlichste  erklärung  für  dies  Verhältnis  liegt  aber  doch 
in  der  annähme,  dass  man  in  ^x  1—  keine  synkope  der 
Senkung  empfunden,  mithin  ^  x  ^üi"  einen  vollen  fuss  gerechnet 
hat.  Ich  stelle  hiernach  den  satz  auf:  Die  gruppe  ^x  ^^'^ 
einer  haupthebung  hat  im  reimvers  ursprünglich  stets 
als  auflösung  von  L  zu  gelten,  mag  der  fuss  in  dem 
sie  steht  zweisilbig  oder  mehrsilbig  sein  (im  ersteren 
fall  haben  wir  dann  synkope  der  Senkung);  die  gruppe  ^x 
mit  einer  nebenhebung  gilt  dagegen  als  voller  zwei- 
teiliger fuss;  nur  im  falle  dreisilbigen  fusses,  vl/xxi 
ist  auch  hier  auflösung  (verschleifung)  anzunehmen. 

Man  wende  hiergegen  nicht  ein,  dass  diese  theoretische 
Unterscheidung  keinen  praktischen  wert  habe:  auch  wo  l^y^ 
als  auflösung  von  L  mit  synkope  betrachtet  werde,  vertrete 
es  einen  vollen  fuss,  das  1  sei  nicht  die  gewöhnliche  hebungs- 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutächeu  spräche.     XIII.  10 


146  SIEVERS 

länge,  sondern  eine  überdehnte  länge  von  der  dauer  des  vollen 
fusses.  Das  ist  ganz  richtig  auf  dem  papier,  aber  für  den 
lebendigen  Vortrag  besteht  doch  ein  unterschied.  Die  haupt- 
hebungen  sind  die  eigentlichen  marksteine  des  rhythmus,  sie 
setzen  auch  beim  taktierenden  Sprechvortrag  scharf  taktmässig 
ein,  während  das  zwischenliegende  oder  ausserhalb  liegende 
eher  eine  gelinde  Verwischung  der  taktgrenzen  gestattet.  In 
einer  gruppe  wie  ^w  |  ^,  also  etwa  lebete^  ist  keine  der  bei- 
den ersten  silben  dehnungsfähig,  beide  zusammen  geben  nur 
das  mass  einer  gewöhnlichen  länge;  folglich  ist  hier  die  auf 
die  Senkung  entfallende  more  beim  Vortrag  durch  eine  pause 
[ij)  zu  markieren.  Im  Vortrag  gestaltet  sich  also  die  gruppe 
^^  I  v^  genauer  gesagt  zu  ^^{p)  \  ^.  Hat  dagegen  die  gruppe 
die  gestalt  v^_  I  ^,  etwa  wie  in  lebende,  so  ist  die  anwendung 
der  pause  nicht  notwendig,  da  hier  die  mittelsilbe  dehnbar  ist 
{leben-n-  \  de).  Im  nebenfuss  dagegen  wird  die  durch  die 
gruppe  wx  nicht  absorbierte  zeit  anders  untergebracht,  auf 
minimale  pausen  [p)  verteilt,  die  sich  zwischen  die  einzelnen 
Silben  einschieben  und  eventuell  dem  vorausgehenden  fusse 
zu  gute  kommen.  "Wir  haben  also  folgenden  contrast  im 
Vortrag: 

1^1^  mit  haupthebung   =     ||  ^l |  ^ 

^x  I  -     »     nebenhebung  =     |  7.  .l^x?  II  - 

Für  den  kunstmässigen  gesang  fällt  allerdings  dieser 
unterschied  fort.  Wo  correspondierende  füsse  wie^xundv^x 
auf  die  gleichen  notenfolgen  gesungen  werden,  sei  es  J  J 
oder  I  i*  (oder  wie  die  taktform  sonst  sein  mag),  müssen  die 
natürlichen  quantitätsunterschiede  der  spräche  verwischt  werden. 
Aber  auf  den  rhythmischen  bau  der  verse  hat  dies  musikalische 
dement  erst  nach  langer  kunstübung  eingewirkt.  Erst  in 
der  klassischen  lyrik  des  mittelalters,  w^elche  synkope  der 
Senkung  nicht  mehr  kennt,  ist  der  unterschied  der  messung 
von  v^x  und  wx  verloren  gegangen.  Bis  dahin  hat,  trotz 
allem  was  man  über  das  notwendige  zusammengehen  von 
wort  und  weise  gesagt  hat  oder  sagen  mag,  die  alte  natür- 
liche rythmierung  gegolten,  welche  ein  überwiegen  des  sprach- 
lichen   rhythmus    über    das    rein     musikalische    zur    voraus- 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  147 

setzuDii:   hat,  während  sich  später  das  Verhältnis  dieser  beiden 
factoren  uniiiehrt.') 


Durch  diese  vorläufigen  erörterungen  hof^e  ich  eine  hin- 
längliche hasis  für  die  erläuterung  gewisser  tatsachen  der  alt- 
deutschen reimmetrik  gelegt  zu  haben,  zu  deren  darlegung  ich 
mich  nun  wende.  Dabei  sind  zwei  punkte  in  erster  linie  ins 
äuge  zu  fassen:  Otfrids  metrische  acceute  und  deren  be- 
deutung  für  die  erkenntnis  des  rhythmischen  baues  des  verses, 
und  die  art  wie  im  reimvers  die  alten  typen  det  neuen 
melodien  angepasst  und  zu  diesem  bebuf  im  einzelnen  um- 
geformt worden  sind. 

1.    Otfrids  metrische  accente. 

lieber  Otfrids  metrische  accente  liegt  schon  eine  umfäng- 
liche Specialliteratur  vor.  Die  grundlagen  hat  auch  hier  be- 
reits Lachmann  festgestellt:  'Wie  die  alte  weise  der  alliteration 
im  styl  Otfrids  spuren  zurückgelassen  hat,  so  regiert  ihr 
inneres  gesetz  auch  noch  seinen  versbau;  fast  in  jedem  halb- 
verse  hat  er  zwei  höher  betonte  Wörter.  Wenn  die  hand- 
schriften  drei  accente  setzen,  ist  es  meist  nur  versehen.  .  .  . 
In  der  regel  bezeichnen  die  Schreiber  in  jeder  vershälfte  zwei 
Wörter  oder  eins  mit  dem  accent,  und  es  ist  immer  der  selte- 
nere fall,  dass,  der  regel  alliterierender  verse  zuwider,  die 
zweite  vershälfte  zwei,  und  die  erste  nur  einen  accent  be- 
kommt' heisst  es  Kl.  sehr.  I,  457  f.,  und  dazu  in  der  anmerkuug 
8.  458:  'Auch  ist  wol  nur  im  schreiben  und  nicht  im  lesen  die 
betonung  zweier  auf  einander  folgender  vershebungen  vermieden 


')  Für  den  nord-  und  mitteldeutschen  leser  mögen  diese  ausfiihrungen 
weniger  überzeugend  sein.  Die  spräche  Nord-  und  Mitteldeutschlands 
hat  die  sicher  einst  überall  geltende  Silbentrennung  durcli  schart"  mar- 
kierte druckgrenzen  (Phonetik^  ij  2(i.  2'.t)  grosscnteils  aufgegeben  und 
besitzt  daher  wenig  genug  von  einem  scharf  und  reinlich  quantitierenden 
rhythmus.  Dem  Süddeutschen  und  Schweizer  aher,  namentlich  dem  letz- 
teren, werden  diese  dinge,  denke  ich,  sofort  klar  werden,  wenn  er  den 
rhythmischen  Verhältnissen  seiner  volksmundart  auch  nur  einige  auf- 
merksamkeit  schenkt  und  nicht  zufällig  gerade  jedes  rhythmischen  ge- 
fühles  bar  ist. 

lü* 


148  SiEVERS 

worden,  wobei  dann  die  Schreiber  der  beiden  haupthandschriften 
sich  oft  auf  entgegengesetzte  weise  helfen.'  Ausführlich  haben 
dann  über  die  frage  gehandelt  P.  Piper,  Beitr.  VIII,  225 — 244, 
und  N.  So  bei,  Die  accente  in  Otfrids  Evangelienbuch,  Strass- 
burg  1882  .  (Quellen  und  forschungen  XL VIII):  beide  ohne 
kenntnis  der  eben  citierten  äusserungen  Lachmanns,  was  doch 
einigerraassen  wunder  nehmen  muss.  Diese  arbeiten,  nament- 
lich die  von  Sobel,  bringen  im  einzelnen  manches  richtige: 
aber  die  hauptsache  haben  sie  doch  verfehlt.  Das  geht  daraus 
hervor,  dass  sie  eine  menge  von  accentuierungen  als  fehler 
oder  ausnahmen  betrachten,  welche  sich  geradezu  als  typisch 
für  Otfrids  System  herausstellen  werden  (vgl.  namentlich 
unten  nr.  10). 

Das  haupthindernis  für  eine  richtigere  auffassung  dieses 
Systems  seitens  der  beiden  letztgenannten  forscher  sehe  ich 
darin,  dass  sie  zu  sehr  in  dem  wahn  befangen  waren,  Otfrid 
wolle  wesentlich  rhetorische  accente  durchführen,  d.  h.  die 
natürliche  tonabstufung  des  prosasatzes  sei  für  ihn  mass- 
gebend gewesen.  Das  ist  aber  nur  zum  teil  richtig.  Otfrids 
accentsystem  ist  wie  seine  ganze  metrik  das  resultat 
eines  compromisses  zwischen  sprachlichem  und  metri- 
schem, und  im  zweifelsfall  hat  dabei  das  metrische, 
nicht  das  sprachliche,  den  ausschlag  gegeben '),  wie 
bereits  oben  s.  142  f.  angedeutet  worden  ist.  Dies  nachzuweisen 
soll  die  aufgäbe  der  folgenden  Zusammenstellungen  sein,  bei 
denen  ich  im  allgemeinen  nur  die  ersten  12  capitel  des  ersten 
buches  heranziehe,  um  nicht  nutzlos  material  zu  häufen.  Nicht 
unbemerkt  will  ich  dabei  laeseu,  dass  man  absolut  glatte 
resultate  nach  der  läge  der  dinge  nicht  erwarten  kann,  aus 
dem  einfachen  gründe,  der  jedem  leser  Otfrids  bekannt  ist, 
dass  die  handschriften  so  massenhaft  in  der  setzung  der 
accente  von  einander  abweichen.     Trotzdem  glaube  ich,    dass 


1)  Eine  dunkle  ahnung  hiervon  findet  sich  vielleicht  bei  Piper,  der 
von  einer  'rhythmischen  gewichtsausgleichung'  redet,  ohne  dass  man 
jedoch  darüber  klarheit  bekommt,  was  derselbe  damit  hat  sagen  wollen. 
Richtige  beobachtungen  von  tatsachen  die  hierher  fallen  hat  auch  Sobel 
s.  19  f.  (über  Wörter  von  molossischer  form  und  über  die  accentuierung 
von  versen  die  mit  einer  Stammsilbe  schliessen,  der  in  dritter  hebung 
kein  höher  betontes  wort  vorausgeht). 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIM  VERSES.  149 

mein  System  der  überlieferuDg  erbcblicb  näber  komuit,  weDiji,er 
fehler  imd  ausnahmen  ansetzen  muss  als  irgend  eines  der  bis- 
her aufgestellten. 

Ich  beginne  mit  der  besprechung  der  beiden  typen  A  und 
B  mit  gleichen  icteuabstäuden,  d.  b.  derjenigen  typen  in  wel- 
chen zwischen  den  beiden  haupthebungen  eine  nebenbebung 
steht,  oder  anders  ausgedrückt,  in  denen  jeder  baui)tbebung 
eine  nebenbebung  folgt  (A)  oder  vorausgebt  (B).  Durch  diese 
ictenstellung  zerfällt  der  vers  in  zwei  gleichwertige  dipodien, 
deren  jede  der  regel  nach  einen  acceut  erhält.  Doch  steht  im 
zweiten  halbvers,  wie  bereits  Lachmanu  sah,  verhältnismässig 
häufig  nur  ein  accent,  an  der  stelle  des  alten  hauptstabes,  also 
auf  der  ersten  haupthebung. 

1.    Verse  des  typus  A. 

1.  Normaler  weise  bekommen  verse  des  typus  A  den 
accent  auf  der  ersten  und  dritten  hebung: 

vuas  liuto  filu  in  flize  I,  1,  1». 
So  accentuieren  VP  übereinstimmend  in  den  ersten  zwölf  capiteln  70, 
21,  24,  41,  29,  11,  10,  9,  15,  15,  36  und  12  mal,    in   summa   292  mal  im 
ersten  halbvers;    im  zweiten  halbvers  51,  17,  14,  19,  IS,  2,  10,  8,  6,  4, 
14,  6  mal,  in  summa  169  mal. 

2.  Zu  diesen  versen  kommt  sodann  eine  nicht  unbe- 
trächtliche   anzahl    von    versen    mit    auflösung    der    dritten 

hebung  1),  wie 

zit  ioh  thiu  r6gula  I,  1,  42». 

Die  belege  für  den  ersten  halbvers  sind  I,  1,  51.  f)0.  89.  91.  111.  126. 
2,  7.  37.  3,  5.  7.  26.  29.  32.  35.  40.  49.  4,  1.  13.  22.  34.  45.  53.  58.  59. 
62.  63.  68.  85.  5,4.  9.  24.  25.  26.  48.  54.  56.  62.  71.  6,  6.  13.  7,  11.  16. 
21.  24.  8,  1.  22.  9,  1.  4.  14.  22.  27.  31.  10,  1.  8.  27.  11,  S.  25.  32.  33.  36. 
42.  45.  57.  12,  12.  15.  16.  19.  30.  33;  für  den  zweiten  halbvers  I,  1,  17. 
42.  51.  89.  118.  126.  2,  7.  37.  39.  3,  10.  25.  40.  49.  4,  40.  40.2)  03.  65. 
68.  73.  83.  85.  5,3.  28.  70.  8,22.  9,7.  9.  14.  22.  27.  36.  42.  12,  12.  15. 
19.  20.  30;   zusammen  69  resp.  37  belege. 

3.  Zum  typus  A  gehören  ferner  eine  reihe  von  versen, 
die  auf  ein  einsilbiges  wort  ausgehen,    das  aber  im  ton  hinter 


*)  Auflösung  im  innern  des  verscs  bleibt  hier  ausser  acht. 
-)  Die  lesung  von   V   di'clanne  ist  natürlich  dem  dreltannc  von  P 
vorzuziehen. 


150  SIEVERS 

dem  Worte  zurücksteht  welches  die  dritte  hebung  bildet.  Solche 
verse  vergleichen  sich  dem  typus  A2  der  alliterationsdichtung 
mit  nebenton  im  zweiten  fuss;  man  kann  sie  danach  etwa  als 
A"  bezeichnen.     Beispiele  sind  für  den  ersten  halbvers: 

■  ni  si  drühtin  thaz  thin  uuillo  ist  I,  2,  52 
ther  engil  imo  züasprah  I,  4,  26 
i'ize  stuant  ther  Hut  thar  I,  4,  71 
uuanana  ist  iz  fro  min  I,  5,  35 
tho  screib  er  tlieiz  ther  liut  sah  I,  9,  26 
ih  scal  thir  sagen  kind  min  I,  10,  19 
zi  theru  steti  füart  er  I,  11,  26 
ih  scäl  iu  sagen  imbot  I,  12,  9. 

Hierzu  mit  auflösung  der  dritten  hebung: 
irf  irrit  uuerde  bälo  sin  I,  2,  32 
thaz  ih  ouh  nu  gisito  thaz  I,  2,  49 
so  uuito  soso  uuörolt  ist  I,  3,  42 
zi  hiun  er  mo  quenun  las  I,  4,  3 
theru  spracha  er  bilemit  uuas  I,  4,  76 
uuas  si  after  thiu  mit  iru  sar  I,  7,  23 
gihörta  iz  filu  manag  friunt  I,  9,  3. 

Ebenso  im  zweiten  halbvers: 

öugtun  iro  uuisduam  I,  1,  5 

bi  thiu  förahten  sie  se  nöh  so  I,  1,  84 

ni  quem  er  innan  müat  min  I,  2,  29 

thu  drühtin  rihti  uuört  min  1,  2,  32 

ich  hera  in  uuorolt  zi  uns  quam  I,  3,  43 

so  moht  es  sin  ein  halb  iar  I,  5,  1  (Erdm.) 

giangi  innan  hüs  min  I,  6,  10 

ioh  aller  ouh  ther  läntliut  I,  9,  3 

ioh  lertun  ouh  thar  sang  zua  I,  12,  25 

theist  sconi  gotes  äntfang  I,  12,  29, 

und  mit  auflösung  der  dritten  hebung: 

thaz  ih  thanne  iamer  löbo  thih  I,  2,  48 
uuio  selbo  er  hera  in  uuörolt  quam  1,  3,  3 
so  thär  in  lante  situ  uuas  I,  4,  3 
thaz  thüz  gisehes  älauuar  I,  4,  66 
si  ni  mohta  inberan  sin  I,  8,  3 
so  uuarun  se  alle  samant  thar  I,  9,  6 
iohannes  scal  ther  namo  sin  I,  9, 16 
süs  scal  io  ther  uämo  sin  I,  9,  18. 

Die  gesammtzahl   der   in  VP   übereinstimmend   auf  erster 
und   dritter   hebung   accentuierten    A-verse   beträgt   daher    376 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  151 

für  den  ersten,  224  für  den  zweiten  halbvers.  Diesen  stehen 
eine  nicht  unbeträchtliche  anzahl  von  abweichenden  accentuie- 
rungen  entgegen. 

4.  Verhältnismässig  selten  ist  die  Verschiebung  des 
ersten  accentes  um  eine  stelle  ohne  dass  der  typus  dadurch 
geändert  wird: 

ioh  sie  iz  ouh  irfullen  I,  1,  110»  F,  iöh  sie  P 
thaz  si  uns  allo  uuörolti  I,  7,  26  F,  thaz  si  P 
er  quad  thes  ni  thähti  I,  8,  21  F,  er  quäd  P 
ther  ünsih  irlösta  I,  10,  4  F,  th6r  unsih  P 

und  im  zweiten  halbvers: 

thaz  thu  iz  harto  haltes  I,  2,  27  V^  thaz  thü  P 
ther  unsih  giheilti  I,  3,  38  F,  ther  ünsih  P 
uuant  iz  uuas  filu.  scöni  I,  4,  24  F,  uiiant  iz  P. 

Im  letzteren  verse  ist  die  accentuierung  von  P  direct  falsch. 
Sonst  können  diese  verse  noch  den  normal  accentuierten  bei- 
gezählt werden. 

5.  Häufig  ist  dagegen  der  fall  dass  nur  ein  accent  in 
A-versen  gesetzt  wird.  In  der  regel  aber  weichen  die  beiden 
hss.  hier  von  einander  ab,  wie  die  folgenden  belege  ergeben. 

a)  Der  erste  accent  fehlt  in  P:  erster  halbvers  I,  1,  39.  53.  90 
92.  108.  2,  3.  Ifi.  5,  39;  bei  nebenton  (und  auflüsung)  1,2,1.  5,65; 
zweiter  halbvers  I,  1,  32.  00.  67.  91.  4,  5.  5,  37.  8,  11.  12,  bei  neben- 
ton I,  1,86.  2,  17.  19  (10  :  11). 

b)  Der  erste  accent  fehlt  in  F  und  ist  in  I'  ergänzt:  erster 
halbvers:  1,3,4.  4,4.  10,1.  12,  8  (Erdmann),  mit  nebenton  1,6,3; 
zweiter  halbvers:  I,  3,  2 1 .  5,65.  12,7;  mit  nebenton  I,  9,  15  (5:4). 

c)  Der  zweite  accent  fehlt  in  P:  erster  halbvers  I,  1,  79.  4,  7. 
5,16.31.42.46.  7,8.  11,27.12,22;  zweiter  halb vers:  I,  1,  1 1.  110. 
2,  50.  4,  1.  5,  30.  32.  42.  44.  47.  64.  72.  6,  11.  16.  17.  7,  8.  13.  8,  15.  16.  19. 
9.  33.  39.  40.  10,  1.  2.  7.  14.  15.  22.  11,  2.  16.  22.  24.  26.  28.  29.  44.  54. 
61;   mit  nebenton  und  auflösung  I,  12,  21  (9  :  39). 

d)  Der  zweite  accent  fehlt  in  F  und  ist  in  P  ergänzt:  erster 
halbvers  1,1,64.  2,18.25.54.  5,18.  8,20.  9,39.  11,16,  zweiter 
halbvers  I,  1,  37.  46.  70.  72.  73.  75.  78.  80.  104.  112.  114.  125.  2,  6. 
8.  18.  26.  44.  46.  47.  3,  33.  3().  4,  18.  21.  51.  5,  14.  9,  37.  11,  50 
(8  :  27). 

e)  Der  zweite  accent  fehlt  übereinstimmend  in  FP:  erster  halb- 
vers 1,7,18.  11,28;  zweiter  halbvers:  1,4,44.48.  5,34.  6,13. 
8,26.    9,11.30.    11,15.18.35.62.    12,34(2:12). 

f)  Der  erste  accent  fehlt  in  P,   der  zweite  in  F  l,  l,  39"'. 


152  SIEVERS 

Die  hier  hervortretenden  zahleuverhältnisse  führen  zu  fol- 
genden Schlüssen.  Üas  fehlen  des  ersten  accents  kann  nicht 
auf  ein  bestimmtes  princip  oder  eine  bestimmte  neigung  zu- 
rückgeführt werden,  vielmehr  handelt  es  sich  um  nachlässig- 
keiten  der  Schreiber.  V  mit  neun  fehlem  steht  hierin  höher 
als  P  mit  21  fehlem.  Anders  beim  zweiten  acccnt.  Hier 
macht  sich  sofort  ein  erheblicher  unterschied  zwischen  erster 
und  zweiter  vershälfte  bemerklicii,  auch  gehen  nicht  gerade 
selten  beide  hss.  in  der  Unterdrückung  des  zweiten  accentes 
zusammen,  und  das  kann  nicht  ohne  bewuste  absieht  sich  so 
gefügt  haben.  Für  den  zweiten  halbvers  wird  man  eine 
neigung  zugeben  müssen,  nur  die  erste  hebung,  den  alten 
hauptstab,  zu  bezeichnen,  eine  neigung  die  sich  freilich  mit 
dem  hauptprincip  der  setzung  von  dopi)elaccenten  in  A-versen 
kreuzt.  Ueberdies  stellen  sich  die  Schreiber  von  V  und  P 
dieser  neigung  gegenüber  verschieden.  In  V  fehlt  der  zweite 
accent  verhältnismässig  häufig  in  cap.  1  und  2,  von  da  ab  nur 
spärlich:  das  grundprincip  wird  also  allmählich  strenger  durch- 
geführt. In  P  finden  wir  das  umgekehrte  Verhältnis.  In 
cap.  1 — 4  haben  wir  nur  4  auslassungen,  von  da  ab  wächst 
die  zahl  rasch  an,  hier  tritt  also  die  kreuzende  neigung  gegen- 
über dem  grundprincip  erst  allmählich  stärker  hervor. 

Die  übrigen  nicht  zahlreichen  Schwankungen  in  A-versen 
werden  erst  später  behandelt  werden,  da  es  sich  zum  teil  dabei 
um  Verschiebung  der  typen  handelt. 

2.  Verse  des  typus  B. 

1.  Diese  verse  setzen  sich  aus  zwei  steigenden  dipodien 
zusammen,  erhalten  also  normaler  weise  zwei  accente,  auf  der 
zweiten  und  vierten  hebung,  z.  b. 

iz  ist  ;il  thuruh  not  I,  1,  7» 

selb  so  helphantes  bein  I,  1,  U)^>. 
Die  übrigen  belege  für  übereinstimmende  accentuierung  von  VF  sind 
für  den  ersten  halbvers  I,  1,  U5.  2S.  48.  57.  iJ'J.  113.  2,  1.  12.  17. 
10.  24.  29.  3:j.  5G.  3,  9.  17.  37  (auflüsung  der  Schlusshebung).  43.  48. 
4,57.80.  5,  3  (auflüsung  der  sclilusshebung).  13.  28.  37.  70.  0,10.  8,6. 
9.  24.  9,  16.  18.  38.  11,  7.  19.  52.  12,  7.  29,  für  den  zweiten  halbvers 
I,  1,  48.  87.   2,  9.  55.   3,  14.  15.  17.   4,  1 1.   8,  7.  9.   9,  1  (39  :  12). 

2.  Auch   hier   fehlt   oft   wider  einer   der    beiden    accente, 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  15^ 

und  zwar  geben  hier  VP  viel  öfter  zusamrueo,  als  beim  tebleu 
eines  accentes  in  A-verseu: 

a)  Der  zweite  accent  l'ehlt  in  FP:  erster  halbvers  I,  2,  14. 
5,5.  8,27.  9,0;  z  vv  ei  ter  halb  ver  s:  1,1,52.  ;{,  1».  12.  50.  1,20.7»;. 
5,  13.  35.   8,  2.  24.   9,  7.  26.    11,  12.  19.    12,  9  (4  :  15). 

b)  Der  zweite  acceut  fehlt  in  P:  erster  halbvers  I,  5,  41. 
9,32;  zweiter  halbvers  I,  1,99.  3,47.  4,09.  5,  3(>.  41.  55.  0,12. 
7,23.   9,25.38.    10,19.  11,52.59.    12,8.27.31   (2:10). 

c)  Der  zweite  accent  fehlt  in  V,  ist  aber  in  P  ergänzt:  erster 
halbvers  I,  1,  30.  2,2.40.  4,06.5,38.9,15.  11,59;  zwei  ter  lial  b - 
vers:  I,  1,  113.    2,  12.  21.  40.  52.    4,  27.  47.  80.    0,  3  (7  :  9). 

d)  Der  erste  accent  fehlt  in  P  I,  2,  23».  55-mV).  2,  49'>  (in  V 
steht  nur  der  erste),  er  fehlt  in  VP  übereinstimmend  I,  1,  05i> 
auf  io. 

Das  resultat  aus  diesen  belegen  stimmt  gut  zu  dem  obeu 
bei  A  gewonnenen.  Der  erste  ictus  ist  der  wichtigste,  der 
accent  fehlt  ihm  gewiss  nur  durch  verseilen.  Der  zweite  accent 
kann  eher  ausgelassen  werden,  und  wird  es  gern  im  zweiten 
hall)vers  (15  mal  in  VP,  16  mal  in  P,  9  mal  in  V).  Die 
neigung,  den  zweiten  accent  unabhängig  von  der  vorläge  weg- 
zulassen, setzt  bei  P  wider  erst  etwa  mit  cap.  ö  ein,  während 
sie  ])ei  \'  gerade  wider  zu  anfang  am  stärksten  ist. 

Weitere  Unregelmässigkeiten  s.  unten. 

3.   Verse  des  typus  C. 

1.  Diese  verse  bekommen  auch  im  ersten  liall»vcrs  regel- 
mässig nur  einen  accent,  auf  der  zweiten  hebung,  also  z,  b. 

ouh  selbuii  l)iiah  frono  I,  1,  29»      *" 

sie  sint  fastmuate  I,  1,  73" 

flizun  guallicho  I,  l,'i^ 

thio  iro  chüanheiti  I,  1,  4''. 
So  sind  noch  gebaut  und  übereinstinmiend  in  l'P  accentuiert  im  ersten 
halbvers  I,  1,  70.  95.  2,4.5.  3,1.41.  4,2.25.31.65.72.77.79.  5,34. 
30.40.53.  7,  2.  3.  5  (?).  7.  22.  9,24.29.30.  10,20.  11,30.47.  12,34;  im 
zweiten  halbvers  1,  1,49.81.85.108.115.  2,3.5.  3,24.29.41.44. 
4,  8.  13.  14.  15.  17.  22.  52.  55.  58.  00.  02.  04.  74.  77.  7s.  79.  81.  5,  9.  17.  20. 
24.  25.  36.  45.  48.  50.  03.  66.  0,  0.  9.  7,  2.  7.  11.  20.  8,  S.  9,  10.  28. 
10,  3.  5.  8.  Kl.  11.  1.-!.  10.  24.  II,  I.  Kl.  21.  3  1.  41.  13.  10.  12,  2.  IS 
(31   :  67). 

Variationen  dieser  grundform  des  typus  entstehen  duicli 

2.  Auflösung  der  dritten  hebung,  wie 


154  SIEVERS 

ih  uueiz  iz  göt  uuorahta  I,  1,  SO'' 

ist  er  üb  gebenti  I,  5,  31^. 
So  noch  im  ersten  lialbvers  I,  4,  40.  7,  15,  im  zweiten  I,  8,  1.  10,  6.  21. 
11,45  (3  :  5). 

3.  Auflösung  der  zweiten  hebung,  wie 

iz  ist  füll  feizit  I,  1,  (iT» 

in  managemo  agaleize  I,  1,  Ib. 
So  noch  im  ersten  halbvers  I,  1,  107.  119.  4,  38.  48.  67.  5,  30.  7,  14.  8,  19. 
9,12.    10,1.    11,15.54,    im   zweiten   halbvers  I,  1,  15.  26.  58.  62.  G3,  105. 
123.     2,13.     3,4.35.     5,6.8.18.33.49.    6,18.    7,5.8.17.23.28.    9,13. 
10,20.    11,  3  (?).  55.    12,  5  (13  :  27). 

4.  Auflösung  der  zweiten  und  dritten  hebung  zugleich: 

so  scribent  götes  thegana  I,  1,  46 a 
sie  sint  filu  redie  I,  1,  75» 
thar  man  thaz  fihu  nerita  I,  11,  57  ^ 
nist  qucna  berenti  I,  5,  62  '\ 

5.  Verkürzung  der  dritten  bebung: 

in  mir  ärmeru  I,  7,  10'^ 
firliaz  er  itale  I,  7,  18'' 
mit  allen  sdlidon  I,  7,  24, 
mit  auflösung 

iu  filu  mänegero  I,  4,  49. 

6.  Gleicbzeitige  accentuierung  der  zweiten  und 
dritten  hebung  (d.  b.  derjenigen  hebuugen  welche  den  alten 
icten  von  C  im  alliterationsvers  entsprechen)  in  VP  ist  selten: 

ist  st' dal  sinaz  I,  5,  47» 

in  uns  iügund  mänaga  I,  5,  53 ^ 

thaz  siu  zi  hüge  häbeta  1,  7,  1  ^. 

Häufiger   ist   diese    accentuierung    nur    durch    eine   handschrift 

vertreten: 

Durch    F:    erster    halbvers    I,  1,  7S;    zweiter    lialbvers    1,3,7. 

6,4.7.   9,8.21.23.    11,6;    durch   I':    ers ter  h alb vers  1,  1,  59.   4,50. 

6,  IG.  17.  7,  10.   8,  10.  25.  11,  51.  12,  11;    zweiter  halbvers  I,  1,  2.  28. 

77.    2,  34.    3,  19.  26.    4,  29.  54.  61.   5,  40.   7,  26. 

7.  Gleichzeitige  accentuierung  der  ersten  und  zweiten 
hebung  in  VP  begegnet  nur  zweimal: 

thkz  si  uns  büran  scolti  I,  3,  38 -i 

thi  er  uns  ist  iihenti  I,  10,  18^. 
In   F  allein:  erster  halbvers  I,  1,  117.  5,  67.  12,  3;  zweiter  halb- 
vers I,  1,  53.  64.  66.   4,7.   7,21.   11,1;    in  y  allein:  erster  halbvers 
1,1,40.45.   2,43.   3,22.33,   9,10.    11,17;    z we ite r  halb ve r 8  I,  2,  35. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REliMVERSES.  155 

4,  57.  5,  l'J.  ü,  2.  Falsch  steht  der  erste  aceent  in  P  auf  einer  silbe 
die  notwendig  in  eine  Senkung  fallen  inusa  I,  3,  Ib".  4,  2s ».  8,  5". 
11,  18a.   9,  31i>. 

4.  Verse  des  typus  D. 

1.  Zu  diesem  typus  fi:eliüren  diejenigen  verse  mit  nur 
einem  accent  auf  der  zweiten  hebung,  in  welchen  dieser 
hebung  ein  wort  vorausgebt,  das  in  der  alliterationsdicbtuug 
notwendig  den  ictus  und  die  alliteration  auf  sieb  ziehen  milsste. 
Sowol  die  normale  form  .L  ]  11  x  ^Is  die  erweiterte  form 
Ix  1  —Ix  begegnet;  ebenso  die  üblichen  auflüsungeu  und  die 
Verkürzung  der  nebentonsilbe  (diese  beiden  falle  sind  unten 
durch  Sterne  angedeutet).  Auftakt  ist  überall  gestattet.  Bei- 
spiele: 

thie  hühun  ältfatera  I,  3,  25»* 
thie  uuarun  ui'trzelun  I,  3,  271** 
ioh  reht  minnonti  I,  4,  S* 
selbdrühtine  I,  4,  46« 
thie  ungilöubige  I,  4,  43» 
mit  lidin  lichamen  I,  7,  4» 
kristes  16b  sungi  I,  1,  IKii» 
gibot  füllentaz  I,  4,  ß^. 

So  gehen  noch  im  ersten  halbvers  I,  4,  42  (elision).  73*.  5,  (>*.  50 
52*.  7,  4*.  9,  3G*,  im  zweiten  I,  1,  34*.  3,  2.  5  (elision).  28*.  32*.  34* 
37*.  46.  4,  1  (elision).  9*.  10.  16*.  20.  23*.  34*.  3S*.  41.  42*.  45.  50.  67* 
5,4  (elision).  11.  16*.  21*.  23*.  26*.  56*.  59*.  60*.  68  (elision).  71.  7,6* 
9*.  9,29.  34.  10,  4*(Erdm.).  27*.  2K.  11,20*.  27.*  3U*.  32*.  3S'^.  12,  I 
3.  10.  22.  23*.  28*.  33*(13  :  53). 

2.  Gleichzeitige  accentuierung  der  beiden  alten  hebungen 
in  VP  ist  widerum  sehr  selten: 

thera  sprächa  uiornenti  I,  4,  83* 

thiu  züht  uuas  uuälisenti  I,  9,  40» 

thie  utmüatige  1,  7,  Uli». 
Vereinzelt  findet  sie  sich   in   V  I,  10,  16»  {ün/ura/ilcnti) ,    12,  2(i-'  (kiiiii 
inuuiboranaz);   3,  4Sb  {iohannes  ihegan  siiicr),  b,  U^^  ((/u(t;s  siin  frono), 
und  in    P  1,4,32  sik  uiiörolt  mcndcnli,    4,37''  in  dbuh  irrentcs,    9,2*' 
lliaz  kind  t/10  heran  scolia,    II,  56'"  gibriafte  in  himilrichc  (elision). 

3.  Eine  andere  accentuierung  von  versen  dieses  typus 
wird  in  unserem  absciiuitt  nirgends  durch  beide  haiidschriftcn 
gewährleistet.  An  abwcichiingcn  einzcliuM-  iiandschriftcii  sind 
aufzuführen  heil  nmjad  ziert  I,  f),  15»  1',  zirri  V,  l/irm  ijotes 
drütbölono  4,  59''  P,    -botono   V. 


156  SIEVERS 

5.  Verse  des  typus  E. 
Dieser  typus  tritt  nus  leicht  beg'reiflichen  gründen  hinter 
den  andern  ganz  zurück.  Das  einfache  _!_JLx  |  —  ergäbe  im 
taktvers  LLl  \  L,  also  delinung  einer  unbetonten  silbe  auf 
volle  taktlänge  unmittelbar  vor  einer  hebung,  was  im  Zu- 
sammenhang mit  dem  übrigen  schweren  gang  des  verses  un- 
erträglich wäre.  Nur  die  durch  cinschiebung  von  senkungs- 
silben  erweiterten  formen  von  E  können  im  reimvers  einen 
boden  finden,  und  scheinen  ihn  wirklich  gefunden  zu  haben, 
da  tatsächlich  verse  vorkommen  welche  die  erste  und  vierte 
hebung   betonen.     Es  gehören  hierher  aus  unserem  abschnitte: 

las  ih  iü  in  üla-  |  uuar  I,  1,  87 

zellent  sie  una  fihi  |  främ  I,  3,  3 

thie  I  uuega  rilit  er  imo  iibar-  |  -al  I,  3,  50 

ünbera  uuäs  thiu  |  quena  I,  4,  9 

fliuhit  er  in  then  |  sc  I,  5,  5 

niuuiböran  habet  thiz  ]  Itlnt  I,  12,  13 

ni  1  läz  thir  innan  thiiia  |  brüst  I,  12,  27. 

Alle  diese  beispiele  gehören  dem  ersten  halbvers  an.  Ohne 
zweifei  falsch  accentuiert  ist  in  VP  ih  sägen  thir  in  uuar  min 
I,  8,  3,  denn  uuar  hat  notwendig  den  stärkeren  ton,  der  vers 
gehört  also  sicher  zum  typus  A"  (vgl.  oben  s.  149  f.). 

6.  Verse  des  typus  _L x - X -^ X ^  C-'^'')- 
Die  vorstehenden  listen  umfassen  etwas  über  900  verse, 
die  in  VP  übereinstimmend  acccentuiert  sind  und  sich  nach 
den  früher  gegebenen  gesichtspunkten  ohne  weiteres  aus  den 
alten  typen  ableiten  lassen.  Im  einzelnen  findet  dabei  folgen- 
des Verhältnis  zwischen  typen  und  accentzahlen  statt: 

Zwei  accente: 
598  (i.  u.  3.  bebung) 
51  (2.  u.  4.  „  ) 
5  (lod.2.u.3.  „  ) 
3  (1.  u.  2.  „  ) 
7  (1.  u.  4.        „     ) 

Neben  diesen  formen  bestehen  aber  noch  zwei  andere,  die 
sich  mit  keinem  der  alten  typen  ganz  decken.  Ich  stelle  unter 
diesen    neuen   typen    voran   die   verse   der   form   I-x-X  — X-- 


Ein  accent: 
A       14    (1.  hebung) 
B       21  I 

C     154  U2.  hebung) 
D       66) 
E      — 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIM  VERSES.  ir,7 

Dieser  typus  ist  ohne  zwcifel  nur  eii'je  umbildunj:  des  alten  A, 
entstanden  durch  erweiterung  des  sehlussfusses  '-x  zu  — x'-' 
statt  zu  -L^.  Diese  erweiterung  setzt  aber  wideruni  vorgängige 
einführung  der  taktierung  voraus.  Durch  diese')  traten  im 
innern  des  verses  zahlreiche  parallelen  von  -^  und  -Ix^ 
auf,  wie  etwa  in  den  versen 

bürg  nist  thes  uucnk6  I,  11,3 
in  büachon  man  gimeinti  I,  1,  4, 

und  diese  freiheit  des  nebeneinander  ward  dann  auch  auf  den 
versschluss  übertragen,  jedoch  nicht  gerade  häufi;:'.  Die  belege 
unseres  Stückes  sind  im  ersten  halbvers 

uuas  imo  iz  harto  i'ingimah  I,  8,  2 
gihügit  thaz  er  her  iz  liaz  I,  10,  12 
sagen  ih  in  güate  man  I,  12,  17 
thö  quam  unz  er  zin  tho  sprah  I,  12,  21 
biscof  ther  sih  uuachorot  I,  12,  31, 

im  zweiten  halbvers 

zi  thiu  einen  uucsan  üngimah  I,  1,  'ü. 

Man  kann  diese  modification  von  A  etwa  durch  A""  bezeichnen. 

7.    Verse  des  typus  JLx-x-'-'  (^'')- 
Schwieriger   zu   beurteilen   als   die  A""   sind  die  verse  der 
oben    angegebenen   form.     Ich  stelle  zunächst  wider  die  durch 
übereinstimmende   accentuierung  von  VP  gesicherten  beispiele 
voraus.     Im  ersten  halbvers 

sie  thaz  in  scrip  gicleiptin  I,  1,2 

ist  iz  prösun  slihti  I,  1,  19 

ni  man  in  iro  gizungi  I,  1,  llO  (auflüsung) 

thaz  uuir  Kriste  sungun  I,  1,  12") 

ouh  in  ;il  gizungi  I,  2,  42 

sinero  eregrehti  I,  4,  17  (elision) 

iz  uuas  imo  üngimuati  I,  8,  1 1  (do.) 

ich  theiz  gidougno  uuurti  I,  b,  18, 

und  im  zweiten  halbvers 

bithiu  ist  thaz  ander  racha  1,  1,  .')(i 

sin  alexanderes  slahtu  I,  1,  88 

in  thia  züngun  niina  I,  2,  4 

ioh  nah  ginäda  tliinu  I,  2,  30 

zi  sinemo  ältgilare  I,  11,  II  (olisiitn) 

ther  iro  lob  irsinge  I,  11,  47. 

•)  Näheres  hierüber  folgt  unten  im  zweiten  abschnitt. 


158  SIEVERS 

Diese  verse  haben  das  scliema  von  A,  aber  die  accent- 
stellung-  von  C.  Sind  sie  nun  aus  A  oder  aus  C  abgeleitet? 
Im  ersteren  falle  miisste  man  eine  Verschiebung  des  icten- 
gewichtes  in  der  ersten  dipodie  annehmen,  im  zweiten  falle 
eine  Umbildung  des  mittelstüekes  LI.  von  C  in  .^x—  n^'Ch 
dem  eben  •  angeführten  muster.  Für  die  erstere  annähme 
spricht  wo],  dass  dieser  typus  verhältnismässig  häufig  doch 
auch  mit  zwei  accenten  versehen  wird,  wie  A.  Durch  beide 
handschriften  ist  doppelaccent  überliefert  in 

odo  metres  kk'iini  I,  1,  20» 

uns  sind  kind  zi  beranne  I,  4,  51  a 

er  nam  göuma  libes  I,  8,  15». 

Dazu  kommen  an  doppelaccenten  in  einzelnen  handschriften 
noch  in  V  1,1,  9G''.  4,12''.  11,14'',  in  P  I,  1,  9^  11,  50^ 
1,102''.  103''.  2,45''  und  J)ei  sonst  schwankender  accentuierung 
noch  in  V  I,  1,  17''.  2,28'',  in  P  I,  l,30^  10G^  9,7».  10,26=*. 
Auch  ohne  die  zuletzt  aufgeführten  haben  wir  drei  sichere 
(und  8  halbsichere)  beispiele  für  doppelaccent,  während  ein- 
facher accent  14  mal  durch  VP  belegt  ist;  bei  C  dagegen  fan- 
den sich  oben  s.  154  nr.  6  auch  nur  drei  sichere  (und  28  halb- 
sichere) belege  für  doppelaccent  gegen  ca.  150  verse  mit  ein- 
fachem accent. 

Ich  halte  daher  auch  diesen  tyjius  für  eine  Umbildung  des 
alten  A  und  bezeichne  ihn,  um  seine  annäherung  an  C  auszu- 
drücken, mit  A''. 

Eine  Vereinigung  der  eigentümlichkeiten  von  A*"  und  A'' 
zeigt  der  ganz  isolierte  vers 

tliaz  then  thio  buah  nirsmiihetin  I,  1,9'>. 

Sein  Schema  ist  x  I  -x  1  -X  I  -X  I  -• 

Der  procentsatz  der  neuen  typen  A""  und  A''  ist  wie  man 
sieht  noch  kein  sehr  bedeutender:  6  A""  und  25  A*"  gegen  über 
600  reguläre  A  und  150  reguläre  C. 

8.  Schwankungen  zwischen  verschiedenen  typen. 
Im  allgemeinen  heben  sich  die  verschiedenen  typen  auch 
im  reimvers  deutlich  von  einander  ab.  Aber  da  wo  ein  vers 
eine  reihe  von  Wörtern  enthält  deren  accentstärke  nicht  sehr 
verschieden  ist,  kann  man  öfters  schwanken,  welchem  typus 
ein  vers  zuzurechnen  und  wie  er  demnach  zu  accentuieren  ist. 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIM  VERSES.  159 

Auch  Otfrid  selbst  hat  bisweilen  recht  wunderliche  accentuie- 
lungen,  bei  denen  er  mehr  auf  das  äusserliche  versschema,  als 
auf  die  natürliche  betonung  gesehen  hat.  So  wenn  er  nach  C 
accentuiert  drulliut  sinan  l,  7,  19'',  thes  goles  hüten  uiiorlo 
\,  12,6''  statt  nach  A  drütUut  sinayi  und  thei<  (jöles  boten  uuörlo, 
oder  nach  A  zi  uns  nht  er  liorn  heiles  I,  10,  ö"^,  alle  dayafristi 
I,  10,  18*,  wo  nur  C  (D)  zi  uns  riht  er  hörn  heiles,  alle  dwja- 
fristi  am  platze  gewesen  wäre.')  Namentlich  aber  zeigt  sich 
öfter  ein  schwanken  zwischen  verschiedenen  tyi)en  bei  der 
vergleichung   der  abweichenden  accentuierungen  von  V  und  P. 

a)  V  accentuiert  nach  A'",  P  nach  A: 

thaz  ih  drühtin  thanne  =  th;iz  ih  dnihtin  thännc  I,  2,  IT)-! 

ioh  theih  thir  hiar  nu  ziaro  =:  ioh  tli(''ih  tliir  hiar  nu  ziaro  I,  2,  41  «■ 

suntar  rehto  in  uuarn  =^  si'intar  rehfo  in  uiiaru  I,  2,  Ki» 

thu  hilfis  io  mit  krcfti  =  thii  iiilpliis  io  mit  krrfti  I,  2,  M-^ 

uuio  luegih  uuizzan  thanne  =  uuio  mag  ih  uuizan  thänne  I,  4,  55a 

ioh  thia  höhun  uiiirdi  =  iöh  thia  hohun  uuirdi  I,  8,  14» 

thaz  er  fon  thir  nirstriche  ■=  thaz  er  fon  thir  nirstriche  I,  12,  28" 

und  mit  doppelaccent  auf  A'': 

theist  mannes  last  zi  libe  =  theist  raannes  liKst  zi  übe  I,  1,  17'j 
thar  hör  er  io  zi  guate  =  thar  iiör  er  io  zi  güate  I,  1,  121'» 
ginada  thin  theiz  thihe  =  ginäda  thin  theiz  tliihe  1,  2,  28'» 
thar  uuarun  io  giiiänte  =  thar  uuänin  io  gin.inte  I,  11,  iu;''. 

b)  Umgekehrt  accentuiert  Y  nach  A  und  V  nach  A'^: 

nist  iz  bi  unsen  fri'htin  =  nist  iz  bansen  frelitin  I,  1,  Os» 

thie  f61  sin  gaates  unillen  =  thie  fol  sin  gaatos  nuillcii  K  12,  21'' 

und  mit  doppelaccent  in  A": 

:ina  theheiniga  akust  =  ana  thelieiniga  ;il<nst  I,  1,  .to 
ana  sin  girati  =  ana  sin  girati  I,  1,  10(i=» 
sie  qaamun  al  zisamaue  =  si  qaaman  ;ll  zisämane  I,  '.I,  T" 
i'insc  faazi  oah  rihte  =:  unse  fiiazi  ouh  rihte  I,  10,  2(i-\ 

c)  V  accentuiert  nach  C,  P  nach  A: 

ther  sie  zimo  holeta  =  thor  sie  zimo  höicta  I,  1,  US-"» 

sar  thuzar  thera  raenigi  =  sar  tha  üzar  thera  menigi  I,  2,  39" 

ubar  tiiin  lioabit  =  übar  thin  hoal)it  1,0,  14''. 

d)  Umgekehrt  accentuiert  V  nach  A,  aber  P  nach  C: 
thes  uigun  sie  io  nüzzi  =  thes  eigan  sie  io  naz/.i  I,  1,  DT« 
ioh  ianier  freaae  in  liliti  =  ioli  iani(M'  fn'uuo  in  riliti   1,2,41" 
dri'ihtin  quenian  anolta  =  dialitin  (|iit'inan  aaolta  I,  1 1,  .'in"  (Krdni.) 

')  Einiges  nähere  liierza  s.  imiümi  anler  nr.  1<». 


160  SIEVERS 

scult  tlm  uiiesan  (''ina  =  scalt  thu  uiiesan  eina  I,  5,  22'' 

er  sili  Ion  iru  irfirti  =  er  sih  ton  im  irfirti  I,  8,  18'' 

ni  ör  sih  iru  nähti  =  ni  er  sih  iru  nahti  I,  8,  21'' 

uuio  er  then  nauion  unolti  =  uuio  er  then  nanion  nnolti  I,  9,  24'' 

in  sine  uuega  rehte  =  in  sine  uuega  rehte  I,  10,  24'' 

uuaz  thaz  fers  singe  =  uuaz  thaz  fers  singe  I,  12,  26'». 

e)  A  wechselt  mit  D: 

heil  uuih  d6hter  V  =  heil  uuih  dohter  P  I,  0,  5'' 

sin  mi'iater  magad  scöniu  V  =  sin  müater  magad  sconu  P  1, 12,  IG'' 

f)  A  wechselt  mit  E: 

so    blidta    sih    ingegin    thir   F   =    so    blidta   sih    ingegin   thir  P 
I,  (i,  12». 

g)  B  wechselt  mit  E;  die  Vorliebe  für  das  letztere  ist 
dabei  auf  seite  von  P: 

in    thina  zungun   uuirken   düam    F  =  in   thina   zungun    uuirken 

düam  P  I,  \,  44a 
bifora  lazu  ih  iz  al   V  =  biföra  lazu  ih  iz  al  P  I,  1,  52* 
iohanues  drühtines  drut  V  =  iobilnnes  drnhtines  drüt  P  I,  7,  27  a 
ist  harto  kündera  thir  V  =  ist  härto  kundera  thir  P  I,  2,  24'' 
in  uuorolti  er  ni  gisah  F  =  in  uuörolti  er  ni  gisah  P  1,  9,  32''. 

h)  B  wechselt  mit  A""  mit  nebenton  am  schluss: 

nam   thes  huares  thana  uuan    V  =  nam  thes  hüares  thana  uuan 
P  1,  8,  C''. 

Ich  halte  diese  accentuierung  in  P  übrigens  für  ein  blosses 
versehen:  der  accent  ist  dem  Schreiber  auf  das  an  von  thana 
statt  auf  das  von  uua7i  geraten. 

9.   Reste. 

Nach  erledigung  aller  bisher  besprochenen  verse  bleibt 
noch  eine  reihe  von  accentuierungen  übrig,  die  sich  mit  den 
aufgestellten  normen  nicht  verträgt.  Es  handelt  sich  dabei 
aber  fast  ausschliesslich  um  eigentümlicnkeiten  die  nur  in 
einer  handschrift  auftreten  und  dadurch  bereits  den  verdacht 
erwecken,  dass  sie  lediglicii  fehlerhaft  sind. 

Ein  reiner  fehler  ist  sicherlich  das  fehlen  des  accents  auf 
io  in  dem  B-vers  ioh  uuarun  io  thes  r/iuuön  VP  I,  1,  65''; 
der  phonetische  accent  auf  id  gab  den  anlass  zum  übersehen. 

Die  meisten  andern  auffälligen  accentuierungen  werden 
ihren  entstehungsgrund  in  einem  schwanken  zwischen  verschie- 
denen   möglichkeiten    der    accentsetzung    haben.      Namentlich 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIMVERSES.  IGl 

reebne  ich  dahin  die  grosse  masse  der  dreifachen  accente. 
Wir  finden  ja  sehr  oft  in  den  handschriften  einen  dritten 
accent  ausradiert  an  stellen  die  bei  einer  gewissen  accentuie- 
rung  wol  einen  accent  hätten  bekommen  dürfen.  So  z.  b. 
I,  1,  5.  Hier  hat  P  zunächst  die  drei  accente  von  V  iharäna 
dälun  sie  ouh  thaz  düam  heriibergenommen,  dann  aber  den 
ersten  getilgt,  doch  offenbar  weil  es  ihn  für  falsch  hielt.  Der 
vers  kann  aber  an  sich  auf  doppelte  weise  accentuiert  wer- 
den, als  B  auf  dälun  und  düam^  oder  als  E  auf  iharäna  und 
düam.  P  hat  sich  für  B  entschieden.  Ob  aber  V  zuerst  nach 
E  accentuiert  hat  und  dann  nachträglich  zu  B  übergegangen 
ist  oder  umgekehrt,  kann  man  nicht  wissen.  Aber  auf  alle 
fälle  ist  nach  der  umcorrectur  der  überzählig  gewordene  accent 
nicht   getilgt   worden.     Ganz    ähnlich    liegen    die   dinge  noch 

1,  1,  5^  2,  21^  48^  3,  10^  8,  7^  9,  9^  ll\  l,  144'\  2,  2^  25'^ 
10,  12^  11,7''.  Darunter  hat  V  im  ganzen  5  mal  den  drei- 
fachen accent,  und  P  8  mal.  So  kann  man  sich  denn  nicht 
wundern,  wenn  vereinzelt  auch  ein  uncorrigierter  fehler  in 
beiden  hss.  erscheint:  zi  nüzze  grebit  man  ouh  thär  I,  1,  09% 
thaz  herza  wieist  (hu  ßu  häz  I,  2,  23'';  auch  hier  handelt  es 
sich  wider  um  ein  schwanken  zwischen  B  und  E,  Ferner 
haben  wir  einseitig  drei  accente  in  V  oder  P  beim  schwanken 
zwischen  A  und  A^"  I,  1,  93=».  5,  20^  11,  S^  1,  100''.  111^  beim 
schwanken   von    A  und  C    1,6,8%   und  1,2,9='.   5,  1^    12,25». 

2,  14"'  beim  schwanken  zwischen  A  mit  nebenton  am  schluss 
und  E. 

An  andern  stellen  ist  die  mischung  nur  halb  vor  sich  ge- 
gangen, man  hat  ein  stück  der  verworfenenen  accentuierung 
stehen    lassen.     So    schreil)t   z.  b.   V    Iher  sün   sin  fäter  uuari 

1,  3,  16'',  d.  h.  zur  hälfte  A  {sün  —  niiäri),  zur  hälfte  C  resp. 
D  {fäler  allein);  P  hat  sich  für  C  entschieden  (accentuiert  auf 

2.  und  3.  hebung,  vgl.  oben  s.  154,6;  vielleicht  verdanken  wir 
den  immerhin  ungew^öhnlichen  accent  auf  uuäri  dem  umstände 
dass  dem  Schreiber  doch  auch  der  typus  A  vorschwebte).  Wenn 
ferner  V  4,  29*  schreibt  ältquena  (hinu,  aber  P  ä/iquena  Ihinu, 
letzteres  also  typus  A  annimmt,  so  hat  V  offenbar  erst  zu  A 
angesetzt,  dann  aber  sich  für  C  entschieden  (vgl.  drntliut  sinan 
oben  8.  159)  und  vergessen  den  accent  auf  äli-  zu  tilgen. 
I,  1,  43    hat    V    nach    typus  A   mal   ihn  thes  uuola  drähton,    P 

Beitrüge  zur  scscliichte  der  deutschen  spräche.    XllT.  1 1 


162  SIEVERS 

aber  mal  thü  thcs  nuöla  drahion^  will  .also  C,  h.it  aber  den 
ersten  accent  von  A  noch  belassen  (ähnlich  bei  V  I,  1,  103*. 
100%  wo  P  reines  A  hat,  und  I,  1,  104%  wo  P  drei  accente 
setzt;   die  bezeichuung  schwankt  zwischen  A  und  A'"). 

Selbst  der  vierfache  accent  von  V  I,  2,  33'' 
thu  druhtin  eino  es  alles  bist 
lässt   sich    wol   aus   einer   mischung   von  B  (welches  P  wählt) 
und  A^  (oben  s.  ir-Of.)  erklären. 

Kein  fehlerhaft  endlich  sind  zwei  accente  von  V  auf 
senkungssilbeu  I,  5, 60^  11,58'';  sie  fehlen  in  P;  ferner  si 
uuort  shiaz  V  I,  5,  66%  wo  P  correctes  C  hat.  Gegen  sinn 
und  Schema  verstösst  auch  der  accent  von  P  auf  ellu  I,  2,  56 '\ 
Zuletzt  bleibt  dann  noch  der  vers  nu  ist  sin  gibnrd'mot  {ihes) 
1,  5,  61  mit  seiner  schwankenden  Überlieferung. 

10.    Das  Verhältnis  der  accente  zu  wort-  und 
satzton. 

Es  ist  oben  s.  142.  148. 159  f.  widerholt  darauf  hingewiesen 
W'Orden ,  dass  als  oberstes  princip  für  die  setzung  der  accente 
Otfrids  nicht  ein  rhetorisches,  sondern  ein  rhythmisches  anzu- 
nehmen sei.  Die  richtigkeit  dieser  behauptung  folgt  insbe- 
sondere daraus,  dass  Otfrid  den  natürlichen  wort-  und 
satzton  systematisch  vernachlässigt,  wo  er  mit  dem 
gewollten   rhythmischen  Schema   in  widerstreit  gerät. 

Tatsachen  die  unter  diesen  gesichtspunkt  fallen,  sind  teils 
bereits  von  Lachmann,  Kl.  sehr.  I,  378  f.,  teils  neuerdings  von 
Piper,  Otfrid  157  ff.,  Beitr.  VIII,  226  ff.  und  von  Sobel  16—25 
beobachtet  und  zu  erklären  versucht  worden.  Ich  will  zu 
den  ausführungen  dieser  drei  forscher  nur  noch  einiges  in 
kürze  hinzufügen,  um  zu  zeigen,  wie  einfach  sich  wider  alles 
auffällige  der  accentuierung  bei  annähme  des  flinftypensystems 
erklärt. 

1.  Längere  composita  nehmen  mit  ihren  beiden  tönen 
in  der  regel  zwei  hebungen  in  anspruch,  und  in  der  regel 
wird  denn  auch  das  erste  glied  mit  dem  accent  versehen.  Doch 
finden  sich  namentlich  zwei  charakteristische  ausnahmen: 

a)  Composita  deren  zweites  glied  auf  — -x  oder  eine  auf- 
lösung   davon    ausgeht,   fallen  am  versschluss  notwendig  unter 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  REIM  VERSES.  103 

den  typus  D  und  erhalten  somit  nur  6inen  accent,  und  zwar 
auf  dem  zweiten  gliede  (oben  s.  155): 

selbdrühtine  I,  4,  6  (vgl.  I,  5,  71.  V,  15,  2.  H.  2h.  100) 

thie  imgilöubige  I,  4,  43.  15,  4:i 

fuazfiillonti  I,  5,  10 

alauuiiltendan  I,  5,  23 

ebanöuuigan  I,  5,  2f) 

unforahtenti  I,  10,  Kii) 

so  unrödihafto  II,  11,  (5 

ungiscuuanlicho  II,  12,  44 

mit  selbsteinonne  III,  23,  32 

in  liimilgüallichi  V,  4,  53 

themo  uuizodspi'ntare  V,  8,  36 

thie  drutmennisgon  V,  11,  35 

ioh  uuoroltimstati  V,  14,  9. 

Nach  demselben  prineip  ist  auch  in  V  ganz  richtig  aecentuiert 
sie  M'abeitotun  V,  13,  5,  und  ärabeito/im  in  P  ist  sicher  keine 
Verbesserung  im  sinne  Otfrids. 

Ausnahmsweise  linden  sich  doppelaccente:  thie  öfmüali{/e 
I,  7,  16  Vi^,  und  in  fihuuuiai^i  III,  4,  3  P  gegen  /ihuuuiari  V. 

b)  Tieften  coraposita  der  form  Ix----  ^^^^r  einer  auf- 
lösung  davon  auf  die  beiden  hebungen  der  ersten  dipodie  eines 
B-verses,  so  erhalten  sie,  weil  diese  dipodie  steigend  i.st,  den 
accent  auf  dem  zweiten  gliede: 

ungikSnot  ni  bileip  S.  2() 

uuiht  ungidiines  ni  bilüib  U.  30 

unforliolan  ist  iz  thar  I,  15,  42 

thiu  hellip6rta  ubar  thaz  III,  12,  35 

untarthio  iiiias  er  in  I,  22,  57  (üntarthioh  /') 

iz  ungidäu  ni  hileip  II,  2,  0  (üngidan  P)' 

in  hiniilriche  ouh  thaz  ist  uu:ir  IV,  9,  2s  (hiniilriche  P). 

Seltener  findet  sich  diese  art  der  accentuierung,  wenn  das  com- 
positum die  form  1.1  .. .  oder  1^-  •  •  •  ^'^t- 

umm(';zzigaz  ser  V,  23,  93 

baldlicho  so  imo  zam  IV,  35,  1 

gimuatfägota  er  tho  in  II,  14,  113  (gimriaffagota  /') 

thie  uuohiuuilligun  man  III,  10,  17. 

Allerdings,  so  streng  durchgeführt  ist  diese  regcl  nicht,  wie 
die  vorhergehende,  da  in  allen  diesen  versen  auch  typus  E 
angenommen    werden    kann    und   von    P,    wie   man    sieht,    an 


')  Der  accent  auf  un-  in  V  ist  jünger,  Sobcl  s.  25  anm. 


164  SIEVERS 

einigen  stellen  auch  wirklieh  angenommen  worden  ist.  Dass 
aber  die  acceutuierung  hier  wirklich  nur  nach  dem  gewollten 
versschema  geregelt  worden  ist,  zeigt  die  vergleichung  der 
accentuieruug  derselben  oder  ähnlicher  Wörter  in  anderen 
verstypen,  z.  b.  er  imihtes  i'mgidmi  ni  liaz  V,  4,  45,  wo  iimjidan 
auf  die  zweite  und  dritte  hebung  eines  B-verses,  oder  nah  ün- 
gidan  hilibe  I,  24,  10,  wo  es  auf  die  erste  und  zweite  hebung 
eines  A-verses  fällt;  oder  ähnlich  ioJi  thih  iz  ünfarholan  ist 
V,  '25,  55,  ioh  näh  ünfarholan  düan  II,  7,  20,  {thelz)  ünforholan 
uuari  II,  3,  6.  IV,  34,  7,  ther  Ihir  so  müalfagola  III,  20,  72 
u.  dergl. 

c)  Hierher  gehört  auch  das  bereits  von  Sobel  s.  22  richtig 
hervorgehobene  Verhältnis  der  acceutuierung  von  ümbikirg,  üm- 
hizirg  einer-  und  umbiring  andererseits.  Die  beiden  ersten 
stehen,  zusammen  3  mal,  im  eingang  von  A-versen  und  accen- 
tuieren  also  das  erste  glied,  das  letztere  7  mal  am  Schlüsse 
von  B,  einmal  am  Schlüsse  von  E  und  hat  also  den  accent 
auf  dem  zweiten  bestandteil.  Dagegen  handelt  es  sich  bei 
dem  willkürlichen  Wechsel  zwischen  nlauuar  und  alauuär  offen- 
bar um  ein  wirkliches  schwanken  in  der  betonung.  Auch  noch 
mhd.  finden  wir  älwär  (z.  b.  daz  ist  alwär  Nib.  138.  1106.  1142. 
1387.  1734  Bartsch)  neben  alwär  {er  machet  kurze  vröude  alwär 
Parz.  1,  20,    der  sprach  'fimi  muoter  sagt  alwär  163,  15). 

d)  Andere  Verschiebungen  des  accentes  auf  den  schwächer 
betonten  teil  eines  compositums  finden  sich  nur  selten.  Her- 
vorzuheben  sind   noch   einige   verse   die   statt  nach  C  nach  A 

accentuiert  sind: 

alle  (lagafristi  I,  10,  IS 
ioh  then  adalerbon  IV,  (j,  8 
thdr  in  alathräti  V,  4,  33. 

Dazu  vgl.  auch  die  mischung  von  A  und  A'^  in  er  ingiang  ün- 
gimerrit  V,  12,  26  in  P,  wo  V  nach  A*'  er  ingiang  üngimerrit 
accentuiert.  Das  wunderliche  C  ürutliut  sinan  I,  7,  19  ist  be- 
reits s.  158  erwähnt  worden. 

2.  Dass  die  belege  für  die  hier  besprochenen  Verschie- 
bungen des  worttones  nicht  zahlreicher  sind,  darf  nicht  wunder 
nehmen.  Eine  eigentliche  nötigung  dazu  liegt  doch  nur  bei 
den  compositis  auf  -  — x  vor,  und  deren  gibt  es  nicht  allzu- 
viele.     Alle    übrigen   Hessen   sich,   wenn   nicht  im  einen  typus, 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  DEUTSCHEN  KEIMVERSES.  165 

so  doch  im  andern  ohne  Verschiebung  ihres  natürlichen  acccnts 
unterbringen.  Viel  reichlicher  sind  dagegen  die  beispiele  für 
Vernachlässigung  des  natürlichen  satzaceentes.  Sie 
sind  so  häufig  dass  ich  wol  auf  die  Vorführung  des  gesaniniten 
materiales  verzichten  kann.  Dasselbe  ist  ja  auch  bereits  zum 
guten  teile  von  Piper  und  Sobel  a.  a.  o.  gesammelt,  wenn  auch 
von  andern  gesichtspunkten  aus  betrachtet.  Man  darf  hier 
kühnlich  die  regel  aufstellen,  dass  alle  accente  die  dem  natür- 
lichen satzton  zuwider  laufen,  lediglich  dem  rhythmischen 
Schema  des  verses  angepasst  sind.  Voran  steht  die  ganze 
masse  der  D-verse,  die  nicht  ein  compositum  von  der  form 
l(x)  — —  X  enthalten  (diese  sind  oben  unter  1,  a  besprochen), 
da  alle  D  in  der  accentuieruug  wie  C  behandelt  werden  (ol)en 
s.  155).  Ausserdem  konmien  namentlich  noch  oft  verse  in  be- 
tracht,  welche  ihrer  form  nach  zwischen  A  und  C  schwanken 
könnten  und  oft  im  widerstreit  mit  der  natürlichen  betonung 
dem  einen  oder  andern  dieser  beiden  typen  zugewiesen  werden. 
Einige  beispiele  zur  Illustration  sind  oben  s.  15S  gegeben. 

In  der  fortsetzung  dieser  Studien  gedenke  ich  die  Um- 
bildung der  alten  typen  bei  Otfrid  im  einzelnen  darzulegen 
und  die  weiteren  Schicksale  derselben  in  der  deutschen  dich- 
tung  zu  verfolgen. 

[Nachschrift.  Während  des  druckes  vorstehenden  auf- 
satzes  geht  mir  durch  Wilmanns'  gute  das  dritte  hcft  seiner 
'Beiträge  zur  geschichte  der  älteren  deutschen  litteratur:  Üer 
altdeutsche  reimvers'  (Bonn  1887)  zu.  Die  resultate  dieser 
Schrift  decken  sich,  obwol  Wilmanns'  Untersuchung  von  ganz 
anderen  gesichtspunkten  ausgieng,  vielfach  mit  dem  hier  vor- 
getragenen, und  erledigen  zugleich  einen  teil  der  fragen  die 
ich  in  der  oben  angekündigten  fortsetzung  meiner  Unter- 
suchungen abzuhandeln  gedachte.  Als  wichtigste  Überein- 
stimmung hebe  ich  hier  nur  hervor  den  nacbweis  meiner  fünf 
typen  der  alliterationszcile  im  Olfiidischen  reimvers  und  die 
beurteilung  des  Verhältnisses  von  OtlVids  vcrsacccntcn  zu  diesen 
fünf  typen.  Entbeiircn  unter  diesen  umständen  meine  etwas 
verspätet  erscheinenden  ausfülirungen  vielfach  des  rcizes  der 
neuheit,  so  wird  doch  dem  leser  wie  den  Verfassern  der  beiden 
arbeiten  die  Übereinstimmung  der  resultate  holVeutlich  eine  will- 
kommene bürgschaft  für  die  richtigkeit  des  neu  betretenen 
weges  sein. 


166     SIEVERS,  ENTSTEHUNG  D.  DEUTSCHEN  REIMVERSES. 

Mit  bezieliuüg  auf  Wilmanns  s.  7  erlaube  ich  mir  beizu- 
fügen, dass  ich  meine  ansichten  über  entsteh ung  und  bau  des 
altdeutschen  reimverses  erstmals  im  Wintersemester  1884/85  in 
uuce  vorgetragen  habe.  Die  Sammlung  und  orduuug  des  oben 
verarbeiteten  materials  aus  Otfrid  war  in  den  lierbstferien  1885 
vollendet.  Die  definitive  ausarbeitung  unterblieb  dann  zu  gunsten 
anderer  arbeiten  bis  zum  februar  dieses  Jahres.    22.  mai  1887.] 

TÜBINGEN,  28.  februar  1887.  E.  SIE  VERS. 


ETYMOLOGISCHE  STUDIEN 

UEBER 

GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG. 


ZWEITER  ARTIKEL. 

23.  Mhd.  gül  m.,  pl.  giule,  eber,  männliches  tier  über- 
haupt; hengst,  später:  gaul.  Mud.  (jTd  m.  pferd,  gaul.  Aclt. 
nnl.  guile,  guil,  stute  die  noch  nicht  trächtig  gewesen  ist. 

Aus  deno  niederdeutschen  entlehnt  sind  schwed.  dial.  gut, 
kiü,  gule  ra.  altes  ])ferd.  gida,  kula  alte  stute.  Das  k  hat  sich 
in  Zusammensetzungen  nach  einer  teuuis  entwickelt:  hastkulcr, 
kampkula,  skotkula. 

Verwant  mit  mhd.  gTil,  eber,  scheint  mir  lit.  kuUy's  (stamm 
kuilji-)  der  zahme  eber,  lett.  kuilis,  apreuss.  vocal).  cuylis,  das 
nach  Fick,  Vgl.  wtb.  II,  721  zu  der  wurzel  Aw-,  hauen,  gehört. 
Hiernach  ist  vielleicht  für  mhd.  gTil  eine  vorgerm.  dreisilbige 
form,  etwa  *küdH-s  vorauszusetzen.  Im  Vit.^kuify's  kann  das 
Suffix  -ja  (-ji)  speciell  litauische  entwickelung  sein  wie  in  lit. 
szirszlys  *wespe',  apreuss.  sirsUis  neben  kslav.  strüstln,  nnl. 
horzel,  hd.  horsse/,  harlitz.  Mit  der  von  mir  für  mhd.  gTtl 
vorausgesetzte  vorgerm.  form  '■'"küBli-s,  worin  die  wur/.elform 
kn-  vor  einem  vocale  erscheint,  vergleiche  man  alid.  /weisilbigcs 
fTd>\  woraus  mhd.  vuu-,  feuer. 

24.  hakki,  Ixikke  masc.  (gen.  altn.  hnkku)  iil)C'rhan])t  im 
nordischen.  Daneben  im  neudänischen  das  synonyme  hanke. 
hakki  muss  also  auf  eine  urgerm.  staiiimlorm  hankan-  zurück- 
geführt  werden.     Die  grundl)cdeutung   des  Wortes  scheint  mir 


»)  Fortsetzung  zu  Beitr.  XII,  .H9<t-4:<0. 


168  BUGGE 

'feste  erhöh uDg',  'fester  gruud'  zu  sein.  Hiernach  verbinde 
ich  hakki  mit  gr.  ji^YJWfii,  lat.  pango. 

Die  gruudbcdeutuug  ist  am  deutlichsten  in  der  altertüm- 
lichsten muudart  des  nordischen  festlandes,  der  von  Dalarne 
in  Schweden,  erhalten,  wo  häkke  'fester  grund  (fast  mark)'  be- 
zeichnet. In  anderen  schwedischen  mundarten  bezeichnet  das 
wort  'fussboden',  auch  den  platz  am  hause  wo  man  das  brenn- 
holz  haut.  Diese  anwendungen  erklären  sich  leicht  aus  der 
grundbedeutung  'fester  grund'.  In  der  mundart  der  dänischen 
insel  ßornholm  bezeichnet  hakka  'berg;  was  von  der  felsen- 
masse  der  insel  emporragt'.  Hier  hat  also  das  wort  wesent- 
lich dieselbe  bedeutung  wie  das  zu  jii'iyvvia  gehörige  gr.  jiäyoq 
'feste  bergspitze,  felseuspitze,  iiberh.  felsen,  berg,  hiigel'.  Auch 
im  neunorw.  kann  hakke  'fester  grund'  bezeichnen,  z.  b.  käste 
i  hakken,  zur  erde  werfen.  Allein  die  gewöhnlichste  bedeutung 
des  Wortes  sowol  in  den  alten  als  in  den  neueren  nordischen 
sprachen  und  mundarten  ist  'anhöbe  (die  gegen  das  tiefer 
liegende  einen  abhang  bildet)'.  In  der  älteren  spräche  wird 
es  besonders  häufig  vom  ufer  angewendet.  Ich  führe  diese  be- 
deutung auf  die  auffassung  'fester  erhöhter  grund'  zurück. 
Sowol  im  altisl.  als  im  neunorw.  kann  hakki^  hakke  den  rücken 
eines  schneidenden  Werkzeuges  bezeichnen;  diese  bedeutung 
hat  sich  aus  der  von  'anhöbe'  entwickelt.  Der  rücken  eines 
messers  wird  auch  hak  genannt;  allein  die  grundbedeutung  von 
hak  ist  eine  ganz  andere  als  die  von  hakki,  wie  die  Wörter 
auch  formell  ganz  verschieden  sind.  Siehe  meine  behandlung 
von  hak  im  folgenden.  Endlich  ist  hakki  'eine  dichte  wolken- 
masse  (am  horizonte)'.  Diese  ist  durch  hakki  als  etwas  festes 
und  zugleich  erhöhtes,  etwas  zusammengeballtes  bezeichnet. 
Im  neudän.  wird  hanke  neben  hakke  in  verwanter,  allein  nicht 
identischer  anwendung  gebiaucht.  Dem  Ursprung  nach  ist 
hanke  nebenform  zu  hakke\  dän.  {sky-)hanke  bezeichnet  dasselbe 
wie  altisl.  norw.  hakke,  dichte  wolkenmasse.  Altn.  hakkastokkar, 
unterläge  worauf  ein  schitf  gebaut  wird,  dän.  hankestokke.  Im 
älteren  dän.  findet  sich  hank  oder  hakk  (aus  hanke,  hakke)  für 
'tori  manus',  was  sich  aus  'feste  erhöhung'  erklärt;  auch  für 
den  'umbo'  eines  Schildes. 

Das  mittelengl.  ha7ike,  hank  'ufer,  hügel'  ist  aus  dem  nor- 
dischen entleimt. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCÜIEBÜNG.  169 

Der  stanini  von  bakki  ist  bankan-.  Ich  setze  einen  vor- 
german.  stamm  *pango7i-  voraus,  der  mit  lat.  pangu,  gr.  .Tt'/yi'vfii, 
jcayog  verwant  ist.  Durch  dasselbe  suffix  ist  lat.  compago  ge- 
bildet. Wie  das  litauische  nom.  sg.  akmfi ,  gen.  pl.  nkmeniii, 
dat.  pl.  ukmenum  flectiert,  so  dürfen  wir  vermuten,  dass  die 
betonung  bei  der  flexion  der  n-stümme  im  vorgermanischen 
wechselte.  Ich  setze  voraus,  dass  der  vorgerm,  stamm  *pangon- 
iu  einigen  casus  als  '-^pangdn-,  mit  dem  hauptton  auf  der 
dritten  silbe,  erschien.  Aus  *pa7ig9)i'  entstand  lautgesetzlich 
germ.  '^bmikdn-. 

25.  Ahd.  &anc//,  \i\.  benchi  scamnum,  fulcrum;  udid.  baue, 
pl.  benke  ra.  und  f.,  nlid.  bank  L  Asächs.  (bank)  dat.  pl.  bcn- 
kiun;  nnl.  ba7ik  f.;  afries.  bonk,  benk  m.;  ags.  benc  f;  eng. 
beuch;  schwed.  dän.  bänk]  altnorw.  bekkr  m.,  gen.  bckks,  bekkjnr, 
n.  pl.  bekkir.     Die  germ.  grundform  ist  banki-s. 

Im  nördlichen  Deutschland  nennt  man  eine  massige  wolken- 
schicht  am  horizonte  'eine  bank\  Eine  solche  wolkeumasse 
heisst  in  Dänemark  banke  [skybanke],  in  iSchweden  b<nik,  in 
norweg.  mundartcn  bakkc,  im  altisl.  bakki  {illvitirisbakki).  Ich 
lasse  unentschieden,  ob  das  deutsche  bank  diese  anwcndung 
durch  den  eiufluss  des  dän.  banke  erhalten  hat,  was  mir  nicht 
wahrscheinlich  ist.  Jedenfalls  ersieht  man  hieraus,  wie  leicht 
die  anwendung  des  nord.  bakki,  banke  sich  mit  der  anwenduug 
von  bank^  altn.  bekkr  verbinden  lässt.  Dass  altn.  bakki  und 
bekkr  unter  sich  nahe  verwant  sind,  scheint  mir  noch  deut- 
licher aus  dem  folgenden  hervorzugehen:  in  der  schwed.  mund- 
art  Gotlands  sagt  man  soU  gar  i  bänk  'die  soune  geht  in  wöl- 
ken unter'  (Rietz  7r>a),  wo  bänk,  bank,  das  von  bakke  formell 
bestimmt  getrennt  ist,  eine  massige  wolkenschicht  am  hori- 
zonte, wie  altisl.  bakki,  norw.  dial.  bakke,  bezciclniet.  (Jotl. 
daggbänk  ist  nobel,  der  sich  von  seichtem  l)odcn  erliei)t  (Kietz 
82  a),  während  man  in  Norwegen  skoddcbakke  'uebelmasse  am 
horizonte'  hört.  In  Jädcren  (im  sUdwestl.  Norwegen)  be- 
zeichnet nach  Koss  sowol  Jmkkc  als  henk  eine  t()rfs('lii('ht  von 
der  breite  eines  spatciis.  Nhd.  Ixuik  ist  aucli.  wie  niil.  hank, 
franz.  banc,  eine  crhöhung  im  wasser,  /,.  b.  san<llmnk\  dies  wol 
zunächst  nach  dem  engl,  hank,  das  aus  dem  dän.  banke  ent- 
lehnt ist.  Moth  gibt  an,  dass  Ixi-nk  im  älteren  dän.  sandbaiik 
bedeutet.     Im  ags.  hnbanci  'spoiida'  erselieinf  /»moi  als  neben- 


170  BUÜGE 

form  zu  benc  'bank';  vgl.  Kluge,  Stammbild,  nachtrage.  Das 
finu.  lehnwort  patikko  'ofeubank'  scheint  formell  nicht  dem 
deutsch,  bank,  altn.  bckkr,  sondern  dem  altn.  bakki  zu  ent- 
sprechen; vgl.  fiun.  7naio  =  got.  fnapa,  ahd.  jnado,  finn.  mako 
=  ahd.  mago.^) 

Da  ich  altn.  bakki  aus  einem  vorgerm.  stamme  *pangon- 
erklärt  habe,  führe  ich  germ.  banki-s  'bank'  auf  ein  vorgerm. 
*pangi-s  zurück,  und  als  die  grundbedeutung  dieses  Wortes 
nehme  ich  'feste  oder  fest  zusammengefügte  erhöhung'  an. 
Grimm  hat  bereits  im  Dwtb.  hank  zu  niiyw^n ,  lat.  pango  ge- 
stellt. Wir  dürfen  voraussetzen,  dass  vorgerm.  ^pangi-s  in 
einigen  casus  den  hauptton  auf  der  dritten  silbe  trug,  z.  b. 
gen.  pl.  ^pangmni\  vgl.  lit.  aUis^  loc.  sg.  akyje^  gen.  pl.  akiii , 
ind.  agni-Sj  gen.  pl.  agninam,  gen.  dual,  agnyos.  Aus  dem 
vorgerm.  gen.  pl.  *pangiiom  entstand  lautgesetzlich  germ.  *ban- 
kilö'n.  Dazu  dass  anlautendes  b  in  diesem  worte  alleinherr- 
schend geworden  ist,  hat  gewiss  der  umstand  beigetragen,  dass 
dasselbe  seit  uralter  zeit  das  zweite  glied  mehrerer  composita 
bildete;  vgl.  ahd.  dmierhjKinch,  ags.  ealuhenc,  meodubenc,  afries. 
biarbenk,  breidbenk,  altn.  brüt)bekkr  u.  s.  w.  In  mehreren  solchen 
compositis  ist  das  b  von  bank  lautgesetzlich  nach  dem  Verner- 
schen  gesetze  entstanden.  In  den  compositis  altn.  bekkpili, 
ags.  hencpel  u.  ähnl.  kann  der  hauptton  ursprünglich  auf  dem 
zweiten  gliede,  also  weder  auf  der  ersten  noch  auf  der  zwei- 
ten silbe  des  Wortes  gelegen  haben;  dann  ist  auch  hier  das  b 
lautgesetzlich  aus  vorgerm.  p  entstanden.  Mit  germ.  banki-s  f. 
und  m.,  vorgerm.  "^pangi-s  vergleiche  ich  zunächst  die  lat.  for- 
mationen  compUges  und  propages,  die  jedoch  die  wurzel  in 
einer  verschiedenen  form  aufzeigen.  In  betretf  des  stamm- 
auslautes  verhält  sich  got.  haurds,  stamm  hordi-.,  ebenso  zum 
lat.  crates.  Wie  im  germ  an.  neben  banki-,  altn.  bekkr,  der 
stamm  bankan-,  altn.  bakki,  besteht,  so  im  lat.  compago,  com- 
paginis  neben  compages,  propagu  neben  propages.  Für  die  be- 
deutung  von  bank  ist  auch  gr.  jiriypa  'gerüst,  gestell'  zu  be- 
achten. 

Neugael.  beince,  beinge  f.,  bench,  und  neucymr.  mainc  f., 
bench,  sind  lehnwörter. 


1)  Professur  Job.  Storm  erinnert  mich  an  span. /)0?/c*  'bank  vor  dem 
hause'  =  ital.  poggio,  lat.  podium  'anhöhe'. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  171 

Dass  das  n,  welches  im  lat.  pango  dem  prüsensstamme 
eigentümlich  ist,  als  element  der  germ.  nominalstümme  1>ankan- 
und  hanki-  erscheint,  hat  viele  analogien. 

26.  Altsächs.  heki,  bach;  ndl.  }>eek]  mnl.  heke\  fries.  bilze 
(aus  *hike,  '^'beke)\  ahd.  hah,  pah,  pl.  pechi\  mhd.  und  nhd. 
bach.  Diese  formen  setzen  '''haki-s  voraus,  vgl.  die  formen 
Theutpacis,  Theothacis,  Deopacis  (worin  s  lateinische  flexions- 
endung  ist)  in  drei  lat.  Urkunden  a.  718  der  trad.  Wizenburg. 
Dagegen  zeigt  altn.  hckkr  gedehntes  k\  ob  die  lautforni  des 
engl,  beck  aus  nordischem  einfluss  zu  erklären  ist,  entscheide 
ich  nicht.  Nach  Kluge  (Beitr.  IX,  171)  ist  altn.  bekkr  aus 
*bakki-s  und  dies  wider  aus  *bak-ni-s  entstanden;  nach  Möller 
(Kuhns  z.  XXIV,  507)  dagegen  aus  *bak"i-s\  Franck  (Etyni. 
Woord.)  setzt  dafür  einen  stamm  bakjo-  voraus.  Ich  vermute, 
dass  der  stamm  baki-  in  gewissen  casus  vor  einem  vocale  die 
form  bakj-,  bcckj-  annahm.  Vor/ w'urde  das  k  gedehnt:  ba'kkj-, 
so  entstand  altn.  bekkr.  Da  Noreen  s.  82  diese  dehnung  des 
k  vor  j  nach  einem  kurzen  vocale  nicht  bespricht,  bemerJie  ich 
darüber  folgendes. 

Im  altschwedischen  sind  die  formen  pcckkia,  vcekkia, 
rwkkia,  lykkia  (=  aisl.  pekja,  vekja,  rekja,  lykja),  asikkia  aus 
*üsckja  u.  ähnl.  mit  kk  regelmässig.  Auch  im  adän.  ist  die 
gemination  des  k  vor  j  regelmässig.  In  anorw.  handschriften 
kommt  dieselbe  sehr  häufig  (wenn  auch  nicht  regelmässig) 
vor.  So  z.  b.  pcekkio  Spec.  reg.  ed.  Brenner  1(57,  27;  al  or- 
seckiu  Norg.  g.  L.  I,  198.  II,  44;  nekkia  N.  gl.  L,.  1,  339;  pekkin 
Dipl.  Norv.  I  nr.  477.  Im  aisl.  ist  die  gemination  (die  deh- 
nung) des  k  vor  /  durch  den  einfluss  verwantcr  formen  regel- 
mässig verdrängt  worden.  Allein  dass  die  gemination  auch 
im  aisl.  eingetreten  war,  zeigt  das  subst.  lykkj'a,  das  von  lüka 
abgeleitet  ist.  Ferner  der  frcmdname  Grikkir,  gen.  ihikkja, 
Griechen.  Audi  beachte  mau  reime  wie  vekjaiidi  {yckkj-)  : 
snekkju  DjöÖölfr  Arnörssou  Har.  s.  harMr.  cap.  lo;i,  ;{;  sektu  : 
ckkils  Fustbr.  s.  107  ed.  Gisl. 

Die  urgernianisc'iic  form  scheint  mir  also  baki-s.  Anders 
Kauffmaun,  Beitr.  XII,  ')\i).  Das  wort  ist  in  vielen  norddeut- 
schen und  mitteldeutsclicu  mundarten  wie  im  uiedcrl.  seit  alter 
zeit  fem.,  anderswo  masc;   so  immer  im  uurdischen. 


172  BUGüE 

Die  ueueren  etymologischen  deutungen  von  hach  genügen 
mir  uicht.i)  ]\Iau  hat  längst,  nach  meiner  Vermutung  richtig, 
mit  hach  gr.  jr/////,  dor.  jiayä  verglichen;  allein  das  lautver- 
hältnis  des  germanischen  Wortes  zum  griechischen  hat  man 
nicht  erklärt.  Das  germ.  Haki-s  war  nach  meiner  Vermutung 
oxytoniert.  Dies  ba/d-s  entstand  aus  einem  vorgerm.  mit  dor. 
jtäya  nahe  verwanten  Substantive  "^pägi-x.  Wie  zum  lit.  aliis 
'äuge'  der  instr.  pl.  akimis  und  der  gen.  pl.  akiu  gehören,  so 
vermute  ich  im  vorgerm.  die  flexion  nom.  sg.  ^pUgi-s,  gen.  pl. 
*pägiiom,  dat.  pl.  ^päghnös.  In  den  beiden  letzteren  formen 
musste  vorgerm.  p,  weil  der  hauptton  auf  der  dritten  silbe 
lag,  lautgesetzlicb  zu  germ.  b  verschoben  werden.  Wie  ich 
hier  das  Verhältnis  zwischen  dem  ä  von  jtaya  und  dem  ä  von 
back  aus  ursprünglichem  Wechsel  der  betonung  erkläre,  so 
hat  J.  Schmidt  das  Verhältnis  z.  b.  des  got.  /ön  zum  apreuss. 
panno,  panu-staclan  erklärt  (Kuhns  z.  XXVI,  16). 

In  fast  zahllosen  zusammengesetzten  Ortsnamen  der  ver- 
schiedenen germanischen  länder  bildet  'bach'  das  zweite  glied. 
Daraus  darf  gefolgert  werden,  dass  b  in  zahlreichen  compo- 
sitis  nach  dem  Vernerschen  gesetz  aus  vorgerm.  /;  entstanden 
ist.  Auch  beachte  man,  dass  das  anlautende  h  in  mehreren 
compositis,  deren  erstes  glied  von  'bach'  gebildet  wird,  laut- 
gesetzlich aus  vorgerm.  p  entstanden  sein  kann.  Der  Orts- 
name Dachfeld  z.  b.  kann  (vom  f  abgesehen)  lautgesetzlich 
aus  einer  vorgerm.  form  '^pagipclto-m  entstanden  sein.  So 
haben  verschiedene  momente  zugleich  dazu  gewirkt,  dass  das 
b  bei  diesem  wortstamme  über  ein  ursprünglich  daneben  ge- 
wiss vorhandenes  /  den  sieg  davon  getragen  hat. 

L.  Havet  (Mcmoires  d.  1.  Soc.  de  Ling.  VI,  117)  verbindet 
nriyti  mit  jrrjjvvfii]  jirjyt/  ist  ihm  'ce  qui  perce  le  sol  ä  la 
fa^on  d'un  pieu  qu'on  flehe'.  Formell  ist  hiergegen  niciits  ein- 
zuwenden.   Allein  dass  man  die  (juelle  eines  liusses  als  etwas, 


')  Grimm  leitet  bach  von  backen  ab,  wie  lorrens  von  lorrere, 
brunnen  von  brennen,  sot  von  sieden,  welle  von  wallen.  Allein  backen 
ist  nie  mit  sieden,  wallen  (vom  wasser)  synonym.  Fick  vergleicht  lit. 
berjli,  laufen;  allein  dies  weicht  sowol  der  form  als  dem  sinne  nach 
wesentlich  ab;  ind.  bhäjali  'sich  begeben  zu'  liegt  begrifflich  noch 
ferner.  Kern  stellt  bach  zum  ind. /;/<a/y- 'brechen',  wie  ags.  ft?-öc 'bach' 
zu  brechen. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  173 

das  in  die  erde  befestigt,  hiiieinjrestosscn  wird,  liczeichneu 
sollte,  scheint  mir  unnatürlich.  Eine  verschiedene  etyiudlo- 
gische  deutung  ist  mir  wahrscheinlich;  allein  auf  dem  gegen- 
wärtigen punkt  der  Untersuchung  halte  ich  dieselbe  zurück.  In 
betreff  der  bedeutung  verhält  sich  hach,  altn.  hekkr  zu  gr.  jt;/-/// 
fast  ganz  wie  ags.  hurne  'torrens,  rivus'  zu  hörn,  altn.  brunnr 
'quelle',  j^ff/t]  bezeichnet  namentlich  die  quelle  eines  davon 
entspringenden  flusses;  in  dem  altnorw.  ausdrucke  slammer 
hceldher  i  hwkkinojii  cen  i  aanne  (Dipl.  Norv.  III  nr.  752)  hat 
hekkr  fast  dieselbe  bedeutung. 

27.  Mhd.  bün,  büne,  stark,  fem.,  latte,  brett;  erhühung 
des  fussbodens  durch  bretter;  decke  eines  gemaches.  Nhd. 
bahne.  Mnd.  bo''ne,  bonc,  m.  und  f.,  jede  l)retterne  erhöhung; 
nnd.  buhn\  nnl.  beim.  Das  wort  ist  im  ahd.  nicht  nachge- 
wiesen; es  kommt  weder  im  ags.  noch  ursprünglich  im  nordi- 
schen vor.  Norweg.  dial.  bijne  (mit  offenem,  urspr.  kurzem  y) 
n.  Scheibe,  ])latte,  brett  z.  b.  eines  blasebalgs,  scheint  aus  dem 
deutschen  worte  entlehnt. 

Mhd.  hun  würde  in  got.  form  *bunja,  von  einem  stamme 
'^bicnfö-,  lauten.  Ich  vergleiche  bi'üme,  mhd.  bün  mit  ind.  pallniit 
f.  pfad,  weg,  bahn. 

Für  die  bedeutung  beachte  man  das  mit  dem  ind.  pathyä 
nahe  verwante  lat.  pons.  Dies  bezeichnet  nicht  nlir  brücke, 
sondern  auch  was  aus  brettern  zusammengeschlagen  ist  oder 
bretterne  erhöhung.  Das  tabulatum  navis  kann  lat.  puns,  ndid, 
bün  heisseu.  Die  tabulata  (juibus  turres  instruuntur  werden 
lat.  pontes  genannt,  wie  man  mhd.  sagt:  der  turn  wart  :>reii/er 
bünen  höher  gemacht.  Ital.  kann  po7ite  gerüst  der  bauleute 
bezeichnen. 

Ind.  pathyä  (mit  circumflcctiertem  yä)  ist  aus  pnlhy<i  ent- 
standen. Für  mhd.  bün  setze  ich  eine  vorgerm.  grundforn» 
*puntiia  voraus.  Wenn  ich  eine  dreisilbige  form  mit  //.  nicht 
eine  zweisilbige  mit  /.  voraussetzen  muss,  lässt  sich  dies  wol 
dadurch  rechtfertigen,  dass  punt-  als  eine  lange  Bill)e  aufgc- 
fasst  wurde.  Ueberhaupt  finden  sich  in  den  indogcrni.  s|)rachen 
oft  neben  formen,  die  eine  mit  /,  die  andere  mit  //;  vgl.  I'.rug- 
mann,  Grundriss  s.  112 — 114. 

Vorgerm,  '''puntila  wurde  urgerm.  '''•tiKndija  .  Daraus  ent- 
stand,   wol    nach    dem    eintreten    der   spccicii    gerni.  l)ct<Miung, 


174  BÜGGE 

'*bündjo]  vgl.  got.  nlpj'is  für  '^nifjjjis  =  ksl.  netiß ,  zend. 
naptiya-s.  '"^bunüjö  wurde  zu  '*bunjö,  mhd.  i'ww,  wie  got.  sunja 
aus  *sundjö  =  ind.  ^a/yä  nach  der  erklärung  Kluges  ent- 
standen ist. 

28.  Mhd.  bati  und  ba7ie,  stark,  fem.  und  masc,  freier, 
zum  gehen,  fahren  geebneter  räum,  weg,  bahn,  nhd.  bah7i  f. 
Mnl.  bane,  f.  betretener  und  gangbarer  weg,  Schlachtfeld;  nnl. 
baan  f.  Das  wort  erscheint  nicht  im  ahd.,  got.,  ags.,  altn. 
Grimm  (Dwb.  IT,  208)  und  Lexcr  vermuten  mit  recht  verwant- 
schaft  zwischen  bahn  und  bühne.  Mit  nhd.  ban  vergleiche  ich 
\wi\..  pänthas ,  pfad,  weg,  bahn,  zQni\.  panta-,  Si^ers.  pat htm  {slgc.), 
gr.  jr«TOc,  lat.  po7is,  ksl.  pqti  weg,  aprcuss.  pintis,  weg,  Strasse. 
Mnl.  bane  ist  wie  jicaoc,  betretener  weg;  mnl.  biiten  Manen 
rollen,  den  rechten  weg  verlassen,  wie  ind.  sthäpayet  palhi, 
auf  den  rechten  weg  bringen.  Das  mhd.  wort  ist  masc.  und 
fem.;  das  entsprechende  wort  ist  im  ind.,  gr.,  lat.,  ksl.  masc, 
allein  zd.  und  in  russ,  mundarten  masc.  und  fem. 

Die  flexion  des  deutscheu  wortes  ist  von  der  singularen 
nominativform  ban,  wie  mhd.  zene  (neben  zende)  von  zan,  aus- 
gegangen, ban  ist  aus  vorgerm.  '^pont,  wie  zan  aus  *lan,  vor- 
germ.  ''^-dont,  entstanden.  In  ban  aus  *pont  ist  wie  im  lat.  pons, 
ksl.  pqtt  der  vocal  der  starken  Stammform  fest  geworden.  In 
betrefl*  des  consonantischen  stammauslautes  stimmt  dagegen 
ban  aus  */>ow/  mit  der  ind.  schwachen  Stammform  jmth-  in 
palhäs  u.  s.  w.  überein.  Dies  ist  nicht  auffallender  als  dass 
der  vocal  der  schwachen  Stammform  im  gr.  jrdrog  fest  gewor- 
den ist.  Das  b  des  mhd.  ban  vertritt  ursprüngliches  p,  das  in 
entsprechenden  Wörtern  der  verwanten  sprachen  erhalten  ist. 
Das  b  kann  aus  vorgerm.  p  lautgesetzlich  in  den  folgenden 
Stellungen  entstanden  sein.  Erstens  in  casusformen  und  ab- 
leitungen,  die  den  hauptton  auf  der  dritten  silbe  oder  dem 
wortende  näher  trugen.  Dies  ist  der  fall  im  ind.  pathinam. 
Johannes  Schmidt  vermutet  (Kuhns  zs.  XXVII,  372),  dass  einst 
'■■'•pathibiäs,  *pathibhiam  betont  wurde;  als  die  ursprüngliche 
starke  Stammform  betrachtet  er  pönthöi-.  Zweitens  konnte 
das  german.  b  sich  bei  diesem  worte  lautgesetzlich  entwickeln, 
wo  dasselbe  das  erste  glied  eines  auf  dem  zweiten  gliede  be- 
tonten compositum  bildete,  wie  im  ind.  pathikrt-,  den  weg  be- 
reitend.    Drittens   kann   das  germ.  b   im   zweiten  gliede  eines 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  175 

compositum  nach  einem  unbetonten  vocale  lautgesetzlich  ent- 
standen sein.  Die  form  des  mhd.  hau,  aus  ^pont  vom  voigerm. 
stamme  '^ponl-,  weist  also  durch  das  h  und  den  consonantischen 
auslaut  des  Stammes  einerseits  und  durch  das  an  (aus  on)  ander- 
seits auf  eine  frühere  stammabstufende  flexion  hin. 

29.  Ahd.  hasa,  schwach,  fem.,  mhd.  nhd.  base.  Ahd.  be- 
zeichnet das  wort  'schwester  des  vaters',  später  dialektisch 
jeden  entfernteren  verwantschaftsgrad.  Grimm  (Dwb.  1,1147) 
sag-t:  'in  hasa  .  . .  muss  falar  . . .  stecken'  und  er  fragt,  ob 
'die  Verengung'  nur  ein  hypokorismus  ist  'oder  rührt  das  s  in 
basa  noch  von  suesiar  her,  basa  =  [schwed.  dän,]  fasler'i^ 

Ich  sehe  in  basa  ein  wort,  das  ursprünglich  der  kinder- 
sprache  oder  einer  nachahmung  derselben  gehörte.  Ein  com- 
positum für  'schwester  des  vaters'  würde  urgerm.  '^•fadursirestcr 
lauten,  einst  wol  vor  gewissen  consonanten  ^•fapursrvesö.  Wir 
dürfen  hier  die  betonung  des  zweiten  gliedes  wie  in  gr.  injTQO- 
jcäxwQ,  ind.  pi(rbandhü-s,  blutsverwauter  väterlicher  seite,  vor- 
aussetzen. Urgerm.  *fafmrsivesd  mit  dem  hauptton  auf  der 
dritten  silbe  sollte  nach  der  von  mir  aufgestellten  regel  laut- 
gesetzlich zu  'Hadiirzfvesö  oder  (mit  herstellung  des  .9  nach 
dem  Stammworte)  ^hadm^swesö  fortschreiten. 

Nun  beachte  man:  'zu  den  eigennamenartigen  Substantiven 
gehören  vor  allen  dingen  auch  die  verwantschaftswürtci'  (Ost- 
hofl',  Morph,  unt.  IV,  62  anm.).  Von  verwantschaftswörtcrn, 
wie  von  eigennamen  werden  koseformen  gebildet,  in  denen 
die  form  des  Stammwortes  nach  der  art  der  kindersprache 
verkürzt  oder  verstümmelt  ist.  Ich  erinnere  an  .tcc  =  jtaTfjg, 
(la,  auch  ftaia,  ahd.  fjiuoj'a,  ndl.  ttwei  (muhme)  neben  fir/r/jQ] 
lit.  brölis  bruder,  (zemaitisch)  sejh  schwester.  Siehe  Fick  in 
Curtius,  Stud.  IX,  197;  Bezzeuberger  in  Altpreuss.  monatsschr. 
bd.  XV  s.  282— 2S8.  So  ist  schwed.  gubbe  (greis)  aus  gudfadcr 
(gevatter),  gimma  (alte  frau)  aus  (judmoder  (gevatterin)  ent- 
standen. In  einer  altertümlichen  muudart  Norwegens  (Sätcrs- 
dal)  wird  für  broir  (bruder)  als  koseform  hoa  gesagt.  In  der 
friesischen  Wangeroger  mundart  heisst  vaterbruder  vepp  (Höfers 
zeitschr.  I,  109). 

Stark  in  seinen  'Kosenamen'  belegt  die  folgenden  Ver- 
kürzungen zusammengesetzter  namen:  Cannabas  =  Can7iabaudes 
(3.  Jahrb.).    Saba  =  Sabarelhus  (7.  j.).    Feimus  =  Fehmriis  (9.j.). 


17G  BUGGE 

Adalho  =  Adelhero  (12.  j.).  Gepa  =  Gerpirga  (11.  j.).  Thiemo 
=  Thietmarus  (11.  j.).  üumpo  =  Cumpolt  d.  h.  Guntholt  (12.  j.). 
Z^'&o  =  Über  (US  d.  Ii.  Hugiberl  (1101).  Tammo  =  Tankmarus 
(10.  Jahrb.). 

Mit  diesen  und  ähnlichen  kosenamen  vergleiche  ich  ahd. 
basa,  das  ich  als  eine  namenartige  koseform  deute,  welche  die 
kinderspracho  von  '*badurswesn,  schwester  des  vaters,  ge- 
bildet bat.  Das  nid.  und  nd.  gleichbedeutende  rvasc,  bei  Grafif 
111,215  nnasa  ist  gewiss  dasselbe  wort;  ich  vermag  aber  den 
grund  des  lautwechsels  nicht  sicher  nachzuweisen.  Ist  zuerst 
in  compositis,  wie  *grölbasa,  die  form  tvasa  entstanden?  Vgl. 
mhd.  negrver  =  nägber^  nabeger.  Oder  in  Verbindungen  wie 
'*lioba  basa'? 

V. 

Im  vorhergehenden  habe  ich  die  auffassung  begründet, 
dass  mehrere  mit  g,  b,  d  anlautende  präpositionen  und  prä- 
fixe,  die  als  solche  allgemein  aufgefasst  werden,  {ga-,  bed,  du) 
in  proklitischer  Stellung  aus  vorgerm.  formen  mit  anlautendem 
k,  p,  l  entstanden  sind.  Im  folgenden  werde  ich  den  nach- 
weis  versuchen,  dass  nicht  wenige  germanische  Wörter,  die  an- 
scheinend simplicia  sind,  ihrem  Ursprung  nach  präfixe  ent- 
halten, welche  in  urgerni.  zeit  dieselbe  lautänderung  erlitten 
haben.  Ich  nenne  zuerst  ein  nomen  und  leite  die  etymo- 
logische behandlung  desselben  mit  einer  jetzt  wol  allgemein 
anerkannten  tatsache  ein.  Bereits  in  der  indogerm.  Ursprache 
konnten  die  präpositionen  in  nominalcompositionen  unbetont 
erscheinen  und  dabei  einen  anlautenden  vocal  verlieren,  z.  b. 
deutsch,  nest,  lat.  rüdus,  ind.  nidä-s  aus  *nizdö-s  von  fvi  und 
sed-  sitzen.     Siehe  u.  a.  J.  Schmidt,  Kuhns  z.  XXVI,  22 — 24. 

30.  Got.  badi  (stamm  badja-)  n.  bett  (xXividiov,  xQaß- 
ßarog).  Ags.  bedd,  bed  n.  Fries,  asächs.  bed  n.  Mnl.  bet, 
bedde,  nnl.  bed  n.  Ahd.  beti,  betti  n.,  mhd.  bei,  bette;  nhd. 
bell.  Altn.  bet)r  dagegen  masc,  eigentlich  unterläge,  worauf 
man  im  bette  ruht,  auf  der  bank  sitzt,  polster  (Fritzner).  Aus 
dem  urnord.  oder  got.  entlehnt  ^wm.  palja^  est  päd i  gen.  padja 
'pulvinar  longius,  culcita  inferior  in  lectibus,  pulvillus  refertus 
helciis  et  cphippiis  equinis  subjici  solitus'  (Thomsen:  Den 
gotiske   sprogklasses   indflydelse   paa  den  finske  s.  144).     Ein 


1 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  177 

deminutiv  von  beör  scheint  altsohwcd.  ha-dhil  oder  in  si)äterer 
form  badhul  m.  nest,    siebe    Tamni  Arkiv  f.  nord.  lilol.  II,  346. 

Franck  (Etym.  wdb.  d.  ndl.  taal)  stellt  badi  ansprechend 
zu  lat.  fodio,  gr.  ßöd^goj.  u.  s.  w.,  was  'J'amni  durch  badhul 
stützt.  Allein  dies  passt  nicht  recht  zur  bedcutung  des  altu. 
und  des  in  uralter  zeit  entlehnten  finnischen  Wortes.  In  diesen 
tritt,  wie  mir  scheint,  die  gruudbedeutung 'unterläge' deutlich 
hervor. 

Nach  meiner  Vermutung  ist  gcrm.  hadja-  'unterläge',  got. 
badi,  altn.  bet5r  aus  einem  vorgerm.  ''■pod/iilö-m  oder  '■'•podhllö-s 
entstanden.  Ich  vergleiche  damit  lit.  padis  gen.  padzio  m., 
gewöhnlich  im  plur.,  Untergestell,  kslav.  pozdü  (aus  ^podin) 
cavum  navis.  Das  Stammwort  dieses  lit.-sl.  wortes  ist  lit. 
pädas  sohle,  grund,  ksl.  podu  boden,  das  von  lit.  pa-,  ksl.  po- 
'unter'  und  de-  'legen'  gebildet  ist.  Mit  \\\.  padas  sind  mehrere 
composita,  die  von  de-  'legen'  abgeleitet  sind,  analog;  z.  b. 
indas  'gefäss  (in  das  man  etwas  legt)'. 

Für  die  anwendung  von  '''•podhilö-  im  altu.  hci^r  als 
'polster'  vergleiche  man  ind.  upadhana-m  'kisscn,  polster', 
upadhayin-  'unterlegend  (als  kissen)'  von  upa  -j-  dhä-  'etwas 
sich  unterlegen,  sich  auf  etwas  legen'.  Für  die  anwendung 
des  aschwed.  bccdhil  'nest'  beachte  mau  lett.  padet  'ein  ei  ins 
nest  zum  brüten  legen'. 

Das  vorgerm.  '*i)odhil<'>-m  war  suffixbetont,  wie  viele  dun-ii 
das  Suffix  -10  gebildete  nomina  im  germanischen,  z.  b.  got. 
andeis  'ende',  altn.  Jüogi  'Verspottung',  ahd.  hcri  'beere'.  Dass 
die  Zusammensetzung  mit  dem  präfixc  po-  'unter'  nicht  gegen 
Suffixbetonung  spricht,  zeigt  ind.  upadhi-s,  upadha.  Gegen  die 
angenommene  vorgerm.  grundform  '■''•jiodhilö-m  lässt  sich  ein- 
wenden, dass  es  bei  kurzer  silbe  vielmehr  '■'^•podhlö-m  heissen 
müsste.  Allein  die  betrefiende  regel  ist  in  den  indog.  sprachen 
vielfach  gestört  worden:  ^^v.  dor.  öinyMrini  gegen  ind.  -ralya-, 
yed.  f/äviija-  neben  (jüvya-  u.  ähnl.  (Brugmann,  Grundriss  s.  IM). 
Hier  könnte  '^podhiw-tn  aus  '-^podhalö-m  [dhd-  gekürzte  wurzel) 
entstanden  sein.  Nach  dem  eintreten  der  speciell  gcrmaniscluMi 
betonung  wurde  urgerm.  '"badlm-n  zu  '•'•bä.dja.  Man  hat  freilicli 
vermutet,  dass  lit.  pa-,  sl.  po-  vorn  einen  vocal  verloren  hat; 
vgl.  Pott,  Präpositionen  (1S59)  s.  OOf),  Osthon;  Morjjh.  IV,  :M1. 
Wenn   man    diesen    vocal    unbestimmt    bisst    und    durch    x   bc 

Beiträge  zur  gestüichte  der  deutsclieii  »praclie.    Xlll.  12 


178  ßUGGE 

zeiclinet,  könnte  man  für  got.  badi  'bcft,  unterläge'  ein  vor- 
ijerni.  *xpodhlö-7n  vermuten;  mir  ist  das  oben  vermutete 
'•'■podlüw-m  wahrscheinlicher. 

81.  Timotb.  I,  5,  4  {h  dt  t/c  ;c^/(>«  rtxva  ■/]  hxyora  Ix^i, 
ftarff^artTo^öctr  jTQ(oror  rov  uhor  oixov  tvösßtlr)  wird  svOs- 
l^ir  (kindlich  frommen,  ehrfurchtvollen  sinn  gegen  jmd.  be- 
weisen, colere,  pie  traetare)  im  got.  durch  das  den  accus, 
regierende  harnsnjan  widergegeben.  Dies  ist  bisher  nicht  ge- 
nügend erklärt.  Die  änderung  Ilofmanns  b(irniskj(ni  (Germ. 
VIII,  2)  ist  geistreich,  allein  wenig  überzeugend. 

Ich  vermute  ein  zusammengesetztes  ba-rusnjan]  ^rusnjan 
scheint  mir  von  einem  sul)stantivstamme  *rusni-  wie  faiknjan 
von  laikni-  abgeleitet.  Wie  ana-bnsni-  von  bindan  abgeleitet 
ist  (vgl.  Kluge,  Stammbild.  §  147),  so  kann  i-Tisni-  von  *rmdan 
=  ags.  )-codan,  altn.  rjöHa,  iQfvihtr  abgeleitet  sein.  Zu  *rm- 
da7i  gehört  got.  ga-riuds  öti^vog,  ehrbar.  Gr.  osftvog  ist  mit 
etoeßelv,  das  durch  barusnjun  übertragen  wird,  verwant.  Dies 
bestätigt  meine  Vermutung,  dass  barusnjan  zu  ''^'i-indan  gehört. 
Für  die  bedeutuugseutwickelung  vgl.  man  zugleich  gr.  aiötof/ai 
'sich  schämen',  allein  auch  'in  ehren  halten'  {aiösöaai  fitXa- 
d^Qov  II.  IX,  640). 

Das  bu-  von  ba-rusnjan  entspricht  nach  meiner  Vermutung 
dem  lit.  />«-,  wodurch  das  damit  zusammengesetzte  verbum  zu 
einem  'resultativen'  gemacht  wird,  z.  b.  darijli  'machen',  pa- 
daryli  'fertig  machen'.  Das  piäfix  jia-  kommt  oft  in  inchoa- 
tiven vor,  z.  b.  pabundu  'erwachen'.  Ich  hebe  hervor,  dass 
mehrere  composita,  die  pa-  enthalten,  zu  farbenadjectiven  ge- 
hören: pamäynüju  'blau  werden',  pajMüju  'schwarz  werden', 
paballinu  'weiss  machen'. 

Vorgerm.  *po-  ist  in  barusnjan  regelrecht  zu  ba-  ver- 
schoben, weil  der  hauptton  hier  bei  der  freien  betonung  weder 
auf  der  ersten  noch  auf  der  zweiten  silbe  lag.  Im  got.  badi 
habe  ich  ba-  =  lit.  pa-  'unter'  gesucht. 

Auch  sonst  lässt  es  sich  in  den  germanischen  sprachen 
nachweisen,  dass  präfixe,  die  einst  häufig  angewendet  wurden, 
nur  in  einzelnen  Wertformen  erhalten  geblieben  sind,  in  welchen 
sie  z.  t.  nicht  mehr  als  präfixe  gefühlt  werden.  So  hat  das 
nordische  (ja-  als  lebendiges,  productives  präfix  aufgegeben 
und    davon    nur    wenige    spuren    {gllkr,  i^wr7^r,  granni,  goivar 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  179 

u.  8.  w.)  eilialteii.  Dies  steht  mit  der  s))eeiell  ^'einianisolien 
betouuii^'  in  verbind img-.  Wie  got.  ha-  nur  in  vereinzelten 
spuren  erhalten  ist,  so  auch  andere  gotische  präfixe:  fri-sahls, 
ih-daJjn,  sv\-kun]>s.  Noch  andere  altgcrnianische  Wörter  ent- 
halten nach  meiner  Vermutung  dies  präfix  ha-. 

32.  Ahd.  bouhhan,  mhd.  houchen,  asächs.  bökan ,  ags. 
beacen  n.  Signum,  portentum;  africs.  beken  (zunächst  aus 
'*bmikm);  awestfries.  (Möller,  Kuhns  z.  XXIV,  i'Mi)  l>akcn\  mal. 
buken  n.  Seezeichen.  Wie  das  nl.  wort  ist  auch  altisl.  häkn 
aus  dem  fries.  entlehnt;  aus  einer  form  bükn  ist  ebenfalls 
neudän.  bavn,  mittcldän.  batren,  bagn,  haken  entstanden  (vgl, 
neudän.  savne  aus  sakna,   lav  aus  lügr). 

Wie  germ.  ^bmikn  n.  'zeichen'  ist  zeichen  n.  gebildet,  ahd. 
zeihhan,  asächs.  lekan,  ndl.  teeken,  afries.  icken^  ags.  iäcn,  eng. 
token\  dagegen  got.  iaikns  fem.,  stamm  laikni-.  Im  altisl. 
scheint  nicht  nur  täkn  n.,  sondern  auch  teikn  n.  lelmwort, 
Aelter  im  nordischen  ist  das  femininum  jarleyn,  jartcln, 
wahrzeichuen;  Lei?)arv.  6  \)\\(\ci  frer/nar — jnrle<jnir  eine  aMal- 
bending,  2(.)  dagegen  hreinn  —  jttrieinir.  Die  lautform  des 
zweiten  gliedes  erklärt  sich  daraus,  dass  dassell)e  nebentonig 
war:  '*-teignli  nom.  sg.  wurde  hier  -le(jn,  -'■-lei'jnili  nom.  pl. 
dagegen  nach  meiner  Vermutung -/e/mr.  Später  wurde  y«;7W^;j 
durch  comproniiss  restituiert,  auch  jarleikn  durch  einflnss  von 
Icikn  geschrieben.  Wie  ^bankii  ist  ferner  gebildet  ahd.  /ei/i/ian 
n.  dolus,  mild,  reichen  'trug,  arglist,  bosheit',  asächs.  fcknn, 
ags.  fncc)i\  im  aisl.  fcikn  'immanitas'  lässt  sich  das  geschlecht 
nicht  l)cstimmen.  Ahd.  zeihhau  hängt  irgendwie  mit  zeigön 
'zeigen',  feihhan  irgendwie  mit  got.  {bi-  oder  ga-)  faihön  'be- 
trügen' zusammen.  Kluge  (Heitr.  L\,  ISl)  setzt  vorgerm.  for- 
men '*döigno-,  döigni-  und  ])öi;/)io-  voraus.  In  näherer  Überein- 
stimmung mit  Möller  (Beitr.  VII,  401)  vermute  ich  vielmehr 
vorgerm.  ^doikdnö-m,  *doik9iti-s  und  '•^poikanö-m,  urgerm.  '-'-Idi- 
g9nä-n,  '■''■laigoni-s  und  '*faig^na-n  (/'  durch  den  einlluss  ver- 
wanter  formen  erhalten  oder  restituiert).  Die  suflixe  -na  und 
ni  finden  sich  auch  sonst  betont.  Aus  den  genannten  formen 
entwickelten  sich  '''■Idiggnn-n,  /tiiggni-s  und  f'iiggnn-n,  endlich 
taikn,  faikn.  Dass  aus  den  von  mir  voraussgcsetzten  Urformen 
vielmehr  '■''■(aikkn-.  *fnikki'i-  sich  hätten  entwickeln  müssen, 
scheint    mir    nicht    erwiesen.      Für  den   Übergang  von  '^laiginin- 


180  BUGGE 

in  taikna-  führe  ich  altu.  Siklingr  an.  Sigarr,  pa<5an  eru  Sik- 
lingar,  pat  var  citt  Siggeirs,  er  var  mägr  Vglsungs,  ok  cbtt 
Sigars,  er  heng<5i  Haghari^  Snorra  Edda  ed.  AM.  I,  522.  Dies 
ist  z.  t.  eine  späte  und  ungeschickte  combiuation  (Miillenhofif), 
allein  der  Zusammenhang  von  Siklingr  mit  namen  auf  An- 
scheint mir  sicher.  Siklingr  ist  wol  jedenfalls  aus  '"Sigglingr 
entstanden;  dies  wol  entweder  aus  *Siggeirlingr  oder  aus 
'^Sigilingr. 

Ich  kehre  zu  *haukn,  ahd.  hanhhan  'zeichen'  zurück.  Wie 
ahd.  zeihhan  'zeichen'  mit  zeigön  'zeigen'  verwant  ist,  so 
scheint  mir  '^-buukn,  ahd.  hanhhan  mit  got.  augjan  'zeigen', 
ahd.  ovgen,  asächs.  ögian  verwant.  ''"haukn  ist  nach  meiner 
Vermutung  aus  urgerm,  '*ba-ai(gdnän  entstanden.  Man  wende 
nicht  ein,  dass  es  vielmehr  *ha-auginan  heissen  müsste,  denn 
im  got.  findet  sich  als  ableitung  von  sökjan  sökns  neben  dem 
gewiss  jüngeren  sökeins.  Für  die  anwendung  des  präfixes  ha- 
rn '■^•Jni-augdnä-n ,  ahd.  bauhhan  vgl.  lit.  parödyti  'zeigen'.  Für 
die  elision  in  hauhi  aus  '^-ha-augdna  vgl.  ahd.  fravili  aus  */rö- 
avili.  An  das  präfix  hi-  denke  ich  bei  baukn  nicht,  weil  die 
elision   des   /   für  das  gemeingermanische  unbeweisbar  scheint. 

33.  Im  vorhergehenden  ist  nachgewiesen  worden,  dass  die 
praefixformeu  ga-  und  du-  lautgesetzlich  da  entstanden  sind, 
wo  der  hauptton  bei  der  freien  betonung  auf  der  dritten  silbe 
oder  dem  wortende  näher  zu  lag,  und  dass  dieselben  durch 
association  verallgemeinert  worden  sind.  Man  wird  es  daher 
natürlich  finden,  dass  das  b  des  präfixes  ba-,  welches  laut- 
gesetzlich in  derselben  lautstellung  wie  das  g  von  ga-  und 
das  d  von  du-  entstanden  ist,  ebenfalls  durch  association  ver- 
allgemeinert wurde.  Diese  beobachtung  gibt  uns  den  Schlüssel 
zur  etymologischen  deutung  nicht  weniger  german.  Wörter. 

Ahd.  blödi,  mhd.  bloede,  gebrechlich,  schwach,  zart,  zag- 
haft, nhd.  blöde\  asächs.  blötil  zaghaft,  ags.  bleatS  schwach, 
zaghaft,  altn.  blauer  zaghaft,  feige,  weiblichen  geschlechts.  Im 
got.  muss  das  adj.  Hlaups  (stamm  hlavpi-)  gelautet  haben; 
davon  got.  blaupjan  aufheben,  abschaffen.  Das  germ.  adj. 
Hlaupi-s  ist,  wie  Kluge,  Stamnibibi.  §  233  erkannt  hat,  durch 
das  participiale  suffix  -pi  gebildet,  welches  am  öftesten  an 
vocalisch  auslautende  wurzeln   tritt;    vgl.   z.  b.   germ.  '*nw-pi-s 


I 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  ISI 

,müde',  '*au-pi-s  'öde'.  Nabe  vcrwaut  ist  das  indisclic  sui'fix 
-/y«,  welches  in  einigen  gerundiv^en  nach  einem  souantcu  er- 
scheint: crütya-s,  stiitya-s  u.  ni.  Weder  das  gerni.  noch  das 
ind.  Suffix  trug  den  haupttou.  Das  germ.  suffix  -/»/  verhält 
sich  zum  ind.  -tya  wie  das  germ.  -/  im  got.  andanems  u.  s.  w. 
zum  ind.  gerundivsuffixe  -ya. 

Germ.  Hlaupi-s  setzt  ein  vorgerm.  *po/du/i-s  oder  '''puläu- 
ÜH-s  voraus.  Das  Stammwort  desselben  entspricht  dem  lit. 
pa-Uäuju  'aufhören  (etwas  zu  tun)'.  Für  die  bedeutungs- 
entwickelung  beachte  mau  namentlich  das  verwante  gr.  Xvco 
lösen,  entkräften,  abmatten  {l\:<jt  yvla  tötete,  o;}  [ibj  XhXvrca 
deine  kraft  ist  gebrochen);   auch:  aufheben,  abschaften. 

Wir  haben  schon  mehrfach  gesehen,  dass  ein  vocal  be- 
reits im  gemeingerm.  zwischen  einem  anlautenden  verschluss- 
laute und  n,  l  oder  /-,  wie  hier  in  blaup/s  aus  vorgerm.  ■'^po- 
Iduti-s,  ausgedrängt  ist:  ags.  hnitu,  nord.  ipiil  —  gr.  xovidkg\ 
ahd.  grans,  altn.  hraiii  —  gr.  xoQonuj^]  ags.  cran  —  cymr. 
gar  au,  gr.  ytQuvo^  u.  m.  Dass  das  o  (germ.  a)  in  blaupis 
nach  b  ausgedrängt  ist,  während  es  in  bainsnjan  blieb,  hat 
wahrscheinlich  in  früheren  verschiedenen  betonungsverhült- 
nissen  seinen  grund.  Neben  barusnjun  bestand  vielleicht  einst 
ein  auf  der  ersten  silbe  betontes  abstractes  substantivum  Dies 
sollte  lautgesetzlich  '■•'färusniz  lauten;  das  betonte  fa-  kann  die 
erhaltuug  des  a  in  barus)ijan  bewirkt  haben.  Jedenfalls  kom- 
men bei  dem  prätixe  ga-  ähnliche  vocaldifferenzeu  vor;  ags. 
ylö/'  neben  gcnöh,  yonöh. 

34:.  Wie  ahd.  bludi,  mhd.  blwdc  ist  iihd.  hnnli,  mhd. 
brcede  'gebrechlich,  schwach'  gebildet.  Germ.  "%•««/>/->•  ist  aus 
vorgerm.  '■^•po-räuti-s  oder  '^•po-räulili-s  entstanden.  Das  Stamm- 
wort entsj)richt  dem  lit.  pa-rduju.  Lit.  räuju  bezeichnet  'rau- 
fen', 'eine  pflanze  mit  der  wurzel  aus  der  erde  ziehen';  paro- 
n'iau  ist  bei  Ncsselmann  belegt.  Vgl.  ksl.  ryjn  ryli  graben; 
rüv(^  rüvaCi  evellere;   lat.  nui  {diruo  zerstören  u.  s.  w.). 

35.  Got.  bleips  mitleidig;  altn.  b/itir  mild,  sanft,  freund- 
lich, angenehm;  ags.  blibe  froh,  freundlich,  sauft;  asäclis.  b/ii/ii, 
ahd.  b/idi,  mhd.  bilde  froh,  heiter,  freundlich.  Dies  germ. 
*b/tpi-s  ist,  wenn  man  von  der  verschiedenen  stufe  des  wurzel- 
vocales  absieht,  wie  '■^'■blaupi-s  gebildet.  Ich  setze  ein  vorgerm. 
'*polcili-s   oder   '■'''poUiliiJ-s   voraus,    dessen   Stammwort  dem  lit. 


182  BUGGE 

pal'eju  MiiDg-iessen,  vergiessen'  entspricht,  vou  teju,  /t;7« 'giessen'. 
Vgl.  feiner  ksl.  lejq,  lijati  'giessen';  iud.  liyate  +  vi  'zer- 
gehen, sich  auflösen,  schmelzen';  y/-,  tv- 'freilassen,  losmachen', 
med.  'sich  auflösen'.  Die  grundbedeutung-  von  '■^•bltpi-s  ist 
nach  meiner  Vermutung  'der  leicht  aufgelöst  werden  kann', 
davon:  mild. 

3G.  Got.  halwa-wesei  f.  bosheit;  habvjan  plagen.  Ahd. 
halo,  gen.  balawes  m.,  malitia,  pernicies,  pestis;  mhd.  hal-  in 
compositis,  bös;  hale  m.  böses,  unrecht.  Asächs.  halu  n.  ver- 
derben, übel.  Afries.  halu-  in  compp.  Ags.  healu  n.,  gen. 
healwes,  verderben,  übel.    Altn.  hol  n.,  dat.  holvi,  verderben,  übel. 

Gewöhnlich  vergleicht  man  kslav.  holt  'krank',  dessen 
Ursprung  dunkel  geblieben  ist.  Allein  der  stammauslaut  des 
slav.  Wortes  ist  verschieden.  Auch  stimmen  die  bedeutungen 
unter  einander  wenig  überein,  denn  der  grundbegriff  des 
german.  Wortes  ist  deutlich  'verderben'.  Dem  sinne  nach  noch 
ferner  steht  gr.  (pavXog  'leicht,  gering,  wertlos',  das  aus  '•^•rpXav- 
/Log  (vgl.  (plavQog)  entstanden  scheint.  Auch  das  von  Fick 
verglichene  lat.  fallo  genügt  nicht. 

Der  germ.  stamm  halwa-  ist  mit  gr.  oloog  'verderblich' 
synonym;  6Xo(:Qy6Q  'verderbliches  tuend'  hat  in  dem  altisl. 
namen  Odins  ßolverkr  (wie  jioXmQyog  in  dem  riesennamen 
Fjolverkr)  ein  (jedoch  nicht  vollständiges)  ebenbild.  oXoög, 
für  '-^-oXo/ög,  gehört  zu  öXXi\ui,  für  oXvvfii. 

Hiernach  vermute  ich  ein  vorgerm.  '*pol'o>vö-s  'verderblich', 
das  von  einem  dem  gr.  (XJt6XXv[ii  cutsprechenden  verbum,  wie 
oXoög  von  oXXvpi,  gebildet  war.  Vorgerm.  *poldwö-  wurde 
germ.  Haldtvä-,  halwa-.  J.  Schmidt  (Kuhns  z.  XXVI,  23  f.) 
hat  mit  recht  angenommen,  dass  ind.  dpa,  gr.  ajio  schon  in 
der  Ursprache  proklitisch  sein  a  verlieren  konnte;  vgl.  ahd. 
fo-na,  asächs.  fa-n. 

37.  Ags.  bröga  m.  schrecken  oder  ein  wesen  das  schrecken 
erregt;  hregean,  bregan  (aus  ^btyjgjan),  erschrecken.  Ahd. 
findet  sich  der  wortstamm  besonders  bei  Tatian:  hruogo  terror, 
hruoglluu  terrueruut,  u.  s.  w.;  auch  gl.  Ker.  prokendi  terrendus 
(Graff  111,  37^)).  Im  schweizerischen  erhalten:  hrögen  terrere, 
hröögg  popanz  u.  s.  w.,  s,  Grimm,  Dwb.  11,  396. 

Grimm  hat  bereits  liierl)ei  an  got.  ögja:n  erschrecken,  altn. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  183 

0(jja  erinnert,  ^brögjan  fasse  ich  etymologisch  als  '*fra-ögjan^ 
hröga  als  '"^-fra-öija  auf,  vgl.  ags.  öga  schrecken. 

Die  Vereinigung  der  präpositionen  mit  verbalformeu  unter 
einen  hauptaccent  ist,  wie  dies  namentlich  Kluge  (Kuhns  /s. 
XXVI,  79)  hervorgehoben  hat'),  in  gewissen  Stellungen  schon 
urgermanisch.  Im  altindischen  sind  die  verbalpartikeln  überall 
proklitisch,  wo  das  verbum  betont  ist,  also  namentlich  in 
einem  abhängigen  satzgliede;  dies  Verhältnis  scheint  überhaupt 
indogermanisch  gewesen  zu  sein.  Mehrere  germ.  verba  sind 
als  uralte,  verdunkelte  composita  erkannt,  die  als  solche  in 
der  historischen  zeit  nicht  aufgefasst  wurden,  weil  die  laut- 
form des  präfixes  geändert  war:  z.  b.  asächs.  Wgian,  ahd. 
zotigen,  mhd.  zöugen  'zeigen',  d.  h.  ''^•at-augjan\  zagen,  ahd. 
zagen,  d.  h.  *at-agan  (Kluge).  Diesen  gesellt  sich  Hrögjan, 
d.  h.  *fra-ögjan  an. 

Für  den  begrifflichen  Zusammenhang  mit  ogjan  hebe  ich 
den  folgenden  ags.  satz  hervor:  ne  bib  he  breged  mit  aTnigum 
ögan.  Für  die  composition  mit  />-«-  =  gr.  jtqo-^  iud.  [)ra- 
vergleiche  ich  z.  b.  ind.  pra-trasati  sich  aus  angst  flüchten, 
pra-trUsayati  verjagen,  verscheuchen,  pra-trUsä-s  das  beben, 
zittern;  lat.  proterreo  durch  schrecken  fortscheuchen;  deutsch 
verscheuchen. 

Das  altindische  betont  die  causativa  -äyali  {dhäräyali), 
dagegen  die  denominativa  -yäti  [devayäti,  göpäyäti  u.  s.  w.). 
Im  griech.  findet  sich  dieser  unterschied  nicht  wider;  die  be- 
tonung  der  abgeleiteten  verba  ist  dort  gleichartig:  alxico,  oiai- 
devco  u.  s.  w.  Ich  nehme  an,  dass  die  betonung  der  causativa 
auch  im  vorgerm.  und  im  urgerm.  zugleich  die  der  übrigen  ab- 
geleiteten verba  war,  und  dass  also  der  vocal,  welcher  un- 
mittelbar vor  dem  ableitenden  -ie-  stand,  in  allen  abgeleiteten 
verben  betont  war.  Das  causativum  brögjan,  praes.  indic. 
3.  sg.  *brögJp  setzt  nach  meiner  Vermutung  ein  vorgerm. 
'"^proUgheleti  voraus.  Das  subst.  ags.  oga  hatte  ursprünglich 
gewiss,  wie  z.  b.  hereloga,  den  haupttou  auf  dem  suftixe. 
Hiernach  vermute  ich  für  bröga  einen  vorgerm.  stamm  '*pro- 
äghön-,    wie   z.  b.   gr.  kjtaQijycöv   oxytonon   ist.     In  den  germ. 


^)  Vgl.  J.  Schmidt,  Kuhns  zs.   XXVI,  22  ff.;    Behaghel,   Germania 
XXIII,  284. 


184  BUGGE 

Sprachen  kommt  for-  als  tonlose  form  von  /;•</-  vor,  z,  b.  got. 
frakuaps,  ags.  fracoti  neben  unforcU(5  (Kluge).  Nach  meiner 
Vermutung  ist  der  vocal  von  pro-^  fra-  in  bröga  ganz  ge- 
schwunden, weil  der  hauptton  hier  nicht  auf  der  unmittelbar 
folgenden,  sondern  auf  der  nächst  folgenden  silbe  ruhte.  Allein 
der  vocal  schwand  hier  erst,  nachdem  die  germanische  laut- 
verschiebung  eingetreten  war. 

38.  Got.  '-^brups,  acc.  hrup  Schwiegertochter,  hrupfaps 
bräutigam.  Altn.  brübr,  acc.  dat.  bril(5i,  braut.  Ags.  brtfd 
braut.  Asächs.  b?'üd.  Ahd.  brUt,  prüf,  dat.  brUfi;  mhd.  brüt, 
braut,  die  junge  frau,  die  neuvermählte.  Die  gemeingerm.  form 
ist  '*brUdi-s. 

Das  wort  ist  in  der  bedeutung  'Schwiegertochter'  ins 
romanische  übergegangen:  fr.  bru,  altfr.  bruy ,  ladin.  h'iilt. 
Schon  in  lat.  glossaren  aus  dem  9.  jahrh,  wird  bruta  durch 
nurus  erklärt.  Diese  anwendung  des  wortes  im  got.  und  im 
roman.  spricht  dafür,  dass  es  ursprünglich  die  frau  bezeichnet, 
welche  als  braut  in  das  haus  des  gatten  und  des  Schwieger- 
vaters heimgeführt  wird.  Grimm,  Dwb.  II,  33  bemerkt:  'ver- 
kehrt wäre,  diesem  reinen,  edlen  wort  unzüchtige  bedeutung 
unterzulegen'.  Die  entgegengesetzte  gruppierung  der  anwen- 
dungen  des  wortes  bei  Fritzner  wird  durch  mhd.  hriuien  (coire, 
futuere,  stuprare),  mnd.  brü~den  nicht  als  mit  der  historischeu 
entwickelung  übereinstimmend  erwiesen,  denn  auch  bei  dem 
von  Hildebrand  treö'lich  erläuterten  hd.  geheien  hat  sich  die 
unzüchtige  anwendung  aus  einer  älteren  reinen  entwickelt. 

Im  indogerm.  heisst  wedh-  (das  im  ind.  vah-  mit  negh- 
zusammenfiel)  besonders  'die  braut  heimführen',  und  die  neu- 
vermählte frau,  welche  als  Schwiegertochter  in  das  haus  des 
Schwiegervaters  heimgeführt  wird,  hat  man  durch  ableitungen 
von  wedh-  bezeichnet:  ind.  vah-,  (eine  frau)  heiraten,  U-vah- 
(die  braut)  zuführen,  ud-vah-  (die  junge  frau  aus  dem  vater- 
hause) wegführen,  heiraten,  pari-vah-  den  hochzeitzug  oder  die 
braut  führen  (vom  Vaterhaus  in  das  des  gatten),  heimführen, 
vi-vah-  (die  braut)  wegführen,  vadhU-s  f.  (die  heimzuführende 
oder  die  heimgeführte)  braut'),  junge  ehefrau,  Schwiegertochter. 
Zend.  vademnö  der  heimführende,  vadatjeUi  führt  heim,  vadhrya- 


•)  Anders  Kern,  Rev.  Celt.  II,  15S. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  185 

üubilis.  Lit.  wedk  westi  (eine  ehefrau)  heimführen,  heiraten; 
parsiwesti  mit  sich  heimführen;  parwedi?imkas  brautführer,  par- 
iveslmvcs  heimführungsschmauss;  wedlys,  wedys  bräutigam.  Ksl. 
ved((.  vesti  führen,  aruss.  auch  vom  heimführen  der  braut.  Ir. 
fedaim  führen;  cyrnw  grvaudd,  corn.  guhit,  bret.  gouhez  Schwieger- 
tochter. 

Bopp  und  Grimm  haben  bereits  in  braut  eine  Zusammen- 
setzung gesehen,  in  der  eine  ableitung  von  wedh-  'heimführen' 
steckt,  allein  mit  unrecht  verbinden  sie  das  germanische  wort 
mit  mA.  2)raudhä.  Ich  vermute  ebenfalls,  dass  in  dem  hr-  von 
brUdis  ein  präfix  steckt;  es  lässt  sich  aber  kaum  entscheiden, 
welches  von  verschiedenen  präfixeu,  die  ursprünglich  die  con- 
sonanten  p  und  ;■  enthielten.  Nach  dem  lit.  parsiwesti  '(die 
braut)  mit  sich  heimführen'  nehme  ich  in  der  urform  von 
brUdis  ein  präfix  par-  an,  allein  formell  ist  eine  composition 
mit  pro-j  got.  fra-  für  braut  möglich. 

Also  brUdi-s  'braut'  nach  meiner  Vermutung  aus  vorgerm. 
*parUd/n-s,  eigentlich  'die  heimgeführte'  oder  'die  heimzu- 
führende'. Der  vocal  schwand  vor  r,  weil  der  hauptton  auf 
einer  nicht  unmittelbar  folgenden  silbe  lag.  Das  wort  ist  gebildet 
wie  ind.  vlci-s  f.  welle,  lit.  rfidis  f.  rost.  Dasselbe  suffix  wird  auch 
sonst  zur  bildung  von  Wörtern,  die  weibliche  personen  bezeich- 
nen, angewendet;  z.  b.  got.  qeus,  stamm  qeni-,  ehefrau.  In 
vorgerm.  '■^par-Tidhi-s  ist  üdh-  (aus  '■^•uddh-)  schwache  form  von 
wedh-.  Dasselbe  Verhältnis  erscheint  bei  den  folgenden  Wör- 
tern, Zend.  duzh-Ukhta-  schlechte  rede  :  gr.  ftjcog;  ind.  ühati 
:  mÄ-;  ind.  cu'na-?n  leere  :  griech.  xsPiög]  ind.  cUsä-s  :  cväsiti; 
lett.  Idipel  rauchen,  dampfen  :  lit.  kivepcli  duften,  u.  m. 

39.  Altn.  bak  n.  rücken,  hiuterseite;  ags.  bccc,  eng.  back\ 
fries.  bek-^  asächs.  bak\  ahd.  bah.  Die  bisherigen  etymologischen 
deutungen  dieses  wortes  haben  zu  keinem  sicheren  resultate 
geführt.  Nach  meiner  Vermutung  ist  bak  aus  einem  vorgerm. 
*ai)ük-  zu  erklären.  Ind.  ist  äpänc-,  nom.  sg.  n.  äpäk,  'rück- 
wärts gelegen,  hinten  liegend',  dpüka-  'abseits  oder  hinten 
liegend,  entfernt'.  Wenn  man  ind.  apUk  aus  apa  +  ak  und  ak 
aus  ursprünglichem  *nk  erl^lärt,  wird  dadurch  das  «  der  vor- 
ausgesetzten vorgerm.  form  '^•apUk-  nicht  gestützt.  Dagegen 
berufe  ich  mich  für  das  ä  des  vorgerm.  *apäk-  auf  ksl.  opako, 
opaky,    opace  'retrorsum',    bulg.  oi)ak  'die  unrechte  seite'   und 


1S6  BUGGE 

daneben  mit  abgefallenem  o  ksl.  pucc  'contra',  j>ak!/  'iterum' 
jMiklüsicb,  Et.  wb.  224.')  Vg-J.  das  britannische  räc  (coram, 
prae,  ante)  Zeuss,  Gr.  Celt.^  677  ff.,  welches  Ebel  (Kuhns 
Beitr.  1,  311)  mit  ind.  präk  verbindet. 

Die  germ.  form  hak  hat  sich  nach  meiner  Vermutung  aus 
'''•ajxlk-  entwickelt,  wo  dieser  consouantische  stamm  ohne  den 
hauptton  zu  tragen  als  erstes  glied  eines  compositum  vor 
einem  stimmhaften  consonanten  vorkam.  Z.  b.  vor  einem  bh 
des  zweiten  gliedes  wurde  vorgerm.  *apäk'  zunächst  vorgerm. 
'-^■apag ' .  Wo  das  suffix  des  zweiten  gliedes  den  hauptton  trug, 
fiel  das  anlautende  a  von  apUk-  ab  und  das  p  wurde  im  ger- 
manischen zu  b  verschoben.  Vor  einem  consonanten  wurde 
das  ä  in  der  protonischen  Stellung  gekürzt. 

Die  an  Wendung  des  wortes  als  erstes  glied  eines  compo- 
situm vor  stimmhaften  consonanten  kam  gewiss  nicht  selten 
vor.  Von  den  folgenden  compositis  können  mehrere  alt  sein. 
Altn.  bakbit,  bakhorinn,  bakboröi,  bakbyrör,  bakmall,  bakrauf, 
bakvana,  bakverkr  u.  m.;  aschwed.  bakbinda,  bakväpi,  bakvegg^ 
afries.  lieklamcllie,  bekward.  Für  die  erklärung  des  k  von  bak 
ist  ferner  hervorzuheben,  dass  vorgerm.  '^-apäk  als  nom.-acc. 
sg.  n.  im  zusammenhange  des  satzes  vor  stimmhaften  conso- 
nanten zu  *u2)äg,  wie  wir  vermuten  dürfen,  übergieng.  Vgl. 
über  den  Wechsel  von  tenuis  und  media  Osthoff',  Morph,  u. 
IV,  328;    Kluge,  Beitr.  IX,  180  ff. 

Auch  andere  momente  als  die  bereits  genannten  haben  wol 
zur  entwickelung  des  anlautenden  b  von  bak  mitgewirkt.  Vom 
indischen  stamme  äpUka-  sind  die  oxytonierten  casusformen 
apäka  und  apäkat  gebildet,  welche  als  adverbia  'abseits,  fern' 
angewendet  werden.  Hiernach  vermute  ich,  dass  oxytonierte 
casusformen  von  einem  vorgerm.  stamme  apako-  zur  entwicke- 
lung des  germ.  b  von  })ak  mitgewirkt  haben,  wie  auch  dazu, 
dass  germ.  hak  als  «-stamm  fiectiert  wird.  Dies  finde  ich  um 
so  wahrscheinlicher,  als  viele  germ.  ausdrücke,  die  dem  sinne 
nach  adverbiell  sind,  casusformen  von  bak  in  Verbindung  mit 
Präpositionen  enthalten.  Die  Verbindung  altn.  ä  hak,  ags.  on 
b(ßc  kann   wol   so  alt  sein,   dass  hier  einst  das  auslautende  a 


')  Fick,  Vf?l.  wb.  II,  00.5   fasst  das  anlautende  o  von  opako  ala  ein 
präfix  =  oh^,  um. 


DER  GOTT  BRAGI.  187 

von  *ana  mit  dem  anhiuteiuleu  a  von  apäko-  zusammenstoss. 
Das  entsprechende  war  wol  bei  altn.  af  baki,  ä  baki,  fries. 
tobeke  u.  m.  der  fall.  Solche  Verbindungen  haben  also  nach 
meiner  Vermutung  dazu  beigetragen,  dass  das  anlautende  a 
von  apäk-  apäko-  abfiel. 

Die  hier  gegebene  etymologische  erklärung  von  bak,  die 
bereits  von  Pott,  Präpos.  471  u.  a.  angedeutet  ist,  finde  ich 
dadurch  bestätigt,  dass  das  anlautende  a  auch  in  ksl.  pace 
contra,  potius,  paky  iterum,  u.  ra.  (Mikl.,  Et.  wb.  224)  abge- 
fallen ist.  ^'ervvant  scheint  feiner  lit.  pakaVa  rücken,  worin 
das  anlautende  a  abgefallen  und  das  U  vor  k  gekürzt  ist. 
Beides  setzt  eine  grundform  voraus,  worin  weder  die  erste 
noch  die  zweite  silbe  von  apäk-  den  hauptton  trug. 

CHRISTIANIA.  S.  BUGGE. 


DP:R  GOTT  BRAGI  IN  DEN  NORRÖNEN 
GEDICHTEN. 

Beitr.  XII,  383—392  hat  E.  Mogk  die  Vermutung  be- 
gründet, dass  der  gott  Bragi  seinem  Ursprung  nach  der  zum 
gotte  der  skaldenpoesie  erhobene  norwegische  dichter  Bragi 
Boddason  sei.  Diese  Vermutung,  welche  mir  scharfsinnig  und 
bemerkenswert  vorkommt,  werde  ich  hier  nicht  von  allen 
Seiten  prüfen.')  Allein  die  beweisführung  Mogks  nötigt  mich, 
Bragis  auftreten  in  den  norrönen  gedichten  zu  besprechen. 
Zunächst  wende  ich  mich  mit  Mogk  zu  der  Lokaseuna, 
welche  dafür,  dass  Bragi  der  gemahl  der  lÖunn  war,  bisher 
als  hauptquelle  galt.  Mogk  bemerkt  s.  38G:  'in  der  ÖnE. 
[wird]  l>ragi  der  gemahl  der  Ij'un  genannt;  diese  ist  aner- 
kanutermasseu  eine  altnordische  gotthcit,  so  dass  ihr  gemahl 
auch  eine  sein  müsste'.  Wenn  der  ausdruck  'altnordische 
gottheit'  eine  gottheit  meint,  die  sich  nicht  nur  bei  dem 
norwegisch-isländischen  stamme,  sondern  auch  bei  den  Schwe- 
den und  Dänen  fand,  muss  ich  bemerken,  dass  ich  kein 
Zeugnis  dafür  kenne,  dass  I^iunn  eine  schwedische  oder  dänische 

')  Sie  wurde  mir  sclion  vor  uielireren  jähren  von  einem  coliegen 
mitgeteilt:  ieh  habe  dieselbe  in  meinen  'Studien  über  d.  entstehanj^:  der 
nord.  götter-  und  heldensagen'  (München  IS82)  s.  247  :inm.  berührt. 


188  BÜGGE 

g:üttin  wäre.  Mogk  begründet  s.  384  die  uuffassung,  dass  der 
gott  Bragi  auch  bei  den  Norwegern  nie  ins  volk  gedrungen 
i!>t.  Ich  kenne  nichts,  was  dafür  spräche,  dass  lÖunn  mehr 
ins  volk  gedrungen  wäre.  Weiter  wird  s.  386  bemerkt:  'Ausser 
der  Snorra  Edda  erfahren  wir  dies  [Bragi  sei  Ij-'uns  gemahlj 
nur  noch  im  eingange  der  Lokasenna;  so  oft  in  der  nordischen 
literatur  auch  l]mn  auftritt,  nirgends  findet  sich  eine  anspie- 
lung,  dass  sie  Bragis  gemahlin  sei'.  l(5unn  tritt  in  der  nor- 
rönen  literatur  nicht  oft  auf;  wenn  wir  von  der  prosa  der 
SnE.,  den  nafnapulur  und  der  Siomundar  Edda  absehen,  nur 
(wenn  ich  mich  recht  erinnere)  in  zwei  erzeugnissen  dieser 
literatur.  Erstens  in  der  Haustlong  str.  2,  9 — 11,  wo  lÖunn 
nicht  als  die  gemahlin  Bragis  bezeiclinet  wird.  Zweitens  in 
der  Grettis  saga  (Kopeuh.  1859)  s.  154,  wo  in  einem  verse 
Draga  kvänar  als  änigmatischer  ausdruck  für  i^unnar,  gen. 
von  i(5a-n,  vorkommt.  Hier  ist  also  lÖunn  als  die  gemahlin 
Bragis  bezeichnet;  freilich  ist  dieser  vers  so  spät,  dass  der- 
selbe hier  nichts  beweist. 

Mogk  meint,  erst  Snorri  habe  durch  falsches  Verständnis 
von  Lokas.  IG  Bragi  zum  gemahl  der  löunn  gemacht.  'Eine 
ganze  reihe  stellen  aus  den  Eddaliedern  hat  Snorri  missver- 
standen ....';  '[wir]  haben  ...  hierin  zu  den  vielen  einen 
neuen  beweis,  dass  ihm  nur  zu  oft  das  Verständnis  für  die 
Eddalieder  abgieng'.  Snorri  hat  nach  Mogk  Lokas.  10  so  auf- 
gefasst,  dass  er  eine  'unmögliche  construction'  voraussetzte. 

Mogk  leitet  seine  behandlung  von  Lokas,  str.  16  mit  den 
folgenden  Worten  ein:  'wie  mit  so  vielen  schwierigen  stellen 
der  Edda  hat  sich  auch  mit  ihr  die  kritik  schnell  abgefunden'. 
Alle,  die  sich  mit  der  kritik  der  Eddalieder  beschäftigt  haben, 
werden  gewiss  erkennen,  dass  diese  worte  leider  nur  zu  wahr 
sind.  An  den,  der  diese  worte  niederschreibt,  muss  man  frei- 
lich die  forderung  stellen,  sich  mit  den  von  ihm  besonders  be- 
handelten stellen  nicht  'schnell  abzufinden'.  Prüfen  wir  also 
zuerst  die  neue  von  Mogk  vorgeschlagene  lesung  und  erklärung. 
Lokas.  16  lautet: 

Bio  ek,  Brage,      barna  sitjar  diiga 
ok  allra  uskmaga, 

at  Loka  kveöera      lastastofom 
JEgeä  hollo  1. 
{lausaslofoui  bei  Mogk  ist  wol  schreib-  oder  druckfehler). 


DER  GOTT  BRAGI.  189 

Gegen  'die  landläufige  interpretation'  dieser  stelle  bringt 
Mogk  vier  eiuweuduugen  vor,  von  denen  die  vierte  seine  eigene 
änderung  motivieren  soll. 

*4.  Ist  die  construction  unmöglich;  duga,  mag  es  persön- 
lich oder  unpersönlich  aufgefasst  werden,  erlieischt  den  dativ, 
ein  accusativ  findet  sich  nirgends.  Die  letztere  erwägung 
nötigt  uns,  unsere  Zuflucht  zur  emendation  zu  nehmen;  der 
fehler  kann  nur  in  duga  liegen.' 

Dies  ist  bei  Mogk  gedruckt  zu  lesen.  Man  traut  kaum 
seinen  äugen.  Niemand  hat  ja  Lokas.  16  sifjar  als  von  duga 
abhängig  aufgefasst;  weder  Liining  und  Vigfüsson,  die  als  Ver- 
treter der  von  Mogk  bekämpften  'landläufigen  interpretation' 
genannt  sind,  noch  Snorri  noch  meines  wissens  sonst  jemand 
anders.  Von  einer  construction  des  verbums  duga  mit  dem 
einen  oder  dem  anderen  casus  kann  ja  hier  gar  nicht  die 
rede  sein. 

Mogk  bemerkt:  'der  fehler  kann  nur  in  duga  liegen  und 
für  dieses  möchte  ich  dylja  =  'verbergen'  lesen.  Dann  heisst 
unsere  stelle:  'Ich  bitte  dich,  Bragi,  deine  verwantschaft  mit 
den  menschen  und  allen  menschenkindern  zu  verbergen,  dass 
du  nicht  in  iEgis  halle  schmähreden  auf  Loki  sprichst'.  Hier 
also,  bei  dem  fröhlichen  gelage  der  götter,  soll  Bragi  nicht 
tun,  was  unter  den  menschen  sitte  ist,  bei  gelagen,  wenn  man 
trunken  ist,  sich  gegenseitig  zu  schmähen'.  Diese  worte  Mogks 
enthalten,  so  weit  ich  davon  urteilen  kann,  wie  dieselben 
8.  387  gedruckt  sind,  weder  druckfehler  noch  Schreibfehler.') 
Gegen  die  lesung  und  erklärung  Mogks  könnte  man  vielleicht 
erstens  einwenden:  dann  miisste  es  Bib  ek  J^ik,  Bragi'.  heissen. 
Zweitens:  es  ist  nicht  erwiesen,  dass  sifjar  e'mhvers  mit  'ver- 
wantschaft mit  jemanden'  völlig  gleichbedeutend  sei.  Allein 
hierauf  lege  ich  wenig  gewicht.  Grösseres  gewicht  lege  ich 
auf  die  folgenden  eiuwendungen.  Wie  kann  Bragi  seinen  an- 
geblichen menschlichen  ursjtrung  dadurch  verraten,  dass  er 
den  Loki  sciimäht,  da  doch  in  dcniscll)cn  gcdichte  z.  b,  6(^inn 


')  Dagegen  betrachte  irli  cinlierjer  s.  rts?  z.  h  als  .soliroih-  Oder 
druckfehler,  altisl.  hcisst  das  wint  einlirrjar.  Ferner  betrachte  idi 
ebenso  s.  387  z.  15  (nach  'unseren  kinderu')  ykkarra;  'unseren'  (gen. 
dual.)  heisst  altisl.  okkarra. 


190  BUGGE 

gegen  Loki  das  ärgste  schmähwort  ausspricht?  'vast  .  .  . 
kona  ok  hef'ir  pü  .  .  \born  of]  bor  it.'  Ferner:  Mogk  übersetzt: 
'mit  den  menschen  und  allen  menschenkindern'.  In  welcher 
spräche  drückt  man  sich  so  aus?  Wie  kann  der,  welcher  in 
der  'landläufigen  interpretatiou'  'eine  nichtssagende  tautologie' 
findet,  einen  solchen  ausdruck  dulden?  Ferner:  &örwa 'kinder' 
bedeutet  nicht  'menschen',  denn  nicht  alle  menschen  sind  ja 
kinder.  Ferner:  öshnaga  bedeutet  nicht  'menschenkindern'; 
die  bedeutung  dieses  wortes  werde  ich  im  folgenden  besprechen. 
Und  endlich  noch  eins.  Die  erwägung,  dass  'die  construction' 
bei  der  'landläufigen  iuterpretation'  'unmöglich'  sei,  hat  Mogk 
'genötigt',  seine  zAiflucht  zur  'emendation'  zu  nehmen.  Sehen 
wir  also,  ob  die  construction  bei  seiner  'emendation'  mög- 
lich ist.  Dii^  ek,  Bragel  harna  sifjar  dylja.  'Ich  bitte  dich, 
Bragi,  deine  verwantschaft  mit  den  menschen  . .  .  zu  ver- 
bergen'. Mogk  bezeichnet  selbst  sifjM'  als  accus.')  Jedes 
glossar,  jede  syntax  kann  lehren,  dass  'deine  verwantschaft 
verbergen'  im  altisl.  nicht  sifjar  (accus.)  dylja  heissen  kann. 
Altisl.  sagte  man  dylja  einhveni  einliveis  'celare  aliquem  ali- 
quid', selten  dylja  einhverju.  Wahrlich!  Snorri  Sturluson  hat 
sieh  an  dem,  der  ihm  die  annähme  einer  unmöglichen  con- 
struction in  seiner  isländischen  muttersprache  vorwarf,  hinläng- 
lich gerächt! 

Halten  wir  uns  also  au  die  lesung  der  handschr.  Dih  ek 
Bragel  harna  sifjar  duga.  Von  hi(5  ist  natürlich  hiei-,  wie  es 
alle  früher  verstanden  haben,  ein  accus,  c.  inf.  abhängig;  das 
subject  dieses  ist  der  accus,  sifjar,  das  verbum  duga,  d.  h. 
'valere',  also  hier  ungefähr  s.  v.  a.  einfluss  üben,  sifjar  be- 
zeichnet am  öftesten  aftinitas  (verwantschaft  durch  heirat)  als 
ein  Verhältnis  betrachtet,  das  heilige,  unkränkbare  pflichten 
auferlegt.  Ich  sehe  hiernach  gar  nicht  ein,  wie  eine  andere 
iuterpretation  als  die  'landläufige'  sprachlich  möglich  ist:  'ich 
beschwöre  dich,  Bragi!  bei  den  kindern  ....  Loki  nicht  zu 
schmähen'.  Wenn  ein  weib  diese  worte  spricht,  liegt  nichts 
näher  als  'die  kinder'  von  ihren  und  Bragis  gemeinsamen 
kindern  zu  verstehen.      Es  scheint  mir  klar,  dass  Bragi  durch 


^)  Ein    appellativ    sif   kommt    im    sinj^.    nicht    vor;    Ilyndl.  43    ist 
Sif  name. 


DER  GOTT  BRAGI.  191 

diese  worte  der  IfJunn  als  ihr  gemahl  bezeichnet  ist.  Allein 
von  den  hindern  des  Bragi  und  der  löunn  ist,  wie  Mogk  ein- 
wendet, sonst  nichts  bekannt.  Ist  es  denn  eine  kühne  an- 
nähme, dass  der  dichter  der  Lokasenna,  wenn  er  Bragi  als 
den  gemahl  der  l(5unn  kannte,  sich  die  Voraussetzung  erlaubte, 
dass  diese  Verbindung  nicht  unfruchtbar  war? 

Schwieriger  ist  der  ausdruck  ok  nlh-a  öskmaga^  und  ich 
vermag  denselben  nicht  sicher  zu  erklären,  öskmogr  bedeutet 
'adoptivsohn'  (erkorener  söhn);  vgl.  gerpe  ser  at  oscmege 
Elue.  Annaler  f.  nord.  Oldk.  1858  s.  79,  wie  gjöra  scr  hann  at 
öskasyni  Fas.  II,  242.  Am  ehesten  sind  allra  öskmaga  als 
'aller  adoptivsöhne'  Bragis  zu  verstehen.  Sind  die  mensch- 
lichen dichter,  welche  nach  dem  tode  in  Valholl  wohnten,  die 
adoptivsöhne  Bragis?  Nach  dieser  erklärung  bezeichnet  s'ifjar 
in  dem  ausdrucke  sifjar  öskmaga  ein  von  der  blutverwantschaft 
verschiedenes,  jedoch  analoges,  inniges  Verhältnis,  das  heilige 
pflichten  auferlegt;  vgl.  das  christliche  giSsi/jar.  Sveinbjürn 
Egilsson  versteht  dagegen  öskmaga  hier  absolut  von  den  ein- 
herjar,  die  öskasynlr  Valfotirs  waren  (SnE.  I,  84  =  II,  265), 
wie  öskmcer  Oddr.  16  valkyrja  bezeichnet. 

Nach  Lokas.  15  behandelt  Mogk  Lokas.  13,  worin  Loki 
dem  Bragi  feigheit  vorwirft;  'von  allen  die  hier  sind',  sagt 
Loki,  'scheust  du  am  meisten  kämpf  und  geschoss'.  Mogk 
bemerkt:  'Das  ist  nun  wider  ein  Vorwurf,  der  doch  keiner 
gottheit  gemacht  werden  konnte;  das  kann  nur  auf  rein 
menschliche  Verhältnisse  gehen'.  Wie  kann  Loki  denn  den 
göttinnen  hurerei  vorwerfen?  Oder  einem  gotte,  dass  dieser 
hahnrei  geworden  sei  ohne  dafür  busse  zu  erhalten?  Geht  dies 
vielleicht  weniger  auf  rein  menschliche  Verhältnisse?  Oder 
wie  kann  Loki  gar  einem  gotte  vorwerfen,  dass  er  riesentöch- 
tern  als  hiandirog  gedient  habe?  Ist  dies  etwa  leichter  als 
feigheit  mit  der  göttlichen  würde  vereinbar?  Mogk  meint, 
dass  Loki  dem  Bragi  feigheit  vorwirft,  weil  es  dem  dichter 
der  Lokasenna  vorschwebte,  dass  Bragi  Boddason  durch  eine 
dräpa  sein  leben  befreit  hatte.  Wird  jemand  dies  wahrschein- 
lich finden?  Ich  fasse  die  sache  vielmehr  so  auf.  In  den 
Umgebungen  des  Verfassers  der  Lokasenna  kannte  man  den 
Bragi  als  dichtergott:  dagegen  wusste  man  von  Bragi  keine 
heldentat,    keine  teilnähme  an  kriegen  zu  erzählen;    sein  mut. 


192  BUGGE 

seine  tapferkeit  wurde  in  dem  gJittermythus  nicht  hervor- 
gehoben. Anders  verhielt  es  sich  mit  OÖinn,  T}r,  Freyr  u.  m. 
Hierdurch  ist  es  motiviert,  dass  der  dichter  der  Lokasenna 
den  Loki  dem  Bragi  vor  allen  andern  göttern  feigheit  vor- 
werfen lässt. 

In  der  folgenden  strophe  nennt  Loki  den  Bragi  hekk- 
skrautobr.  Mogk  erklärt  dies  'der  die  bank  schmückt,  säubert': 
'Loki  nennt  also  Bragi  einen  diener';  'es  war  seine  pflicht, 
dafür  zu  sorgen,  dass  die  bänke  zum  empfang  [der  gaste]  be- 
reit waren'.  Das  wäre  eine  sonderbare  Verherrlichung  eines 
'dichterheros',  dass  man  ihn  zu  einem  diener  der  götter  machte, 
welcher  für  die  Säuberung  der  bänke  zu  sorgen  hätte.  Wollte 
man  einen  irdischen  dichter  dadurch  verherrlichen,  dass  man 
ihn  unter  die  götter  versetzte,  musste  man  ihn  natürlich  viel- 
mehr als  dichter  die  götter  oder  die  einherjar  erheitern  oder 
begeistern  lassen. 

Gewöhnlich  versteht  man  lekkskrautotir  als  'zier  der  bank', 
'der  der  bank  zur  zierde  gereicht'.  Nach  der  Wortbildung  be- 
zeichnet das  wort  eigentlich  den  'der  die  bank  schmückt'; 
wodurch?  ist  in  dem  worte  selbst  nicht  ausgedrückt.  Allein 
die  Wortbildung  kann  die  deutung  'der  durch  seine  person  die 
bank  schmückt'  natürlich  nicht  hindern,  wenn  der  Zusammen- 
hang darauf  führt.  Mogk  bemerkt:  'Ein  solches  lob  [schmuck, 
zierde  der  bank]  passt  doch  wahrhaftig  schlecht  in  den  mund 
des  aufgebrachten  Loki,  selbst  wenn  es  auch  nur  ironisch  ge- 
braucht wäre'.  Dies  leugne  ich  entschieden.  Sonst  wird  eine 
braut,  ein  weib  als  'schmuck  der  bank'  oder  'schmuck  des 
Saales'  gepriesen.  In  Landn.  III,  1  (Isl.  s.  I,  172)  wird  ein 
weib  Porhjorg  hekkjarhöt  erwähnt.  In  einem  norwegischen 
rätselliede  wird  gefragt:  Hot  w  de  som  pnjr  i  salar?  'Was 
ist  es,  das  in  sälen  schmückt?'  und  die  antwort  lautet:  hruri 
(c  de  som'  pryr  i  salar  'die  braut  schmückt  in  sälen',  siehe 
Landstad,  Norske  Folkeviser  s.  370  f.  (jedermann  versteht, 
dass  sie  durch  ihre  eigene  person  schmückt,  obgleich  dies 
sprachlich  nicht  ausgedrückt  ist),  skraut  bezieht  sich  besonders 
auf  prächtige  kleider,  und  skraut o<^r  kann  nicht  den  'der  säu- 
bert' bezeichnen,  wie  es  Mogk  neben  'der  schmückt'  übersetzt. 
Bragi  hat  dem  Loki  gesagt:  'War  ich  draussen  mit  dir  zu- 
sammen,   würde   ich   deinen    köpf  abhauen'.    Loki  antwortet:» 


DER  GOTT  BRAGI.  193 

'Du  bist  tapfer,  da  du  in  dem  (fiiedheiligeu)  saale  sitzest 
{snjallr  est  i  sesse),  allein  du  kämpfest  nicht,  Brage  hekk- 
skrautot>r  'du  baukschmücker'  d.  h.  der  du  prächtig-  gekleidet 
wie  ein  vveib  immer  auf  ]der  bank  sitzest.  Dies  passt  nach 
meiner  ansieht  trefflich  in  den  mund  des  mehr  boshaften  als 
aufgebrachten  Loki. 

Bei  den  gelagen  der  alten  sassen  die  vornehmeren,  wie 
man  weiss,  injiar,  die  weniger  vornehmen  ülar.  Wie  kann  es 
denn  sein,  dass  Bragi,  wenn  er  ein  dieuer  ist,  der  für  die 
Säuberung  der  bänke  zu  sorgen  hat,  in  der  Versammlung  der 
götter  innar  sitr  (Lok.  11)?  Mogk  erklärt  uns  dies  nicht. 
Nach  Mogk  fasst  der  dichter  der  Lokasenna  den  Bragi  als 
'einen  zu  den  göttern  versetzten  dichterheros'  auf.  Davon  ist 
in  dem  gedieh te,  wie  ich  gezeigt  habe,  nicht  eine  spur.  Da- 
gegen drückt  es  der  dichter  durch  das  kleine,  von  Mogk  nicht 
erwähnte  wort  äss  (öss)  deutlich  aus,  dass  er  Bragi  als  einen 
gott  auf  fasst;  Lok.  11:  sd  einn  äss,  es  innai^  sitr,  Drage,  hekkjom 
ä,   vgl.  19:  ceser  tveii\ 

Ich  gehe  zu  den  Grimnismäl  44  über.  Hier  wird  von 
Bragi  gesagt,  dass  er  ezir  skalda  d.  h.  der  trefflichste  der 
skalden  sei.  Hier  argumentiert  Mogk  so:  in  derselben  strophc 
ist  es  u.  a.  gesagt,  dass  OÖinn  der  trefflichste  der  äsen  sei. 
Wie  nun  OÖinn  ein  äss  ist,  muss  Bragi,  der  hier  als  der  treff- 
lichste der  skalden  bezeichnet  ist,  selbst  ein  skalde  sein.  Folg- 
lich kann  er  nicht  der  gott  der  skalden  sein. 

Diese  folgerung  ist  sonderbar.  Ist  denn  Apollo,  der  gott 
der  Sänger,  nicht  selbst  ein  sänger?  Dagegen  beweist  Grim. 
44,  dass  Bragi,  der  hier  unter  lauter  mythischen  dingen  ge- 
nannt, nach  der  auffassung  des  dichters  dieser  Strophe  ein 
skalde  der  mythischen  weit  war,  wie  dies  auch  Mogk  ein- 
räumt. Sogar  die  götterweit  hatte  also,  nach  der  Vorstellung 
des  dichters,  keinen  anderen  skalden,  der  ein  so  trefl lieber 
skalde  war  wie  Bragi. 

Mogk  bemerkt  ferner:  'Wenn  schliesslich  in  dem  runen- 
liede  der  Sigrdrifa  (Sigrdrifum.  16)  gesagt  wird,  dass  runen 
eingegraben  seien  auf  der  zunge  Bragis,  so  liegt  darin  doch 
nur,  dass  sich  Bragi  durch  liederweisheit  ausgezeichnet  habe 
....  Dann  aber  ist  eher  der  dichter  als  der  gott  darunter  zu 
verstehen.'     Hier    begegnen    wir    wider    der    sonderbaren    vor- 

Beiträge  zur  scsoliiclite  der  doutaolicn  siiraclic.     Xlli.  |3 


194  BUGGE 

Stellung,  dass  der  gott  der  dichter  selbst  nicht  dichter  sein 
könne.  Neben  Brage  sind  Sigrdr.  15 — 17  namen  der  götter- 
weit genannt:  Ärvakr,  Alsvibr,  Rogner,  Sleipner,  Gungner;  nur 
Gra7ie  ist  ein  name  der  heroischen  sage.  Sigrdr,  16  {ä  Braga 
tungo)  beweist  also  nicht  allein,  dass  Bragi  nach  der  Vor- 
stellung des  Verfassers  der  trefflichste  dichter  war,  sondern  be- 
weist zugleich,  dass  Bragi  nach  der  Vorstellung  des  Ver- 
fassers der  mythischen  weit  (wahrscheinlich  der  götterweit) 
angehörte. 

Hiernach  wende  ich  mich  zu  den  Eirlksmal.  Auch  hier 
wird  Bragi  nach  Mogk  als  derjenige  bezeichnet,  der  die  pflicht 
hat  dafür  zu  sorgen,  dass  die  bänke  in  Valholl  zum  empfang 
der  gaste  bereit  sind.  Diese  auffassung,  welche  ich  im  vor- 
hergehenden charakterisiert  habe,  soll  bei  den  Eirlksmal  'not- 
wendig' sein,  weil  sich  OÖinn  an  Bragi  mit  der  frage  wendet, 
warum  es  dröhnt,  als  ob  tausend  menschen  kommen.  Es 
scheint  mir  unnötig,  die  nichtigkeit  dieser  begriindung  nachzu- 
weisen. Wenn  Mogk  sagt,  'auch  Bragi  konnte  [wie  Sigmund 
und  Sinfjötli]  nur  als  heimgegangener  mensch  vom  dichter  auf- 
gefasst  sein',  hat  er,  so  weit  ich  sehe,  keinen  einzigen  grund 
für  diese,  wie  mir  scheint,  grundlose  behauptung  angeführt. 

Nach  Vigfusson  (Corp.  I,  260)  wendet  sich  OÖinn  in  den 
Eiriksmäl  gar  nicht  an  Bragi;  im  Corp.  ist  vielmehr  ge- 
schrieben; 

Bragi  Hvat  l^rym  es  l?ar,      sem  jjüsund  bifisk  — ? 

q.  [d.  h.  kvaÖ] 

'Bragi  Woden's  Counsellor  now  wakes  .  .  .  and  calls  out:  What 
is  that  thunderiug  — ?'  Diese  ansprechende  auffassung  ist 
mir  der  folgenden  gründe  wegen  wenig  sicher:  1.  Die  hand- 
schriftliche Überlieferung  (z.  b.  in  cod.  AM.  301,  4to)  ist:  Hvat 
prymr  par  Brage.  2.  Brage  gehört  mit  zum  versa  und  bildet 
mit  hifisk  alliteration.  Freilich  gehört  Häkonarm.  16  kvah 
Brage  mit  zum  verse,  allein  in  den  Eiriksm.  hätte  dies  keine 
analogie. 

Aus  den  Eiriksmäl  ist  nur  dies  zu  folgern:  Bragi  war 
nach  der  Vorstellung  des  dichters  ein  weiser  {enn  horske  Brage! 
pött  vel  hvat  viler)  bevvohner  der  Valholl,  wo  er  neben  OÖinn 
seinen  räum  hatte.  In  den  Hnkonarmäl  tritt  Bragi,  wie  Mogk 
selbst  einräumt,  deutlich  als  ein  in  Valholl  wohnender  gott  auf. 


DER  GOTT  BRAGI.  195 

Ich  führe  wider  die  worte  Mogks  an:  'Unter  den  dich- 
tungen  der  skalden  sind  zwei  stellen  bei  Egil  für  die  ge- 
schichte  des  Bragimythos  von  bedeutiiug;  in  beiden  steht  ßragi 
offenbar  für  6|?in.  Die  erste  (Hofu|?Iausn  v.  21,  Egilss.  s.  151) 
spielt  an  auf  den  mythos  von  0)^in  und  Mimir,  die  andere 
(Sonatorrek  v.  3,  Egs.  s.  197)  auf  die  erlangung  des  dichter- 
metes.  Was  Brynjülfsson  aus  der  letzten  stelle  herauslesen 
will  (Antiq.  Tidskr.  1855/57  s.  148  ff.),  vermag  ich  nicht  zu 
unterschreiben;  die  worte  können  nichts  anderes  bedeuten,  als 
was  die  übrigen  Interpreten  in  ihnen  finden.' 

Nach  den  werten  Mogks  sollte  man  glauben,  dass  die 
Interpreten  mit  ausnähme  ßrynjulfssons  unter  sich  über  die 
letzte  stelle  einig  wären.  Allein  bei  Sveinbjörn  Egilsson  Lex. 
poet.  unter  nökkvers  werden  mindestens  fünf  verschiedene  Inter- 
pretationen mitgeteilt.  Vigfusson  (Corp.  I,  277.  545.  549),  der 
die  worte  für  gänzlich  corrupt  hält,  deutet  noch  andere  auf- 
fassungen  an.  Mogk  sagt  auf  einer  und  derselben  seite,  dass 
Bragi  hier  'offenbar  für  0}?in'  stehe,  und  dass  'die  worte  . .  . 
nichts  anderes  bedeuten  [können]  als  was  die  .  . .  Interpreten 
[mit  ausnähme  BrynjulfssonsJ  in  ihnen  finden'.  Allein  nirgends 
ausser  bei  Mogk  finde  ich  die  auffassung,  dass  Bragi  hier  für 
ÖÖinn  stehe!  Auch  nicht  in  der  Reykjavikausgabe  der  Egils 
saga,  welche  Mogk  citiert!  Dieser  Widerspruch  lässt,  soweit 
ich  sehe,  nur  eine  erklärung  zu,  nämlich  die,  dass  Mogk  sich 
mit  dieser  schwierigen  stelle,  wie  mit  anderen,  'schnell  ab- 
gefunden' und  hier  keine  Interpretation  in  bezug  auf  die  ein- 
zelnen worte  des  gedichts  gründlich  durchdacht  hat.  Der 
dichter  sagt  im  anfang  seines  gedichts:  es  ist  mir  jetzt,  da  ich 
kummervoll  bin,  schwer  zu  dichten. 

2,  Esat  auöl^eystr      (Jjviat  ekke  veldr 
hofoglegr)      ör  hyggjosta^' 
t'aguafuudr      Friggjar  ui^ja 
cirborenn      or  Jotonheimom. 

3.  Lastalauss      es  lifuaöe 

a  'nockvers'      nokkva  Brage'). 
Jotons  hals      under  I^Jöta 
naongs  niör      fyr  naustduroiu. 


')  Braga   bei   Mogk  s.  3!)n  anm.   ist   wol   schreil)fehler  oder  druck- 
fehler. 

13* 


196  BUGGE 

Ich  habe  die  folg-enden  von  anderen  vorg-eschlagenen  än- 
deiuugen  aufgenommen.  2,  1  auöpcystr  statt  a7id  peist.  2,  5. 
Die  Überlieferung  gibt  nach  Vigfusson  fagna  fundr,  nach  an- 
deren pagna  fundr.  2,  0.  FrUjgjar,  änderung  von  Vigf.  statt 
prkjg'ia.  3,  6."  pjöla]  überliefert  flola.  3,  7.  näongs  {noongs)\ 
überliefert  nains. 

Die  stelle  scheint  nicht  klar;  jedoch  scheint  so  viel  klar,  dass 
Bragi  hier  nicht  für  OÖinn  steht.  3,5 — 8  gehören  nach  meiner 
auffassung  nicht,  wie  Brynjulfsson  annimmt,  mit  zum  mythus 
vom  dichtermete.  Ich  verstehe  diese  zeilen  mit  anderen  viel- 
mehr so:  'das  meer  braust  vor  dem  grabhügel  meines  vaters 
(worin  die  leiche  meines  sohnes  gelegt  ist)'.  Von  den  einzel- 
nen w^orten  der  vorausgehenden  zeilen  ist  das  schwierigste 
nockvers.  Die  deutung  'des  zwerges',  welche  auch  Brynjulfsson 
annimmt,  hat  keine  sprachliche  stütze.  Ich  vermute  notlvers, 
d.  h.  notl-vers. 

Ein  analoger  ausdruck  ist  Arinbj.  dr.  22:  6r  legvers  Igngom 
knerre  d.  h.  aus  dem  hause  oder  der  halle  (wo  jemand  nachts 
gelegen  hat).  Korm.  str.  60  wird  das  bett  hyrketels  stafna 
gnot5  (von  gnot)  schiff)  genannt.  Wegen  der  präpos.  ü  (nicht  /) 
deute  ich  ä  nällvers  nokkva  als  'in  dem  bette'  oder,  wie  man 
früher  im  deutschen  sagte  'an  dem  bette',  nicht  als  'in  dem 
hause'.  Allein  von  der  deutung  dieses  ausdrucks  ist  die  auf- 
fassung der  ganzen  stelle  nicht  abhängig.  Der  dichterraet 
wird  von  Egil  so  bezeichnet:  'der  mit  freude  begrüsste  fund 
der  äsen,  welcher  in  uralter  zeit  aus  der  riesenweit  getragen 
wurde,  als  der  fehllose  Bragi  im  bette  lebendig  w^urde'.  Auch 
Strophe  19  fängt  mit  einem  abhängigen  satze  an,  der  zu  einem 
hauptsatze  der  vorausgehenden  Strophe  gehört,  lifna  ist  hier 
wie  in  afkvamii  pal  er  af  okkr  lifnnr  angewendet.  Die  er- 
zeugung  Bragis  ist  also  hier  mit  der  erlangung  des  dichter- 
metes  in  Verbindung  gesetzt.  Dies  lässt  sich,  soweit  ich  sehe 
nicht  anders  verstehen,  als  wie  es  Brynjulfsson  verstanden 
hat:  Der  dichtergott  Bragi  ist  der  söhn  OÖins  mit 
Gunnlo?),  die  den  dichtermet  hütete;  bei  ihr  ruhte  0(5inn, 
als  er  den  met  erlangte.  Mogk  sagt  dagegen  s.  386:  'um 
1200,  also  in  rein  christlicher  zeit,  [wurde]  von  den  skalden 
Bragi  als  söhn  Öj^ins  aufgefasst  .  . .,  ein  früherer  termiu  lässt 
sich  weder  finden  noch  er.schlicssen. 


I 


DER  GOTT  BRAGI.  197 

Die  Schlussstrophe  der  HofuÖlausu  fängt  so  au: 

Njöte  bauga 
Sern  Brage  auga! 

'Der  König  möge  sieh  seiner  schätze  erfreuen,  wie  Bragi  seines 
auges'.  'Der  könig  möge  glücklich  und  freudig  seine  schätze 
besitzen  wie  Bragi  sein  äuge'.  Man  nimmt  gewöhnlich  an, 
dass  Bragi  hier  für  OÖinn  stehe,  da  dieser  einäugig  war,  weil 
er  das  andere  äuge  dem  Mimir  verpfändet  hatte.  Mogk  er- 
klärt (s.  391)  diese  Substitution  so:  'der  dichter  muss  Bragi  für 
einen  namen  0]nns  .  .  .  angesehen  haben  . . .  0}>in  sowol  als 
Bragi  waren  Egil  als  höhere  wesen  der  dichtkunst  bekannt; 
von  letzterem  wusste  er  nicht  mehr,  als  den  blossen  namen, 
kein  landläufiger  niythos  .  .  .  existierte  von  ihm;  was  wunder, 
wenn  er  in  diesem  falle  in  dem  namen  des  gottes  Bragi  nur 
einen  andern  namen  für  0|>in  fand,  und  auf  diesen  übertrug 
was  dem  OJ^in  gehörte?' 

Dies  Hesse  sich  hören,  wenn  Sonatorr.  3  nicht  wäre.  Denn 
hier  steht,  selbst  wenn  meine  deutung  nicht  die  richtige  sein 
sollte,  Bragi  kaum  für  Obinn;  hier  zeigt  Egill,  dass  er,  wie 
alle  anderen  dichter,  die  den  Bragi  nennen,  diesen  als  einen 
von  0(5inn  verschiedenen  gott  betrachtet  und  dass  er  von 
ihm  einen  besonderen  mythus  kennt.  Dies  macht  die  auf- 
fassung  Mogks  in  HofuÖl,  21  unstatthaft.  Allein  auch  ich 
finde  es  kaum  denkbar,  dass  hier  der  eine  gott  schlechthin  für 
den  andern  gesetzt  sei,  und  die  änderung  Brunn  für  Bragi  be- 
friedigt nicht. 

'Der  könig  möge  sich  des  besitzes  seiner  schätze  erfreuen 
wie  Bragi  des  besitzes  seines  auges.'  Ich  vermag  den  siun 
dieser  werte  nicht  zu  bestimmen.  Die  deutung,  welche  ich  im 
folgenden  gebe,  scheint  mir  selbst  bedenklich,  und  ich  möchte 
dieselbe  gern  durch  eine  mehr  einleuchtende  ersetzt  sehen. 
Vielleicht  ist  in  den  angeführten  werten  ein  gegensatz,  worin 
der  dichtergott  zu  OÖiun  steht,  angedeutet.  Der  dichtergott 
Bragi,  der  söhn  Oc^ins  und  der  GuuuloÖ,  besitzt  als  der,  wel- 
cher von  äsen  und  von  riesen  zugleich  stammt,  liederweisheit 
auch  über  die  urweltlichen  dinge,  welche  nur  die  riesen 
kennen;  er  hat  darum  nicht  wie  OÖinn  sein  augc  einem  riesen 
verpfänden  müssen:  Brage  nijtr  auga  'Bragi  ist  glücklich  im 
besitz   seines   auges'.     Allein    der    ausdruck   ist   so   kurz    und 


198  BUGGE 

unbestimmt,  dass  diese  deutung  eine  unsichere  bypothese  blei- 
ben muss.') 

Fassen  wir  das  wichtigste  von  dem,  was  uns  die  norrö- 
neu  gedichte  über  Bragi  lehren,  hier  zusammen: 

1.  Nirgends  findet  sich  weder  in  der  Lokasenna  noch 
sonst  in  norrönen  gedichteu  die  geringste  spur  davon,  dass 
der  norwegische  dichter  Bragi  Boddason  unter  die  götter 
versetzt  sei  und  dass  der  dichtergott  Bragi  mit  ihm  iden- 
tisch sei. 

2.  Der  Verfasser  der  Lokasenna  stellt  sich  Bragi  als  einen 
gott  {(iss)  vor.  Als  solcher  tritt  er  auch  in  den  Häkonarmäl 
auf.  In  den  andern  gcdichten,  in  welchen  der  mythische 
Bragi  genannt  ist,  spricht  alles  für,  nichts  gegen  dieselbe  Vor- 
stellung. 

3.  In  dem  gedichte  Sonatorrek,  das  von  Egill  Skalla- 
grlmsson  um  975  gedichtet  ist,  wird  Bragi  als  der  söhn  OÖins 
und  der  hier  nicht  genannten  GunnloÖ  bezeichnet;  OÖinn  er- 
zeugte ihn,  als  er  den  dichtermet  in  der  riesenweit  erlaugte. 

4.  Bragi  wird  in  der  Lokasenna  als  der  gemahl  der 
I(5unn  bezeichnet. 

5.  In  der  Lokasenna  werden  dem  Bragi  viele  adoptiv- 
sölme  beigelegt;  diese  waren  wahrscheinlich  die  menschlichen 
dichter,  welche  nach  dem  tode  in  ValhoU  wohnten. 

6.  Bragi  ist  in  ValhoU  dem  OÖlnn  untergeordnet,  wie 
dies  aus  den  Eiriksm.  und  den  Häkouarm.  hervorgeht.     Nach 


1)  Da  die  HntuÖlausn  nach  der  auffordening  Arinbjnrn's  sjedichtet 
wurde  und  da  dieser  den  Egill  darauf  hinwies,  dass  Bragi  Boddason 
sein  leben  durch  eine  drapa  rettete  (Egils  s.  kap.  63  Reyk  ausg.  s.  146), 
habe  ich  die  möglichkeit  erwogen,  ob  Brage  in  HofuÖl.  21  Bragi  Bod- 
dason sein  kann.  Der  ausdruck  'wie  Bragi  sich  seines  auges  erfreute' 
müsste  in  diesem  falle  bedeuten  'wie  Bragi  Boddason  dadurch  glück- 
lich war,  dass  er  sein  äuge  d.  h.  sein  leben  behielt'.  Vgl.  kap.  64 
(s.  152),  wo  es  heisst,  dass  könig  Eirikr:  svarthrimom  let  sjönom  .... 
Egel  fagna  'er  Hess  Egill  sich  der  schwarzbraunen  äugen  erfreuen'  d.  h. 
er  Hess  Egill  das  leben  behalten.  Allein  gegen  diese  deutung,  welche 
mir  ganz  unwahrscheinlich  vorkommt,  spricht  erstens  die  singularform 
auga\  zweitens  der  umstand,  dass  sein  Brage  auga  dann  mit  den  fol- 
genden ausdrücken  nicht  analog  wäre:  vagna  väru  eSa  vite  tarn  (so 
Wisen  für  vaara  .  .  .  laai-a)  'wie  der  delphin  sich  des  meeres  oder  der 
rabe  sich  des  kampfes  erfreut'.  Denn  diese  ausdrücke  bezeichnen  Ver- 
hältnisse, die  immer  fest  und  iiaturnotwendig  gewesen  sind. 


DER  GOTT  BRAGI.  199 

den  Eiiiksm.  hat  er  seinen  räum  neben  OÖinn,  der  mit  ihm 
ein  gespräch  hält.  Nach  den  Huiionarm.  wird  Bragi  mit  Her- 
moÖr  von  OÖinn  beauftragt  dem  kommenden  könige  entgegen 
zu  gehen;  Bragi  ist  dabei  der  Wortführer  und  ladet  Häkon 
ein.  In  der  Lokasenna  redet  Bragi  zuerst  den  eintretenden 
Loki  an;  jener  gott  sitzt  hier  in  der  Versammlung  der  götter 
prächtig  gekleidet  auf  einem  ansehnlichen  platz.  Der  dichter 
der  str.  44  der  Grimnismäl  und  der  dichter  des  runenab- 
schnittes  der  Sigrdrifumiil  kenneu  Bragi,  den  bewoliner  der 
götterweit,  als  den  trefflichsten  aller  skalden;  auch  der  dichter 
der  Eiriksmül  stellt  sich  ihn  als  weise  und  vielwissend  vor, 
wenn  er  auch  in  betreö'  hierauf  dem  OÖinn  nachsteht. 

7.  Der  dichter  der  Lokasenna  hatte  keinen  mythus  er- 
zählen hören,  worin  der  dichtergott  als  kämpfer  auftrat,  und 
Hess  darum  den  Loki  dem  Bragi  feigheit  vorwerfen. 

8.  Im  gedichte  Sonatorrek  steht  der  name  Bragi  nicht 
für  OÖinn,  wahrscheinlich  auch  nicht  in  HofuÖlausn. 

9.  Es  hat  sich  uns  ergeben,  dass  das  meiste  und  wich- 
tigste von  dem,  was  Snorri  über  den  dichtergott  Bragi  mit- 
teilt, durch  heidnische  verse  bestätigt  wird. 

Eine  Untersuchung  über  den  Bragi-mythus  kann  von  dem 
appellativum  hragr  masc,  gedieht,  dichtkunst  nicht  absehen. 
Mogk  weist  auf  seine  behandlung  dieses  Wortes  im  Lit.  centralbl. 
1886  nr.  22  hin,  damit  wir  lernen,  'welche  bewantnis  es  mit 
diesem  worte  hat'.  Im  kreise  der  skalden  erhielt  nach  Mogk 
in  folge  der  stammesverwantschaft  mit  dem  namen  des  Bragi 
'das  subst.  hi-agr,  das  ursprünglich  nur  princeps  bedeutet,  die 
bedeutung  dichtkunst,  die  nie  volkstümlich  geworden  ist'. 

Ich  vermisse  analogien  dafür,  dass  die  bedeutung  'dicht- 
kunst' aus  der  personenbezeichnung  hragr  'princeps'  'der  treff- 
lichste mensch'  durch  den  eiufluss  des  personennamens  Bragi 
entwickelt  wäre.  Eine  solche  bedeutungsentwickelung  scheint 
mir  sonderbar,  bragr  bedeutete  'ursprünglich'  (d.  h.  in  der 
altnorwegischen  volkstümlichen  spräche)  nicht  nur,  wie  Mogk 
meint,  'der  trefflichste'  sondern  auch  'ratio  agendi',  'art  des 
betragens',  'manier'.  In  dieser  bedeutung  ist  es  mit  bragti 
synonym;  auch  etymologisch  ist  bragr  gewiss  mit  hragti  ver- 
want.  In  der  bedeutung  'ratio  agendi'  erscheint  hragr  im 
Sendibitr  der  Jürunn  skaldma;r  (Heimskr.  Har.  s,  h;'uf.  kap.  39, 


200  BUGGE 

Fnis.  IV,  12,  Corp.  II,  322):  en  logbes  sfjnesk  svarlle'är  reijne 
sjä  hragr.  Dass  diese  bedeutung  volkstümlich  war,  wird  durch 
die  anwenduug  des  wortes  in  der  neiiisl.  und  neunorweg.  Volks- 
sprache bewiesen.  Im  neuisl.  wird  hragur  'habit  of  life'  in 
vielen  Verbindungen  angewendet,  z.  b.  sveitar  hragur  'country 
life',  hönda  hragur  'yeonian  life',  siehe  Vigfusson  Üict.  In 
mehreren  inneren  landschaften  und  küstengegenden  des  südwest- 
lichen Norwegens  bedeutet  hrag  masc.  'art  des  betragens,  be- 
schaffeuheit'  (skik,  forfatning).  Wie  nun  hättr  'art  und  weise', 
'art  der  einrichtung',  'bescbaffenheit'  die  specielle  bedeutung 
'versart',  'metrum'  annimmt,  so  hat  sich  aus  hragr  'ratio 
agendi'  das  speciellere  hragr  'dichtkunst'  entwickelt.  Die 
gruppierung  der  bedeutungen  bei  Egilsson  und  Vigfusson 
deutet  es  an,  dass  diese  die  sache  ebenso  aufgefasst  haben. 
hragr  'dichtkunst,  gedieht'  erscheint  auch  in  gedichten,  die  in 
einfachen  versmassen  und  in  einfachem  stil  abgefasst  sind 
(Hyndl.  5;  Merl.  11,21);  das  compositum  hragarlaun  ist  in  der 
prosaischen  sagasprache  gewöhnlich.  Im  neuisl.  bezeichnet 
hragur  namentlich  'melody  or  metre'  (Vigf). 

Der  uame  des  dichtergottes  Bragi  kann  von  hragr  'dicht- 
kunst, gedieht'  nicht  getrennt  werden.  Da  nun  hragr  'dicht- 
kunst, gedieht'  nicht  vom  namen  des  norwegischen  dichters 
Bragi  Boddason  gebildet  ist,  kann  Bragi  als  name  des  dichter- 
gottes, wie  es  scheint,  auch  nicht  vom  namen  des  Bragi 
Boddason  stammen.  Dagegen  scheint  Bragi  als  name  des 
dichtergottes  eine  ableitung  von  hragr  'dichtkunst,  gedieht'  zu 
sein;  wenigstens  muss  dies  appellativum  bei  der  bildung  des 
namens  des  dichtergottes  mitgewirkt  haben.i) 


1)  Galfrid  von  Monmouth  III,  19  nennt  vor  der  zeit  Julius  Caesars 
einen  britischen  künig  Blcgahred  {Blegijwryd  Brut.  Tys.,  Blagabred 
Henry  of  Hunt.):  'Hie  omnes  cantores  quos  praBcedens  setas  habuerat  et 
in  modulis  et  in  omnibus  musicis  instrumentis  excedebat,  ita  ut  deus 
joculatorum  diceretur'.  Dies  scheint  eine  erfindung  Galfrids  oder 
aus  der  zeit  Galfrids  (dem  anfang  des  12.  Jahrhunderts).  Der  könig 
Howel  setzte  um  940  Blegywryd,  archdiacon  von  Llandaff,  einen  manu 
von  grüsster  gelehrsamkeit  und  gesetzkunde,  an  der  spitze  seiner  ge- 
setzgebungscommission;  vgl.  Walter,  Das  alte  Wales  s.  360  f.,  San-Marte, 
Ausg.  von  Galfrid  s.  250.  Wenn  dieser  Blegywryd  das  vorbild  der 
sagenfigur  Blegabrcd  deus  jocidalorum  ist,  kann  mit  diesem  letzteren 
der  altnorwegisch-isländische   dichtergott  Bragi  natürlich   nichts  zu  tun 


DER  GOTT  BRA.GI.  201 

Ich  bin  mit  Vigfusson  Corp.  II,  465  und  mit  Mogk  darin 
völlig  einverstanden,  dass  Bragi  weder  ein  altgermaniselier  noch 
ein  volkstümlicher  nordischer  dichtergott  war.  Er  ist  vielmehr 
von  norrönen  dichtem  der  vikingaold  zuerst  gebildet.  Jedoch 
habe  ich  in  diesem  aufsatze  nicht  eigentlich  den  Ursprung  des 
Bragi-mythus  behandeln  wollen,  denn  dieser  wird  am  besten 
in  Verbindung  mit  dem  Ursprung  der  lÖunn-mythus  behandelt. 
Zur  geschichte  der  lÖunn-mythus  werde  ich  vielleicht  später 
einen  beitrag  mitteilen. 

Auch  habe  ich  die  bemerkenswerte  hypothese,  wonach  der 
dichtergott  Bragi  seinem  Ursprung  nach  der  norwegische 
dichter  Bragi  Boddason  sein  soll,  hier  weder  entschieden  ab- 
weisen noch  von  allen  selten  prüfen  wollen.  Eine  solche 
prüfung  müsste  auf  die  dem  Bragi  Boddason  beigelegten  ge- 
dichte  eingehen.  Vorläufig  möge  das  folgende  als  eine  unbe- 
wiesene behauptung  hier  stehen:  Die  ansieht,  dass  die  dem 
Bragi  Boddason  beigelegten  verse  der  ersten  hälfte  des  9.  Jahr- 
hunderts angehören,  ist  mit  der  entwickelungsgeschichte  der 
norwegisch-isländischen  spräche,  poesie  und  mythologie  un- 
vereinbar.   Diese  verse  sind  vielmehr  in  dem  10.  jahrh.  verfasst. 


haben.  Man  möchte  jedoch  von  prof.  Khys  in  Oxford  oder  von  anderen 
celtologen  über  diesen  Blegabrcd  deus  jocidaloru?u  nähere  auskunft 
wünschen. 

CHRISTIANIA,  im  märz  1S87.  SOPHUS  BUGGE. 


ALTNORDISCH    V. 

Wilhelm  Braune  bat  in  diesen  Beiträgen  (XII,  216  ff.) 
gegen  meine  bedenken,  die  ersetzung  des  bisher  üblichen 
gotischen  V  durch  w  betreffend,  gute  gründe  ins  feld  geführt, 
deren  gewicht  ich  anerkenne.  Zu  einer  erwiderung*  würde 
somit  keine  veranlassung  vorgelegen  haben,  wenn  es  Braune 
nicht  gefallen  hätte,  mir  über  das  altnordische  v  eine  belehrung 
angedeihen  zu  lassen,  die  ich  als  zutreffend  nicht  bezeich- 
nen kann. 

Zwar  dass  die  altn.  spräche  das  urgermauische  u  schon 
früh  zum  Spiranten  umgewandelt  hat,  ist  mir  ebenso  gut  be- 
kannt wie  Braune  (und  es  hätte  einer  dabin  gehenden  be- 
lehrung nicht  bedurft),  was  ihm  aber  entgangen  zu  sein  scheint, 
ist  der  umstand,  dass  noch  in  literarischer  zeit  das  v  ganz 
sicher  halbvocal  war,  und  dass  es  daher  nicht  dem  tatbestande 
entspricht,  wenn  man  dem  iv  der  runeninschriften  gegenüber 
von  einem  'literaturnordischen'  v  redet.  Es  findet  sich  näm- 
lich in  den  Eddaliedern  eine  ganze  anzahl  von  stellen,  in 
denen  v  mit  vocal  alliteriert.  Schon  Jon  Olafsen  hat  in 
seinem  l)ckannten  buche  'Om  Nordens  gamle  Digtekonst'  (Kiübh. 
1786)  s,  30  auf  diese  tatsache  aufmerksam  gemacht,  ebenso 
yveinbjörn  Egilsson  (Lex.  poet.  839'^),  und  auch  Karl  Hilde- 
brand hat  gelegentlich  in  einer  anmerkung  (Zachers  zs.,  er- 
gänzungsband  s.  Iü9,  anm.  1)  mehrere  belege  zusammengestellt. 
Da  aber  noch  neuerdings  Erik  l^rate  (Fornnord.  metrik  §  21, 
anm.  1)  das  vorkommen  dieser  alliteration  in  der  norwegisch- 
isländischen poesie  schlankweg  leugnet,  so  scheint  es  nicht  un- 
nötig, auf  die  frage  noch  einmal  zurückzukommen. 

Die  beweisenden  stellen ')  sind  folgende: 


1)  Ich  eitlere  nach  Hildebrand,    gebe  aber  den  text  in  den    dem 
alter  der  lieder  entsprechenden  spracbformen. 


GERING,  ALTNORDISCH  F.  2U3 

1.  I^rymskvif^a  2S-'-^ 

Svaf  Yt«tr  Freyja      ätta  nüttoui.') 

2.  H(}vam9l  221  2 

Vesall  raa)?r  ok  illa  skape 
hl.tr  at  hvivetua. 

3.  Hövamöl  116' 

illan  manu  lättu  aldrege 
öliopp  at  l'er  yita.-) 

4.  H^vamol  1305  »^ 

varan  bi}?  ek  Y\k  veia      ok  eige  ofvaran. 

5.  Hövamöl  181- 

sa  einü  reit      es  vi):'a  latar. 
Der  uacbdruck  der  auf  einu  liegt,  lässt  nicht  daran  zweifeln, 
dass  das  wort  am  reime  teil  nimmt.     Ebenso  ist  es 

6.  Lokasenna  54^  ^ 

einn  ek  Yeit,       svät  vita  )>ykkjüiuk 
hör  ok  af  HlüiTi)^a. 

7.  Baldrs  draumar  (Vegtamskvi}>a)  13'  2 

estat  Vegtainr      sem  ek  hugj^a. 
Der    name,    auf    dem    der    nachdruck    liegt,    muss    un- 
bedingt  an    der   alliteration    teilnehmen;    vgl.   den  ganz  gleich 
gebauten  vers  13''- '': 

estat  volva  ne  vis  kona. 
Warum  Bugge   z.  st.  es  für  einen  'misslichen  ausweg'  er- 
klärt,  /■  in  J'efftamr  als  vocal  zu  lesen,    weiss  ich  nicht,  da  er 
doch    an    anderen    stellen    die    vocalische    Qualität    des    v    an- 
erkennt. 

8.  Fäfnesraöl  38^ 

]>i  mynde  fear  }^ess  es  Fafner  re)' 
einvalde  vesa. 

Man  kann  zweifeln,  ol)  das  v  in  -vahle  oder  das  in  vesa 
den  zweiten  reimstab  bildet;  dass  aber  ein-  das  erste  reimwort 
sein  muss,  ist  sicher. 


1)  Dazu  bemerkt  mir  B.  Symons,  dass  man  hiernach  notwendiger 
weise  auch  trk.  26^- "  vcelr  und  atta  als  rcimwürter  autfassen  müsse. 

-)  Bugge  z.  st.  zweifelt,  ob  öliopp  und  at  oder  uhopp  und  vila 
reimwörter  sind:  natürlich  ist  nur  das  letztere  möglich. 


204  GERING 

9.  Goprünarkvil^a  II,  19'  2 

Valdarr  Donom  mej'  laiizleite. 
Die  folgenden  drei  belege  sind  weniger  beweiskräftig: 

10.  Hovamol  120'^  6 

.vin  l^iDom      ves  )ni  aldrege. 
Man  könnte  hier  ves  für  den  zweiten  reimstab  halten;  mit 
riicksicht  auf  116*^  (s.  0.)  glaube  ich  aber,  dass  vin  und  aldrege 
alliterieren. 

11.  Helgakvip'a  Hundingsbana  1,5'^ 

andvanr  öto      ek  veit  nokkot. 
Hier   wäre   es   möglich,    dass   oto   und   ek  die  reimwörter 
sein  sollten  (also  im  zweiten  halbvers  typus  A,  nicht  typus  C). 

12.  Hc'irbar|>slju|?  133 

at  TJeta  ogor^)  minn. 

Ich  führe  diesen  vers  unter  den  zweifelhaften  auf,  weil 
die  Strophe,  der  er  angehört,  dem  Schema  des  gewöhnlichen 
lj6}>ahättr  sich  nicht  fügt  und  möglicherweise  z.  2  und  3 
metrisch  zusammengehören. 

Zu  einer  besonderen  kategorie  gehören  die  nun  folgenden 
stellen  (13—17): 

13.  Lokasenna  2^ 

mange^)  es  ]?er  i  ür)^e  vinr. 

14.  Lokasenna  10' 

Ristu  )?a,  Vi]'arr,      ok  lat  ulfs  fobor 
sitja  sumble  at. 

15.  Lokasenna  36^ 

vi|>  systor  l^inne      gaztu  slikau  luog 
ok  esa  j^ö  öuo  verr. 

IG.    Härbarl^sljöl^»  24^  fi 

0'}>cun  a  jarla      J'u'a  i  viil  falla. 
17.    Oddrünargrätr  lo^  1 

bana  baj?  bann  öskuiey  verj^a  skyklo. 
iMan    hat  die  beweiskraft  dieser  stellen  angezweifelt,    weil 


1)  Die  lichtige  deutung  dieses  Wortes  (membrum  virile)  dürfte  durch 
Hj.  Falk  (Arkiv  HI,  341)  gefunden  sein. 

2)  Dies  Wort  mit  Jessen  (Zachers  zs.  III,  27)  durch  enge  zu  ersetzen, 
liegt  gar  kein  grund  vor. 


ALTNORDISCH  V.  205 

möglicherweise  in  der  zeit,  der  die  betr.  lieder  angehören,  das 
anlautende  v  vor  o  und  u  noch  nicht  abgefallen  war.  Ich 
glaube  an  diese  möglichkeit  nicht,  will  sie  aber  einmal  gelten 
lassen  —  nur  um  zu  zeigen,  dass  sich  auch  unter  dieser  an- 
nähme, wenn  auch  auf  indirectem  wege,  mit  positiver  Sicher- 
heit der  beweis  dafür  erbringen  lässt,  dass  sowol  in  der  Loka- 
senna  wie  in  den  Härbar}>slj6)?  und  dem  Oddrünargrutr  das  v 
noch  halbvocal  gewesen  ist.  Denn  wenn  wir  das  anlautende 
V  nicht  bloss  in  den  oben  angeführten  stellen,  sondern  —  wie 
dies  doch  consequenter  weise  geschehen  muss  —  überall,  wo  es 
ehemals  vorhanden  war,  wider  einsetzen,  so  ergeben  sich  sofort 
neue  belege  für  die  alliteration  von  v  mit  vocal: 

Lokasenna  9^ 

luantu  \>a,t,  Yopenn,      es  vit.  i  jirdaga 
blendom  blöj^e  sainan. 

Lokasenna  16^ 

Bi)?  ek,  Brage,      bania  sifjar  duga 
ok  allra  vöskinaga. 

Lokasenna  22 1 

l'ege  jn'i,  Vol^enn,      ]ni  kiinncr  aldrege 
deila  vig  me]>  verom. 

Lokasenna  41 ' 

Ynlf  stik  liggja      ;ir6se  fyrer. 
Lokasenna  58^  ^ 

en  }?a  j'orer  j>i'i  etke      es  ]m  skalt  vi)'  viilf  um  vega. 
Härbarl^sljöp  93  i 

ok  til  alls  öj'les:      ek  eiu  Yoj'ena  sonr. 
Oddninargratr  H"  '« 

ok  |>at  vor]>a      alls  fyrst  of  kva)'. 
Oddiünargrätr  7^  *^ 

sviit,  hün  ctke  kva)'      vor)'  et  l'yrra. 
Oddrünargrätr  21''^ 

kvol'osk  okkr  hafa      vorj'et  baij'e. 
Oddrünargrutr  21 '  ^ 

ok  voj'Iega      Atla  sog)'o. 
Oddrünargrutr  2C)3-  4 

en  i  voruigar)'      anuan  log)»©. 


206  GERING 

Ocklrimargrätr  30 »  ^ 

opt  vundrumk  put      hvi  epter  mak. 

Wenn  wir  die  lieder  der  Edda  in  ihrer  ursprünglichsten 
gestalt  besässen,  so  würden  die  beispiele  sieher  noch  bei  w^ei- 
tem  zahlreicher  sein.  Denn  es  kann  keinem  zweifei  unter- 
liegen, dass  manche  verse,  in  denen  v  mit  vocal  alliterierte,  in 
späterer  zeit,  als  v  schon  spirant  geworden  war,  geändert  wor- 
den sind,  um  den  fehlenden  Stabreim  herzustellen.  Diese  er- 
kenntnis  ist  für  die  textkritik  von  bedeutuug,  da  die  ent- 
deckung  einer  neuen  fehlerquelle  zugleich  neue  mittel  an  die 
band  gibt,  verderbte  stellen  zu  heilen. 
Sklrnesmol  24^ 

vigs  ötraul^er  at  ykkr  vega  til>e 
ist  metrisch  unmöglich  (Sievers,  Beitr.  VI,  355),     Die  von  Nied- 
ner  (Zs.  fda.  XXX,  136)  versuchte  besserung: 

vigs  ötrauj?er  at  vegel» 
würde  zwar  die  metrische  Unebenheit  beseitigen,  trifft  aber 
doch  kaum  das  richtige,  da  sie  die  entsteh ung  der  corruptel 
nicht  erklärt.  Ich  vermute,  dass  die  worte  vigs  ötrauper  eine 
Interpolation  sind,  die  eben  deshalb  vorgenommen  wurde,  weil 
dem  verse  die  alliteration  zu  fehlen  schien.  Streicht  man  sie, 
so  erhält  man  (nach  der  durch  das  metrum  geforderten  Um- 
stellung der  beiden  letzten  worte)  einen  vollkommen  correcten 
vers  —  vorausgesetzt  dass  das  v,  als  die  Skirnesmol  entstan- 
den, als  halbvocal  noch  mit  vocal  alliterieren  konnte: 

at  ykkr  tif'e  vega. 
Eine  zweite  stelle,  die  vermutlich  hierher  gehört,  ist  Ham- 

]?esm()l  276 

verr  en  vil'friBge      hvottomk  at  diser. 

Die  alliteration  von  v  :  hv  kann  Bugge  (Aarb.  1869,  s.  256  f.) 
nur  durch  einen  zweifelhaften  beleg  aus  der  Hervararsaga  und 
durch  analoge  fälle  im  ags.  und  alts.  stützen.  Ich  glaube, 
dass  auch  hier  ein  änderer,  der  lieber  einen  unreinen  reim 
haben  wollte  als  gar  keinen,  seine  spur  zurückgelassen  hat. 
Wenn  wir  hvotlomk  in  ottomk  emendieren,  so  ist  alles  in  Ord- 
nung  (vgl.  Fäfnesmöl  284-5:    aße  mino  attak  vip  orms  megen). 

Drei    weitere    belege    verdanke    ich    gütigen    mitteilungen 


ALTNORDISCH  V.  207 

von  B.  SynioDP.  Grinmesmol  393  jgt  der  ausdriick  variia  vipar 
bisher  eine  crux  der  ausleger  gewesen.  Es  ist  aber,  im  hin- 
blick  auf  Volospö  41 2,  höchst  wahrscheinlich,  dass  varna 
durch  j'arn  oder  vielmehr  durch  die  ältere  form  isam  zu  er- 
setzen ist: 

SkoU  heiter  ulfr  es  fylgr  ena  skirlci)?a  gote 
til  isaniTi]?ar. 

Hovam()l  124^6  liest  Symons: 

j'rimr  orj^om  senna  skalat  vip»  verra  mann; 
die   handschr.   hat  skalattu  per,  was  als  eine  interpolation  an- 
zusehen  ist,    vorgenommen    um   einen   reimstab   auf  prhnr  zu 
gewinnen. 

Endlich  vermutet  Symons,  dass  Hyndloljoj?  11 «  und  16* 
yjßiga  und  Ynglingar  an  stelle  eines  ursprünglichen  Vglsunga 
bez.  Volsungar  getreten  sind;  es  wäre  also  an  den  beiden 
stellen  zu  lesen: 

hvat's  0)?]inga,  hvat's  Volsunga; 
)^a)?an  Öl^lingar,  )?aj?an  Volsungar. 

Der  beweis,  dass  mindestens  in  einem  teile  der  Eddalieder 
V  noch  nicht  als  Spirant  angesehen  werden  darf,  wäre  damit 
wol  erbracht,  und  da  unter  diesen  liedern  auch  der  Oddriinar- 
grätr  sich  befindet,  der  doch  sicherlich  der  jüngsten  schiebt 
der  Sammlung  angehört,  so  wird  die  behauptung  nicht  zu 
kühn  erscheinen,  dass  das  v  in  der  ganzen  Liederedda 
noch  als  halbvocal  zu  gelten  hat.  Wollte  man  das  princip 
der  streng-phonetischen  lautbezeichnung  durchführen,  so  müsste 
man  also  nicht  bloss  in  den  runeninschriften,  sondern  auch  in 
der  Edda  nicht  v,  sondern  w  schreiben  —  was  wir  aber 
schwerlich  tun  werden,  um  nicht  mit  dem  gebrauche  der  hand- 
schriften,  die  nur  in  seltenen  fällen  des  Zeichens  w  sich  be- 
dienen, in  Widerspruch  zu  kommen.  Ich  hatte  auf  diese  tat- 
sache  hingewiesen,  um  das  bisher  übliche  v  als  bezeichnung 
des  halbvocals  für  das  gotische  zu  verteidigen,  und  wenn 
Braune  darauf  hiu  geglaubt  hat,  mich  eines  'wunderlichen 
fehlschlusses'  zeihen  zu  dürfen,  so  wird  aus  den  vorstehenden 
erörterungen  sich  ergeben  haben,  dass  dieser  fehlschluss  kein 
fehlschluss  gewesen  ist. 

Dass    zur   zeit   der   älteren   skaldenpoesie   das  v  ebenfalls 


208  GERING 

uocb  halbvocal  gewesen  ist,  ist  selbstverständlich,  obwol  be- 
weisende Stabreime  äusserst  selten  sind.  Ich  habe  nur  drei 
belege  gefunden: 

Egill  Ökalbigrimsson,  Hofof-'lausn  5"-  ^  (um  975) 

Yollr  of  ]7rum}7e, 
en  und  of  glum]?e.') 

Steinarr   Onundarson,    in    der    Kormakssaga,    vlsa   38''- ^ 

(10.  jabrh.) 

vitta  fullan,      1'6'k  enn  life. 

Viglundr    Dorgrimsson,    in    der    Viglundarsaga^)    83 '^  -o 

(10.  Jahrb.) 

enn's  :i  or|>  at  minnask, 
Yesom  nu  hraiister,   Trauste!^) 

Gerade  bei  den  ältesten  skalden  (Brage,  Djoj^'olfr  or  Hvine, 
Dorbjoru  hornklofe,  Guthormr  sindre  u.  a.)  mangeln  belege 
gänzlich,  während  v  :  v  oder  voeal  :  vocal  bei  ihnen  sehr  häufig 
alliterieren.  Hieraus  einen  einwand  gegen  meine  ergebnisse 
herzuleiten,  wäre  natürlich  durchaus  verkehrt,  denn  auch  in 
der  ganzen   angelsächsischen   poesie*),    in  den  resten  der  alt- 


1)  Es  ist  dies  die  einzige  stelle,  die  von  Wisen  (Carraina  norroena 
s.  173)  angeführt  wird,  nnd  doch  stellt  er  für  die  gesamte  altnord. 
poesie  die  regel  auf:  Semivocales  j  et  v  vocaliiim  ritu  .  .  .  alliterationem 
efficiunt.  Auch  H.  Sweet  lehrt  (Icelandic  primer  s.  4)  ohne  jede  ein- 
schränkung:  v  had  the  sound  of  Erglish  7V.  So  allgemein  ausgesprochen 
sind  diese  regeln  natürlich  nicht  richtig. 

'-)  Hierzu  ist  jedoch  zu  bemerken,  dass  die  Viglundarsaga  wol  mit 
recht  für  ein  product  des  ausgehenden  14.  Jahrhunderts  gehalten  wird 
und  dass  die  existenz  eines  historischen  Viglundr  mindestens  zweifel- 
haft ist.     Vgl.    GuÖbr.  Vigfussons  erörterungen  in  seiner  ausgäbe  s.  V  f. 

^)  Aus  dem  gebiete  des  ostnordischen  würde  hierher  noch  ein  vers 
der  Karlewi-inschrift  gehören,   wenn   die   seit  Rafn  (Inscriptlon  runique 
du  Piree,  Kbh.  185(1,  p.  177  sq.)  gangbare  lesung  richtig  wäre: 
Vandils  jarmungrundar 
Tirgrandari  landi. 
Aber  nach  den  Untersuchungen  von  Sven  Söderberg  (Antiqv.  tidskr.  for 
Sverige  IX,  2)  steht  auf  dem  runensteine  nicht 'vantils',  sondern 'untils'. 

*)  In  den  ags.  dichtungen  finde  ich  nur  einen  vers,  der  zweifei  er- 
wecken könnte.     Exod.  fiö 

ymbwicijean  werodes  bearhtme 
kann  die  erste  halbzeile  nur  dem  typus  D  angehören  (-1  j  .^xx)?  der 
nach  den  von  Sievers  aus  dem  Beowulf  abstrahierten  regeln  im  ersten 
fusse  notwendigerweise  den  ersten  reimstab  haben  muss.  Es  liegt  aber 
nahe,  ymb7Vici;:,ean  in  ymbewicip;eau  zu  ändern,  wodurch  der  halbvers 
dem  typus  A  3  zufallen  würde. 


ALTNORDISCH  V.  209 

hochdeutschen  stabreimdichtung-,  im  Heliand,  in  den  poetischen 
formein  der  altfriesischen  gesetze  wird  man  vergebens  nach 
belegen  für  die  alliteration  von  ?v  mit  vocal  suchen,  und  doch 
geht  die  allgemeine  annähme  dahin,  dass  in  den  genannten 
sprachen  das  tr  ein  halbvocal  gewesen  ist.  Auch  im  altnordi- 
schen hat,  um  das  resultat  meiner  Untersuchungen  noch  einmal 
zu  präcisieren,  das  urgermanische  u  noch  im  10.  jahrh.  seine 
ursprüngliche  qualität  besessen;  im  12.  jahrh.  aber  war  der 
Übergang  in  die  spirans  bereits  vollendet,  da  schon  in  den 
ältesten  uns  erhalteneu  isländischen  handschrifteu  v  (u)  nicht 
selten  zur  bezeichuuug  des  tönenden  /  verwant  wird  (J.  Hoftbry, 
Arkiv  f.  nord.  fil.  II,  3  anm.). 

HALLE,  Ostern  1887.  HUGO  GERING. 


Die  vorstehende  erörterung  Gerings,  deren  resultaten  ich 
vollkommen  zustimme,  kann  ich  mich  umsomehr  freuen  ver- 
ursacht zu  haben,  als  selbst  die  ditferenz,  die  der  verf.  zwischen 
uns  noch  findet,  nur  eine  scheinbare  ist.  Sie  beruht  auf  ver- 
schiedener auffassung  des  ausdrucks  'literaturnordisch'.  Er 
versteht  darunter  auch  die  nordische  spräche,  in  welcher  im 
10.  jh.  die  Eddalieder  gesungen  wurden,  während  ich  nur  die- 
jenige sprachform  meinte,  in  welcher  seit  dem  12.  jh.  eine 
literatur  im  buchstäblichen  sinne  entstand.  Die  ursprüng- 
liche form  der  Eddalieder  fällt  also  für  mich  in  eine  vor- 
literarische zeit:  erst  durch  ihre  aufzeichnung  wurden  sie 
in  die  literatur  aufgenommen.  Wollte  man  versuchen,  die 
lieder  'strengphonetisch'  (s.  207)  in  die  spräche  des  10.  jh.'s 
zurückzuschreiben  —  ein  versuch  der  doch  nur  als  lehrreiche 
Übung,  nicht  aber  für  ausgaben  der  Edda  billigung  bean- 
spruchen dürfte  — ,  so  würde  meines  erachtens  allerdings  nicht 
.\as  'literaturnordische'  v,  sondern  in  Übereinstimmung  mit  der 
runentransscription  das  w  anzuwenden  sein,  wenn  man  nicht 
etwa  noch  lieber  ii  brauchen  wollte.  Aber  auch  Gering  fasst 
ja  nach  seinem  vortrage  auf  der  Dessauer  philologenversamm- 
lung  (vgl.  Zs.  fdph.  17,  118)  für  eine  neue  ausgäbe  der  Edda 
nur  die  sprachgestalt  des  ausgehenden  12.  jh.'s  insauge.  Und 
dass  für  diese  die  Schreibung  v  ebenso  dem  (spirantischen) 
laute  wie  der  autorität  der  hss.  gemäss  ist,  darüber  herrscht 
ja  völliges  einverständnis. 

W.  BRAUNE. 


Beiträgo  zur  geachichte  der  deutschen  spräche.    XIII.  14 


210  KITTREDGE,  ZU  BEOWULF  101 


ZU  BEOWULF  107  ff. 

Zu  den  von  Bugge,  Beitr.  XII,  82  citierten  stellen  möchte 
ich  folgendes  nachtragen: 

Das  waldungeheuer,  von  dem  die  ritter  den  weg  zu  der 
w^underbaren  quelle  erfahren,  heisst  im  mittelenglischen  Ywaine 
and  Gawain  (v.  559,  Ritson  I,  24)  the  karl  of  Kaymes  kyn. 
In  der  afranz.  vorläge  des  meng,  gedichtes  (Crestiens  Chev.  au 
Lyon  286  ff.)  steht  nichts  von  Cain. 

In  Kyng  Alisaunder  (v.  1932—35,  Weber  I,  83—84)  heisst 
einer  der  vasallen  von  Darius 

of  Sab  the  duk  Mauryn; 
He  was  of  Kaymes  kunrede; 
His  man  non  kouthe  speke  no  grede, 
Bote  al  so  houndes  grenne  and  berke. 

Cain  kommt  im  roman  von  Baudouin  de  Sebourc  wenigstens 
viermal  als  teufelsname  vor: 

Ont  ore  le  deable  Quayns  et  Belgibns 

Fait  c'un  chavetiers  est  tels  maistres  devenus!  (XllI,  565 — C, 
ausg.  I,  373.) 

Prendons  en  gre  la  mort,  franc  noble  palasiin, 

Et  s'aions,  ens  el  coer,  de  Dieu  le  sanc  divin 

Qu'il  respandi  pour  nous  oster  de  mains  Kayn.  (XIV,  385—87, 
ausg.  n,  12.) 

Ol-  me  rens  au  deable  Lucifer  et  Kayn, 

Ebron  et  Beigebus  et  au  fei  Noradin.  (XXIV,  317—18,  ausg.  II,  350.) 

Le  Bastard  raporterent  Lucifer  et  Noiron, 

Kains  et  Bugibus  et  tout  lor  compaignon.  (XIX,  931^2,  ausg.  II,  211.) 

In  der  zweiten  der  letztangefiihrteu  stellen  scheint  Kayn  = 
Satan. 

TÜBINGEN,  18.  mai  1887. 

GEORGE  LYMAN  KITTREDGE. 


.  GRAMMATISCHE  DARSTELLUNG 

DKR 

MUNDART  DES  DORFES  OTTENHEIM. 


LAUTLEHRE. 
Einleitung. 

Mein  heimatsdovf  Oltenheim,  dessen  mundart  gegenständ 
der  folgenden  davstellung  sein  soll,  liegt  im  amtsbezirke  Lahr 
auf  dem  rechten  Rheinufer,  etwa  4  stunden  südlich  von  Strass- 
burg,  also  im  nordwestlichen  teile  des  alemannischen  Sprach- 
gebiets. Lautlich  steht  die  mundart  von  Ottenheim  und  den 
nördlich  davon  unmittelbar  am  Rhein  gelegenen  Ortschaften 
auf  gleichem  Standpunkt  wie  die  um  Strassburg  gesprochenen 
elsässischen  dialekte,  denen  sie  näher  steht,  als  denjenigen 
mundarten,  welche  in  den  dem  Rhein  entfernter  liegenden  be- 
nachbarten badischen  gebieten  gesprochen  werden. 

Als  charakteristisch  in  dieser  beziehung  hebe  ich  beson- 
ders hervor  die  entwicklung  des  mittelhochdeutschen  ou  und 
ei,  die  behandlung  des  inlautenden  g  und  die  ausstossung  des 
unbetonten  e  in  formen  wie  rel  {er  redet),  gret  {geredet)^  so- 
wie die  erhaltung  der  vorsilbe  ge-  im  part.  j)raet.  Der  haupt- 
unterschied von  den  linksrheinischen  mundarten  beruht  auf 
Verschiedenheit  der  modulation. 

Was  die  graphische  widergabe  der  mundart  angeht,  so 
habe  ich  mich  soviel  als  möglich  auch  sonst  üblicher  zeichen 
bedient  und,  wo  es  angezeigt  erschien,  den  lautwert  derselben 
besonders  angegeben. 

Vocallänge  habe  ich  stets  ausdrücklich  durch  das  zeichen 
"  hervorgehoben.  Wo  dies  läugezeichen  fehlt,  ist  allemal  kürze 
zu  lesen. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.     XIII.  15 


212  HEIMBURGER 

Lautstaiid  der  nuindart. 
A.  Vocale. 
§  1.     Die  Ottenheimer  mundart  besitzt  folgende  einfachen 
vocale: 

i  h   y  y,   ?  f>    ?  ^}   fi^  (f^>   <^  <^>   0  0,   n  ü,  ü  u,  d\ 
dazu  die  diphthonge: 

ei  ei,   ^i  fi,    wi,   ai  äi,   oi  öi\   ud,  yd-, 
endlich  die  triphthonge  ndi  und  ydi. 

§  2.  i  i  bezeichnet  ein  geschlossenes  i,  etwa  gleich  dem 
nhd.  langen  i,  z.  b.  in  biefen,  oder  dem  i  in  französ.  critique. 
Es  entspricht  in  betonter  silbe  einem  mhd.  langen  t,  nhd.  ei 
oder  mhd.  lu,  nhd.  eii,  in  unbetonter  Stellung  auch  einem  mhd. 
kurzen  i  oder  e. 

§  3.  Deutlich  vom  vorigen  unterschieden  ist  der  durch 
y  y  bezeichnete  offene  /-laut,  etwa  gleich  dem  i  in  gehirge, 
ich;  dieses  y  y  entspricht  etymologisch  einem  mhd.  kurzen  / 
oder  ü. 

§  4.  e  e  bezeichnet  einen  geschlossenen  e-laut,  etwa 
gleich  dem  e  in  rede,  französ.  cain-e,  und  entspricht  dem  durch 
Umlaut  aus  german.  a  entstandenen  mhd.  e,  mhd.  e  oder  mhd. 
ö  und  oe,   in  gewissen  fällen  auch  mhd.  t;  (s.  u.  §  26). 

§  5.  ^  f  bezeichnet  einen  offenen  e-laut,  der  aber  doch 
nicht  ganz  so  offen  ist,  wie  das  französische  e  oder  das  «  der 
nhd.  Schriftsprache  nach  der  süddeutschen  ausspräche.  Es  steht 
statt  des  durch  e  bezeichneten  lautes,  gleichviel  welcher  her- 
kunft  derselbe  auch  sein  mag,  vor  r. 

§  6.  (8  d'.  bezeichnet  einen  laut  der  zwischen  a  und  e  steht, 
und  zwar  dem  a  bedeutend  näher  als  dem  e\  es  lautet  un- 
gefähr gleich  dem  nhd.  a  nach  der  schwäbischen  ausspräche. 
Etymologisch  ist  es  gleich  nhd.  offenem  e  (ä),  mhd.  ü,  d.  h. 
altem  e,  unter  gewissen  bedingungen  (s.  u.  §§  28.  30^32)  auch 
gleich  mhd.  umlauts-^?.  Auch  ist  es  zuweilen  an  stelle  des  e 
als  umlaut  von  a  eingetreten. 

w  entspricht  auch  einem  mhd.  a\ 

§  7.  a  ä  bezeichnet  einen  dumpfen  «-laut,  etwa  gleich 
dem  englischen  a  in  saw,  es  entspricht  dem  mhd.  kurzen  a. 
In    einzelnen    fällen  ist  es  auch  bleich  mhd.  ih    doch  sind  das 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  213 

keine  volkstümlichen  Wörter,  sondern  aus  der  nlid.  gemein- 
spraelie  heriibergenommene  lehnwörter. 

§  8.  0  0  entspricht  etymologisch  mhd.  o  und  ö;  o  auch 
mhd.  ä. 

§  9.  u  ti  bezeichnet  einen  offenen  ?<-laut  und  entspricht 
dem  mhd.  kurzen  u. 

§  10.  ü  ?r  lautet  gleich  dem  u  in  französ.  cuUure.  Ety- 
mologisch ist  es  gleich  mhd.  ä,  nhd.  au\  in  einigen  vereinzelten 
fällen  entspricht  es  auch  einem  u  der  nhd.  Schriftsprache,  ebenso 
auch  dem  u  oder  ou  in  französischen  lehn  Wörtern. 

§  11.  Von  diphthongen  kommen  ei,  ai  und  oi  sowol  mit 
kurzem  als  mit  langem  ersten  bestandteil  vor.  In  letzterem 
falle  sind  sie  immer  entstanden  aus  vocal  -f  g  oder  w. 

cet,  welches  immer  aus  e  -{-  g  oder  y  entstanden  ist,  kommt 
daher  auch  nur  mit  langem  erstem  bestandteil  vor. 

§  12,  ei  hat  als  ersten  bestandteil  ein  durchaus  ge- 
schlossenes e,  dem  französ.  6  gleichlautend.  Etymologisch  ent- 
spricht es  dem  mhd.  ^  in  bestimmter  Stellung.  Auch  braucht 
der  Ottenheimer  diesen  diphtliong  für  das  aus  mhd.  i  ent- 
standene nhd.  ei,  wenn  er  die  Schriftsprache  spricht. 

§  13.  ^i,  welches  aus  mhd.  ei  entstanden  ist,  hat  als 
ersten  bestandteil  das  oben  (§  5)  beschriebene  f.  Gedehnt  er- 
scheint dieser  erste  bestandteil  nur  in  dem  worte  n{i  {nein). 

§  14,  ai  lautet  nicht  etwa  gleich  dem  in  der  nhd.  Schrift- 
sprache neben  ei  üblichen  diphthongen  ai,  sondern  hat  zum 
ersten  bestandteil  das  der  mundart  eigene  dumpfe  a.  Es  ent- 
spricht etymologisch  in  der  regel  dem  mhd.  ou,  daneben  auch 
mhd.  a  -\-  g  oder  rv. 

§  15.  oi  entspricht  etymologisch  dem  mhd.  ü  (u)  in  be- 
stimmter Stellung.  Auch  wird  es  von  den  Ottenheimeru,  wenn 
sie  sich  der  Schriftsprache  bedienen,  für  das  aus  mhd.  ü  ent- 
standene au  gebraucht;  ebenso  für  das  aus  6  entstandene  au 
der  Judensprache  {koisr  =  koscher,  Moisili  =  Moses,  soida  = 
schote,  schaute). 

§  16.  Der  aus  mhd.  uo  entstandene  diphthong  ud  hat  als 
ersten  bestandteil  einen  sonst  in  der  mundart  nicht  vor- 
kommenden laut,  der  zwischen  o  und  u  liegt,  doch  auch  etwas 
nach    ö    hinneigt.      Wenn    ich    nicht    irre,    ist    es   der   in    der 

15* 


214  HEIMBURGER 

Sievers'schen  vocaltabelle  (Grundziige  der  phonetik  p.  77)  als 
()i  {oh  midmixed)  bezeichnete  laut. 

Der  aus  mlid.  ie  entstandene  diphthong  yd  hat  als  ersten 
bestaudteil  einen  offenen  /-laut. 

Der  zweite  bestandteil  ist  in  beiden  diphthongen  der 
gleiche;  er  lautet  wie  das  e  in  gahe. 

§  17.  Die  triphthonge  iidi  und  ydi  sind  entstanden  durch 
zusammentreffen  von  uo  oder  yd  mit  folgendem  g  oder  j:  hfludi 
{pflüg)  —  (n^y^i  (f^fieg)  —  blydit  (blüht). 

B.   Consonanten. 
§  18.     Folgendes  sind  die  consonanten  der  mundart: 

1.  tonlos 

a)  explosivlaute 
lal)iale:  b,  p, 
dentale:  d,  /, 
gutturale:  g^  k\ 

b)  reibelaute: 

f,  s,  s,  ch,  h; 

2.  tönend 

liquiden:  /,  r, 

nasale:  tn,  n,  ?), 

halbvocale:  w,  j, 

reibelaut:  ^. 
§  19.  Die  verschlusslaute  b,  d,  y  einerseits  und  p,  t,  k 
andererseits  unterscheiden  sich  in  der  mundart  nicht  etwa  wie 
bei  der  in  Norddeutschland  üblichen  ausspräche  des  nhd.  als 
tönend  und  tonlos:  sie  sind  sämmtliche  tonlos;  auch  nicht 
durch  grössere  oder  geringere  cnergie  der  artikulation.  Der 
einzige  unterschied  beruht  darauf,  dass  p,  t,  k  aspiriert  ge- 
sprochen werden,  b,  d,  g  ohne  aspiration.  Der  anlaut  in  Wör- 
tern wie:  kalt,  kiend,  kimdd  ist  durchaus  derselbe  wie  derjenige 
in:  kaldo  {gehalten),  kcenk  {gclienk),  kungd  (part.  praet.  zu 
hinken)]  der  nnlaut  von  pak  ist  in  nichts  verschieden  von  dem 
von  paldd  {behalten),  der  von  tärok  gleich  dem  von  dluhd  {die 
hasen),  te/im  {daheim).  Die  muten  der  mundart  zerfallen  also 
nicht  in  mediae  und  tenues,  auch  nicht  in  lenes  und  fortes, 
sondern  bloss  in  aspiratae  und  non  aspiratae. 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  215 

§  20.  s,  welches  etymologisch  mhd,  s  und  z  (ss  und  zz) 
entspricht,  ist  stets  tonlos. 

Die  beiden  f  des  mhd.,  das  aus  urgerm.  /  und  das  aus 
urgerm.  p  entstandene,  sind  vollständig  zusammengefallen.  Die 
ausspräche  des  ch  ist  die  auch  in  der  nhd.  gemeinsprache 
übliche:  guttural  (velar)  nach  den  dunkeln  vocalen  ce,  a,  o,  u, 
ud  und  y9;  palatal  nach  den  hellen  vocalen  i,  y,  e  und  ü. 
Hierin  weicht  also  unsere  mundart  von  der  grossen  mehrzabl 
der  alemannischen  Schwestermundarten  ab. 

§  21.  r  ist  zuugen-r  und  wird  durch  ein  vibrieren  der 
Zungenspitze  gegen  die  alveolen  der  oberzähne  hervorgebracht. 
Nur  bei  hervorbringung  der  lautgruppe  sr  ist  die  die  Vibration 
gehemmt,  daher  der  r-laut  stark  reduciert.') 

Der  gutturale  nasal  ö  wird,  wie  auch  in  der  gemein- 
sprache, statt  des  dentalen  n  gesprochen  vor  den  gutturalen 
verschlusslauten  g  und  k  innerhalb  des  wortes  und  im  leben- 
digen redezusammenhang  (cf.  dankbar,  w  Kolmar).  Ausserdem 
findet  er  sich  selbständig  an  stelle  von  älterem  ng.  Nur  in 
letzterem  falle  ist  er  in  der  folgenden  darstellung  besonders 
bezeichnet;  sonst  gebe  ich  ihn,  dem  brauche  der  Schriftsprache 
folgend,  durch  n  wider,  ng  bedeutet  stets  n  -f  g,  nicht  etwa 
blos  n. 

Die  liquiden  /,  /•  und  der  nasal  m  (nicht  aber  w!)  werden 
in  unbetonter  silbe  auch  sonantisch  gebraucht:  liandl,  grcsr 
{grösser),  gy-n-7ns  {gieb  es  ihm). 

7v  und  j  sind  reine  halbvocale  und  durchaus  von  keinem 
geräusch  begleitet;   w  ist  bilabial. 

Die  tönende  spirans  ^  scheint  ziemlich  jungen  Ursprungs 
zu  sein  und  ist  sehr  wenig  verbreitet;  sie  findet  sich  nur  iu 
den  drei  Wörtern  e^l  {iget),  re^l  {riegel)  und  sdreil  {striegcl, 
pferdekamm). 

§  22.  Doppelconsonanz  kommt  in  der  mundart  nicht  vor. 
Allerdings  wird  ein  auf  kurzen  vocal  folgender  consonant, 
gleichviel  ob  er  auf  mhd.  einfache  oder  doppelconsonanz  zu- 
rückgeht, mit  grösserer  energie  artikuliert  als  einer,  der  auf 
langen  vocal  folgt.  Auch  hat  am  Schlüsse  der  ersten  silbe 
von  Wörtern  wie  7vedi  {fvelte),  fadr  {vater\  rdbd  {rappen),  degd 


1)  Cf.  Wiuteler,  Ker.  mundart,  p.  40. 


216  HEIMBURGER 

{decken)  die  mimdhölile  schon  die  artikulationsstellung  eines 
d,  b,  ff  eingenommen.  Doch  ist  eine  Verdopplung  oder  auch 
nur  dehnung  des  consonanten,  wie  in  einigen  südbadischen 
und  schweizerischen  mundarten,  wo  zwischen  bildung  und 
lösung  des  verschlusses  eine  deutliche  pause  entsteht,  nicht 
wahrnehmbar. 

Historische  entwicklung  der  laute. 

Bei  der  darstellung  der  historischen  entwicklung  der  numd- 
art  gehe  ich  von  dem  mhd.  lautstande  aus,  mir  für  den  ein- 
zelnen fall,  wo  es  angezeigt  erscheinen  sollte,  das  zurück- 
greifen auf  eine  ältere  sprachperiode  vorbehaltend. 

A.   Vocale. 

§  23.  Mhd.  a  erscheint  als  a  oder  «i):  ap  (ab)',  arvr  {aber)\ 
agr  {acker)\  ädl  {adel)\  acht]  nast  (ast);  sdäl  {stahl)]  bärfuds 
{barfuss)]  ran  (schlank)  <  mhd.  ran,  nicht  ran,  wie  Lexer  an- 
setzt; dieses  hätte  *rdn  ergeben  müssen;  räsd  {furere)  <  rasen 
(nicht  räsen^)\  äl  {ahie).  In  unbetonter  Stellung  ist  a  zu  9  ge- 
schwächt in  dl^in  {allein),  zu  e  in  des  {das). 

§  24.  Mhd.  ä  ist  zu  o,  selten  zu  o  geworden:  önd  {abend)] 
blöi  {plage)]  blöi  {blau);  gbwd  {ein  hochzeitsgeschenk  machen), 
göp  {hochzeitsgeschenk)  <  gäbe]  gröi  {grau)]  löi  {lau)]  jo  {Ja)] 
blödr  {blase)  <  bläter;  omfis  {ameise);  möld  {malen)]  sömd 
{same)]  söt  {saat)]  blösd  {blasen);  jojndrd  {jammern)]  grbm  {kram)] 
tiöchbr  {nachbar)]  not  {nahe)]  sböt  {spät);  swop,  swöwe  {Schwabe, 
Schwaben);  ?n6s  {die  mass);  glbfdr  {klafter);  fisrglör  {das  weisse 
im  ei);  lögl  {fässchen);  blomrdd  {brombeeren)]  hvröi  {heirat)] 
kablön  {kaplan)]  Bor  ich  {Baruch);  mönt  {mond)]  möndt  {monat). 

Entgegen  dieser  regel  entspricht  einem  mhd.  ä  ein  ä  {a) 
der  mundart  in:  äs  {aas)]  gräf  (neben  fast  ausgestorbenem, 
nur  noch  von  alten  leuteu  gebrauchtem  grbf);  dät  {tat)]  gnät 
{gnade)]  sdräl  {strahl)]  mäs  {das  mass)  neben  dem  volkstüm- 
licheren mces  <  mhd.  tni^z,;  gwäl  {quäl);  frdacht  und  frdächt] 
grydnsban  {grünspan)]  bäbst]  grät  {gradus)]  jnyrdgl  {mirakel)] 
gwädf]    sbtjnät  {spinal)]    soldät]    sbydäl  {spital):  alles  das  sind 


')  lieber  die  quantitätsverändcrungen  der  vocale  wird  unten  im  zii- 
sanimenhauge  gehandelt. 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  217 

der  Schriftsprache  entnommene  lehn  Wörter,  wie  zum  teil  das 
dauebenstehen  der  erbwörtlichen  form  (cf.  gräf,  mäs)  beweist. 
Für  mägsömd  und  mäsöl  (mohn)  ist  wol  nicht,  wie  es  gewöhn- 
lich geschieht,  ein  rahd.  ??iägesäme,  mägesät,  sondern  vielmehr 
magesäme,  magesät  anzusetzen;  darauf  weisen  auch  fränkische 
dialekte  hin. 

Das  ä  in  hän  {haben)  erklärt  sich  vielleicht  durch  an- 
lehnung  an  die  formen  desselben  verbums  mit  kurzem  a. 

Unter  dem  einflusse  der  unbetontheit  ist  das  aus  ä  ent- 
standene ö  zu  Ä  {ii)  geworden  in  wü^  wu  {wo). 

§  25.  Mhd.  (e  erscheint  als  ce  und  ^:  rcedl  {retiig);  sdrcel 
(kämm);  l(sr  {leer)\  her  {scheere)\  r(cs  {salzig)  <  mhd.  rwze; 
kwp  {dicht  schliessend)  <  mhd.  ^gehcehe;  scbli  {verstorben)  < 
scelec]  srvcer  {schwer)]  mcejd  {mähen)\  drcejd  {drehen)]  b(cj9 
{bähen). 

Hierher  gehört  wol  auch  (e?7it  {öhmd)  <  mhd.  ämät  mit 
allerdings  rätselhaftem  umlaut.  Da  mhd.  ä  in  der  mundart 
zu  ö  geworden  ist,  so  erscheint  dieses  ce  als  umlaut  zu  o: 
dxbl  deminutiv  zu  ddb9  {pfote)  mhd.  täpe\  mcendi  {montag)  zu 
mdnt\  rcedsl  zu  rdd9  {raten)]  grcemr  {krämer)  zu  grdm\  sceß 
{schä/chen),   swfr  zu  söf  {schaf). 

Hierher  gehört  auch  sbcen  fem.  {der  span):  mhd.  spän 
musste  *sbÖ7i  ergeben;  dieses  findet  sich  nur  noch  in  dem  ge- 
wannnamen  sbönheldsl  {Spanholz)]  sonst  ist  es  verdrängt  durch 
die  neubildung  sbwn,  welches  sich  zu  sbon  verhält  wie  die 
die  thräne  zu  mhd.  der  trahen. 

In  vielen  fällen  aber  ist  an  stelle  dieses  w  ein  e,  der  ge- 
wöhnliche umlaut  von  o,  getreten:  seml  deminut,  zu  soms 
{same)]  hvebl  deminut,  zu  swop  {Schwabe)]  sbedr  comparativ 
zu  sböt  {spät). 

§  26.  Mhd.  e  ist  zu  ce  oder  w  geworden:  rwcht  {recht)- 
rcejd  <  regen]  sceis  <  segense;  hcclfe  <  helfen]  socch  {pßug- 
messer)  <  s'ech]  swcer  <  swiiher]  gcewl  <  gebel\  brobgld  < 
bregelen]  brcem  <  breme]  nwmd  <  n'emen\  sojmd  (neben  samd., 
schäfnen)  <  scheinen:  hierfür  wird  allerdings  gewöhnlich  sche- 
?nen  augesetzt,  vgl.  aber  Schade,  Ad.  wb.,  zu  diesem  worte; 
h(ßrt  {herd  und  her  de)]  gmn  <  geben]  sAn  <  sehen]  frdccrwe 
{perire)  aber  frdi^rwd  {per der e)]  kicbs-wip  <  kebese]   grcebs  < 


218  HEIMBURGER 

krebez]  s/vd'r  {geschwür)  <  swer;  hccrds  <  herze]  rcechd{harke)\ 
drick  (kot)  <  mhd.  drec  (nicht  drec,  wie  gewöhnlich  angesetzt 
wird);  /'cej'p  <  vegen  (nicht  vegen!). 

In  einer  anzahl  von  Wörtern  aber  entspricht  einem  mhd.  e 
ein  e  der  mundart;  es  sind  dies  folgende:  7veld  {wollen)  <  mhd. 
wellen;  welr  {jvelc}ier)\  heim,  —  aber  Wylhcelm  {Wilhelm)]  selm\ 
felsd  {f eisen)]  belds  {pelz)]  ledi  <  l'edec]  gest^  gesdrt  <  gester] 
srvesdr  <  siv'ester\  rvesdd  {rvesten)]  dr'esd  <  dreschen]  lesd  < 
leschen;  desdd  <  deste]  scsdr  <  sehst  er,  s'ester]  segs  <  sechs, 
segst  {der  sechste)  —  aber  scechdse  (16)  und  scechdsik  (60); 
lep  <  lerve]  wfr^),  rvem,  rvend  {tver,  wem,  wen)]  cendwedr  {ent- 
weder)] ewd  <  ebene,  aber  ncewd  {neben),  nd^wdds  {beiseite); 
^'i^V/  <C  regele]  dscdl  <  z'edel,  zetel;  ebr,  ebs  <  etewer,  —  7vaz. 
Zum  teil  sind  diese  fälle  identisch  mit  den  von  Luick  in  sei- 
nem aufsatze:  'Die  qualität  des  mhd.  e  nach  den  lebenden 
dialekten'  (ßeitr.  XI,  492  ff.)  angeführten.  Diese  erscheinung 
war  also  wol  über  das  ganze  oberdeutsche  gebiet  verbreitet. 
Was  die  erklärung  dieser  ausnahmen  betrifft,  so  ist  zunächst 
hervorzuheben,  dass  das  ii  nicht  in  allen  fällen  über  jeden 
zweifei  erhaben  ist.  So  setzt  Luick  (a.  a.  o.  p.  495)  für  das 
bisher  allgemein  angenommene  tvellen  mit  bestimmtheit  wellen 
an.  Ebenso  nimmt  er  für  schelm  schelm,  für  welcher  welcher 
als  möglich  an,  letzteres  mit  Zugrundelegung  eines  vorhoch- 
deutscheu  '"^hvaleiks,  welches  analog  dem  entsprechenden  demon- 
strativpronomen  swalelks  gebildet  wäre.  Gegen  diese  annähme 
spricht  allerdings  die  form  scelr  {je)ier),  welche  man  als  eine 
analogische  Umformung  von  *soler  <  solher  eben  nach  dem 
entsprechenden  relativen  pronomen  welher  zu  erklären  pflegt, 
und  welche,  wenn  diese  erklärung  richtig  ist,  voraussetzt,  dass 
einmal  eine  form  *w(elr  <  weler  <  welher  bestanden  habe. 

Für  die  übrigen  fälle  eine  lautliche  erklärung  aufzustellen, 
erscheint  als  um  so  bedenklicher  als  zum  teil  formen  mit  dem 
regelmässigen  (c  neben  solchen  mit  e  stehen. 

Vielleicht  möchte  man  geneigt  sein,  einen  lautlichen  Über- 
gang des  fc  in  e  (etwa  durch  die  mittelstufe  Ö)  unter  einfluss 
eines  folgenden  l  oder  s  anzunehmen.  Solcher  annähme  wider- 
sprechen aber  wider  formen  wie:  hfcl  <  hei,  wwl  {reissigbündel) 


*)  Wegen  des  ^  statt  c  siebe  unten  §  29, 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  219 

<  7veUe,  scelrvr  {selber),    scelde  (schelten),    n(est  {nesl),    bncsdd 

<  bresten. 

Am  plausibelsten  scheint  der  Übergang  von  offenem  e  zu 
geschlossenem  in  felsd  ahd.  felis,  belds  ahd.  pelliz,  rvelr  ahd. 
huclih  unter  einwirkung  des  i  der  zweiten  silbe  und  der  durch 
dasselbe  hervorgerufenen  mouillierung  des  /. 

§  27.  Einem  mhd.  e  (umlauts-e)  entspricht  regelmässig  e 
oder  c":  hek  {baecker)\  t^eld  {schroten)]  sedsd  {setzen);  ebfl  {äpfel)\ 
scbfd  {schöpfen)]  lefl  {l'öjfel)\  dseld  {zähleii)\  ret  (rede);  sie' gl 
{schlaget)]  rejd  {regen,  yh)]  lejo  {legen)]  nedsd  {netzen);  dsledst 
{zuletzt);  kedsd  (schleppen). 

Wo  noch  enger  Zusammenhang  mit  unumgelauteten  formen 
desselben  Stammes  bestand,  ist  dieses  e  zuweilen  durch  cc  ver- 
drängt worden,  wie  in  der  nhd.  gemeinsprache  durch  ä:  (vrml 
(kleiner  arm);  hcech  (buche)]  jcejr  (Jäger)]  ivcddr  zu  wald] 
nccmd  neben  namd  (die  namen);   hcesi  (häsin)  etc. 

Doch  hat  sich  das  e  weit  besser  behauptet  als  in  der  ge- 
meinsprache, wie  folgende  beispiele,  die  sich  leicht  vermehren 
Hessen,  beweisen:  eldr  (comparativ  zu  alt)]  kelwr  (plural  zu 
kalp)]  redr  (plural  zu  das  rad)]  bledr  (plur.  zu  blat)]  gn-ifld 
(quälen)]  gledi  (glätte)]  döddgrctvr  (totengräber);  5/«ß^/r  (compar. 
zu  schmal)]  grefdd  (plural  zu  kraft);  grefdik  (kräftig);  negl 
{nägel)]  sivejdri  (schwägerin);  s^rfr^)  (comparat.  zu  scharf), 
ser/i  {die  schärfe)]  p-tnr  (comparat.  zu  arm);  er  ml  (der  ärmet)] 
p'jr  (ärger)]  (>rjdrd  (ärgern). 

§  28.  e  vor  nasal  -\-  consonanz  oder  vor  doppelnasal 
wird  zu  ce\  ccnl  {ente)]  cent  (ende)]  ivcvndd  {,r enden);  blwndd 
(blenden)]  cen  (eng);  mnl  (enget)]  wngl  (enkel)]  dtciüd  (dengeln); 
ha'ost  (hengst)]  a)ndrli  (engerling);  soingd  (senkeii);  sicngd 
(schenkeii)]  frrccnge  (verrenken)]  mcens  (mensch)]  kicnsdrli  < 
kenst erlin;  frommt  (fremd)]  shimbd  (hängesack)  zu  slampen]  hwtn 
(hemd)]  brwne  {brennen)]  dam  (denn);  rccnd  (rennen)]  fJwnd 
(flennen)]  srvcemd  (schwemmen)]  sdocmd  (stemmen)]  hrmns  < 
hre?nse. 

§  29.  e  vor  r  erscheint  als  ^  oder  e:  ip-wd  (erben)]  frdp'7vd 
(verderben  tr);  merds  (tnärz);  crjdi'd  {ärgern)]  hp-f  (hart)]  bp^si 
(der  barsch)]   sbp-d  (sperren);  f(ri  (fertig)]   tvfrd  {wehren). 


^)  Wegen  des  ^  statt  c  siehe  §  29. 


220  HEIMBUKGER 

Dieses  lautgesetz  muss  veihältnisnuissig  jungen  cUitums 
sein,  da  sämmtlicbe  e  der  mundart,  welcher  herkunft  sie  auch 
sein  mögen,  ihm  unterliegen. 

§  30,  Vor  cht  entspricht  dem  mhd.  e  ein  cc  der  mundart 
(cf.  Paul,  Mhd.  gr.  §  43  a):  n(Fcht  (gestern  nacht)]  gsl&cht  < 
gesiechte;  glcbchdr  <  gelechter e\  drcßchdr  {irichter)  <  (rechter, 
wenn  hier  nicht  vielmehr  trechter  anzusetzen  ist. 

Aber  hecht  aus  mhd.  hechet. 

§  31.  Ferner  erscheint  cc  statt  e  iu  einer  anzahl  Wörter, 
welche  in  mhd.  doppelformen  mit  a  und  e  aufweisen:  ö?ä- mhd. 
asche,  esche\  cerbs  mhd.  arweiz,  erweiz\  ocrwdt  mhd.  areheit^ 
erebeit;  gcedr  (gitter)  mhd.  gater,  geter;  drd'chdr  mhd.  trachter, 
trechter,  tr'ichter\  gsceft  mhd.  geschaft,  geschefte\  gcerrvd  {ger- 
ben) mhd.  gar  wen,  geriveu]  f(crmd  mhd.  farwen  (?),  ferrven\  hcclr 
md.  haller,  heller]  hcechl  mhd.  hachel,  hechel;  kctnr  [dachrinne) 
mhd.  kanel,  kenel,  kener \  loile  mhd.  lallen^  lellen\  mcer^k  mhd. 
market,  merket;  scel  (säge)  mhd.  sage,  sege;  sa^ds  (femin.)  mhd. 
schale,  schele;  rvces9  (waschen)  mhd.  waschen,  weschen  —  aber 
wes  {die  wüsche);  —  wcels  mhd.  walsch,  welsch. 

§  32.  Endlich  erscheint  ce  statt  e  als  fortsetzung  von  mhd. 
c  in:  icr  <  eher  (ähre)  :  ccrn  (ernte)  <  erne;  fcedsd  <  vetze; 
Iceds   (verkehrt)    <  letze;    grceds   (tragkorb)    <  kretze;     kcedsr 

<  ketzer;  gwcedsd  <  quetzen,  quetschen;  rccdse  <  retschen; 
sdcelds  <  stelze,  dazu  sdyldsfuds  {stelz fuss);  sncebf  <  snepfe; 
hicek  <   snecke;    rcechnd   <  rechenen;    mcerd  <  merhe;    mccsr 

<  mezzer;  woifds  <  we/^<?;  c?ö?/f  <  ^e//^r  französ.  tailloir;  vgl. 
hierzu  Luick  a.  a.  o.  p.  501. 

Auch  hier  steht  die  quaiität  des  e  nicht  in  allen  fällen 
fest.  So  setzt  für  snecke  Müller  wol  mit  recht  snecke  an; 
ebenso  dürfte  für  snepfe  ein  snepfe  zu  supponieren  sein.  Dass 
auch  stelze  altes  e  hat,  darauf  weist  der  Wechsel  mit  kurzem 
i  hin,  wie  er  in  sdyldsfuds  zu  tage  tritt. 

Unter  den  übrigen  angeführten  fällen  sind  zunächst  solche 
wie  cer  <  eher,  wrn  <  erne,  rcechnd  <  rechenen  auszuscheiden, 
bei  welchen  unter  einfiuss  des  h  und  r  der  unilaut  erst  spät 
eintrat  und  daher  nicht  über  die  stufe  des  ce  hinauskam.  — 
Ferner  scheint  es  auf  den  ersten  l)lick  nicht  ganz  zufällig  zu 
sein,  dass  gerade  vor  tz  so  oft  ce  statt  (^  erscheint.    Doch  ver- 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  221 

bieten  fülle  wie  7if'ds9  {netzen),  ncds  {netz),  jnedsd  {schlachten) 
u.  a.  die  annähme,  dass  dieses  tz  den  Übergang  bewirkt  habe. 

§  33.  Wo  verbalformen  mit  e  und  e  in  transitiver  und 
intransitiver  bedeutung  neben  einander  bestanden,  sind  teils 
beide  formen  erhalten:  fräp-nd  {perdere)  <  verderben  und 
frdcerwd  {perire)  <  verderben]  sdegd  <  stecken  und  sdcegd  < 
stecken]  —  teils  ist  die  eine  form  von  der  andern  verdrängt 
worden:  scele  für  mhd.  schellen  und  schellen]  gneld  {knallen) 
für  mhd.  knellen  und  knellen;  smeldsd  für  mhd.  smelzen  und 
smelzen.  In  A'i^o»  =  mhd.  leschen  und  leschen  hat  vielleicht 
lautlicher  zusammenfall  stattgefunden  (cf.  §  26). 

§  34.  Mhd.  e  erscheint  als  e  oder  e  (vor  r  als  ^  oder  f), 
in  einigen  wenigen  ftillen  als  m  ohne  ersichtlichen  grund:  Le 
(uame  eines  teiles  des  dorfes)  <  mhd.  le]  gle  <  klc]  sdfn 
[stehen)]  gfn  {gehen);  nach  analogie  dieser  beiden  ist  wol  auch 
len  {lassen)  gebildet;  le^na  <  lehnen]  endr  {eher)]  dse  {zehn) 
mhd.  z'ehen,  zen,  dr  dsft  {decimus),  aber  ds(Bnd3  {zehjite,  ab- 
gäbe); dse  (masc.  die  zehe)  mhd.  zehe,  ziihe,  zS]  dswen  {zwei 
masc);  bedi  {beide  masc);  heljd  {heiligenbild,  dann  überhaupt 
kleines  hild),  Ucljddswl  {Heilig enz eil,  name  eines  dorfs),  daneben 
das  vermutlich  nicht  erbwörtliche  h(^ilik  {heilig)]  kcnr  und  kt^r 
{keiner);  weni  {?venig)  neben  cc  rvev  {ein  wenig);  frfrd  {verehren, 
schenken)]  Itfro  {lehren)]  fnmfrd  {vermehren);  gere  {schoss, 
ßscherspiess)]  hej  <  hcrre,  daneben  hccr^got  {hergott)  der  form 
hcrre  entsprechend;  —  swKr  <  sweher,  stver]  dswd'l  <  twe- 
hele,  twele]  hra'dsl  {brezel)  ahd.  brezitelUi]  ba^rd  (eine  art 
fischernetz)  mhd.  bere,  lat.  pera. 

§  35.  Rlhd.  /  ist  zu  y  oder  ij  (d.  h.  otteucm  /)  geworden:  dy»; 
dyk]  kys  {kies)]  rys]  tnyldai  {mehltau)]  rvyt  {gerte)  <  wide]  ryu 
{facilis  und  annulus)]  gtryst  (part.  praet.  zu  wissen)]  syml 
{semmel);  jyrd  {gähren)]  byr  {birne)]  swyjr.nuddr  {Schwieger- 
mutter); ymds  {imbiss)]  sij  <.  si  {sie);  snyt]  gsnydd  {geschnitten); 
sydr  {seil)  <  sider. 

Die  lautgruppe  iget  wird  zu  c^l:  e^l  {iget);  re^l  {riegel) 
und  sdregl  {striegel).     Fremdwort  \?iCsigl  {das  sieget). 

In  unbetonter  Stellung  wurde  mhd.  i  zu  geschlossenem  /: 
hfyrsi  {p/irsich)]  rsi  {essig);  hiini  {honig);  wydsdli  {wüstling)] 
mcendi  {montag)]  si  {sie)  unbetonte  form  neben  dem  betonten 
sy;    i  neben  ych. 


222  HEIMBURGER 

Statt  eines  zu  erwartenden  y  findet  sich  i  als  Vertreter 
von  mhd.  i  in  fil  (viel)]  nigs  (nichts)]  hegirik  (begierig)]  digr 
(tigcr)]  swiböjd  (schjvihbogen). 

fil  und  nigs  sind  wol  ursprünglich  als  unbetonte  neben- 
formen  zu.  den  hocbtonigen  */?//  und  '*mjgs  entstanden  und 
haben  dann  diese  ganz  verdrängt.  Die  drei  übrigen  angeführ- 
ten Wörter  sind  aus  der  Schriftsprache  eingedrungene  fremd- 
wörter. 

§  36.  Mhd.  %  erscheint  als  geschlossenes  i  oder  v.  bdgrifd 
(hegreifen)]  rifd  (pruina)]  rido  (reiten)]  sdrid^  (streiten)]  hdwisd 
(beweisen)]  sisd  (cacare);  bris  (preis);  sdrichd  (streichen)]  Rm 
(Rhein)]  disl  und  dislt  (deichsei)]  licht  (leicht)]  licht  (leiche); 
snidd  (schneiden)]  riwd  (reiben)]  ds^rifl  (zw  ei  fei)]  rid  (reien,  rist)] 
örfi  (ohrfeige)]   dswi  (zweig)]   gl  (geige)]   sdie  (steigen). 

§  37.  Zuweilen  aber  ist  mhd.  i  auch  zu  ('/  geworden.  Ich 
führe  die  hierhergehörigen  fälle  vollzählig  an:  blei]  drei,  aber 
dridse  (dreizehn)  und  drisik  (dreissig)]  frei,  gddeid  <  gedihen 
keid,  frheid]  <  ge-,  verhien;  sei  <  st  (sim)]  gswei  <  geswihe] 
sneid  <  snien]  gwei  <  gewige]  rvei  <  wihe  (vogel)]  wei,  wei9 
<  wihe,  wihen,  aber  wiwasr  (7veihwasser)  und  nnnächt  (weih- 
nacht)]  weidr  <  wier,  aber  in  Ortsnamen:  Hügswir,  Nundwir  etc.; 
glcid  <  klien]  sreid  <  schrien;  frdseid  <  verzihen]  slei  <  slie] 
—  die  ablcitungssilbe  -ei  <  <  in  Wörtern  wie  sriwdrci  (schrei- 
berei),  sreidrei  etc.;  Mei  (Maria)  und  dazu  das  deminut.:  M<yUi, 
bei  Winteler,  Ker.  mundart,  p.  179  Mili;  feilüdd  (veilchen)  < 
viel]  heil  <  hiel]  feil  <  file]  gseit  <  geschide. 

Man  sieht,  in  allen  diesen  fällen,  mit  alleiniger  ausnähme 
der  beiden  letzten,  steht  das  t  im  auslaut  oder  vor  einem 
vocal  oder  ist  von  einem  solchen  nur  durch  h  getrennt  (das 
g  in  gewige  bezeichnet  doch  wol  nur  den  übergangslaut).  Es 
dürfte  also  wol  folgendes  lautgesetz  gewirkt  haben: 

Wo  i  unmittelbar  vor  einem  vocal  zu  stehen  kam,  d.  i. 
in  den  fiexionsformen  mit  vocalisch  anlautender  endung  und 
im  auslaut  vor  vocalischem  anlaut  des  folgenden  wortes  wurde 
es  zu  (li;   sonst  blieb  es  l. 

Nun  bildeten  sich  zunächst  doppelformen  mit  (ü  und  l. 
Dann  trat  ausgleichung  ein,  und  zwar  in  den  weitaus  meisten 
fällen  zu  gunsten  von  ei,  nur  in  wenig  fällen  (rid  <  rlhe  und 
sld  <  sihen)  zu  gunsten  von  L 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  223 

Was  fril  und  {/srit  anbelangt,  so  ist  ersteres  als  hand- 
werksausdruck  jedenfalls  der  genieinspiacbe  entlehnt.  Bedenk- 
lich scheint  mir  eine  solche  annähme  allerdings  für  ein  so 
volkstümliches  wort  wie  (isrit.  Doch  vermag  ich  eine  befriedi- 
gendere erklärung  nicht  zu  geben. 

§  38.  y  statt  zu  erwartendes  ^  erscheint  in  syn  {sein,  esse), 
gsyn  oder  ysif  {gewesen);  liyrCcht  <  hmechl;  fynl  <  fint.  In 
syn  und  gsyn  {syn)  liegt  vielleicht  anlehnung  an  die  1.  3.  plur. 
ind.  praes.  syn  <  sind  vor.  In  fynl  und  hyn'chl  dürfte  durch 
den  folgenden  nasal  +  consonant  der  Übergang  des  geschlos- 
senen lautes  in  den  offenen  bewirkt  worden  sein.  Es  wäre 
dies  ganz  analog  dem  iu  §  28  behandclteu  Übergang  des  ge- 
schlossenen e-lautes  in  den  offenen. 

Höchst  merkwürdig  ist  das  wort  g^iPr  mhd.  gtr.  Dass  es 
nicht  lautgesetzlich  aus  gh-  entwickelt  sein  kann,  liegt  auf  der 
band.  Aber  auch  eine  fremdwörtliche  entlehnung  aus  der 
Schriftsprache  scheint  ausgeschlossen  zu  sein,  da  für  ein  aus 
mhd.  i  entstandenes  nhd.  ei  die  mundart  stets  ri,  nie  ei  hat. 

§  39.  Einem  mhd.  o,  u  entspricht  im  allgemeinen  auch 
ein  o,  u  der  mundart:  ogs  <  ochse;  ofe  <  oven\  ort  und  ort 
<  ort;  soJif  {schup/ien)  <  schöpfe;  wolf;  hol  <  böte;  glöw?  < 
klobe;  gsddl9  <  gestohlen;  gold;  got;  drösdl  {drossel);  doblt  < 
d(nib/e;  himt;  südld  {sudeln);  bnist;  dsiw  {zunge);  blut  {bloss, 
nackt);  gdbvnd^  {gebunden);  nun  {non7ie);  sim  {sonne);  sün  {söhn); 
gruno  {geronnen);  gund  {gönnen);  bsundrs  {besonders);  sust 
{sonst);  srundo  <  schrimden;  rordnml;  drnds  {troi:);  sianr 
{sonimer);   ghviuiio  {geschrvonimen). 

Wo  ndid.  schwanken  zwischen  o  und  u  herrseht,  ist  in  der 
mundart  fast  immer  u  durchgedrungen:  dundsrd  =  ndul.  don- 
ren,  dunren;  huni  mhd.  honec,  hiinec;  dudr  mhd.  toi  er,  tut  er; 
drng?  mhd.  trocken,  trucken;  Ink  {locker);  hug?  {hocken);  knmd 
mhd.  komen,  kumen,  (juHmen;    kubl  mhd.  koppel,  kuppet. 

0  ist  verallgemeinert  in  solo  mhd.  soln,  suln;  dsobd  = 
zupfen  (?). 

An  stelle  von  mhd.  o  ist  n  getreten  in:  gmimd  {genommen); 
bulsdr;  hiihf  <  hopfe;  uul  {trolle).  Ferner  ist  n  aus  o  ent- 
standen in  den  französischen  lebnwörtcrn:  kufr  {ko/fer);  fnrm 
{form);  knndrby>V'0  {gehorchen,  contrihuer);  sych  drumbydr!>  {se 
trompei'). 


224  IIEIMBURGER 

Unter  eiiifluss  der  proklise  ist  o  zu  u  geworden  iu 
fun  {von). 

An  stelle  von  mlid.  21  ist  0  getreten  in  /row  mhd.  frimi. 

Schon  alt  ist  das  u  in  ich  mir,  du  nmrs,  (cr  murt  {ich 
werde,  du  wirst,  er  ivird). 

Das  ü  statt  u  in  ü^rall,  iCrgrosfadi\  iCrgrbsl  {urgrossmuller), 
gnüsd  <  kmtssen  {slossen),  gnühd  =  mbd.  kmibbe  {knollen  im 
holz,  heule),  dü^dlsak,  diCsl  {beläubimg),  kabdcls  {kapulzc),  kabüt, 
nifdl  {iiudel),  büdl  {pudel)^  hiübd  {schnupfen),  frdilse  {vertuschen), 
hfiis9  {pfuschen)  deutet  auf  fremd  wörtlichen  Ursprung  hin. 

§  40.  Mhd.  ö  ist  0  geblieben:  nowl  {nobel)]  mor  {multer- 
sckweiti)]  6r;    dsd9rD  {oslern)\   rot]  hoch]  sdosd]  bön  {bohne). 

Unter  einiluss  der  uubctontheit  ist  0  zu  ii  geworden  in 
SU,  sun  {schon). 

§  41.     Mhd.  ü  ist  zu  ü  oder  ?r  geworden:    üs  <  üz]  süfd 

<  süfen]   bi^üt  <  brüt]   brücho  <  brüchen,  rüs  <  rüsch]  lüsdord 
{lauschen)  <  Ifistern;   lü^rs  <  lüren]  sifr  <  sür]  hi'Crd  {kauern) 

<  hüren;   siCfr  {sauber);   brifsd  {brausen)]   snitfe  {schnaufen)] 
bri'fn  {braun)]   ri'f  {rauh)  <  rüch,  rühes]  gli'Civd  {klauben). 

Dieselbe  entwicklung  hat  französ.  ou  mitgemacht  iu  giujük 
{knkuk)  und  düsmä  adj.  und  adv.  {sachte.,  matt)  <  doucement] 
franzüs.  u  in  mimdiC'r  {anzug)  <  inonture.  Wol  unter  eiufiuss 
der  unbetontheit  und  dadurch  hervorgerufener  Verkürzung  ist 
ü  zu  u  (statt  ü)  geworden  in  nur,  numd  <  mhd.  nur,  *nür-?ne  {?); 
uf  geht  auf  die  form  uf  nicht  nf  zurück.  Lehnwörter  aus  der 
gemeinsprache  sind  doisik  {tausend)  und  goil  {gaul)]  ferner 
ai3rogs  {auerochs)  und  aidrhän.  Es  ist  nun  allerdings  auffällig, 
dass  das  aus  mhd.  ü  entstandene  nhd.  au  sich  in  den  zwei 
zuletzt  erwähnten  Wörtern  nicht,  wie  sonst  immer  (cf.  §  15), 
als  oi,  sondern  als  ai  rcflectieit;  wir  scheinen  demnach  in  dem- 
selben falle  zu  sein,  wie  oben  (§38)  mit  dem  vvorte  g{'i9r. 
Doch  liegen  hier  die  Verhältnisse  günstiger.  Mhd.  ü  und 
mhd.  ou  sind  in  der  nhd.  Schriftsprache  nicht  bloss  wie  mhd.  i 
und  mild,  ei  in  der  Schreibung,  sondern  auch  in  der  ausspräche 
zusammengefallen.  Der  Ottenheimcr  konnte  also  wol,  wenn 
er  der  nlid.  Schriftsprache  ein  wort  cutlehnte,  das  er  auch  in 
erl)wörtlichcr  form  besass,  von  seinen)  spracligefühle  angeleitet 
werden,  welchen  der  beiden  laute,  die  er  für  das  au  der 
Schriftsprache   zu   gebrauchen   gewohnt   war,    er    im  einzelnen 


MUNDART  VON  OTTENIIEIM.  225 

falle  einzusetzen  habe.  Bei  Wörtern  al)er,  welche  der  niundart 
vollständig  abgiengeu  —  und  das  war  mit  der  bezeichnung 
der  beiden  fremden  tiere  zweifellos  der  fall  —  fehlte  ihm  jedes 
kriterium.  So  konnte  es  kommen,  dass  er  einmal  aucli  für 
das  aus  u  entstandene  au  den  lautcomplex  einsetzte,  der  ihm 
für  das  aus  ou  entstandene  geläufig  war. 

-  §  42.  An  stelle  von  mhd.  uw  oder  iuw  erseheint  oi  in 
folgenden  Wörtern:  boiJ  {hauen)  <  bütven;  broid  <  brüireu] 
drol9  <  trÜTven]    soi  <  sü,  gen.  siuwe;    koi9  <  khüveyv^  gnoi? 

<  kniwven\  roid  <  rhuven\  gsrol9  (gescln-ien)  <  geschriuwen. 
Auch  füi"  sbou^  (speien)  ist  wol  ein  etymon  '^spiiuren  oder 
*spüwen  neben  dem  gewöhnlichen  sphven  anzusetzen. 

Aus  hüv  kann  dieses  oi  nicht  lautgesetzlich  entwickelt 
sein,  da  dieses,  wie  unten  gezeigt  werden  soll,  vielmehr  ci  er- 
gab. Es  ist  also  für  die  Wörter  mit  iiirv  die  unumgelautete 
form  zu  gründe  zu  legen  und  das  lautgesetz  so  zu  fassen:  nw 
(vor  vocal)  wird  zu  oi. 

Man  beachte  den  parallelismus  dieser  entwickelung  mit 
derjenigen  von  «'""'   zu  ei. 

%  \\^.  Mhd.  Ö  wird  zu  r  oder  e:  öl  <  el\  eh  <  '*öh,  oh\ 
etrr  <  '*öher,  ober]  weif  plural  zu  wo//";  egsl  {kleiner  oehse)  etc. 

Wie  0  und  u,  so  wechseln  auch  deren  umlaute,  so  dass 
nun  mitunter  ein  e  der  mundart  einem  mhd.  ü  gcgeniiborstoht: 
shreiJs^  <  '■-.ytrolzen,  sj)7-üf:e)r,    ken9  <  können,  künnen. 

Vor  r  wird  dies  aus  mhd.  ö  entstandene  e  zu  e:  derf 
{dorl)\   der9  {dörren):   drrp  {dürfen)]    n-erdr  plur.  zu  fror/. 

§  41.  Mhd.  rt'  wurde  zu  r":  hbfl  <  hUrdey  blifsli  <  Hlirz- 
iirhe  zu  h/az]    Jiechr  coniparativ  zu  hdch\   nfdi  {nötig). 

Vor  ;•  tritt  für  (f  f  ein:   nfri  demin.  zu  rör. 

§  4r).  Mild,  ü  wurde  zu  y  oder  ij:  kyni  (neben  fVcmdwört- 
liehem  kenik)  <  ki'mec\   myn'ch  <  tnibienh;  kynhäs  {kaninchen) 

<  kün/in\  dsip>.d9  <  zünden]  In/lds9  <  hülzen  {hölzern)] 
b.idgrfdik  {bedürftig);  bijrdslo  {purzeln)]  hyl  <  hühel\  nif/l 
{tnülile)]   hfpi  {Speicher)  <  Inhic. 

Auffallender  weise  cntsj)richt  einem  mhd.  spibii  ein  g.iblrP 
(statt  *gsbijr9)  der  mundart.  wie  wenn  eine  form  '^spiuren  zu 
gründe  läge. 

§  46.     Mhd.  iu  wurde  zu  /  oder  v.    sifdsd  <  siiifzen]    dids 

<  t  tut  seh]  suids.^  <^  sniuzeu]    liil  {heule,  haute)]  ridl  {pflugreute) 


226  HEIMBURGER 

<  r Intel]  hll  <  h'mlc\  grids  <  kriuze;  si9  <  schiurven\  siri 
(säure)'i  diwi  {taubemreibchen);  drhvl  {(raube)  <  Iriubel]  il  < 
hüe]    Michiii  deniiiiut.  zu  slücJ>e. 

iuw  vor  vocal  ist  ri  geworden:  drei  <  trimve\  nei  < 
nhüve\  g^bei  <  gebiutve\  eldr  <  m?rer;  eich  (unbetont  ich)  < 
ii/ch  abd.  i'uH'ih  berubt  vielleicbt  auf  anlebnung  an  ei9r.  Fremd- 
wort ist  dei/1  <  1 121  fei. 

Dieses  ei  stebt  im  umlautsverbältnis  zu  dem  aus  fw  ent- 
standenen oi  (of.  §  42).  Docb  ist  der  wecbsel  meist  durch  aus- 
gleicb  beseitigt.  Erbaltcn  ist  er  nur  in  soi  {schrDcin)  —  seili 
(demin.)  und  boi9  {bauen)  —  g^bei  {gebäudc). 

Der  offene  /-laut  statt  des  gescblossenen  findet  sich  in 
frynt  <  vriunt,  wol  wegen  des  folgenden  nas.  -f  cons.  (cf. 
§  38  und  §  28). 

§  47.  Mbd.  ei  erscheint  als  ^i:  ^'ich  {eiche)\  ^il  {eid)-^  p9 
{eige)i);  r^in\  k^isr;  leip  {laib);  sd^in  [stein)]  b^in\  gfis  {ziege); 
^id9\  sr^i;  leitnd  {lehni)\  mpdl  <  rneif  maget\  sfU  {er  sagt)] 
mit  eigentünilicber  debnung:  nei  <  7icin.  Statt  ei  erscheint  c 
in  he  (kein),   kenr  {keine?'),    unbetont  kp\ 

§  48.  Mhd.  ou  ist  zu  ui  geworden:  ai  {augc);  ai  {auch)] 
glaitv3  {glauben)]  laifd  {laufen)]  draim  {träum)]  raiu)  {rahm, 
sahne)  <  rouni]  dui  {tan)]  sdrai  {sfroh)  <  sirou]  rai  {roh)  < 
rou]  lai  {lauge)]  aigsl  (nionat  augiist)]  drai?  <  dromven  {drohen)] 
gnai  {genau)  <  noinvc. 

§49.  Mhd.  öu  ist  zu  (•/  geworden,  also  mit  mbd.  ei  zu- 
sammengefallen: hei  {heu)  <  hiJu,  neben  der  unumgelauteten 
form  hai  <  hou]  frpf  <  fröudc]  gfi  <  göu]  reich?  <  rauchen 
zu  rouch]  sdreifd  {abstreifen)  <  *s(röufen,  siroufen]  snrik 
{schnauze),  hie^igd  {schnü/feln,  naschen)  <  ''••snöukc{n):  dass  hier 
öu  nicht  ei  zu  gründe  liegt,  beweisen  solche  alem.  dialekte,  in 
denen  mhd.  öu  und  ei  nicht  zusammengefallen  sind;  drpju  plur. 
zu  draim  <  Iroum]   bddi^iwd  {betäuben). 

§  50.  Mhd.  ie  erscheint  als  yd:  lydcht  {licht)]  lydjd  {lügen)] 
stjdch  {siech,  nur  als  scbimjjfwort  gebräuchlich);  gryoi  {krieg)] 
gryds  {kirsche)  <  kriesc]  dydnd  {dienen)]  dyap  {dieb)]  hyJ  {liier), 
hyasik  {hiesig)]  nyd]  nyomd  {niemand)]  ydmd  {jemand),  yonds 
{irgendwo)  —  aber  jeds  {jetzt),  jedr]  frlydrd  [verlieren)]  -ydrd 
in  verben  wie  rdgydrd  {regieren),   bahry9r9  {/M)'bieren). 

babir  <  papier  ist  natiirl.  fremdwort. 


MUNDART  VON  OTIENHEIM.  227 

§  51.  Mild.  HO  erscheint  als  ud:  ulnmds?  (almosen);  miiddr 
(jnutter)]  mudll  {mulde);  rudr  {ruhr)\  kud  {kuh)]  ruds  {russ  und 
Russe);  sbwldd  {spulicht)\  lu3ör  {luder)\  ?-udt  (rute);  b/Iu9i  {p/hq/)-, 
7'udi  {ruhe)  <  riio/ve;  fn9s]  hludm\  su9che  {siichen)\  gnud  {genug)'^ 
budi  (bug);    bud  {bube). 

§  52.  Mhd.  üe  ist  ya  geworden,  also  mit  mhd.  ie  zusammen- 
gefallen: hly9j9  <  blüejen]  hy?d9  <  Mieten]  grydsd  <  grüezen\ 
byds9  <  büezen;  rydfd  <  rüefen\  mydt  <  müede\  7ny9i  < 
müej'e;  rydrvik  <  *f'üeivec,  j'uowec  {ruhig);  dydn  <  '*lüen, 
tuon\  myan  {müssen)  <  *fnüen,  müezen;  nydchdr  {nüchtern)  < 
nüechler. 

Quantitätsveründerungen  der  vocale. 

VocalkUrzung. 

§  53.  Yoealkiirzung  hatte  im  allgemeinen  statt  vor  mehr- 
facher cousonanz;  fynl  {feind)  <  fint\  frynt  <  fr'mnl\  el'f 
{elf)  <  einlif]  dswansik  <  zive'mzec  (mit  unerklärtem  Übergang 
des  ei  zu  a);   dislt  oder  disl  {deichsei). 

Nicht  wesentlich  davon  verschieden  ist  der  fall,  wo  ein- 
fache coneoiianz  die  silbe  schliesst;  daher  swop  (Sckwabe),  aber 
plur.  sfvdn'9. 

§  54.  Gewisse  consonanten  und  consonantenverbindungen 
aber  bewirken  bloss  Verkürzung  eines  vorhergehenden  i,  i),  in, 
nicht  aber  eines  andern  langen   vocals;    es  sind  dies  folgende: 

1.  Jit  {cht),  ft  und  67:  licht  {leicht);  hicht  {beichte)]  ficht 
{feucht)]  aber  docht  <  tächt]  brbcht  <  lirächl]  sifds?  <  sinf- 
zen]  —  aber  glöfdr  <  kläfter:  fük  <  füst]  lüsddrd  <  lüstern] 
dsisdi  <  zistttg]  —  aber  ro.sY  {la  grille)]  drost  {trost)]  ösdars 
{ostern). 

2.  z  und  :;:  hrids  {Schiveiz)]  grids  <  kriuze]  snidsd  < 
sniuzen;  sbidsld  <  spiiizen;  aber  /leds^  {ßözen)]  —  üs  <  fiz,] 
sdrüs  <  striiz,;  smis9  <  s?mz,en]  sisd  <  schiz,e?i;  ßsi  <  vliz,ec\ 
—  aber  gros  <  gröz,]  rces  <  r(ez,e]  reso  <  r(ez,en]  sdros  < 
slräz,e]   mos  <  mäz,e. 

mifsd  {mausern)  <  müz,en  beruht  wol  auf  \olksctymo- 
logischer  anlehnung  an  mifs  {maus)  und  das  davon  al)geleitete 
w/r.s-p  {naschen,  stehlen). 

Mhd.  ä    erscheint  vor  z,  verkürzt  in  los  {ich  las.<;e)  <  Id^e 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  sprnche.     Xlll.  l(j 


228  HEBIBURGER 

und  ablas  {ahlass)\  hier  liegt  wol  aiialogic  nach  denjenigen 
formen  des  veibunis  Zossen  vor,  in  welchen  lautgesetzlich  Ver- 
kürzung des  ä  eintrat,  weil  auf  das  ?  noch  ein  consonant  un- 
mittelbar folgte. 

3.  /■  =  urgerman.  p:  hßfd  {pfeifen)\  grifd  {greif eii)\  slifd 
{schleifen)]  sdif  {steif)]  hüf9  {hmifen)\  süfd  {saufen)]  rifü>  {pruiwi)\ 
aber  sbf  {schaf)]  slöfd  {schlafen)]  —  sii^fl  {schau fei)]  miffd 
{schiaufen),  weil  hier  altes  /  vorliegt. 

4.  ch  =  ahd.  hh  =  got.  germ.  k:  slichd  <  slkhen;  kicho 
{keuchen)  <  kichen]  dich  <  lieh]  wicho  <  wichen]  rieh  < 
7Hch]  licht  {leiche);  buch  {bauch)  <  buch]  büchd  <  buchen] 
düchd  <  tüchen]   aber  sbröch  <  spräche. 

5.  seit',   rüs  <  rüsch]   rüs9  <  rüschen. 

6.  t:  üdr  <  üter  {euter);  lüt  <  lüt]  hüf  <  hüt;  grüt  < 
krüt]  lüdr  <  lüter\  bidl  <  biulel]  ridl  <  riutel]  didd  <  diule^i] 
hit  <  Ä/w/e;  W27  <  tvit]  sdrit  <  ^^n/;  h^idd  <  sehnten]  rid? 
<  n/e«;  aber  i/oc?/-  {blase)  <  bläter;  ödm  <  tJ/^/n;  rfö/  <  /o/; 
560^  <  späte]   söt  <  5«/;    /*erfr  <  Peter. 

Ebenso  findet  vor  p  Verkürzung  des  ü  statt  in  rüp  {raupe). 
Andere  beispiele  mit  p  sind  mir  nicht  zur  band. 

Ob  auch  k  solche  Verkürzung  eines  vorhergehenden  langen 
i,  ü,  iu  bewirkt  hätte,  lässt  sich  nicht  entscheiden,  da  es  nur 
nach  mhd.  ä  vorkommt  in  den  beiden  Wörtern  hög9  {haken) 
und  snök  {schnake). 

§  55.  Wol  durch  einwirkung  des  in  den  nom.  herüber- 
genommenen -en,  resp.  n  des  casus  obliqui  ist  Verkürzung  ein- 
getreten in  bwre  {ßschernetz)  <  mhd.  bere.  Wenig  ist  zu  iveni 
geworden  wol  unter  analogischer  einwirkung  der  form  wen. 

Vocaldehnung. 

§  50.  Vocaldehnung  ist  im  allgemeinen  eingetreten  vor 
einfacher  consonanz  d.  h.  in  offener  silbe:  ew9  <  üben]  gräp, 
grervr  {grab,  grober)]  odlr  <  adelar]  dädl  {tadel)]  wcei  {weg)] 
aber  d7va;k  <  enwüc]  säjd  {sagen)]  nägl]  male  {mahlen)]  dyle 
masc.  {diele)]  färd  {fahren),  dazu  fifri  {fertig)]  byr  {birne)] 
bcesd  <  biiseme]  häfd  <  hafen\  sijfr  {schiefer)]  sdyfl  {stiefel)] 
güf  {Stecknadel). 

hef  {hefe)   geht   nicht  auf  heve,   sondern  auf  hejfe  zurück. 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  229 

hof  plur.  ht'f  {ho/',  höfe)  beruht  auf  veiallgenieiucruno:  der 
quantität  des  uom.  siug.,  wo  /  silbescbliesseud  war,  mitbiu 
dehuung  verbinderte.  Die  nbd.  gemeinspraebe  bat  im  gegeii- 
teil  die  quantität  der  tiectierten  casus  verallgemeinert  und  die 
quantität  der  unfleetierten  form  nur  in  isolierten  formen  wie 
Iloffmann^  Osthoff  etc.  bewabrt. 

In  ungJdsyfr  (lüKjeziefer)  ist  die  kürze  wol  unter  einfiuss 
der  tiectierten  formen  mit  s_vnko])c  des  e  wider  hergestellt 
worden. 

In  la'hkudchd  <  lehekuochen  muss  das  e  ausgefallen  sein, 
ebe  dehnuug  eintrat, 

Silbeschliessendes  r  hat  debnung  nicht  verbindert:  thr  {er)\ 
7nyr  (mir  und  w/r);  dd'r  {der)\  )vfr\  fdr\  aber  fyr  {für)  und 
dessen  composita  fyrsl  {für  sich  d.  i.  vorwärts)  und  fyrfuds 
{vorderer  teil  des  fusses):  das  simplex  ist  unter  proklise  kurz 
geblieben,  und  die  composita  haben  sieb  nach  ihm  gericiitet. 

Auch  vor  silbebeschliessendem  /  scheint  debnung  statt- 
gefunden zu  haben;  darauf  hin  weisen  formen  wie  H'älst 
{ffallslatt,  gewannname);  wdlfys  {ivallßsch)]  7väiros\  ytrräl 
{üheraU). 

Vor  rr  scheint  debnung  eingetreten  zu  sein  in:  fryro  {ver- 
irren): dies  beruht  wol  auf  angleicbung  an  formen,  in  denen 
lautgesetzlich  debnung  eintreten  musste,  wie  z.  b.  in  den  tiec- 
tierten formen  des  part.  praet. 

Höland  {Holland)  beruht  auf  anlehnung  an  hol  {hohl)]  fl 
(so  heisst  die  eile  in  alem.  und  fränk.  dialekten)  gebt  auf  eine 
form  ele  zurück;    dagegen  rldixyo  aus  einböge. 

§  57.  Eine  scheinbare  ausnähme  von  der  an  die  spitze 
des  vorigen  §  gestellten  regel  machen  viele  Wörter  mit  ein- 
fachem h,  welche  debnung  nicht  eintreten  lassen:  grop,  groivr, 
grotri  {groh)\  sdup  plur.  sduive  {stuhe)]  hnvd  {hebe)i);  syw9 
{siehe)})]  on-9  {oben)]  gatrl  {gäbet}]  gauvl  {giebel)]  ncetrl  [nebel): 
yivl  {ilbel);  bynl  {bibel)]  grytiid  {grübelii)]  hon'l  {hohel)]  gneivl- 
bärt  {knebelbar t)]  dsywl  {ztviebel)]  dsawl9  <  zabelen  {zappeln); 
harrr  {hafer)]  awr  {aber);  dsnwr  {zubcr)]  ywr  {über)]  ir/rr 
{eber)]   überhaupt  die  meisten  Wörter  auf  -bei  und  -ber. 

grop,  growi  und  sdup  sdun-9  erklären  sich  wol  als  Verall- 
gemeinerung der  quantität  der  untlectiertcn  form,  indem  bei 
Stube  das  e  abtiel,  bevor  die  dehuung  eintrat. 

IG* 


230  HEIMBURGER 

Die  übrigen  l)eispiele  finden  ihre  erklärung  darin,  dass 
ursprünglich  doppelfornien  mit  kürze  und  länge  entstanden,  je 
uaehdem  die  endungen  -en,  -ei,  -er  ihr  vocalisches  elemeut  be- 
wahrten oder  nicht  (cf.  Paul,  Beitr.  IX,  114ft".),  und  dass  diese 
doppelheit  dann  durch  ausgleichung  beseitigt  wurde. 

Von  Wörtern  mit  g  haben  kürze  bewahrt  diejenigen  auf 
-igel:  rgl  (ige/),  rogl  {rlegel),  sdre^l  {strieget).  Alle  anderen 
haben  ihren  voeal  gedehnt. 

Ferner  ist  kürze  erhalten  in  injdr  {wieder)  und  odr  {oder). 

§  58.  Die  Wörter  mit  m  oder  n  haben  zwar  teilweise 
dehnung  erfahren:  an  {an)]  fand  masc.  {/"ahne);  hf/n  (hin);  yn9 
{Ihnen);  da-ne  (dat.  plur.  zu  der)\  gräm,  grditnd  etc.  In  den 
meisten  fällen  ist  al)er  kürze  erhalten:  hami  {hammel);  kamr; 
bra-m  {bremse);  namd  {name)\  nceind  {nelnnen)]  kemd  {schämen)] 
lam  {lahm)]  dsam  {zahm)]  hyml  {hhnmel)]  ym  {Umi)]  frem  {wem)] 
ram  fem.  {der  rahmen),  trams  {einrahmen);  ivend  {jven):  hier 
kann  die  kürze  auch  auf  angleichung  an  den  dat.  wan  be- 
ruhen; fiwii  {honig)]  kyni  {könig)  neben  fremdwörtlichem  kenik] 
sbanis  {spanisch). 

§  59.  Vor  t  ist  last  durchweg  kürze  erhalten:  bad9 
{nützen)  <  mhd.  baten]  bot  <  böte]  frbodd  {verboten)]  jwdd 
{jaeten)]  drwdd  {treten)]  bwdd  {beten);  gnwd3  {kneten);  fadr 
{vater);  kudl  {darni)]  grot  {kröte). 

Eine  ausnähme  machen  bloss:  glmdsro  {klettern)]  snädoro 
{schnattern)]  Öddnd  {Ottenheim)]  —  g^iödJ  {knoten)  kann  auf 
die  nebenform  mit  d  mhd.  knode,  ahd.  chnodo   zurückgehen. 

§  60.  Sehr  auffallend  ist  die  dehnung  in  folgenden  fällen: 
scek  <  mhd.  schecke]  drosdl  {drossel)  <  mhd.  drostel;  grd'ds 
<  mhd.  kretze,  wobei  auch  die  Vertretung  des  mhd.  e  durch 
ce  unerklärt  bleibt;  was  <  waz]  sa'nfsl  {brennessel)  <  mhd. 
nez,2,el:  hier  liegt  vielleicht  rein  lautliehe  analogie  nal  esl 
{asinus)  vor. 

§  Ol.  Dehnung  hat  auch  stattgefunden  vor  m  {mm)  < 
mhd.  mb:  ymds  <  mhd.  imfnz;  ytn  {hiene)  =  mhd.  ymbe;  grüm 
{krumm)  <  mhd.  krump,  aber  grumholds  {wagncr)]  kämd  {kämm 
eines  vogels)  <  kambe.  Dagegen  ist  kürze  erhalten  in:  dum 
=  mhd.  tump]  dsymrman,  dsymdrd  <  mhd.  zimber-]  um  == 
mhd.  umbe]    sdum.     Es  müssen  also  wol  doppelformen  bestan- 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  231 

deu  luibcu:  dump  —  düiMs,  griunp  —  yrümas,  welche  durch 
ausgleich  nach  verschiedener  richtung  beseitigt  wurden. 

um  erklärt  sich  als  eutwickelung  unter  proklisc. 

Bei  dsynidro^  dsijmrman  kunimt  die  entwickluug  der  silbe 
-er  (r)  in  betracht  (cf.  §  57). 

§  62.  Dehnung  ist  ferner  eingetreten  vor  der  lautgruppe 
ht  (chf):  rd'cht  {recht);  njchde  (richten)]  gnjcht  {gericht,  ge- 
richtet); ffijcht;  sucht]  sijchdr  {schüchtern)]  yslächt;  gslcccht 
{geschlecht)]  nacht;  wacht;  rvächdl  {wachtet)]  acht]  f(echd9  {fech- 
ten)] sldicht  {schlecht);  sccchdsi  {sechzehn),  sd'chdsik]  gsycht 
{geschichte)]  gwycht]  dochdr  {lochter);  mccht  {möchte);  dsücht 
{zucht)]  frücht  {getreide);  füchdld  {fuchteln)  etc.  Dagegen  ist 
dehnung  unterblieben  in:  hecht  <  hechet;  jacht  {Jagd)  und  in 
deu  fremdwörtern:  bracht  {pracht),  hra'chdik]  pacht  und  cccht 
{echt)  neben  cccht.     Man  vergleiche  hierzu  §  54, 1. 

§  63.  Besonders  zu  betrachten  sind  nun  noch  die  r-ver- 
bindungen. 

a)  Beispiele  mit  rt  {rd). 

Dehnung  hat  stattgehabt  in:  swdrt  {schwarte)]  ärt]  hart] 
gdrd9  {garten)]  kärt  {karte)]  mdrdr]  ward?  {warten)]  tvdrls  {ohr- 
feige)] Luidhdrt  {bergname)]  gfrf  (gerte)]  hd'rt  {herd  und  hcrde)\ 
ird'rdi  (n-erktag)]  wd'rt  (wert)]  hyrt  (hirfe)]  yrdo  {irden)]  ort 
neben  häufigerem  ort]  gürt,  gyrdd  {gürten)]  hurt  {hürde)]  tdrt 
(torte). 

Diesen  stehen  mit  erhaltener  kürze  gegenüber:  Mardln 
neben  Mdrdi  {Martin)]  hrrt  {hart)]  drrt  {dort)]  mrrdl  {mörtel)] 
-hart  als  zweiter  teil  von  eigennamen  wie:  Alba'rt,  Robart] 
Bardd  {Uertha),  Dccrtold]  wart]  fordl  {vorteil)]  mort]  bordo  {hor- 
ten)] gehurt]  fürt  {fort)]  wurt  {er  wird). 

b)  Beispiele  mit  rz. 

Dehnung  weisen  auf:  hdrds,  wdrdsl  {warte)]  krrdsjgrdt 
{kerzengerade)]  sniyrds9  {schmerzen)]  hyrdsl  {hürzel)]  hyrdsl» 
{purzeln)]  sdyrdsd  {stürzen)]  wnrdsl]  furds,  fürdsO]  kürds  neben 
kurds. 

Dagegen  ist  kürze  erhalten  in:  sn-ards]  hards  {herz)] 
snifcrds  {schmerz,  trotz  s?nyrds9!)]  sbyrds  (eigenname);  Kyrdsl 
{A'ürzell,  namc  eines  dorfcs,  welches  aber  von  seinen  eigenen 
bewohuorn  hyrdsl  gesprochen  wird). 


232  HEIMBURGER 

c)  Beispiele  mit  rs  (rs). 

Gedehnt  erscheiueu:  a;\v;  farss  mase.  {die  ferse)]  fcers 
{vers)\  Urs  {Ursuld)\  —  kürze  haben  bewahrt:  bars  {groh)\ 
b^rsi  {der  barsch)]   mars\   mors]  lujrs. 

d)  Beispiele  mit  rst. 

Dehnung-  liegt  vor  in:  gcbrsl  {g erste)]  fijrst  {dachfirsl)] 
bf/rsds  {bürsten)^  bijrsl]  dürsl]  wnrsl]  bürsl  {bursche)]  Hürsllach 
(gewauuname);  Jlyrsdr  (eigeuname).  Kürze  haben  bloss:  f^rsdr 
{förster)  und  fijrst  {fürst)  bewahrt,  welche  aber  wol  beide  als 
fremdwörter  zu  betrachten  sind. 

Man  sieht:  unter  a)  b)  und  c)  finden  sich  sowol  bei- 
spiele  für  dehuung  als  solche  für  erhaltung  der  kürze. 
Es  ist  also  auch  hier  eine  doppelte  entwickelung  anzu- 
nehmen, indem  die  flectierten  formen  den  vocal  dehnten,  die 
unfiectierten  kürze  beibehielten,  eine  doppelheit,  die  später 
durch  Stammausgleichung  wider  beseitigt  wurde.  — 

Bemerkenswert  ist,  dass  die  isolierten  formen  d^rt  {dort) 
und  fürt  {fort)  übereinstimmend  kürze  bewahrt  haben.  —  Wo 
noch  schwanken  herrscht  (z.  b.:  kurds  —  kürds),  ist  dies 
schwerlich  auf  erhaltung  der  alten  doppelheit  zurückzuführen, 
sondern  eher  dem  einfiuss  der  schule  zuzuschreiben.  Es  zieht 
auch  durchweg  die  ältere  generation  die  länge,  die  j  üngere  die 
kürze  vor. 

Ob  auch  in  den  unter  d)  angeführten  fällen  ursprünglich 
doppelentwickelung  bestand  und  nur  zufällig  durch  stamm- 
ausgleichung  nach  derselben  richtung  durchweg  zu  guusten 
der  länge  beseitigt  wurde,  mag  dahingestellt  bleiben;  doch 
macht  die  analogie  der  übrigen  fälle  es  wahrscheinlich. 

§  64.  Von  Wörtern  mit  /•/  haben  dehnung  erfahren:  Karl] 
frl  {erle);  fori  {fahre)]  —  dagegen  haben  kürze  bewahrt:  kccrl 
{kerl);  Kyrl  {Quirin).  Hier  scheint  also  in  der  unfiectierten 
form  länge  eingetreten  zu  sein  mit  entwickelung  eines  svara- 
bhaktivocals  zwischen  ;•  und  /,  während  in  den  flectierten 
formen  beides  unterblieb. 

§  65.  Vor  rg  ist  länge  entstanden  in  äri  {arg);  überall 
sonst  liegt  kürze  vor:  ^rjr  {der  ärger  und  comparat.  zu  arg)] 
burjr  {hürger).  Hier  ist  also  die  alte  doppelentwicklung  noch 
erkennbar  in  äri  —  pyr. 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  233 

Id  allen  andern  fällen  ist  sie  zu  guusten  der  formen  mit 
erhaltener  kürze  getilgt  worden. 

§  66.  Vor  den  anderen  /--Verbindungen  ist  durchweg  kürze 
erhalten:  Ba'r'p  {Barbara)]  rr-'p  {erbe),  ip'tr9  (erben);  dor'f\  sarY, 
spYf,  myr^p  (fnürbe);  far^p,  ftcnvd  {färben)]  sdwriid  {sterben)] 
dc^rfd  {dürfen);  (cru-Jl  {arbeit)]  nucr'k  {markt)]  b^dsyr'k  {bezirk)] 
sdor'k  {storch)]  arm,  p'mr]  sdurm]  fcern  {voriges  Jahr)]  körn] 
dorn]  karb9  {karpfen)]  ar'ch  (arche)]  kyj-'ch  {kirche)]  hiar'chlJ 
{schnarchen)]  hor'chd  {horchen).  Sogar  Verkürzung  liegt  vor 
in  Ip-'ch  {lerche). 

Svarabhakti. 

§  67.  Gewisse  ;--  und  /-Verbindungen  haben  entwickelung 
eines  vocals  aus  dem  Sonorlaute  r  oder  /  hervorgebracht.  So 
tritt  zwischen  Ich,  ly,  Ik]  rch,  ry,  rk  ein  parasitisches  /  auf: 
kcl'ch]  myl'ch  {milch)]  dol'ch]  mwl'yd  {melkeii)]  baPyd  {balken)] 
foPk  {volk)]  fal'k;  sal'k  {Schalk,  nur  als  eigenname  gebräuch- 
lich); fvccl'k  {welk)]  —  dur'ch]  bfp'*ch  {pferch)]  dstvar'ch  {quer); 
kyr'ch]  or'gl  {orgel)]  bar^k  {verschnittenes  männliches  schn-ein)] 
mcer'k  {?narkt)]    /vcer^k  {werk);   sdor'k  {storch);   dswcer'k  {zwerg). 

Wo  rg  im  auslaut  stand,  ist  nach  entwickelung  des  para- 
sitischen i  das  g  weggefallen:   äri  {arg)]   bceri  (bcry). 

Als  svarabhakti-/  ist  wol  auch  anzusehen  das  i  in  mansch  und 
myn'ch  {manch),  rl  entwickelt  nach  langem  vocal  svarabhakti, 
indem  /  silbebildend  wird,  nach  kurzem  nicht:  Karl]  erl  — 
aber  ka^rl]   Kyrl  (cf.  §  64). 

Zwischen  //  und  rp  entwickelt  sich  ein  parasitisches  d: 
el'f]  dsweVf]  far^ji  {färbe);  tnijr^p  {mürbe);  el)enso  in  sanfft 
{senf). 

Doch  ist  dieses  d  lange  nicht  so  deutlich  wahrnehmbar, 
wie  das  oben  erwähnte  parasitische  /. 

Alle  diese  svarabhakti-erscheinungcu  sind  übrigens  unter 
dem  einfluss  der  schule  im  verschwinden  begriffen. 

B.   Consonanten. 

Explosivlaute. 
§  68.     Mhd.   b    erscheint    im    anlaut    als   b:    bäbst]    bachJ 
{backen)]   bwri  {berg)]   bedi  {beide)]    byndJ]  bot  {böte)]  bio  {bube)] 
bludt  {blut)]    buds<)  {putzen)  <  mhd.  butzen]    byrdsl3  {purzeln) 


234  HEIMBURGER 

=  mild,  burzeln^  burzen]  —  nur  das  b  der  vorsilbe  be-  ist  mit 
einem  die  Stammsilbe  anlautenden  h  zu  p  versclimolzen  (cf. 
§  19):  pakld  {behallen);  pcelfe  {hehelfen)\  umpolfd  {imbe1iolfen)\ 
pylfVi  {behülfUch). 

Auslautendes  oder  in  den  auslaut  tretendes  b  erscheint 
als  p:  kalp\  hap  {habe)]  (jrusp  {grübe)]  sip  {scheibe).  Abfall 
eines  in  den  auslaut  tretenden  b  liegt  vor  in  bud  {hübe)  und 
7'ä  {herab)  <  -abe. 

Vielleicht  erklärt  sich  das  so,  dass  man  formen  wie 
*buep  —  budwd,  ap  —  '^-äwd  neben  einander  hatte;  dass  das 
w  dann  auf  analogischem  wege  auch  in  die  erstgenannten 
formen  eindrang  und  dann,  als  im  auslaut,  abfiel.  Aehnlich 
erklärt  sich  auch  gy  statt  '^gyp  {ich  gebe). 

Inlautend  ist  b  zwischen  zwei  vocalen  oder  nach  /_,  r  vor 
vocal  zu  TV  geworden:  öjvd  {abend)]  otvd  {oben);  hcwd  {heben)] 
gluwd  {klauben)]  glaiwd  {glauben)]  gawl  {gäbet)]  gcewl  {giebel)\ 
gnowlaich  <  knobelauch]  budivd  plur.  zu  bud  {bube)]  sdurve 
plur.  zu  sdup  {stube)]  dsawld  <  zabeln  {zappehi)\  balwydrd  {bar- 
bieren)] sahvd  {salben)]  halrvr  {halber)]  kdrvr  plur.  zu  kalp] 
dcebvd  {graben)  <  tülben]  hawr  {hafer)]  mrivdt  {arbeit)]  frdcerwd 
{perire)]  frdi^rwd  {perdere)\  swrwd  {scherbe)]  Bcerrvl  deminut. 
zu  ßcerp  {Barbara).  Einem  mhd.  traben  entspricht  drabd  ^  als 
ob  '^'trappen  zu  gründe  läge. 

mb  ist  (lautgesetzlich  wul  nur  im  inlaut)  zu  m  geworden: 
eimr  <  eimber]  dsymr  <  zimber]  Muni]  dum]  ymds  <  imbiz; 
ym  <  imbc]  blomrdJ  <  brämberc  mit  auffälliger  Verkürzung 
des  vorhergehenden  vocals. 

§  69.  Mhd.j9  erscheint  vor  consonanten  stets  als  b^  daher 
natürlich  auch  pf  als  bf:  bfol  {pfal)]  bfund]  bfrdsri  {pate)  mhd. 
pfetter  <  patrinus]  bfluoi  {p/lug)]  syrbfd  <  schür pfeu]  sdubfl 
{stoppet)]  sdabfl  {treppe)  <  stapfei]  bris  {preis)]  b^cesd  {pressen)] 
blöi  {plage)]   blads  {platz). 

Ebenso  erscheint  inlautendes  p  oder  pp  vor  vocalen  stets 
als  b:  rabd  plur.  zu  rap  {rappe)]  jobd  <  joppe\  lumbd  plural 
zu  lump]  grymbl  {gerümpel)]  symbl\  kabcbl  {kapelle)]  kabidl 
{kapitel)]   babi'r]   bäbdg^i  {papegei)]   babl  {pappet). 

Anlautend  vor  vocalen  entspricht  einem  mhd.  p  bald  />, 
bald  p\  bclds  {pelz)]  bulfr  {pulver)]  babir]  babl]  barddis  {para- 
dies)]    bandofl  {pantoffel)]    bcech  {pech);    bahnst  {pinsel)]    Baris 


MÜNDART  VON  OTTENHEIM.  235 

(Paris);  badrö'n  {palrone)\  basd  {passen)]  host  nebeu  post\  büß 
[pu/fen)]  bumbJ  [pimpen);  Böl  {Pole)\  büdl  {piidel)\  —  dagegen: 
Pedr  {Peter);  pedr  (eine  art  jacke);  pedrli  {pelersUie)\  pcersöu] 
pitr  {pimis);  pak]  piwt  {punki)\  palmsundi  {palmsonntag)\  pwrld 
{perlen)]   pcensiomjdrd  {pensionieren). 

Worauf  die  Verschiedenheit  der  behandlung-  dieser  Wörter, 
die  ja  alle  fremdwörter  sind,  beruht,  ist  nicht  ersichtlich. 

Statt  eines  pf  der  nhd.  Schriftsprache  erscheint  ein  b 
{<C  pp)  in  hiübd  {schnupfen)]  karbd  {karpfeii)  nihd.  karpfc  und 
karpe]  dsobd  {zupfen)]  sdubd  {stopfen)^  der  ahd.  nebenform 
stoppon  regelrecht  entsprechend. 

Andererseits  erscheint  mit  bewahrung  der  echt  hd.  form 
bf,  wo  die  nhd.  gemeiusprache  ndd.  einfluss  erfahren  hat,  in: 
bfybfis  {der  pips)]  sdmmbfl  {der  Stempel);  sdubß  {stoppel)]  grybf 
{grippe);   sobf  {schuppen). 

Auslautendes  oder  in  den  auslaut  getretenes  p  crscliciut 
als  p:  rap  {rappe)]   rüp  {raupe)]   kap]  lump. 

§  70.  Mhd.  g  ersclieint  anlautend  als  g:  gan  {gang)]  gen; 
gel]  gudt]  gyft;  gulds]  gros]  glyk  {glück).  —  Das  g  der  Vor- 
silbe ge-  ist  nach  ausstossung  des  e  mit  einem  die  Stammsilbe 
anlautenden  h  oder  k  zu  k  verschmolzen:  kalt  {gehalt);  kebl 
{gehoben)]  kcenk  {gehenk);  kungd  {gehinkt);  kaift  {gekauft)]  ka^nt 
{gekannt)]  kumd  {geko?n?nen).  Auffallenderweise  erscheint  J  für 
anlautendes  g  in  Jybs  {gips). 

Inlautend  vor  vocalen  ist  g  (ausgenommen  die  Verbindung 
7ig)  zu  j  {i)  geworden:  sd;j9  {sägen)]  ep  {eggen)  <  egen]  ds(fi9 
{zeigen)]  fid  {eigen)]  gräjd  {kragen)]  fröjd  <  fragen]  lüp  masc. 
{lüge)]  iy9jd  {lügen);  wurp  {würgen)]  morjd  {le  matin),  aber 
morn  {demain)]  folp  {folgen)]  galjd  {galgen);  mrdsjr  {metzger)] 
sieis  (sense)  <  sögense]  —  mit  vorhergehendem  i  (nicht  y)  der 
mundart  ist  dieses  j  zu  i  verschmolzen:  dsid  {zeuge)  <  ziuge, 
aber  frswyp  {verschwiegen). 

Vor  der  silbe  -el  (/)  ist  g  in  der  regel  erhalten:  kegl]  lögl 
<  läget]  sbydgl  {spiegel)]  btvr'gl  dcmin.  zu  ba-ri  {berg)]  gur'gl] 
or'gl;    wägt  {wiege). 

Dagegen  ist  es  zu  g  geworden  in  den  Wörtern  auf  -iget: 
?Z^>  '>'?P  und  sdregl.  Eine  abweichende  eutwickcluug  scheint 
auch  der  lautgrup])e  -w/el  zuzukommen;  wenigstens  haben  be- 
nachbarte dialckte  für  das  cinziffc  hier  iu  betracht  kommende 


236  HEIMBURGER 

wort  kugel  die  form  koU  (mit  silbebildeudem  /).  Die  Otten- 
heimer  muudart  selbst  hat  allerdings  kiCgl,  welches  sich  aber 
auch  schon  durch  das  ü  an  stelle  von  mhd.  u  als  fremdwort 
erweist.    Fremdwort  ist  jedenfalls  auch  sbar'chl  {spargel). 

Vor  consonaut  ist  inlautend  <j  erhalten:  fogt  <  vogt\  gs- 
hredigt  {gepredigt)  \  Hügswir  {Hugsrveier).  Formen  wie  jäit  {er 
jagf)\  nfif  {regt),  sdtf  (steigt)  gehen  entweder  auf  Jaget,  reget 
zurück  oder  sie  beruhen  auf  analogie  nach  anderen  verbal- 
formen. 

Auffallend  ist  tnäk  {tnagd). 

Die  Verhältnisse  des  auslautenden  (resp.  in  den  auslaut 
tretenden)  g  erscheinen  durch  analogische  einwirkung  verwirrt. 
Lautgesetzlich  scheint  mir  zu  sein,  dass  auslautendes  g  nach 
vocalen  abfiel:  slä  {schlag  und  ich  schlage)]  drä  {ich  trage)-, 
da  {tag),  aber  däjdnächdl  {tag-  u.  nachthlume)\  dswi  {zweig)\  gl 
{geige)]  flu  {fl^^o)\  dsü  {zug);  dsfi  {zeige);  ai  {äuge);  lu9  (luge); 
gnud  {genug).  —  Vielfach  ist  aber  das  aus  g  entstandene  j 
der  flectierten  formen  auch  in  den  nom,  eingedrungen:  häi 
{hag)\  gläi  {klage);  hfUidi  {pßig);  budi  {hug);  gru9i  {krug); 
grydi  {krieg  und  ki-üge)\  dröi  {trog);  blol  {plage);  woi  {wage); 
ci  {egge);   frcei  {weg). 

g  ist  als  k  erhalten  in  deik  {tfig). 

n  erscheint  an  stelle  von  auslautendem  g  in:  inän  {ich 
mag).  Von  einer  lautlichen  entwickelung  kann  da  natürlich 
keine  rede  sein.  Das  n  ist  auf  analogischem  wege  (s.  u.  §81) 
zunächst  in  den  ausdruck  /nä-ti-i  {mag  ich)  eingedrungen,  dann 
als  zum  stamme  gehörig  betrachtet  und  auf  die  übrigen  for- 
men übertragen  worden,  so  dass  es  jetzt  heisst:  i  man,  du 
7näns,    (er  man  {ich  mag,   du  magst,   er  mag). 

Nach  r  ist  auslautendes  g  abgefallen  mit  hinterlassung 
eines  svarabhakti-/:  ari  {arg);  bceri  {berg);  sor>.  {sorge);  byri 
{bürge);   J^ri  {Georg). 

Nach  /  ist  es  als  k  erhalten:  bal'k  {balg),  ng  ist  sowol 
in-  als  auslautend  zum  gutturalen  nasal  n  geworden:  anl 
{a,ngel);  cen  {eng);  syne  {singeii);  ryn  {facilis  und  annulus);  dsua; 
dyn  {ding). 

§  71.  Es  erübrigt  nun  noch  eine  bemerkung  über  das 
Suffix  -ig,  mit  welchem  -lieh  zusammengefallen  ist.  Im  aus- 
laut   wurden    diese    beiden    suffixe    zu    /:    kyjii    {könig)\    himi 


MUNDART  VON  OTIENHEIM.  237 

(honiff)]  dsidi  {zeit ig,  reif);  f(}ri  {fertig)]  sivli  {verstorben); 
weni  {/renig);    seli  {sehr)  <  sölich;  n-i^'idli  {hurtig);  frili  {freilich). 

In  den  flectlerten  formen  mit  consonantischer  eudung- 
musste  das  g  eibalten  bleiben:  s  kijnigs  {des  königs). 

Von  da  aus  drang  das  g  dann  aueb  in  die  andern  llee- 
tierten  formen  ein,  so  dass  es  jetzt  beisst:  ce  dsidigr  ebfl  {ein 
reifer  apfel),  wundrligi  li(  {wunder/iche  leute). 

Endlieb  wurde  dieses  g  dann  aucb  auf  die  unflectierte 
form  übertragen,  wo  es,  als  im  auslaut  stebend,  zu  k  wurde, 
so  dass  nun  eine  form  auf  -ik  neben  die  lautgesetzlicbe  auf 
-i  trat  oder  aucb  diese  ganz  verdrängte:  lifdik  neben  ledi 
{ledig);  Iwwik  {lebendig);  gijnsdik  neben  gynsdi  {günstig);  nagik 
{nackt);  nidik  {zornig);  wy3dik  {tritt end);  rydwik  {ruhig);  wundrUk 
neben  wundrti;  grceslik  {grässlich);  manyJrlik  (ordentlich,  von 
guten  jnanieren). 

Vollständig  durcbgedrungeu  ist  -ik  in  den  zebuerzablen: 
dswansik,  drisik  etc. 

An  diese  adjective  auf  -ig  bat  sieb  äri  {arg)  angescblossen, 
daber  die  flectierteu  formen  lauten:  ärigr,  drigi,  drigs;  aber 
der  comparativ  lautgesetzlicb:  <^'rjr. 

§  72.  Mbd.  k  erscbeint  anlautend  vor  vocalen  als  k:  kalp; 
kcelr  {keller);  kynt  (kind);  k^ip  <  keibe  (scbimpfwort);  körn; 
ki'Cm  {kautn);  dagegen  baben  g  die  französiscben  lebnwörtcr 
gäwaldrl  [kavallerie),  gdwal  {kavallerist),  gügük  {kuckuck).  Vor 
/,  /•,  n  ist  anlautendes  k  zu  g  geworden;  ebenso  erscbeint  qu 
als  gw.  gliCrve  {klauben);  gluddrd  <  klütern;  ghfin  <  klein; 
gmtcht  <  kni'cht;  gnobf;  gryQsd  {kirschen);  grids  {kreuz);  grüm 
<  krump;  gwcel  {quelle);  grvamdl  {quintche?i,  gewidü). 

Inlautend  k  und  ck  erscbeint  als  g:  högd  =  haken;  agr  < 
acker;  hagd  <  hacken;  angd  <  anke;  angr  <  anker;  dryngd 
{trinken);  dungl  {dunkel);  sungd  {schinken);  wagd  <  wackc; 
hal'gd  {balken);  wmVgd  {welken);  m^r'gd  {merken);  dyr'gis 
{türkisch). 

Auslautendes  oder  in  den  auslaut  tretendes  k  ist  als  k 
erbalten:  ka^k  {keck);  flyk  {flügge);  kal*k  {kalk);  mcerik  {markt); 
Byr'k  {Türke);  sdor'k  {storch);  bank  masc.  {die  bank);  drank; 
dank;  rvynk;  —  in  zwei  fällen  ist  auslautendes  nk  durcb  u  ver- 
treten: ran  {rank),  daneben  ein  plur.  ra^nk;  sau  {ausschank, 
büßet);  vielleicbt  liegen  liier  nebenformen  mit  ng  zu  gründe. 


238  HEIMBÜRGER 

§  73.  Mild,  d  crsclieiut  auch  iu  der  mundart  durchweg 
als  d\  uur  wo  es  iu  den  auslaut  trat,  ist  es  zu  /  geworden: 
ret  (rede)]   grdi  {gerade)  etc. 

Auffälligerweise  ist  inlautendes  d  in  allen  formen  des 
verbums  wwrd  {werden)  geschwunden. 

Anlautendes  d  ist  —  wol  unter  satzphonetischen  einfliissen 
—  getilgt  worden  bei  der  conjunction  as  {das). 

Auslautendes  d  ist  geschwunden  in  hal  {bald)]  hmn  {hemd), 
aber  plur.  ha'mdr]  öivd  {ahend)\  syn  {sind);  mäk  {tnagd);  un 
{und),  welche  form  übrigens  auch  schon  ahd.  belegbar  ist  (cf. 
Braune,  Ahd.  gr.  §  126  a.  4);  Dydn'l  {Diehold).  Durch  assimi- 
lation  au  den  folgenden  labial  ist  d  zu  h  geworden  in  mumhfl 
{mundvoll)  und    ha?nhß  {handvoll). 

§74.  Mhd.  /  oder  tt  ist  überall,  ausser  wo  es  im  aus- 
länd steht,  zu  d  geworden,  also  vollständig  mit  mhd.  d  zu- 
sammengefallen: da  {lag)]  dal  {lal}]  draim  {träum)]  drei  {treu 
und  drei)]  dcelwd  <  tölben]  frdbrd  <  verloren]  ridd  <  rlten] 
rcdd  <  retten]  ödm  <  atem]  fadr  <  vater]  grefdik  {kräftig)] 
{kräftig)]   kads  {katze). 

Nur  in  fremdwörtern  findet  sich  t  anlautend  vor  vocalen: 
Idrok  und  tarök]   sogar  tirccgdr  {director). 

Geschwunden  ist  mhd.  t  (zum  teil  durch  assimilation)  in: 
grügärdd  {krautgarten)]  ma'r^k  {markt)]  hasdr  {bastard)]  ga^l 
{gell,  nicht  tvar'i)]  7iigs  {tiichts)]  frdlydchd  {lichten)]  fcchd  {fürch- 
ten)] brccdsl  {brezel)  <  hrezitella:  im  benachbarten  Elsass  heisst 
es  brcedsdaU. 

Ferner  in  ys  {er  ist)  und  allen  2.  sing.:  glaibs  {glaubst)] 
tv^is  {du  weist)]  duds  {tust)]  fynds  {findest)]  los  {du  lässt)]  sdos 
{du  stossest)]  muds  {du  jnusst).  In  den  letzten  fällen  war  der 
grund  des  Schwundes  wol  der,  dass  das  sprachbewusstsein  die 
lautcomplexe  glaihsdü'^  {glaubst  du),  w^'isdü'^  {weisst  du)  folgender- 
massen  trennte:  glaibs  —  di'f,  w^is  —  dif  und  sich  so  eine 
endung  der  2.  sg.  5  statt  st  construierte:  also  gerade  das  gegen- 
teil  von  jener  analogiebildung,  durch  welche  die  endung  st  für 
ursprüngliches  s  zu  stände  kam. 

In  vielen  fällen  ist  ein  anscheinend  unbegründetes  t  (d) 
angetreten:  andrst  {anders)]  gesdrt  {gestern)]  na^st  {närrisch)] 
not  {nahe)]    soiu'ft   {senf)]    bürsl  {bursche)]    gansrt  {gänser ich)] 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  239 

licht  (leiche);  dsilt  (zeile);  disit  rieben  dlsl  {deichsei):  unsdli 
(unschliU);  andrialp:  blomrdd  {hrombeeren);  ncewdds  {beiseite')] 
frdl^idd  {verleiden):  frdlydchd  {licht eii)\  frdlaifd  {entlaufen), 
aber  sych  frlaifd  {irre  gehen):  frdlend  {entlehnen)]  frduuwld 
{entbehren)]   frdsld  {scheu  fverdoi,  von  pferdeu). 

In  den  angeführten  verbalcompositis  mit  ver-  halte  ich 
das  t  {d)  entschieden  für  den  Überrest  der  vorsilbe  ent  {frdlaifo 
<  ver-ent-loufen) ,  eine  erklärung,  die  schon  Winteler  (Ker. 
mundart  p.  48)  aufstellt.  Die  von  Winteler  als  eljenfalls  mög- 
lich angedeutete  erklärung,  das  t  sei  'bloss  ein  phonetisches 
einschiebsei '  d.  h.  doch  wol  lautgesetzlicher  übergangslaut 
zwischen  r  und  /  scheint  mir  unzulässig,  da  zahlreiche  bei- 
spiele  widersprechen,  U  efse  >  wccfds,  lefse  >  Icefds  ist  wol 
lautgesetzlich.  Abweichend  von  der  nhd.  Schriftsprache  neh- 
men ein  solches  /  nicht  an:  cern  {ernte);  ays  {axt);  ij9md 
{jemand). 

Reibelaute. 

§  TT).  2,  und  s  sind  vollständig  in  der  tonlosen  spirans  s 
zusammengefallen,  s  in  den  lautgruppen  sJ,  sm,  sw,  rs  ist  wie 
in  der  nhd.  gemeinsprache  zu  .v  geworden;  ebenso  das  s  in 
sp  {sb)  und  st,  und  zwar  an-,  in-  und  auslautend:  slä  <  slac, 
srvwr]  smuds]  llüghvlr  {I/ugsweier)]  Almdswlr  {Almannsrreier)] 
Urs  (Ursula);  bp-si  {der  barsch)]  fcersd  masc.  {ferse)]  fyrsi 
{vorwärts);  hyndrsi  {rückwärts);  sbyl  {spiel);  hasbl  {haspel); 
Kasbr  {h'aspar);  esp  {espe)]  Ilarmrsbach  (üussname);  Ilymlslxich 
(eigenname);  blösbaVk  {b/asehaly);  sdfin;  nas'  {ast);  dr  ledst 
{der  letzte)]  öbst  <  obez]  —  aber  feizet  wird  zu  f^ist  (nicht 
f^'ist);  ferner  ist  in  allen  3.  sg.  ausser  ;/,v  (/.s7)  das  .s-  als  solches 
erhalten  geblieben:  sdöst  {stösst);  lost  {lässt);  tv(^'ist  {er  weiss); 
lyst  {er  liest)  etc. 

^A-  ist  zu  sf/  geworden  in  dem  fremd  wort:  dysgdrydro  {dis- 
kurrieren). 

Eine  ausnähme  von  der  icgel  rs  >  rs  macht  das  fremd- 
wort  fd'rs  {vers).  Wol  durch  assimilation  an  das  die  nächst- 
folgende silbc  anlautende  ,s-  ist  .v  zu  .v  geworden  in  srrsanf 
{sergeant). 

Da  durch  die  zweite  lautverschiebung  vielfach  dop])el- 
formmen    mit   zz  und  z  entstanden,    hat  zuweilen  die  mundart 


•240  HEIM  BURG  ER 

ein  s,  wo  die  nlul.  Schriftsprache  z  hat  und  umgekehrt:    rvpis9 
{der  tveizen)  —  suds  {der  schuss). 

§  76.  Mhd.  /  (=  germ.  ]>)  und  v  (=  germ.  f)  sind  voll- 
ständig zusammengefallen  in  dem  tonlosen  reibelaut  /'.  Ein  hf 
steht  an  stelle  eines  mhd.  v  in  hße^gl  {ßegel).  Uebereinstim- 
mend  mit  dem  mhd.  steht  einem  /  der  nhd,  Schriftsprache  ein 
hf  gegenüber  in  hflix^  {/laum)  <  pluma.  Entsprechend  dem 
alten  Wechsel  zwischen  h  und  f  hat  die  mundart  ein  /  gegen- 
über einem  1)  der  gemeinsprache  in  six^fr  {sauhei-),  umgekehrt 
ein  aus  b  entstandenes  ?v  gegenüber  einem  /  der  Schriftsprache 
in  hawr  {Jiafer). 

§  77.  Mhd.  ch  ist  im  allgemeinen  erhalten  geblieben.  Vor 
s  ist  es,  wie  in  der  nhd.  gemeinsprache,  zum  verschlusslaut 
geworden:  ogs  (ochse);  fugs  {fuchs);  wagsd  {ivachseii)\  mit  aus- 
stossung  des  ^lautes  in:  jiCgsd  {jauchzeii)  <  jiichezen\  nigs 
{nichts).  Wo  Wechsel  zwischen  ch  und  h  bestand,  hat  die 
mundart  oft  ausgleichung  in  anderer  richtung  eintreten  lassen 
als  die  gemeinsprache:  für  {furche)]  dtir  und  dur'ch;  he  ehr 
{höher)]  sych  {sieh  als  ausruf  der  Verwunderung),  aber  sy 
(imperativ  zu  sehen). 

Liquiden. 

§  78.     Mhd.  /  ist  als  solches  erhalten. 

Es  ist  in  r  übergegangen  in  dem  fremdwort  grysdydr 
{klystier). 

Geschwunden  ist  es  unter  einfluss  der  unbetontheit  in  as 
{a/s,  quam),  durch  assimilation  in  ?vyl  {willsl)  <  wilt\  sot  < 
solle]  wot  <  wolle  (cf.  dagegen  gcel  <  güU.,  hal  <  balde  §  73 
und  §  74). 

Das  l  in  mydld  {die  miltc)  beruht  natürlich  auf  augleichung 
an  das  adj.  mitlel. 

§  79.  Mhd.  r  ist  im  allgemeinen  r  geblieben.  Geschwun- 
den ist  es  in  ftfcho  {fürchten),  nccst  {närrisch)]  gasdik  {garstig)] 
masydrd  {marschieren);  dr  fedrst  {der  vorderste)]  auslautend 
nach  langem  vocal  in  7ntf  {mehr),  r  ist  zu  /  geworden  in 
blomrdd  {brombeeren)]  hahvydr.^  {barbieren)]  kylp  plur.  kybvd  < 
kirchwihe,  aber  kyr'ch  {kirche).  Schon  mhd.  ist  bekanntlich 
auslautend  nach  langem  vocal  das  r  geschwunden  oder  er- 
halten,   je    nachdem    das    folgende    wort    consonantisch    oder 


A 


MUNDART  VON  OTTENHEIM.  241 

vocalisch  anlautete,  so  dass  vielfach  doppelformen  entstanden. 
Die  mundait  hat  nun,  im  gegensatz  zur  Schriftsprache,  die 
form  ohne  r  verallgemeinert  in  htjd  {hier).  Analogisch  wider- 
hergestellt ist  das  r  in  drgfjd  {dagegen);  drbi  {dabei)]  drfün 
{davon);  drdsu9  {dazu).  Dagegen  steht  die  form  ohne  r,  wo 
lautgesetzlich  die  form  mit  r  stehen  sollte,  in  hunda  {hier 
unten)]  hoivd  {hier  oben);  hüs  {hier  aussen);  hyn-d  {hier  üben)] 
hyn  {hier  innen)]  dundd  {da  unten)]  dowd  {da  oben)]  düs; 
dyn]   dyrvd. 

Der  alte  Wechsel  zwischen  r  und  s  zeigt  sich  noch  in 
frydrd  {frieren)  —  fryesl  {das  frieren,    krankheit). 

Der  reduction  des  r  nach  s  wurde  schon  oben  (§21)  ge- 
dacht. 

Nasale. 

§80,  Mhd.  ^71  ist  im  allgemeinen  geblieben:  man;  ncemd 
{nehmen)]  arm;  ödm.  Zu  n  geworden  und  dann  abgefallen  ist 
es  in  bcese  <  besetne]  budsd  <  buosem.  Suffixvertauschuug  liegt 
wol  vor  in  brosl  <  broseme. 

Im  auslaut  der  betonten  silbe  ist  w  geschwunden  in  b/Tü'^ 
{flaum)  <  pflüme]   aber  bßum  {p/laume). 

§  81.  Mhd.  n  ist  im  anlaut  stets  geblieben.  Inlautend  ist 
es  geschwunden  in  betonter  silbe  in  fufdse  {fünfzehn),  fufdsik 
{fünfzig)  —  aber  ftjnf  {fünf),  hanf]  (•iftcldik  {einfältig)  — 
aber  ^inscbcht  {einzeht)]  —  in  unbetonter  silbe  in  duds^f 
{dutzend).  — 

Es  ist  zu  )}  geworden  in  wansl  {nanst);  unsdli  {tmschlitt)] 
gsbd'nst  {gespenst)]  aber  kiinst,  brunst;  ferner  in:  banrt  {bann- 
rvart,  feldhüter). 

Durch  assimilation  ist  es  zu  m  geworden  in:  eim  <  eineme] 
hambß  Qiandvoll)]  mumß  {mundvoll),  ngn  wurde  zu  w«,  dieses 
zu  »:  scejiesl  <  seng-nezzel  {brennnessel);  ebenso  in  latein. 
fremdwörtern  gn  <  mi  {Mamms,  eigenname)  <  «:  rccnydre 
{herrschen,  von  kränkelten).  Auslautendes  n  in  betonter  silbe 
ist  abgefallen  in  ei  {ein)]  ni  {hinein)]  ww  {mein)  in  attributiver 
Verwendung,  in  praedicativer  dagegen  wim;  ds(f  {zehn),  fufdsf 
etc.,  nfi  {nein)]  su  {schon)  neben  sun;  ke  [kein);  gsy  neben 
gsyti;  dagegen  ist  es  erhalten  in  ran  {schlank);  grydn  {grün)] 
gfn  [gehen)]    iln-du9ch  {teintuch)]    Hn-s^'il;    tnn  {n-ein)]    Rhi;    an 


242  HEIMBUR(iKR 

[an);  fun  {von)\  xd^'/n;  dswfn  (zwei)  etc.  Es  scheint  mir  hier 
folgendes  lautgesetz  zu  gelten:  auslautendes  n  blieb  erbalten, 
wenn  das  folgende  wort  mit  einem  vocal  oder  einem  dentalen 
consonanten  antieng;  vor  anderen  consonanten  fiel  es  ab. 
Naturgemäss  bildeten  sich  dann  von  den  meisten  Wörtern 
doppelformen,  von  welchen  im  laufe  der  zeit  in  der  regel  die 
eine  über  die  andere  den  sieg  davon  trug,  während  nur  in 
wenig  filllen  beide  sich  erhielten.  Zu  /  ist  n  geworden  in 
drygid  {(rock?ien)  <  trückenen  und  Ktjrl  {(Juiriri). 

Das  unbestimmte  pronomen  man  lautet  mr\  doch  liegt  hier 
schwerlich  eine  lautliche  entwickelung  vor. 

Häufig  findet  sich  in  der  mundart  ein  auf  analogie  be- 
ruhendes, sog.  'biatustilgendes'  n  (cf  Paul,  Principien  der 
si)rachgeschichte,  -  p.  97):  bi-n-m  {bei  ihm),  hl-n-ich  {bei  euch); 
dsud-n-m  {zu  ihm)]  wyd-n-i  {wie  ich)]  ?trl)-n-i  {tro  ich)]  gtj-n-fns 
{gib  es  ihfn);  hierher  gehiht  auch  das  mittelst  der  aleitungs- 
silbe  -ig  gebildete  adjectiv  sMük  {solch)  zu  so. 

Fest  geworden  ist  das  n  in  mä-n-i  {mag  ich)  (cf.  §  70). 
Falsch  abgeteilt  hat  man  in  (cn  ust  {ein  ast),  so  dass  jetzt  das 
wort  lautet:    dr  nast  {der  ast). 

§  82.     Mhd.  w  ist  anlautend  erhalten. 

Inlautend  vor  vocal  ist  es  mit  vorhergehendem  ü  zu  oi, 
mit  vorhergehendem  iu  zu  ei  verschmolzen,  nach  anderen 
vocalen  und  r  als  w  erhalten:  boid  {bauen)]  droi9  (jfvmen)]  koi9 
[kauen)]  nei  {neu)  <  niu?re;  ci<)r  <  iuwer;  —  e?t>ik]  len-d 
{löiven)]  rydnik  {ruhig)\  sluerwr  {sperber)]  narwd  {narben)]  fcerwd 
{färben)]  gcerwd  {gerben).  Swalrve,  swalwen  >  stvalm,  swalme 
beruht  wol  auf  veralllgemeinerung  des  cas.  obl.  mit  Verschmel- 
zung des  m  -\-  n  zu  m. 

Inlautend  vor  consonant  ist  7v  zu  b  geworden:  oirbs  {crhse)] 
fwrbt  {er  färbt)]    geerbt  {gegerbt). 

Wo  w  in  den  auslaut  trat,  wurde  es  nach  mhd.  ä  und  uo 
zu  i  (wol  durch  die  mittelstufe  u  hindurch):  blbi  {blau)]  groi 
{grau)]  gldi  {klaue)]   löi  {lau);   rudi  {ruhe). 

Zu  p  ist  es  geworden  in  nar^p  {narbe)]  far^p  {färbe)] 
myr'i)  {mürbe)]  goir'p  {ich  gerbe)]  ferner  erscheint  für  aus- 
lautendes 7r  ein  ])  in:  Icp  {lötve);   wydcp  {rvilwe). 

Ob  das  p  in  lep  lautgesetzlich  ist,  mag  dahin  gestellt 
bleiben;    möglich    wäre   auch,    dass   das  w   nach   e  abfiel  und 


MUNDART  VON  OT'I  ENIIEIM.  243 

(las  f)  aiialogiseli  antrat,  iiuleni  man  zu  dem  plur.  hf^tvd  eioen 
sing.  Ifp  bildete,  wie  mau  zum  pluial  rcbrv^  {reben)  einen  sing. 
rcep,  zum  plur.  gowd  {gaben)  einen  sing,  göp  hatte.  Wydi'p  ist 
wahrscheinlich  iVemdwort;  es  wird  auch  nur  im  amtlichen  stil 
augewendet;  das  Nolkstiimliche  wort  ist  wijdfral.  tw  ist  durch 
assimilation  zu  //  geworden  in  ehr  <  eterver,  ebs  <  etewaz. 

Als  iU)ergangslaut  hat  sich  //•  entwickelt  in  Uuvls  {Luise) 
und  Eddwurt  {Eduard). 

Anmerkung.  Es  sei  hier  bemerkt,  dass  zwar  nicht  in  der 
Ottenheimer,  aber  in  einigen  benachbarten  mundarten  aucli  ein  Miiatus- 
tilgendes'  tv  (analog  dem  oben  behandelten  'hiatus- tilgenden'  »)  vor- 
kommt; es  heisst  da:  sj)-jv-icli  {sehe  ich):,  gc-iv-ich  (gehe  ich).  Muster 
war  vielleicht:  ich  ha  {habe)  — haw-ich\  ich  gij  (gebe) — ggw-ich.  Dass 
in  sg-iv-ich  noch  ein  Überrest  des  alten  w  des  verb.  sehen  erhalten  sein 
sollte,  ist  wol  nicht  anzunehmen. 

§  83.  Mhd.  j  ist  stets  geblieben,  auch  da,  wo  es  im  nhd. 
ausgefallen  ist:  iuejd  {bähen);  drd'jd  {drehen);  n&jd  {nähen); 
gnvjd  {krähen);   brydjd  {brühen);   mydi  {fnühe);  frydi  {frühe). 

§84.  Die  aftVicata  z  ist  in  der  mundart  durchweg  als  <?a- 
erhalten. 

Iz  und  Is  sind  zusammengefallen,  ebenso  nz  und  ns\ 
zwischen  /  und  s  ist  ein  leiser  iibergangslaut  d  hörbar; 
zwischen  n  und  s  nicht:  hohls  {holz);  sdolds  {slolz);  halds 
{htils);  -  gans  {ganz  m\A  gans);  Frans  {Franz),  cht  ist  durch 
die  mittelstufe  chs  zu  gs  geworden  in  jugsd  <.ßichezen. 

Unbetonte  silben. 

Es  erübrigt  noch  eine  besj)recliung  der  eiitwickclung  un- 
betonter Silben,  soweit  sie  nicht  im  vorhergehenden  gelegent- 
lich berührt  wurde. 

1.    Vortonsilben. 

§  85.  liier  kommen  hauj)tsächlich  die  praefixe  vor-,  ge-, 
und  he-  in  betracht. 

ver-  ist  durchweg  zu  fr  geworden,  ge-  ist  vor  dentalen 
und  labialen  explosivlauten  als  gd-  erhalten:  gdbodd  {geboten); 
gapa'k  {gepäck)\  gdpalda  part.  i)]-aet.  zu  paldo  {hehallen);  gd- 
dangD  {gedanke);  giidan.^  igedangen);  g.^danst  {getanzt);  g9dsclt 
{gezählt). 

Mit    stammanlautendein   k  und  //  verschmilzt  es  zu  /,,    mit 

Beiträge  zur  geachiolite  der  deutschen  Hpraclie.     Xlil.  17 


244  HEIMBURGER 

g  zu  g\  kumd  {<jekommen)\  kaldd  {gehaläe)i)\  kel  {gehabt);  grc'^s 
<  (gekröse),  glifbi  {geklaubt),  weil  k  vor  r  oder  /  zu  g  wird; 
gau9  {gegangen);  —  vor  allen  anderen  lauten  wird  es  zu  g: 
galdrt  {gealtert);  gfnndd  {gefunden);  gjäit  [gejagt);  glcejd  {ge- 
legen); gmach  {gemach,  langsani);  gyicem  {genehm);  grut  {ge- 
rade); gsa73  {gesang);  grvund  {geivonneii)\  be-  ist  als  hd  erhalten 
vor  allen  explosivlauten  und  vor  w,  vielleicht  auch  vor  /:  bd- 
boid  {bebauen);  bddegd  {bedecken);  bddrächdo  {betrachten);  ho- 
dsäl9  {bezahlen);  bdgcbra  {begehren);  bdgrviVm  {bequem);  hdkceno 
{bekennen);   bdrväro  {bewahren). 

Beispiele  für  /'  sind:  lidfgndd  {Jjefinden)  und  bdfivld  {be- 
fehlen);  doch  sind  dies  keine  recht  volkstümlichen  Wörter. 

Beispiele  für  be-  vor  anlautendem  p  fehlen.  — 

Mit  stammanlautendem  h  verschmilzt  be-  nach  ausstossung 
des  e  zu  p:  paldd  {behalten);  pyddd  {behüten). 

Vor  allen  anderen  lauten  wird  be-  zu  Ir.  lAld  {beeilen); 
bjort  {bejahrt);  blandrd  {sehnsüchtig  warten);  hmi^isddrd  {be- 
meislern);  bnedigd  {henöthigen);  trrychdd  {/jerichten);  bsa^digo 
{beschädigen);  bsbrcechd  {besprechen);  bsorj9  {besorgen);  bsdeld 
{bestellen). 

Die  Partikel  zu  (mhd.  ze  und  zuo)  verliert  als  adverbium 
oder  Vorsilbe  in  unbetonter  Stellung*  stets  ihr  vocalisches 
Clement:  dsäri  {zu  arg);  dsbal  {zu  bald);  dsfedrst  {zu  vor  der  st); 
dsmöl  {zumal.,  auf  einmal);  dscbmd  {zusammen);  dsruk  {zurück); 
dsdsärt  {zu  zaf^t). 

Als  Präposition  hat  das  wort  eine  eigentümliche  differen- 
zierung  erfahren:  es  lautet  ds  vor  Ortsnamen,  wo  wir  in  der 
gemeinsprache  die  präposition  in  gebrauchen,  sonst  überall 
dsu9;  ds  Lör  (in  Lahr),  ds  Frcibur^k  {in  Freiburg);  ds  Bäsl; 
ds  Kudbach  {in  Kuhbach);  ds  (tddnd  {in  Ottenheim);  vor  s  wird 
das  s  von  ds  natürlich  durch  assimilation  getilgt:  d  slrosbur'k 
{i7i  Strassburg);  —  dsudin  fadr  {zum  vater);  dsud  d9  kxjndr  {zu 
den  kindern);    dsud  mijr  {zu  mir). 

Von  andern  unbetonten  Vorsilben  seien  angeführt:  9l^in 
{allein);  9nandr  {einander);  dw(ck  <  enw'ec;  nach  analogie  von 
dwwk  scheint  dso  neben  so  gebildet  zu  sein;  rä  {heralj);  nuf 
{hinauf)  etc. 


MUNDART  VON  OTTENIIEIM.  245 

2.  Nachtoiisilbeii. 
a)  Paenultima. 
§  SO.  Hinsiclitlicli  der  unbetonten  paenultima  steht  die 
niundart  im  allgemeinen  auf  dem  stand})unkt  der  nlid.  gemein- 
sprache:  knoheloiich  >  gnotvlaich,  nhd.  knoblauch;  segense  > 
sceis  nhd.  sense;  0d9nd  =  Oitenheim;  dddrd  =  eltern\  eldari 
=  ältere',  chaydrd  =  *zacke7'n,  pflügen  (neubildung  nach  dsagr 
färd  '■zu  acker  fahren^);  ^rj9rd  {ärgern)^  eine  abweichende  be- 
handlung  erfäiirt  die  mlid.  endung  -elen  nhd.  ein:  sie  verliert 
das  erste  e,  bewahrt  dagegen  die  endsilbe  als  9:  wcegsld  = 
)rechseln\  südld  {sudeln)]  mcdl9  {wedeln)]  —  feiner  tindet  sich 
fortfall  der  paenultima  gegenüber  erhaltung  derselben  in  der 
nhd.  Schriftsprache  in  rvonji-  {weniger)]  umgekehrt  y/rdrik,  hu- 
n9rik  =  nhd.  übrig,  hungrig.  Die  endsilbe  -e/,  welche,  wie 
eben  gezeigt,  durch  antritt  einer  flexionsendung  ihr  vocalisches 
Clement  verliert  (cf.  sMld^  ivcdld^  kugtd)^  bewahrt  dasselbe 
nach  antritt  der  Verkleinerungssilbe  -//  (mhd.  Im)  als  /;  kigili 
{kleine  kugel)]  eb/ili  (kleiner  apfet)]  mpdili,  deminut.  zu  ineidl 
{mädchen):   sifili  {kleine  schaufei). 

b)  Ultima. 

§  87.  In  der  rcduction  der  ultima  ist  die  niundart,  wie 
alle  ihre  oberdeutschen  schwestermundarten,  weiter  gegangen  als 
die  iilid.  Schriftsprache. 

Auslautendes  e  ist  stets  geschwunden,  wo  die  Schrift- 
sprache bald  Schwund,  bald  erhaltung  des  e  aufweist:  bhom 
{blume)]  bled  {blöde)]  bcen  <  benne  {wagenkorb)]  cU  {ahle)]  smyf 
{schmiede)  <  smilte]  dir  <  tiure]  Vir  <  llrc  {leier)]  h^r  < 
herre]  ai  <  uuge:  glaip  {ich  glaube)]  sä  {ich  sage)]  heim  plur. 
zu  baim  {laum).  Scheinbare  ausnahmen  von  dieser  rcgel  sind: 
dijl9  inasc.  (diele)]  g(rd  (schoss]  fischerspiess)]  gumbd  <  mhd. 
gumpe]  bbjd  <  mhd.  böge]  händ  (hahn  am  fass)]  kämd  (kämm 
eines  vogels);  Idm^  (keim)]  mudsd  masc.  {Jacke)  <  mhd.  mutze, 
mutze]  fungd  <  mhd.  vunke]  wambe  masc.  <  mhd.  diu  tvampe: 
meid  {maibaum),  aber  7nn  (monat  mai)]  rifd  (pruina)]  irag.t 
(grosser  kicsel)  <  mhd.  iracke]  wcgd  {weck)]  sbmd  <  säme 
(sameii)]  wgdchd  (dacht)]  ^iso  (geschwür)  <  mhd.  ei:  u.  v.  a. 
Hier  liegt  überall  analogische  annähme  der  cndung  o  =  mhd. 


246  HEIMBURGER 

nlid.  -en  vor.  Mlul.  -i  ist  als  i  erbalteu:  gysdi  (ffü/e);  s-fni 
{schönheit);  brhii  (bräune);  siri  {säure)\  gledi  [glätte);  keldi 
(kälte);  lyoivi  (liehe)  etc.  Aüalogiseh  übertragen  ist  dieses  i 
auf  mödi  (mode);  slimnhi  (schlempe). 

Ebenfalls  als  /  erhalten  ist  mbd.  iu;  also  noni.  sing.  fem. 
und  nom.  plur.  der  adjective  und  Zahlwörter:  sfnl  (schöne); 
giiddi  (gute);  elddri  (ältere),  aber  elddrd  (elieni);  sywdnl  (sieben); 
dseni  (zehn);   clfi  (elf). 

Die  endungen  -el  und  -er  sind  zu  /  und  r  geworden:  ehfl 
(dp fei);  kifgl  (kugel);  siTfJ  (schau fei);  fadr  (vaier);  muddr 
(mnlter);  fynr  (finger). 

en  und  ebenso  m  in  Stoffbezeichnungen  ist  zu  d  geworden: 
7väjd  (tragen);  dfifrydd  (zufrieden);  kmnd  (kommen);  gnmnd  (ge- 
rvonnen);   hyldsa  (hölzern);   yrdd  (irden). 

Die  deniinutiv-endung  -lin  ist  in  der  regel  zu  l  geworden: 
kchfl  (köpfchefi);  byDwl  (hüblein);  kyndl  (kindlein);  hernl  (hörn- 
chen);  moinl  (männchen);  wtwl  {weihcheyi)  etc.  In  dreisilbigen 
Wörtern  aber,  wo  -Im  den  nebenton  trug,  ist  es  als  -li  er- 
halten: kigili  (kleine  kugel);  cemli  (engelein);  stfiU  (kleine 
schaufei);  kcensdrli  (kleiner  schrank)  <  mhd.  kenstetiin;  by9- 
frili  demin,  zu  bydwl  (büblein);  wiwUi  (kleines  rveiblein).  Da- 
gegen hachsdceldsl  (kleine  bachstelze),  höchdsidl  (kleine  hockzeit), 
weil  hier  der  nebenton  nicht  auf  der  endung  liegt. 

In  Wörtern,  welche  auf  vocal  oder  /  endigen,  ist  -lin  eben- 
falls als  -li  erhalten,  wobei  das  /  natürlich  mit  stammaus- 
lautendem /  verschmilzt:  kydli  (kleine  kuh);  seili  deminutiv  zu 
soi  [sau);  rfli  (kleines  reh);  sdydli  demin.  zu  sdudl  (stuhl); 
rvili  (weilchen);  fri^ili  (kleine  frau). 

Die  feminin-endung  mhd.  -inne  und  -%n,  nhd.  in  ist  als  i 
erhalten:  jydi  {Jüdin);  biri  (bäurin);  wyrdi  (wirtiJi);  mylori 
{/null  er  in). 

Die  endungen  -ing  und  -7mg  erscheinen  ebenfalls  als  ?: 
a'ndfii  (engerling);  bfyfrli  (pfiff erling);  sylli  (Schilling,  münze); 
fydrli  (vierling);  wydsdli  (mistling),  hrydli  (schreier,  zu  hrydl9, 
hrüllen);  horni  (hornwig);  fvedi  <  tvet lange;  —  aber  Difalynd 
(Dinglingen.!  Ortsname),  weil  hier  ein  nebenton  auf  -ing  liegt. 
In  unvolkstümlichen  Wörtern  ist  auch  die  endung  -ung  als 
solche  erhalten. 

Die   ahd.   endung    -noii,    welche  mhd.  als   üete,  ät  etc.   er- 


MÜNDART  VON  UTTENHEIM.  247 

scheint,   lautet   iu  unserer  nuindart  <)l:    hi^iuictt  {lieimat)\    arnidt 
(armut);    nup-mdt  {wertnut). 

Der  nhd.  endung-  bar  entspricht  br:  wachhr  {wachsani)\ 
nochbr  {nachbar).     -sam  ist  sm  geworden:   hifilsm\   bysm  {bisam). 

Die  endung-  -heit  ist  dt  geworden  in  gwöndl  {(/cwo/mheit); 
ebenso  arebeit  >  ccrwdt.  Daneben  viele  nicht  recht  volkstüm- 
liche Wörter  mit  erhaltenem  -heit. 

Die  endung  -heim  in  ortsnamen  ist  d  geworden:  Üddnd 
{Ottenhei?n)]   Misdnd  {Meissenheim)\    Dundnd  {DundenJieim)  etc. 

Weitere  Verkürzungen  unbetonter  silben  finden  sich  in: 
7iymi  <  '*nimme  {nicht  mehr);  mini  {noch  nicht);  fasnt  {fast- 
nachl);  hyn^cht  <  hinehte;  kylp  plur.  kyiwd  {kirchweih)]  hwndsi 
{handschuh);  sundi,  tnä'ndi,  dsisdi  etc.  (namen  der  Wochentage); 
wolfl  {wohlfeil)]  folds  {vollends)]   kyrbs  {kürhis). 

°  Nicht   soweit   wie   die   gemeinsprache   ist   die  mundart  in 
der  Verkürzung  gegangen  in:  hfyb/is  {der  pips). 

Endlich  sei  noch  bemerkt,  dass  in  der  3.  sing,  praes.  und 
im  schwachen  part.  praet.  der  verba  mit  stammauslautendem 
d  oder  t,  wo  die  nhd.  Schriftsprache  das  unbetonte  e  analogisch 
widerhergestellt  hat,  die  mundart  die  lautgesetzlicheu  verkürzten 
formen  aufweist:  ret  {er  redet)]  grct  {geredet)]  fynt  {er  findet); 
bydt  {er  bietet)]  bcet  {er  betet)]  liit  {lautet)]  gliit  {gelautet). 

[Nachtrag.  Zu  §  37  und  §  42  vgl.  man  den  aufsatz  von 
Kräuter,  Zs.  fda.  21,  258  ff.:  'die  schweizerisch -elsässischen 
ei,  öy,  ou  für  alte  i,  rf,  u\  auf  welchen  ich  erst  während  des 
druckes  dieser  abhaudlung  aufmerksam  gemacht  wurde.] 

FREIBURG.  KARL  HEIMBURGEK. 


ZUR 

KRITIK   UND   ERKLÄRUNG   DES  WINSBEKEN 
UND  DER  WINSBEKIN. 

Die  fülgeuden  Studien  beschäftigen  sich  mit  zwei  lehr- 
gedichten  des  mittelalteis,  von  denen  das  eine  wegen  seiner 
poetischen  Schönheit,  die  im  einzelnen  zu  erörtern  hier  nicht 
der  platz  ist,  und  seiner  culturgeschichtlichen  Wichtigkeit  für 
die  erkenutnis  der  grundsätze  ritterlicher  moral  in  der  blüte- 
zeit  des  höfischen  lebens  unser  volles  Interesse  in  anspruch 
nimmt  und  das  andre,  wenn  auch  an  innerem  poetischen  werte 
mit  Jenem  ersten  nicht  von  ferne  vergleichbar,  doch  auch 
wegen  seiner  nahen  formellen  wie  inhaltlichen  verwantschaft 
mit  ihm  der  beachtung  und  Untersuchung  wert  scheint:  Wins- 
beke  und  Winsbekin.  Zu  einer  neuen  constituierung  des  textes 
beider  gedickte,  die  ich  demnächst  zu  veranstalten  gedenke, 
sollen  die  betrachtuugen  der  folgenden  capitel  gewissermassen 
den  weg  bahnen,  indem  sie  einige  Vorfragen  der  kritik  und 
erklärung  behandeln.  Nicht  wertlos  wird  es  erscheinen,  dass 
ich  diesen  Untersuchungen  zuerst  eine  coUation  einer  von  Haupt 
für  seine  ausgäbe  beider  gedichte  (Leipzig  1845)  noch  nicht 
benutzten,  wenn  auch  verhältnismässig  jungen  handschrift 
vorausschicke. 

1.  Strophen  des  Winsbeken  und  der  Winsbekin  in 
der  Kolmarer  handschrift. 
Zu  den  handschriften,  welche  Haupt  zu  seider  kritischen 
herstellung  des  textes  benutzte,  kommt  noch  die  Kolmarer 
liederhaudschrift,  nach  mannigfachen  Schicksalen  jetzt  im  besitz 
der  königlich  bayrischen  hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München 
als  deren  cod.  germ.  4997.  Ueber  die  handschrift  im  allgemei- 
nen   hat   Bartsch    in    der    eiuleitung    zu    seiner    ausgäbe   der 


LEITZMANN,  ZU  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  249 

meisterlieder  (Stuttgart  1S62)  gebandelt,  woselbst  sieb  aueb 
ein  genaues  iubaltsverzeiclinis  derselben  befindet.  In  dieser 
bandscbrift  nun  (icb  nenne  sie  im  folgenden,  da  Haujjt  den 
bucbstaben  K  scbon  an  die  Basler  bandscbrift  vergeben  bat,  k) 
finden  sieb  an  verschiedenen  stellen  Strophen  des  Winsbeken 
und  der  Winsbekin,  darunter  manche  doppelt  und  nicht  ohne 
discrepanzen.  Bartsch  hat  in  der  erwähnten  einleitung  die 
abweichenden  lesarten  dieser  Strophen  teils  unvollständig,  teils 
nicht  mit  voller  genauigkeit,  teils  endlich  gar  nicht  angegeben 
(vgl.  Meisterl.  s.  75.  82).  Für  das  folgende  Variantenverzeichnis, 
in  dem  alle  abweichuugen  vom  Hauptschen  texte  sich  linden, 
soweit  sie  nicht  rein  orthographischer  oder  dialektischer  natur 
sind,  stand  mir  eine  vollständige  genaue  abschrift  der  Strophen 
zur  Verfügung,  die  berr  dr.  H.  Schnorr  v.  Carolsfeld  in  München 
selbst  für  mich  anzufertigen  die  freundlichkeit  hatte,  wofür  ich 
ihm  auch  an  dieser  stelle  meinen  herzlichen  dank  sage. 

Blatt  728  a.  Überschrift:  in  der  grüss  wijse  dez  lugenlha/f'tcn 
schrijbers.  Es  folgen  48  strophen  des  Winsbeken.  Varianten: 
1 , 3  den  tvoll  er.  \  sprach  ijm  nujn  kinl  du.  ö  alle  arge  lisl. 
0  alz  du  selber.  8  myn  lieber  son  daz  isl.  D  ein  andrer  (oder 
atiderr?  ein  bäkchen  bedeutet  in  der  bandscbrift  bald  er,  bald 
re).    Zu  dieser  strophe  eine  melodie.  —  2,  1  tnytinc  ijnncclichen. 

2  kan  dirs.  4  du  siehst \  gockel.  5  regen.  0  jungst  sin.  8  stvlnde. 
y    vnd   wer   ich   noch   vil   dienen.      10  daz  ist.    —    3,2  brendct. 

3  dir  auch  also.  4  von  tag  zu  tag  von  jar  zu  jar.  5  sinne 
vor.  0  rieht  diu  leben  vor  hin  so.  7  din  sele.  8  nie;  ist  diu. 
0   dann   also.      10    vor.    —    4,  3    ander   leben.  -  5    vil  me  wann. 

6  tviltü  nü  heuffen.  8  vor.  10  daz  dir  vers Iahen  icht  werd.  — 
5,  1  fdle.  2  hercz  vnd  stjnne  bedenken.  3  7ver  hat.  9  in  dinen. 
10   lass.   —   (3,2   nujn   sin.     4  hrijig  es\  grüben.     5  dirr  gen-in. 

7  got  soltü  billich  ern  an  ijn.  8  rvercke  krimp.  9  den  warten. 
10  deji  7verckcn\  ald.  —  7,2  trügen  den  paffen.  4  ich.  'o  fürr. 
6  sin  mit  dräufven  holt.  10  lichnam.  —  8,  1  dir  füg\  byderb 
N'ip.  2  7iach  gotics  lob.  3  han.  4  also  stee.  6  dar  gn.  7  /raz 
/riltü  wunne  haben  me.  8  beschicht  in  drem  (mit  spiritus  asper 
über  dem  //•)  pflet.  9  im  samen.  —  9,  1  synniclichen  trag. 
3  diu  tügent\  sag.  4  waz.  5  lass  nit  verhergen  dich.  9  nerren 
zwschen]  tragen.  10  vnd  daz  ist  iudas  heübt  geschieht.  —  10,1 
wer.     2   in  »nit.     3   wer.     4   mit  schäm  vber  den.     5  der  gute. 


250  LEITZMANN 

7  fraircn  allen  ivole.  8  vud  ist  ir  lieyneri  ereu  fnj.  0  do  by. 
10  ;///(/  ielilt;  nonc.  —  11,4  von  Sünden.  0  ein  /riinnenbernder. 
ü  vo)i  dem.  7  czüchle  noch  der  schäm.  9  einer  sijn.  —  12,  1  ein 
nunnenberndcs.  3  em  freüd  der  weite  züuersichl.  4  /riss  man. 
5   hcyt.      7  l'oUicUch  vnd  breyl.     ')  beschü/f.     10  Hess  vor  enget. 

—  13,  1  kansl  nit  yen^issen.  4  daz  du  yn  gist  din  liebe  zii. 
5  vnd  daz  dir  gute.  10  tnyn  ge (rosten  din.  —  14,3  tass  dir. 
5  oder  tatig.  7  ane  tvang.  8  mit  wirdefteit  betagt.  9  dryack 
da:  eylcr.  10  dir  leyl  verjagt.  —  15,  1  sag  dir.  6  reyner 
nnhe.     10  als  ein  wint.  —  16,2  dii  yn  ir  tobes  czil.    3  vnd  dien. 

4  dester.  G  gegeben.  9  komet  zu  Ion.  10  wot  ym  der  dar  an 
tigen  sott.  —  17,5  dir  nit  verhil.  G  der  n-ette.  9  der  vmb.  — 
18,  1  la^t\  leben.  3  so  merck  waz  er  dir  freude  git.  4  batde 
folgen  (am  rande  nachgetragen).  5  gramer  vch.  7  in  daz. 
9  dir  noch  den  selben.  10  ytn  hercz  und  müt.  —  19,3  gelrerv 
dar  zu  kirn  vnde  siecht.  4  ist.  5  vor.  9  willü  yn  dann.  10 
Vit  bass.  —  20, 3  erdenck.  4  vergalt.  5  doch  swent  ir  myn 
recht  (ds  der  nalt.  7  mijn  hat  vil  mangen.  8  verwegen.  10  fraw 
selde\  dez  segens.  —  21,  1  gein.  2  senck  vil  schone.  3  pecht 
(sie)   als   er   sy.      4   tass  an  din  ernst  mit  diner  meyster schafft. 

5  baz  vnd  ye  bass\  dyne  kr  äfft.  G  zun.  8  oder.  9  güttes 
rilters.  10  vff  der  säst.  —  22,4  enweiss.  5  rechtem.  6  detn. 
7  wunne  me.  8  der  giiten.  9  so  ein.  —  23, 2  vernym  eben 
tvaz   ich  lere  dich.     4  aldarnach  er.     5  rech]    zu  vil  nit  sprich. 

6  mere  zu.  7  von  dem.  8  ö'/e  orew.  9  smeicheleren.  —  24,  2 
vz  deme  anger.  3  677.  G  gezomet  sie  rechte  dinen  zorn.  10 
verdienet.  —  25,  2  danne  eins.  4  munde  hyn.  1 0  c?<^  lebest.  — 
26,  1  nit  (über  der  zeile)  wer  zu  blicke  füge  entnymet.  3  ge- 
riben.  5  daz  lieht  gewählt  daz  ist.  6  daz  hindan  lilhtet  cleydet 
wol.  9  alsüs  wolle  dr legen  sich.  10  dar  vnder.  —  27,  2 
swellet.  3  düt  auch.  4  sonder  qüal.  5  seiden  flüssig.  6  e^- 
wenne.  7  yow  ej/»je  zwm  andern  alz.  9  w<Y  sanffte]  yme. 
10  .s/ne.  —  28,2  <?en  wiften.  3  kiesent.  4  A-orw  fehlt.  5  rfdr 
/5^  hochgeborn.  7  erkorn  fehlt.  8  c?gr  ö//e  2^7  </er  erm  gert. 
9  /ur  rf«r  */cÄ  hell  sonder.  10  vnrf  ÄMre  böser  da  ist  dan 
fernt.  —  29,  1  ^o/.  2  a/6'o  rfaz  er  yt  lige  obe.  3  benympt  ez\ 
synne.  5  ^ü^  ist.  G  /iefter  2*^  danne '^  weme.  8  wew.  9.  10 
(/^r   verzihet   sich  der  beider  ee  danne  er  auch  daz  eine  ferlür. 

—  30, 1  dine.     4  gehem\    daz  ist.     8  wurff.     9  forhle.  —  31, 1 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  251 

fvnz.  'i  zil  aller.  4  würt  diu  lop  diu  wir  de.  0  daz  fehlt;  der 
argen  hosen.  9  die  in  kranckem  gemiUe.  10  sie  von  arl  sint 
geslachal.  —  ;>'2,  1  der  fogel  der  ee  danne  zu  rechter  zyt. 
2  syme.  3  seiher  \  git  /ilUcht.  4  zu  cyme.  5  der  rede.  G  des 
an  daz.  8  müslü  lehen  an  eren  lan.  9  dir  fehlt.  10  du  hellest 
nie.  —  33, 1  hahe.  2  daz  la.  3  ner  ye  gerne.  9-  dez\  alz. 
10  einen  dregen.  —  34,5  wer.     8  sit  dz  die  rede  zn-eyget  sich. 

—  35,  l  wer\  selber.  2  getrilwez.  3  ferlüret]  rede.  4  eyme\ 
dogendenden  (s^ic).  5  wer]  redet.  6  dz  maus  nil  für  gut  enhal. 
7  verlüret  sitien  wi/leti.  8  wz  froüdes  frünt.  9  er  wil  als  selber 
sturen.  10  rechte  als  in  eine  hach.  —  36,  1  alle  fehlt.  2  zil 
der.      4   in   deme.     ö   din   drosl  7nyn  drosl  eine  an  mich  konmi. 

—  37,  3  syge.  0  ist  fehlt.  7  deme]  solUche.  9  ^«^^;  oder 
frome.  10  <fo  A'««  er  küme  kamen  von.  —  39,  1  wort,  b  wider 
nytd  noch  hass.  0  gegen\  hochgemut.  —  40,  1  ho/j'arl.  1  ymc 
süsse.  5  fehlt.  7  zür\  dort  der  bitter.  8  wer  fünden  in  den 
schänden   wirf,   vnd  fert.      9    deme\    syme.    —    -41?  1    lange   zit. 

2  wer]  hoffart.  3  im  fehlt.  4  rfaz  <?«  verfellet.  6  ;TÄ/e  fehlt. 
7.  8  umgestellt.  8  Ä?er.  —  42,  1  willü\  guol  fehlt.  3  jungen 
mannen.  5  ^-o/.  7  streben.  9  löuffel]  wise.  10  kalzen.  —  44,  1 
//a?i  i7/(!.  7  wanne  ez  ist  grosse  misset  ad.  8  rför  zu]  fründez. 
9  schlüss.  10  rf«i  zünge.  —  45,  1  beyde.  2  *g/t'M  yo/.  3  jver. 
5  wer.  7  m  der.  8  //er  a'o  verlüret.  —  50, 1  wer.  3  wanne 
er  hat  schänden  ane  gesiget.  4  fehlt.  5  krüch  er  loch.  ü.  7 
umgestellt.  6  rft;.y  /«a/<  /67/  j/e  ?nit  willen  gert.  8  worzelen. 
9  eywe.  10  yow/.  —  52,  1  zrvey  ding  eren.  5  daz  edel  gestein. 
0  alz  dünt  war.  9  war.  10  schrencket  hin.  —  53,2  ge- 
stercket  mit.  5  wer.  7  yme.  8  verdienet.  10  rfot  A/aw.  — 
55,  2  //•  Strosse  ir  steige  ger  du  nit.  4  wie  gul  geferte.  5  dich 
ez    ist.     6    wo.     7   yy(>/T.     10    befriden.    —    56,  1    enwil\    me. 

3  sin  alles.  4  rechten  allen  dryn.  5  6?e//«t'.  9  dusent  yiement 
lere  von. 

Blatt  732  a.  Überschrift:  X\  liedcr  in  dem  selben  done. 
Es  folgen  15  Strophen  des  Winsbekeu.  Varianten:  65,  1  din 
hohen.  2.  dinen.  4  des  manc  zweimal.  6  steten  rüwen.  7  von 
schulden.  8  daz ;  myn  lip  gesondct.  9  ein  phant.  —  66,  1  here. 
2  /'ervallen.  8  dogende.  9  schecher.  10  fehlt.  —  67,  1  wi/u/art. 
2  ywrf.     6    nü]   der  alter.     7  m  sitie  stricke  mich.     10  rfe«  mir. 

—  68,  1    noch    trostel   mich  gedinge   wol.     2   daz]    endnlich  für 


252  LEITZMANN 

uar.  o  dien  ich'  4  am  Ion.  Ü  dwjemercker.  7  wircken.  10 
m\jn  Ion.  —  09,  1  vnd.  2  vnd.  3  obe.  7  die  rechter  rüwe  ye 
helffe  hat.  —  70, 2  gebürl  eins  laycs.  4  würt.  5  da  hat  din 
/rorheit  nie  gewalt.  7  daz  ich  ein  teyl  nie  engalt.  10  grosser 
schulde.  —  .71,  1  alle.  2  kein.  3  von  oben  abe  biz  iiff  den 
grünt.  4  •  sigc.  5  dine.  0  verliunst.  8  2M  büssen.  9  a'/ää/; 
mynem.  —  72,  2  mir  nach.  3  /«  wj/cä  hie  also  lange,  ö  //^a'*. 
7  rf//<c.  9.  10  umgestellt,  'd  welle  lebe.  —  73,3  stärckem  rüwen. 
5  rf^r  fehlt.  9  sie.  10  rfm  fehlt.  —  74,3  nmtnmen.  10  her- 
barmhertzikeii.  —  75,  2  f//^  nydert  hoher t  wen  sie  wil.  3  na- 
bächodonisor.  4  /^e//^.  5  ho/farl.  9  ^/^m  rfme/i  z,orn  den  ich 
verdient.  10  da  her  han  do  vor  mich  bewar.  ■ —  76,  1  gesagen. 
2    biss    her.     4    swarem.     5    wcre    ir.     0    wie;    sonden    enteylt. 

7  /<'0?i(?/  in  ir.  8  bekliebcn.  10  /a«/  /cÄ  «?i;  geschrieben.  — 
77,  2  /-tfc/i/  «/*•  6'/n  sonder.  5  way  /i<?nrf^  orf^r  fiiss.  6  geregen' 
dich  fehlt.  8  yo?i  hymel.  —  78,  6  mich  scre.  10  e/'  dinen  willen. 
—  SO,  3  lass  ich.  4  vnd.  5  bi^iwet  vnd.  7  /<«/<  ^a.  9  eingeborn 
son.     10  ziehen  wollen. 

Blatt  SOO  a.  überschritt:  rftv  gelriuvcn  muter  lere  in  der 
grnss  wyse  dcz  tugoilhafflen  schrybers.  Es  folgen  8  Strophen 
der  Winsbekiu.  Varianten:  1,  2  zu  ir]  schon.  3  die  ic.  4  ge- 
heitiget'^  der  liebe.  5  erst.  7  wyser  lere.  8  ist  des.  9  soln; 
hohe  fehlt;  loben  drum.  —  Vor  2:  die  locht  er.  2,  1  volg\  liebe. 
2  /o/y^M  in  so  best  ich,  4  seh  tnit  äugen.  5  6v';t  lugend.  6  //•// 
m  sinen.  7  Ä-e/6  rfer  erc«.  8  vnd'^  soln  ir  kint.  Statt  9.  10: 
eren  vnd  sie  sie  lern  die  in  gehorsam  sint.  —  4,  1  nu  rat  lieb. 
4  wall.  5  wil  sin  fro  vnd  fry.  0  Herwegen.  7  hoff'art  vnd 
eren  auch  der  zwey.  9  welch  fraw.^  knmpt.  10  sich  dez  ver- 
slichtet. —  5,  2  vnd  dar  vnder  in.  3  tvirl.  4  crancz  von  rosen 
eben.  5  den  ergern  soll  mit  züchten  geben.  6  lass  in  din 
hercze  schäm  vnd  mass.     7  hil/f  aller  vnzucht  wyder  sieben  (sie). 

8  so  nvicht  vermyden  siele  pin.  10  wo  böse.  —  6,  1  mass  daz. 
2  die  fehlt;  geben.  3  let  sie  gol  leb  in  diner.  4  diner.  5  du 
mach  yn  eren.  6  nu  rat  du  liebe  muter  myn.  7  solicher  ding 
bin  ich  nit  ivys.  8  wo.z  wilder.  9  wie  vnde  wo  ich  mydcn  sol. 
10  mache  nit.  —  7,2  ho/f  gewysel.  3  wo  ein.  4  lar  sie  die 
äuge  fliehen  hien.  5  also  sie  hab.  6  gesche.  7  ir  lop  mit 
krancken  gwin.  8  merclwr;  vns  gesicht.  9  zwing  dine.  10  das 
7iit  ich  kint  vnd  bittens  dich.   —   8,  1  muter  dir  sy  vor  war  ge- 


zu  WINSbEKE  UND  WIN6BEKIN.  253 

sagt.  2  nie  dein  ich  hab.  3  die  fratv  mir  nijinmcr  ivul  helutgt. 
4  welch,  ü  her  hebet  recht  alz.  G  vnd  auch  dar  vnder  lachent 
vil.  7  die  prysenl  nit  den  yren  gral.  8  ouch  fehlt;  vnfrauUch 
müt.      U)    irr    gebort    vil    dicke.    —    9,   1    ivysc.      2    sint    din. 

3  werck.  5  nesl  vogel.  (3  der  gijt  den  andern  sich  zu  spil. 
7  vnd  wirt  sin  federn  gm  verzogen.  8  ein  vss  /lug  der  ist  nit 
zu  loben.  9  kint  dir  mag  auch  also  geschehen.  10  halt  du  dich 
in  der  eren  cloben. 

Blatt  803  a.  Überschrift:  in  der  grüss  ?vgse  des  sünes 
aniwurt  vff  des  vatters  lere  die  er  vor  vnd  nach  hat  getane  dem 
sone.  Es  folgen  11  Strophen  des  Winsbeken.  Varianten:  57,  1 
vetterlich.  5  die  alte.  6  n-ol  gemessen  hohe.  7  die  bitt  ich  sie 
mich  gutes  man.  9  fnir  dort  wolle  (getilgt:  darob).  10  richc 
darumbe  (getilgt:  müsse).  —  .")8,  1  ach  vatler  ich  bin  noch  ein 
kint.  2  doch  sehen  ich  daz  die  weite  birt.  3  ein  gogel  werck 
ir  freude  sint.  4  recht  alz  ein  kol  verbrynnen  wirt.  5  ein  mist 
ir  trost  ein  vngenyst.  6  let\  frund  in  swercr  hab.  7  ynnoi. 
10  hab.  —  59,  1  vater  fehlt;  ein  alter;  müde.     2  hab.     3  wer  ie. 

4  nahe  leyten\  stab.  5  sich  vatter  da  gruwet  mir  ab.  7  volgct 
ZH  dem  grab.  9  wysheit  ist  vernichl.  10  selbes.  —  00,  1  eim 
wysen;  schöne  fehlt;  zympl.  2  schon  daz;  tuo  fehlt.  3  nympt. 
4  da  worde  sust  vil  licht  vermitten.  5  tvol  alt.  0  er  nit  be- 
kennet. 8  der  toren.  9  lob.  10  biss  ans  ende.  —  01,1  rr- 
laub;  ich  zeln.  2  gein  dir  entsliessen  gar.  3  es\  by  mir  ver- 
heln.  4  vor.  5  leg.  0  selber.  7  in  siner.  8  hab  sol\  zeln. 
9  vor.  10  hymel  rieh.  —  62,  1  die  red.  2  reyncr.  3  frauw. 
4  so  vil  von  gotte.  7  vmb  dich.  8  gelebt.  9  geben.  —  6,  1 
leb;  hab.     3  nieman  alt.     (>  cnruch  dich.     Im  übrigen  wie  oben. 

—  7,  1    sytt.     3  selber  mit.     5  furebas.     Im  übrigen  wie  oben. 

—  63,  1  7vas.  2  gein  dysen.  3  si)it.  4  sund.  5  sag.  0  keuff'en. 
9  wirt.  10  williclich  gegeben.  —  Hierauf  eine  stroi)lic,  die  allen 
andern  handschriften  fehlt: 

Nu  sag  an  luynii  ich  frage  dich 
wie  stet  diu  hiilV  vnd  diu  gewalt 
sie  sint  verdorben  duneket  mich 
vnd  sint  auch  nit  alz  ee  gestait 
sie  jehent  du  seist  ein  teil  zu  bald, 
nu  schäm  dich  durch  die  reine  wyp. 
daz  vnverswendet  stet  der  walt 


254  LEITZMANN 

diu  schappel  dir  vncbeu  stat 
daz  hat  gemacht  ein  nuwer  walt 

daz  gut  weyss  got  nu  vor  uch  gat. 

Bartsch  hat  diese  str()i)he  (Meisterl.  s.  82)  in  correctem  mhd. 
hergestellt,  gibt  jedoch  in  zciic  0  statt  wall  site,  offenbar  con- 
jectur.    —    64,  1    süss;   umsten   wangen.     3   lul  uch.     4  volgent. 

6  dann.  8  ez  ist  nil  gar  ein  kindes  spil.  9  tver\  arbeit.  10 
gölte  dienen  wil. 

Blatt  803  d.  Überschrift:  ein  ander  lere  dez  vatters;  In 
der  grüss  nnjse.  Es  folgen  27  Strophen  des  Winsbeken.  Varian- 
ten:   22,2    zu   ho/f.     5  irag.     7  selde.    —    23  ganz    wie   oben. 

—  24,  3  vnenvege)L.  Sonst  wie  oben.  —  25,  4  zu  gehel.  Sonst 
wie  oben.  —  20.  27  ganz  wie  oben.  —  28,4  körn.  10  da 
feidt.  Sonst  wie  oben,  —  29, 2  daz  es.  Sonst  wie  oben.  — 
30  ganz  wie  oben.  —  31,4  din  wurde.  10  geslahl.  Sonstwie 
oben.  —  32,  2  neslen.  9  hesser  dir.  Sonst  wie  oben.  —  33,  8 
gar  fehlt.  Sonst  wie  oben.  —  34  wie  oben.  —  35,  3  gar  guter. 
4  dogenden.  Sonst  wie  oben.  —  36.  37  ganz  wie  oben.  — 
39,5  tveder.  Sonst  wie  oben.  —  40  ganz  wie  oben.  —  41,4 
ein  spil.  Sonst  wie  oben.  —  42,  3  jungen  manne.  Sonst  wie 
oben.  —  44, 6  so  nü.  Sonst  wie  oben.  —  45.  50  ganz  wie 
oben.  —  52,  6  also.  Sonst  wie  oben.  —  53  ganz  wie  oben.  — 
55,10  gefryden.  Sonst  wie  oben.  —  56,9  von  dryji.  Sonst 
wie  oben. 

Blatt  806  b.  Überschrift:  item  Äf  lieder  aber  in  dem 
selben  done.  Es  folgen  15  Strophen  des  Winsbeken.  Varian- 
ten: 65,4  des  mane.  Sonst  wie  oben.  —  66,3  fryen.  Sonst 
wie  oben.  —  67,9  nem.  Sonst  wie  oben.  —  68,6  dagewercker. 
Sonst   wie   oben.    —   69   ganz   wie   oben.    —    70, 5  7ne  geslalt. 

7  des  ich.  Sonst  wie  oben.  —  71  ganz  wie  oben.  —  72,  2 
noch.  10  dan.  Sonst  wie  oben.  —  73.  74  ganz  wie  oben.  — 
l^)^'-\  nabüchodonosor.  Sonst  wie  oben.  —  li5,A  swaren.  H)  deme. 
Sonst  wie  oben.  —  77, 6  ich  dich.  8  vo7i  himel  fehlt.  Sonst 
wie  oben.  —  78,3  an  rüwen.     10  vnd  in  din.     Sonst  wie  oben. 

—  80  ganz  wie  oben. 

Den  dialekt  des  Schreibers  der  Kolmarer  handschrift,  der 
auch  dichter  war  (vgl.  Meisterl.  s.  186),  im  Zusammenhang  zu 
unterKiichen  würde  eine  dankbare  aufgäbe  sein.  Was  unsre 
Strophen  anbelangt,  so  ist  hier  der  dialekt  kein  reiner:  es  sind 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  255 

eine  menge  von  formen  aus  der  ostfränkischen  vorläge  in  einen 
andern  fränkischen  dialekt,  jedenfalls  den  rheinfränkischen, 
umgesetzt,  aber  auch  sehr  viele  unverändert  stehen  geblieben. 
Die  kleine  7Aisammenstellung,  die  ich  hier  gebe,  macht  auf 
Vollständigkeit  keinen  anspruch,  sondern  enthält  nur  das  eigen- 
artigste der  lautlichen  Verhältnisse.  Eine  vollständige  Unter- 
suchung würde  auch  alle  kleinen  eigenheiteu  der  Orthographie 
in  ihr  bereich  zu  ziehen  haben. 

Voealismus.  Statt  ä  erscheint  häufig  6:  one  1,5.  Wkin 
7,  G.  8,9.  Tvörheil  17,5.  70,5.  worhaft  5G,  8.  ivor  52,  (i.  nahe 
3U,  5.  56,5.  noch  34,6.  42,7.  ro^  35,  2.  woj^  31,  1.  41,  6. 
45,  3.  56,  2.  7vöt/e  42,  4.  ströze  55,  2.  spute  68,  7.  slofen 
42,10.     verslöfen  ^%,'^^.     stol  10,6. 

Statt  II  erscheint  häufig  o  vor  einfachem  nasal  oder  nasal 
+  eonsonant:  so7i.  vrome  37,  9.  gehonden  53,  3.  tronder  74,  2. 
Tvondern  76,  2.  vonden  40,  8.  73,  9.  sonde  66,  2.  69,  4.  70,  3. 
71,7.  73,5.  74,7.  76,3.  77,4.    sonden  6.5,8.    A-ow</^r  69,  3.  71,(). 

77.2.  Ferner  steht  o  in  7vorzelen  50,8  und  häufig  m  jogent, 
togent. 

Consonantismus.  Hier  interessiert  vor  allem  der  stand 
der  lautverschiebung.  Folgende  formen  weichen  vom  normalen 
mhd.  Staude  ab.  Labiale:  pafj'e  6,  6.  7,2.  —  plegen  20,  10.  24,  l. 
50,1,  —  hris  18,9. 

Dentale:  dag  68,6,  —  dal  45,7.  —  gidikeit  29,5,  —  diuvel 

40.3,  —  dohen  29,7.  —  dogenl  22,3.  28,  3.  5.  9.  30,  6.  31,8. 
35,  4.  50, 1.  65, 10.  66,  8.  69,  (i.  71,5.  —  dopelspil  20,  9.  —  dore 
5,7.  37,  1.  —  döt  53,6.  —  draege  33,  10.  —  dragen  22,5.  23,6. 

33.1.  39,5.  —  dranc  14,2.  —  dreien  44,10,  59,3,  67,5.  — 
driegen  26,9.  —  drinitäl  65,  1.  —  driuwe  7,6.  8,8.  16,7.  39,3. 

—  drost  36,6.  —  dump  6,10.  17,8,  32,4,  —  diion  23,8.  27,3. 
30,  6.  36,  3.  8.  39,  2.  52,  6.  74,  6.  9.  77,  1  (doch  misse/äd  30,  7, 
34,  4.  44,  7.  65,  3.  geladen  80,  2).  —  düsent  56,  9.  —  z)ring 
Wkin  7,  9. 

Häufig  ist  vor  ein  anlautendes  e  ein /i  getreten :  herbarmen 
und  verwante  worte  10,4.5.6.  74,  10.  —  herkennen  11,8.  17,9. 

19.2,  —   her  hohl  36,5.    —  henveln  61,10.  —    her /rinden  63,7. 

—  herwegen  Wkin  4,  6.  —  herzogen  8,  9.  —  herheben  8,  5, 

Verwechselungen  vou  do  und  da,  diu  und  die  sind  häufig. 


25G  LEITZMANN 

Es  erübrigt  noch  auf  die  frage  nach  dem  Verfasser  unsres 
gediehtes  einzugehen,  da  uns  hier  unsre  baudschrift  auf  den 
ersten  blick  sehr  merkwürdiges  bietet.  Die  handschriften  mit 
ausnähme  von  C  geben  alle  das  gedieht  ohne  verfassernamen, 
B  sogar  ganz  ohne  Überschrift:  C  gibt  von  Winsbach.  Dass 
dies  der  name  des  dichters  ist  oder  vielmehr  zunächst  nur, 
dass  der  Sammler  oder  Schreiber  von  C  einen  Winsbach  für 
den  dichter  hielt,  als  den  dichter  wusste  oder  in  seiner  vor- 
läge angegeben  fand,  unterliegt  keinem  zweifei.  Wenn  wir 
auch  sonst  von  einem  solchen  dichter  nichts  weiter  wussten, 
so  war  es  doch  nichts  weniger  als  kühn  in  dem  Windesbecke 
einer  stelle  des  Renners  denselben  mann  zu  sehen.  Die  stelle 
lautet  (MSH  4,  872.   Gottfr.  v.  Neif.   V.  Haupt): 

gitikeit,  luoiler  unde  unkiusche, 
mnotwille  unde  unzemlich  tiusche 
liabent  mangen  hern  also  besezzen, 
(laz  sie  der  wise  gar  hfint  vergezzen, 
in  der  hie  vor  edele  herren  sungen, 
von  Boteuloube  und  von  Morungen, 
von  Linburc  und  von  Windesbecke, 
von  Nife,  Wildön  und  Brunecke. 

Meiner  Überzeugung  nach  würde  diese  erwähnung  bei  Hugo 
von  Triraberg  allein  beweisen,  dass  es  einen  dichter  des 
namens  gegeben  habe,  den  auch  die  handschrift  C  für  unser 
gedieht  angibt,  wenn  auch  weitere  urkundliche  Zeugnisse  für 
das  geschlecht  sich  nicht  fänden  (Haupt  vorn  XII.  Zs.  fda. 
15,  261).  Der  einzige,  der  an  dem  Winsbeken  als  dichter 
zweifelte,  war  Goedeke  (Grundr.i  1,  42),  gegen  den  jedoch 
Pfeiffer  Haupts  deductionen  in  schütz  nahm  (Germ  2,  501). 
Nach  unsrer  Kolmarer  handschrift  nun  wäre  das  gedieht  in 
der  grussweise  des  tugendhaften  schreil)ers  abgefasst.  Ist  auf 
diese  angäbe  liin  der  Schreiber  als  Verfasser  anzunehmen? 
Denn  zunächst  niuss  festgehalten  werden,  dass,  wenn  wirklich 
die  Winsbekenstrophe  eine  weise  des  Schreibers  gewesen  wäre, 
wovon  anderweitig  nichts  bekannt  ist,  der  Schreiber  darum 
noch  nicht  notwendig  der  Verfasser  zu  sein  braucht.  Bartsch 
(Meisterl.  s.  158)  und  Goedeke  (Grundr.^  1,  162)  scheinen  ge- 
neigt ihn  dafür  zu  halten,  Bartsch  mehr  zurückhaltend  und 
zweifelnd,  Goedeke  oftener  und  bestimmter.  Ueber  den  tugend- 
haften Schreiber  ist  zu  vergleichen  MSH  4,  46;j;   J.Grimm  und 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  ^bl 

Haupt,  Zs.  fda.  6,  186;  Funkhänel,  Zeitschr.  f.  tiiring.  gesell. 
2,195;  Laehniauii,  Kleiu.  sehr.  1,  316.  Ganz  abgesehen  davon, 
dass  der  Schreiber  durch  seine  beteiligung  am  Wartburgkriege 
etwas  in  ein  mystisches  dunkel  gehüllt  ist,  findet  sich  auch  in 
seinen  sonst  erhaltenen  gedichten  (MSH  2,  148),  von  denen 
y.  d.  Hagen  4,  467  eine  schöne  Charakteristik  gibt,  nichts,  was 
entfernt  an  die  art  des  Winsbeken  erinnerte:  einzig  das  streit- 
gedicht  zwischen  Keie  und  Gawein  könnte  man  heranziehen, 
das  ihm  vielleicht  nicht  einmal  gehört.  Die  minnelieder  des 
Schreibers  sprechen  eine  idyllische,  zuweilen  elegische  natur 
aus,  versenken  sich  in  die  empfindung,  lassen  jedoch  kaum 
eine  recht  greifbare  Individualität  erkennen:  von  den  hohen 
ethischen  gedanken  und  dem  plastischen,  gedrungenen,  zuw^eilen 
an  Wolfram  erinnernden  stil  des  Winsbcken  finden  wir  hier 
nichts.  AVas  Goedeke  noch  als  argument  für  seine  annähme 
aufführt,  man  müsse  der  Überschrift  in  k  glauben  schenken, 
da  Jüngere  handschriften  oft  aus  den  besten  quellen  geschöpft 
hätten,  müsste  doch  für  unsern  speciellen  fall  erst  noch  mehr 
gestützt  und  wahrscheinlich  gemacht  werden,  ehe  es  uns  be- 
wegen könnte  einem  werke  einen  durch  zwei  ältere  Zeugnisse 
gestützten  verfassernamen  zu  nehmen,  um  auf  ein  jüngeres  hin 
eine  der  vagen  gestalten  des  Wartburgkrieges  dafür  einzu- 
setzen. Was  den  namen  Winsbekin  betrifft,  so  hat,  glaube 
ich,  Hauj)t  allen  frühereu  fabeleien  und  märchenhaften  hypo- 
theseu  gegenüber  das  richtige  getroflen,  indem  er  ihn  (vorr. 
XII)  für  willkürlich  und  ungeschickt  gesetzt  und  aus  der  ab- 
sieht hervorgegangen  erklärte  dem  ersten  geaichte  sein  gegen- 
stück  auch  in  der  Überschrift  gleichzurücken. 

11.  Das  handschriftenverhältnis  beim  Winsbcken. 
Die  handschriften,  in  denen  das  gedieht  des  Winsbcken 
uns  überliefert  ist,  sind  folgende:  die  Weingarter  liederhand- 
schrift  ß,  die  Pariser  liederhandschrift  0,  die  Hcrliner  Xibe- 
lungenhandschrift  I,  die  Kolmarer  liederhandschrift  k,  eine 
Gothaer  handschrift  g,  eine  Basler  K  und  eine  Wiener  w  (in 
letzteren  beiden  nur  fragmente).  Es  wird  nun  im  folgenden 
unsre  aufgäbe  sein  die  princii)ien  für  die  textkritik  zu  ge- 
winnen und  das  verfahren  von  Haupt  bei  seiner  herstellung 
eines  gereinigten  textes  einer  nachprüfuug  zu  unterziehen. 


258  LEIiZMANN 

Hau])t  selbst  hat.  ebenso  wenig-  wie  Laehinann  es  geliebt 
über  seine  ansieht  vom  handschriftenverhältnis  mhd.  gedichte 
und  seinen  daraus  etwa  gewonnenen  kritischen  principien  in 
der  einleituug  in  ausführlicher  weise  recheuschaft  zu  geben. 
So  findet  sich  in  betrelV  unsres  gedichtes  nur  folgender  kurze 
und  ziemlich  unbestimmte  satz  (vorrede  VII)  'von  diesen  hand- 
schriften  ist  B  weder  die  älteste  noch  die  sorgfältigste  zu 
nennen;  sie  mag  etwas  jünger  sein  als  I  und  vor  einzelnen 
versehen  haben  sich  die  Schreiber  von  C  und  I  besser  gehütet: 
dennoch  musste  ich  sie  meiner  ausgäbe  zu  gründe  legen,  da 
die  andern  handschriften  zwar  hier  und  da  richtigeres  geben, 
was  mir  hoffentlich  nirgends  entgangen  ist,  aber  im  ganzen 
die  Überlieferung,  der  jene  folgt,  willkürlich  verändern.'  Ob 
diese  sätze  begründet  sind,  werden  wir  im  folgenden  zu  unter- 
suchen haben. 

Ein  kriterium  für  die  bestimmung  der  verwantschaft  zweier 
handschriften  ist  bei  unserm  gedichte  ähnlich  wie  bei  den 
minnesängern,  die  in  vielen  von  einander  abweichenden  hand- 
schriften überliefert  sind,  die  anzahl  und  anordnung  der 
Strophen,  über  die  ich  im  nächsten  abschnitt  handeln  werde. 
Zeigen  sich  in  diesem  punkte  bei  der  natur  unsres  gedichtes 
wol  gänzlich  unbeabsichtigt  sich  einstellende  beziehungen  der 
art,  dass  sie  auf  eine  nähere  verwantschaft  zweier  handschriften 
unter  einander  hindeuten,  so  kann  man  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit, falls  die  vergleichung  der  lesarten  nicht  unmittelbar  da- 
gegenspricht,  Zusammenhang  oder  Unabhängigkeit  danach  fest- 
steilen. Absehen  muss  man  bei  einer  solchen  Untersuchung 
natürlich  von  den  fällen,  wo  sich  das  fehlen  einer  oder  meh- 
rerer Strophen  aus  äusserlichkeiten  und  füichtigkeiten,  wie  z.  b. 
das  so  häufige  überspringen  auf  gleiche  worte  in  einer  späte- 
ren Strophe  erklärt  oder  auch  sonst  der  verdacht  der  unecht- 
heit  erhoben  werden  kann.  Nach  eliminierung  solcher  fälle 
jedoch  wird  sich  ein  in  gewissem  grade  gesichertes  resultat 
ergeben,  in  wie  weit  die  erhaltenen  handschriften  oder  ihre 
vorlagen  mit  einander  zusammenhängen  oder  nicht.  Ich  sage, 
ein  in  gewissem  grade  gesichertes  resultat,  denn  mit  exacter 
gewissheit  kann  in  fragen  der  textkritik  sehr  oft  nicht  nach 
der  einen  oder  andern  seite  hin  entschieden  werden:  und  auch 
in  unserm  "-edichte  gibt  es  dergleichen  fälle  genug. 


zu  WINSBEKK  UND  WINSBEKIN.  259 

Die  stropheuordnung  und  -anzabl  nun  ist,  wie  aus  der 
tabellarisclicu  übersieht  des  nächsten  capitels  mit  leichtigkeit 
ersehen  werden  kann,  bei  jeder  handschrift  eine  andre:  wir 
haben,  da  die  fragmentarischen  handschriften  K  und  w  Avenig 
in  betracht  kommen,  weil  sie  eben  wegen  ihres  fragmenta- 
rischen zustandes  nicht  mit  Sicherheit  beurteilt  und  rangiert 
werden  können,  fünf  verschiedene  gestaltungen  der  Überliefe- 
rung vor  uns.  Eine  vergleichung  der  lesarten,  die  ich  ange- 
stellt habe,  führte  zu  demselben  resultate.  Es  finden  sich  an 
keiner  stelle  zwischen  zwei  handschriften  Übereinstimmungen 
der  art  und  des  umfangs,  dass  sie  beide,  weil  auf  eine  ge- 
meinsame vorläge  zurückgehend,  bei  fragen  nach  kritischer 
herstellung  des  textes  nur  eine  stimme  haben  könnten.  Ueberall 
sehen  wir  eine  wechselnd-e  mannigfaltigkeit  der  Überein- 
stimmungen und  abweichungen.  Man  kann  schon  bei  flüch- 
tiger durchmusterung  nicht  übersehen,  dass  zuweilen  Überein- 
stimmungen zwischen  handschriften  sich  finden,  die  auf  den 
ersten  blick  eine  nahe  verwantschaft  zu  erweisen  scheinen ^ 
doch  sind  solche  congruenzen  einesteils  sehr  selten,  andern- 
teils  immer  local  auf  einen  sehr  kleinen  räum  beschränkt; 
zudem  stehen  sie  auch  dann  noch  an  orten,  wo  kurz  vorher 
und  nachher  die  beiden  so  eng  verwant  scheinenden  Über- 
lieferungen wider  auseinandergehen  und  uns  so  jene  Überein- 
stimmungen als  zufällig  erscheinen  lassen.  Ich  will  zum  be- 
weise dieser  behau ptung  eine  dieser  stellen  hier  anführen  und 
zwar  diejenige,  die  mir  am  meisten  auffiel:  sie  alle  einzeln  zu 
besprechen  würde  keinen  wert  für  uusre  Untersuchungen  haben, 
da  sich  solche  Übereinstimmungen,  wie  ich  glaube,  einzig  durch 
annähme  einer  unbestimmten  anzahl  von  mittelgliedern  würden 
erklären  lassen,  die  wir  zwischen  einer  hypothesierten  einzigen 
vorläge  und  den  erhaltenen  handschriften  anzusetzen  hätten, 
und  eben  bei  ihrer  ganz  problematischen  natur  weit  mehr  dazu 
angetan  sind  unser  urteil  zu  trüben  und  auf  abwege  zu  leiten 
als  es  zu  fördern.  Es  würden  ausserdem  doch,  sellist  wenn 
wir  jene  erwähnten  mittelglieder  statuierten,  die  erhaltenen 
Überlieferungen  bei  ihrer  sonstigen  Verschiedenheit  als  von  ein- 
ander unabhängig  zu  gelten  haben.  Die  Übereinstimmung 
findet  sich  in  B  und  k  in  Strophe  50.  Beide  haben  zeile  3 
dem    und  also  mit  der  mäze  tviyct   der   übrigen   gegenüber  u-an 

Beiträge  zur  geschiclite  der  deutschen  siiraclie.     Xlll.  ic 


260  LEirZMANN 

{wanne  k)  er  {hat  k)  schänden  angesigt  (ane  geslget  k)  und 
lassen  darauf  die  4.  zeile  aus;  darauf  haben  beide  als  7.  zeile 
eine  allen  andern  fehlende:  des  han  ich  ie  mit  willen  hegert 
{gert  k).  Die  congruenzen  sind  frappant  und  doch  dürfen  wir 
darauf  keinerlei  Schlüsse  gründen:  denn  grade  an  dieser  stelle 
weichen  stropbenordnung  und  -anzahl  beider  handschriften  am 
meisten  von  einander  ab,  ohne  dass  sich  äussere  gründe  dafür 
auffinden  Hessen,  und  auch  die  lesarten  der  nächststehenden 
in  beiden  überlieferten  Strophen  stimmen  gerade  in  charakte- 
ristischen dingen  nicht  mehr  zusammen.  So  hat  vielmehr  k 
mehrere  lesarten  mit  C  und  I  gemein  und  gerade  an  für  B 
charakteristischen  Varianten  wie  52,  7  das  fehlende  niht,  53,  2 
giiekeit,    45,  9  fuogen  nimmt  es  keinen  teil. 

Wir  haben  also  kein  recht  irgend  zwei  der  handschriften 
zu  einer  gruppe  zu  verbinden.  Wären  sie  nun  alle  von  gleicher 
absoluter  vorzüglichkeit  und  Zuverlässigkeit,  so  würde  sich  als 
oberstes  und  einziges  textkritisches  princip  einfach  der  satz 
ergeben,  dass  wir  die  echte  lesart  immer  auf  der  seite  der 
majorität  zu  suchen  hätten.  Da  diese  bedingung  aber  kaum 
je  und  auch  im  vorliegenden  falle  nicht  statt  hat,  so  bleibt 
uns  im  folgenden  noch  die  frage  zu  beantworten,  in  wie  weit 
wir  aus  der  beschaffenheit  der  einzelnen  handschriftlichen  Über- 
lieferungen an  sich  betrachtet  textkritische  principien  gewinnen 
können.  Wir  betrachten  zu  dem  zwecke  die  einzelnen  hand- 
schriften im  hinblick  auf  ihren  wert  und  den  absoluten  grad 
ihrer  Zuverlässigkeit. 

Von  den  fragmentarischen  handschriften  K  und  w  können 
wir  im  folgenden  absehen,  w  hat  in  seinen  6  erhaltenen 
Strophen  vier  sinnentstellende  fehler:  2,  7  suwercUche  =  sinnec- 
liche  BClKgk;  2,8  funden  =  swinde{n)  BIKk;  6,3  meinen  = 
niernan  BCIgk;  6, 5  schaden  =  saelden  BClgk.  Ueber  K  ist  nichts 
besondres  zu  bemerken:  es  zeigt  hinneigung  zu  den  lesarten 
von  I,  zuweilen  auch  von  B,  es  bleiben  also  noch  B,  C,  I,  g,  k 
übrig.  Diese  fünf  handschriften  zerfallen  in  zwei  gruppen: 
eine  bessere,  die  von  BCI,  und  eine  schlechtere,  die  von  gk 
gebildet  wird;  die  handschriften  der  ersten  gruppe  sind  älter, 
die  der  zweiten  jünger. 

In  der  ersten  gruppe  ist  B  bei  weitem  die  unzuverlässigste 
und  schlechteste:   sie  verdient,  wie  ich  im  folgenden  zu  zeigen 


zu  WINSßEKE  UND  WINSBEKIN.  2GI 

gedcDke,  die  ehre  als  grimdlage  des  herzustellenden  textes  zu 
dienen,  die  Haupt  ihr  erwiesen  hat,  durchaus  nicht.  Ich  gebe 
im  folgenden  zunächst  eine  Übersicht  der  hauptsächlichsten 
offenbaren  entstellungen  und  fehler  in  B.  7,  5  fürhas  =  ferre 
haz  Clg.  9,  6  so  kusche  =  so  ze  huse  Igk.  9,  9  frünt  == 
tragen{t)  Clgk  {fnwient,  was  Haupt  hier  aus  der  lesart  von  13 
durch  conjectur  gemacht  hat,  wird  schw^erlich  richtig  sein, 
denn  im  classischen  mhd.  steht  nach  einem  imperativ  gewöhn- 
lich der  conjunctiv;  vgl.  Paul,  Mhd.  gramm.2  358).  12,10  de7' 
er  =  daz  er  Clgk.  13,3  er  dir  selben  =  ez  dir  saelde  Clgk. 
16,7  dienen  =  dienet  Clgk.  17,3  rehter  =  r///er  Clgk.  17,7 
spil  =  zil  Clgk.  2ü,  10  tegenes  =  siges  Clg  (k  hat  segens, 
eine  lesart,  die  otfenbar  mit  der  von  ß  zusammenhängt;  Haupt 
schreibt  degenes:  ich  glaube,  dass  siges  das  echte  ist,  da  der 
ganze  Zusammenhang  des  Vergleichs  ein  wort  verlangt,  das 
sowol  auf  den  kämpf  wie  auf  das  Würfelspiel  sich  bezieht; 
zudem  wäre  das  wort  degen  an  sich  auffällig).  23,  9  tvechselc- 
reyi  =  velschelaeren  CI.  24,  5  schüsch  =  schiuz  Clgk.  26,  1 
siver  ze  blaiche  an  sich  nimt  =  swer  ze  blicke  fuoge  entniml 
Igk.  28,  8  mag  ==  baz  CIKg  (die  sonst  häufige  Zusammen- 
stellung von  tnäc  und  vriunt  kann  diese  lesart  nicht  stützen; 
zu  dem  ist  nicht  einzusehen,  wie  der  fnäc  überhaupt  in  den 
Zusammenhang  des  gedankeus  hineinpasst;  offenbar  hat  Haupt 
an  der  construction  mit  vilr  nach  dem  comparativ  anstoss  ge- 
nommen; dafür  verweise  ich  auf  Paul,  Princ.-^  138,  ausserdem 
macht  mich  herr  professor  Paul  auf  eine  stelle  in  der  tleut- 
schen  grammatik  des  Laurentius  Albertus  aufmerksam,  wo 
bogen  M  6'^  als  regelmässige  construction  angeführt  wird:  er 
ist  gel  er  t  er  für  vielen  andern).  29,  10  verber  =  verlür  Igk. 
32,  8  leben  =  ligen  Clg.  35,  3  ervraischet  =  verliuset  Clgk. 
35,  6  verhat  =  vervat  Ig.  36,  7  MI  =  dol  Clgk.  38,  3.  6 
Sitten  =  snitte  Clg.  40,5  mos  mur  =  sur  C.  41,7  vermisset 
=  übermisset  Clgk.  43,  6  guot  an  =  gar  ane  Clg.  44,  4  gat 
=  slat  Clgk.  44,  5  gerne  gerat  =  gerne  hete  rat  Clgk.  45,  9 
fuogen  =  fuoren  Clk.  46,  8  und  uzgevangen  =  mmzgevangen  I. 
51, 10  rihtet  =  richet  CI.  52,  10  da  krenket  hin  =  da  schrenket 
hin  Igk.  53,  2  gitekeit  =  gestricket  Clk.  54, 7  e  =  ie  CI.  56,  4 
reden  =  raeten  Clk.  77, 1  iemmer  tuon  =  got  ich  tuon  I,  ich 
tuon  C.  —  Dazu  stellen  sich  folgende  auslassungen,  bei  denen 

18* 


262  LEITZMANN 

uicht  selten  der  sinn  des  satzes  in  sein  gegenteil  umgekehrt 
erscheint.  3,  9  also  vil.  18,  9  ouch.  37,  10  er.  38,  8  diu. 
39,  5  nit  noch.  48,  10  daz.  49,  8  die.  50,  4  die  ganze  zeile. 
52,  7  niht.  57,  3  vil  57,  8  hie.  57,  9  er.  60,  9  lohe.  Ferner 
eine  reihe  von  Umstellungen:  7,9.  29,6.  36,5.  44,2.  57,8.  57,9. 
60,  4.  62,  9.  Die  meisten  der  aufgeführten  Varianten  kennzeich- 
nen sich  auf  den  ersten  blick  als  mehr  oder  weniger  grobe 
eutstellungen:  keine  handschrift  unsrer  ersten  gruppe  zeigt 
deren  so  viele.  Wir  können  sogar  unter  diesen  umständen 
gar  nicht  wissen,  ob  nicht  auch  andre  abweichende  lesarten 
von  B,  denen  mau  es  so  auf  den  ersten  blick  nicht  ansieht, 
eutstellungen  in  sich  bergen. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  das  resultat,  wenn  wir  die  les- 
arten von  C  durch])riifen.  Auch  hier  stossen  wir  auf  viele 
augenscheinlich  ueue  lesungen:  doch  sind  es  meistenteils  nicht 
eutstellungen  des  echten,  sondern  bewusst  vorgenommene  cor- 
recturen  des  textes,  die  die  tendenz  haben  das  gedieht  zu 
glätten  und  teilweise  zu  modernisieren.  Ich  führe  auch  hier- 
von die  wichtigsten  auf.  2,  7  entstan  =^  verstau  BIgk.  2,  8  git 
=  wigt  BIgk;  ninden  =  S7vinde  BIk.  4,  7  hie  halt  =  behalt 
BIgk  (trotz  des  dem  hie  correspondierenden  dort  in  zeile  9 
glaube  ich  nicht,  dass  C  das  richtige  bietet),  4,9  hehaben  = 
vahen  BIgk.  4,  10  verhahe  =  versiahe  BIgk.  5,  1  sint  =  ist 
BIgk.  8,  1  hie  füge  =  {ge)füge  BIgk.  9,  2  nuwes  vingerlin  = 
minneving erlin  BIgk.  9,  4  dast  zenge  =  ze  wit  ist  BIgk.  9,  6 
niht"  ze  huse  =  so  ze  huse  Igk.  9,  10  wise  =  ahte  Big,  15,2 
des  =  eines  BIgk.  15,8  bestrichen  =  bestricket  BIgk.  18,5 
beschach  =  geschach  BIgk.  1 8,  9  eren  vil  =  pris  BIgk.  20,  8 
muoste  ==  muoz  BIgk,  21,10  brüst  =  tjost  BIgk.  22, 1  zie- 
ren =  kleiden  BIgk.  24,  2  niht  =  iht  BIgk.  28,  5  stver  = 
der  BIgk.  29,  3  herze  =  sin  Bk,  tugend  Ig.  29,  5  daz  ist  = 
ist  BIgk.  29,  6  dem  =  srvem  BIgk.  29,  8  den  =  n^en  BIgk. 
31,1  wissest  =  merke  ^l^k.  31,3  ellü  =  ze  a//er  BIgk.  31,9 
den  kranken  also  =^  die  kranckgemuofen  BIgk.  31,  10  als  im 
—  ist  =  als  in  —  si  Big.  32,  9  für  ere  =  verre  BIgk.  33,  7 
und  ouch  verswigen  =  und  unverswigen  BIk.  33, 9  an  muote 
=  daz  muotes  BIgk.  34,  7  ze  selten  =  ze  saelden  BIgk.  35,  6 
enpfat  =  vervat  Ig.  37,  2  tore  =  narre  BIgk.  38,  6  der  == 
srver  Ig.     39,  7  bis  =  den  BIgk.      40,  8  snile  =  schulden  Big. 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  263 

40,9  rouch  =  nun  BIgk.  41,6  einer  =  sincr  Bli^k.  42,4  in 
gelichcj-  ^  gelichcr  Blgk.  43,  9,  10  bat  C  deu  gauzcn  ge- 
dankcn  verändert.  44,  1  ganc  ^  solt  gan  Blgk.  44,  3  schände 
=  schaden  Blgk.  44, 5  hete  gerne  =  gerne  hele  Ig.  44, 9 
besluss  —  den  ^  sliuss  —  dinen  Blgk.  45,  4  eigen  =  huobe 
Blgk.  45,  9  valschen  =  swachen  Blgk.  46,  7  von  =  m  Big. 
47, 3  ungerihlig  =  ungcreisic  B.  47, 9  //u7  c/x'w  =  /«  ere« 
Big.  48, 6  ivislcn  =  wizzen  Big.  48, 8  Äöie  omcä  »iocV*  = 
hette  noch  Big.  50,8  wesen  =  wurzelen  Blgk.  51,  1  /</<*■  /««w 
^  husere  BI.  51,2  gz-ew  =  tagenden  BI.  51,7  ^m^  =  /i'^r- 
</e«/  BI.  51,9  diu  =  <//.ym  BI.  52,2  in  =  den  Blgk.  52,6 
geweriu  =  ;i"örm  Blgk.  52,  9  genennet  =  geheissen  Blgk.  52, 10 
Schüssel  hin  =  schrenket  hin  Igk.  53, 1  hant  =  em  bant  BIk. 
53,  5  f/er  =  swer  Blk.  53,  6  finde  =  /zwc?«?^  BIk.  53,  9  helfe 
=  Ä6'//e  BIk.  53,  10  die  not  =  klam  BIk.  54,  8  /a'^  =  yvirt 
BI.  55,  7  /;•  =  diu  BIk.  59,  2  n////  n«/<  ;=  </m  mit  Ik.  59,  3 
w^  =  gat  Ik.  60, 4  tvirl  =  wurde  BIk.  60, 6  erkoinet  = 
bedenket  BI.  62, 6  c2<ö  =  wacV«  BIk.  63,  4  vreude  =  sünde 
BIk.  63,  6  der  sache  =  dem  sacke  BIk.  64,  5  gerne  =  //Ä/e 
BIk.  64,  8  Ja  ist  ez  niht  =  ez  ist  niht  BIk.  66,  8  yo/i  miner 
schulde  =  i««rf  rf/ne  tugent  Bk.  67, 3  er^/  bedahl  =  iibcrdaht 
Ik.  67,4  (/o  =  d«2  Ik.  69,8  ^/aye'w  =  klagen  Ik.  71,9  aw 
=^  in  Ik.  72,5  geschehen  ^  ge/resen  Ik.  72,9  ä«  =  m  Ik. 
75, 6  wildes  gie  =  wilde  lief  Ik.  75, 8  leider  =  kleider  Ik. 
80,  6  enzien  =  vcrzihe  Ik.     80,  8  /«^e/  =  fürbas  Ik. 

Bei  weitem  die  beste  uud  zAiverlässigste  überlieferimg  liegt 
uns  meiner  Überzeugung  nacb  in  I  vor,  der  dritten  bandsclirif't 
unsrer  ersten  gruppe.  8ie  hat  fast  keine  sinnentstellenden 
fehler  und  nur  selten  auslassungen.  Ihr  wert  ist  von  Ihiupt 
bei  seiner  textherstellung  sicher  unterschätzt. 

lieber  die  handschrifteu  der  zweiten  gruppe  brauche  ich 
nur  weniges  zu  bemerken.  Sie  sind  sich  beide  ihrem  werte 
nach  so  ziemlich  gleich:  eutstellungen,  willkürliche  änderungen, 
grössere  uud  kleinere  auslassungen  linden  sich  in  g  wie  k  in 
grosser  anzahl.  Ich  brauche  sie,  da  auf  sie  meistenteils  kein 
wert  zu  legen  ist,  hier  nicht  alle  aufzuführen:  sie  lassen  sich 
aus  dem  abdruck  von  g  in  Beneckes  Beiträgen  oder  Haupts 
Variantenverzeichnis  sowie  den  angaben  meines  ersten  capitels 
leicht   ersehen.     Dazu   kommt,    dass  in  g,    worüber  später  zu 


264  LEITZMANN 

biuidelu  seiu  wird,  die  echte  stropbenorduung  vollstäudig  über 
den  baufeu  geworfen  ist. 

Gemäss  diesen  zusammeni>telluugen  und  beobacbtuugen 
über  die  absolute  zuverlässiglicit  der  einzelnen  uns  vorliegen- 
den bandscbril'teu  wird  in  dem  widerstreit  der  lesarten  in 
jedem  einzelnen  falle  zu  entscbeiden  sein.  Die  grundlage  bat 
im  allgemeinen  1  zu  bilden:  da  die  lesungen  dieser  bandscbrift 
selten  allein  stehen,  haben  sie  durch  die  Übereinstimmung  noch 
grössere  gewähr  der  echtheit.  Stimmt  C  zu  I  gegen  B,  so  ist 
die  lesart  beider  unbedingt  in  den  text  aufzunehmen,  gleich- 
viel ob,  was  meistens  jedoch  der  fall  ist,  die  handschrifteu 
der  zweiten  gruppe  beide  oder  einzeln  bestätigend  hinzu- 
kommen. Stimmt  B  zu  I  gegen  C,  so  hat,  wie  wir  sahen,  in 
den  weitaus  meisten  fällen  C  die  modernisierende  neuerung. 
Natürlich  können  von  diesen  allgemeinen  sätzen  unter  um- 
ständen auch  ausnahmen  stattlindeu,  deren  behandlung  sich 
dann  aus  dem  jedesmaligen  Verhältnis  der  texte  zu  einander 
zu  ergeben  hat.  Eine  Überlieferung  von  g  und  k  wird  nur  in 
den  seltensten  fällen  der  Übereinstimmung  zweier  oder  aller 
drei  der  ersten  gruppe  gegenüber  als  echt  in  den  text  aufzu- 
nehmen sein.  Liegt  allgemeine  Verschiedenheit  der  lesarten 
vor,  so  kann  natürlich  auch  auf  der  seite  von  g  oder  k  das 
richtige  sein. 


III.    Die  echtheit  der  Strophen  beim  Winsbeken. 
Ich   gebe  zunächst  im  folgenden  zur  bequemeren  Orientie- 
rung eine  tabellarische  Übersicht  der  Strophenentsprechung.    Die 
erste  columne  gibt  Haupts  Zählung. 


B 

C 

1 

K 

g 

k 

w 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

2 

2 

2 

2 

1 

2 

2 

2 

:i 

3 

3 

:i 

2 

7 

3 

3 

4 

4 

4 

1 

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3 

4 

4 

5 

5 

5 

5 

4 

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6 

6 

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10 

zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  265 


13 

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1 

11 

11 

11 

11 

11 

12 

12 

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13 

13 

14 

14 

14 

14 

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15 

15 

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24 

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26 

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18 

14 

20 

15 

21 

28 

22  (1) 

21) 

23  (2) 

30 

24  (3) 

31 

25  (4) 

32 

26  (5) 

27  (6) 

34 

28  (7) 

35 

29  (S) 

36 

30  (D) 

33 

31  (10) 

10 

32(11) 

37 

33(12) 

38 

34(13) 

39 

35(14) 

40 

36(15) 

41 

37(16) 

8 

12 

3.8(17) 

42 

39(18) 

13 

40  (llt) 

11 

11  (20) 

45 

16 

51 

42(21) 

52 

43  (22) 

48 

50 

49 

11 

44  (23) 
45(21) 


266 


LEITZMANN 

B 

C 

I    K 

k 

53 

53 

50 

53 

46  (25) 

54 

54 

51 

54 

55 

55 

52 

55 

47  (26) 

56 

56 

53 

56    6 

48  (27) 

57 

57 

54 

57 

1 

58 

58 

55 

58 

2 

59 

56 

59 

3 

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59 

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61 

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10 

64 

63 

61 

64 

11 

65 

64 

62 

65 

1 

66 

63 

66 

2 

67 

64 

67 

3 

68 

65 

4 

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66 

68 

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67 

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70 

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72 

69 

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70 

72 

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74 

71 

73 

10 

75 

72 

74 

11 

76 

75 

12 

77 

65 

73 

7(; 

13 

78 

66 

71 

77 

14 

79 

67 

80 

75 

78 

15 

In  der  vuricde  zu  seiner  iiusgabe  {a.  VIII)  hatte  Haupt 
die  veniiutuni;  :iu%Cf^tellt,  dass  das  ursj)riini;,licbe  gediclit  des 
Winsbeken  mit  stiopbe  56  abscbliesse  und  alles  spätere  zusatz 
eines  andern  dicbtcrs  sei,  'IVornni,  aber  albern'.  Diese  an- 
nähme fand  allgemeine  Zustimmung'  oder  doch  keinen  wider- 
s|)rucb.  .Sie  stützt  sich  vor  allem  auf  zwei  argumeute,  ein 
äusseres  und  ein  inneres.  Eines  teils  nämlich  ist  der  schluss 
der  Winsbekin,  wo  auch  in  den  letzten  stropheu  drei  regeln 
als  besonders  vor  allen  andern  wichtig  hervorgehoben  werden, 
der  56.  strophe  des  Wiusbeken  nachgebildet,  woraus  hervor- 
geht, dass  der  dichter  der  Winsbekin  keinen  andern  schluss 
des  gedichtes  vor  sich  hatte  als  eben  die  strophe  56.    Zweitens 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  267 

lehrt  eiue  priifuDg  des  gesanimtgedicbts,  dass  durch  alles,  was 
von  Strophe  57  an  folgt,  der  Inhalt  der  ersten  50  strophen 
eigentlich  vollkommen  zu  niehte  gemacht  wird.  j\Ian  mag  die 
nähere  ausführuug  dieses  argumeuts  in  Haupts  vorrede  nach- 
lesen. Derselbe  schreibt  die  fortsetzuug  einem  geistlichen  zu, 
der  als  asket  das  weltleben  und  die  auf  vorzugsweise  mensch- 
licher basis  ruhende  moral  des  ritterlichen  lebens  hasste  und 
des  vaters  ermalmungen  durch  die  entgegnung  des  mönchisch 
gesinnten  sohnes  überbieten  wollte.  Gegen  diese  argumente 
nun  und  gegen  Haupts  hypothese  im  allgemeinen  ist  neuer- 
dings Wilken  aufgetreten  in  seinem  aufsatz  'zum  Wiusbeken' 
Germ.  17,  410.  Mit  seinen  deductionen  haben  wir  uns  jetzt 
auseinanderzusetzen. 

Wilken  hält  Haupts  hypothese  nicht  für  richtig.  Gegen 
Haupts  erstes  argument,  das  aus  dem  Schlüsse  der  Winsbekin 
geschöpft  war,  bringt  er  nichts  bei:  denn  auf  den  einwuri", 
dass  die  drei  rate  beim  Winsbekcn  in  einer,  bei  der  Wins- 
bekin in  drei  strophen  abgehandelt  werden,  will  er  selbst 
keinen  wert  legen  (s.  414).  Er  bemerkt  an  derselben  stelle 
ganz  richtig,  dass  die  nachahmung  eine  ganz  frei  gestaltende, 
keine  directe  oder  sclavische  ist:  doch,  will  das  nichts  besagen, 
wenn  nur  überhaupt,  wie  ausser  allem  zweifei  steht,  zugegeben 
werden  muss,  dass  eine  nachahmung  vorliegt;  ob  dieselbe  frei 
oder  nicht  frei  ist,  '-.ommt  wenig  in  betracht.  Dagegen  pole- 
misiert Wilken  (s.  415)  energischer  gegen  das  aesthetische 
argument,  meiner  Überzeugung  nach  mit  ebenso  wenig  erfolg. 
Er  führt  zunächst  eine  reihe  von  stellen  aii,  die  sich  leicht 
vermehren  Hessen,  wo  sich  ein  'sittlich-religiöser  hintergrund' 
der  lehre  des  vaters  erkennen  lasse,  ja  er  seh li esst  aus  dem 
gebot  der  liochschätzung  der  geistlichkeit  (stroplie  C.  7)  und 
der  furcht  vor  dem  verdienten  kirchenbann  (stroi)he  53)  sogar 
darauf,  dass  der  ritterliche  dichter  in  den  geistlichen  stand 
übergetreten  sei,  kommt  also  schliesslich  zu  demselben  resultate 
wie  V.  d.  Hagen,  der  den  schliiss  für  baare  historische  Wahr- 
heit hielt.  Wilken  nennt  die  lehre  des  vaters  an  den  erwähn- 
ten stellen  ein  'fechten'  für  jene  besprochenen  dinge:  schwer- 
lich mit  recht;  denn  die  stellen  unterscheiden  sich  in  nichts 
von  dem  gewöhnlichen  ruhigen  und  gemessenen  gange  der  er- 
mahnung  und  nichts  deutet  im  entferntesten  auf  etwaige  gegner 


268  LEITZMANN 

liiu,  gegcu  die  ciu  klerikaler  fanatikcr  jene  dinge  zu  verfech- 
ten sich  vorgenommen  hätte.  Es  sind  vielmehr  anschauuugeu 
ausigcsprochcu,  für  die  ein  feciitcn  gar  nicht  von  nötcn  war, 
die  dem  ganzen  mittelalter  gemein  und  vertraut  waren.  Und 
wer  die  häufigen  moralisch-ieligiöseu  einleitungeu  mhd.  ge- 
dichte  kennt,  dem  wird  es  nicht  eigentümlich  und  individuell, 
sondern  vielmehr  selbstverständlich  erscheinen,  wenn  ein  didak- 
tisches gedieht  auf  einen  'sittlich-religiösen  hintergrund'  auf- 
gezogen ist.  Man  lese  über  die  religiöse  gruudstimmung 
unsres  gedichtes,  die  gleichweit  von  starrem  dogmatismus  wie 
von  hierarchischem  fanatismus  al)steht,  die  schöne  Charakte- 
risierung bei  Gervinus  nach  (Gesch.  d.  deutsch,  dicht.''  2,  3). 
Die  anführung  andrer  asketischer  Jünglinge  und  Jungfrauen 
aus  der  nüid.  literatur,  wie  des  Josaphat  in  Rudolfs  Barlaam 
und  der  tochter  des  meiers  im  armen  Heinrich,  oder  gar  des 
euripideischeu  Ion  (s.  115  auni.  3)  kann  für  unser  gedieht 
uiciits  beweisen;  ebensowenig  schliesslich  die  hcranziehung  des 
modernen  'Weltschmerzes'  oder  Verweisungen  auf  Georges 
j)sychologie.  Gervinus  hat  vorzüglich  die  trotz  des  unver- 
meidlichen vorwiegens  ritterlicher  bestrebungen  doch  im  gründe 
auf  echtester  humanität  ruhende  und  weit  ab  von  specula- 
tionen  oder  metajjliysischen  grübclcicn  auf  das  praktische 
leben  und  seine  ans])rüclie  gerichtete  moral  unsres  Winsbeken 
gezeichuet.  Haupts  hypothese  sowie  seine  argumentation  wer- 
den durch  das,  was  Wilken  dagegen  vorgebracht  hat,  nicht 
im  mindesten  erschüttert. 

Wenn  wir  also  auch  hier  an  Haujjts  hypothese  festzu- 
halten genötigt  sind,  so  liudet  sich  doch  in  dem,  was  Wilkcu 
gestützt  auf  eine  randbemerkung  in  ß  an  ihre  stelle  setzen 
wollte,  viel  brauchbares,  was  jedoch  auch  dann  vollständig 
seinen  wert  behält,  wenn  wir  nicht  mit  Wilken  die  letzten 
conse<iuenzen  ziehen,  sondern  bei  Haupts  annähme  bleiben. 
Wilken  macht  darauf  aufmerksam,  dass  man  vielleicht  einer 
bemerkung,  die  in  B  am  rande  der  64.  strophe  steht'  bedeu- 
tung  beimessen  müsse:  sie  lautet  des  valer  lere  ze  sincm  sun 
hat  ende  hie.  Nach  strophe  04  ist  ein  gewisser  abschluss  des 
Sinnes  stark  füldbar.  Wilken  nun  will  an  dieser  stelle  den 
schluss  des  alten  Winsbeken  sehen  und  stützt  sich  dabei  auf 
zwei    gründe:    die   'concinnität   der   diction',    die   sich   in    den 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  269 

cuustaut  iiüi  aufaugc  jeder  strojjlic  widcibültcn  lunedeii  suti 
und  va(er  zeigt,  uacli  stroplie  Gl  jedoch  auf  hört,  und  das 
vorkommen  sprichwörtlicher  wenduugeu  bis  zu  derselben 
Strophe.  Was  dann  von  Strophe  6ö  an  folgt,  soll  s})ätcrcr  Zu- 
satz sein.  "Wilkeu  ist  also  mit  Haupt  darin  einig,  dass  er 
zwei  verschiedene  teile  von  verschiedenen  Verfassern  annehmen 
zu  müssen  glaubt,  nur  setzt  er  den  trennungstrich  an  eine 
andre  stelle.  Die  beobacbtungen  sind  gut  und  richtig;  doch 
sie  beweisen  nicht,  was  sie  beweisen  sollen:  denn  man 
braucht  darum  nicht  anzunehmen,  dass  strophe  1 — Gl  von 
einem  und  demselben  dichter  geschrieben  sind;  vielmehr  lassen 
sie  sich  ebenso  gut  mit  llaui)ts  annähme  vereinigen.  Auch 
was  dann  von  der  \Vinsl)ekin  gesagt  wird,  dass  ihre  dia- 
logische form  wol  durch  den  ausatz  des  dialogs  zwisclien 
vater  und  söhn  (strophe  57 — Gl)  als  Vorbild  entstanden  sei, 
beweist  nicht  die  eiuheitlichkeit  der  Gl  Strophen,  da  wir  ihr, 
wie  wir  früher  sahen,  anderweitig  misstraueu  müssen.  Ja 
selbst  \venn  man  Wilkeu  hierin  recht  gäbe  und  llaujjts  erstes 
argument  fallen  Hesse,  was  ich  jedoch  keineswegs  befürworten 
möchte,  so  würde  zwar  als  erwiesen  zu  gelten  haben,  dass 
der  dichter  der  Winsbekin  von  seinem  vorbilde  die  Strophen 
1 — ö4  vor  sich  hatte;  doch  würde  man  dann  immernoch  das 
aesthetische  argument  aufrechthalten  können  und  müssen  und 
es  würde  die  zufügung  von  stroi)hc  57 — G4  nur  in  etwas 
frühere  zeit  hinaufrücken. 

Nach  erwägung  des  für  und  wider  glaube  ich,  dass  wir 
einesteils  bei  Haupts  li_v[)(»tlicsc  stehen  bleiben  müssen,  dass 
von  Strophe  57  an  nicht  mehr  derselbe  dichter  spricht,  andern- 
teils  jedoch  den  zusatz  zu  ihr  zu  machen  haben,  dass  von 
Strophe  G5  au  ein  dritter  das  wort  ergreift. 

Wir  betrachten  nun  die  Verschiedenheiten  der  strophen- 
zahl  in  den  einzelnen  texten  und  beginnen  mit  den  zwei  fort- 
setzungen  des  alten  gedichts.  Wir  müssen  hier  die  echtheit 
der  Strophen,  wenn  äussere  anhaltspuncte  mangeln,  möglichst 
nach  densell)en  ])riucipieu  beurteilen  wie  oben  die  echtheit  der 
lesarten.  Für  strophe  57 — Gl  stimmen  die  Überlieferungen  im 
allgemeinen  üi)erein,  nur  dass  B  strophe  5U  auslässt  und  k 
hinter  G3  eine  neue  bietet,  die  allen  andern  abgeht.  Die 
5y.  Strophe  wird,   weil  in  Clk  bezeugt,  wol  als  echt  zu  gelten 


270  LEITZMANN 

haben:  class  sie  iu  B  l'elilt,  weiss  ich  uicht  zu  erkläreu.  Was 
die  neue  strophe  in  k  betrifft,  die  oben  im  ersten  capitel  von 
mir  miti,^ctcilt  ist,  so  ist  Bartsch  nicht  abgeneig"t  sie  für  echt 
zu  halten  (Kolm.  meistcrl.  s.  S2),  Ist  sie  echt,  so  steht  sie 
jedenfalls  hier  an  falscher  stelle.  Auch  kann  sie  kaum  in  der 
uns  überlieferten  gestalt  echt  sein:  das  walt  in  zeile  9  ist  eine 
entstellung,  wofür  Bartsch  sUe  conjiciert  hat;  ebenso  auffällig 
ist  das  iucli  der  10.  zeile  dem  sonstigen  dir  gegenüber.  In 
den  kritisch  hergestellten  text  dürfte  sie  jedenfalls  uicht  auf- 
genommen werden. 

In  Strophe  68 — 80  gehen  die  Überlieferungen  weit  aus- 
einander. Zu  beachten  ist,  dass  dieser  ganzen  sündenklage 
die  beziehungeu  auf  die  bestimmte  person  ganz  abgehen  mit 
einziger  ausnähme  von  strophe  80.  Schon  Haupt  hatte  (vor- 
rede VIII)  eine  von  diesen  Strophen,  'die  matt  widerholende 
und  schwach  bezeugte  GS,'  für  späteren  zusatz  erklärt.  Wilken 
hat  dies  danu  (s.  113)  zu  beweisen  versucht,  indem  er  in  ihr 
gegenüber  der  'mit  poetischer,  übrigens  wol  gelungener  frei- 
heit'  das  biblische  gleichnis  umwandelnden  strophe  67  etwas 
'gewaltsames  und  unnötig  wider  engeren  anschluss  an  die 
biblische  darstellung  erstrebendes'  sieht.  Man  kann  dies  wol 
gelten  lassen.  Wenn  auch  zu  dem  schwacheu  zeugnis  von  C 
jetzt  noch  k  getreten  ist,  bin  ich  doch  geneigt  die  strophe  für 
sj)äter  eingeschoben  zu  halten  und  sie  auf  rechnung  der  über- 
arbeitenden tendcnz  von  C  zu  schreiben.  Es  widerholen  sich 
iu  68  einige  Wendungen  der  67:  lun  67,10.  68,4.8;  versläfen 
67,8.  68,9;  büweu  ijl/l,  68,3.  Eine  siciiere  entscheidung  lässt 
sich  jedoch  nicht  tretfen.  In  C  fehlt  ferner  strophe  76,  welche 
auf  autorität  von  Ik  hin  wol  als  echt  zu  gelten  hat.  In  B 
fehlen  die  Strophen  66 — 76  und  80;  die  79.  ist  allein  durch 
B  bezeugt.  Wilken  hat  vermutet,  dass  die  in  B  überlieferten 
Strophen  den  Ursprung  und  den  kern  der  Weiterbildung  für 
das  ganze  bcichtgedicht  gebildet  hätten,  au  den  sich  dann 
immer  mehr  und  mehr  neue  Strophen  angeschlossen  hätten. 
Klare  einsieht  in  die  entstehungsgeschichte  dieser  ganzen 
schlussstrophcu  ist  uicht  zu  gewinnen:  ich  wäre  der  sonstigen 
Zuverlässigkeit  der  handschriften  nach  geneigt  die  fast  voll- 
ständig übereinstimmende  stro])lienzahl  in  CI,  wozu  noch  k 
kommt,    für   das  echte   zu   halten    und    in  B  auslassung  anzu- 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  271 

nehmen.  Dann  würde  die  allein  in  B  stehende  TU.  strophe  als 
unecht  auszuscheiden  sein.  Vielleicht  ist  folgende  beobachtung: 
dazu  angetan  dies  noch  wahrscheinlicher  zu  machen:  im  ganzen 
beichtgedicht  spricht  eine  erste  person  singularis  ich,  nur  hier 
in  Strophe  79  heisst  es  immer  nir.  Dazu  kommt,  dass  die 
Strophe  ganz  aus  dem  Zusammenhang  herausfällt.  Eine  sichere 
entscheidung  nach  der  einen  oder  andern  seite  wage  ich  nicht 
ZU  geben.  Klar  scheint  mir  nur,  dass  wir  es  hier,  indem  wir 
der  randbemerkung  von  B  glauben  schenken  und  Wilkens  be- 
obachtungen  mit  in  rechnung  ziehen,  mit  einem  neuen,  von 
dem  dichter  der  Strophen  57 — 64  verschiedeneu,  also  dem 
dritten  dichter  zu  tun  haben. 

Werfen  wir  nun  noch  einen  blick  auf  die  Verschiedenheiten 
der  strophenüberlieferung  in  dem  alten  gedichte  (strophe  1 — 5(3). 
Alle  Strophen  des  Hauptschen  textes  in  seiner  reihenfolge  haben 
nur  BI.  Auch  k  folgt  dieser  reihenfolge,  hat  jedoch  aus- 
lassungen:  es  fehlen  in  k  38,  wo  vielleicht  der  gleiche  anfang 
von  38  und  39  du  solt  ein  überspringen  des  Schreibers  ver- 
anlasst hat,  43,  46 — 49,  51  und  54,  welche  sämmtlich  durch 
die  Übereinstimmung  von  BCI  gesichert  sind.  —  In  C  fiudeu 
sich  abweichungen  von  der  bisher  besprochetien  anordnuug. 
26  und  27  fehlen,  sind  aber  durch  BIk  gesichert.  Auf  25  folgt 
44:  hier  wird  eine  willkürliche  Umstellung  vorliegen:  die  Zu- 
sammenstellung hat  ihren  grund  darin,  dass  in  beiden  Strophen 
von  der  zunge  die  rede  ist,  die  man  im  zäum  halten  soll. 
Zwischen  28  und  29  ist  31  eingeschoben,  wofür  ich  keinen 
grund  anzugeben  weiss.  Es  fehlt  ferner  30,  was  jedoch  durch 
BIgk  vollständig  gesichert  ist.  —  Eine  ganz  ungeordnete  und 
principlose  folge  der  strophen  liegt  endlich  in  g  vor.  Zu- 
weilen scheinen  verbindende  Stichwörter  die  reihenfolge  zu  er- 
klären: so  erscheint  in  3  und  38  diu  sele  dort,  in  50  und  32 
das  gleichnis  vom  vogel,  in  26  und  31  merke,  was  vielleicht 
für  die  zusammenrückung  massgebend  gewesen  ist.  Die  Ord- 
nung von  g  kann  unmöglich  die  echte  sein.  Was  in  g  aus- 
gelassen ist,  wird  durch  Übereinstimmung  andrer  Überlieferungen 
als  echt  bezeugt.  Am  schluss  erscheint  die  handschrift  lücken- 
haft. Drei  neue  strophen,  die  g  hinter  8,  19  und  4:5  hat 
dürfen  wir,  glaube  ich,  ebenso  wenig  wie  Haupt  als  echt  in 
den  tcxt  aufnehmen,  obwol  sie  teilweise  nicht  ohne  gcschick 
gemacht  sind. 


272  LEITZMANN 

IV,  Das  handschriftenverhältnis  uud  die  echtheit 
der  Strophen  bei  der  Winsbekin. 
Dass  die  Winsbekin  eine  nachabmung  des  Winsbeken  ist 
und  nicht  von  demselben  dichter  herrührt,  ist  allgemein  aner- 
kannt. Schon  der  ganze  stil  und  die  verhältnismässige  ge- 
dankenarmut  zeigen  dies:  doch  finden  sich  auch  berührungen 
mit  dem  Winsbeken,  tibereinstimmende  Wendungen  und  aus- 
drücke, von  denen  mau  kaum  annehmen  kann,  dass  derselbe 
dichter  sie  widerholt  und  so  gewissermassen  sich  selbst  aus- 
geschrieben habe.  Schon  Haupt  hat  (Vorrede  s.  XIII)  auf 
einiges  derart  hingewiesen,  wie  besonders  auf  die  widerholung 
des  gleichnisses  vom  vogel  (Wkin  9,5;  vgl.  Wke  32,1.  50,9) 
und  die  helekäppel  (Wkin  17,5;  vgl.  Wke  26,5).  Ich  füge 
noch  einige  parallelen  hinzu:  duz  ich  in  sehe  mit  vorhten  an 
Wkin  2,  4  =  und  siht  in  nihi  mit  vorhten  an  Wke  5,4;  daz 
ich  den  wzsen  rvol  behage  Wkin  12,  5,  daz  wir  den  wisen  wol 
behagen  44,  4  =  daz  si  den  nisen  wol  behage  Wke  25,  G ;  durch 
dich  vers wendet  tvirt  der  walt  Wkin  13,  10  =  swende  also  den 
walt  Wke  20,5;  ein  wiser  man  hie  vor  so  sprach  Wkin  16,5 
=  ez  sprach  hie  vor  ein  wiser  man  Wke  5,5;  du  muost  diu 
ivange  üz  ougen  baden  Wkin  17,  10  =  üz  ougen  miioste  er 
wangen  baden  Wke  64,  1;  an  siner  werdekeit  verzage  Wkin 
22,  10  =  ist  ez  an  werdekeit  verzaget  Wke  14,8;  und  mache 
sich  den  werdest  wert  Wkin  25,  10  =  si  machet  dich  den  wer- 
den wert  Wke  22,6;  der  wil  ze  hüse  unere  laden  Wkin  29,10 
=  den  soltü  so  ze  hüse  laden  Wke  9,  6;  und  grüezen  da  wir 
grüezen  suln  Wkin  44, 9  =  und  grüeze  den  du  grüezen  soll 
Wke  39, 9.     Auf  andres  komme  ich  an  andrer  stelle  zurück. 

In  allen  erhaltenen  handschriften  steht  die  Winsbekin  mit 
dem  Winsbeken  zusammen:  ausgenommen  sind  nur  die  frag- 
mentarischen Überlieferungen  K  und  w.  Das  gedieht  findet 
sich  also  in  B,  C,  I,  g  und  k:  allerdings  steht  auch  in  k  nur 
der  anfang  und  in  I  fehlt  der  schluss.  Während  wir  nun  beim 
Winsl)eken  keinerlei  handschriftenverwantschaft  zu  statuieren 
vermochten,  zeigt  sich  hier  nach  lesarten  und  Strophenordnung 
die  engste  Verbindung  zwischen  C  und  g:  beide  Überlieferungen 
dürfen  bei  textkritiscben  fragen  nur  als  eine  gelten.  Dem 
gegenüber   stehen   auf  der   andern  seile  ß  und  I,    die  jedoch 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  273 

keinesvvei>"s  so  nahe  bcriili rangen  unter  einander  zeigen  als  C 
und  g.  k  lässt  bei  seiner  fragmentarischen  Überlieferung  sich 
nicht  sicher  zai  dem  einen  oder  andern  paar  stellen:  in  den 
erhaltenen  Strophen  steht  es  gewissermassen  mitten  inne,  aller- 
dings mit  einer  neigung  nach  Cg  hin,  die  sich  namentlich  in 
der  Strophenzahl  zeigt;  sicheres  über  ihre  Stellung  ist  aus  den 
acht  Strophen,  die  sie  nur  bietet,  nicht  zu  gewinnen. 

Die  absolute  Zuverlässigkeit  der  einzelnen  handschriften 
ist  ungefähr  dieselbe  wie  beim  Winsbeken.  B  zeigt  auch  hier 
eine  ganze  reihe  augensciieinlicher  entstellungen ,  wovon  ich 
die  hauptsächlichsten  hier  anführe.  8,  6  doch  =  ouch  Clk. 
8, 7  enbutvet  ^=  priset  Clgk  (Haupt  hat  die  lesart  von  B  in 
den  text  aufgenommen,  ich  glaube  schwerlich  mit  recht).  9,  4 
sin  wisen  morten  =  diu  wisen  worl  Clgk  (I  rvercJi).  13,  1  vil 
==  rvis  1.  16,2  da  von  rvil  =  da  wil  I.  21,7  zuo  deheime  = 
ze  heilte  CI.  23,  8  in  herze  sniden  =  in  diu  herze  smiden  Clg. 
29,  4  halde  =  walde  Clg.  33,  5  ir  =  ein  Clg.  34,  5  doch  = 
ouch  Clg.  36,  6  (jewern  =  gern  CI  (auch  hier  hat  Haupt  die 
lesart  von  B,  die  auch  g  hat,  in  den  text  aufgenommen). 
Ebenso  finden  sich  wider  auslassungen;  so  fehlt:  2,7  seiher. 
20, 3  nip.  26,  1  dir.  33, 7  iverden.  36, 7  sich.  40, 3  etlich. 
I  gibt  auch  hier  wider  den  verhältnismässig  besten  und  rein- 
gehaltensten text.  Die  modernisierende  Überarbeitung,  die  wir 
für  den  Winsbeken  bei  C  beobachteten,  ist  hier  und  überein- 
stimmend in  g  noch  weiter  getrieben.  Wenn  ich  alle  die 
augenscheinlichen  ueuerungen  hier  aufführen  wollte,  niüsste  ich 
fast  das  ganze  gediciit  ausschreiben,  denn  es  ist  ein  ganz 
andres  geworden.  Eine  kritische  ausgäbe  würde  am  besten 
beide  texte  nach  oder  parallel  neben  einander  bringen,  das 
alte  gedieht  aus  BI  und  die  Überarbeitung  aus  Cg. 

Zur  leichteren  Übersicht  der  Strophenentsprechungen  diene 
folgende  tabclle,  in  der  die  erste  columne  wider  Haupts  Zäh- 
lung gibt. 


1 

B 

1 

C 

1 

I 

1 
2 

•i 

t 

1 

2 

1 

2 

1 

2 

4 

1 

2 

3 
1 

:t 

., 

5 

i; 

;{ 

274 


LEITZMANN 

B 

(J 

I 

>? 

k 

5 

4 

4 

7 

4 

4 

6 

5 

8 

5 

5 

7 

0 

9 

i; 

0 

8 

5 

7 

10 

7 

7 

9 

(> 

8 

11 

8 

8 

10 

/ 

10 

12 

10 

11 

11 

13 

11 

12 

12 

14 

12 

13 

8 

15 

14 

9 

9 

10 

9 

15 

10 

17 

1() 

11 

18 

17 

13 

19 

13 

18 

14 

20 

14 

19 

12 

15 

21 

15 

20 

13 

10 

22 

10 

21 

14 

17 

23 

17 

22 

15 

18 

24 

18 

23 

Ui 

19 

25 

19 

24 

17 

20 

20 

20 

25 

18 

21 

27 

21 

2G 

19 

22 

28 

22 

27 

20 

23 

29 

23 

28 

21 

24 

30 

24 

29 

22 

25 

31 

25 

30 

23 

20 

32 

20 

31 

24 

27 

33 

32 

28 

34 

27 

33 

25 

29 

35 

28 

34 

20 

30 

30 

29 

35 

27 

31 

37 

30 

30 

28 

32 

38 

31 

37 

29 

33 

39 

32 

38 

30 

34 

33 

39 

31 

35 

34 

40 

32 

30 

35 

41 

33 

37 

30 

42 

34 

38 

37 

43 

35 

39 

38 

44 

30 

45 

37 

I  ^il)t  den  vollständigsten  text,  nur  dass  der  schluss  feldt. 
Die   zwei    stroplien,    die   I    vor   dem   an  fang   des  gediclits  hat, 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  275 

können,  wenn  sie  überhaupt  echt  sind,  jedenfalls  nicht  an 
dieser  stelle  vor  dem  epischen  eiugang  stehen.  Die  3.  Strophe, 
die  nur  in  I  überliefert  ist,  hat  nichts  austössiges.  B  zeigt 
viele  auslassuugen  von  Strophen,  deren  echtheit  jedoch  durch 
Clgk  resp.  Clg  vollständig  gesichert  ist.  Einen  erklärungs- 
grund  für  die  auslassungen  weiss  ich  hier  ebenso  wenig  an- 
zugeben wie  oben  bei  der  fortsetzung  des  Winsbeken:  nur 
scheint  mir  klar,  dass  das  fehlen  von  32  durch  den  gleichen 
anfang  diu  huote  in  31  und  32  und  dadurch  veranlasstes  über- 
springen des  Schreibers  hervorgerufen  ist.  Die  Überlieferung 
in  Cgk  ist  ganz  einheitlich:  denn  in  g  fehlt  die  31.  strophe 
nur  durch  denselben  zufall  wie  in  ß  die  32.  Die  Umstellung 
von  14  zwischen  9  und  lü  ist  neueruug  (vielleicht  durch  das 
zweimalige  die  sinne  veranlasst?).  Die  Strophen  13,  15  und 
16  sind  durch  BI  als  echt  gesichert:  ihre  auslassung  könnte 
aus  dem  gleichen  schlusswort  shi  in  12  und  16  erklärt  werden. 
44  und  45,  die  auch  in  Cg  fehlen,  sind  zwar  nur  durch  B  be- 
zeugt, aber  inhaltlich  notwendig. 

V.  Winsbeke  und  Wigalois. 
Anhangsweise  bespreche  ich  noch  eine  beziehuug,  die  man 
zwischen  dem  Winsbeken  und  Wirnt  von  Grafenbergs  Wigalois 
hat  sehen  wollen.  Der  erste,  der  dies  tat,  war  Pfeifier.  In 
seiner  ausgäbe  des  Wigalois  sagt  er  (vorrede  s.  XVII):  'aus 
einigen  stellen  glaube  ich  schliessen  zu  dürfen,  der  Winsbeke, 
Wirnts  landsmann,  habe  den  Wigalois  gekannt;  ja  mir  scheint 
sogar,  als  ob  dessen  gedichte  die  väterlichen  lehren  zu  gründe 
lägen,  die  Gawein  am  Schlüsse  seinem  söhne  gibt.  Jedenfalls 
herrscht  zwischen  beiden  eine  merkwürdige  Übereinstimmung, 
die  nicht  wol  bloss  zufällig  sein  kann.'  Leider  hat  er  diese 
stellen  nicht  näher  angegeben,  so  dass  man  diese  'merkwür- 
digen Übereinstimmungen'  nicht  controlieren  kann.  Die  von 
Haupt  in  den  anmerkungen  zu  42, 9  und  69,  7  citierten  kann 
er  nicht  meinen,  denn  sie  enthalten  nichts  beweiskräftiges. 
Auch  ein  nochmaliges  durchlesen  des  Wigalois  hat  mich 
keine  einzige  stelle  derart  finden  lassen.  Pfeiffer  stützt 
sich  also  vor  allem  auf  die  ermahnuug  des  Gawein  an 
seinen  söhn  Wigalois  am  Schlüsse  des  gedichts.  Die  verse 
lauten  (293,  17): 

Beitrüge  zur  geachichte  der  deutscheu  spräche.     XIll.  jg 


276 


LEITZMANN 


got  hat  sin  wunder 
und  sine  gnade  an  in  getrm, 
ir  sult  im  wesen  undertan 
und  minnet  in  herzeliche. 
der  sinne  sit  ir  riche, 
des  guotes  und  der  eren: 
daz  sult  ir  allez  keren, 
swa  ir  muget,  nach  sinera  gebot, 
swer  herzenliche  minnet  got, 
der  ist  behalten  hie  und  dort, 
sun,  nü  merket  disiu  wort 
und  behaltet  diu  ane  missefa.t: 
daz  ist  mines  herzen  rat. 
Sit  bescheiden  an  allen  dingen 
und  lät  niht  verdringen 
die  jugent  iuwer  sinne. 


der  iuch  mit  triuwen  minne, 

an  den  sult  ir  iuch  lazen 

und  boeses  schimphes  mazen. 

vernemet  armer  Hute  klage 

und  büezet  ir  kumber  alle  tage. 

Sit  gewizzen  unde  guot. 

den  vinden  traget  höhen  muot, 

den  vriunden  sit  geselleclich 

und  mute:  so  werdet  ir  lobes  rieh. 

bietet  den  gesten  ere 

nach  iuwer  gewizzen  lere. 

Sit  dem  gehülfec  unde  guot, 

der  iuwern  willen  gerne  tuot: 

disem  rate  volget  nach. 

lät  iuwern  zorn  niht  wesen  gäch. 

traget  schäm  ob  allen  iuwern  siten. 


Ich  finde  in  dieser  ganzen  stelle  nicht  eine  einzige  Wen- 
dung, die  mit  dem  Winsbeken  so  übereinstimmte,  dass  wir  eine 
benutzung  des  einen  durch  den  andern  annehmen  müssten. 
Welcher  dann  übrigens  der  benutzende  und  welcher  der  be- 
nutzte sein  winde,  ist  auch  nicht  ohne  weiteres  klar:  Pfeiffer 
nimmt,  ich  sehe  nicht  ein  warum,  priorität  des  Wigalois  an. 
Ich  glaube,  dass  Pfeifter  durch  die  allgemeine  Übereinstimmung 
des  motivs  und  vielleicht  nicht  zum  wenigsten  durch  die  nach- 
barschaft  der  städte  Winsbach  und  Gräfenberg,  auf  die  er  in 
der  anmerkung  zu  der  oben  citierten  stelle  hinweist,  auf  seine 
hypothese  geführt  wurde,  die  übrigens  mit  aller  schuldigen 
reserve  und  eben  nur  als  Vermutung  gegeben  ist. 


Nicht  mit  derselben  vorsieht  sind  die  späteren  literarhisto- 
riker  vorgegangen,  bei  denen  sogar  die  hypothese  als  bewiesene 
Wahrheit  figuriert  und  zur  chronologischen  bestimmung  ver- 
wertet wird.  So  gibt  Wackcrnagel  (P,  346  anm.  13)  ganz 
definitiv  vom  Winsbeken  an:  'nach  Wirnts  Wigalois'.  Bei 
Gervinus  (■•1,574)  heisst  es:  'wo  er  (Wirnt)  den  Gawein  seinem 
söhne  gute  lehren  erteilen  lässt,  redet  er  ....  in  den  ansichten 
und  in  einzelnen  ausdrücken,  die  in  den  lehren  des  Winsbeke 
....  widerkehren';  was  ferner  von  Gervinus  behauptet  wird, 
dass  in  der  stelle  Wig.  77,  9  über  das  verliegen  sich  anklänge 
an  den  Winsbeke  fänden,  kann  ich  ebenso  wenig  zugeben.  Auch 
Goedeke    sieht    'auffallende    übereinstimmun";'    und    'nahe   be- 


zu  WINSBEKE  UND  WINSBEKIN.  977 

rührung'    (Grundr.  P,  Uli.  162);    äliDlich    Koberstein    (l^,  266 
anni.  26). 

Ich  glaube,  dass  wir  bei  vorurteilsfreier  betraebtuiig  dieser 
bypothese  nicbt  beistimmen  können  und  dass  sie  vor  allem  in 
den  literaturgescbicbten  nicbt  als  bewiesene  sacbe  vorgetragen 
werden  darf.  Soll  ich  eine  Vermutung  äussern,  so  will  es  mir 
scheinen,  als  ob  so  wol  für  Wirnt  als  für  den  Winsbeken  das 
Vorbild  dieser  ritterlichen  ermahuung  die  classisclie  Verwendung 
dieses  motivs  bei  Wolfram  gewesen  sei,  der  rat  des  Gurnemanz 
an  Parzival.  Dass  der  Winsbeke  gerade  diese  })artie  des  Par- 
zival  gekannt  hat,  dafür  gedenke  ich  an  andrer  stelle  noch 
belege  beizubringen. 

FREIBURG,  18.  februar  1887. 

ALBERT  LEITZMANN. 


19* 


HEINRICH  GÖDINGS  GEDICHT  VON  HEINRICH 
DEM  LÖWEN. 

Das  sogenannnte  volksgedicht  von  Heinrich  dem  löwen, 
das  mit  den  vvorten  beginnt: 

Man  sagt  von  starcken  beiden, 
sie  sein  zn  preysen  hoch; 
Darunib  so  mus  ich  melden 
von  einem  herren  auch     u.  s.  w. 

ist  bis  in  die  neueste  zeit  in  einzeldrucken  im  volke  verbreitet 
worden,  ohne  dass  sich  über  den  Verfasser  und  die  entstehungs- 
zeit  des  werkes  bis  jetzt  sicheres  hatte  feststellen  lassen.  Man 
begnügte  sich  fast  allgemein,  dasselbe  als  eine  arbeit  des  lü. 
oder  17.  Jahrhunderts  zu  bezeichnen,  und  auch  Gödeke  meint 
noch  in  der  zweiten  aufläge  seines  Grundrisses  zur  geschichte 
der  deutschen  dichtung  b.  II,  s.  321,  dass  'die  geschichte  Hein- 
richs des  löwen  ihrer  form  nach  vielleicht  erst  dem  17.  Jahr- 
hundert' angehöre.  Neu  aufgefundene  urkundliche  Zeugnisse 
liefern  uns  jetzt  über  dichter  und  entstehungszeit  jenes  werkes 
l)estimmte  nachrichten:  wir  können  seine  abfassung  mit  Sicher- 
heit in  das  jähr  1585  setzen  und  dem  maier  Heinrich  Göding 
in  Dresden  zuschreiben. 

Als  herzog  Heinrich  Julius,  söhn  des  regierenden  herzogs 
Julius  zu  Braunschweig  und  Lüneburg,  mit  der  prinzessin 
Dorothea,  tochter  des  kurfUrsten  August  von  Sachsen,  am 
20.  September  1585  sein  beilager  feiern  wollte,  sollten  zur  er- 
höhung  dieses  festes  in  Wolfenbüttel  allerlei  ritterspiele,  wie 
ringrennen,  Ijalgenstechen  und  fussturnier,  abgehalten  werden, 
zu  welchen  ausschreiben   nacli    den   verschiedensten   selten  er- 


ZIMMERMANN,  GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.     279 

gingea.  Bei  dieser  gelegenheit  beabsichtigte  der  junge  herzog 
selbst  in  zwei  kostbaren  aufzügen  /ai  erscheinen,  nämlich  den 
triumph  Heinrichs  des  löwen  und  den  jagdaufzug  der  Diana 
darzustellen.  Unter  den  akten  des  herzoglichen  landeshaupt- 
archives  zu  Wolfeubiittel,  welche  sich  auf  diese  festlichkeiten 
beziehen,  hat  für  uns  zunächst  wol  die  erklärung  jeuer  'iu- 
ventionen'  einiges  Interesse,  da  sie  oüenbar  von  dem  fiirsten 
selbst  herrührt,  der  sich  ja  als  dichter  einer  anzahl  von  deut- 
schen Schauspielen  wie  als  begründer  der  ersten  stehenden 
deutschen  biihne  in  der  geschichte  des  deutscheu  dramas  und 
theaters  einen  nicht  unrühmlichen  platz  errungen  hat.  Charak- 
teristisch für  die  zeit  ist  besonders  die  moralische  deutung, 
welche  hier  sowol  die  heimische  wie  die  antike  sage  in  einer 
für  uns  überraschenden  weise  finden.  So  wird  der  sieg,  den 
der  herzog  Heinrich  mit  hilfe  des  löwen  über  den  drachen 
davonträgt,  in  folgender  weise  ausgelegt. 

Interpretatio,  M.  G.  F.  imdt  Hern  Invention,  nhemblichen  des 
Tiiumpfs  llenrici  Leonis. 
Obwol  S.  F.  G.  sich  zu  erinnern  wissen,  das  dieser  Triumpf 
undt  ganze  Ilistoria  Hertzog  Heinrichs  des  Lewen  von  dem  gemeinem 
Man  also  erdichtet,  undt  ein  Fabehvergk  ist,  dennoch  dieweil  es  von 
den  lieben  Altten  nicht  arg  gemeiuet,  undt  aucli  seine  sonderliche 
bedeutung  hat,  haben  S.  F.  G.  dem  gantzen  hochlöblichem  Haus  Braun- 
schweigk  zue  ehren,  alss  welches  von  Ilochgedachtem  Hertzog  Hein- 
richen dem  Lewen  endtsprossen  ist,  sich  belieben')  lassen  in  diesen 
Triumph  autf  zu  zihen.  Es  haben  aber  altte  vorstendige  leuttc 
Junge  Fürsten  undt  Regenten  hirnit  underweisen  wollen,  In  was 
grosse  gefaiir,  Sorg  undt  Angst,  in  annhemurg  des  Regiments  sie 
tretten,  undt  wie  sie  in  demselbigen  von  allerlei  Sünde  Laster  auch 
bösen  'iirannen  undt  Underthanen  helVtig  angefochtten  werden,  Undt 
mit  denselbigen  in  teglichen  Kanpf  liegen  müssen,  welches  alles  der 
streit  Heinrici  Leonis  mit  denn  Greiften  undt  Drachen  bezeuget  undt 
zu  erkennen  giebt,  undt  das  es  unmüglich  ist,  das  Sie  allein  aus 
sich  selbst  solchen  Gewalttigen  Feinden  wiederstantt  thuu  können. 
Derwegen  Ihnen  auch  hoch  von  nöten  das  Sie  sich  der  Tugendt 
Manheit  undt  getreuer  Lcut  bcHeissigcn,  damit  Sie  durch  derselbigen 
zuthueuilt  solchen  schrecklichen  Feinden  nicht  allein  wiederstehen, 
besondern  dieselbigen  auch  überwinden  undt  einen  freien  Triumpf 
von  Ihrer  Überwindung .  führen  undt  haltten  mügeu,  welches  alles 
durch  das  tugendtriche  Manhaftte  undt  getreue  Thir  den  Leuen,  so 


'  'bleiben'  handschrift. 


280  ZIMMERMANN 

Hertzog  Heinrichen   wieder  den  (_J  reiften  undt  Traclicn  treulich  Bei- 
stant  gethan,  bezeichnet  undt  angedeutet  wirt. 

In  iilmlicher  weise  wird  auch  der  aufzug  der  Diana  ge- 
deutet. 

luterpretatio  der  Inventiun  von  der  Göttin  Dianae  Ufzug. 

Mit  dieser  Inveution  wil  S.  F.  G.  zu  vorstehen  geben,  das  auch 
(Jrosse  Hern  undt  Fürsten  in  Ihrem  Mühseligen  beschwerlichen  Arabt 
Erliche  undt  Tugenthaft'te  Recreationes  undt  erleuchterung  haben 
müssen,  wie  mau  den  In  den  Historien  Messet,  Sonderlich  von  dem 
Cyro  undt  andern  mehr,  wie  sie  sich  mit  Jagen,  Ritter  Spiel  u. 
Musiciren  undt  anderm  hinwieder  von  vielen  nohten  und  sorgen 
Recreiret  undt  ermuntert,  welches  alles  die  Giittin  Diana  sambt 
Ihren  Nimphis  undt  underhabenden  wilden  Leutten  andeutet.  Es  sol 
aber  von  grossen  Hern  bei  diesen  kurtzweilen  die  bescheidenheit  ge- 
haltten  werden,  das  dadurch  die  Regierung  undt  notwendige  Ehren- 
geschetften  nicht  verabsäumet,  und  Sie  denselbigen  in  that  also  nach- 
hengen,  das  Sie  aller  Tugendt  undt  Vernunft't  vorgessen  undt  da- 
rüber fast  gahr  zu  wilden  Leutten  und  Thieren  werden,  welches  uns 
in  dem  Acteone  dem  Jeger,  so  wegen  seines  vielen  überflüssigen 
Jagens  ghar  in  einen  Hirs  (wie  die  Poeten  fabuliren)  verwandelt 
undt  verflucht,  ohne  Zweifel  furgchalten  wirdet. 

Auch  über  die  Veranstaltung  der  aufzüge  sind  wir  näher 
unterrichtet.  Der  triumphzug  Heinrichs  des  löwen  wurde  durch 
zwei  herolde  erütünet;  ihnen  folgten  vier  'personen  so  Trachen- 
heubtter  vndt  Greiilenklauen  tragen',  dann  sechs  'welsche  Musi- 
kanten', ein  geschmückter  'Spiessjunge'  einen  schild  tragend, 
der  als  wappen  das  weisse  ross  zeigte,  und  zuletzt  der  herzog 
selbst  auf  dem  triunij)hwagen,  hinter  welchem  vier  geschmückte 
hengste  geführt  wurden.  In  ähnlicher  weise  war  in  jenem  jagd- 
zuge  der  herzog  als  Diana  von  musikanten,  wilden  männern, 
nymphcu,  dem  Aktäon  u.  s.  w.  umgeben. 

Diese  darstellung  Heinrichs  des  löwen  von  selten  des  her- 
zogs  Heinrich  Julius,  von  welchem  sich  die  künde  natürlich 
auch  an  dem  Wohnorte  der  braut,  in  Dresden,  verbreitete,  ist 
ollenbar  die  veranlassung  gewesen,  dass  sich  von  hier  aus  am 
13.  September  1585  ein  maier  Heinrich  Göding  an  den  vater 
des  bräutigams,  herzog  Julius,  mit  einem  schreiben  wante,  das 
sich  zwischen  den  oben  erwähnten  akten  erhalten  hat.  Er  er- 
bietet sich  in  diesem  ein  von  ihm  gefertigtes  gedieht,  das  die 
wunderbaren  Schicksale  Heinrichs  des  löwen  behandelt,  zu  ehren 
der  nahe   bevorstehenden   hochzeit   mit  kupfern  zu  schmücken. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  281 

Ein  exemplar  des  druckes  jenes  gedichtes,  das  er  dem  biiefc 
beigelegt  hatte,  liegt  ebenfalls  noch  in  jenen  akten.  Das  Schrift- 
stück selbst  lautet  folgcndermassen : 

Durchlauchtigster  Hocligeborner  Fürst,  gnedigster  Fürst  vnnd 
Herr.  Ewer  fürstliche  Gnadenn  seinn  Meine  vnnterthenige  willige 
Diennste  inn  trewen  befornn.  Gnedigster  fürst  unnd  Herr,  Nach  dem 
ich  Offter  gehörtt  vonn  der  schönenn  Historienn,  so  Ewer  fürstliche 
gnadenn  forfahrenu  allss  cinn  kunner  vnnd  tewer  heltt  sol  ihnn  grosser 
gefahr  geleistet  habbenn,  auch  die  warzeichenn,  so  zw  braunschweigk 
ihnn  Duhme  noch  gesehen  werden,  auss  weissenn  vnnd  weill,  gnä- 
diger fürst  vnnd  herr,  fihl  geschichte  vnnd  dattenn  beschriebenn  wer- 
denn,  welches  denn  hohenn  Pottentattenn  Nachkommen  rumlich,  vnnd 
ess  nicht  auss  der  acht  kommen  möchte,  wie  mann  dann  vonn  ann- 
dern  kunnen  heldenn  schöne  geschieht  vnnd  tattenn  lissett,  alss  vonn 
dem  Amadis  auss  Frannckreich  vnnd  anndern  fihl  mehr,  wie  Ewer 
fürstliche  gnadenn  gnedigst  wissen  tragenn,  auch  der  Chvrfurst  zw 
Sachssenn  meinn  gnedigster  Herr  solches  und  andere  mer  mitt  Fleiss 
lassenn  mahlen,')  wie  zw  ersehenn.  Dcrwegenn  Ewer  fürstliche  gna- 
denn vnnd  dissenn  löplichenn  fürstlichenn  stam  zw  ehrenn  ich  diss 
gedieht  inn  euU  gemacht-),  vnnd  op  mir  solchess  geschichte  fast 
auss  gefallenn  vnnd  aller  dinnge  nicht  recht  in  der  eulle  geordnett, 
so  woUenn  doch  ewer  fürstliche  gnaden  gnedigst  vonn  mir  diesses 
gerinngess  kleinness  wergk  in  gnadenn  aufnemen,  vnnd  nach  der 
selben  gnedigenn  meinung,  da  einn  Manngel  darinne  gefundenn, 
durch  anndere  verstenudige  besserun  lassenn,  denn  ess  jha  schade 
wehre,  dass  solche  schöne  historie  sol  gar  vnntergeheuii  vnnd  enutt- 
lich  vergessenn  werdenn.  Vnnd  weil,  gnediger  fiirst  vnnd  Herr,  tihl 
schönner  historienn  gemahlett  vnnd  ihnn  kopfer  gestochen  werdenn, 


')  An  des  briefsehreibers  berühmtes  werk  'Ausszug  der  Eltisten  vnd 
fiirnembsten  Historien  des  vralten  streitbarn  vnd  berufteneu  Volcks  der 
Sachssen  |  Insonderheit  aber  des  Keyserlichen  K(iniglichen  Chur-  vnd 
Fürstlichen  Stammes  der  Gros  vnd  Herzogen  zu  Sachssen  .  .  .'  (Dressdeu 
ir>y7  u.  ITiüs)  darf  man  hier  schwerlich  denken,  da  er  mit  dieser  arbeit, 
wie  Andresen  (Der  deutsche  Peintre  Graveur)  s.  75  berichtet,  'nachdem 
er  sehr  viele  werke  für  das  ehurhaus  Sachsen  in  langer  zeit  ausgeführt, 
in  seinem  alter  sich  noch  ein  gedächtnis  habe  stiften  wollen'.  Will  man 
die  Worte  auf  Göding  selbst  beziehen,  so  könnte  man  eher  an  die  bild- 
nisse  sächsischer  fürsten  in  der  gewehrgallerie  zu  Dresden  denken  (mit- 
teilungen  des  kgl.  sächs.  Vereins  für  ertorschung  und  erhaltung  der  vater- 
ländischen altertümer,  .i.  heft,  Dresden  1S4(),  s.  4:»);  vielleicht  beziehen  sie 
sich  auch  auf  uns  ganz  unbekannte  werke. 

-)  Vergleiche  den  letzten  vers  des  gedichts  nach  dem  ursprüng- 
lichen drucke: 

Von  wegen  der  Geschichten  hab  ich  dis  Lied  gedieht. 
In  eyle  thet  ichs  machen,  hets  sonst  besser  gericht. 
Dem  Fürsten  Stamm  zu  Ehren  u.  s.  w. 


282  ZIMMERMANN 

iinmieru   pottentattenn   zw  ehren   vuud  gedeclitnuss,  binu  ich  oilfter 
willennss  gewessenti,  zw  ehrenn  denn  braunschweigischenn  vnnd  line- 
burgischen  furstlichenn  staui  solches  zw  elirenn  auch  aufs  kopfer  zw 
bringenu,  abber  biss  daher  nicht  weilligk  gewesscnn.    Mich  auch  ver- 
ursacht  ilisse   historie   Inveutsion   vnnd   Triumpf)  Ewer  fürstliche 
Gnadcnn  üel  geliptenn  sohnn  Herzog  Henrich  Julliuss  zw  ehrenn  auf 
diss  beilager  willich  vnnd  vnndorthenig  zw  ordnenn,  vnnd  binn  ferner 
Ewer  fürstliche  gnaden  vnnderthenig  nach  meinenn  Vermögenn  iun 
mehren  zw  dienenn  ganncz  willigk  vnnd  thun  ewer  fürstliche  gna- 
dcnn   saiupt   der  selbenn   fiel   geliptenn   geniahl   sampt  der  jungenn 
herschaft  vnd  frewlleinn  in  schucz  dess  hochsteun  bevehlen. 
Dattum  Dresdenn  denn  i;{  September  Anno  85 
Ewer  fürstliche  gnaden 
unntertheniger  vnnd 

gehorsammer 

Henrich  götting 
Mahller. 

Auf  der  rückseite  des  ))riefes  ist  von  der  band  des  herzog- 
liehen Sekretärs  das  Präsentatum  mit:  'Wolffenbüttel  23  7bri8 
Ao  85'  vermerkt  worden.  Ferner:  'Heinrich  Gotting  Mahler 
zu  Dresden  habe  den  Triuniphum  llenriei  Leonis  gemahlen'^, 
schicke  Illustrissimo  ein  Exemplar,  wils  in  Kupfiler  stechen 
lassen'.  Der  entwarf  einer  antwort  ist  leider  nicht  erhalten; 
auch  jede  darauf  zielende  andeutung  fehlt.  Wir  können  daher 
nicht  mit  bestimnitheit  sagen,  ob  herzog  Julius  auf  den  ver- 
schlag eingegangen  ist  oder  nicht.  Da  sich  jedoch  keine  künde 
von  einer  solchen  bildergeschmiickten  ausgäbe  des  gedichtes 
erhalten  hat,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  der  fürst  von  des 
maiers  anerbieten  keinen  gebrauch  gemacht  hat. 

Das  kann  uns  nicht  wunder  nehmen.  Julius  war  ein  spar- 
samer haushaltcr,  dessen  nüchterner  sinn  mehr  auf  praktische 
ziele  als  auf  die  förderung  der  kunst  gerichtet  war,  welcher 
im  gegensatz  zu  ihm  sein  söhn  Heinrich  Julius  eine  verständ- 
nisvolle, freigebige  pflege  zuwante.  Möglich,  dass  bei  Julius 
auch  politische  Überzeugungen  mitwirkten.  Er  war  keineswegs 
ein  Verehrer  der  j)olitik  seines  grossen  ahnen.  Streng  kaiser- 
lich gesinnt  erblickte  er  vielmehr  in  dem  bestreben  Heinrichs 
der  reichsgewalt   sich   gleichzustellen   einen   offenbaren  verrat, 


')  Vgl.  dieselben  ausdrücke  s.  279.  Man  sieht  hieraus,  dass  dem  dich- 
ter die  geplanten  Veranstaltungen  in  Wolfenbüttel  wolbekannt  waren. 
^)  So  wol  fälschlich  statt  'gedichtet'  geschrieben. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  283 

der  seinem  hause  zum  grössten  nachteile  ausgeschlagen  sei. 
In  seinem  testanicntc  vom  29.  juni  1052  stellt  er  daher  seinen 
söhnen  'zu  steter  warnung  und  absehen'  das  Schicksal  ihres 
ahnherrn  warnend  vor  äugen.') 

Die  Vermählung  eines  braunschvveigischen  herzogs  mit  einer 
kursächsischen  prinzessin  war  für  Goding  in  doppelter  hinsieht 
eine  willkommene  veranlassung  seine  dienstfertigkeit  zu  be- 
zeugen. Nach  beiden  selten  hatte  er  natürliche  beziehungen: 
seiner  gehurt  nach  gehörte  er  den  braunschweigischen,  seiner 
dienstlichen  Stellung  nach  den  sächsischen  landen  an.  In  der 
geschichte  der  deutschen  kunst  ist  der  name  H.  Gödings  längst 
ein  bekannter.-)  Die  form  des  namens  ist  sowol  bei  ihm  selbst 
als  auch  bei  seinen  Zeitgenossen  eine  verschiedene  gewesen; 
es  begegnet  neben  Göding  auch  Götting,  Gödig,  Godeg  u.  a.'*) 
Da  aber  in  der  kunstgeschiclite  der  name  Göding  sich  immer  mehr 
einzubürgern  scheint,  so  habe  ich  mich,  um  Verwechselungen 
zu  vermeiden,  dieser  bezeichnung  hier  ebenfalls  anschliessen  zu 
müssen  geglaubt,  obwol  die  Unterschrift  des  obigen  briefes  für 
die  form  Götting  spräche. 


')  Vgl.  Rehtmeier's  braunscliw.-liineb.  chronik  (Braunschweig,  1722) 
8.  1038. 

^)  Vgl.  über  Göding  sowie  über  seine  geniiihle  und  kupferstiche 
Ch.  Schuchardt  in  R.  Naumanns  Archiv  f.  d.  zeichn.  kiinste  (Lpzg.  185.5) 
b.  I.  94  —  101.  —  Julius  Hübner  im  Archiv  f.  d.  sächs.  geschichte,  hg.  von 
W.  Wachsmuth  und  K.  v.  V^'eber,  b.  II,  s.  184.  —  G.  K.  Nagler,  Die  Mono- 
grammisten  b.  III  (München,  1803)  8.337  —  339.  — ^J.  D.  Passavant,  Le 
I'eintre  Graveur  b.  IV  (Leipsic,  1M>3)  s.  232— 23').  -  Andreas  Andresen, 
Der  deutsche  I'eintre-Graveur  oder  die  deutschen  maier  als  kupt'erstecher, 
b.  1  (Leipzig,  1864)  8.  71—98.  —  C.  Clausa  in  der  Allgeui.  deutschen  bio- 
graphie,  b.  IX,  8.  319.  Eine  eingehende  arbeit  über  Gödings  kunsttätig- 
keit  auf  grund  archivalischer  tbrschungen  steht  von  herrn  Dr.  Berling  in 
Dresden  zu  erwarten.  Dieselbe  wird  im  Neuen  archiv  für  sächsische 
geschichte,  jahrg.  1S87,  heft  3  u.  4  erscheinen. 

^)  Auf  dem  titel  seines  werkes:  'Ausszug  der  Eltisten  und  liir- 
nembsten  Historien  des  Volcks  der  Sachssen  etc.'  wird  als  des  Ver- 
fassers 'Heinrich  (iodegen  von  Braunschweig'  gedacht,  während  die 
unterschritt  der  widniung  lautet:  'Dreszden  den  .'>.  May  Jm  l.")',)7.  Jahr 
E.  F.  G,  Unterthenigster  Gehorsamer  Heinrich  Göding  von  Braunschweig'. 
Auf  dem  titel  des  zweiten  teiles  des  werkes  begegnen  wir  ebenfalls 
wider  der  form  'Godegen' (nach  freundlicher  benachrichtigung  des  herrn 
bibliothekars  Dr.  Schnorr  v.  Carolsfeld  in  Dresden). 


284  ZIMMERMANN 

Heinrich  Göding  ist,  da  er  am  28.  april  iOOG  iu  einem 
alter  von  75  Jahren  in  Dresden  verstorben  ist'),  zu  ende  des 
Jahres  1530  oder  zu  anfang  des  folgenden  in  Braunschweig  ge- 
boren. Um  das  jähr  1557  kam  er  nach  Dresden  und  hier  hat 
er  als  hofmaler  im  dienste  der  kurfürsten  August,  Christian  I. 
und  Christian  II.  eine  rege  Wirksamkeit  entfaltet.  Er  wird 
ein  freund  des  Jüngern  Lucas  Cranach  genannt.  Neben  der 
maierei  betrieb  er  auch  den  kupferstich.  Iu  beiden  zeigt  er 
sich  nach  den  urteilen  der  kunstkenner  'als  ein  technisch  ge- 
wanter  künstler,  der  sich  jedoch  nicht  über  die  maniriertc  und 
handwerksniässige  kunstweise  seiner  zeit  erhob '.2) 

Dass  der  Verfasser  jenes  gedichts  mit  diesem  maier  eine 
person  ist,  muss  schon  nach  dem  oben  mitgeteilten  briefe  als 
ausgemacht  gelten.  Eine  weitere  bestätigung  erhalteu  wir  aus 
dem  titelblatte  des  druckes,  der  jenem  schreiben  beilag.  Das- 
selbe lautet: 

Eine  schöne  alte  Ilistori  |  von  einem  Fürsten  vnd  Herrn,  Herrn  | 
Hertzogen  zu  Braunschweig  vnd  Lüue- 1  burgk:  In  gesangs  weis  ge- 
richtet, I  Im  15S5.  Jahr,  i  H.  G. 
Die  buchstaben  H.  G.,  welche  den  dichter  andeuten  sollen,  ent- 
sprechen ganz  dem  monogramme  des  maiers  Göding,  welches 
ebenfalls  ein  H.  G.,  H.  G.  B.  (d.  i.  Heinr.  Göding  Brunsvicensis) 
oder  ähnliches  enthält.-')  Für  seine  braunschweigische  ab- 
stammung  sprechen  unverkennbar  auch  die  worte  des  letzten 
verses  seiner  dichtung,  iu  denen  er  sagt,  dass  er  dieselbe  dem 
fürstenstamme  und  seinem  'vaterlande'  zu  ehren  angefertigt 
habe. 

Der  druck  des  gedichts  besteht  aus  1()  blättern  in  quart 
mit  den  Signaturen  Aü — Du.  Die  beiden  letzten  blätter  sind 
leer,  doch  ist  die  Vorderseite  des  vorletzten  blattes  mit  recht 
geschmackvollen  Ornamenten  angefüllt,  in  denen  wir  vielleicht 
l)roben  der  kunstfertigkeit  des  dichters  selbst  zu  erkennen  haben. 
Die  verse  sind  fortlaufend  wie  prosa  gedruckt;  jedes  reimwort 
ist  durch   einen  dahinter  gesetzten  strich  bezeichnet.     Die  ein- 


')  Michaelis  Inscriptiones  der  grabmonumente  aus  der  kirche  und 
vom  kirchhofc  der  frauenkirche  iu  Dresden,  1714,  s.  07  (nach  einer  mit- 
teilung  des  herrn  Berling). 

'^)  Vgl.  C.  Clauss  in   der  Allgem.  deutschen  biographie  b.  X,  s.  319. 

•'')  Vgl.  Nagler  a.  a.  o.  s.  oTi  ff.;  Andreaen  a.  a.  u.  s.  71,  Du,  'J4  u.  s.  w. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  285 

zelnen  Strophen  sind  abgesetzt.  Auf  jeder  seite  stehen  vier 
Strophen,  das  ganze  gedieht  enthält  deren  104.  Ueber  drueker 
und  druckort  des  buehes,  die  in  demselben  nicht  genannt  wer- 
den, habe  ich  nichts  in  erfahrung  bringen  können.  Die  aus- 
gäbe ist,  wenn  nicht  ein  unicum,  so  doch  jedenfalls  sehr  selten. 
Sie  ist  in  der  betreibenden  literatur  meines  wissens  bis  jetzt 
niemals  erwähnt  worden:  in  keiner  der  vielen  bibliotheken,  bei 
welchen  ich  mich  nach  ihr  erkundigt  habe,  war  sie  vorhanden. 
Das  werk  ist  in  dem  sogenannten  Hildebrandstone  gedich- 
tet, in  dem  Ja  die  meisten  volkstümlichen  dichtungen  der  zeit 
verfasst  worden  sind.  Die  darstellung  des  dichters  ist  gewant, 
seine  spräche  leicht  und  fliessend.  Dass  er  den  echten  Volks- 
ton richtig  zu  treffen  verstand,  bezeugt  das  lange,  ununter- 
brochene leben,  das  sein  gedieht  bis  in  unser  Jahrhundert 
hinein  in  der  volksliteratur  geführt  hat.  Eine  weitere  bedeu- 
tung  des  gedichts  besteht  darin,  dass  es  uns  einen  alten  schon 
öfter  behandelten  sagenstoft"  in  neuer  und  zwar  derjenigen 
fassung  überliefert,  welche  für  die  folgenden  Jahrhunderte  die 
massgebende  geblieben  ist.  Mit  den  früheren  verwanten  dich- 
tungen'), wie  der  Michael  AVyssenheres-),  hat  Gödings  werk 
aucli  das  gemein,  dass  der  name  des  beiden  nirgends  genannt 
wird.  Er  heisst  im  titel  ganz  allgemein  nur  herzog  zu  Braun- 
schweig und  Lüneburg,  im  texte  des  gedichts  fast  durchgehend 
mir  der  herr.^)     Denn  die  Vermutung  Bartschs '),  dass  die  letzte 


')  Vgl.  über  diese  im  allgeiueinen  die  einleitung  Bartschs  zu  seiner 
ausf^abe  des  Herzogs  Ernst  (Wien,  1S69),  über  die  sage  den  aufsatz 
W.  Müllers  'Die  falirt  in  den  osten '  in  Sehanibaehs  und  Müllers  Nieder- 
sächsischen sagen  und  märchen  ((löttingon,  l'^">5),  s.  I5M)  tV.  Schon  bald 
nacli  seinem  tode  hatten  sich  lied  und  sage  der  gestalt  Heinrichs  des 
löwen  bemächtigt.  Vgl.  Germania,  hg.  von  Bartsch;  neue  reihe,  XIX. 
(XXXI.)  Jahrg.,  s.  151  ff. 

')  Vgl.  den  abdruck  in  Massmanns  Denkmälern  deutscher  spräche 
und  literatur  (München,  lb2S)  s.  12H— IHT. 

^)  So  Strophe  1-.  5^».  6^.  {)*.  ll^.  \l\  12-.  W.  IM-.  14'.  lö*.  I(V^.  lt>«. 
17^.  18'.  r.l-  und  so  fort.  Daneben  wird  er  dann  alier  auch  'der  Landes- 
herr' S8',  'der  fromme  Landesherr'  'X-.  (15-,  'der  Herr  zu  Braunschwoig' 
95^  'ein  llerre  von  Braunschweig  hochgeborn'  .H(i-',  'der  hochgeborne 
Fürst'  3',  'der  werde  Mann'  !<{•'.  2;t',  'der  ttiewrc  Held'  Li',  'Hertzog'  7P, 
'Hertzog  von  Braunschweig'  .')9^  und  ähnlich  genannt. 

*)  Vgl.  Herzog  Ernst,  hg.  V.K.Bartsch  (Wien,  isr.'.i)  s.  CXXI,  anm.  2. 


286  ZIMMERMANN 

Strophe,  welche  den  uameu  Heinrichs  nennt,  von  einem  erneuerer 
herrühre,  bestätigt  sich  in  der  tat.  Zwar  hat  die  änderung* 
nicht  .Sinirock  gemacht,  wie  Bartsch  mutmasst,  sondern  schon 
ein  früherer  bearbeiter,  der  überhaupt  die  letzten  beiden  Strophen 
vollständig  umgestaltet  hat.^) 

Welchen  quellen  Göding  bei  seinem  werke  gefolgt  sei, 
entzieht  sich  unserer  näheren  beurteilung.  Auf  die  abweich- 
ungen  seiner  darstellung  von  der  Michael  Wyssenheres  hat 
schon  Bartsch  aufmerksam  gemacht  2)  und  dabei  mit  recht  her- 
vorgehoben, dass  man  für  dieses  gedieht  eine  andere  quelle 
annehmen  müsse.  Ich  halte  die  annähme  mündlicher  Über- 
lieferungen bei  Göding  für  vollkommen  ausreichend.  Dass  da- 
mals die  sage  von  dem  löweuherzoge  in  Braunschweig  noch 
vollkommen  im  schwänge  war,  beweist  u.  a.  das  oben  mit- 
geteilte zeugniss  des  herzogs  Heinrich  Julius.  Es  ist  selbst- 
verständlich, dass  dieselbe  unserm  dichter  als  geborenem  Braun- 
schweiger ebenfalls  wol  vertraut  war.  Viele  denkzeichen  in 
der  Stadt  und  vor  allem  im  alten  Blasiusdome  erinnerten  zu 
der  zeit  in  noch  grösserer  anzahl  als  jetzt  an  die  wunderbaren 
abenteuer  des  herzogs  im  fernen  morgenlande  und  an  den 
löwen,  den  treuen  gefährten  des  fürsten.-^)  Der  dichter  führt 
sell)st  deren  an:  den  löweustcin  auf  dem  burg})latze,  den  man 
noch  heute  als  das  Wahrzeichen  der  stadt  und  ihres  weifischen 
fürstenhauses  betrachtet  (str.  101''),  das  grabmal  des  herzogs 
im  dome  (str.  99*  und  102'),  die  geierkralle,  welche  noch  zu 
Kehtmeiers  zeit  (1707)  über  dem  grabe  Heinrichs  von  dem 
gewölbe  der  kirche  herabhing  (st.  19^  und  102').*)  Dass  diese 
erinnerungen  und  die  keuntiiiss  braunschweigischer  örtlichkeiten 

>)  Vgl.  den  abdriick  derselben  s.  289. 

^)  A.  a.  0.  s.  CXXII. 

•'')  Vgl.  den  schönen  aufsatz  L.  C.  Bethraanns  die  gründung  Braun- 
schweigs  und  der  dorn  Heinrichs  des  löwen  in  Westermanns  nionats- 
heften  aug.  1861  s.  525  ff.,  insbesondere  s.  550  ff. 

*  Vgl.  Kehtmeyer  der  Stadt  Braunschweig  kirchen-historie.  I.  teil. 
(Braunschweig,  1707)  s.  103.  Später  wurde  die  klaue  dort  entfernt  und 
in  der  Sakristei  der  kirche  verwahrt,  wie  ebenfalls  Rehtmeyer  a.  a.  o.  in 
dem  1720  erschienenen  V.  t.  Suppl.  8.3(1  berichtet.  Die  sog.  geierkralle 
ist  übrigens  nicht,  wie  man  nach  Bethmanns  angäbe  a.  a.  o.  s.  558  an- 
nehmen könnte,  verloren  gegangen,  sondern  wird  noch  jetzt  in  dem  dome 
gezeigt. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  287 

wie  des  üieisberges,  den  er  auftallender  weise  in  'Geyersberg' 
verbochdeutscbt  (str.  37-',43^)  dem  dicbter  vollkommen  geläufig 
blieben,  kann  uns  bei  seiner  abstammung  nicbt  wunder  nebmen. 
Es  bestärkt  uns  dies  in  der  annabme,  dass  er  uns  die  sage 
von  Heinrieb  dem  löwen  im  wesentlicben  in  der  form  über- 
liefert bat,  in  weleber  sie  damals  im  munde  des  Volkes  leben- 
dig war. 

Als  älteste  form  unseres  gediebts  bat  man  in  neuerer  zeit 
eine  handscbrift  angeseben,  die  sieb  in  der  herzoglicben  biblio- 
tbek  zu  Wolfenbüttel  befindet  (207,5  Extr.  4"  bl.  27— 34).i  Es 
ist  dies  aber  ganz  offenbar  nur  eine  abscbrift  unseres  druckes, 
die  nach  dem  cbarakter  der  sebrift  zu  urteilen  in  der  zweiten 
bälfte  des  17.  jabrbunderts  gemacbt  wurde.  Dass  dieselbe  in 
Braunscbweig  angefertigt  sei,  dafür  spricbt  die  beibebaltung 
der  richtigen,  noch  jetzt  gebräuchlichen  namensform  'Giersberg' 
statt  der  im  druck  befindlichen  'Geyersberg'  (str.  37^  und  43-'). 
Der  titel  hat  den  zusatz  'Hiurick  de  Lauwe  gebeten',  aber, 
wie  schon  Pröble  nach  einer  mitteilung  dr.  Milchsacks  angibt-, 
von  einer  jüngeren  band  hinzugefügt.  Die  abscbrift  scheint 
zwar  nach  dem  originaldrucke  selbst  gemacht  zu  sein,  ist  aber 
im  ganzen  ziemlich  flüchtig  augefertigt.  Es  finden  sich  in  ihr 
nicht  wenige  abweichungen,  die  meistens  auf  einsetzung  jüngerer 
wortformen,  wie  'ihnen'  für  'ihn'  {eis),  'haben'  für  Mian'  (ha- 
bere) 'vollbracht'  für  'verbracht'  (str.  40*)  u.  a.,  z.  f.  aber  auch 
auf  Schreibfehler  und  missverständnisse  des  abschreibers  hin- 
auslaufen. Die  strophenzalil  ist  die  alte  geblieben  (101),  ob- 
wohl nur  103  gezählt  werden;  denn  unter- 40  stehen  zwei 
Strophen. 


'  So  H.  Pröhle  in  der  2.  aufl.  seiner  deutschen  sagen  (Berlin,  1S7!I) 
s.  290.  Die  handsclirit't  wird  in  v.  Praun's  Bibliotheca  Brunsvico-Lune- 
burgensis  (Wolfenb.  1744)  8.  61  sti-.  2:i2  und  in  A.  U.  Erath's  Conspectus 
historiae  Biunsvico-Lunehurgicae  (Braunschweig,  1745)  s.  51  str.  1727  als 
in  der  Wolfenbilttler  bibliothck  liefindiich  angeführt.  E.  .1.  Koch  sagte 
in  der  2.  auH.  seines  compendiuuis  der  deutschen  literaturgeschichfe 
(Berlin,  17!I5)  b.  I  s.  i:)4,  dass  sie  dort  nicht  auf/.ulinden  gewesen  sei.  Es 
erleidet  keinen  zweit'el,  dass  unter  jener  haudschril't  die  von  Traun, 
Erath  u.  s.  w.  erwähnte  zu  verstehen  sei.  Ausser  jenem  gedieht  enthält 
die  handschrift  noch  sehr  verschiedenartige  dinge,  die  in  sehr  verscliie- 
denen  zeiten  geschrieben  sind. 

'^  Prühle  a.  a.  o.  s.  2'.)(). 


288  ZIMMERMANN 

Wiclerboluugeu  wird  der  druck  nicht  wenige  gehabt  haben. 
Aber  es  liegt  in  dem  Schicksale  aller  derartigen  dichtuugen, 
die  auf  schlechtes  löschpapier  gedruckt,  von  den  niederen  Volks- 
schichten auf  Jahrmärkten  und  Strassen  gekauft,  von  den  ge- 
liildeten  kreisen  aber  Jahrhunderte  lang  vornehm  missachtet 
wurden,  dass  die  meisten  drucke  fast  durchgehends  kein  langes 
leben  gefristet  haben  werden.  Sie  wurden  in  den  bibliotheken 
verschmäht,  und  so  finden  wir  denn  auch  jetzt  in  ihnen,  wie 
mich  reichliche  anfragen  gelehrt  haben,  derartige  drucke  ver- 
hältnissigmässig  nur  äusserst  selten. 

Der  erste  druck,  der  mir  nach  der  ausgäbe  von  1585  be- 
gegnet ist,  stammt  aus  dem  jähre  1727;  er  befindet  sich  in 
der  königlichen  bibliothek  zu  Berlin,  in  welche  er  aus  der  von 
Meusebachschen  büchersammluug  gekommen  ist.  Der  titel  lautet 
folgendermassen: 

Wahrhafftige  |  Beschreibung  |  Von  dem  grossen  Helden  |  und 
Hertzogen  ÜEINRICII  dem  Löwen,  und  seiner  wunderbaren  höchst-! 
gefährlichen  Reise.  |  [Holzschnitt  darstellend  einen  mann  in  kniehosen 
und  langem  rocke,  daneben  einen  löwen  mit  erhobenen  vordertatzen, 
im  hintergrunde  eine  bürg]  |  Auf  Begehren  vieler  Liebhaber  itzo 
wie- der  aufs  neue  aufgelegt.  (3)  |  Braunschweig  und  Leipzig.  1727. 
20  bl.  in  8".    sign.  A2— C3. 

Auf  der  rückseite  des  titelblattes  und  auf  der  folgenden 
Seite  steht  eine  kurze,  sehr  lückenhafte  Übersicht  der  braun- 
schweigischen  herzöge  von  Heinrich  dem  löwen  bis  auf  Anton 
Ulrich.  Auf  s.  4  und  5  folgt  eine  'Vorrede.  An  den  günstigen 
Leser',  s.  7 — 16  eine  prosaische  erzählung  des  lebens  und  der 
taten  Heinrichs  des  löwen.  Auf  s.  16  beginnt  auch  noch  der 
abdruck  des  gedichts,  der  bis  s.  36  reicht.  Den  schluss  des 
buches  nehmen  zwei  erzählungen  von  treuen  löwen  aus  Di- 
dacus  Apolephtes  Lusitanus'  historischen  erquickstunden  und 
Caspar  Titius'  theologischem  exempelbuche  ein. 

Dass  diese  Zusammenstellung  des  buches  wirklich  aus  der 
auf  dem  titel  angegebenen  zeit  stammt  (1727),  geht  aus  der 
erwähnung  des  löwendenkmals  auf  dem  burgplatze  zu  Braun- 
schweig hervor.  Es  wird  gesagt,  dass  dieses  'nur  noch  vor 
wenig  Jahren  in  etwas  erhöhet,  auch  der  pfeiler  gäntzlich  reno- 
viret  und  abgeputzet  worden.'  Da  einige  selten  vorher  der  im 
j.  1704  erfolgte  tod  herzog  liudolf  Augusts   angeführt  wird,   so 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  289 

kann  es  sich  nur  um  die  restauratiou  des  denkmals  im  j.  1721 
handeln,  von  welcher  Rehtmeier  in  seiner  braunschweig'-lüne- 
burgischen  chronik  s.  1585  spricht. 

Ob  dem  herausgeber  bei  seiner  arbeit  das  gedieht  in  dem 
ursprünglichen  drucke  vorgelegen  hat  oder  ob  wir  in  der  Über- 
lieferung Zwischenglieder  anzunehmen  haben,  lässt  sich,  da  uns 
letztere  vorläufig  fehlen,  mit  Sicherheit  nicht  feststellen.  Manche 
Veränderungen  sind  in  dem  gedichte  vorgenommen.  Wir  finden 
ältere  wortformen  mit  jüngeren  vertauscht,  wie  'greif  mit 
'griff'  (str.  17-),  'schneit'  mit  'schnit'  (str.  17-'),  'steig'  mit 
'stieg'  (str.  19'),  'schrei'  mit  'schrie'  (str.  234),  sodann  un- 
gebräuchlich gewordene  ausdrücke  durch  neuere  ersetzt,  wie 
'Wirtschaft'  durch  'beilager'  und  'hochzeit'  (str.  33^.  40i  7S^ 
89='.  93'.  94'),  'hört'  durch  'schiff"  (str.  28=')  u.  s.  w.  Aus  dem 
'drachen'  ist  ein  'lindwurm'  (str.  20  ff.),  aus  dem  'greif  ein 
'vogel  greife'  (str.  16^),  aus  dem  'haus'  ein  'schloss'  (str.  GO'), 
aus  dem  'wirth  aussm  nobiskrug'  oder  dem  'nobiswirth'  der 
'teufel'  oder  'satan'  (str.  322  uq(J  441)  geworden;  für  'das  orth' 
ist  'der  orth'  gesagt  (str.  38')  u.  s.w.  Mitunter  greift  eines 
solchen  unbekannteren  Wortes  willen  die  Veränderung  weiter. 
So  ist  z.  b.  'er  war  ein  Degen  hart'  in  'er  war  von  edler  Art' 
(str.  2'),  'nach  der  Burgk  war  jhm  gach'  in  'nach  der  Burg 
war  sein  gang'  (str.  48=')  verwandelt.  Oft  liegen  auch  ofienbare 
flüchtigkeitsfehler  und  missverstäudnisse  zu  gründe,  wie  str.  12^, 
wo  die  Worte:  'ich  thue  solchs  nicht  meim  Herrn'  zu  'ich  thue 
solchs  nicht,  mein  Herr'  umgestaltet  sind.  Ganz  umgearbeitet 
sind  die  beiden  letzten  strophen,  welche  in  dieser  ausgäbe  folgen- 
dermassen  lauten: 

Ach  GOtt  du  wollest  behüten  diss  hohe  Fürsten-IIauss, 
In  aller  Rej^enten  Zeiten  theileu  den  Seegen  aus. 
Auch  gniidiglich  bewahre  für  Pest,  Krieg,  Raub  und  Brandt 
Und  gnädiglichen  mehre  die  Nahrung  in  dem  Land. 

Zum  stetigen  Andencken  dieser  wunderbaren  Geschieht 
Und  auch  zu  ewigen  Ehren  des  Herren  Hertzog  Heinrich 
Und  seinen  getreuen  LJiwen  ist  dieses  gantze  Gedicht 
Dem  Fiirstl.  Stamm  zu  Ehren  in  Braunschweig  aufgericht. 

Die  zahl  der  Strophen  ist  die  alte  geblieben.  .Sic  sind  im 
drucke  abgesetzt;  doch  sind  innerhalb  derselben  die  verse  fort- 
laufend wie  prosa  gedruckt.     Der  text  wird  durch  drei  kunst- 


290  ZIMMERMANN 

lose  holzschnitte  unterbrochen,  von  denen  zwei  ganz  gleich  sind. 
Diese  stellen  ein  schiff  auf  dem  meere  dar,  der  dritte  die  über- 
fnhruug'  des  loweu  nach  Braunschweig. 

Die  heimat  dieses  bearbeiters  haben  wir  höchst  wahr- 
scheinlich in  Braunschweig  zu  suchen.  Abgesehen  davon  dass 
er  in  seiner  einleitung  eine  ziemliche  bekanntschaft  mit  der 
braunschweigischen  geschichte  zeigt,  verrät  er  auch  in  dem 
gedichte  selbst  volle  Vertrautheit  mit  der  stadt  Braunschweig. 
Denn  ganz  richtig  schreibt  er  str.  37'^  und  43^  statt  der  hoch- 
deutschen form  ^geyersberg'  die  noch  heute  übliche  nieder- 
deutsche ^giersberg',  und  ebenso  setzt  er  str.  48^  statt  der  all- 
gemeinen bezeichnung  des  'hauses'  des  herzogs  den  namen 
'mosthauss'  ein,  mit  welchem  damals  das  mdsftüs,  der  alte  saal- 
bau Heinrichs  des  löwen,  bezeichnet  wurde,  der  nach  langer 
Verwahrlosung  in  unseren  tagen  zu  neuem  glänze  ersteht.  Den 
vcrs  (str.  102^):  'Ein  Greiff'enklaw  thut  hangen  vber  dieses 
Fürsten  Grab'  verwandelt  er  in  'Eine  Greiffen-Klaue  auch 
hanget  zu  Braunschweig  in  den  Duhm ',  offenbar  weil  er  weiss, 
dass  die  klaue,  die  noch  1707  über  dem  grabe  des  fürsten 
hing,  inzwischen  dort  entfernt  und  in  der  Sakristei  der  kirche 
untergebracht  war.i  Auch  der  schluss  des  Werkes  s})richt  für 
die  braunschweigische  heimat  des  bearbeiters,  da  er  hier 
(str.  104)  von  der  ursprünglichen  fassung  stark  abweichend 
sagt,  es  sei  'dieses  gantze  Gedicht  dem  Fürstl.  Stamm  zu 
Ehren  in  Braunschweig  aufgericht.'  Bei  Göding  findet  sich  ein 
derartiger  hinweis  nicht;  wir  haben  daher  in  diesen  Worten 
wol  eine  änderung  zu  sehen,  die  durch  persönliche  Verhält- 
nisse des  herausgebers  selbst  veranlasst  ist. 

Die  ausgäbe  von  1727  ist  im  18.  und  19.  Jahrhundert ^vider- 
holt  nachgedruckt  worden;  sie  ist  die  allgemein  verbreitete 
form  der  sog.  Jahrmarktsausgabe  geblieben.  Ich  kann  vier 
verschiedene  drucke  der  art  nachweisen,  deren  titel  folgender- 
massen  lauten. 

1.  Walnhafte  Beschreibung  |  von  dem  grossen  |  Helden  und 
Herzogen  |  HEINRICH  ]  dein  Löwen,  |  und  seiner  |  wunderbaren 
hüchstgefälirlichen  Reise.  |  [holzsclinitt,  darstellend  vorn  6  krieger  zu 
pferde  und  zu  fuss,  dahinter  ein  zeltlagcr  und  drei  grosse  heerhauten]  | 


Vgl.  die  anmerkung  1  auf  b.  2SG. 


ÖEDICIIT  VON  HICINRICII  DEM  LOEWEN!  ^^l' 

Auf  Begehren  vieler  Liebhaber  aufs  neue  aufgelegt.  |  Bi-aunschweig 
und  Leipzig.  (3'. 

2u  bi.  in  S».   Sig.  A.— C3.    Seitenzahlen  fehlen. 

2.  Wahrhafte  Beschreibung  ]  von  dem  grossen  |  Helden  und 
Herzogen  |  Heinrich  |  dem  Löwen,  |  und  seiner  |  wunderbaren  höchst- 
gefährlichen Reise.  |  [holzschnitt  wie  der  in  no.  1]  |  Auf  Begehren 
vieler  Liebhaber  aufs  neue  aufgelegt.  |  Braunschweig  und  Leipzig,   (rj. 

20  bl.  in  S".    Sign.  A.j— C3.    Seitenzahlen  4—40. 

3.  Beschreibung  |  von  dem  grossen  |  Helden  und  Herzogen  | 
Heinrich  dem  Löwen,  |  und  |  Seiner  wunderbaren  hüchstgefährlichen  | 
Reise.  |  [holzschnitt  wie  der  in  no.  1]  |  Ganz  neu  gedruckt.   3. 

20  bl.  in  S".   Sign.  A2— C3.    Seitenzahlen  4— 40. 

4.  Beschreibung  |  von  dem  grossen  |  Helden  und  Herzogen  | 
'Heinrich  dem  Löwen,  ,  und  seiner  wunderbaren  und  hüchstgefähr- 
lichen I  Reise.  |  [holzschnitt,  welcher  vorn  einen  reiter  mit  gezoge- 
nem Schwerte,  dahinter  2  abteilungen  fussvolk  mit  je  2  fahnen  und 
an  der  linken  seite  die  ecke  eines  grossen  gebäudes  zeigt.]  |  Ganz 
neu  gedruckt.   3. 

16  bl.  in  S".    Sign.  A,.~B.,.    Seitenzahlen  6—32. 

Die  drei  ersten  drucke  befinden  sich  im  besitze  der  kgl. 
bibliotliek  zu  Berlin,  der  vierte  in  dem  des  Verfassers.  Gewiss 
würde  sich  ihre  zahl  noch  sehr  vermehren  lassen,  wenn  ihre 
erhaltuu^  durch  die  Ungunst  der  Verhältnisse  nicht  so  stark 
beeinträchtigt  wäre. 

Alle  vier  drucke  weichen  darin  von  ihrer  vorläge  ab,  dass 
sie  die  drei  teile  der  einleitung  umgestellt  haben.  Sie  bringen 
zuerst  die  'Vorrede  an  den  günstigen  Leser',  dann  die  Über- 
sicht über  die  braunschw.  herzöge  und  darauf  die  prosaische 
erzählung  von  Heinrichs  leben  und  taten.  Es  folgt  sodann, 
wie  dort,  das  gedieht  selbst  mit  abgesetzten  Strophen  und  fort- 
gedruckten versen  und  zuletzt  der  anhang.  Ausserdem  haben 
sie  der  ausgäbe  von  1727  gegenüber  eine  anzahl  grober  druck- 
fehler  gemeinsam.  Sie  nennen  alle  vier  den  herzog  Heinrich 
Julius  'Heinrich  Tulius',  als  dessen  geburtstag  statt  des  15. 
den  5.  october;  sie  setzen  den  tod  herzog  Friedrich  Ulrichs 
statt  in  das  jalir  lü34  in  d.  j.  U)43,  die  geburt  herzog  Augusts 
statt  in  d.  j.  1579  in  K)!i7  u.  a.  m.  Auch  einige  kürzungen 
in  der  vorrede  finden  sich  bei  ihnen  in  gleiclier  weise.  Ebenso 
weichen  sie  in  der  widergabc  des  gedichts  von  der  ursprüng- 
lichen quelle  nicht  selten  gleichmässig  ab,  während  sich 
zwischen   ihnen   selbst   verhältnissmässig    wenige    verschieden- 

Beitrüge  zur  gescliichU-  der  iloutsolu'ii  sprarlic.     X  ITl  20 


292  ZIMMERMANN 

heiten   zeigen.     Es  würde  hier   zu   weit   führen   im   einzelnen 
darauf  einzugeben. 

Ebenfalls  auf  jener  Zusammenstellung  berubt  trotz  zabl- 
reicber  und  weitgebender  abweicbungen  die  prosaauflösung 
des  gediebts-,  von  der  mir  zwei  drucke  bekannt  sind.  Der 
titel  des  ersten,  weleben  mir  berr  professor  dr.  Steinaeker  in 
Braunscbweig  freundlicbst  zur  Verfügung  stellte,  lautet: 

Merkwürdige  |  Beschreibung  von  dem  Leben  |  des  grossen  | 
Herzogs  und  Helden  |  Heinrich  des  Löwen,  |  und  von  |  seiner  höchst- 
getährlichen  Reise.  1  [holzschnitt,  darstellend  einen  ritter  mit  einem 
löwen  den  weg  nach  einem  tore  hinauf  schreitend]  |  Frankfurt  und 
Leipzig.    3.) 

20  bl.  in  8°.   Sign.  A,.— C.    Seitenzahlen  4-4U. 

Der  titel  des  zweiten  druckes,  den  mir  berr  oberlebrer 
dr.  Pröble   in  Berlin    zur   benutzung  übersandte,   ist  folgender: 

Leben  und  Thaten  |  des  grossen  Helden  |  Heinrich  des  Löwen, 
I  Herzog  zu  Braunschweig.  |  [Holzschnitt  wie  der  des  ersten  druckes] 
I  Einbeck,  |  bei  H.  Ehlers. 

18  bl.  in  8".    Sign.  A,.— C.    Seitenzahlen  4—36. 

Beide  drucke  können  frübstens  aus  dem  anfange  des 
19.  jabrbunderts  stammen,  da  auf  dem  burgplatze,  weleben  in 
beiden  auf  s.  3  ein  bolzscbnitt  darstellt'),  bereits  das  erst  1802 
bis  1805  erbaute  Viewegsche  haus^)  stebt.  Die  drei  teile  der 
einleitung,  'vorbericbt',  'genealogie  der  berzöge  von  Braun- 
scbweig'  und   'gescbicbte  (in  II  'kurze  gescbicbte')  von  berzog 

Heinrieb  dem  löwen ',    sind  bier  ebenso  geordnet,  wie  in 

den  vier  obigen  undatierten  drucken  des  gediebts;  aucb  finden 
wir  den  falschen  geburtstag  des  berzogs  Hoinricb  Julius,  das 
falsche  todesjabr  Friedrich  Ulrichs  und  das  unrichtige  geburts- 
jahr  berzog  Augusts  wider.  Ausserdem  treten  uns  manche 
abweicbungen,  lücken  wie  zusätze,  sowol  mit  den  oben  ge- 
nannten ausgaben  des  gediebts  als  aucb  bei  diesen  beiden 
prosaerzählungen  unter  einander  entgegen.  Auch  die  'ge- 
scbicbte  vom  herzog  Heinrieb  dem  löwen  auf  seiner  langen 
reise '3)   weicht  von  dem  inlialte  des  gedichtes  nicht  unvvesent- 


')  Dieser  wie  der  holzschnitt  des  titelblattes  sind  in  beiden  aus- 
gaben nach  verschiedenen  cliches  desselben  holzstockes  hergestellt. 

^)  Vgl.  H.  Schröder  und  W.  Assmann  'Die  Stadt  Braunschweig' 
(Br.  1841)  s.  78. 

^)  In    dem    Einbecker    drucke    lautet    die    Überschrift    dieses    ab- 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  293 

lieh  ab.  Das  wunderbare  iu  Heiurichs  erlebnisseu  ist  be 
deutend  abgeschwächt.  So  wird  z.  b.  in  dem  Frankfurter 
drucke  (1)  der  vertrag  mit  dem  teufel  als  ein  träum  in  einer 
anmerkung  erzählt,  im  Einbeker  (II)  ganz  fortgelassen,  in 
beiden  aber  die  riickkehr  des  herzogs  durch  ein  dahersegelndes 
schiff  bewerkstelligt.  Als  bräutigam  der  herzogin  wird  in  1 
ein  prinz  Cabixtus  aus  Schwaben  genannt,  dem  nach  der  riick- 
kehr des  herzogs  eine  prinzessin  Marianne  aus  Franken  ge- 
geben wird;  in  II  fehlt  dieser  teil  der  erzählung  gänzlich. 
Den  'anhang'  (erzählung  aus  Titius'  exempelbuch  etc.)  haben 
sie  wider  gemeinsam.  Den  schluss  macht  in  I  eine  mit  dem 
übrigen  in  keinem  zusammenhange  stehende  erzählung:  'Ei  so 
beiss!',   in  II  ein  gedieht:  'Die  treue  des  löwen'. 

Abgesehen  von  dieser  sozusagen  volkstümlichen  Über- 
lieferung, welche  wir  so  eben  verfolgt  haben,  ist  das  gedieht 
aber  auch  in  vollem  Wortlaute  oder  in  prosaauflösung  in  einer 
anzahl  von  werken  enthalten,  welche  auf  mehr  oder  weniger 
wissenschaftlicher  grundlage  beruhen.  Doch  haben  alle  diese 
bearbeiter  nur  jüngere  formen  des  gedichtes  gekannt,  keiner 
von  ihnen  hat  den  ursprünglichen  druck  Gödings  benutzen 
können. 

Reichard ')  hat  bei  seiner  prosaerzählung  des  Inhalts  des 
gediehts,  welcher  zahlreiche  verse  desselben  eingefügt  sind, 
ofü'enbar  einen  jener  undatierten  nachdrucke  der  ausgäbe  von 
1727  benutzt,  da  er  s.  127  selbst  sagt,  dass  sein  gewährsmann 
die  geschichte  selbst  bezweifelt  und  deswegen  auf  den  ersten 
10  Seiten  dieselbe  nach  der  Wahrheit  beleuchtet.  Das  trifl't 
bei  jenen  ausgaben  vollkommen  zu. 

J.  Görres  nennt  für  die  kurze  i)rosawidergabe  des  gediehts 
in  seinen  'Teutschen  Volksbüchern'  (Heidelberg,  1807)  s.  90 — 93 
als  quelle  einen  druck,  der  genau  denselben  titel  führt  wie 
nr.  1  und  2  der  nachdrucke  der  ausgäbe  von  1727. 

Die  brüder  Grinmi  erzählen  im  zweiten  teile  ihrer  deut- 
schen sagen   (Berlin,  1818)  s.  241 — 247  die   sage  von  Heinrich 


Schnittes:    'erzählung   von   den   abenteuern    auf  der   reise  des  herzogs 
Heinrich  des  löwen'. 

»)  Vgl.  Bibliothek  der  roniano  VIII  15.  (Riga,  1782)  s.  12.1—130. 

20* 


294  ZIMMERMANN 

dem  löwen  'nach  dem  Volkslied',  ohne  dass  sich  erkennen 
Hesse,  welche  ausgäbe  des  gedichtes  ihnen  vorgelegen  habe. 

J.  G.  Büsching  hat  in  seinen  Volks-sagen,  märchen  und 
legenden  (n.  a.  Leipzig,  1820)  s.  211 — 242  das  gedieht  im  Wort- 
laute aufgenommen;  ihm  haben,  wie  er  s.  450  bemerkt,  ein 
älterer  und  ein  neuerer  druck  vorgelegen,  wol  ebenfalls  solche 
der  oben  besprochenen  bearbeitungen  der  ausgäbe  von  1727, 
mit   deren   texte  jener   in  der  hauptsache  ganz  übereinstimmt. 

K.  Simrock  hat  das  gedieht  im  ersten  bände  seiner  deut- 
schen Volksbücher  (Frankf.  a/M.,  H.  L.  Brönner  1845)  s.  1 — 40 
ebenfalls  vollständig  widergegeben.  In  der  gestaltung  des 
textes  hat  er  sich  zwar  mancherlei  freiheiten  gestattet,  im 
wesentlichen  aber  die  fassung  der  Volkslieder  des  vorigen 
Jahrhunderts  beibehalten.  Das  titelbild  dieser  ausgäbe  zeigt 
Heinrich  den  löwen  vor  einem  türme  stehend,  an  dem  die 
Schilde  von  Baiern,  Sachsen  und  Braunschweig  bangen;  der 
löwe  liegt  neben  ihm.  Ausserdem  schmücken  das  gedieht 
sieben  andere  holzschnitte,  scenen  der  sage  darstellend. 

Daneben  ist  ein  sonderabdruck  dieser  ausgäbe  erschienen 
mit  folgendem  titel: 

Geschichte  |  des  grossen  Heldeu  und  Herzogen  |  Heinrich  des 
Löwen  I  und  seiner  |  wunderbaren  höchst  gefährlichen  Reise  |  [buch- 
druckerzeichen] I  Frankfurt  am  Main  |  Druck  und  Verlag  von 
H.  L.  Brönner.  |  Gedruckt  in  diesem  Jahr. 

In  demselben  Wortlaute  hat  K.  Simrock  dann  das  gedieht 
ohne  beigäbe  von  holzschnitten  in  seinem  werke  'Die  geschicht- 
lichen deutschen  sagen  aus  dem  munde  des  volks  und  deut- 
scher dichter'  (Frankfurt  a.  M.,  II.  L.  Brönner  1850)  s.  278— 304 
nochmals  herausgegeben. 

In  den  siebziger  Jahren  erschien:  'Heinrich  der  Löwe.  Ein 
altes  deutsches  Volksbuch.  Neu  verfasst  von  L.  Grote.  Mit 
zwölf  Holzschnitten.  Hannover  in  diesem  Jahr.  Im  Selbstver- 
lage des  Herausgebers'.  Vorn  auf  dem  umschlage  steht  eine 
nachbildung  des  titelbildes  der  Sirnrock'schen  Volksbücher. 
Auch  von  den  anderen  l)ildern  ist  ein  teil  nach  den  dort  be- 
findlichen holzschnitten  gearbeitet,  wenn  nicht  vielleicht  beide 
auf  eine  gemeinsame  vorläge  zurückgehen.  Der  text  Grotes 
zeigt  noch  freiere  behandlung  als  der  Simrocks,  welcher  eben- 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  295 

falls  benutzt  ist.     Eine  zweite  aufläge  des  werkcs  ist  im  vev- 
lage  von  Gustav  Jacob  erschienen. 

H.  Piöhle  hat  seiner  ])rosa(larstellung  der  sage  Heinrichs 
des  löweu  in  der  zweiten  aufläge  seiner  'Deutschen  sagen' 
(Berlin,  1S79)  s.  3 — 14,  wie  er  s.  289  f.  angibt,  ausser  dem 
8. 292  erwähnten  Einbecker  drucke  die  s.  287  besprochene  Wolfen- 
büttler  haudschrift  zu  gründe  gelegt.  Er  hat  der  letzteren 
folgend  manche  ausdrücke  und  Wendungen  des  Originals  bei- 
behalten, die  allen  anderen  ausgaben  und  darstellungen  bereits 
verloren  gegangen  waren. 

Ein  abdruck  der  dichtung  Heinrich  Godiugs  nach  dem 
originaldrucke  von  1585,  der  nachfolgt,  wird  hiernach  den 
freunden  deutscher  sage  und  volkstümlicher  dichtung  gewiss 
nicht  unwillkommen  erscheinen. 

Zuvor  ist  jedoch  zum  schluss  der  abhandlung  noch  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  dass  unser  verlasser  des  volksgedichts 
von  Heinrich  dem  löwen  nicht  mit  dem  dichter  Heinrich  Göt- 
tings  zu  verwechseln  ist,  von  welchem  Goedeke  in  dem  zweiten 
bände  seines  Grundrisses-  s.  285  zwei  gedichle  anführt:  'Nie- 
mandt:  Wie  üist  Jederman  an  jhm  wil  Ritter  werden'  etc. 
und  'Bewerte  Kunst  Goldt  vnd  Geldt  zu  machen.  Erfiordt, 
Georg  Bawman  159ü'.  Denn  letzterer  hiess  nicht,  wie  Goedeke 
ihn  zviiir  nennt,  Götting,  sondern  ganz  zweifellos  Göttingi  d.  i. 
Göttings.  Er  stammte  ferner,  wie  der  beiname  Witzeuhusanus 
zeigt,  nicht  aus  Braunschweig,  sondern  aus  Witzenhausen;  er 
lebte  1585  zu  Erfurt  und  war  1590  Schulmeister  zu  Gebesee, 
einem  Städtchen  im  jetzigen  regierungsbezirke  Erfurt.  Die 
vorrede  des  ersten  schriftchens  ist  'Erfturdt  den  4.  Februarij, 
Anno  1585'  mit  'Henricus  Göttingi,  W^itzenhusanus'  unter- 
schrieben; der  titcl  des  zweiten  gibt  als  Verfasser  an:  'Heu- 
ricum  Göttingi  Witzenhusanum  Ludi  Gebeseni  M.',  und  die 
Unterschrift  des  widmungsgedichtes  lautet:  'Anno  1590.  Hein- 
ricus  Göttingi'.  Danach  ist  es  unmöglich,  den  maier  Heinrich 
Göding  und  diesen  dichter  für  ein  und  dieselbe  person  zu 
nehmen. 


296  ZIMMERMANN 

Eine  scliöne  alte  Histori  | 

You    einem    Fürsten    Ynd    Herrn    Herrn  | 

Hertzogen  zu  Hraunschweig  vud  Lüne-  \ 

l)ur§k :  In  gesjings  weis  gerichtet,  | 

Im  1585.  Jahr.  | 

H.    G. 

1.  Man  sagt  von  starcken  Helden,  sie  sein  zu  preysen  hoch;  [Aiia] 
Darumb  so  mus  ich  melden  von  einem  Herren  auch : 

Er  ist  von  Edlem  Stamme  vnd  ist  auch  lobens  werth, 
Von  wegen  grossen  Thaten  führt  er  Mllich  das  Schwerdt. 

2.  Preiss  woldte  er  erlangen,  zog  weit  in  frembde  Landt, 
Abenthewer  zu  erfahren,  das  kam  jhm  auch  zu  handt; 
Wagt  derwegen  leib  vnd  leben,  wie  jhr  jetzt  hören  werd, 
Ja,  wie  man  find  beschrieben,  er  war  ein  Degen  hart. 

3.  Er  nam  an  Kitter  vnd  Gräften,  der  hochgeborne  Fürst, 
Es  waren  sein  Vnderthanen,  nach  Ehren  jeden  dürst. 

Sie  kamen  an  ein  Wasser:  die  Gaul  Hessen  sie  stahn 
Vnd  seumbten  sich  nicht  lange,  zu  Schiff  theten  sie  gähn. 

4.  Das  Schiti'  man  fertig  machte  vnd  ließen  schnell  daruon, 
Sie  fuhren  Tag  vnd  Nachte,  kein  Landt  sie  traff"en  an. 

Es  zerbrachen  jhre  Segel,  sie  kamen  da  in  noth; 

Gros  kummer  stund  jhn  zu  banden,  jeder  wündscht  jhm  den  Todt. 

5.  Sie  lagen  da  fast  lange,   die  Speise  hat  ein  endt.    [Aiii»] 
Dem  Herrn  war  fast  bange,  er  hub  auft"  seine  Hendt: 

Ach  GOTT,  thue  dich  erbarmen,  wir  müssen  leiden  den  Todt, 
Kom  du  zu  hülff  vns  armen,  wir  han  weder  Speiss  noch  Brodt. 

0.    Einer  klagt  dem  andern  den  kummer,  auch  dieses  gros  Ellendt; 
Jeder  war  math  von  hunger,  sie  wunden  jhre  Hendt. 
Der  Herre  sprach  mit  sinnen:  wir  stehn  alle  warlich  blos. 
Wir  mögen  nichts  begünnen,  jeder  mach  auff  sich  ein  Loss. 

7.  Die  Loss  wurden  gemachet,  wie  man  nun  hören  thut. 
Ein  jeder  darauff  trachtet,  man  legt  sie  in  ein  Hutt; 

Vnd  ward  gentzlich  beschlossen,  wer  erstlich  herausser  kern, 
Sol  sein  gantz  vnuerdrossen,  sich  den  andern  geben  heim. 

8.  Das  Loss  fiele  zum  ersten  auft'  einen  kühnen  Heldt. 
Er  sprach  balde  von  hertzen:  machts,  wie  es  euch  gefeldt. 
Mein  Leib  wil  ich  euch  geben  dahin  zu  ewrer  Speiss, 
Nerabt  mir  als  bald  das  Leben,  theilt  vnter  euch  mein  Fleisch. 

9.  Ihr  mögt  mich  brathen  vnd  sieden,  ich  gebs  euch  hertzlich  gern,  [A  iiia] 
Allein  wolst,  GOTT,  behüten  vnsern  frommen  Landes  Herrn. 

Es  gehe  gleich  vber  vns  alle,  wir  sein  klein  oder  gros, 
Ach  GOT']',  das  ja  nicht  falle  auff  vnsern  Herrn  das  Loss! 


II 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  297 

lü.    Der  Heldt  warde  geschlachtet,  wie  man  das  Messet  noch; 
Speise  man  aus  jhm  machet,  himger  war  der  beste  Koch. 
Er  war  balde  vorzehret  von  seinen  Mitgesellen-, 
Der  hunger  sie  solches  lehret,    ein  ander  must  sich  einstellen. 

11.  Auff  welchen  das  Loss  thet  fallen,  thet  sich  einstellen  gern. 
GOTT  gab  das  glück  für  allen,  er  verschont  jmmer  den  Herrn. 

Er  stund  mit  einem  Knechte,  wäre  nechst  GOTT  sein  trost; 
Gros  waren  sie  iu  nöthen,  der  Herr  war  nicht  erlost. 

12.  Der  hunger  hield  nicht  stille,  er  war  bey  jhnen  gros. 

Der  Herr  sprach:  es  ist  mein  wille,   wir  beyde  werflfen  das  Loss; 

Auflf  wehn  es  dann  thut  fallen,  sol  den  andern  verzehrn. 

Der   Knecht  rleff  laut  mit  schallen:  ich  thue  solchs  nicht  meim  Herrn. 

13.  Sie  theten  beyde  lossen,  der  Knecht  sähe  das  nicht  gern.  [Aiii'j] 
Das  Loss  da  thete  fallen  auff  sein  getrewen  Herrn. 

Der  Knecht  solte  jhn  tödten,  befahl  der  werde  Manu; 
Hoch  waren  sie  in  nöthen,  der  Knecht  wolte  nicht  dran. 

14.  Der  Knecht  spräche  mit  trewen:  Herr,  es  ist  als  verlohrn. 
Last  ewer  Leben  nicht  gerewen,  jhr  seid  ja  hochgeborn. 

Von  Leder  wil  ich  euch  machen  gar  bald  ein  newen  Sack, 

Ihr  mögt  des  glucks  erwarten,  jhr  seid  noch  Jungk  vnd  starck. 

15.  Der  Knecht  nam  iu  der  gute  den  thewren  Helden  werth, 
Nehet  jhn  in  Ochssen  heute  vnd  legt  zu  jhm  sein  Schwerdt. 
Ach  thue  es  GOTT  erbarmen,  wie  stehe  ich  jetzt  in  noth! 
Meinen  Herrn  hab  ich  begraben  vnd  ist  doch  noch  nicht  todt. 

16.  Zu  haudt  käme  geflogen  ein  grimmiger  Greiff  gros,  — 
Ist  war  vnd  nicht  erlogen,  —  bald  nach  dem  Herren  schoss, 
Fast  jhn  mit  seinen  Klawen,  furth  jhn  bald  in  sein.  Nest, 
Der  Herr  thete  sich  frewen:  GOT'l  thue  bey  mir  das  best! 

17.  Der  Greiff  flöge  von  hinnen,  mehr  Speise  er  begert.  [A  iv^^J 
Der  Herr  thet  sich  besinnen,  er  greiif  sein  scharÖes  Schwerdt, 
Er  dancket  GOTT  dem  HERREN  vnd  schneit  sich  aus  der  haut; 
Er  sähe  sich  freudig  vmme  vnd  fast  ein  guten  muth. 

IS.    Die  Greiifen  theten  schreyen,  sie  begerten  bald  des  Herrn. 
Ich  sag  es  auif  mein  trewen,  er  thet  sich  jhrer  erwehrn. 
Er  rieft'  zu  GOtt  dem  HERREN,  der  halft' jhn  ferner  aus  noth, 
Thet  sich  der  Vogel  erwehren  vnd  schlug  sie  alle  zu  todt. 

19.    Er  steig  gar  bald  herunder  wol  aus  dem  Greiff'en  Näst, 
Es  nam  den  Herren  wunder  der  vngehorten  Gast. 
Man  thut  noch  wol  anschawen  zu  Braunschweig  in  der  Burgk, 
Da  hengt  ein  Greift'en  Klawe,  bracht  er  mit  ohne  sorg. 


29S  ZIMMERMANN 

20.  Der  llerie  kam  in  weiten  im  Wald,  tliet  sich  vmbschawen, 
Er  sähe  gar  grimmig  streiten  einen  Drachen  mit  dem  Lawen. 
Er  sprach:   ich  wil  es  wagen,  sol  ich  gleich  bleiben  Todt, 
Thete  auffden  Drachen  schlahen,  si)rach:  das  walde  der  liebe  Gott! 

21.  Ich  hab  otl't  hören  sagen,  der  Lew  sey  ein  trewes  Thier,  [Av''] 
Driunb  wil  iclis  mit  jhm  wagen  kegen  dem  Drachen  vngehewr-, 

Ich  hoft",  vns  soll  gelingen,  der  Drach  sol  liegen  todt, 

Wil  jhm  daprt'er  beyspringen,  dem  Lewen  helft'en  aus  noth. 

22.  Sie  theten  da  fast  ringen,  jeder  sein  sterck  bewerth: 
Der  Herr  herzu  thet  springen  mit  seinem  guten  Schwerdt; 
Der  Lewe  ward  das  jnnen,  türm  Drachen  er  nimmer  weicht, 
Der  Herr  aus  kühnen  sinnen  bald  auÜ"  den  Drachen  streicht. 

2;).     Der  Drach   spert  auff  sein  Rachen  gegen  dem  viel  werden  Mann. 
Der  Herr  begundt  zu  lachen,  er  sprach  den  Lewen  an; 
Der  Lewe  mit  freiem  muthc  schnell  auif  den  Drachen  sprang, 
Der  Drache  schrey  fast  laute,  das  in  dem  Waldt  erklang. 

21.     Der  Herr  mit  freyem  muthe  schlug  autf  das  wilde  Thier 
Mit  seinem  Schwerdt  so  gute,  aus  jhm  gieng  wildes  Fewr. 
Das  sähe  der  Lew  so  gute,  trewe  er  dem  Herren  both; 
Der  Herr  aus  freyem  muthe  schlug  da  den  Drachen  todt. 

25.  Der  Lewe  thet  sich  legen  zum  Herrn  vnd  seinem  Schildt,  [B^] 
Er  thete  seiner  pflegen,  er  tieng  jhm  Hirsch  vnd  Wildt; 

Grosse  trew  empfeht  der  Herre  von  diesem  wilden  Thier, 
Er  thets  jlim  machen  gare,  sagt  man,  ohn  alles  Fewr. 

26.  In  diesem  grossen  Walde  warn  sie  mit  Wasser  vmbgeben. 
Er  besann  sich  schnell  vnd  bakle:    wie  thue  ich  mit  dem  Lewen? 
Eine  Hort  thet  er  bald  machen  von  Holtz  vnd  auch  von  Reiss; 
Der  Lewe  thet  fleissig  trachten,  das  er  bekem  ein  Speiss. 

27.  Die  Hort  die  war  gebunden,  er  legt  sie  auff  das  Meer, 
Satzt  sich  darauff  von  stunden,  sähe  weit  vmb  sich  daher. 
Der  Lewe  kam  gegangen,  hat  jhm  ein  Wildt  gehatzt; 

Der  Herr  seumbt  sich  nicht  lange,  het  sich  erst  niedergesatzt. 

28.  Der  Lewe  trawret  sehre,  er  fandt  sein  Herren  nicht, 
Er  lieff  fast  hin  vnd  here,  sähe  gar  weit  vmb  sich, 

Er  hört  des  Herren  stimme,  er  sähe  jhn  auff  dem  Hort, 
Sprang  bald  aus  grossem  grimme  zum  Herren  auff  den  Hort. 

29.  Sie  flössen  Tag  vnd  Nachte,  wo  sie  der  Windt  hintrieb;  (B'>| 
Der  Herr  auch  jmmer  wachte,  für  angst  er  wenig  schliclf, 

Het  auch  viel  lieber  gesehen,  der  Lew  wer  blieben  da. 
Wie  sol  vns  nun  geschehen?    vnglücke  kömpt  vns  nah. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  299 

3(1.     Ach  GOTT,  tliue  dich  erbarmen,  rieft'  er,  hub  auft'  die  Hendt, 
Hilif  doch  zu  Landt  mir  armen,  die  Speise  hat  ein  endt. 
Es  war  wol  zu  erbarmen,  wie  man  erachten  kan. 
Der  Lew  an  seinen  Armen  sähe  jlin  fast  trawrig  an. 

31.  Ja  wunder  mus  ich  sagen,  wie  man  es  utVt  ertindt; 
Mancher  Feindt  thut  hass  tragen,  wenn  er  es  enden  kündt. 
Aber  GOTT  kann  es  wenden,  mus  kommen  jhm  zu  gut, 
Sein  Vnglücke  auch  enden  vnd  helft'en  aus  der  Noth. 

32.  Der  Herr  sich  hart  verwachet,  het  Tag  vnd  Nacht  kein  ruh. 
Gar  baldt  sich  zu  jhm  machet  der  Wirth  aussm  Nobiskrug: 

New  Zeitung  wil  ich  dir  sagen,  hör  wol  auft'  meine  wort. 
Du  liegst  in  Wassers  wagen,  must  endtlich  sterben  todt. 

33.  Zu  Braunschweigk  sein  eingzogen,  Ja  gestern  zu  Mittag,  —  [Bii»] 
Ist  war  vnd  nicht  erlogen,  was  ich  dir  jetzundt  sag,  — 

Man  wird  da  WirtschaÜ't  halten,  ist  jedem  wol  bekandt, 

Ein  ander  aus  trembden  Landen,  der  kriegt  dein  Weib  vnd  Landt. 

34.  Der  Herre  sass  in  trawren,  er  glaubt  es  were  war: 
Ich  bin  ja  aus  gewesen  lenger  dann  sieben  Jahr, 

Sie  werden  nicht  anders  deneken,  ich  sey  wegk  von  der  Welt; 
Zu  GOtt  wil  ich  mich  lencken,  der  machs  wies  jhm  gefeldt. 

35.  Ja  hör,  ich  wil  dir  sagen,  du  sagst  noch  viel  von  GOTT; 
Du  liegst  ins  Wassers  wagen,  er  liilft't  dir  nicht  aus  noth. 

Ich  t'iilir  dich  heut  als  balde  zu  dem  Geniahle  dein, 

Auch  zu  dein  Freunden  allen,  wenn  du  wilt  mein  eygen  sein. 

36.  Sie  halten  ein  lang  gespreche,  der  Herr  wolt  wilgen  nicht: 
So  ich  mein  gelübte  breche  gegen  GO  TT  dem  ewigen  Liecht, 
Ob  ich  gleich  bin  ein  Ilerre  von  Braunschweig  hochgeborn, 
Fiel  von  Gott  meinem  Herren,  so  wer  ich  ewig  verlorn. 

37.  Eins  wil  ich  dir  vorschlagen,  gehe  nur  nicht  lang  zu  rath:  [Bii'j] 
Ich  wil  dich  heut  ohn  Wagen  tiilirn  gen  Braunschweigk  vor  die  Stadt, 
Ja  one  einigen  schaden  auftm  (icyersbergk  legen  nieder-, 

Da  soistu  meiner  warten,  bis  ich  kom  schier  herwider. 

3S.     Ich  wil  alsbald  verschaften  den  Lewen  an  das  Orth, 
Vnd  so  ich  dich  findt  schlaft'en,    —  nun  merck  wol  auft"  mein  Wort:  — 
Alsdann  soistu  mein  eygen  in  meinem  Reiche  sein. 
Er  wold  jhn  gern  betriegen  vmb  Leib  vnd  Seele  sein. 

39.    Ach  GOTT,  thue  mich  erretteu!   wie  thue  ich  nun  der  sachen? 
Ich  wil  gar  trewlich  beten,  wil  darzu  fleissig  wachen. 
Ach  GOTT,  thue  mir  bescheren  heut  einen  seligen  Tag! 
Ich  befehl  mich   GOTT   dem   HERREN,    biss  der  Lewe   kompt  hernach. 


300  ZIMMERMANN 

40.  Der  Herr  thet  sich  besinnen,  gab  doch  sein  willen  drein, 
Wie  er  ruöcht  isominen  von  hinnen  zu  der  allerliebsten  sein: 
Ach  GOtt,    wolst  mich  bewahren  diesen  Tag  vnd  auch  die  Nacht, 
In  Gottes  geleyt  zu  fahren,  ehe  die  Wirtschaflft  wird  verbracht. 

41.  Er  nam  den  werden  Herren,  fürt  jhn  in  lüiften  hin,  [Biü»] 
Er  meint,  er  sol  sein  werden,  het  einen  guten  gewyhn. 

Vor  Braunschweigk  leget  er  nieder  den  Edlen  Herren  frum: 
Ich  kom  gar  baldt  herwider;   kanstu  wol  wachen  nuhn? 

42.  Der  Ilerre  war  fast  müde,  ist  warlich  nicht  erlogen: 
Ach  GOTT,  mich  doch  behüte,  zufallen  wollu  mir  die  Ogen. 
Hilff  GOTT,  das  ich  nicht  schlaffe,  es  möcht  mir  vbel  gehn, 
Möcht  kommen  in  sein  Rachen,  darzu  in  ewige  Pein. 

43.  Er  thet  sich  nieder  lencken,  der  schlaff  satzt  jhm  fast  zu; 
Er  war  nicht  zu  verdeucken,  hat  lang  gehat  kein  rhu; 

Er  lag  auffm  Geyersberge  zu  Braunschweig  für  der  Stadt, 
Wie  man  wol  kan  gedencken,  von  der  Reyse  war  er  math. 

44.  Es  wehret  nicht  gar  lange,  Nobiswirth  thet  einher  schweben 
Vnd  het  gar  fest  vmbfangen  den  frommen  getrewen  Lewen. 

Er  sähe  den  Herrn  liegen,   er  dacht  er  wer  gar  Todt. 
Er  liegt  dort  an  dem  Berge,  ist  kommen  da  in  noth. 

45.  Der  Lew^e  thet  laut  schreyen,  weil  der  Herr  sich  nicht  rührt,  —  [B  iüi*] 
Den  Teuffei  thets  gerewen,  das  er  jhn  hat  geführt:  — 

Der  Herr  von  solchem  gschreye  gar  schnell  vnd  bald  erwacht; 
Da  thets  den  Teuft'el  grewen,  warft  den  Lewen,  das  er  kracht. 

46.  Ja,  so  der  Herr  geschlaffen,  wer  kommen  vmb  Leib  vnd  See). 
Der  lieb  GOTT  thut  solchs  schaffen,  von  jhm  kompt  Leben  vnd  Heyl; 
Er  hilfft  in  diesem  Leben  vnd  endtlich  aus  dem  Todt, 

Thet  seiner  ferner  pflegen,  halff  jhm  aus  dieser  noth. 

47.  Der  Herre  fiel  da  nieder,  er  dancket  Gott  dem  HERRN, 
Rieht  sich  darnach  auff  wider;   es  wil  nun  Abendt  werdn. 
Wer  er  den  l'ag  niclit  kommen,  wer  jlitn  ein  grosser  schad, 
Wie  jhr  jetzt  habt  vernommen,  er  kam  fast  eben  spat. 

4S.    In  die  Stadt  kam  er  gegangen,  der  Lewe  folgt  jhm  nach. 
Er  war  gar  schlecht  empfangen,  nach  der  Burgk  war  jhm  gach. 
Er  hört  ein  gros  gedüline;  er  dacht:  was  mag  das  sein? 
Er  thet  sich  balde  lencken,  nachm  Hause  stand  sein  sinn. 

49.    In  sein  Hauss  wolt  er  schreyten,  man  wolt  jhn  nicht  einlahn,  [Biv»] 
Trabanten  vnd  auch  Leute  die  drawten  jlin  zu  schlan. 
Was  wiltu  allhier  machen  wol  in  des  Fürsten  Hoff? 
Wir  Sehens  an  dein  sachen,  du  bist  ein  vmmelauff. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  301 

50.  Gros  wunder  nam  den  Herren,  was  er  da  sähe  vnd  hört: 
Es  darff  noch  wol  wahr  werden,  was  der  Teuffel  mir  sagt. 

Was  bedeut  das  gedöhn  vnd  pfeiffen?  ist  hier  ein  frcmbder  Herr? 
Gebt  mir  bericht,  jlir  Leute,  was  seins  für  newe  MeerV 

51.  Der  Herr  ist  ja  nicht  frembde,   er  ist  vns  wol  bekandt-, 
Ich  sag,  das  er  bekömiuet  heut  das  Braunschweigisch  Landt 
Mit  vnser  gnedigen  Frawen;   dann  sie  ist  hochgebohrn, 

Sie  ist  ein  Witwe  in  trewen,  jhren  Herrn  hat  sie  vcrlohrn. 

52.  Der  Herr  verwundert  sich  sehre,  thet  eylen  mit  der  Sacb, 
Er  trath  zu  jhn  anhere,  thet  freundlich  bitten  die  Wach: 
Hetten  sie  kein  bedencken,  soUn  thun  den  willen  sein, 

Er  wolt  nicht  mehr  begeren  dann  nur  ein  Becher  Wein. 

53.  Der  Ilerre  bath  fast  sehre,  er  wolt  gar  nicht  ablan;  [Bivi>] 
Es  war  jhr  Landes  Ilerre;   der  Abendt  gieng  heran. 

Er  sprach  zu  einem  in  trewen;   sprich  doch  die  Fürstin  an, 
Es  sol  dich  nicht  gerewen,  du  scheinest  ein  trewer  Mann, 

54.  Vnd   thue  sie   freundlich   bitten   ein   trunck  von  jhrem   Wein, 
Den  wolt  sie  herunder  schicken;  uiath  ist  das  Hertze  mein. 

Er  sähe  an  den  Lewen  vnd  auch  den  werden  Mann, 
Er  lieff  gar  schnell  vnd  balde  zeigt  es  der  Fürstin  au. 

55.  Die  Braut  die  thcte  lachen:  was  ist  es  für  ein  Mann? 
Es  warn  jhr  seltzame  Sachen,  das  er  ein  Lewen  sol  han. 
Von  Goldt  gab  sie  ein  Geschirre:  las  jhn  den  Trincken  aus, 
Er  ist  ein  Abenthewer;  wie  kompt  er  in  das  Ilauss? 

56.  Man  trugk  den  Becher  hienunder,  er  trancke  aus  den  Wein. 
Warlich  mich  nimmet  wunder,  woher  du  magest  sein. 

Das  du  begerst  zu  trincken  allein  von  diesem  Wein, 
Den  thut  man  allein  eiuschencken  der  frommen  Ilertzogin. 

57.  Er  nam  ein  Riugk  von  Golde,  von  ander  war  er  geschlagen,  [C^^] 
In  Becher  warff  er  jhn  balde,  bath  sehr,  man  wolt  jhn  tragen 

Allein  für  die  Fürstin  milde;    daraulf  war  geschnitten  ein 
Sein  Helm  vnd  auch  das  Schilde;  das  trugk  er  jr  hienein. 

58.  Der  Knecht  nam  das  Geschirre,  er  thet  jhm  nichts  mehr  sagen; 
Es  dauclit  jhn  Abenthewre,  für  die  Fürstin  thet  ers  tragen. 

Er  sprach:  zart  gnedige  Frawe,  eine  Fürstin  hochgeborn, 
Thut  diss  Ewer  gnad  anschawen,  haben  sie  diss  Goldt  verlorn? 

59.  Sie  nam  das  Goldt  zu  banden,  eygen  thet  sie  es  anscliawcn; 
Ihr  Hertze  lag  in  banden;   sie  sahen  all  auff  die  Frawen. 

Sie  ward  entferbet  sehre,  bald  ward  sie  wie  ein  Leich, 

Sie  gedacht:  ist  es  mein  Ilerre,  der  Hertzog  von  Braunschweig? 


302  ZIMMERMANN 

HO.    Die  Braut  stund  auff  mit  eyle,  bald  in  die  Kammer  gieng. 
In  einer  kleinen  weile  rieflf  sie  den  Käuiraerling, 
Sprach:  habet  jhr  gesehen  drunden  den  frembden  Mann? 
Ja  der  für  vnserm  Hause  sol  mit  dem  Lewen  stahn? 

61.  Er  sprach:  zarth  gnedig  Frawe,  ich  hab  jhn  wol  gesehn,  [C^'] 
Thet  jhn  gar  wol  anschawen,  der  Lew  thet  mit  jhm  gehn-, 

Der  Lew  ist  jhm  getrewe  vnd  ist  jhm  vnderthan; 

Viel  Leut  thun  jhu  anschawen,  ist  warlich  ein  feiner  Mann. 

62.  Sie  legt  sich  an  die  Zynnen  vnd  thet  hienunder  schawen, 
Sie  ward  jhres  Herrn  junen,  er  sass  da  mit  dem  Lawen. 
Hilff  GOtt,  das  mir  gelinge!    was  er  mir  hat  geschickt, 

Ist  von  meins  Herren  Ringe,     gar  offt  sie  jhn  anblickt. 

63.  Last  jhn   heraufter   kommen,    wir   wolln  jhn  freundlich  fragen, 
Wo  er  den  Ringk  genommen;    er  mus  es  warlich  sagen. 

Den  Ringk  ken  ich  gar  eben;    mein  Herr  hat  mir  jhn  geben, 
Da  er  von  mir  thet  scheiden,    ach  Gott,  wer  er  bey  leben! 

64.  That  jhn  von  ander  schneiden,  das  ist  gewiss  vnd  war, 
Da  er  von  mir  thet  scheiden  lenger  dann  sieben  Jahr. 

Kom  ich  dann  nu  nicht  wider  auff  dieses  Hauss  vnd  Saal, 
Sprach  da  mein  Edler  Herre,  so  nembt  ein  ander  Gemahl. 

6.5.     Jederman  nam  es  wunder:   was  wil  daraus  noch  werdn?  [Cii»] 
Die  Räht  namen  besonder  den  frommen  Landes  Herrn. 
Sie  fragten  jhn  in  trewen  vmb  diese  wunder  ding. 
Ja  wo  ers  het  genommen,  es  wer  jhres  Herrn  Ringk. 

66.  Der  Herr  begundt  zu  lachen,  sprach:  es  wird  werden  gut. 
Ja  fleissig  thet  er  trachten,  ob  er  möcbt  sehn  die  Braut. 

Von  keim  hab  ich  bekommen,  das  sag  ich  euch  fiirwar, 
Ich  hab  jhn  hie  genommen  lenger  dann  sieben  Jahr. 

67.  Sie  theten  jhu  anschawen:  er  war  ein  ernster  Mann. 
Einer  lieff  zu  der  Frawen,  thut  jhr  solchs  zeigen  ahn: 
Der  Ringk  der  were  kommen  ja  an  sein  rechtes  Orth, 

Er  het  jhn  wider  geleget,  dahin  er  billich  ghort. 

68.  Die  Fürstin  wundert  sich  sehre,  gieng  schnell  durch  einen  Saal, 
Sie  sprach:  ach  Gott,  mein  Herre  ist  es,  mein  liebes  Gemahl; 

Denn  der  Ringk  ist  gewesen  dem  liebsten  Herren  mein. 
Ach  möcht  er  sein  genesen,  wer  noch  beim  leben  sein! 

69.  Sie  thet  den  Herrn  anschawen,   für  freuden  fiel  sie  nieder.  [Cii^^] 
Der  Herr  sähe  an  die  Frawen,  thet  jhr  aufihelft'en  wider. 

Es  nam  wunder  alle  Herren,  sie  sprachen  all  zugleich: 

Was  wil  da  noch  aus  werden?  hilff  GOTT  von  Himmelreich. 


GEDICHT  \  ON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  303 

70.  Die  Fürstin  thet  jiin  kennen,  both  jhm  jhr  weisse  Handt. 
Ach  Herr,  jhr  wolt  euch  nennen:  seid  jhr  der  Herr  im  Land? 
Ihr  solt  euch  vns  anmelden,  sagen  wir  zu  dieser  stund; 

Wir  preysen  GOtt  dem  HErren,  das  jhr  seid  kommen  gesundt. 

71.  Vor  Zeiten  war  ich  ein  Herre,  sage  es  ohn  allen  spott, 
Mir  geschieht  jetzt  wenig  Ehre,  mus  es  befehlen  GOTT; 

Ich  war  ein  Ilertzog  ohn  sorgen,  das  sag  ich  euch  fürwar. 
Zu  Braunschweig  ausgezogen,  ist  lenger  dann  sieben  Jahr. 

72.  Seid  jhr  des  Lands  ein  Herre,  seid  vns  all  Gott  wilkomn! 
Sie  theten  jhm  gros  Ehre,  dann  er  war  mildt  vnd  fromb. 
Die  Fürstin  fiel  danieder,  sie  danckt  dem  lieben  GOTT: 
Mein  Herr  ist  kommen  wider,  XiOTT  hat  jhn  wol  behut. 

73.  Zu  Tisch  thet  man  jhn  weisen,  jederman  es  gerne  hört,  [Ciii»] 
Man  thet  jhn  besser  speisen,  als  jhm  geschach  auft"  der  Hort, 

Zur  Braut  satzt  man  jhn  nieder,  jederman  thet  jhn  anschawen; 
Man  thet  auch  wol  versorgen  sein  getrewes  Thier  den  Lawen. 

74.  Was  sol  man  jmmer  sagen  V  dem  Breutgam  kam  die  meer, 
Er  war  wol  zu  beklagen,  das  eben  kam  der  Herr: 

Nun  ist  meine  sach  verloren,  durchn  Korb  bin  ich  hindurch  ;- 
Wer  ich  noch  höher  gebohren,  stehe  jetzundt  fast  in  sorg. 

75.  Der  Breutgam  trawret  sehre,  es  thet  jhm  weh  der  höhn. 
Wens  nicht  wer  der  Lands  Herre,  er  wolt  daruon  nicht  lohn. 
Nach  der  Braut  stund  sein  verlangen:  ich  hab  ein  Wildt  geiagt, 
Ein  ander  hat  es  gefangen,  das  sey  ja  Gott  geklagt. 

70.    Die  Herrn  giengen  zusammen,  man  pfleget  guten  rath ; 
Der  Fürst  thet  zu  jhn  kommen,  ja  jeden  er  da  bath, 
Guten  rath  solten  sie  geben;    in  gnaden  wirds  erkandt: 
Ja  weil  er  het  sein  leben  vnd  Herre  wer  im  Landt. 

77.  Seiner  guad  sie  theten  dancken,  die  Sach  wer  nicht  verlorn:  [C  iii''] 
Ein  Frewlein  ist  hier  aus  Francken,  ist  warlich  hochgebohrn; 

Dem  Breutgam  wolln  wir  sie  geben,  das  sol  gesehen  zu  handt, 
Sie  ist  fast  seuberlichen  als  eine  in  diesem  Landt. 

78.  Dem  Fürsten  thet  gefallen,  die  Vohrschläg  waren  gut; 
Er  lacht,  das  es  thet  schallen,  gar  frölich  war  sein  muth. 
Gehet  bald  in  der  eyle,  zeigt  es  dem  Herren  an: 

Er  sol  doch  Wirtschafft  halten,  das  Frewlein  sol  er  han. 

79.  Die  Herrn  eyleten  sehre,  giengen  zu  jhm  ins  Gmach, 
Sie  sagten  jhm  die  mehre,  erzehlten  jhm  die  Sach: 
Zeittting  wolln  sie  jhm  bringen,  die  Sach  wolt  werden  gut, 
Man  wolt  jhm  bald  zufüren  ein  schüne  Junge  Braut. 


304  ZIMMERMANN 

80.  Ewer  gnad  haben  vernommen  von  vnserm  Landes  Herrn, 
Das  er  ist  wider  kommen  aus  frembden  Landen  fern. 

GOTT  hat  Jim  auch  bewahret  aus  vieler  angst  vnd  noth; 
Wir  waren  all  in  trawren,  als  wer  er  langest  todt. 

81.  Weil  es  dann  so  GOTT  schaffet,  die  euch  zur  Ehe  vermählt,  [C  iv-'^] 
Die  Fürstin  auch  darauft"  hoffet,  vnd  es  ja  nicht  sein  solt, 

Euch  ein  aus  hohen  Stammen  ein  Frewlein  ausserkorn. 
Diesen  Raht  hat  gegeben  vnser  Fürst  hochgeborn. 

82.  Der  Herre  sprach  mit  sitten:  Ihr  trewen  Räht  vnd  Herrn, 
Eines  wil  ich  euch  bitten,  kündt  jhr  mir  das  gewehrn, 

Das  vnser  gnediger  Herre  gebe  sein  Willen  drein; 
Ich  sag  es  auff  mein  trewe,  sei  mir  nu  die  liebste  sein. 

S:^.    Spürt  jhr  den  gnedigen  Willen  von  denen  hochgebohrn, 
So  gehet  in  der  stille  zu  der  jhr  habt  erkohrn. 
Ich  sag  es  euch  fürwahre:  mein  eygen  sol  sie  sein, 
Mit  mir  sol  sie  heim  fahren  gar  baldt  in  meine  Heimbt. 

84.  Sie  seumbten  sich  nicht  lange,   giengen  zum  Frewelein; 
Sie  wurden  schon  empfangen,  hies  sie  wilkommen  sein. 

Mit  züchtigem  geberde  drugen  sie  an  jhr  Sach; 

Das  Frewlein  wehrt  sich  sehre,  doch  endtlich  sie  des  lacht. 

85.  Sie  wolte  auffschub  nemen,  die  Herren  wolten  nicht.  [C  iv''] 
Ein  wenig  thet  sie  sich  Schemen,  gab  doch  höflich  bericht: 
Sie  weit  fragen  ihren  Herren,  darzu  seiner  gnaden  Gemahl; 
Was  sie  jhr  rathen  theten,  solt  jhr  gefallen  wol. 

86.  Sie  sprachen:  Edel  Jungfrewlein,  vnser  hohe  Oberkeit 
Han  geben  jhren  willen  drein;  gebt  vns  kurtzen  bescheidt. 
Ja  vnser  Gnedige  Frawe  het  jhn  selber  genommen, 

Wir  sagens  auff  vnser  trewe,  wer  er  nicht  wider  kommen. 

87.  Nu  Gottes  will  geschehe!   wil  ers  dann  also  han, 
Sol  ich  nun  greiffen  zur  Ehe,  zeigts  vnserm  Herren  an. 
Sprachen:  das  müssen  wir  sagen,  das  vnser  gnediger  Herr 
Euch  hat  diss  vohrgeschlagen,    reicht  euch  zu  grosser  Ehr. 

88.  Das  Frewlein  gab  jhren  willen,  sie  hatte  Ja  gesagt. 

Sie  zeigens  an  dem  Herren,  sprachen:  jhr  habt  noch  wol  geiagt; 
Das  Frewlein  ist  ewer  eygen.     GOTT  gebe  glück  darzu! 
Wollen  sie  euch  bald  zulegen,  solt  haben  gute  Ruh. 

89.  Der  Herr  mit  freyem  muthe  thet  dancken  diesen  Herrn:  [D»] 
Mein  sache  wird  fast  gute,  nu  bestehe  ich  noch  mit  ehrn. 

Sol  ich  nu  Wirtschafft  halten  mit  meiner  newen  Braut, 
Gott  der  HERR  thue  es  walten,  mein  sach  ist  worden  gut. 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  305 

90.  Sie  antworten  in  der  eyle:  es  sol  noch  heut  geschehn. 
Man  nam  da  nicht  viel  weile,  giengen  bald  zum  Frewelein. 
Man  nam  sie  bej'  den  handen  vud  fürt  sie  zu  dem  Herrn; 
Er  thet  sie  wol  empfangen,  er  nam  sie  hertzlich  gern. 

91.  Grossn  danck  thet  er  jhn  sagen,  thet  sie  empfangen  fein 
Auff  einem  gülden  Wagen  fuhrt  sie  zur  Kirchen  nein. 

Ein  jeder  kundt  nicht  hören  allda  sein  eygen  wort 

Von  Pfeiffen  vnd  Drommeten,  desgleichen  man  nie  erhört. 

92.  Man  gab  sie  da  zusammen,  wie  das  noch  oflft  geschieht. 
Da  sie  herausser  kamen,  war  alles  zugericht. 

Jederman  war  in  freuden,  die  sach  deuchtet  jhn  gut; 
Es  war  wol  zugerichtet,  doch  nicht  auff  diese  Braut. 

93.  Man  thete  Wirtschafft  halten,  man  sähe  da  manchenMann  [D'^] 
Von  Jungen  vnd  den  Alten  geriist  bald  auff'  dem  Plan; 

Mit  Rennen  vnd  Thornieren  brach  mancher  seinen  Spiess, 
Ja,  wie  man  hat  gesehen,  that  jeder  grossen  fleis. 

94.  Die  W^irtschafft  hat  ein  ende,  ein  jeder  Yrlaub  nam. 
Gaben  dem  Herrn  die  Hende  Braut  vnd  der  Breutigam. 
Man  thet  sie  auch  geleiten,  gros  Gutt  man  jhn  mit  gab; 
Jederman  so  es  gesehen,  hat  lust  vnd  freude  darab. 

95.  Der  Herre  sass  in  Ehren,  Regieret  Leut  vnd  Landt; 
Man  thete  jhn  fast  ehren,  leyst  den  frommen  offt  beystandt. 
Man  thete  jhn  fast  lieben  den  Herren  zu  Braunschweig 
Von  wegen  seiner  trewe,  macht  manchen  Armen  Reich. 

96.  Biss  in  sein  alten  tagen  thet  jhn  GOtt  wol  bewahrn. 
Sein  Gemahl  ohn  alles  klagen  für  vngelücke  sparn. 

Ja,  die  nach  seinem  Tode  diss  Landt  theten  regiern, 

Gab  jhnen  GOTT  aus  gute  viel  Frewlein  vnd  Junge  Herrn. 

97.  Der  Herr  leget  sich  nieder,   von  Alter  war  er  schwach:  fDiia] 
Kom  ich  dann  nicht  auff  wieder,  so  befehl  ich  meine  Sach 
Christus  meim  lieben  HERREN  befehl  ich  Leib  vnd  See!, 

Der  wolle  nun  mein  pflegen;  von  jhm  kömpt  leben  vnd  heyl. 

98.  Sein  Gemahl  weinet  sehre,   der  Herr  thet  sie  gesegnen: 
Mein  bleiben  ist  nicht  mehre,  GOTT  wolt  nun  ewer  pflegen, 
GOTT  wolle  euch  bewahren,  darzu  auch  Leut  vnd  Landt. 
Wol  in  derselben  stunden  both  jedem  da  die  Handt. 

99.  Er  thet  sein  Geist  auffgeben,  der  Edle  Herre  werth, 
Vnd  endet  da  sein  leben,  man  legt  zu  jhm  sein  Schwerdt, 
Man  thet  ehrlich  begraben  ja  dieses  Fürsten  Leib; 

Das  Grab  wird  noch  gesehen  im  Thume  zu  Braunschweigk. 


306  ZIMMERMANN 

100.    Jedermau  trawret  sehre  vmb  den  Herrn  hochgebohrn, 
Desgleichen  dass  wilde  Thiere,  hat  auch  sein  Herrn  verlorn. 
Der  Lewe  legt  sich  nieder  wol  auff  seins  Herren  Grab, 
Daruon  wolt  er  nicht  wider,  bis  er  sein  Geist  auflf  gab. 

KU.     Man  thet  die  Ehr  dem  Lewen,  man  grub  jhn  für  die  Burgk;  [D  iii>] 
Man  thut  das  Grab  anschawen,  wer  jetzt  noch  gehet  durch. 
Ein  Lewe  ist  gegossen,  teglich  thut  man  jhn  sehn, 
Stelt  fast  ein  guten  possen;  auflfer  Seule  thut  er  stehn. 

102.  Ein  Greiffenklaw  thut  hengen  vber  dieses  Fürsten  Grab, 
Er  thete  sie  mit  bringen,  wie  ich  berichtet  hab ; 

Dabey  ist  nu  zu  mercken,  das  solches  ist  geschehn. 
la  mitten  in  der  Kirchen  wird  diss  Grab  noch  gesehn. 

103.  Ach  Gott,  du  wolst  bewahren  all  fromme  Oberkeit 
In  diesen  schweren  Jahren  für  angst  vnd  grossem  leidt, 
Gnediglich  sie  behüten  allhie  in  diesem  leben, 

Das  sie  von  Landt  vnd  Leuten  gute  Rechnung  mögen  geben. 

104.  Von   wegen   der  Geschichten  hab  ich  dis  Lied  gedieht, 
In  eyle  thet  ichs  machen,  hets  sonst  besser  gericht. 

Dem  Fürsten  Stamm  zu  Ehren,  auch  meinem  Vaterlandt, 
Befehl  ich  GOTT  dem  HERREN  in  seine  starcke  Handt. 

Anmerkungen. 

Der  vorstehende  abdruck  gibt  im  ganzen  den  originaldruck  in 
möglichster  genauigkeit  wider.  Er  unterscheidet  sich  von  ihm  nur 
durch  das  absetzen  der  verse,  die  einführung  der  interpunktion  und  die 
abänderung  einzelner  augenscheinlich  durch  druckfehler  in  den  text  ge- 
ratener Worte,  welche  sich  im  folgenden  verzeichnet  finden.  Die  reime 
des  dichters  sind  sehr  ungenau,  ja  sie  fehlen  zumal  am  ende  der  ersten 
halbzeilen  nicht  selten  ganz.  Es  finden  sich  hier  z.  b.  worte  wie: 
Segel  :  handen  (4^-  ^),  Knechte  :  nölhen  (ll^-  *),  Zossen  :  fallen  (liJ^*  2), 
Herren  :  vmine  (17^-  ^),  Irawren  :  gewesen  (34'"  -J,  geduhne  :  lencken 
(4S^"  %  fremhde  :  bekommet  (51'-  -)  u.  s.  w.  zusammengestellt.  Streng 
innegehalten  hat  der  dichter  den  klingenden  ausgang  in  der  mitte  der 
langzeilen.  Nur  in  5  versen  ist  er  nicht  überliefert,  aber  durch  ganz 
leichte  änderungen  herzustellen,  die  demnach  gewiss  nicht  unberechtigt 
erscheinen.*)  Auch  der  stumpfe  reim  am  ende  der  langzeilen  findet  sich 
fast  durchgehends  gewahrt  und  zu  seiner  aufrechterhaltung  hat  der 
dichter  auch  kürzungen  nicht  verschmäht,  wie  verzehrn  :  Herrn  (12^*  *), 
Tliier  :  Fervr  (24*" '•'),  Herrn  :  werdn  (47i" -),  rvUkomn  :  fromh  (72*"  ^), 
Herrn  ;  gewehrn  (82i-  -),  sein  :  heimbt  heimat  (b3^'  •*),  Herrn  :  ehrn  ho- 
nores  (891- 2).    Ich  habe  daher  an  den  stellen,    wo  das  eine  reimwort 


')  An    vier   stellen   (17^.  39^.  69^.  853)   jgt  Herrn  statt  Herren  zu 
schreiben  und  li^'  *  vei'lorn  :  gebohr n  statt  verloren  :  gebohren. 


ÖEDICHT  VON  HEINRICÖ  DEM  LOfiWEN.  307 

die  kürzere  form  zeigte,  auch  bei  dem  zweiten  eine  solche  eingesetzt.*) 
Dasselbe  verfahren  auch  an  den  18  stellen  einzuschlagen,  wo  beide  reim- 
worte  die  längere  form  aufweisen  2),  schien  mir  eine  zu  grosse  abweichung 
von  dem  überlieferten  texte  zu  sein,  obwol  es  keinem  zweifei  unter- 
liegen kann,  dass  auch  diese  versausgänge  als  stumpf  gemeint  anzu- 
sehen sind. 

6*.  Das  auslosen  der  schiffsinsassen  in  der  hungersnot  und  das 
verzehren  der  vom  lose  getroffenen  ist  ein  zug,  der  uns  in  den  ver- 
wanten  fassungen,  bei  M.  Wyssenhere^)  und  im  niederländischen  volks- 
liede*),  nicht  begegnet. 

7^    geschlossen  druck. 

7*.     dem  druck. 

173.    HERRN  druck. 

182.    erwehren  druck,  vgl.  str.  X'P-  K  82i-  2.  89>-  2. 

1J)3.  Vgl.  über  die  greifenklaue,  welche  früher  im  dorne  zu  Braun- 
schweig über  dem  grabe  Heinrichs  des  löwen  hieng  und  noch  jetzt  in 
jener  kirche  gezeigt  wird,  str.  102  und  das  auf  s.  28G  und  290  gesagte. 
Mich.  Wyssenhere  erwähnt  (str.  30)  mehrere  klauen,  die  der  fürst  den 
jungen  greifen  abgeschlagen  habe  und  die  hangen  zu  brünecz7vigk 
in  der  stai.  Im  niederländischen  volksliede  findet  sich  nichts  ent- 
sprechendes. 

20'.  in  weiten  auf  weite,  freie  strecken,  auf  lichtungen  im  walde. 
Spätere  ausgaben  haben  den  ausdruck  nicht  mehr  verstanden,  sie  schrei- 
ben: der  Herr  that  sich  von  weilen  im  Walde  ziemlich  umschaun. 

21^    der]  des  druck. 

21'^.    vngehewer  druck. 

25^     Fewer  druck,  vgl.  str.  24}-  2. 

29*.    nahe  druck. 

32'.     ruhe  druck. 

322.  Dg^  Wirlh  aussm  Nobiskrug,  wie  str.  44^  der  Nobistvirlh,  be- 
deutet den  teufel.     Die  bearbeitung  von   1727  nenat  daher   statt  jene 


')  Das  letzte  e  ist  gestrichen  in  den  durch  den  druck  überlieferten 
formen:  errvehren  (182),  vnqehewer  {!{-),  Feiver  (25^),  nahe  {^1'^%  ruhe 
(32'),  werden  (65'),  Ruhe  (88*),  sparen  (!)6-). 

2)  Milgesellen  :  einstellen  (iO^-  *),  vmbschawcn  :  Lawen  (20'-  2),  vmb- 
geben  :  Lewen  (20''  2),  nieder  :  herwider  (37^-  ■»),  Sachen  :  fvachen  (39'"  2), 
erlogen  :  Ogen  (42'"  -),  schweben  :  Lewen  (44'*  2),  geschlagen  :  tragen 
(57'- 2),  sagen  :  tragen  (58''  -),  anschawen  :  Frawen  (59'"  2),  schawer. 
:  Lnfven  (()2'-  2),  fragen  :  sagen  (63''  2),  geben  :  leben  (63''-  *),  nieder  :  wider 
(69''  2)j  schawen  :  Lawen  (73^'  *),  genommen  :  kommen  ^86^'  *),  gesegnen 
:  pflegen  (üb'-  2),  leben  :  geben  (1():P-  ^). 

■')  Das  gedieht  Michael  Wyssenheres  ist  gedruckt  in  Massmanns 
'Denkmaelern  deutscher  spräche  und  literatur'  (München  etc.,  1828) 
s.  122—137. 

*)  Von  dem  niederländischen  volksliede  benutze  ich  einen  druck, 
den  K.  Koppmann  noch  1873  auf  der  Strasse  von  Gent,  wo  er  feil  ge- 
boten wurde,  gekauft  und  Stadtarchivar  Hänselmann  in  Braunschweig 
mir  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt  hat. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XIII.  21 


308  ZIMMERMANN 

ausdrücke  zu  gebrauchen  geradezu  den  Teufel  und  den  Satan  (vgl.  s.  289). 
lieber  den  Ursprung  des  wertes  7iobis  oder  des  ursprünglichen  ohis  aus 
abijssus  (hülle)  oder  wol  richtiger  aus  ahd.  opasa  und  opisa,  got. 
ubiztva,  mhd.  obese,  mnd.  ovese,  womit  die  Vorhalle,  das  dach,  die  dach- 
traute und  weiter  die  grenze  bezeichnet  wurden,  über  die  bedeutung 
des  Kobiskruges  und  Nobishauses  als  Wirtshauses  der  unterweit  oder 
des  teufeis,  über  die  bezeichnuug  von  schenken  an  den  grenzen  und  an 
begräbnisstätten  als  Nobiskriige  vergl.  Grimms  Deutsche  mythologie^ 
s.  953  ff.;  Brem.-niedersächs.  wtb.  III  s.  254;  Gödeke  in  der  Ztschr.  d. 
histor.  ver.  f.  Niedersachsen,  jahrg.  1S52  s.  367f.;  Schiller  und  Lübben, 
Mnd.  wtb.  III  s.  190;  Casper  im  Korrespondenzbl.  d.  ver.  f.  niederd. 
sprachf.,  V.  jahrg.  s.  2S  und  dazu  ebendas.  VI.  jahrg.  s.  19,  insbesondere 
aber  den  aufsatz  Ludwig  Laistners  in  der  Germania  hg.  v.  Bartsch  (1881) 
N.  R.  XIV  (XXVI)  s.  65—95  u.  17(5—199.  Noch  deutlicher  sind  mythische 
anklänge  an  der  betr.  stelle   bei  M.  Wyssenhere  str.  60  if.    Hier  kommt 

der  fürst 

vnder  das  Wöden  her, 

dae  die  büssen  gelste  ir  rvonüg  han\ 

einer  dieser  geister  bewirkt  in  ähnlicher  weise  wie  bei  Göding  die  rück- 
kehr  des  beiden.    Im  niederländischen  volksliede  tut  dies  der  satan. 

3iJ'.  Ein  ander  aus  frembden  Landen  ist  der  bräutigam  der 
herzogin;  in  späteren  bearbeitungen  erscheint  ein  Fürst  aus  fremdeii 
Landen,  in  der  ganz  jungen  prosaauflösung  ein  Prinz  Cabixtus  aus 
Schwaben.  In  dem  gedichte  M.  Wyssenheres  wird  der  bräutigam  all- 
gemein ein  man  oder  ähnlich  (str.  GS  und  94)  genannt.  Dass  es  sich 
um  einen  dienstmann  des  forsten  handelt,  geht  aus  der  anrede  desselben 
an  ihn  hervor,  str.  95: 

Blib  bij  mir  vor  als  nach 
Als  eyn  gelri'aver  dinstman. 

Aber  es  wird  keineswegs  gesagt,  dass  es  derjenige  gewesen,  dessen 
schütze  der  fürst  str.  9  gemahlin  und  herrschaft  übertragen  hat.  Das 
niederl.  Volkslied  bezeichnet  den  bräutigam  der  herzogin  nicht  näher, 
G.  Thym  macht  ihn  in  seinem  gedichte  von  Thedel  von  Wallmoden  v.  558 
zum  pfalzgrafen. 

34^.  Dass  der  herzog  7  jähre  fortgewesen,  wird  widerholt  gesagt, 
80  noch  64'-'.  66^  und  71^  Die  Zeitbestimmung  fehlt  bei  M.  Wyssenhere, 
findet  sich  aber  im  niederl.  volksliede,  wie  in  dem  verwanten  Möringer- 
liede  (Uhlands  Volkslieder  s.  776).  Bei  Thym  ist  Heinrich  der  löwe  bei 
seiner  begegnung  mit  Thedel. von  Wallmoden,  welcher  ihm  die  bevor- 
stehende heirat  seiner  gattin  meldet,  zwei  jähre  von  der  helmat  fort. 

35*.    alle  druck. 

37''.  Der  Gei/ersberg/c,  eine  verliochdeutschung  des  noch  jetzt  ge- 
bräuchlichen niederdeutschen  ausdrucks  Giersberg,  bildet  eine  massige 
anhöhe,  welche  damals  nahe  bei  der  Stadt  Braunschweig  im  osten  der- 
selben lag,  jetzt  aber  in   die  neuen  strassenzüge  der  erweiterten  Stadt 


GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN.  309 

aufgenommen  ist.  Vgl.  str.  4;{^.  Bei  M.  Wyssenhere  (str.  74)  wird  der 
fürst  für  si/n  hurgk  niedergesetzt. 

39^    HERRN  druck. 

42-.  Die  nd.  form  Ogen  ist  wol  nur  durch  fliiclitigkeit  des  in 
Niederdeutschland  erwachsenen  dichters  in  den  text  geraten.  Der  reim 
zwang  keineswegs  dazu;  es  finden  sich  z.  b.  hoch  ;  auch  (P' -),  Hoff 
:  vmmelauff  (49^-  *)  verbunden. 

45^  Der  löwe  schreit,  weil  er  denkt,  dass  sein  herr  gestorben  sei. 
Diese  schöne  begründung  für  das  geschrei  des  lüwen  und  das  erwachen 
seines  herrn  findet  sich  nur  hier;  sie  fehlt  bei  M.  Wyssenhere  (str.  76) 
und  im  niederländischen  volksliede. 

48^  Es  ist,  wie  auch  49',  nur  von  dem  Hause  des  hej'zogs  die 
rede.  Erst  die  bearbeitung  von  1727  setzte  dafür  die  bezeichnung 
Mosthauss  ein  (s.  290),  die  vollkommen  richtig  ist.  Denn  Moslhaus  ist 
aus  nd.  ynöshüs ,  mhd.  muoshüs  ca^naculum,  Speisesaal  entstanden  und 
man  bezeichnete  damit  den  pallas,  den  saalbau  in  der  bürg  Heinrichs 
des  löwen  zu  Braunschweig,  der  zur  zeit  eine  würdige  widerherstellung 
erfährt.  Vgl.  L.  Winter,  Die  bürg  Dankwarderode  zu  Braunschweig 
(Braunschw.  1883)  s.  40  ff. 

57'.  Das  zerbrechen  dos  ringes  beim  abschiede  des  beiden  zum 
zweck  der  widererkennung  kommt  schon  in  der  frühsten  uns  überliefer- 
ten gestalt  der  sage  von  Heinrich  dem  löwen  vor,  im  Reinfried  von 
Braunschweig  (v.  14762  ff.),  w'o  die  rückkehr  selbst  allerdings  nicht  mehr 
erzählt  wird,  da  die  handschrift  des  gedichts  leider  weit  früher  bereits 
abbricht.  Ebenso  findet  sich  dieser  zug  bei  M.  Wyssenhere  str.  10  und 
im  niederländischen  volksliede;  im  letzteren  bricht  jedoch  nicht  der 
herzog,  sondern  die  herzogin  den  ring. 

()5'.     werden  druck,  vgl.  str.  47'' ^ 

Ol)'*.    Herrn  druck. 

69^    rveren  druck. 

74^.  verlorn  druck.  —  durchn  Korb  bin  ich  hindurch,  vgl.  über 
diese  redensart  sowie  über  die  jetzt  gebräuchliche  einem  einen  Korb 
geben  die  mit  reichen  belegstellen  versehenen  ausführungen  R.  Uilde- 
brands  in  Grimms  Deutschem  wtbche  B.  V  (Leipzig  1873)  sp.  1800  ff. 
'Ursprünglich  ist  diess  der  korb  durch  den  ein  liebender  des  nachts 
zum  fenster  aufgezogen  werden  sollte  und  der  im  fall  der  abweisung 
von  der  höhe  fallen  gelassen  oder  zum  durchbrechen  des  bodens  ein- 
gerichtet wurde,  dass  der  liebende  durchfallen  musste.'  Aus  der  sitte 
entwickelte  sich  ein  symbol.  Später  'schickte  man  dem  abzuweisenden 
bewerber  einen  korb  ohne  boden'. 

74^.  gebohrn   druck. 

77'^.  Das  fräulein,  welches  der  bräutigam  der  herzogin  zur  ent- 
schädigung  erhält,  wird  nur  im  allgemeinen  aus  Francken  genannt;  erst 
die  späte  prosaauflösung  fügt  einen  namen  Princessin  Marianne  ein. 
Die  Vermählung  des  bräutigams  mit  einer  anderen  braut  nach  der  rück- 
kehr des  fürsten  fehlt  bei  M.  Wyssenhere   und   im   uiederl.  volksliede, 

21* 


310     ZIMMERMANN,  GEDICHT  VON  HEINRICH  DEM  LOEWEN. 

findet  sich  dagegen  beim  Müringer,  welcher  dein  nebenbiihler  seine 
tochter  zur  trau  gibt  (Uhland  a.  a.  o.  s.  783). 

SV.     die]  sie  druck. 

85^.     ihren  Herren]  meinen  Herrn  druck. 

88*.     Ruhe  druck. 

06'-.     sparen  druck. 

101^.  Der  eherne  löwe  auf  dem  burgplatze  zu  Braun  schweig,  den 
herzog  Heinrich  schon  vor  seiner  fahrt  ins  heilige  land  im  jähre  1166 
hat  aufstellen  lassen.  Vgl.  die  angäbe  in  den  Stader  Annalen  (Mon. 
Germ.  Hist.  XVI,  345);  Dürre,  Geschichte  der  Stadt  Braunschweig  (Br. 
ISOl)  s.  66.  Die  erriehtung  des  denkmals  erzählt  ebenfalls  M.  Wyssen- 
here  (str.  9S) ;  im  niederl.  volksliede  iJisst  die  herzogin  dasselbe  aufstellen. 

102*.  Das  grab  herzog  Heinrichs  des  löwen  und  seiner  gemahlin 
Mathilde  liegt  inmitten  des  domes  zu  Braunschweig.  Ueber  die  herr- 
lichen Steinbilder,  die  auf  demselben  ruhen,  vgl.  Bethmann  Westermanns 
monatshefte  aug.  1881  a.  a.  o.  s.  554  fif.,  sonst  K.  Steinmann,  Die  grab- 
stätten  der  fiirsten  des  Weifenhauses  (Braunschweig  1885)  s.  20  flf. 

WOLFENBUETTEL.  PAUL  ZIMMERMANN. 


ETYMOLOGISCHE  STUDIEN 

UEBER 

GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG. 


DRITTER  ARTIKEL. 

yi. 

40.  Der  Wechsel  eines  aulautendeü  (j  oder  h  mit  an- 
lautendem h,  f  erscheint  in  den  germanischen  sprachen  be- 
sonders häufig  vor  n,  l,  r.  Das  Verhältnis,  wonach  anlautendes 
german.  rj,  b  einem  nichtgerman.  k,  p  entspricht,  findet  sich 
ebenfalls  besonders  häufig  vor  ??,  /,  r.  Von  solchen  fällen  sind 
die  folgenden  mit  g  anlautenden  Wörter  bereits  in  dieser  ab- 
handlung  behandelt:  nord.  gnit  (auch  als  altnorw.  zuname  er- 
halten), ags.  hntiu,  gr.  xoviöfg;  mhd.  grans,  altisl.  hrani,  gr. 
xoQcorö^\   ags.  gnorn,   gr.  xii'VQÖq;   altn.  glata,  lat.  clades. 

Anlautendes  gn  wechselt  auch  in  dem  folgenden  german, 
wortstarame  mit  hn.  Ags.  hncfgan  'wiehern'  (praes.  3.  sg. 
hna'gp)  schwach  ilectiert,  wie  die  aldeitung  hna'gung  beweist; 
mitteleng,  negen,  neueng.  to  neigh]  mnl.  ne'ten;  mnd.  nlhen,  nigen, 
in  neund.  mundarten  neggen,  näggen  (ßezz.  Beitr.  III,  229); 
mhd.  liegen.  Mit  diesen  formen  stimmt  in  betreff  des  anlauts 
isl.  hneggja  (praet.  hneggjat^t)  'wiehern'  wol  nur  zufällig  ilberein. 
Die  isl.  form  mit  anlautendem  h  findet  sich  nicht  früher  als 
in  einer  handschr.  aus  dem  ende  des  14.  jahrh.  In  älteren 
isl.  hschrr,  wird  dagegen  das  wort  immer  mit  gn  geschrieben. 
So  schon  gneggia  Helg,  Hjorv.  20,  wo  das  wort  mit  geldr 
allitteriert.  Davon  die  poetische  bezeichnung  des  windes 
gneggiofjf  AlvTssm.  20  (mit  glnnregin  alliterierend),  das  die 
flexion  praet.  gneggjat5a  voraussetzt.  Das  nordische  wort  wurde 
also   nicht  ■  wie   das  westgermanische  flectiert.     Mit  g  auch  im 


312  BUGGE 

sclnved.  gnCujya,  mdiin.  uud  ueudäu.  dial.  giwjge.  Im  neuisl. 
ist  die  form  gneggja  nach  einer  allgemeiuen  lautteudenz  auf- 
gegeben, denn  statt  des  anlautenden  altisl.  gn  ist  im  neuisl. 
gewöhnlich  n  eingetreten.  Da  nun  neuisl.  hnitSra  =  altisl. 
ni^ra  ist,  scheint  mir  die  Übereinstimmung  des  neuisl.  hneggja 
mit  dem  ags.  hncegan  in  betreff  des  anlauts  zufällig.  Dem 
ags.  hncegan  gegenüber  steht  also  altnord.  gnceggja.  Nichts 
scheint  mir  dafür  zu  sprechen,  dass  das  letztere  das  praefix 
ga-  enthalte.  Vielmehr  vergleiche  ich  das  Verhältnis  zwischen 
altnord.  gnivggja,  das  im  got.  auf  -addjön  oder  nach  der 
westgerm.  flexion  auf  -addjan  (vgl.  daddjan)  enden  würde,  und 
ags.  hncegan  mit  dem  Verhältnis  zwischen  uord.  gnit  und  ags. 
hnitu,  gr.  y.avidiz,  zwischen  ags.  gnorn  und  gr.  y.ivvqÖc.  Hier 
finden  wir  in  der  vorgerm.  form  einen  vocal  zwischen  k  und 
n.  Dies  führt  mich  auf  die  Vermutung,  dass  das  Verhältnis 
von  gnceggja  zu  hnce'gau  aus  vorgermanischen  formen  '*kdnojeli 
und  ■''•knojcli  zu  erklären  ist.  Hierbei  brauche  ich  nicht  zu 
untersuchen,  ob  der  vocal  zwischen  k  und  n  in  ^'knoßti  aus- 
gedrängt oder  aber  in  *kdnoJe(t,  wie  in  franz.  canif  =  altn. 
knlfr,   altfranz.  hanap,  henap  =  ahd.  hnaj)f\   eingeschoben  war. 

Nach  welcher  regel  die  formen  ^kdnojeli  und  *knojeti  ur- 
sprünglich wechselten,  lässt  sich  nicht  sicher  bestimmen.  Eine 
Vermutung,  dass  *k9nojeü  in  dem  zusammenhange  des  satzes 
nach  consonanten  (z.  b.  ^ekwos  kdnojeti),  '"^knojcli  dagegen  nach 
vocalen  angewendet  wurde,  hat  in  mehreren  erscheinungen  der 
idgerm.  satzphonetik  analogie. 

41.  Altn.  gröa  'crescere'  (dann  o  vor  vocalen  gekürzt), 
ags.  grönan,  engl,  tu  grow,  altfries.  grüwa,  gröia,  ndl.  grocijen, 
ahd.  gruoan,  mhd.  grüejen  'grünen,  wachsen'. 

Dies  verbum  stimmt  dem  sinne  nach  trefflich  zum  lat. 
cresco,  crevL  Ahd.  groit  übersetzt  lat.  vh^escit ,  gruoti  lat. 
viror\  daran  schliesst  sich  dem  sinne  nach  das  german.  adj. 
gröni-s  'grün'.  Allein  der  wortstamm  hat  eine  viel  weitere 
anwendung.  Das  nordische  verbum  bezeichnet  'crescere'  über- 
haupt und  wird  nicht  nur  von  pflanzen  gesagt.  Wie  z.  b. 
lat.  crescere  'anschwellen'  von  Aussen  bezeichnen  kann,  so 
heisst  es  altn.  gröbi  kemr  i  sjö  ok  votn.  Sovvol  cresco  wie 
gröa  wird  vom  haare  angewendet.  Beide  bezeichnen  über- 
tragen 'zunehmen',  so   vom  zunehmen  des  Vermögens:    crescit 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  313 

res  Hör.;  alta.  gröetiisk  eiga.  Auch  vom  winde  wird  groa  an- 
gewendet. Äleng.  groiven  wird  wie  cresco  vom  fieber  gesagt. 
groiven  ist  wie  cresco  nicht  nur  'wachsen',  sondern  auch  'ent- 
stehen',  übertragen  z.  b.  von  der  liebe. 

Von  den  sich  begrittlich  entsprechenden  stammen  altu. 
grö-,  lat.  cre-  sind  mehrere  ableitungen  durch  dieselben 
eleraente  gebildet.  \'on  groa  wird  altnorw.  gro<5r  m.  'Wachs- 
tum' (engl,  growlh)  gebildet.  Dies  hat  in  den  ältesten  hand- 
schriften  den  genetiv  grübar  (Gammel  norsk  Homiliebog  s.  78). 
Der  stamm  ist  also  grööu-,  durch  dasselbe  suffix  wie  lat. 
(con-)  cre-tu-s  abgeleitet.  Der  lat.  praesens-stamm  cresce-  ent- 
spricht in  betretf  des  elementes  -sce-  wesentlich  nordischen 
nominalbildungeu:  altisl.  gröska  f.  unter  den  s(^s  heiii  Snorra 
Edda  ed.  AM.  II,  IÜ3;  schwed.  dial.  groske  n.  neu  empor- 
wachsendes gras.  Freilich  scheint  es  möglich,  im  altisl.  grUs-ka 
ein  deminutivsuffix  -ka  (vgl.  Kluge,  Stanimbildungslehre  §  61) 
zu  erkennen  und  gros-  in  gröska  mit  mhd.  gruose  zu  ver- 
binden. 

Nach  dem,  was  ich  hier  entwickelt  habe,  ist  es  berechtigt, 
zwischen  lat.  cre-  und  german.  grö-  lautliche  Verbindung  zu 
suchen.  In  betreft'  des  vocals  verhält  sich  altu,  groa,  ags. 
gröwan,  ahd.  gnwan,  mhd.  grüejen  zu  crcvi^  wie  ags.  spöwan 
'von  statten  gehen'  zu  ksl.  speja  speli  'erfolg  haben',  lat.  spes\ 
altn.  gloa,  ags.  glönan,  mhA.  glüejen  zu  \\i.  :lcja  'halbduukel', 
u.  s.  w.,  siehe  namentlich  Bremer,  Beitr.  XI,  271 — 281. 

Nun  fragt  sich  aber:  warum  ist  hier,  wenn  i\\in.  groa  mit 
lat.  cre-vi  zusammengehört,  vorgerm.  k  zu  germ.  g  fortge- 
schoben? Dazu  haben  mehrere  momente  mitgewirkt.  Im 
praet.  pcp.  {^''gröanä-),  praet.  ind.  i)lur.,  praet.  couj.,  sowie  in 
mehreren  formen  des  abgeleiteten  verbums  altn.  gröeöa  sollte 
freilich  nach  meiner  regel  g  aus  vorgerm.  k  lautgesetzlich  ent- 
stehen. Allein  der  diesen  vcrbalformen  zukommende  anluut 
hat  bei  anderen  verben,  die  in  dieser  hinsieht  analog  sind, 
nicht  gesiegt.  Hierdurch  wird  also  das  g  uicht  gcuiigend  er- 
klärt. Im  ags.  kommt  zuweilen  ein  zusammengesetztes  ge- 
grötvan  vor.  Diese  Zusammensetzung  mit  ga-  hatte  im  urgerm. 
gewiss  eine  vielfache  auwcndung,  so  z.  b.  von  wider  zusaniuien- 
wachseuden,  heilenden  wunden,  wo  im  nord.  groa  gesagt  wird. 
Nach  tonlosem  ga-  musste  german.  g  nach  Verners  regel  aus 


314  BUGGE 

vorgcrm.  k  entstehen.  Dasselbe  gilt  für  die  Zusammensetzung 
dieses  verbums  mit  anderen  praefixen.  Dies  mag  zum  sieg 
des  g  von  groa  beigetragen  haben,  allein  auch  dies  kann  das 
(/  nicht  genügend  erklären.  Vielleicht  führt  uns  dagegen  das 
folgende  zum  ziel.  Mit  altn.  g7'oa,  ags.  gröwan  ist  altn.  roa, 
ags.  röivan  'rudern'  analog.  Allein  daneben  erscheint  im  ind. 
aritür-,  aritra-s,  ariira-m  und  ärilra-m,  gr.  tQixrjq,  lit.  irih  ein 
zweisilbiger  stamm,  dessen  indogerm.  form  wol  et'd-  gewesen 
ist.  Ebenso  verhält  sich  das  germ.  kyw-  von  got.  knöjjs  'ge- 
schlecht', ags.  cnosl  'geschlecht'  zum  ind.  ja7ii-  von  jani-tra-, 
jani-tär-.  De  Saussure  (Systeme  primitif  des  voyelles,  s.  245. 
287  f.)  der  diese  Verhältnisse  trefflich  erläutert  hat,  findet  in 
ind.  aor.  akärisam  eine  wurzel  kari-  'mit  lob  erwähnen',  wo- 
mit er  german.  h7'ö-,  got.  hrüpeigs  u.  s.  w.  zusammenstellt. 
Hiernach  setze  ich  für  ags.  grfnvan,  das  mit  lat.  crcsco,  crevi 
zusammengehört,  eine  vorgerm.  wurzelforra  kera-  voraus.  Altisl. 
grüska,  das  ich  mit  lat.  crescit  vergleiche,  führe  ich  auf  einen 
vorgerm.  verbalstamm  *krodske-  zurück.  Das  subst.  altn.  gröt^r 
aus  urnord.  '*grübu-s,  das  ich  mit  lat.  con-crelus  vergleiche, 
setzt  vorgerm.  ^krodiü-s  voraus.  Die  Umstellung  bei  r  sieht 
mit  der  änderung  der  betonung  in  Verbindung,  wie  in  altn. 
praes.  inf.  ser^a,  praet.  pep.  strotünn. 

Zu  gro-  'wachsen'  gehört  sicher  german.  gt^as  n.,  das  wie 
von  einem  stamme  grasa-  flectiert  wird.  Die  hier  erscheinende 
schwache  wurzelform  grä-  ist  mit  lat.  ra-  in  ratis  analog. 
Ich  habe  grö-  auf  ein  indogerm.  *ker9-  zurückgeführt.  Von 
analogen  wurzeln  werden  im  gr.  und  ind.  substantiva  neutr. 
auf  -s  gebildet:  xQmg  =  ind.  kravis,  dtfiag,  yeQag  u.  s.  w. 
(Fick  in  Bezz.  Beitr.  I,  232  f.).  Das  germ.  gras  setzt  vielleicht 
eine  vorgerm.  form  auf  -as  {-ds)  voraus,  welche  wie  ind.  kravis 
betont  war  und  welche  von  jtQag  durch  ablaut  und  Umstellung 
abwich:  uoni.  accus,  '''kroäs  {krod's),  gen.  *krdasös  {krddsös). 
Keben  gras  erscheint  mit  langem  ü  mhd.  ^n<oi'e  st.  f. 'pfianzen- 
saft,  junger  trieb  der  pflanzen,  rasen',  ninl.  und  ndd.  grüse. 
Dies  verhält  sich,  wenn  wir  von  den  vocalen  absehen,  zu 
gras,  wie  mhd.  egese,  eise  f.  zu  got.  agis  n.,  lat.  opera, 
operae  zu  opus. 

Die  schwache  wurzelform  gru-  vermute  ich  auch  in  ags. 
great,    as.  gröt,    mhd,  ahd,  gröz,  gross,     graut-  entstand    viel- 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  315 

leicht   aus   zweisilbigem   *gra-ul-,    das   wie  gT.  (fvyäö-,  rofiaö- 
gebildet  scheint. 

Die  wuizelform  ^ra-  erscheint  ferner  in  altn. ^ro«  gen.granar 
f.  pinus  abies.  In  der  schwedischen  muudart  von  Dalarne  kommt 
eine  form  vor,  die  altnord.  ffr<fn  gen.  r/ränar  voraussetzt,  siehe 
Noreen,  Ordlista  s.  66  f.  Hier  erscheint  also  derselbe  vocal 
wie  im  lat.  crevi.  Ebenso  im  ags.  f/roTde  m.  'gras'  pl.  ffrafdas, 
womit  Richthofeu  afries.  greed  'wiese,  Weideland'  (oft  in  der 
Verbindung  greed  ende  grond)  vergleicht. 

42.  Ags.  gräf  m.  n.,  meng,  und  neueng.  grove  'gehölz, 
hain'.  Mlat.  grava  erkläit  Du  Cange  'lucus,  arboretum,  fruc- 
tetum,  arbustum,  ncnius';  er  eitiert  dafür  Monast.  Anglic.  und 
Dipl.  Wilhelmi  Ducis  Aquitani«  a.  1027.  Daraus  ist  vielleicht 
zu  folgern,  dass  gräf  auch  als  fem.  angewendet  wurde,  grnf 
scheint  mir  sicher  ein  echt  englisches  wort,  obgleich  Du  Cange 
aus  Charta  Vital,  ducis  Venet.  ann.  1094  ^usque  ad  medium 
gravium^  eitiert.  Allein  dass  dies  gravium  die  bedeutuug  des 
engl,  grove  habe,  scheint  mir  unbewiesen.  Gehört  gravium 
nicht  vielmehr  zu  dem  roman.  gräva  'sandfläche,  kies'? 

Ags.  gräf  setzt  für  ä  urgerm.  ai  voraus  und  hat  also  mit 
'graben'  gar  nichts  zu  tun.  Die  von  mir  vorgeschlagene  regel 
macht  urverwautschaft  mit  einem  irischen  worte  möglich.  Ir. 
C7-deb,  cräeb  fem.  (acc.  crUcb)  bezeichnet  'a  brauch  or  a  large 
wide-spreading  tree'  (Joyce,  Irish  Names  of  Places-*  s.  500). 

Für  das  Verhältnis  der  bedeutungen  vergleiche  man  altn. 
vitir  'bäum,  holz'  und  'wald';  norweg.  dial.  nme  sowol  'schöss- 
ling,  junger  bäum'  als  'gehölz  (von  jungen  bäumen)';  gr.  vX?] 
'holz,  wald,  holzwerk,  äste'.  Ueber  den  Ursprung  des  germau. 
Wortes  wage  ich  die  folgende  Vermutung.  Für  ags.  gröwan, 
lat.  cresco  habe  ich  eine  wurzel  kerd-  'wachsen'  vermutet.  Ich 
vermute  ein  davou  abgeleitetes  Substantiv  vorgerm.  '-''kroi'  f ; 
vgl.  für  die  bildung  ahd.  muoi  'mühe'  und  für  den  vocal 
gr.  önco'i^. 

In  den  idgerm.  sprachen  wird  ein  suffix  -hho  zum  teil 
mit  deminutivischer  bedeutung  namentlich  bei  tiernamen  an- 
gewendet: z.  b.  ind.  rsahhä-s  'stier',  adj.  sl/iulabfid-s]  gr.  sXcufog, 
8Qi(pog,  x^Q^'f'^^  (^viö  tXäg^iov  gebildet).  Eine  spur  dieses 
Suffixes   hat   das   ccltische  im  altir.  heirj),  erb  'a  kind  of  deer, 


316  BUGGE 

a  loebuck'  vgl.  lQi(fo^  (Windisch,  Kuhns  Beitr.  VIII,  438,  Fick, 
Bezz.  Beitr.  II,  341)  bewahrt.  Eine  germanische  spur  finde  ich 
nicht  nur  in  den  got.  adverbien  auf  -ba,  sondern  auch  in  dem 
bisher  nicht  gedeuteten  lamb  n.  (stamm  lamha-,  daneben  stamm 
la/nbas-),  das  im  gotischen  und  gotländischen,  wie  das  entlehnte 
wort  im  finnischen,  'schaf,  in  den  übrigen  germanischen 
sprachen  'lamm'  bezeichnet;  in  Värmland,  Schweden,  lamm  f. 
'einjähriges  schaf  aus  '^iamb'i.  Ich  erkläre  lamb  aus  einem 
vorgerm.  stamme  ^ulambJw-,  'hdanbhö-.  Das  wort  verhält  sich 
zu  ind.  ürana-s  'junger  widder,  lamm'  wesentlich,  wie  sXatpog 
zu  tXXög  (statt  '''IXi'oc),  und  ist  mit  got,  wulna,  wolle  verwant. 
Das  anlautende  u,  das  aus  /re  abgeschwächt  war,  ist  im 
germau.  abgefallen,  weil  der  hauptton  auf  der  dritten  silbe 
lag;    vgl.  got. /^^// 'beide'. 

Da  die  spräche  oft  das  junge  tier  und  den  jungen  bäum 
durch  dasselbe  wort  bezeichnet  (z.  b.  gr.  fiöoxoo),  werden  wir 
es  natürlich  finden,  dass  das  suffix  -bho  auch  bei  Wörtern  aus 
dem  Pflanzenreiche  angewendet  wurde.  Von  dem  von  mir  ver- 
muteten vorgerm.  '-^kröi  f.  'schössling'  wurde  durch  das  suffix 
-bhU,  wie  ich  voraussetze,  ein  neues  wort  gebildet.  Der  haupt- 
ton ruhte,  wie  lamb  in  Übereinstimmung  mit  ind.  rsabhä-s  be- 
weist, auf  der  schlusssilbe;  darum  konnten  die  vorhergehenden 
vocale  gekürzt  werden.  Also  dreisilbiges  vorgerm.  '■'''•  kr oibha , 
urgerm.  grUba .  Daraus  zweisilbiges  *gruiba.  So  erklärt  sich 
ags.  grUf,  engl,  grove,  auch,  wie  ich  vermute,  ir.  crüeb. 

43.  Das  unter  ags.  grörvan  erläuterte  Verhältnis  zwischen 
ags.  rörvan,  rö-  und  ind,  ari-,  zwischen  ags.  cnösl,  cnö-  und 
ind,  Ja}ü-  wirft  licht  auf  einen  anderen  germanischen  wort- 
stamm. Nhd.  mühen,  mhd.  müen,  müejen,  ahd.  ?nuoan,  muoj'an 
'beschweren,  quälen',  ndl.  ?noeijen  'belästigen,  bemühen',  got. 
'•^•möjan,  afmauidai  ixXvöi^svoi  Gal.  6, 9.  Ich  vergleiche  ind. 
ram-,  2,  ps,  praes.  camtsva,  pcp.  camitä-  'sich  mühen';  gr. 
yMfxvoy  'sich  mühen,  sich  ermüden'.  In  betreff  des  vocales 
verhält  sich  '-^irnjan  zu  camila-  wie  ags.  rörvan  zu  antra-,  cnüsl 
zu  janitar-.  Ich  setze  eine  vorgermanische  grundform  *kmod- 
jeti  voraus.  Anlautendes  km,  hm,  gm  wurde  in  den  germani- 
schen sprachen  nicht  geduldet;  darum  musste  möjif*  aus  vor- 
germ, '■^•kmodjeti  entstehen.  Nhd.  mühe,  mhd.  mneje,  ahd,  mohi 
{muoi)  f.  vergleiche  ich    mit   ind,  cämi,  cimi  f.  'bemühung'.    Zu 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  317 

diesem  stamme  gehört  feiner  lüul.  müde,  ahd.  miiodi,  asächs. 
mötii,  ags.  mehe,  altu.  ;«öÖ>,  got.  '^niöpeis.  Dies  steht  dem 
sinne  nach  dem  gr.  yMf/cor,  xexftfjoj^  nahe.  Wie  die  toten  ol 
xafiovTsq  heissen,  so  wird  in  altisl.  diehtung  der  im  kämpfe 
gefallene  vJgmübr  genannt.  Die  germanischen  \Yörter  setzen 
vorgermanische  formen  mit  anlautendem  km  voraus;  dies  wird 
formell  durch  gr.  xexfüjco^,  jto/.rxfi/jTog  gestützt.  Mhd.  muo- 
den  'ermatten'  liegt  dem  gr.  xaiiarocö  bei  Ilesych.  s.  v.  a. 
xojiiaco  nahe. 

Anders  z.  b.  Bremer,  Beitr.  XI,  273.  Gegen  die  vcrgleichung 
von  gr.  m'jXoq  mit  germ,  '■'"müjan  sprechen,  wenn  auch  nicht 
entschieden,  [wXlq,  lat  ?iiölestus. 

44.  Khd.  brühen  'coquere,  aqua  ferventi  perfundere',  im 
älteren  nhd.  'brüten';  mhd.  brüejen  'brühen,  sengen,  brennen'; 
mndl.  hroeien.  Im  nnl.  broeien,  das  auch  'brüten'  bezeichnet, 
sind  nach  Franck  mnl.  broeden  und  broeien  zusammengefallen. 
Mnd,  Z^/'ö/m 'brühen'.  Die  grundform  ist  '^bröj'an.  Hierzu  nhd. 
brühe  f.,  mhd.  brüeje,  mitteleug.  breie  (nach  Kluge),  bre.  Nhd. 
brut  f.,  mhd.  bruol  pl.  brüete  'durch  wärme  belebtes,  belebung 
durch  wärme,  hitze';  ndl.  broed,  neueng.  brood  'brut,  hecke', 
ags.  bröd.  Gruudstamm  brö-di-.  Davon  wider  abgeleitet  brü- 
ten, mhd.  brüeten,  ahd.  bruoteu,  mnl.  broeden,  engl,  to  breed, 
ags.  bredan.  Aus  dem  mnd.  broden  ist  dies  verbuni  in  dänische 
mundarten  übergegangen.') 

Mhd.  brüejen  ist  mit  rüejen,  grüejen,  müejen  ganz  analog. 
Für  diese  verba  habe  ich  zweisilbige  wurzelformen  nach- 
gewiesen: er3-,  kero-,  kemd-.  Hiernach  muss  dasselbe  für 
brüejen,  *bröjan  vermutet  werden.  Dies  wird  bestätigt  durch 
lit.  perih  perefi  'brüten',  lett  peret  'brüten';  ueüsloven.  pereti 
'modern',  russ.  preju  preti  'schwitzen,  gähren,  faulen,  sich  er- 
hitzen, rot  w^erden',  poln.  przec  'warm,  rot  werden',  niedsorb. 
pr'es    'verdorren'    (Miklosich,    Etym.   wtb.   240  b).      Miklosich 


1)  In  Dalarne  Schweden  bedeutet  broij  'brünstig'  (von  k.itzen  und 
raubtiereu),  broya  'brünstig  sein'.  Dies  broya,  das  älteres  bry'a  vor- 
aussetzt, ist  mit  neuisl.  breyma  'brünstig'  (von  katzen)  verwant.  Noreen 
(Ordlista  öfver  dalniälet  s.  26)  hat  mit  broyn  mhd.  hrüejen  verglichen 
und  ich  habe  (s.  27)  für  hrüejen  eine  grundform  hroiijan  angenommen. 
Allein  brüejen  ist  mit  hroya  unverwant,  da  Wörter,  die  mit  brüejen  ver- 
want sind,  die  wurzeltbrm  bra-  zeigen. 


318  BUGGE 

vergleiclit  richtig  Ttinygrifii.  Hiernach  erkläre  ich  mhd.  brüejen, 
urgerni.  ^bröjan,  praes.  bröjip  aus  vorgerrn.  *pro9jeti  aus  einer 
Wurzel  perd-\  brut,  urgerm.  '*brödis  aus  vorgerm.  *pro9ti-s. 
Für  die  bedeutung  vergleiche  man  noch  das  verwante  ksl. 
pariü  'dampfen,  brühen'. 

Im  germanischen  zeigen  mehrere  Wörter,  die  mit  mhd. 
brüejen,  '■''bröjan  verwant  sind,  die  wurzelform  brc-.  Nhd.  ver- 
bum  braten,  mhd.  braten  praet.  briet,  ahd.  brälan  praet.  briat; 
nd.  nl.  brUden]  ags.  brafdan  praet.  tirafdde  'assare,  fovcre'. 
P'erner  altn.  bräetia  praet.  bräedda  'schmelzen',  mittelschwed. 
bj'cedha  'schmelzen,  durch  hitze  auflösen,  braten'.  Mschwed. 
pep.  neutr.  bradhit  'gebrannt',  mdän.  bradet  und  norweg.  dial, 
bräen  'geschmelzt'  setzen  ein  verbum  Hrä^a  praet.  breti  pcp. 
liräx^inn  voraus.  Altn.  brä^  n.  teer,  womit  etwas  überstrichen 
wird;  söUmit^  fem.  (pl.  sölbräbir)  und  n.  'sonnenwärme  (die 
den  Schnee  schmelzt)'.  Dass  diese  Wörter  mit  brühen,  brut, 
brüten  verwant  sind,  wird  namentlich  dadurch  bewiesen,  dass 
bräe()a  jetzt  in  westlichen  und  nördlichen  dialekten  Norwegens 
'brüten'  bezeichnet.  Kluge  (Etym.  wtb.  unter  &ra/^«)  bemerkt: 
'Auf  vorgerm.  bhredh  weist  auch  gr.  jrQ7]{ho)  (falls  für  (jP(>r/»9^oj?)'. 
Allein  dass  das  aus  tvljiQrji^ov  zu  folgernde  jtQrid-co  nicht  aus 
*fpQ7]i)oj  entstanden,  dass  ji  hier  vielmehr  ursprünglich  ist,  er- 
weisen formen  wie  jr f>ri6(or  'brand,  geschwulst',  jiifijrQrjfit 
imperat.  -r///jr()?y,  ferner  der  parallelismus  mit  Jiti^urhuu,  end- 
lich die  verwanten,   bereits  angeführten  slavischen  Wörter. 

Nach  dem,  was  oben  unter  brühen  entwickelt  ist,  verbinde 
ich  braten,  urgerm.  *-bredan  mit  jiQrjd^o)  'verbrennen,  anbrennen' 
durch  eine  form  '^perddheti  (daraus  *preddheti)^  die  von  perd- 
durch  den  zusatz  -dhe  gebildet  ist.  Anlautendes  b  hat  durch 
association  in  allen  germanischen  formen  gesiegt;  lautgesetzlich 
sollten  mehrere  formen  anlautendes  f  haben. 

Die  wurzelform  brr-  erscheint  aucli  in  den  folgenden  Wör- 
tern: ahd.  pradam  'flatus,  fervor',  brademön  'vaporare';  mhd. 
tjrädem,  auch  liradem  m.  dunst,  namentlich  dampf,  der  vom 
heissen  wasser  aufsteigt;  hrädemen  'dunsten,  dampfen',  auch 
brodemen,  liredemen  geschrieben;  nhd.  hradem^  brodem,  broden  m. 
Mnd.  tjradem  m.  'aufsteigender  dunst,  qualm,  vapor',  wird  auch 
bratem,  britem,  bryttem  geschrieben.  Ahd.  prädan  ist  eine 
secundäre  Weiterbildung  welche  neben  ags.  brce'^  m.  steht,  wie 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  319 

njhd.  blUdem  'das  blähen'  neben  ahd.  blüt^  ahd.  chrüdam  'ge- 
schrei'  neben  krnt  'das  krähen'  u.  s.  w.  (Kluge,  Stanim- 
bilduDgsl.  §  153). 

Ags.  br(ß'(5  bezeichnet  'ausdünstung,  dampf,  geruch'; 
mitteleng.  breb  zugleich  *atem,  hauch',  welche  bedeutung  bei 
dem  neuengl.  breath  die  heischende  ist.  Mitteleng.  wird  das 
wort  auch  von  'ungestüm,  zorn'  angewendet.  Zu  hrc-  gehört 
ferner  das  seltene  mhd.  brafjen,  brcf^en  'riechen'  (trans.).  Hier- 
mit vergleiche  ich  norw.  (in  einer  mundart  des  westlichen 
Norwegens)  hräl  m.,  auch  brjäl  'starker,  besond.  frischer  und 
gewürzter  duft'.  Hierher  gehört  wol  auch  neuisl.  brcela  f. 
'fumus  foetidus,  crassus'. 

Mit  unrecht  hat  man  ahd.  prUdam,  mhd.  braFJen  mit  lat. 
fragrare  verglichen,  prüdam  kann  nicht,  wie  Fick  meint,  zu 
einer  europäischen  wurzel  bhark,  bhrak  gehören;  denn  durch 
den  zusammenstoss  des  germ.  h,  vorgerm.  k  der  wurzel  mit 
der  dentalis  des  suffixes  müsste  ht  entstehen. 

Mhd.  brw'jen,  brUdem  sind  vielmehr  mit  brilejen  verwant. 
Für  dies  brilejen  habe  ich  im  vorhergehenden  eine  vorgerm. 
form  mit  anlautendem  p  erschlossen.  Dass  das  b  von  bradem 
aus  vorgermau.  p  entstanden  ist,  scheint  durch  germanische 
nebenformen  erwiesen:  mhd.  vrademen  oder  nach  dem  reime 
vredemen  'dunsten'  (kommt  ein  mal  vor);  mnd.  vratem,  vradem, 
und.  frua/n  'brodem,  dunst,  atem,  vapor'.  Uhd.  brdde/n,  urgerm. 
stamm  brepmo-,  und  ags.  brce'Ö  haben  durch  association  an- 
lautendes /;  statt  f  erhalten.  Den  Zusammenhang  der  bedeu- 
tung des  mhd.  bra'jen  mit  der  des  mhd.  hrnejen  erläutert 
Bremer  (Beitr.  Vül,  279)  durch  Schweiz,  briiederle  'nach 
schweissigen  kleidern,  dumpligeni  zeug  riechen'  (denom.  von 
*bruod).  Dies  erinnert  dem  sinne  nach  an  russ.  preii  'schwitzen, 
gähren,  faulen'.  Für  die  bedeutung  des  deutsch,  brodem  ver- 
gleiche man  ksl. //ar«  'dampf,  apreuss. />ore  'brodem,  dampf, 
\Q\t  pars,  kii\.  j/ariti  'dampfen,  brühen',  niedsorb.  .v/>(/m/i  'bro- 
dem', die  mit  lit.  pereli  'brüten'  u.  s.  w.  verwant  sind.  Das 
nord.  brUeba  'schmelzen,  durch  hitze  auflösen'  steht  dem  sinne 
nach  dem  ueuslovcn.  raspariti  se  'calore  dissolvi'  nahe.  Die  be- 
deutung des  meng.  breÖ  'atem,  hauch,  hauch  des  windes'  ist 
mit  der  des  gr.  jiifiJtQj/fu  'aufblasen,  durch  blasen  anschwellen 
(vom  winde)'  verwant. 


320  BUGGE 

Den  sieg  des  anlautenden  b  im  ags.  broT^,  mhd.  brUiem, 
u.  s.  w.  haben  wol  nicht  nur  formen  bewirkt,  in  denen  das 
nominalsuffix,  namentlich  -mo,  wie  im  gr,  axfiog,  betont  war. 
Nach  dem  gr.  jrif/jTQ/j(ji  darf  man  ein  vorgerm.  reduplicierendes 
praesens  vermuten.  Formen  einer  solchen  praesensbildung,  die 
wie  ind.  praes.  indic.  1.  ps.  pl.  bibhrmds  betont  waren,  mussten 
im  german.  lautgesetzlich  anlautendes  b  bekommen. 

Zum  ahd.  bratan,  altn.  '^'brät)a  gehört  norw.  dial.  brcesa 
praet.  brceste  'braten,  fette  gerichte  zubereiten',  dän.  brase, 
auch  altisl.  hräss  'koch'  Atlamäl.  Man  muss  urgerm.  *breso-s 
(aus  '^bresso-s)  und  bresjnn  voraussetzen.  Allein  Rietz  gibt 
aus  Smäland,  Schweden,  frässa  'in  butter  braten'.  Dass  in 
dem  Verhältnis  zwischen  brcesa  und  frässa  uralter  grammati- 
scher Wechsel  erscheine,  wage  ich  jedoch  nicht  enschieden  zu 
behaupten,  denn  frässa  konnte  vom  schwed.  fräsa  'sieden'  be- 
einflusst  sein. 

45.  Ueber  den  Ursprung  des  nhd,  b7nist  bringt  Grimm  im 
Deutsch,  wtb.  mehrere  unter  sich  unvereinbare  Vermutungen 
vor,  u.  a.  nennt  er  'die  unverkennbaren  anklänge'  des  ksl. 
prusi  pl.  f.  'brüst'.  Dass  dies  wort  mit  dem  deutschen  wirk- 
lich verwant  ist,  werde  ich  im  folgenden  hoffentlich  nach- 
weisen. Got.  brusts  fem.  ist  pl.  tant.  von  einem  consonanti- 
schen  stamme  und  gibt  to  öTrjd-oq,  ra  öjiläyyva  wider.  Auch 
das  ahd.  wort,  welches  meist  im  pl.  gebraucht  wird,  zeigt  con- 
sonantische  flexion  n.  acc.  pl.  brüst  (fem.)  dat.  brustum]  es 
kann  jedoch  schon  im  9.  jahrh.  als  ein  i-stamm  flectiert  wer- 
den n.  acc.  pl.  brustl,  dat.  bruslbi  (Braune,  Ahd.  gr.  §  243). 
Mit  dem  hd.  worte  stimmt  mnl.  nnl.  borst  fem.  tiberein. 

Ich  vergleiche  mit  dem  germanischen  worte  ind.  jjrsti-  f. 
nur  im  pl.  'rippe',  zend.  parsti-.  Verwant  sind  ind.  pärcu-s 
'rippe',  zend.  perecu-,  ksl.  prusi  'brüst'  u.  m.  Ursprünglich 
war  der  stamm  consonantisch,  idgerm.  in  unbetonter  form 
'•^•prlit-.  Das  wort  bedeutete  'rippe'.  Ausdrücke  mit  ])luralen 
casus  obliqui  wie  'innerhalb  der  rippen',  'zwischen  den  rippen' 
u.  ähnl.  bewirkten,  dass  die  plurale  (und  duale?  s.  unten)  form 
die  bedeutung  'brüst'  annahm.  So  ist  altisl.  innan  rifja  mit  t 
brjösti  synonym.  Es  muss  hervorgehoben  werden,  dass  die  am 
meisten  angewendeten  formen  dieses  worts  gewiss  eben  die 
nicht  singularen  casus  obliqui  waren. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  321 

Als  idgerm.  form  des  dat.  instr.  pl.  setze  ich  '-^2)rk''t9hhyös, 
^prk'^tdbhis  voraus.  Das  vermittelnde  d  war  hier  notwendig, 
denn  ohne  dasselbe  würde  sich  die  Stammform  zu  stark  ge- 
ändert haben.  Aus  den  genannten  formen  erklärt  sieh  laut- 
gesetzlieh eine  german.  Stammform  '*bi'uht-. 

Nun  wird  im  german.  ein  /-  (c?-)suffix  öfter  durch  ein 
^/-Suffix  ersetzt.  Siehe  hierüber  besonders  Kluge,  Beitr.  IX,  150 
und  195  f.  So  z.  b.  altn.  galdr,  ags.  gealdor  —  ahd.  galstar. 
Namentlich  ist  uns  hier  wichtig,  dass  st  für  /  nach  li  eintritt: 
nhd.  lasier,  ahd.  lastar ,  lalistar  neben  ags.  leahtor  'vorwurf, 
Sünde';  ahd.  trust  'schaar'  neben  gleichbedeutendem  tniht,  ags. 
dryht,  got.  drauhts,  altn.  di'ött.  Das  st  ist  auch  dem  nordi- 
schen und  gotischen  nicht  fremd:  nhd.  trost,  ahd.  tröst,  altn. 
und  got.  traust\  altn.  Instr  mit  ahd.  lastar  verwant;  got. 
maUistus.  Hiernach  nehme  ich  au,  dass  der  got.  und  ahd. 
stamm  hrust-  statt  Hruht-  eingetreten  ist.  Got.  *bruhsts  musste 
b?'usts  werden;  in  der  spräche  waren  verwaute  formen  mit  h, 
die  das  h  von  Hruhst-  aufrechthalten  könnten,  nicht  vor- 
handen, brüst-  aus  *bruht-  ist  mit  ahd.  trust  neben  truhi 
ganz  analog.  Diese  meine  Vermutung  ist  von  einer  malbergi- 
schen  glosse  ganz  unabhängig.  Jacob  Grimm  in  Lex  Salica 
berausgeg.  von  Merkel  s.  XXXIX i)  bemerkt:  'Deutlich  .... 
enthalten  56,  5  si  quis  mamillam  mulieri  strinxerit  aut  sciderit, 
quod  sanguis  egressus  fuerit  de  bructe,  193,  9  bracte,  brache, 
brücke  unser  brüst  pectus,  papilla,  über,  und  ist  entweder 
bruste  zu  bessern  oder  die  form  bruct,  brüht  zulässig.  Man 
vergleiche  ...  sl.  prsi  ....  das  «  für  u  ist  wie  in  fnardo  für 
murdo  IV,  1.'  Die  malbergischen  glossen  sind  jedoch  in  den 
handschrr.  so  stark  entstellt,  dass  dies  hructe  an  sich  kein  ge- 
wicht hat.  Kern  (Glossen  in  d.  1.  Sal.  91)  nimmt  an,  dass 
bracii,  brücke  aus  bruste  entstellt  sind. 

Das  altsächs.  hat  breast  als  neutrales  plurale  tantum. 
Kluge  (ßeitr.  VIII,  510)  sieht  hierin  einen  urgerm.  nomin. 
dual,  breuslo  mit  starker  stufe  der  Wurzelsilbe:  'dies  aber 
konnte  mit  genuswechsel  bequem  als  neutraler  nom.  pl.  eines 
a-stammes  betrachtet  werden'.  Dies  führte  weiter  zum  ags. 
breast ,    altn.  brjöst  neutr.  sg.;    jedoch   wird   auch   im  ags.  und 


')  Die  ausgäbe  von  Hesseis  kann  ich  leider  nicht  benutzen. 


322  BUGGE 

altn.  der  plur.  im  sinne  des  singiilar  ^  brüst'  gebraucht.  Die 
von  Kluge  gegebene  treffliche  erklärung  lässt  sich  mit  meiner 
auffassung  wol  vereinigen;  nur  muss  hervorgehoben  werden, 
dass  ^breustü  ursprünglich  die  beiden  rippengegenden  (wie 
ind.  pärcva-  im  dual),  nicht  die  beiden  mammae  und  papillae 
bezeichnete. 

Die  form  *hreustö  mit  einem  diphthonge  in  der  Wurzel- 
silbe muss  zu  einer  zeit  entstanden  sein,  als  das  indogerm.  r 
bereits  durch  germ.  ru  vertreten  wurde.  Andererseits  war  zu 
jener  zeit  die  freie  betonung  noch  nicht  durch  die  gebundene 
speciell  germanische  betonung  ersetzt.  Zu  jener  zeit  wechselte 
bei  der  flexion  consonantischer  stamme  das  eu  der  wurzel- 
betonten casus  mit  dem  u  der  suffixbetonten.  Nach  diesen 
analogien  bildete  man  zu  der  Stammform  hrust  der  suffix- 
betonten casus,  deren  ru  wie  ein  ursprüngliches  ru  ausge- 
sprochen wurde,  eine  starke  Stammform  hreust-.  Aehnlich 
bildete  man  zu  dem  got.  dat.  pl.  hröprwn,  wo  ru  aus  r  ent- 
standen ist,  einen  nom.  pl.  hröprjus  nach  der  analogie  der 
w-stämme  (nom.  pl.  sunjiis ,  dat.  pl.  sunum).  Somit  glaube  ich 
es  wahrscheinlich  gemacht  zu  haben,  dass  das  h  von  hrust 
aus  vorgerm.  p  verschoben  ist,  und  dass  hrust  mit  ind.  prsti- 
zusammengehört.  Wenn  ich  mit  recht  Urformen  wie  prk'^tdbhis 
u.  s.  w.  angenommen  habe,  erklärt  dies,  dass  das  indische  wort 
in  die  /-flexion  eingetreten  ist,  denn  d  wird  im  ind.  durch  i 
vertreten. 

Das  germanische  wort  ist  auch  darum  wichtig,  weil  wir 
in  hrust-  aus  älterem  ''^-bruht-  ein  von  keinem  systemzwang  ab- 
hängiges beispiel  davon  haben,  dass  indogerm.  /•  durch  germ. 
ru  vertreten  ist.  Man  vergleiche  Bructeri,  dagegen  später 
Burcturi  tab.  Peuting.,  Boructuarii  Beda,  asächs.  pagus  Borahtra 
Zeuss  s.  92,  350—353. 

Endgültig  ist  die  frage  noch  nicht  beantwortet,  wie  das 
von  keinem  systemzwang  abhängige  r  oder  l  im  germani- 
schen vertreten  wird;  vgl.  Osthoflf,  Morph,  unt.  II,  49,  145, 
Kluge,  Kuhns  zeitschr.  XXVI,  90,  Brugmann,  Grundriss  I,  290  f. 
Mir  ist  die  folgende  auffassung  wahrscheinlich:  In  einer  be- 
touten silbe  und  wo  der  hauptton  auf  der  unmittelbar  folgen- 
den silbe  ruht,  wird  r,  l  im  germ.  durch  or  (ur),  ol  (ul)  ver- 
treten.   Wo   dagegen   de°r   hauptton   nicht  auf  der  unmittelbar 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  323 

folgenden,  sondern  auf  einer  nachfolgenden  silbe  ruht,  wird 
r,  l  durch  ro  {ru)^  lo  (lu)  vertreten.  So  erklärt  sich  altn. 
strotiinn  praet.  pcp.  von  serha.  So  erklärt  sich  auch  ahd. 
hrusiwn  (dat.)  neben  ind.  prsli-.  Jedoch  bleiben  hierbei  noch 
viele  Schwierigkeiten  zu  überwinden. 

Ob  der  volksuame  Bructeri  zu  dem  von  mir  vorausgesetzten 
stamme  *bruht-  'brüst'  (in  localer  an  Wendung)  gehört,  wage 
ich  nicht  zu  entscheiden. 

46.  Mhd.  b(tst  m.  n.,  pl.  beste,  hast  (die  inwendige  zähe 
haut  der  linde  und  anderer  bäume,  deren  man  sich  zu  stricken 
bedient);  nnl.  ranl.  bast  m.;  ags.  bicst\  altnord.  hast  neutr.  Das 
wort  bezeichnet  auch  einen  aus  bast  verfertigten  strick.  In 
dieser  bedeutung  daneben  mhd.  buost.  Mitteldän.  mschwed. 
neunorw.  dial.  halsbast  nackenmuskel,  nacken.  Altn.  heilabast 
n.  hirnhaut,  auch  mit  genuswechsel,  aus  heilabast  entstanden, 
heilabiist  f;  vgl.  valbost  f.  ein  (unsicher  welcher)  teil  des 
Schwerts.  Meine  erklärung  des  got.  brusts  (nr.  45)  erklärt  uns 
vielleicht  auch  bast.  Ich  vermute  einen  idgerm.  consonanti- 
sehen  stamm,  dessen  unbetonte  form  pak'^t-  war.  Dieser  stamm 
gehört  zu  zend.  pac-  'binden',  ind.  paca-s  'schlinge,  strick'; 
vgl.  für  die  form  lat.  paciscor  und  vielleicht  '^pasco  (für  *pacsco?) 
in  compesco.  In  schlussbetonten  casusformen  (instr.  pl.  indo- 
germ.  '*-pafild})liis  u.  s.  w.)  entstand  lautgesetzlich  eine  urgerm. 
Stammform  '*baht-.  Statt  -t  trat  später  -st  ein  wie  in  brust- 
aus  '^bruht-,  ahd.  ti'ust  neben  truht,  ahd.  lastar  neben  ags. 
leahtor  u.  m.  Also  *bahst-,  bast.  Mhd.  buosi  verhält  sich  in 
betreff  des  ablauts  zu  bast  wie  asächs.  bfeost  zu  ahd.  b7-ust. 
buost  ist  in  wurzelbetonten  casus  entstanden,  verdankt  aber 
sein  b  den  schlussbetonten  casus. 

47.  A\iu.  bauta,  praet.  pcp.  pass.  bautinn,  stossen,  schlagen; 
ags.  beatan,  beot,  beaten,  eng.  to  beat]  ahd.  bözau]  mhd.  böz,en 
praet.  bie:^.  Muss  im  got.  '-^bautan  praet.  '^-baibaut  gelautet 
haben.  Mit  altn.  bauta  und  dem  davon  abgeleiteten  beysia 
habe  ich  früher  (Curtius,  Stud.  IV,  346  f.)  lat.  fustis  zusammen- 
gestellt. Allein  man  müsste  dann  für  fustis  eine  grundform 
*/udsiis  annehmen,  was  kaum  wahrscheinlich  ist.  Mit  dem 
german.  bautan  vergleiche  ich  jetzt  lat.  pavio,  gr.  jiaico.  Das 
t  von  bautan  vergleicht  sich  mit  dem  t  von  giutati,  lat.  fundo 
gegen  gr.  ;ffcw;    von  asächs.  fliolan,   Wtau.  praeter,  plüdau  gegen 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche,     XIII.  22 


324  BUGGE 

ind.  plavafe;  von  lat.  endo  gegen  ksl.  kuj'q;  von  lat.  pudef 
gegen  jitoIo  nach  Fick,  u.  s.  w. 

Für  lat.  pavio,  ind.  pavi-s  ist  vielleicht  eine  zweisilbige 
wurzelform  zu  vermuten.  Auch  beachte  man,  dass  baufan  mit 
stautan  analog  ist.  In  diesem  vermute  ich  ein  intensiv  zu  lat. 
iundo,  ind.  iudüti.  Nun  tragen  die  indischen  intensiva  in  vielen 
formen  den  hauptton  auf  der  dritten  silbe:  praes.  indic.  dual. 
{vevidväs  u.  s.  w.)  und  1.  2.  pl.  {vcvidmäs  u.  s.  w.);  praes.  opt. 
(?;ei'/<7?/ä'm  u.  s.  w.);  imperat.  2.  in  allen  drei  zahlen  und  3.  dual. 
{veviddhi  u.  s.  w.).  Dadurch  erklärt  es  sich  vielleicht,  dass  h 
im  german.  hautän  aus  vorgerm.  /;  verschoben  ist. 

48.  Altisl.  gufa  f.  'rauch,  dampf.  In  norweg.  mundarten 
erscheint  ein  starkes  vb.  guve^  gyve  {.fyve)  oder  jua,  woraus  ein 
altnorw.  *^z7/ö,  gauf,  gofii  sicher  zu  folgern  ist.  Dies  verbum 
bezeichnet:  rauchen,  dampfen,  in  der  luft  wie  staub  oder  rauch 
herumtreiben;  auch:  hin-  und  herlaufen,  (auf  jem.)  losfahren. 
Dazu  gehört  u.  a.  norw.  dial.  goim  {b  =  offenes,  ursp.  kurzes 
o)  oder  guva  {ü  =  off.  u)  f.  dampf,  rauch,  ausdünstung.  gj'öyve 
(das  altn.  '^gmjfa  voraussetzt)  etwas  so  schütteln,  dass  staub 
davon  treibt;  rauchen,  dampfen;  wallen,  sieden,  so  dass  es 
überfliesst;  von  der  see:  schäumen,  in  heftiger  bewegung  sein. 
In  schwed.  mundarten  u.  a.  guva  oder  guuv,  das  '^güfa  voraus- 
setzt, 'wehen,  dampfen'  auch  'riechen',  guva  f.  'windstoss', 
gava  f.  'dampf. 

Dem  nordischen  '*güfa  'rauchen,  dampfen,  stäuben'  ent- 
spricht dem  sinne  nach  das  bereits  von  Rietz  verglichene  lett. 
kupu  kUpet  'rauchen,  dam])fen,  stäuben',  in  compositis  kupstu 
küpu  kiipt  z.  b.  ap-kiipstu  'beräuchert  werden'.  Mit  dem  lett. 
verbum  verwant  sind  u.a.  apreuss. /fMp,?m^  'nebel';  \\\.kivapas 
'hauch,  duft',  krvepiu  hrfptl  tr.  u.  intr.  'hauchen',  k?vepm  -p'eti 
'duften',  knimpu  krvipti  'geruch  bekommen';  gr.  x«jrrog 'rauch', 
xajiv(D  'hauche  aus'. 

Das  norw.  gjöyve  bezeichnet,  wie  oben  gesagt,  'wallen,  so 
dass  es  überfliesst',  auch  von  der  see  'schäumen,  in  heftiger 
bewegung  sein';  in  dieser  letzteren  anwendung  wird  auch 
reflexiv  gjöyves  gesagt.  Dies  setzt  altnorw.  *gfiyfa  'in  heftige 
bewegung  bringen'  voraus  und  schliesst  sich  dem  sinne  nach 
genau  an  ind.  köpäyati  'in  bewegung  bringen,  erschüttern,  auf- 
regen,  in   Wallung  bringen',    satn  +  köpäyati   'in  wallung  ge- 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  325 

raten',   küpyate  'in  bewegimg  — ,  in  aufregung  — ,  in  wallung 
geraten';   auch  an  ksl.  kypeti  'sieden,  überfliessen'. 

Das  altn.  *gT(fa  setzt  urgerra.  ^güban,  praes.  3.  sg.  '^y/übepi 
voraus.  Dass  dies  mit  dem  lett.  küpt  zusammengehört,  ist  mir 
unzweifelhaft.  Lit.  kw'e'pti,  kwepe'ti  und  kwtpti  so  wie  gr.  xajc- 
voq  (aus  ^kiidpnös),  xajtvw  beweisen,  dass  das  U  von  lett. 
küpet,  küpt  aus  u9  entstanden  ist.  Ich  vermute  daher  vorgerm. 
^kudpeti,  urgerm.  '^-(judhepi]  daraus  *gübip.  u3  hat  auf  die 
lautverschiebung  so  wie  eine  zweisilbige  form  gewirkt  und 
wurde  daher  wahrscheinlich  ursprünglich  zweisilbig  gesprochen. 
Dies  stimmt  mit  der  scharfsinnigen  entwickelung  De  Saussures 
überein. 

Das  verbum  *güban  praes.  *gUbip  aus  vorgerm.  *ku9- 
petl  war  es  gewiss,  das  für  den  anlaut  der  Wortsippe  im 
german.  zunächst  bestimmend  wurde.  Jedoch  entstand  auch 
in  anderen  verwanten  wortformen  g  lautgesetzlich  aus  vor- 
germanischem k.  So  kann  das  g  des  subst.  f.  gufa,  urgerm. 
stamm  '*gubun-,  unter  dem  einfluss  einer  vorgerm.  Stammform 
kupdn—  (vgl.  xajivöa)  entstanden  sein.  Im  pcp.  praet.  *gubanä-^ 
im  praet.  des  causativs  *gaubide'p,  im  pcp.  *gaubidä-  und  in 
mehreren  anderen  formen  ist  germ.  g  regelmässig  aus  vorgerm. 
k  verschoben.  In  Helsingland  gävla  'dunsten'  aus  urgerm. 
*gubdlo-.  Ob  auch  composita  {^gagauhjan  u.  ähnl.)  zur  ent- 
stehung  des  anlautenden  germ.  g  mitwirkten,  weiss  ich  nicht. 
Der  Wechsel  des  langen  und  des  kurzen  u  war  wol  durch  die 
folgende  regel  bedingt:  kudp—^  wo  der  hauptton  auf  der  un- 
mittelbar folgenden  silbe  ruhte;  kup--,  wo  der  hauptton  auf 
einer  nicht  unmittelbar  folgenden  silbe  ruhte. 

49.  Gotischem,  ags.  und  nordischem  p  entspricht  regel- 
recht nhd.  d.  In  einigen  nhd.  Wörtern  entspricht  jedoch  an- 
lautendes t  dem  p  anderer  germ.  sprachen:  tausend,  ieutsch 
(neben  deutsch),  ton,  tauwind  u.  m.  Auch  das  gewöhnliche 
mhd.  hat  in  einigen  Wörtern  anlautendes  ^,  meistens  neben  d, 
wo  andere  germ.  sprachen  p  zeigen:  tfisent,  t'mlsch,  t'mten, 
tähe,  touwen,  turse,  täht  u.  m.  Schon  im  ahd.  kommt  solches 
t  sporadisch  vor.  Dass  bei  dieser  erscheinung  alemannischer 
einfluss  wirksam  ist,  scheint  sicher.  Weiuhold,  Alem.  gr.  s.  133 
sagt,  dass  ahd.  Schreibungen  mit  t  statt  des  got.  p  seit  dem 
9.  jahrh.  in  der  Notkerschen  schule  nicht  selten  sind;   er  erklärt 

22* 


326  BUGGE 

dieselben  aus  der  alemannischen  ausspräche.  Nach  Winteler 
s.  64  hat  die  Keienzer  mundait  des  kantons  Glarus  regelrecht 
die  fortis  t  für  got.  anlautendes  p.  Er  bemerkt:  'Die  so  lange 
verteidigte  und  bestrittene  scbreibuDg  teiUsch  wird  ihre  natür- 
lichste herleitung  und  begründung  in  dieser  oberdeutschen  ent- 
sprechung  finden'. 

Es  ist  mir  aber  zweifelhaft  ob  anlautendes  hochdeutsches 
t  neben  dem  p  anderer  germ.  sprachen  überall  aus  alemanni- 
schem einfluss  zu  erklären  ist;  in  einigen  fällen  scheint  mir 
die  erklärung  dieses  t  aus  urgerm.  d  möglich.  Ich  habe  nicht 
kenntnisse  genug,  weder  in  den  altdeutschen  Schriftwerken 
noch  in  den  lebenden  deutschen  mundarten,  um  dies  problem 
zu  lösen.  Ich  will  die  folgende  behandlung  einiger  hoch- 
deutschen mit  t  anlautenden  wortformen  nur  als  eine  frage 
betrachtet  wissen,  und  ich  muss  die  beantwortung  dieser  frage 
deutschen  Sprachforschern  überlassen. 

Got.  pUsundi  f.  'tausend'.  Altn.  püswid  f.  Ags.  püsend  n. 
Asächs.  thüsint  (in  den  psalmen)  n.  Ahd.  düsunt  f.  und  n. 
Das  wort  ist  ursprünglich  fem.,  später  durch  den  einfluss  der 
zahl  'hundert'  neutr.  Got.  twa  pUsundja  deuten  Mahlow  (AEO 
s.  98)  und  Kluge  nicht  als  neutr.  pl.,  sondern  als  dual.  fem. 
Der  anlaut  ist  im  hochdeutschen  zum  teil  abweichend.  In 
einem  der  ältesten  hochdeutschen  Sprachdenkmäler,  der  Pariser 
hs.  des  Keronischen  glossares,  welche  in  Baiern  im  8.  Jahrb., 
etwa  um  770  (Kögel,  Beitr.  IX,  357),  geschrieben  ist,  findet  sich 
nach  Kögel  anlautendes  fh  (^  got. />)  29  mal  erhalten;  218 
mal  ist  dafür  d  geschrieben,  nur  zweimal  t.  Die  eine  dieser 
wortformen  ist  tusunt  (Kögel,  Ker.  gloss.  115).  Das  anlautende 
t  muss  doch  wol  hier  die  ausspräche  consequent  widergeben, 
da  im  spätahd.  häufig  tüsent  vorkommt  (Braune,  Ahd.  gr.  §  167 
a.  8,  §  275),  wie  dieses  zahlwort  im  mhd.  und  nhd.  festes  t  im 
anlaute  hat.  Warum  sollte  nun  eben  bei  diesem  worte  die 
alemannische  ausspräche  massgebend  werden?  Die  Pariser 
handschrift  ist  ein  bairisches  denkmal,  und  in  so  alter  zeit 
wurde  ja  auch  nicht  in  Alemannien  t  für  got.  p  geschrieben. 

Im  got.  wird  das  fem.  püsundi  gen.  pusimdjös  wie  mawi 
gen.  niaujös  flectiert.  Diese  feminina  waren  bei  der  freien  be- 
tonung  oxytona,  wie  dies  z.  b.  durch  das  tv  (aus  giv)  von 
matvi,  das  g  des  altn.  ylgr,   das  ^,  p  der  ahd.  namen  auf  -idh, 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  327 

-ulp  bewiesen  wird.  Darum  darf  man  bei  der  freien  betonung 
eine  schlussbetonte  urgerm.  form  ^J^üsunpt  voraussetzen  dürfen; 
vgl.  Kremer,  Beitr.  VIII,  399.  418.  '•^•fnisimpi  sollte  nach  der  von 
mir  vorgeschlagenen  regel  zu  ''^•düsundi  verschoben  werden.  Da 
hd.  t  regelrecht  urgermanischem  d  entspricht,  liegt  es  nahe, 
hieraus  mhd.  iTisent  zu  erklären. 

Dass  das  zahlwort  in  anderen  germanischen  sprachen  an- 
lautendes p  hat,  erklärt  sich  aus  Verbindungen  wie  got.  twa 
pUsundja,  wenn  die  kleinere  zahl  hier  stark  betont  war. 

Allein  'warum  hat  mhd.  iUsent  s,  nicht  ein  aus  z  ent- 
standenes r,  wenn  es  aus  einer  schlussbetonten  grundform  ent- 
standen ist?  Die  bisher  nicht  gefundene  etymologische  deu- 
tung  des  zalilworts  kann  vielleicht  diese  frage  beantworten. 
In  den  späteren  altnorw.-isl.  formen  püshund,  pUshundraf^  ist 
die  auffassung,  dass  das  wort  mit  himd  'hundert'  zusammen- 
gesetzt sei,  ausgedrückt.  Man  hat  mehrfach  auf  die  Überein- 
stimmung zwischen  apreuss.  tuslmtons  'tausend'  und  lit.  szlmtas 
'hundert'  aufmerksam  gemacht.  Daher  vermute  ich  mit  Vig- 
fusson  (Icel.  Dict.),  Scherer  (Z.  gesch.  d.  d.  spr.2  591)  und  an- 
dern forschem,  dass  das  lit.,  slav.  und  germ.  wort  für  1000 
mit  100  zusammengesetzt  ist.  Ich  vermute  eine  vorgerm.  form 
^tUsU^nti ,  iUskonif,  eigentlich  'krafthundertschaft',  'sehwell- 
hundert'.  Die  Zusammensetzung  ist  mit  got.  piudangardi  f. 
von  gards  analog,  tüs-  bedeutet  'kraft'.  Ich  sehe  darin  die 
protonische  form  eines  Stammes,  der  in  ind.  tüvismant-  'kraft- 
voll', tuvistama-  'der  stärkste'  als  tuvis-  erscheint  und  zu  ind. 
taviti  'vermögen'  gehört.  Das  vorgerm.  *t'uskonli'  wurde  im 
germ.  *pTisyonpi\  später  *dTisliundl' ,  ''''•dTisundi.  Das  intervoca- 
lische  vorgerm.  ^Ä-  blieb  hier  im  germ.  nicht,  wie  sonst,  unver- 
schoben,  weil  man  die  silbenteilung  tus-k-  aufrechthielt.  Das 
tonlose  s  des  mhd.  iüscnt  erklärt  sich  also  daraus,  dass  nach 
dem  s  früher  ein  tonloses  h,  x  unmittelbar  folgte.  Ebenso  ist 
der  apreuss.  stamm  tUslmla-  aus  lüs-simla-  zusammengesetzt. 
Ksl.  iysnsta,  tyscsta  enthält  eine  ableitung  von  dem  mit  tijs-, 
aus  ITis-,  zusammengesetzten  ^si^lo  =  suto. 

50.  Der  in  den  altgerm.  sprachen  für  'die  schlafe'  am 
meisten  verbreitete  ausdruck  bezeichnet  etymologisch  'die  dünn- 
wangen';  altnorw.  punnvangi  m.,  selten  pwmvengi  n.;  ags.  punn- 
rvang   und  punnwenge\    nmd.  dunninge,  dimnige  f ;    ahd.  dünne- 


328  BUGGE 

wengi,  dunrvengi.  Allein  daneben  erscheinen  hochdeutsche  for- 
men mit  anlautendem  l:  ahd.  tunawengi,  mhd.  (unewenge,  läne- 
ivengel  n.  Diese  formen  mit  /  sind  vielleicht  aus  urgerm.  for- 
men mit  anlautendem  d  verschoben.  Wenn  dies  richtig  ist, 
muss  das  urgerra.  d,  welches  hier  im  hochd.  zu  /  verschoben 
ist,  so  erklcärt  werden:  in  diesem  compositum  lag  der  haupt- 
ton ursprünglich  auf  dem  zweiten  gliede.  Darum  wurde  das 
anlautende  vorgerm.  t,  urgerm.  />  hier  in  der  zweiten  periode 
des  urgerm.  lautgesetzlich  zu  d,  woraus  hd.  t,  verschoben.  Die 
formen  altn.  punnvawji^  ags.  pwiwang,  ahd.  dwmewengi  ver- 
danken das  anlautende  />,  hd.  d  dem  adjectivum  'dünn'.  Im 
mnd.  diüininge  und  in  aschwed.  pymiinger  (Arkiv  IV,  165), 
neuschw.  tinning,  dän.  tinding  ist,  wie  es  scheint,  das  zweite 
glied  des  compositums  durch  lautschwächung  mit  einem  suffixe 
zusammengefallen. 

Andere  hochdeutsche  formen  zeigen  nach  dem  anlautenden 
t  ein,  wie  es  scheint,  unerklärtes  /:  ahd.  tinna.,  tinne^  frons, 
auch  ünnewenga;  mhd.  linne  schw.  fem.  st.  f.  st.  n.,  stirn,  pl. 
schlafe*);  ahd.  thinna-bahlio  m.  schlafe  (neben  dunna-pahhun). 
Das  /  erscheint  auch  in  asächs.  Ihinnongum,  temporibus,  gl. 
Lips.  912.  Dies  i  erkläre  ich  durch  das  folgende  laut- 
gesetz:  vorgerm.  7i  vor  n  oder  einem  andern  consonanten 
wird  germ.  im,  allein  vorgerm.  n  vor  einem  consonanten  -\-  j 
wird  germ.  in.  So  altnord.  minni  n.  'mündung'  ableitung  von 
mu()r  munnz.  Altnord.  }nin)ias{k)  'küssen'  ebenfalls  von  tmtt^r. 
Anders  Kock,  Arkiv  IV,  163—170. 

Der  stamm  des  adjectivs  'dünn'  ist  idgerm.  (nm'i-]  daraus 
german.  '■^•punnu-s.  Dagegen  mhd.  tinne  nach  meiner  Vermutung 
aus  *dimi/a,  *dhmjö,  vorgerm.  etwa  ''^•truidiiUa  . 

YII. 

Ausser  den  im  vorigen  behandelten  Wörtern  giebt  es  noch 
eine  lange  reihe  germanischer  Wörter,  die  nach  meiner  ansieht 
dafür  sprechen,  dass  g,  d,  h  im  germanischen  anlaute  unter 
gewissen  bedingungen  aus  vorgerm.  k,  /,  p  entstanden  sind. 
Vorläufig  halte  ich  jedoch  die  behandlung  dieser  Wörter  zurück, 
um  ein  nahe  verwantes  problem  zu  besprechen. 

')  Ganz  verschieden  von  dem  deutschen  wurte  scheint  das  afranz. 
und  prov.  tin,  schlaf,    siehe  Diez,  Wtb.  11  c. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  329 

Das  Vernersche  gesetz  erklärt  nicht  nur  die  entstehimg 
der  inlautenden  stimmhaften  germ.  g,  d,  h  aus  den  stimmlosen 
h,  p,  /,  sondern  zugleich  die  entstehung  des  inlautenden  stimm- 
haften germ.  z,  später  /•,  aus  dem  stimmlosen  s.  Wenn  der 
nächstvorhergehende  vocal  bei  der  ursprünglichen  freien  be- 
tonung  nicht  den  hauptton  trug,  wurde  inlautendes  s  zu  z 
(stimmhaftem  s)  verschoben.  Dies  z  blieb  im  gotischen  un- 
geändert,  wenn  es  nicht  durch  spätere  lautgesetze  oder  durch 
association  in  das  stimmlose  s  geändert  wurde.  In  den 
übrigen  germanischen  sprachen  gieng  z  in  einen  ;-Iaut  über. 
Im  altnordischen  wurde  dies  aus  z  entstandene  /•  anders  als 
das  ursprüngliche  ;•  gesprochen,  was  man  namentlich  daraus 
ersieht,  dass  das  aus  z  entstandene  r  in  der  älteren  runeu- 
schrift  durch  die  ?/>-rune,  das  ursprüngliche  r  dagegen  durch 
die  reib-Yune  bezeichnet  wird.  Die  entstehung  des  inlauten- 
den z  (;•)  aus  A'  ist  also,  wie  Veruer  nachgewiesen  hat,  mit 
der  entstehung  der  inlautenden  g,  d,  b  aus  h,  p,  f  ganz 
parallel. 

Nun  habe  ich,  wie  ich  meine,  nachgewiesen,  dass  auch 
im  germau.  anlaute  /?,  />-,  f  unter  gewissen  bedingungen  zu 
g^  d,  h  verschoben  worden  sind.  Es  entsteht  also  die  frage: 
ist  die  behandlung  des  a-  auch  im  gernian.  anlaute  mit  der  be- 
handlung  von  //,  />,  /  parallel V  Mit  anderen  Worten:  wie  ist 
vorgerra.  s  im  german.  anlaute  vor  vocalen  lautge- 
setzlich vertreten,  wo  der  hauptton  bei  der  freien  be- 
tonung  auf  der  dritten  silbe  oder  dem  worteude 
näher  lag? 

Nicht  wenige  beispiele  sprechen  anseheinend  dafür,  dass 
ein  germanisches  s  auch  unter  diesen  bedingungen  einem 
vorgerm.  s  lautgesetzlich  entspricht.  Ich  werde  einige  solche 
beispiele  hier  besprechen. 

Got.  sineUjs  alt;  urnord.  swoslcli  auf  dem  steine  von  Tune, 
superl.  u.  pl.  masc.  slnelgs  hatte  ursprünglich  gewiss  den  haupt- 
ton auf  der  dritten  silbe,  da  das  suffix  -ga,  wie  das  g  zeigt, 
betont  war  und  da  wir  im  ind.  sanakn-s  'alt'  finden.  Auch 
got.  sinista  'ältester',  burguud.  (mit  lat.  endung)  shüslus  bei 
Ammian  hatte  bei  der  freien  betonung  den  hauptton  auf  der 
dritten  silbe.  Jedoch  braucht  das  anlautende  5  von  sineigs, 
sinista  nicht   als   lautgesetzlichor  Vertreter  eines   vorgerman.  s 


330  •  BUGGE 


aufgefasst  zu  werden.  Die  genannten  formen  können  ihr  s 
verwanten  formen,  denen  das  s  lautgesetzlich  zukam,  ver- 
danken. Got.  sineigs,  sinista  und  frank,  siniscalcus  lassen  ver- 
muten, dass  das  germanische  einst  formen  besass,  die  dem  ind. 
säna-s  *alt',  ^v.ivoq,  Mi.  seyias  'alt',  senis  'greis'  entsprachen. 
Auch  das  /  der  ersten  silbe  von  s'meiffs,  sinisla  scheint  laut- 
gesetzlich in  formen,  die  den  hauptton  auf  der  ersten  silbe 
hatten,  entstanden  zu  sein. 

Altn.  sammöbr  =  gr.  oiwifrjTQiog  beweist  nur  anscheinend 
etwas  für  die  hier  behandelte  frage,  denn  die  behandlung  des 
anlautenden  s  kann  hier  durch  samr  =  ofiög  und  andere  ver- 
wante  formen  beeinflusst  sein.  Auch  sammeln,  ahd.  sammiön 
stand  nicht  frei  und  allein.  Ebenso  kann  ahd.  sibunto,  wenn 
es  wie  ind.  saptamä-s  (gegen  saplälTia-s)  ursprünglich  den  haupt- 
ton auf  der  dritten  silbe  hatte,  sein  s  der  cardinalzahl  ver- 
danken. Wie  got.  saiwala  bei  der  freien  betonung  betont  war, 
lässt  sich  nicht  sicher  bestimmen.  Dasselbe  gilt  von  saliel^ 
ahd.  satul,  das  wol  lehnwort  ist. 

Ich  finde  überhaupt  nicht  vollgültige  beweise  dafür,  dass 
vorgerm.  anlautendes  s  vor  vocalen  in  wortformen,  die  den 
hauptton  auf  der  dritten  silbe  hatten,  lautgesetzlich  durch 
germ.  s  vertreten  sei. 

Ich  werde  vielmehr  durch  einige,  wie  mir  scheint,  zum 
teil"  sichere,  wenn  auch  nicht  zahlreiche  belege  die  folgende 
regel  stützen:  Wo  der  hauptton  bei  der  freien  betonung 
auf  der  dritten  silbe  lag  oder  vom  wortanfang  noch 
weiter  getrennt  war,  wurde  vorgerm.  anlautendes  s 
im  germanischen  durch  das  stimmhafte  z  zu  r  ver- 
schoben. 

51.  Nhd.  rusSj  mhd.  ahd.  ruoz,;  mnd.  rot,  rüt\  ndl.  roei. 
Davon  das  adj.  nhd.  russüj,  mhd.  ruo2,ec,  ruoz,ic,  ahd.  ruoz,ac. 
Ndl.  ;-oe/  bezeichnet  zugleich:  talg,  fett,  unschlitt;  auch:  russ- 
brand  im  getreide.  Grimm  (vorrede  zu  Goth.  glossar  von 
E.  Schulze  s.  VI)  führt  ahd.  hruoz  'fuligo'  an.  Diese  form 
findet  sich  nicht  bei  Graft'  und  ist  mir  unbekannt.  Eben- 
daselbst vergleicht  Grimm  ags.  hrol  'sordes,  fuligo'.  Ebenso 
ist  bei  Schiller-Lübben,  Mnd.  wtb.  neben  mnd.  rot  'fuligo'  ags. 
hrot  gestellt.  Endlich  geben  Weigand  und  Kluge  (Etym.  wtb. 
unter  russ)   agii.  hrot  'schmutz'.     Dies  ags.  wort  bezweifle  ich. 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  331 

Bei  Boswortli-Toller  findet  sich  nur  das  folgende  citat:  Gervyrc 
t5e  Iceceböm  bus  of  ecede  and  of  hunige,  genim  bcct  seleste 
hunig  dö  ofer  heorp  äseöp  ^cet  weax  and  t5(et  hrot  Leechd. 
11,224,17.  Daraus  wird  mit  recht  hrot  n.  'Thick  fluid,  scum, 
mucus'  gefolgert,  und  dies  wird  mit  ahd.  hroz,  nhd.  roiz  ver- 
glichen. Nhd.  russ,  ahd.  nio::;  kann  gewiss  auch  nicht  mit 
got.  hröt  ortyr],  öSficc,  wie  Grimm  meint,  etwas  zu  tun  haben; 
denn  got.  hröf,  das  dem  neunorw.  dial.  röf  n.  'dach,  räum 
unter  dem  dache  eines  hauses'  entspricht,  liegt  dem  begriffe 
nach  allzu  fern. 

Der  stamm  röta-  'russ'  ist  also  bisher  etymologisch  nicht 
erklärt.  Gleichbedeutend  ist  der  folgende  wortstamm:  altnord. 
söt  n.  *russ',  ags.  söt,  neueug.  soof,  neufries.  dial.  söf,  süt,  nnd. 
söt,  söd,  mnl.  soet.  Davon  das  adj.  altisl.  sötugr  'russig', 
altschwed.  sotogher,  neuschwed.  sotig,  ags.  gesötig,  neuengl. 
sooty.  Wie  nnl.  roet  'russbrand'  bezeichnen  kann,  so  ist 
schwed.  sotaks  'eine  aou  russbrand  angegriflene  ähre'.  Lehn- 
wörter aus  dem  germau.  worte  sind  neuir.  sTilh,  gael.  sTiith, 
neucymr.  swta\  ferner  franz.  suie^  prov.  suia^  suga,  catal.  masc. 
siUje.  Urverwaut  lit.  sü'dis  gen.  südrio  (gewöhnl.  im  pl.)  m. 
'russ',  ksl.  sazda  f.  (aus  '•'•sadja).  Wir  haben  also  im  german. 
für  'russ'  sowol  sota-  als  rota-,  für  'russig'  sowol  sötaga-  als 
rötaga-\  von  diesen  ist  nur  sota-  in  verwanten  sprachen  wider- 
gefunden. Nach  meiner  Vermutung  wurde  vom  substantiv- 
stamme vorgerm.  sodö-  das  adj.  *södokö-s  gebildet,  södö- 
wurde  im  german.  zu  sota-,  *sodogö-s  dagegen  zu  ''"zotagäSy 
später  ''^•rötagäs  'russig'  verschoben.  Das  adjectivsuffix  ga 
war  betont,  siehe  Kluge,  Stammbild.  §  202.  203.  Sowol  alt- 
nordisch sötugr,  engl,  sooty  als  nhd.  russ  sind  also  analogie- 
bildungen. 

Kluge  bemerkt  (Etym.  wtb.  russ):  'Engl,  soot,  angls.  söt 
'russ'  sind  nicht  verwant'.  Beitr.  X,  442  scheint  er  dagegen  im 
ags.  söt  neben  dem  ahd.;7<oc  '(grdf.  *c(7/V)'  ein  fremdwort  zu  sehen. 

52.  Nhd.  mild,  riechen,  ahd.  riochan,  obd.  riuhhan  (Braune, 
Ahd.  gr.  §  334)  'rauchen,  dami)fen,  duften,  riechen,  einen  gc- 
ruch  empfinden';  ndl.  ruiken,  rieken  'riechen',  ags.  reocan 
'rauchen,  duften';  altnord.  rjüka  'rauchen,  duften'.  Diesen 
wortstamm  hat  man  nirgends  widergefunden.  Lit.  rükaii,  rii- 
kinu,  rUkst'u,  rukis  sind  lelmwörter  aus  dem  deutschen. 


332  BUGGE 

Dem  siunc  uach  übereiastinimend  ist  der  folgende  wort- 
stanim:  nM.  sn-echan  stark,  vb,,  nur  in  praesensfornien  belegt: 
'scatcre,  cbullire;  duften,  riechen,  stinken',  swech  (sweh)  *ge- 
rucli,  duft';  nilul.  sn-echer  'stinkend'.  Asäcbs.  swek  'gerucb', 
ags.  s/rccc,  swec,  strcecc,  dat.  auch  sn'icce,  'geruch';  sweccan 
(schwach,  vb.)  'odorari'.  Grimm  vergleicht  neuisl.  siuika  'flare', 
svcckja  'aer  circulans,  bumidiis,  sutiocationi  quam  refrigerationi 
proprior  et  aptior',  'tepor  vaporosus  et  nauseosus'  bei  Björn 
Haldorsen.     Vgl.  Osthotr,  Beitr.  VIII,  279. 

Kdl.  ruiken,  mnd.  rn/ien  wie  die  entsprechenden  formen  in 
neueren  nd.  mundarten  (Osthof!',  Beitr.  VIII,  293  f.;  Holthausen, 
Beitr.  X,  557;  Jellinghaus,  Westf.  gr.  91)  setzen  altes  rUkan 
voraus.  Daraus  sind  ahd.  riochan,  riechen,  ags.  reocan,  altn. 
rjüka  entstanden,  wie  z.  b.  altisl.  Ijüka,  rahd.  liechen  aus  lUkan; 
siehe  Osthotl,  Beitr.  VIII,  2S7 — 311.  Ich  setze  v or germ.  suof/eli 
voraus.  Dies  wurde  im  german.  zu  '''•zudkepi,  *ru9kepl,  '*imkijj 
verschoben,  rukan  ist  'aoristpraesens'  zu  dem  'imperfectprae- 
sens'  ahd.  swechan.  Es  verhält  sich  zu  diesem  wie  z.  b.  nord. 
güfa,  lett.  kTipl  zu  kwep-,  litau.  kwipti  (oben  s.  32  1).  Das  praet. 
1.  ps.  pl.  zu  Si\n\.  swechan  würde  in  vorgerm.  form,  wenn  wir 
-mem  als  enduug  der  1.  ps.  annehmen,  '^sesugdnmn  lauten. 
Daraus  entstand  im  germ.  lautgesctzlich  '"zezukdmem,  rukum. 
Ein  regelmässiges  pcp.  pf.  zu  s/rechan,  dem  mit  s  anlautenden 
verbum,  welches  nur  im  praesens  belegt  ist,  muss  etymolo- 
gisch in  rohhan  'gerochen'  erkannt  werden,  aus  urgerm.  *>w- 
kand-,  *zukand-,  vorgerm.  *siigonö-. 

Gegen  die  hier  vorgebrachte  deutung  kann  man  einwen- 
den: ahd.  sUijdn,  ags.  sfujan,  sUcan  u.  s.  w.  'saugen'  hat  an- 
lautendes s,  obgleich  dies  wie  rüken  in  der  ersten  silbe  U  hat; 
vgl.  Osthofi',  Beitr.  VIII,  278  tf.  Allein  wir  sind  nicht  berechtigt, 
die  möglichkeit  zu  leugnen,  dass  bereits  im  vorgerm.  sük'  ^  sug- 
'saugen'  neben  suok'-  'riechen'  eingetreten  war. 

53.  Nhd.  riemen,  mhd.  7-ieme,  ahd,  riumo\  asächs.  reomo, 
riomo  'schuhriemen';  mnd.  reme  nach  Schiller-Lübben  m.  und 
zuweilen  f.;  ndl.  ricm;  ags.  reoma.  Fick  und  Kluge  vergleichen 
gr.  {)\na.  Dies  scheint  mir  bedenklich.  Die  bedcutung  des 
griech.  worts  stimmt  freilich  einigcrmassen.  (>»'//«  ist  'zugseil', 
wird  auch  von  der  bogensehne  angewendet.  Und  in  einem 
deutscheu   glossare   heisst  es:    ^rictne   od.  zugseil  des  schiffes, 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNC4.  333 

lemulcis',  also  ganz  wie  (wfia  in  (ivfiovXxtco.  AUeia  formell 
ist  es  schwierig',  ahd.  riumo  mit  gr.  QVfia^)  von  eQvco  (fsQv-) 
zu  verbinden,  und  das  mit  riiww  gleichbedeutende  nord.  reim 
spricht  entschieden  gegen  diese  combination.  Johansson  (Üe 
derivatis  verbis  contractis  s.  1 1 1)  vermutet  in  i-iumo,  aus  re-ii-m-, 
und  in  altu.  reim,  aus  ra-i-m,  verwante  formen  mit  verschiede- 
nen infixen.  Aehnlich  sieht  Noreen  ('Om  orddubbletter  i  ny- 
svenskan'  s.  48,  Upsala  1886,  in  'Sprakvetenskapliga  Sällskapets 
förhandlingar  1882 — 1885')  in  altn.  reim  ra-im-,  neuschwed. 
ra-m-sa,  ahd.  ri-um-o  Suffixvariationen.  Bei  diesen  versuchen 
bleibt  der  ursjjrung  des  worts  unsicher. 

Die  hauptbedeutung  und,  wie  es  scheint,  die  älteste  an- 
wendung  des  deutschen  riumo,  rieme)i  wie  des  nord.  reim,  rem 
ist  ^lederriemen,  schmaler  streifen  von  leder',  wenn  das  wort 
auch  zur  bezeichnung  eines  bandes  von  metall  übertragen  wird. 
Ahd.  riumo  gibt  lat.  corrigia,  balteum,  habcna  wider,  dat.  pl. 
riumun  lat.  pittaciis  in  der  Verbindung  'pittaciis  calceamenta 
consuta  erant'.  Synonym  mit  ahd.  riumo  ist  ind.  syi'i'man-  n. 
'band,  riemen,  ziigel,  streifen',  auch  'nat  (am  schädel)',  das  zu 
'dem  uralten  worte  für  lederarbeit'  ind.  si'vyati  'nähen',  pcp. 
pf.  syiitä-s  gehört.  Die  qualität  des  vocales  der  ersten  silbe 
in  sijüman-  zeigt,  dass  das  suftix  ursprünglich  betont  war.  Die 
Wurzel  war  ursprünglich  zweisilbig;  vgl.  De  Saussure,  Bulletin 
de  la  Soc.  de  Liug.  nr.  22  s.  LIV  f.  Ich  setze  hiernach  den 
folgenden  vorgerm.  substantivstaram  voraus:  *sirimen-  (aus 
'*siu9men-),  in  anderen  casusformeu  '■^•siümdn' .  Dies  wurde  im 
germ.  zu  ''^zium\  dann  zu  rium'  (mit  zweisilbigem  iu)  ver- 
schoben. Später  entstand  der  diphthong  iu  aus  zweisilbigem 
iu]   vgl.  ahd.  uiun  und  hiosf  (Beitr.  XII,  421  f.). 

Gleichbedeutend  mit  riemen  ist  altnorw.-isl.  reim  f.,  pl. 
reimar,  schvved.  dän.  rem,  est-schwed.  dial.  rö/m,  aus  urnord. 
'*rai?}iu.  Vgl.  in  älteren  deutschen  glossaren  'tendicula,  -lum: 
raim,  rcim\ 

Altn.  reim  verhält  sich  in  bctrelf  des  vocales  zu  got.  siujan, 
ind.  sJvyati,  lat.  suo,  gr.  {xao)ovo),  lit.  siU/ru,  wie  nhd.  ahd. 
feim  m.  'schäum',    ksl.  penn,   aprcuss.  spoayiio,   lat.  spuma  (aus 


^)  Mit  (nfiu  vergleicht  Stokos   ir.  rüm  'Iiawsor'V    Tognil  Troi  IU'.» 
(Calcutta  iss-i). 


334  BUGGE 

'•^spoima),  ind.  phcna-s  und  phenä-s  zu  ahd.  spJwan,  lat.  spuo, 
gr.  jTTvco,  iud.  s/lv-  u.  s.  w.  Als  grundform  vermute  ich  ^poi^mo-, 
*spoi"mo-  mit  vedueieitem  (halbem)  71.  Ebenso  vermute  ich 
für  reim  eine  grundform  '''■soi"mü.  Vielleicht  wurde  dies  soi"ma 
betont,  woraus  urgerm.  ^zoi'^ma,  ^roi^'mü',  *raimu.  Oder  ver- 
dankt reim  sein  r  einer  verwantcn  im  ahd.  riumo  erhalte- 
nen form? 

In  derselben  bedeutung  wie  rel?n  hat  das  altisl.  rafmat 
Ich  führe  dies  auf  einen  urnord.  stamm  '*rTimllon-  aus  *rai- 
miion-  zurück.  Mehrere  wortformen  deuten  darauf  hin,  dass 
im  urnord.  einst  die  folgende  lautregel  galt:  ai  wird  ä,  wenn 
der  hauptton  auf  einer  nicht  unmittelbar  folgenden  silbe  ruht. 
Vgl.  altnorw.  Urhjalmr  aus  '^aizahe/mall;  urnord.  dalidun  (Tune) 
wol  von  '-'''dailjan]  hateka  (Lindholm)  ne])en  hailey  vgl.  ind.  aham, 
gr.  tY«')V.  Im  schwed.  ramsa,  das  in  estschwed.  dialekten 
'langer  schmaler  streifen'  bezeichnet,  ist  ä  vor  7ns  gekürzt.  In 
derselben  bedeutung  erscheint  in  der  schwed.  reichssprache 
remsa,  in  schwed.  und  norw.  dial.  rimsa.  Dies  setzt  reimsa 
voraus  (Kock,  Undersökn.  i  svensk  sprakhist.  s.  40)  mit  nach 
reim  erneuertem  ei. 

Die  etymologische  deutung,  welche  ich  hier  versucht  habe, 
setzt  voraus,  dass  ksl  remeni  'riemen',  welches  in  den  ver- 
schiedenen slavischen  sprachen  verbreitet  ist  (Miklosich,  Etym, 
wtb.  275),  aus  dem  germanischeu  entlehnt  ist,  wie  Miklosich, 
Denkschr.  d.  Wien.  akad.  XV,  122  annimmt. 

54-.  Nhd.  röhr  ist  seinem  Ursprung  nach  ganz  dunkel  ge- 
blieben. Kluge  vergleicht  lat.  ruscus  'binse'.  Allein  lat.  ruscus 
bedeutet  vielmehr  'mäusedorn'.  Dies  wort  ist  hier  mit  dem 
germ.  z.  b.  mnd.  rusc  'binse'  (woneben  risc)  verwechselt.  Got. 
raus  neutr.  'röhr',  also  wol  stamm  rausa-;  hieraus  entlehnt 
prov.  raus,  demin.  rauzel,  fr.  roseau.  Ahd.  mhd.  rör  n.,  ndl. 
roer,  mnd.  rör.  Altisl.  reijrr  masc,  gen.  reijrar;  dieser  genetiv 
deutet  auf  einen  stamm  rauzi-  hin.  In  neunorweg.  mundarten 
ist  das  wH)rt  fem.  und  neutr.;  im  schwed.  neutr,,  in  schwed. 
mundarten  fem.  und  masc.  Ags.  nur  in  der  ableitung  rifric 
'röh  rieht'. 

Ich  vergleiche  ind.  susir/i-s  'hohl',  das  besonders  oft  vom 
röhre  angewendet  wird;  in  der  späteren  spräche  kann  es  sub- 
stantivisch masc.  'röhr,  banibusrohr'  bezeichnen. 


GERMANISCHE  LÄUTVERSCHIEBUNG.  335 

Mit  ind.  susirä-s  vergleiche  ich  zugleich  das  gr.  arXog. 
Fröhde  hat  aiXdc  gründlich  behandelt  (Bezz.  Beitr.  III,  1  ff.) 
und  nachgewiesen,  dass  die  grundbedeutung  desselben  'höh 
lung'  ist.  In  avkog  ist  das  anlautende  s  spurlos  verschwunden 
wie  in  avaXtog  gegen  ind.  cüska-s  (aus  *suska-s),  lit.  suusas. 
Gr.  avXoq  mit  av  verhält  sich  zum  ind.  susirä-s  mit  u  wie 
aeol.  avcog  zum  ind.  usus,  cwaXtog  zum  ind.  cüska-s,  avS,o')  zum 
ind.  iikmti,  aire  zum  ind.  uta  u.  s.  w.  Der  dem  suffixe  -ra  un- 
mittelbar vorangehende  vocal  in  smirä-s  fehlt  in  avX6q\  so 
verhält  sich  tQvd^Qog  zum  ind.  riidhirä-s,  vgl.  Fick,  Bezz.  Beitr. 
III,  160.  Wie  avXog  gewöhnlich  'blasinstrument'  bedeutet,  so 
hat  ind.  susira-m  in  der  späteren  spräche  dieselbe  bedeutung. 
Wie  das  verwante  spätere  ind.  cusi-s  'höhle,  grübe'  bedeutet, 
so  avXog  u.  a.  'canal,  graben'. 

Dem  ind.  stamme  susird-  entspricht  nach  der  von  mir  ge- 
gebenen regel  genau  ein  urgerm.  ^zauzilä-,  *rat(zUn-.  Dies 
liegt  vor  in  dem  mhd.  rcerl,  wovon  roerloht  'mit  röhren  ver- 
sehen'. Das  prov.  rauzel,  fr.  rosean  hatte  wahrscheinlich  auch 
in  betreff  der  deminutivbildung  ein  germanisches  Vorbild.  Ind. 
su.fi-s  masc.  (nicht  in  den  ältesten  Sprachdenkmälern)  ist  'höh- 
lung  eines  rohrs'.  Dies  erklärt  uns  den  in  altisl.  reyrr  masc. 
gen.  reyrar  vorliegenden  german.  stamm  rauzi-.  Im  urgerm. 
flectierte  man  nach  meiner  Vermutung  instr.  pl.  '■^'rauzimis  aus 
^zauzimis;  auch  in  anderen  formen,  z.  b.  im  gen.  pl.,  lag  der 
hauptton  auf  der  dritten  silbe.  Miid.  7'(cre  berührt  sich  dem 
sinne  nach  nahe  mit  dem  gr.  avlög]  beide  können,  wie  auch 
gr.  atXojv,  'canal,  graben'  bezeichnen. 

Nach  got.  lautregeln  kann  raus  aus  '■•'rauz  entstanden  sein. 
Durch  association  kann  das  s  aus  dem  nom.  acc.  sg.  zum  In- 
laute übertragen  sein:  dat.  rausa  statt  eines  älteren  *rauza. 
Das  got.  raus  ist  darum  wichtig,  weil  es  beweist,  dass  ein 
vorgerm.  anlautendes  .v,  wo  der  hauptton  bei  der  freien  be- 
tonung  auf  der  dritten  silbe  lag,  auch  im  got.  zu  ;•  verschoben 
wurde. 

Ob  man  mit  Osthoff  (Ferfectum  s.  497  f.)  cusi-s,  cusird-s 
für  echtere  formen  als  susi-s,  susirä-s  ansieht,  ist  für  die  hier 
behandelte  frage  gleichgültig,  denn  der  indogerm.  anlaut  ist 
jedenfalls  s. 


336  BUGGE 

Es  ist  möglich,  tlass  mhd.  rcerl  germanische  neubikhmg 
ist  imd  in  betreff  des  snffixes  nur  zufällig  mit  ind.  susirä-s, 
gr.  avlö^  stimmt;  allein  diese  auffassung  hebt  den  Zusammen- 
hang mit  dem  ind.  wortstamme  nicht  auf. 

Die  Wurzel  des  ind.  siisirä-s,  susi-s  'höhluug  eines  rohrs', 
cusi-s  'höhle,  grübe'  ist  wahrscheinlich  dieselbe  wie  die  wurzel 
von  cüsi/afi  'trocknen,  dörren',  cüska-s  'trocken,  dürre'.  Da- 
für sprechen  lit.  saüsas  'trocken',  saus-ledis  'hohl  und  trocken 
liegendes  eis',  saüs-medis  'eigentl.  verdorrter  bäum;  gew.  hohler, 
ausgefaulter  bäum',  saus-wedis  in  Südlit.  'ein  inwendig  ver- 
dorrter (und  wol  auch  hohler)  bäum'. 

Mit  rolw  verbindet  man  gewöhnlich  nhd.  reuse,  mhd.  riuse, 
ahd.  7'usa,  riissa  'geflochtener  behälter  für  fische',  dän.  ruse, 
schwed.  rysja,  norw.  dial.  rusa,  rysu,  rysju.  Allein  es  ist  un- 
sicher, ob  die  grundbedeutung  dieses  worts  'ein  aus  röhren 
verarbeiteter  gegenständ'  ist.  In  einer  westlichen  norw.  mund- 
art  bezeichnet  rusa  'ein  aus  weiden  geflochtener  korb,  worin 
man  heu  wälzt'.  Aus  dem  nord.  worte  entlehnt  ist  russ.  dial. 
rjuza,  rjuza  art  netz  (Miklosich,  Etym.  wtb.  279).  Vielleicht 
ist  nach  der  andeutung  Diefeubachs  (Goth.  wtb.  II,  167)  eine 
combination  möglich  zwischen  ahd.  rüssa  'reuse'  (aus  *rüsjä) 
und  russ.  versa  f.  'reuse',  poln.  wiersza  (entlehnt  lit.  varias) 
Mikl.  Etym.  wtb.  384.  Bereits  im  urindogerm.  kann  unbetontes 
r%  rü  betontem  uer  entsprechen.  Vgl.  z.  b.  ind.  rUpä-m  'äussere 
erscheinung,  färbe,  gestalt,  form'  neben  vürpas  'bild,  gestalt'; 
ind.  rürä-s  'hitzig'  neben  lit.  tvirti  'sieden'.  Siehe  meine  be- 
merkungen  in  Kuhns  zs.  XX,  2 — 5. 

55.  Mhd.  roum  m.  'rahm',  auch  roume\  mnd.  röm,  röme\ 
nl.  room]  ags.  i-eam.  Im  ablaut  dazu  altnorw.  rjömi  m.;  schwed. 
dial.  njmj  f.,  das  altschwed.  *r?/my«  voraussetzt,  vb.  ry?nj  'den 
rahm  abschäumen'.  Das  wort  ist  etymologisch  unerklärt.  Die 
form  erlaubt  es  nicht,  vcrwantschaft  mit  lat.  cremor  anzu- 
nehmen. Nach  der  bedeutung  ist  das  wort  weder  mit  lat. 
ruma,  rummare  noch  mit  apreuss.  raugus  'geronnene  milch', 
lit.  rüugas  ' Sauerteig'  verwant.  Dagegen  verbinde  ich,  um  eine 
kühne  Vermutung  zu  wagen,  roum,  rouriie  'rahm,  das  fette  der 
milch'  mit  lat.  sUmenu.,  der  fette  teil,  woran  sich  die  brüste 
oder  saugwarzen  befinden,  gewöhnlich  bei  Schweinen  saueuter, 
schmeerbauch  (dessen  milch  nicht  ausgesogen  ist),    meton.  von 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  337 

einem  fetten  stück  erdreieb.  sümen  statt  '"^-sügmen  ist  von  sugo 
abgeleitet.  Das  verwante  sums  kann  dicke  feucbtigkeit  be- 
zeicbnen:  sucus  I actis  Pliu. 

Mbd.  7^oum,  roume  setzt  nacb  meiner  Vermutung  eine  vor- 
germ.  Stammform  '^soumdn-  aus  '"^sougmdn-  voraus.  Die  ur- 
sprünglicbe  bedeutung  ist  dann  wol  'was  ausgesogen  wird', 
daber  fette  milcb.  '*soum?n~  wurde  nacb  der  von  mir  ge- 
gebenen regel  im  germ.  ^zounidn-,  '^rourndn'.  Altu.  rjömiy  der 
den  ablautsvoeal  der  betonten  silbe  zeigt,  muss  also  wol  das 
r  einer  verwauten  form,  die  ursprünglicb  den  baupttou  auf  der 
dritten  silbe  trug,  verdanken. 

Die  bier  gegebene  etymologiscbe  deutung  wird  vielleicbt 
durcb  cymr.  hufen  m.  ' Cream'  gestützt.  Cymr.  h  ist  regelrecbt 
aus  s  entstanden  (Zeuss,  Gr.  Celt.-  122  f.),  u  aus  ou  (s.  99.  lOS), 
/aus  m  (s.  114  f.).  In  mebreren  neucymr.  femininen  Wörtern 
erscheint  das  suffix  -fen  aus  -men  (Zeuss  824).  Hiernach  ver- 
mute icb,  dass  cymr.  hufen  aus  '"^'soumen-  entstanden  ist  und 
mit  lat.  siimen,  mbd.  roum  zusammenbängt. 

56.  Nbd.  rock,  mbd.  roc  gen.  rockes,  abd.  rocch.  In  cnt- 
sprecbender  form  und  bedeutung  in  anderen  german,  sprachen; 
im  nordischen  erscheint  das  wort  spät  und  ist  gewiss  aus  dem 
deutschen  entlehnt.  Das  deutsche  wort  gieng  ins  mittellatei- 
nische, romanische  und  noch  andere  sprachen  über.  Etymo- 
logisch ist  es  noch  nicht  erklärt.  Zusammenbang  mit  ksl, 
ruho  'panuus,  onus,  spolia'  ist  abzuweisen  (Miklosich,  Etym. 
wtb.  282). 

Im  ksl.  bezeichnet  suhio  'wollenes  tuch  (zur  kleidung)'. 
Das  wort  findet  sich  in  allen  slav.  sprachen,  z.  b.  poln.  sukno, 
davon  suknia  f.  rock.  Aus  dem  sl.  entlehnt  sind  rumän.  sukne, 
sugne  'weiberrock',  lit,  sukne.  Das  wort  gehört  zu  ksl.  sukati 
'drehen',  cech.  soukati  'spinnen';  suk-  ist  regelmässig  aus  souk- 
entstanden. 

Nacb  der  jetzt  herscheuden  auffassung  der  german.  gemi- 
natae  soll  der  germ.  stamm  rokka-,  rukka-  aus  %-uknö-  ent- 
standen sein.  Wenn  dies  richtig  ist,  darf  man  vielleicbt  im 
anscbluss  an  die  oben  genannten  slav.  Wörter  für  rock  eine 
vorgerm,  form  *sük9n6-s  'der  gesponnene  (rock)'  voraussetzen. 
Davon  vielleicht  german.  *ziuj9n6-s,  *rugdnö-s,  *ruggnö-s,  *rukk- 
nö-s,  '^rukka-s. 


338  BüGGE 

57.  Nhd.  rocken  m.,  mhd.  rocke,  ahd.  roccho;  ndl.  rok, 
rocken,  mittelengl.  rocke,  engl,  rock,  altuord.  rokkr,  estschwed. 
dial.  rukk;  entleliut  fiun.  rukki.  Auch  dies  wort  ist  etymo- 
logisch uneiklärt;  vgl.  Schiader,  llandelsgeschichte  u.  Waren- 
kunde I,  177  f.  Mit  Kluge  vermute  ich,  dass  rock  und  rocken 
unter  einander  verwant  sind.  Vielleicht  darf  daher  rocken  zu 
ksl.  sukali  'drehen',  cech.  souka/i  'spinnen',  lit.  sukk  sukti 
'drehen'  gestellt  werden.  Man  könnte  denn  eine  vorgerm. 
Stammform  '^snken-,  in  anderen  casusformen  '*suk9n—  voraus- 
setzen. Aus  dieser  letzteren  vielleicht  urgerm.  '^-zugBn' ,  '^rug9n~\ 
daraus  *ruggn ' ,  *rukkn '-,  ^rukk ' . 

Jedoch  macht  das  unerklärte  nd.  trocken  hierbei  be- 
denken. 

58.  Nhd.  reichen,  mhd.  reichest  'erreichen,  erlangen,  dar- 
reichen, wonach  langen,  sich  erstrecken,  reichen',  ahd.  reihhen 
'darreichen,  sich  erstrecken',  ags.  riccan  (aus  '■^•raikjan)^  eng. 
lo  reacli  'reichen,  recken'.  Der  bcdeutung  nach  liegt  es  nahe, 
dies  verbum  mit  got.  rakjan  (nur  in  compp.)  'recken'  zu  ver- 
binden. Allein  die  versuche,  diese  combination  lautlich  zu  be- 
gründen (J.  Schmidt,  Vocal.  II,  55  f.;  Möller,  Kuhns  zs.  XXIV, 
453  ff.),  haben  sich  nicht  bestätigt.  Nur  als  eine  frage  nenne 
ich  mit  bedenken  eine  andere  combination.  Sollte  reichen 
zu  lit.  sö'kiu  sii'kti  'langen  (mit  der  band),  reichen'  gehören? 
Denselben  ablautsvocal  wie  reichen  zeigt  lit.  saikszczioti  'nach 
etwas  mehrfach  langen'.  Wurzelformen  mit  k  und  mit  g 
wechseln  oft.  Kurschat  nennt  ein  ihm  selbst  nicht  bekanntes 
s'e'giu  'die  band  ausstrecken'  =  sü'kiu,  und  Nesselmann  hat 
die  form  mit  g  in  der  bedeutung  'schwören'.  Vorgerm.  '*soi- 
geieti  sollte  freilich  regelrecht  im  germ.  '-^saikip,  nicht  raiktp 
werden.  Allein  vielleicht  waren  composita  wie  gereichen,  ags. 
geruTcan^  hereichen  u.  m.  häufig  genug  um  das  r  auch  im 
simplex  durchzuführeu.  Vorgerm,  ^kosoigcieti  sollte  regelrecht 
germ.  garaiktp  werden.  Nach  meiner  regel  entstand  aucli  in 
formen  wie  pf.  pcp.  vorgerm.  '^soigitö-s  germ.  r  aus  vorgerm.  s. 

50.  Got.  riiirs  'vergänglich',  accus,  riurjana,  stamm  riuri-\ 
altisl.  ryrr  'gering,  dünn';  norw.  dial.  nfr  'kurze  zeit  dauernd, 
bald  schwindend'.  Zimmer  (Ostgerm.  u.  westgerm.  Zs.  fda.  XIX, 
450)  und  Fick  III,  255  verbinden  das  wort  mit  lit.  rauli  'aus- 
reissen',  \2ii.rHcre.     Dagegen  erweckt  das  in  bedenken;    auch 


GERMANISCHE  LAUTVERSCHIEBUNG.  339 

der  umstand,  dass  das  wort  'kurze  zeit  dauernd',  nicht  'schwach' 
bedeutet.  Dem  sinne  nach  stimmt  mit  i^iiirs  gut  übereiu  ind. 
syandrä-s  'fahrend,  eilend,  flüchtig,  schnell  vorübergehend'  von 
syändate  'laufen,  fahren'.  Daher  scheint  die  frage  erlaubt,  ob 
riurs  auf  eine  vorgerm.  dreisilbige  grundform  '^sihidri-s  zurück- 
geführt werden  kann.  Dies  scheint  nur  möglich,  wenn  *siundn-s 
vor  dem  eintreten  der  germ.  lautverschiebung  zu  '^siunri-s  ge- 
worden ist.  Die  weiteren  lautänderungen  *zmnri-s,  '^-riunn-s, 
*riüris  scheinen  weniger  bedenklich  zu  sein.  Dass  vorgerm. 
-ndr-  in  protonischer  Stellung  in  -)ir-  übergeht,  wird  nicht 
durch  Winter  und  durch  munter  widerlegt,  auch  nicht  durch 
nhd.  Sinter,  altn.  sindr  aus  sendhro-,  vgl.  ksl.  s^dra.  Ander- 
seits weiss  ich  freilich  den  von  mir  vermuteten  Übergang  nicht 
durch  sichere  beispiele  zu  belegen. 

CHRISTIANIA.  SOPHUS  BUGGE. 


Beiträge  zur  gesohichte  der  deutschen  spräche.     XIII.  23 


EIN  NEUES  BRUCHSTUCK 

DER 

NIEDERRIIEINISCHEN  TUNDALUSDICHTUNG. 

Uie  grosse  Verbreitung  der  Timdaluslegende  im  mittelalter 
geht  sebon  aus  der  so  bedeutenden  zahl  der  handschrifteu  der 
visio  Tnugdali  hervor,  deren  Albr.  Wagner,  Visio  Tnugdali, 
lateinisch  und  altdeutsch,  Erlangen  18S2,  im  ganzen  54  auf- 
zählt. Davon  entfallen  auf  Deutschland  und  Oesterreich  allein 
40,  Ausser  diesen  haben  wir  noch  eine  lateinische  bearbeitung 
in  hexametern  und  zwei  deutsche.  Die  eine  vollständige, 
welche  den  namen  Albers  führt,  weicht  von  der  vorliegenden 
lateinischen  quelle  in  manchen  teilen  nicht  unbedeutend  ab, 
sie  ist  eine  freie  bearbeitung  derselben  und  hält  sich  nur  der 
reihen  folge  der  ereignisse  nach  au  jene,  häufig  ändert  sie  und 
sucht  besonders  das  schreckliche  zu  mildern.  Dagegen  zeigt 
das  zuerst  von  Lachmann  in  den  abhandlungen  der  Berliner 
akademie  1836  herausgegebene  niederrheinische  bruchstiick, 
dass  es  direct  aus  der  visio  übersetzt  ist  mit  beibehaltung  der 
eonstructionen  und  oft  ganzer  lateinischer  stellen.  Die  heraus- 
geber  desselben,  Lachmann  und  zuletzt  Wagner,  haben  beide 
es  schmerzlich  empfunden,  dass  von  dem  gedichte  in  dieser 
fassung  nur  ein  so  geringes  fragment  erhalten  sei,  da  man 
sonst  in  der  läge  sein  würde,  über  die  reimkunst  des  dichters 
weitere  wichtige  aufschlüsse  zu  gewinnen.  Aber  auch  abge- 
sehen davon,  schon  des  hohen  alters  wegen  ist  das  werk 
doppelt  interessant;  fällt  es  ja  nach  allgemeiner  annähme  um 
das  jähr  IIGO,  vor  Eilhard  von  Oberge  und  das  gedieht  vom 
grafen  iiudolf. 

Ich  bin  nun  in  der  läge,  ein  anderes  längeres  bruchstück 
dieses  alten  gedichtes  hier  veröffentlichen  zu  können,  und  das 


BRUCHSTÜCK  DES  NIEDERRHEIN.  TÜNDALUS.  341 

glück  des  Zufalls  ist  um  so  höher  anzuschlagen,  weil  wir  mit 
grösster  Sicherheit  ])eweisen  können,  dass  wirklich  Lachnianus 
fragment  und  das  unten  mitgeteilte  ein  und  derselben  be- 
arbeitung,  ja  noch  mehr,  derselben  handschrift  angehören.  Der 
stärkste  beweis  liegt  wol  darin,  dass  mein  bruchstiick  da  be- 
ginnt, wo  Lachmaun  abbricht,  so  zwar,  dass  erst  das  neue 
fragment  den  fehlenden  reim  bietet  für  Lachmanns  vorletz- 
ten vers. 

Wie  aber  konnte  es  kommen,  dass  zwei  vereinzelte  stücke 
eines  grösseren  gedichtes  in  so  verschiedene  teile  Deutschlands 
verschlagen  wurden?  Wo  war  ursprünglich  das  buch,  welches 
bis  auf  12  selten  vollständig,  vielleicht  für  immer,  verloren 
ist?  Ein  befriedigende  antwort  wird  sich  wol  nicht  geben 
lassen.  Das  von  Lachmann  herausgegebene  fragment  befand 
sich  seiner  zeit  in  der  Sammlung  Meusebachs  und  gelangte 
von  da  in  die  königl.  bibliothek  zu  Berlin.  Sollte  sich  nun 
auf  keine  weise  mehr  feststellen  lassen,  woher  Meusebach  das- 
selbe erhalten?  Das  weiter  unten  veröffentlichte  bruchstück 
fand  sich  in  dem  nachlasse  meines  kürzlich  verstorbenen 
vaters,  des  königl.  gymnasialdirektors  dr.  F.  W.  Grimme.  Auch 
hier  lassen  mich  die  uachforschungeu  vollständig  im  stich,  und 
ich  habe  nicht  einmal  Vermutungen,  wie  es  in  seinen  besitz 
gekommen.  Wir  müssen  uns  daher  der  hoffuung  hingeben, 
dass  sich  irgendwo  noch  ein  weiteres  stück  der  handschrift 
finde,  welches  uns  auf  eine  fahrte  führt.  Die  spräche  der  frag- 
mente  weist  zum  Kiederrhcin  und  dem  gebiete  des  erzbistums 
Köln.  Wo  das  original  sich  aber  auch  ursprünglich  befunden 
haben  mag,  schon  frühzeitig  ist  es  der  Vernichtung  anheim- 
gefallen, wenigstens  haben  die  folgenden  brucb stücke  als  ein- 
band dienen  müssen,  und  zwar  bildeten  sie  die  innenflächen 
eines  buchdeckels,  da  je  zwei  selten  mit  leim  überschniiert 
sind,  und  die  schrift  hier  bedeutend  mehr  gelitten  hat,  als  bei 
den  andern.  Wie  barbarisch  man  ferner  dabei  verfuhr,  kann 
man  daraus  erkennen,  dass  man,  weil  die  blätter  zu  gross 
waren,  einfach  einen  zoll  breit  oben  abschnitt,  wodurch  bei 
dem  einen  zwei  oder  drei  zeilen  abgetrennt  wurden,  während 
bei  dem  andern  nur  der  weisse  rand  fortfiel.  Doch  sind  auch 
diese  stücke  erhalten  und  befinden  sich  in  meinem  besitz. 

Ich  gehe  nun  über  zu  einer  beschreibung  der  bruchstücke, 

23* 


342  GRIMME 

und  wenn  man  die  naclivicliten  dag-cgeu  hält,  welche  Wagner 
im  obengenannten  werke  seite  XL  über  das  Laehmann'sche 
fragment  bietet,  so  wird  auch  hierdurch  ein  jeder  zu  der  Über- 
zeugung kommen  müssen,  dass  sümmtliche  blätter  notwendig 
zu  derselben  handschrift  gehören.  Es  sind  zwei  doppelblütter 
auf  deutschem  pergament  in  gross  oktav,  die  schrift  ist  schön 
gotisch  und,  soweit  sie  nicht  durch  leim  etc.  beschädigt  ist, 
leicht  lesbar  und  dem  äuge  woltuend.  Die  verse  sind  nicht 
abgesetzt,  sondern  durch  punkte  im  allgemeinen  richtig  von 
einander  geschieden;  ausserdem  beginnt  ein  jeder  mit  grossem 
buchstal)en,  welcher  durch  einen  roten  strich  verziert  ist.  Der 
Schreiber  hat  nur  wenige  versehen  sich  zu  schulden  kommen 
lassen,  die  unter  dem  texte  bemerkt  werden  sollen,  er  ist  ziem- 
lich correct,  sogar  die  trennungszeichen  sind  vorhanden.  Die 
handschrift  ist  später  noch  von  derselben  band  einer  correctur 
unterworfen  worden,  Wörter  sind  überschrieben,  rasuren  und 
Verbesserungen  angebracht  etc. 

Die  vier  ersten  selten  haben  je  26  Zeilen  text,  die  fünfte 
25,  die  sechste  und  siebente  je  24  und  die  achte  wider  25, 
wobei  jedesmal  die  abgeschnittenen  reste  mitgezählt  sind. 
Beide  blätter  lagen  ineinander,  und  so  fährt  die  erste  seite 
des  zweiten  blattes  fort,  wo  die  zweite  des  ersten  abbricht, 
ebenso  verhält  es  sich  mit  den  vier  letzten  selten.  Zwischen 
seite  4  und  5  haben  wir  eine  grössere  lücke  und  zwar,  wie 
wir  mit  bestimmtheit  annehmen  können,  von  12  selten;  die 
uns  erhaltenen  lagen  sind  also  die  zwei  äussersten  einer  ab- 
teilung  gewesen.  Lachmanns  fragment  hat  auf  4  selten  ca.  170 
verse  überliefert,  das  meinige  bietet  auf  8  selten  334  verse, 
das  würde  also,  wie  auch  schon  Wagner  ausrechnete,  ca.  680 
verse  für  den  quaternio  ausmachen.  Da  nun  in  der  ersten  ab- 
teilung  der  handschrift,  von  der  Lachmann  anfang  und  ende 
hat,  14  selten  des  lateinischen  textes  der  visio  Tnugdali,  wie 
ihn  Wagner  bietet,  verarbeitet  sind,  und  das  untenstehende 
fragment  incl.  der  fehlenden  lagen  12  selten  text  derselben 
ausgäbe  umfasst,  so  müssen  beide  abschnitte  gleich  gross  ge- 
wesen sein.  Quaternionen,  wie  Wagner,  möchte  ich  nicht  als 
einheit  annehmen;  dann  müssten  die  uns  erhaltenen  fragmente 
merkwürdig  weit  ausgesponnen  sein  gegen  die  fehlenden.  Die 
ersten   vier   selten   meines   bruchstückes  behandeln  im  ganzen 


BRUCHSTÜCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS.  343 

62  Zeilen  des  lateinischen  textes,  die  vier  letzten  59.  Das 
fehlende  stück  in  der  mitte  umfasst  einen  räum  von  195  Zeilen; 
es  müssteu  demnach,  wenn  wir  die  gleiche  breite  der  dar- 
stellung-  annehmen,  3  doppelblätter  =12  Seiten  fehlen,  und 
wir  würden  so  auf  eine  einheit  von  5  doppelblättern  kommen. 
Aehnlich  verhcält  es  sich  mit  dem  bruchstücke  Lachmanns.  Die 
beiden  ersten  seiten  können  nicht  in  betracht  gezogen  werden, 
da  in  der  einleitung  sehr  vieles  gekürzt  ist.  Die  beiden  letzten 
Seiten  aber  umfassen  31  Zeilen  lateinischen  text,  genau  die 
hälfte  eines  ganzen  blattes  von  den  meinigen;  für  die  fehlen- 
den Seiten  bleiben  dann  215  zeilen,  was  auch  mit  obigen  an- 
gaben übereinstimmt.  Wir  können  also  lagen  von  5  doppel- 
blättern als  sicher  annehmen.  —  Lachmanns  fragment  bietet 
ca.  172  verse,  das  meinige  doppelt  so  grosse  334,  auf  ein 
doppelblatt  kämen  demnach  ca.  170  verse;  das  machte  für  je 
eine  der  obigen  abteilungen  850  verse.  Solcher  abschnitte 
lassen  sich  nun,  nach  der  länge  der  lateinischen  visio  zu 
scbliessen,  im  ganzen  vier  annehmen;  die  erste  zu  14  seiten, 
die  zweite  zu  12,  die  dritte  und  vierte  wider  zu  je  14  seiten 
der  Wagner'schen  ausgäbe.  Für  das  ganze  gedieht  würde  sich 
daraus  eine  länge  von  ca.  3400  versen  ergeben,  eine  zahl,  die 
Albers  Tundalus  um  rund  1200  verse  überträfe.  Letztere  be- 
rechnung  weicht  nicht  unerheblich  von  der  Wagners  ab;  der 
gruud  liegt  aber  darin,  dass  er  die  einzelnen  abteilungen  als 
quaternionen,  und  für  das  ganze  gedieht  deren  drei  annahm. 
Er  kam  daher  auf  ungefähr  2000  verse  hinaus. 

Die  untenstehenden  bruchstücke  beginnen  nun  in  dem 
kapitel:  'De  avaris  et  pena  eorum'  da,  wo  Lachmann  abbricht 
(zur  näheren  beleuchtung  habe  ich  das  fragment  mit  abdrucken 
lassen);  sie  bieten  in  180  versen  das  ganze  capitel  bis  auf  die 
letzten  drei  zeilen  des  lateinischen  textes.  Dann  fehlt  ganz: 
'de  pena  furura  et  raptorum',  100  zeilen  lateinischer  text,  ferner 
von  dem  capitel:  'de  pena  glutonum  et  fornicantium'  alles  bis 
auf  den  schluss,  im  ganzen  95  lateinische  textzeilen.  Wider 
erhalten  sind  in  40  versen  der  schluss  dieses  abschuittes,  und 
in  114  versen  der  grösste  teil  des  folgenden  nebst  Überschrift: 
'de  pena  sub  habitu  et  ordine  religionis  fornicantium  etc.',  bis 
auf  die  letzten  35  zeilen  der  Wagner'schen  ausgäbe.  Lach- 
manns  fragmente   miteingeschlossen,    sind  uns  im  ganzen  505 


344  GRIMME 

vei'se  des  deutschen  gedichtes  liberkommeD,  und  diese  anzalil 
gibt  uns  reichliche  gelegenheit,  die  spräche  des  Verfassers 
kennen  zu  lernen.  Aus  verschiedenen  gründen  nehme  ich  vor 
der  hand  abstand,  näher  auf  diese  hier  einzugehen,  und  be- 
gnüge mich  .vorläufig  mit  dem  einfachen  abdrucke  der  hand- 
schrift,  wobei  ich  bemerke,  dass  ich  die  ziemlich  häufigen  liga- 
turen,  besonders  '  für  -er,  aufgelöst  habe,  mit  ausnähme  von 
uü,  um  den  text  lesbarer  zu  machen.  Gleichzeitig  habe  ich 
die  betr.  lateinischen  stücke  der  visio  gegenübergestellt  zur 
näheren  vergleichung. 

Schon  oben  habe  ich  bemerkt,  dass  der  dichter  sich  voll- 
ständig genau  an  seine  vorläge  gehalten  habe;  dies  kann  man 
auch  daraus  ersehen,  dass  er  ganze  ausdrücke  wörtlich  aus 
ihr  herübergenommen  hat,  die  er  aber  sofort  seinen  lesern  ins 
deutsche  überträgt.  Solcher  stellen  führe  ich  hier  an:  Et  sola 
remansit  misera,  vers  83  —  ut  canes  rabidi  88  —  Respondit 
ei  angelus  171  —  Et  oportet  te  precavere  180  —  Et  propterea 
ille  prespiter  192  —  Ductus  est  ad  supplicia  195  —  Quam 
deus  dedit  diligentibus  se  207  —  Et  sie  serpentes  pariebaut 
264  —  Scintilla  pietatis  308. 

Wagner  a.  a.  o.  XXVI  macht  schon  darauf  aufmerksam, 
dass  eine  grosse  anzahl  stellen  in  der  lateinischen  visio  wört- 
lich oder  doch  ziemlich  genau  aus  der  vulgata  übernommen 
sind,  und  zählt  mehrere  derselben  auf.  Da  der  deutsche  Über- 
setzer seiner  quelle  ganz  getreu  gefolgt  ist,  so  bringt  er  natür- 
lich auch  diese  in  wörtlicher  Übertragung.  Ich  führe  dieselben, 
soweit  sie  unser  fragment  betreffen,  kurz  an.  —  Job.  40,  18: 
Absorbebit  fluvium  et  non  mirabitur  et  habet  fiduciam,  quod 
influat  Jordanis  in  os  eins   cf.  vers  43  ff.: 

Div  srift  uns  uon  ime  kund  diit, 
Iz  sole  uirslinde  groze  vlut, 
Vö  in  sal  iz  ken  wnder  han, 
Ob  in  sinen  mimd  vlize  der  iordan. 

Vgl.  auch  Apocal.  12,  15:  Et  misit  scrpens  ex  ore  suo  post 
mulierem  aquam  tamquam  flumen,  ut  eam  faceret  trahi  a 
flumine.^  Zu  vers  111 — 113  cf.  Apoc.  13,  2:  Et  bestia,  quam 
vidi,  similis  erat  pardo,  et  pedes  eins  sicut  ursi,  et  os  eius 
sicut  os  leonis.     Et  dedit  illi  draco  virtutem  suam  et  potesta- 


BRUCHSTÜCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS.  345 

tem  magnam.  —  Psalm  115,  12:  Quid  letiibuam  domino  pro 
Omnibus,  quae  retribuit  mihi   vgl.  mit  vers  163: 

Waz  sal  ich  nu  al  laiu  leiben 

Vnseme  heiTcn  wider  gebiu, 

Des  her  mir  had  getan  al  hi? 

Mattli.  16,  27:    et   tunc   reddet  unicuique   secuudum   opus  eius 

—  cf.  Eom.  2,  6:   qui   reddet   unicuique   secundum   oi)era   eius 

—  cf.  Apocal.  2,  23:  et  dabo  unicuique  vestrum  secundum 
opcra  vestra  —  cf.  Job.  34,  11:  Opus  enim  hominis  reddet  ei 
et  iuxta  vias  singulorum  restituet  eis    vgl.  mit  v.  177: 

Einin  igelicheu  sal  er  geleiden 
Nach  sinen  wirdekeiden. 

Das  gleiche  citat  findet  sich  auch  visio  12,  6  und  25,  21  der 
Wagnerschcn  ausgäbe.  Jac.  1,12:  Beatus  vir,  qui  suffert  tcmp- 
tationem,  quia  cum  probatus  fuerit,  accipiet  coronam  vitae, 
quam  repromisit  deus  diligentibus  se;   cf.  v.  203: 

Sin  ende  ist  gud  uü  gereht, 

Dar  umbe  ist  ime  gegebin  zu  lone 

Du  eweclihe  himel  crone; 

Di  hat  er  inphangin  immer  me, 

Quam  deus  dedit  diligentibus  se. 

Vergleiche  auch  Apocal.  9,  10:  Et  habebaut  caudas  similes 
scorpionum,  et  aculei  in  caudis  eorum,  mit  vers  284: 

Ire  zegele.  di  si  bit  in  brachtin, 

Hadden  manegcn  colben  behahten. 

Endlich  noch  Apocal.  9,  19:  nam  caudae  eorum  similes  serpen- 
tibus,  mit  vers  332: 

Si  geglichedin  den  slangen. 

Die  fragmente  selbst  haben  nun  folgenden  Wortlaut: 

Lachmauu  v.  125 — 172. 

[Von  der  giren  luder  ])ine.  De  avaris  etpena  eorum. 

Et  recedente  angelo  Precedente  autem  angelo 

Bit  dem  engele  si  hiue  zo  profecti  sunt  per 

An  einen  wec  lang  uFi  smal,  longam  ac  tortuosam 

Vnreine  was  er  ober  al.  et  valde  difficilem  viam. 

Zu  grozer  arbeidc  Cumque  multum  laborarent 

Was  div  selbe  reise,  et  tenebrosum  iter  agerent, 

Der  uertdc  si  s^crc  uirdroz.  nou  luuge  ab  eis  vidit 


346 


GRIMME 


Ein  dir  unmezclig-e  groz 

Gesah  si  da  uii  ward  iz  gewaie, 

Iz  was  eislichen  vaie, 

Siner  groze  einglicbe. 

Daz  duhte  si-  werlihe 

Merre  im  breider  da  iz  lach, 

Dan  alle  di  berge,  di  si  ie  gesach. 

Sin  owgen  waren  uurich, 

Sin  gesihte  gruelich. 

Sin  munt  stunt  alle  cit 

Oöenen  uii  vil  wit: 

Daz  si  des  wole  beduhte, 

Daz  iz  bit  einer  aden  zuhte 

Zein  dusiut  wol  verslimde 

Gewappender  lüde;    wanne   so  iz 

beg'unde, 
Zwene  riseu  stränge 
Stunden  in  grozem  getwauge 
In  sime  munde  innen  weudic. 
Di  hadde  uf  gerihtit  sich, 
Alse  si  da  wereu  uaste  gemerit, 
Si  waren  beide  uirkerit. 
Den  einen  sah  si  sin  howbet  wenden 
An  des  dires  oberste  cene 
Vn  di  uuze  keren  nider. 

Des  anderen  uuze  stunden  wider 

Zu  dem  howbete  wert  gekeret. 

Des  wart  div  sele  irveret, 

Do  si  daz  höbet  des  strängen 

Saeh  nider  wert  hangen. 

Zu  den  understen  cenen, 

In  deme  munde  an  zwen  enden 

Stunden  di  risen  beide 

Underscheiden, 

Alse  zwa  sule  starc  uzer  mazen. 

Dri  porten  inde  dri  strazen 


bestiam    magnitudine    incre- 

dibilem   et  horrore  intolera- 

bilem. 

Que  bestia  pre  sue  enormitate 

magnitudinis  precellebat 

omnes,  quos  unquam  viderat 

ipse,  montes. 

Oculi  vero  eins  ignitia 

assimilabantur  collibus, 

Os  vero  eius  valde  patens 

erat  et  apertum, 

quod,  ut  sibi  videbatur, 

capere  poterat 

novem  milia  hominum 

arinatoruiri. 

Habebat  auteiu  duos 
iu  ore  suo  parasitos 

et  versis  capitibua  valde 
incompositos. 

Uuus  euiru  illoriim  habebat 
Caput  sursuin  ad  dentes  su- 
periores  prefate  bestie  et 
pedes  deorsum  ad  inferiores, 
alius  vero  versa  vice  caput 
deorsum  et  pedes  ad  dentes 
superiores  habebat  sursum. 


Erant    sie    quasi    columpne 

in  ore 

eius,    qui   idera  os  in  simili- 

tudinem 


BRUCHSTUCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS. 


347 


GiDgen  uzer  des  dieres  munde. 
Also  iz  den  aden  lazen  solde. 
So  wloch  druz  di  flamme  groz: 

In  drw  ende  si  biue  schoz. 

Durch  die  flamme  man  dikke  twauc 
Di  seien  suuder 1 


trium  portaium  dividebant. 

Flamiua  etiain  inextinguibilis 

ex  ore  eius  eructuabaf,  que 

in  tres 

partes  per  illas  tres   portas 

dividi  solebat, 

et  contra  ipsam  flammam 

anime  cogebantur 


ireu  danc 
In  zugene  daz  abysse, 
Liden  ir  vertumuisse. 
Der  rown  uii  unrene  staue 
Vil  dicke  uz  sime  munde  dranc. 
Bit  ludere  grimmer  stimmeu 
Soch  ieder  man  da  inue  grimmen 
Di  seien  zu  vil  maueger  stund 
Vzzer  dem  buche  durch  den  mund, 
Diz  in  was  dechen  wnder, 
So  da  inne  vü  och  da  under 
Mauich  dusint  werkle  lagen 

In  des  duuelis  buche  plagen. 

Vor  sime  munde 

Der  duuele  vile  waren, 

Di  di  sele  twngen  uz  un  in; 

Ir  in  were  ie  me, 

Ir  in  was  nit  min. 

Ei  wi  lüde  sruen  di  zungen, 

Do  si  wrden  betwngeu 

Mit  grozen  sleigen  maneche  stuud, 

Daz  si  quemen  in  den  mund. 

Da  tundales  sele  do  gesach 

Dit  uresliche  ungemah 


intrare  dampuande. 


Fetor  quoque  iucomparabilis 
5    ex  ore  eius  exiebat. 

Set  et  planctus  et  iilulatus 

multitudinis 

de  ventre  eius 

per  idem  os  audiebätur, 
10    uec  miruu], 

cum  intus  essent 

multa  milia   viroruui   ac  mu- 

lierum 

dira  tormenta  lucütium. 

Ante  cuius  os 
15    erat  etiam  inmundorum  spiri- 

tuum  miiltitudo,  qui  animas 

intrare  cogebant. 


Set  antequam  iutrarent, 
nuiltis  et  diversis  eas  verbe- 
ribus  et  plagis  affligebant. 
Cumque  diu  vidisset  anima 
tarn  horribile  et  metuendum 


2  zugene  sehr  verwischt  und  nicht  genau  zu  entzififern.  —  7  ieder, 
das  erste  e  ist  zerfressen,  ebenso  8  das  n  in  maneger,  11  das  d  in  under 
und  13  das  h  in  buche.  —  15  wäre.  Vor  dem  w  ist  eine  rasur;  es 
scheint,  dass  dort  ein  z  stand. 


348 


GRIMME 


Vzer  den  drin  porteu,  25 

Vau  der  grozer  voihten 
Solde  si  vil  nah  begeben  sich; 
Ir  rowe  der  was  grozlich. 
Weinende  si  zume  engele  sprach: 
Direr  qualin  ungemacb,  30 

Daz  ich  bi  also  grozlich  sin, 
Solin  si  dich  shuen  uu  vlin, 
War  umbe  geistu  in  so  na? 
Der  engel  antwirtte  al  da: 

Vnse  vart  sal  anderes  sin  getan,   35 
Wir  solin  in  noch  narre  stan. 
Si  muzzen  uz  irweilid  wesen, 
Di  hi  uore  solen  genesen. 

Dit  dir  ist  acheron  genant; 

Ich  sal  dir  sagen  al  zu  bant  40 

Vil  rebte  daz  getude: 

Iz  werslindet  alle  gire  lüde. 

Div  srift  uns  uon  ime  kund  dut, 

Iz  sole  uirslinde  groze  vlut, 

Vii  in  sal  iz  ken  wnder  bau,  45 

Ob  in  sinen  mund  vlize  der  iordan. 
Noch  wil  ich  dich  machen  wis: 
Dise  zwene  man,  di  du  bi  sis 

In  sinen  munde  verkeren  sich, 

Daz  waren  zwene  risen  vreslich;   5u 

Di  in  hadden  in  irme  lebene 
Nit  gelebet  so  eweliche, 
Alse  hadde  bcde  di  gine, 


spectaculum, 

deficiens  pre  nimio  terrore 

simul  et  timore 

Spiritus 

flebili  voce  dixit  ad  aiigelura : 

Heu,  lieu,  domine  mi, 

non  te  latent  ista,  que  video, 

et  quare  eis  appropinquas? 
Angelas    autera    respondens 
dixit: 

Iter  nostrum  aliter  explere 
non  possumus,  nisi  huic  tur- 
meuto  proprius  assistamus; 
non  enim  hoc  tormentum  nisi 
electi  devitare  valebunt. 
Ista  enim  bestia  vocatiir 
Acherons, 


que  devorat  omnes  avaros. 

De  hac  bestia  scriptura   lo- 

quitur: 

Absorbebit  fluvium 

et    non    mirabitur    et    habet 

tiduciain, 

quod   iufluat  Jordanis  in  os 

eins. 

Hi  vero  viri,  qui  inter  dentes 

et  in 

ore     eius    apparent    contra- 

positi, 

gigantcs  sunt  et  suis  tempo- 

ribus 

in  secta  ipsorum 

tarn    fideles,    sicut   ipsi   non 

suut  inventi, 


45  un  in  sal  iz  ken  rasur  und  nur  mit  mühe  zu  entziffern. 


BRUCHSTÜCK  DES  NIEDEKRHEIN.  TUNDALÜS. 


349 


Di  nu  g-euaren  sin  hine, 

Der  namen  du  wola  hast  bel^aut.   55 

Der  eine  ist  ferrugius  genant, 

Der  ander  hezzit  sonalius. 

Div  sele  antwirtte  ime  alsus: 

Wi  sere  ich  des  bewegit  bin, 

Daz  dise  hadde  so  guden  sin,        go 

Daz  ruwen  ire  sunden, 

Vü  du  in  des  gist  Urkunde, 

Vü  si  dirren  pinen  sint  benomeu, 

Herre  min,  wi  ist  dit  komen, 

Daz  dise  andere  zwene  gigande     65 

Stent  in  disses  dieris  banden 

Vii  verkerit  in  sime  munde? 

Der  engel  antwertten  begonde: 

Dise  piue  uü  dise  quäle 

Des  inhat  mich  decheine  bele;        70 

AI  ein  dunket  si  dich  groz  bi  sbinen, 

Du  kumes  noch  zu  merreu  pinen, 

Di  du  Salt  sin  uii  sint  bekaut, 
E  du  wider  werdes  gewaut. 
Er  ne  gesprach  dit  ni  so  sire,        75 
So  ginc  er  naher  deme  dire. 

Di  sele  al  eu  dede  si  iz  uode  da, 

Si  must  ime  uolgen  nah, 

Ire  was  vil  sere  leide. 

Alse  si  da  stunden  beide  so 

Vor  deme  dire  engestlich, 

Der  engel  intlichede  sich. 

Et  sola  remansit  misera 

Inda  si  arme  beleb  al  eine  da. 

Di  tuuele,  di  der  wizen  plagen,      S5 

Do  si  div  sele  alene  sagen, 

Si  uureu  umbe  si, 


quorum  nomiua  tu  beue  uosti. 

Vocantiir  euim  Fergusius 

et  Conallus. 

Ad  quem  aniiua: 

Heu,  domine,  hoc  me  movet, 

quod,  cum  tu  eos  in  sua  secta 

fides  asseris, 

cur  eos  dominus  lalibus 

diguos  iudicet  plagis. 


Ad  quem  angelus: 

Ista  omnia,  inquit,  que  adhuc 

vidisti,  penarum  genera  licet 

sint  magna, 

antequam    revertaris    videre 

poteris 

multo  maiora. 

Et  cum  hec  dixisset, 

accedens    propius   antecede- 

bat  eam  et 

stetit    ante    bestiam,    anima 

vero, 

licet  noleus,  sequebatur  cum; 

Cumque  simul  starent 
ante  bestiam, 
angelus  disparuit 
et  misera  sola  remansit. 

Demones  autem, 

cum  eam  ceruerent  desolatam, 

conveniunt  miseram 


76  tlire.  —  87  und  bs  in  der  handscbrift  als  ein  vers. 


350 


GRIMME 


Ut  canes  rabidi; 

Alse  di  dobende  liunde 

Zügen  si  si  zu  des  dires  munde 

In  den  buch  bit  grozen  siegen, 

So  si  meist  mohten  . .  wigen. 

Wilcbe  pine,  wie  grozen  strit 

Si  da  liden  in  corz  cit, 

AI  ein  si  iz  wole  uersuigen  mohte. 

Ein  wis  man,  der  id  dohte, 

Er  mohte  iz  wole  bit  sinen  wizzen 

Han  irkant  an  sime  antlizze, 

Do  di  sele  wider  quam. 

Idoeh  als  iz  manecliez  da  uiruam 

An  der  widerkere,  da  er  lac, 

Di  selbe  wort,  di  er  da  sprab, 

Alcin  in  können  wi  si  nit  alle  ge- 

sriben ; 
Iz  iusal  doch  so  nit  uerliben, 
Daz  wir  die  materie  uertragen, 
Wir  in  solin  ein  wenic  trabe  sagen 
Vn  künden,  so  uile  is  weseu  niak, 
Von  manegin  dingen,  di  er  da  sach. 
Gepinet  wart  di  sela  da 
Von   hundeu,    di  ire  volgeten  nah, 
Beide  lewen  un  beren, 
Di  waren  ire  in  grozer  gereu, 
Natren  uü  slangen 
Hatten  si  umbeuangen; 
Si  leit  von  diren  manege  quäle, 
Der  si  inwiste  decheine  zale. 
Noch  der  si  decheiz  inkande. 
Manech  dir  si  ane  rande. 
An  der  selben  stunden  si  leid 
Manegis  dires  grimmekeit, 
Der  duuele  siege,  wres  izze; 


ut  canes  rabidi 

90  secuinque  pertrahunt 

in  ventrem  bestie  flagellatam. 

Qualia  autem  vel  quanta  ibi 
tonnen ta  passa  fuerit, 

95  etiam  si  ipsa  taceret, 

in  colore  vultus  et  conversione 
morum  facillime  cognoscere 
poterit,   quisquis  sapiens  no- 
tare  voluerit. 

lOU 

Et  qviia  brevitati  studerc  de- 

bemus, 

non  cuncta,    qua  audivimus, 

scribere 

valemus.    Et  tarnen, 
105  ne  ipsam  materiam  videamur 

negligere,  pauca  de  niultis 

ad  edificationem  legentium 

vohimus  recitare. 

Passa  est  enim  ibidem 
1 1  ()  canuin, 

ursorum,  leonum, 

serpentium 

115  seu  innumerabilium 
aliorum  incognitorum 
monstruosorum  animalium 
t'erocitatem, 


120 


demouum  ictus,ardorem  ignia, 


92  moliten   bis   95   mohte  auf  dem   abgetrennten   stücke.   —   97  iz 
nicht  zu  entziffern. 


BRUCHSTUCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS. 


351 


Da  in  half  sin  noch  wizze. 

Der  gTOzer  siege  bitterclieit, 

Vs  des  svebeles  unrcinekeit, 

Daz  uinsternisse  der  owgen  125 

Muste  si  da  logen; 

Vlizende  biruende  trene 

In  waren  ire  nit  seltsene 

Noch  tuffene  uf  gebufet. 

Si  was  sere  gesowfit  130 

In  des  grozen  wres  flamen. 

Da  sach  si  aeue  grisgrammen 

Dise  uü  andere  mane  pineu, 

Di  si  da  sach  wolleclihe  irschineu. 

Wi  mohte  si  sich  des  iusageu,        135 

Si  in  muste  weinen  vu  clagen 

Daz  groz  ungemab? 

Durch   den   missetrost,    der   ir  da 

geschah, 
So  zerriz  si  ire  wangen, 
Bit  sorgen  was  si  beuaugeu,  140 

Bit  vil  grozer  ungedult. 
Alse  si  da  bekaude  ire  solt, 
Daz  si  wirdik  was  zen  ewen, 
Ze  wonene  under  den  lewen, 

Vii  si  virdinet  al  ir  leiben,  145 

Daz  si  den  pinen  was  gegeben, 
Si  in  wiste  doch,  wan  abe  iz  quam, 
Daz  ir  pine  da  ende  nam; 

Vü  sach  den  selben  engel  bi  ir  stan, 
Der  ire  e  was  abe  gegau.  150 

Sere  si  sich  vrowede  do; 


asperitatem  frigoris 
fetorem  snlphuris, 
caliginem  oculorum, 

flexus  lacrimarmn  ardentiiim, 
copiam  tribulatiomim 
et  Stridoren!  dentium. 


His  et  similibns  ibi  compertis, 

quid  aliud  misera, 

nisi  seiuet  ipsam  de 

preteritis  accusare 

et  proprias  geuas 

pre  nimia  tristitia 

et  desperatione 

poterit  lacerare? 


Cumque  misera  reatum  suum 
cognosceret,  et  eternum  pro 
suis  meritis  se  pati  suppli- 
cium pertimesceret. 


nescia,  qua  ordine  exierat, 

se    extra  [bestiam  esse   sen- 

tiebat. 

Et  ecce,  cum  longius  iaceret 

debilis,  aperiens  oculos  prope 

se  vidit  illum,  qui  eam  ante 

precedebat,  spiritum  lucis. 


124  svebeles.  Das  v  ist  überschrieben.  —  125  und  126  in  der  hand- 
schrift  ein  vers.  —  128  ire  über  der  zeile  nachgetragen.  —  139  so  bis 
142  beiiande  auf  dem  abschnitt.  —  147  in  überschrieben.  —  149  vor  den 
rasur  eines  buchstabeus. 


352 


GRIMME 


Denie  engele  sprali  si  aber  7a\: 

0  du  eineg-e  hoffuuge  min, 

Lutere  (lau  ein  suuueu  schin! 

Min  einik  trpst  mines  vuweu,  155 

Du  mir  von  gode  bis  virluwcu! 

0  du  miner  owgen  liht, 

Wi  was  mir  bit  dir  gesit 

Daz  du  mir  were  gestanden  ab? 

Du  bist  gelede  uü  stab  iüü 

Miner  armen  unselicheide; 

Durh  waz  lizze  du  mich  von  dime 

geleide? 
Waz  sal  ich  nu  al  miu  leiben 
Vnseme  herren  wider  gebiu, 
Des  her  mir  had  getan  al  hi?        icö 
In  hedde  mir  unse  herre  nie 
Me  gud  usgetan  in  allen  enden, 
Dan    daz    er    dich    mir    ze    tröste 

wolde  sendin 
Daz   ich    wrder    inkuude    nit    ge- 

waukeu, 
Wi  mohtc  ich  ime  des  gedanken?  ito 

Respoudit  ei  anglus 

Der  engel  autwirte  irc  alsus: 

Also   du   zu   erst   si)rehc,    also  ist 

iz  noch, 
Daz  Salt  du  baz  geuresin  noch, 
Daz  godes  genade  merer  ist,  itö 

Dan  dine  missedat  si. 
Einin  igelichen  sal  er  gcleiden 
Nach  sinen  wirdckeiden; 
Dar  umbc  ist  iz,  als  ich  gasete  e; 


Tuncillagaudens,  licet  afflicta 
multum,  dixit  ad  aiigelum: 
0  luea  spes  imica, 

0  solatium  mihi  indebitum 

a  doiuino  concessiim, 

o  lumen  oculorum  meorum 


et  baculus 

mee  miseric  et  calamitatis, 

ut  quid  rac  luiscrara  deserere 

voluistiV 

Quid  autem  ego  misera 

retribuatn  domino  pro 

Omnibus,  qua  retribuit  mihi? 

Qui  si  nuuquam  fecisset 

mihi  aliquid  boni, 

Tiisi   qnod    tc  misit  in  occnr- 

sum  mihi, 


(juas    ei    digue    retribuerem 

gratias? 

Respondit  ei  angelus: 

Sicut  tu  in  priinis  dixeras, 

sie  esse  scias, 

malor  est  divina  raisericordia, 

(juam  iniquitas  tua. 

Ipse  quidem  reddet  unicuiiiue 

secundura  opus  suum  et  me- 

ritum,  set  tarnen  unumquera- 

que  de  suo  fine  iudicabit. 


U;i   gudus  im   original.   —    KiS   send'n,   —    177  Ein  mit  rasur  von 
zwei  buchatabcn  dahinter,  nur  mit  mühe  zu  lesen. 


BRÜCHSTÜCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS. 


353 


Et  oportet  te  precavere, 
Sich  wi  du  wibaz  daz  — 


innent  . .  danne  g-rozen  zorn, 

Daz  si  di  geiiade  haut  veiloin. 
Dit  leit  si  god  durh  daz  besovveü, 
Daz  haben  deste  menin  rowen,      i85 
Also  si  bit  pinen  werdint  gequält, 
Wände  si  di  vrowde  manicualt 
Verlorin  haut  imer  me. 


Decheine  pinc  in  ist  so  swere, 
So  daz  gesheidit  ist  uon  godc 
Vu  siner  cngele  gebode. 


i9() 


IOl 


Et  propterea  ille  prespiter, 

Den  du  segis  cunieu  her, 

lüde  seist  her  uure  cumen  dn, 

Ductus  est  ad  supplieia. 

Zu  den  pinen  ist  er  geleidit, 

Di  sin  lange  haut  gebeidit, 

Di  muz  er  beshowen  da  innc, 

Vfle  daz  er  geware  minnc 

Zu  gode  me  drage  uü  habe  in  IIb,  200 


Qua  propter,  ut  ante  dixi, 

oportet  te  precavere 

ne,   (cum  fueris  tue  potesta- 

tis,  iterum  ista  merearis.    Et 

hoc  diclo  subiunxit:   Trans 

eamus  ad  ea,   que  ante  nos 

sunt,  supplieia.) 

(De   pena   glutonum   et  for- 

nicantium)  — 

. . . .   sie   e   contrario  anime 

peccatorum,  que  digne  eternis 

suppliciis    iudicantur,    prius 

ad  sanctorum  gloriam  perdu- 

cuntur,  ut  visis  premiis,  que 

sponte  deseruerant,    cum  ad 

penas  venerint,magi9  doleant, 

et  ipsam  gloriam,  quam  ante 

potuissent  acquirere,    in  me- 

moriam  revocent  ad  augmen- 

tationem  pene. 

Nullum  enim  est  tam  grave 

supi)licium,  sicut  sequestra- 

tum  esse  a  consortio  divinc 

majestatis  et  sanctorum  ange- 

lorum. 

Et  propterea  ille  prcsbiter, 

quem  primum  pontem  sccure 

transire  videbas, 

ductus  est  ad  supplieia, 


ut  visis  penis 

ardentius  arderet  in  amorem 

illius, 


182  bis  18G  pinen  auf  dem  abschnitt.  182  nach  innent  ein  wort 
von  2  buclistabeu  durch  einen  einschnitt  bis  auf  ganz  geringe  reste  des 
letzten  vollständig  vernichtet,  zoru  über  der  zeile  von  gleicher  band 
nachgetragen.  —  198  er  von  der  selben  band  überschrieben.  —  200  gode. 
go-  vüUstiindlg  verschwunden  und  nur  nach  dem  sinne  ergänzt. 


354  GRIMME 

Der  ime  zu  der  eugelle  g-lorien  rif.        qui  eum  vocavit  ad  gloriam. 

Er  ist  der  getruwe  dinist  kenet,  Fidelis  namque  scrvus 

Sin  ende  ist  gud  un  gerebt,  inventus  est  et  prndens 

Dar  urabe  ist  ime  gegebin  zu  lone       et  ideo  accipiet 

Du  eweclihe  himel  crone;  205  coronam  vitae, 

Di  bat  er  inpbangin  immer  me, 

Quam  deus  dedit  diligeutibus  se  quam    repromisit   deus   dili- 

gentibus  se. 
Di  god  den  ginen  bat  gegebin, 
Di  in  geminnet  bant  al  ir  leben 
Bit  guden  werken  nabt  un  tac.      210 

Nab  disen  worten  der  engel  sprab:        Et  post  hec  verba  dixlt: 
Wir  in  ban  uob  nit  al  gesin  Quoniam  nondum  omnia 

Daz  übel,  daz  wir  solen  sin;  mala  vidimus, 

Iz   sal   dir  uromen,   alse  wir  dare        proderittibi,utadeavidenda, 

komen, 
Du  gesist  da.    des  wir  nob  nit  in  215  que  nondum  vidimus,  prope- 

ban  vernomen.  remus. 

Dw  sele  sprab:  dit  muz  icb  dolin,        Tunc  anima:  si,  inquit, 
Obe  wir  docb  ber  widere  solen  komen        postmodum  redire  debemus 
Zu  decbeinen  genadin  wider,  ad  gloriam, 

So  uure  mieb  zu  pinen  nider 

Vn  la  mieb  da  liden,  daz  icb  kan,220  rogo  ut  quantocius  me  pre- 
Vfie  daz  icb  zu  genadin  kume  dan.        cedas  ad  penam. 

Von  den  di  in  gestlicbeme  De  pena  sub  habitu  et 

leibene  uuciuse.  ordine  religiouis  forni- 

cantium  vel  quaeunque 

conditione  immoderate 

se  coin  quinantium. 

Bit  deme  engele  diw  sele  bine  zo,        Precedente  igitur  angele 

202  kenet  auf  einer  rasur  nachgetragen.  —  211  vor  Nah  rasur  eines 
einzelnen  buchstabens.  —  220  liden  bis  zum  ende  der  Überschrift  des 
folgenden  kapitels  auf  dem  abschnitt.  Letztere,  mit  roter  färbe  gemalt, 
ist  sehr  beschädigt  und  nur  event.  richtig  mit  hülfe  des  lat.  textes  zu 
entziffern.  Am  schluss  befindet  sich  eine  verschnürkclung,  aus  der  gar 
nichts  mehr  heraus  zu  lesen  ist;  ob  sie  etc.  bedeutet  ist  fraglich,  doch 
wol  anzunehmen,  da  die  lat.  Überschrift  nicht  vollständig  widerge- 
geben ist. 


BRUCHSTÜCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS.  355 

Beide  ruwin  ....  unuro; 

Da  sahen  si  ein  dir  eslich  viderunt  bestiam 

Den  anderin  allen  ungelicb,  225  omnibus,  quas  ante  viderant, 

Di  si  da  vorin  irkaude  e.  bestiis  valde  dissimilem, 

Daz  cumberliche  vie 

Hatte  zweue  uuze  lauge  duos  pedes 

Vnde  vlugele  stränge  et  duas  alas  habentem, 

Den  hals  lane  ufi  breit,  230  longissimum  quoque  collum 

Sin  snabel  iserin  stach  uü  sueit.  et  rostrum  ferreum, 

Sine  nagele  an  uuzen  uü  benden         ungulas  etiam 

Waren  iserin  an  allen  endin;  habebat  ferreas, 

Di  ulamme  sof  er  in  den  munt  per  cuius  os  flamma 

Vn  blis  si  wider   uz  groz  zu  aller  235  eructuabat  inextinguibilis. 

stund. 
Vf  eimme  wazzere  saz  iz  gespreit,        Que    bestia    sedebat    super 

stagnuin 
Daz  was  ein  is  beuroren  breit.  glacie  condensum. 

Daz  selbe  dir  in  sich  virslant  Devorabat  autem  bestia 

Alle  di  ^tlen,  cli  iz  uant,  quascunque  invenire  poterat 

animas, 
Alse  si  ze  nide  virdouwet  waren   240 

In  sinen  buche  bit  grozer  plagen.        et  dum  in  ventre  eius  per 
Ofte  daz  ys  iz  si  gebar,  suppliciaredigerenturadnihi- 

Da  wrden  si  piuen  gar;  lum,  pariebat  eas  in  stagnum 

glacie  coagulatum, 
Da  musten  si  sich  irnuwen  ibique  renovabantur 

Wider  zu  quälen  bit  grozeme  ruwen.  245  iterum  ad  tormentum. 
Di  seien  der  manne  uü  och  der  wibe        Impregnabantur  vero  omnes 
(jebarin  an  irme  libe  anime  tarn  virorum  quam  mu- 

Vü  genasen  des  na  irre  wise  lierum,   que  descendebant  in 

stagnum,  et  ita  gravide 
In  deme  wazzere  uü  in  dem  ise  ^)restolabantnr  tempus, 

Zu  iren  ziden  bit  grozen  sweren.   250  quod   eius    conveniebat    ad 

partum. 

223  vor  unuro  ist  ein  wort  vollständig  verschwunden  und  nicht 
wider  herzustellen,  wie  überhaupt  die  ganze  Seite  bis  vers  257  sehr  ge- 
litten hat.  —  239  -ien,  di  iz  im  original  ganz  verschwunden  und  nur 
dem  sinne  nach  ergänzt.  —  242  si  von  gleicher  band  überschrieben.  — 
250  das  z  in  grozen  über  der  zeile. 

Beiträge  zur  geachichte  der  deutschen  spräche.    XIII.  24 


356 


GRIMME 


Nu  sold  ir  wizen,  waz  si  geberin. 
Bit  Daterin  un  bit  slangen 
Waren  si  innen  beuangen; 

Vil  haitte  si.  di  bizzen, 
Ir  inedere  si  in  zurizzen.  255 

In  deme  wewin  di  armen  uurin 
Vf  un  nidere  mit  grozer  ruren, 
In  deme  mere  ineonden  si  nit  ge- 

grundin 
In  des  dodis  isis  unden. 
Alse  danne  quam  des  geberes  cit,  200 
So  wart  daz  gesreie  un  der  strit 
Also  bitterliche  hart, 
Daz  di  helle  alle  iruullit  wart; 
Et  sie  serpentes  pariebant 
Di  slangen  gewnnen  si  al  zu  baut.  2t)5 
Di  wib  gebaren  nit  al  eine, 
Wene  di  man  al  gemene. 
Allen  talben  riber  den  lib 
Gebaren  man  uü  wib, 
Nit  an  der  stede,  des  sit  gewis,     270 
Di  dar  zu  getermit  ist, 
Wene  durh  alle  ire  lide  gelieh, 
So  gebar  ir  igelich. 
Brust  uü  arme  si  durchstachen, 
In  allen  talben  si  uz  brachen.        275 
Di  selbe  dir,  der  si  genasen, 
Rungen  zu  haut  nah  iren  äsen. 
Ires  ezzenis  waren  si  in  uaren, 
Ire   howbet  gluende  yserin  waren, 
Ire  snebele,  daz  sold  ir  wizzen,      280 
Da  mide  si  di  lihamen  zu  rizzen, 
Alse  si  uz  gigen  in  allen  talben. 


Intus  vero  mordebantur  in 
visceribus  more  viperino  a 
prole  concepta, 


sicque  vegetabantur  misere  in 
unda  fetida  maris  mortui 
glacie  coDcreta, 


Cumque  tempus  esset,  ut  pa- 
rerent,  clamantes  replebant 

inferos  ululatibus, 

et  sie  serpentes  pariebant. 

Pariebant,    dico,   non    solum 
femine,  set  et  viri, 


non  tantum  per  ipsa  membra, 
que  natura  constituit  tali  of- 
ficio convenientia,  verum  per 
brachia  simul  et  per  pectora, 
exibantque  erumpentes  per 
cuncta  membra. 
Habebant  vero  ipse,  que  pa- 
riebantur,  bestie 

capiia  ardentia  ferrea 
et  rostra  acutissima, 
quibus  ipsa,  unde  exibant, 
dilaniabant  corpora. 


253  beuangen  fast  ganz  verwischt  und  nur  mit  hülfe  des  reimes 
richtig  hergestellt.  —  258  ineonden.  Das  in  ist  nicht  ganz  sicher,  da 
die  handschrift  hier  einen  einschnitt  hat.  —  275  talben,  das  1  ist  von 
derselben  band  überschrieben. 


BRUCHSTÜCK  DES  NIEDERRHEIN.  TUNDALUS.  357 

Beeil  un  swebel  waren  ire  salben, 

Ire  zegele,  di  si  bit  in  bracbtin,  In  caudis  autem  suis  eedem 

bestie 
Hadden  manegen  colben  bebabten,  2S5  multos  habebant  aculeos, 
Di  warin  crump,  alse  engele  sint;        qui,  quasi  hami  retro  retorsi, 
Da  mide  zurizzen  si  si  als  ein  lint,        ipsas,  e  quibus  exibant, 
Di  arme  selin  über  alle  den  lip.  pungebant  animas. 

Sus  pinegediu  si  man  un  wib. 

Alse  di  dir  dan  uz  gen  begunden,  290  Bestie  enim  volentes  exire, 
Vii   ire   zegele   bit   in   gezihen  nit        cum  caudas  suas  aecum  non 

in  konden  possent  trahere, 

Vor  den  heebin  uu  uor  den  angen, 

So  begunden  si  danne  umbelangen        in  ipsa,  unde  exibant,  corpora 
Bit  den  snebelin  iserin;  rostra  ardentia  ferrea 

Daz  muste  danne  ir  quäle  sin,        295  retorquere  non  cessabant, 
Biz  si  uerzerden  .  .  aderin  uü  ben,        donec  ea  usque  ad  nervös  et 
So  daz  da  nusnit  ane  in  sen.  ossa  arida  consumebant. 

Bit  luder  grimmer  stimmen  Et  sie  simul  conclamantes, 

Begunden  si  alle  grinen 

In  den  unden  under  deme  ise,        300  Stridor    glacierum    inundan- 
Ir  igelicb  nacb  siner  wise.  tium, 

Manicbe  sele  bulde  da  yü  carde,  et  ululatus  animarum   susti- 

Di  dir  si  srwwen  da  so  bardde,  nentium  et  mugitus  bestiarum 

Daz  si  uz  uü  in  iledin  al,  exeuntium 

So  daz  iz  in  den  bimel  sal  305  perveniebant  in  celum, 

Also  lüde  inde  also  sere,  ita  ut  et  ipsi  demones, 

Ob  an  den  duuelin  irgen  were  si  in  eis  esset  uUa 

Scintilla  pietatis.  scintilla  pietatis 

Nu  borit,  wi  daz  gedude  ist; 
Iz  ist  gut,  daz  ich  iz  uch  dude:     310 
Iz  quit  ein  genestre  der  mildekeide. 
Daz  ist  doch  ein  den  gewin, 

Were  doch  der  irgen  an  in,  merito  moverentur  ad 

So  mohte  si  iz  irbarmet  han  misericordiam  compassionis. 

292  nach  hechin  ein  punkt,  als  sei  ein  vers  zu  ende;  das  nächste 
wort  fängt  jedoch  nicht  an  mit  grossem  buchstaben,  —  290  die  erste 
zeile  der  neuen  seite  nur  noch  in  geringen  Überresten  erhalten  und  zum 
grössten  teil  aus  dem  lateinischen  texte  reconstruiert;  ebenso  297.  — 
303  sruwen?  nicht  völlig  zu  entziffern, 

24* 


358       GRIMME,  BEUCHST.  DES  NIEDERRHEIN.  TÜNDALUS. 

Daz  weinen  uü  daz  hantslan,  315 

Daz  di  arme  seien  mähten  da. 

Ruwe  Uli  raste  was  in  iinua,  Eranteniminomnibusdiversis 

In  allen  geliden  si  gewnen,  membris  et  digitis 

Di  dir  ir  howbet  ho  uf  drugen.  diversarum  bestiarum  capita 

Maneeher  dire  kunne  an  in  sazen,320  qui  ipsa  membra 

Ire  lidere  si  in  alle  durh  azen  mordebant 

Biz  an  di  aderin  un  bein;  usque  ad  nervös  et  ossa. 

AI  so  kugen  si  uz  uü  in. 

Lebende  zungen  hatte  si  och,  Habebantquoquelinguasvivaa 

Da  mide  daz  ir  igelich  sowch  325  in  modum  aspidum, 

Der  seien  munt  uii  rächen,  que  totum  palatum  et  arteria 

Biz  si  bit  bitterlichen  sahgen,  consmnebant  omnia 

Biz  si  werzerden  bit  iren  zungen 

Brust  uii  braden  biz  an  di  langen,        usque  ad  pulmones. 

Alle  di  uugen  an  irme  libe  330  Verenda  quoque  ipsa 

An  mannen  uü  an  wiben.  virorum  ac  muliernm  erant 

Si  geglichedin  den  slangen,  in  similitudine  serpentium, 

Den  buch  hatte  si  innen  beuangen,        qui  inferiores  partes  ventris 

Ir  inedere  rizzen  si  inzwe,  lacerare  et  ipsa  viscera  inde 

So  wart  dan  ein  michel  gesre.  335  studebant  abstrahere. 

327  sahgen,   das  h  steht  über  der  zeile.  —  334  inedere  kaum  noch 
zu  lesen.  —  335  gesre  unter  die  zeile  geschrieben. 

Hier   bricht   das  fragment  ab;    bis  zum  ende  des  capitels 
folgen  noch  35  zeilen  lateinischer  text. 

MÜNSTER  i.  W.  FR.  GRIMME. 


BEMERKUNGEN  ZU  DEN  LAUSAVISUR 
DER  EGILSSAGA. 

Üis  sollen  auf  den  folgenden  blättern  einige  gedanken  zur 
darstellung  gebracht  werden,  die  dem  Verfasser  beim  lesen  der 
Kritiske  Studier  etc.  von  Finnur  Jönsson  (Köbenhavn  1884) 
eingefallen  sind.  Es  betreffen  diese  bemerkungen  teils  uner- 
klärte, bez.  ungenügend  erklärte  stellen,  teils  metrische  fehler 
der  lieder.  Erstere  sind  im  Jönssonschen  texte  gewöhnlich 
durch  gänsefüsschen  bezeichnet.  Die  aufdeckung  letzterer  ver- 
danke ich  zum  grossen  teil  meinem  verehrten  lehrer  prof 
Sievers,  welcher  die  gute  gehabt  hat,  mein  manuskript  durch- 
zugehen und  die  resultate  zu  prüfen.  Eine  nachträgliche  ver- 
gleichung  mit  der  von  Finnur  Jonsson  besorgten  neuen  aus- 
gäbe der  Egilssaga,  von  welcher  ein  die  ersten  64  capitel  ent- 
haltendes heft  erschienen  ist,  hat  zwar  auf  meine  ersten  auf- 
stellungen  keinen  besonderen  einfluss  geübt,  wol  aber  das  zu- 
sammentreffen einer  meiner  correcturen  (die  von  hväta)  mit 
seinem  texte  ergeben. 

Die  erste  hälfte  der  lausavisa  cap.  30  ^  lautet  im  texte 

der  Krit.  Stud.: 

Mjok  veröl-  är  sas  aura 
isarnmeit5r  at  risa, 
[väöir  vidda  brööur 
vet5rs]  leggja  skal  [kvet5ja]. 

In  der  neuen  ausgäbe  der  saga  ist  keine  weitere  änderung  vor- 
genommen, als  dass  statt  isarnmeit5r  die  lesart  isarns  ?nei^r 
aufgenommen  ist.  Die  erklärung  von  F.  J.  (Krit.  Stud.  s.  123) 
gewährt  zwar  den  vorteil  nur  eine  einzige,  unbedeutende  cor- 


')  Die  capitelangabe  richtet  sich  nach  der  Jönssonschen  ausgäbe, 
so  weit  das  erste  heft  geht,  nachher  ist  die  Reykjavik-ausgabe  zu  gründe 
gelegt. 


360  FALK 

rectur  (vebrs  statt  vebr)  zur  Voraussetzung  zu  haben,  laboriert 
aber  andrerseits  an  folgenden  gebrechen:  1.  leg g ja  aura  soll 
'lucrari'  bedeuten,  wofür  belege  fehlen;  2.  isarnmeitir  als  kenning 
für  'sehmied'  ist  sehr  unwahrscheinlich,  es  müsste  wol  eher 
'kämpfer'  bezeichnen;  3,  väbir  kann  unmöglich  allein  'blasebalg' 
bedeuten;  4.  F/<?da  iröÖVr  = 'ventus'  ist  ohne  analogie;  5.  der 
ganze  ausdruck  'der  blasebalg  verlaugt  windstoss  od.  hauch 
vom  winde'  ist  höchst  unnatürlich  und  anstössig.  Indem  ich 
von  der  auffassung  ausgehe,  dass  erst  in  der  nächsten  halb- 
strophe  vom  blasebalg  die  rede  ist,  schlage  ich  folgende  emen- 

dationen  vor: 

Mjok  vertir  lir,  sas  aura 
isarn-,  meiör  at  risa 
vdÖa  Vilja  br6Öur 
vet5rs,  -sleggju  skal  kveöja. 

D.  h.   früh   muss  der  manij  {meit5r   rUja  bröbur  vebrs  väbä  = 
meibr  hrynju)  aufstehen,  der  die  metallbarren  hämmern  {kvebj'a 
aura  isarnsleggju  wie  kvet)ja  IIb  oddum)  soll  (d.  h.  der  schmied). 
Cap.  55,  Str.  3,  v.  5  conjiciert  Jönsson: 

rauömeldrs  kna  ek  reiöa. 

Da  eine  zweisilbige  form  wie  knä  ek  auf  jeden  fall  zu  den 
metrischen  ausnahmen  gehört  (vgl.  Beiträge  V,  501  f.  508  und 
Möbius,  Hättatal  s.  23),  und  da  fernerhin  sämmtliche  hs.  drei 
Silben  vor  dem  knä  aufweisen,  ist  es  mir  wahrscheinlicher, 
dass  man  zu  lesen  hat: 

rauömeldrar  knak  reiÖa, 

oder  in  besserer  Übereinstimmung  mit  den  hss.: 

ryÖmeitis  knak  reiÖa. 
ri/bfiieitir  'gladius'   ist   mit   randa  rybfjön  zu  vergleichen;    die 
bezeichnung  des  ringes  durch   rybme'itis  gelgja  bezieht  sich  auf 
die  besondere  art  der  Übergabe:  der  ring  wurde  wurde  ja  dem 
Egill  auf  der  schwertspitze  dargereicht. 

Cap.  55,  Str.  5,  v.  1  lautet  in  der  Überlieferung: 

Nu  hefr  foldgnär  fellda. 
Die    zeile    stimmt   mit   den   Sieversschen   ausführungen    Beitr. 
V,  462  und  VIII,  56,  Eddalieder  10  anm.  2  nicht  tiberein.    Man 
könnte  an  foldgnüa  denken,  was  mit  jofra  zu  verbinden  wäre. 
Indessen  verdient  es  hervorgehoben  zu  werden,  dass  noch  kein 


zu  DEN  LAUSAVISUR  DER  EGILSSAGA.  361 

adj.  gndr  'fortis,  streuuus'  erwiesen  ist;  die  von  Egilsson,  Lex. 
poet.  s.  255  b  ang-efülirten  stützen  sind  1.  eben  dieses  nur  hier 
vorkommende  foldgnär,  2.  hjaldrgnär  Isl.  I,  90,  wozu  jedoch 
Lex.  poet.  s.  341  b  bemerkt  wird:  'potest  tarnen  esse  gen.  sing. 
a  hjaldrgnä  f.  dea  proelii,  bellona'.  So  lange  dies  der  fall 
bleibt,  scheint  es  am  geratensten  zu  sein,  sich  mit  dem  asin- 
namen  Gnä  auszuhelfen  zu  suchen.  Mau  lese  und  construiere 
somit:  fold-Gnäar  liarra  =  'der  landesherren'.  Dass  Gnd  im 
gen.  Gndar  heisst,  zeigt  mälmgnäa?-  Egilss.  cap.  24;  fold-Gnä, 
die  asin  der  erde,  steht  hier  metonymisch  für  land. 

In  cap.  56,  str.  1,  b  ist  —  wie  schon  G.  Magnüsson  ge- 
sehen hat  —  hergonundar  (resp.  berganvindar)  foldar  faldr  zu 
verbinden  und  als  Umschreibung-  für  Asgert^r  zu  fassen.  Es 
ist  uns  hiermit  der  richtige  w^eg  angezeigt  worden,  aber  bei 
seiner  weiteren  erklärung,  wonach  faldr  =  gert5  'cingulum' 
sein  soll,  dürfen  wir  nicht  stehen  bleiben.  Denn  einerseits 
stimmt  ja  die  bedeutung  nicht,  und  andrerseits  heisst  'cingu- 
lum'  zu  dieser  zeit  gewiss  nie  gerti,  sondern  gjor<3^  die  laut- 
gesetzliche parallele  zu  got.  gairda.  Dagegen  löst  die  bedeu- 
tung 'kleidungsstück'  für  ger(^,  von  der  Fritzner  2  zwei  beleg- 
steilen anführt,  die  frage  in  befriedigender  weise,  wenngleich 
noch  zu  beachten  bleibt,  dass  die  easusendungen  sich  nicht 
ganz  decken,  was  sonst  bei  den  älteren  skalden  der  fall  zu 
sein  pflegt  (vgl.  Krit.  stud.  s.  171).  —  Die  letzte  zeile  lese  ich: 
brtätt  miöstalli  hvata. 

hväta  kommt  sonst  nicht  vor,  wird  aber  durch  heranziehung 
von  kv(cta  'stecken,  (in  den  boden)  stossen'  in  norwegischen 
dialekten  (Aasen  s.  513  b)  wahrscheinlich  gemacht  und  ist 
metrisch  notwendig. 

In   der   folgenden   visa   wird   die   erste   halbstrophe    ohne 
correctur  verständlich,  wenn  man  construiert: 

[Sef]  skuldar  felk  sjaldan 
[sorg  ey]  vita  borgar 
i  niÖjerfii)  Narfa 
nafn  ^Orvifils  Drafnar. 

Orvifils    (seekönig,   vgl.  Vifill)    borgar    ('mare',   vgl.  Beita  borg 
vita  skuldar-Drofn  (cf.  skuldar- fölk  verwante)  ^=  'die  verwante 

>)  Hierzu  vgl.  Beitr.  XII,  480. 


362  FALK 

frau,  ÄsgerÖr'.  Die  bedeutung  des  ganzen  wäre  hiernach  etwa: 
'ich  verhehle  nicht  den  naraen  der  geliebten  in  meinem  liede 
(ich  dämpfe,  unterdrücke  immer  meine  sorgen,  spreche  sie 
nicht  aus)'. 

Auch  in   der  nächsten   strophe  ist  die  erste  hälfte  unver- 
ständlich.   Sie  lautet  in  den  Krit.  Stud.: 

hyborna  kveör  }?orna 
]>ornreiS  atti  horna 
[syslir  hann  of  sina 
singirnÖ  onundr]  mina. 

Die  neue   ausgäbe   hat   är  statt   atti  eingesetzt,    wodurch  die 

zeile  nur   5   silben   erhält.     Ich   bin   überzeugt,    dass  man  zu 

lesen  hat: 

tyborna  kveÖr  J'orna 

JjornreiÖ  Ari  hornu,  etc. 

D.  h.:  potma  Ari  (vgl.  poi-na  Pundr  =  'pugnator,  vir')  kvebr 
mina  pornreib  {vera)  hornu  pijhorna.  Statt  Art  könnte  man 
an  Ati  (Lex.  poet.  s.  28  a)  denken;  allein  dieser  name  ist,  wie 
Möbius,  Kormaks  saga  s.  111  nachgewiesen  hat,  richtig  Ati  zu 
schreiben  (vgl.  auch  Ata  skib  um  vibi  Stjornu-Odda  dr.  122,4, 1) 
und  somit  hier  metrisch  unmöglich. *)  Der  Odinsname  Ari 
konnte  wegen  des  seltenen  Vorkommens  leicht  entstellungen 
unterliegen.  Iloima  ist  das  femininum  zu  hornungr]  man  ver- 
gleiche zu  dieser  stelle  Frost.  8,  8:  hoima  ok  hrisa  ok  döttir  py- 
horin.  Zeile  1  hat  a?5alhending  wie  z.  7;  1—2  bilden  dunhenda 
wie  3—4  (vgl.  folg.  str.  1—2,  7—8). 


1)  Vgl.  Beitr.  X,  526.  Die  dort  gegebene  regel  über  Verkürzung 
der  zweiten  hebung  im  typus  A  mit  nebenton  in  erster  Senkung, 
LI.  I  wx  I  —  X'  ist,  wie  mir  Sievers  jetzt  mitteilt,  noch  strenger  zu 
fassen.  In  den  at5alhendingäeilen  des  dröttkvaetc  tritt  sie  ausnahmslos 
ein,  sobald  der  nebenton  irgend  deutlich  ausgesprochen  ist.  Ausnahmen 
finden  sich  höchstens  in  versen  wie  der  a.  a.  o.  citierten  zeile  grtiigt 
vetSr  d  Qp7-'Öum,  wo  eine  an  sich  nicht  nebentonige  silbe,  -ig-,  erst  durch 
den  antritt  einer  consonantischen  endnng  lang  und  damit  nebentonig 
wird.  Namentlich  fallen  hierher  die  ausgiinge  auf  -aiin,  -inn,  -ill,  -uU, 
-arr,  -urr,  welche  bald  als  nebentonig,  bald  als  unbetont  behandelt  wer- 
den. ^—  Ebenso  unrichtig  wie  pornreiti  atli  horna  ist  demnach  der  vers 
regnhjötir  hdva  pegna  (Krit.  Stud.),  resp.  regnhjö^r  Mvars  pegna  (neue 
ausgäbe)  cap.  44,  str.  3.  Die  codd.  haben  Härs,  was  als  Haars  aufzu- 
lösen ist,  wie  es  ja  schon  längst  Gislason  dargetan  hat. 


zu  DEN  LAUSAViSUR  DER  EGILSSAGA.  363 

In  der  zweiten  hcälfte  der  folgenden  Strophe  liegt  die 
hauptseliwierigkeit  in  der  erklärung  von  simla  sorgar.  Am 
natürlichsten  schlösse  sich  dieser  ausdruck  an  rän  zur  bezeich- 
nung  irgend  einer  abschattung  des  raubes,  wie  etwa  fe-rän, 
jari5-rän  oder  arf-rän.  Aber  was  bedeutet  simla,  und  was  ist 
simla  sorgar?  Wer  nicht  zu  hypothesen  greifen  will,  kann  aus 
dem  vorliegenden  Wortschätze  nur  an  den  in  Snorra  Edda  vor- 
kommenden ochsennamen  simull  denken.  Neben  simull  kommt 
in  demselben  Verzeichnis  der  oxna  heiti  auch  simi  vor,  als 
dessen  diminution  sim  .'/  zu  betrachten  ist  (vgl.  johill  :  jaki, 
ongull  :  angi\  Kluge,  Stammbildungslehre  §  56).  Durch  sorg 
simla  wird  ein  gegenständ  bezeichnet,  der  den  jungen,  bez. 
kleinen,  ochsen  sorge  verschafft,  leid  antut  (vgl.  Gubi*.  kv.  1,24. 
sorg  konunga),  was  wol  ohne  zwang  auf  den  erwachsenen  oder 
starken  stier  bezogen  werden  darf  Ein  stier  aber  heisst  auch 
arfr,  wie  uns  schon  die  gedachte  namenliste  belehrt.  Wir  be- 
kämen demnach  eine  auf  homonymie  beruhende  kenning  simla 
sorgar  rän  =  arf-rän,  wie  man  sie  eben  zu  erwarten  hätte. 
Doch  möchte  ich  die  deutung  nicht  als  allzu  sicher  be- 
trachten. 

In  der  letzten  vlsa  von  cap.  57  ist  trotz  den  ausführuugen 
von  Jonsson  s.  147  f  doch  andcerr  'contumax,  pertinax'  zu 
schreiben,  wie  die  formen  anderen  und  andccres  der  norwegi- 
schen dialekte  es  beweisen;  siehe  auch  Fritzner  -  unter  andcera 
und  andceris.  Die  Egilssonsche  etymologie  des  Wortes  aus  är 
'rüder':  a«<?öP/r  = 'qui  adversum  remigat'  ist  mir  mit  Jönsson 
wenig  wahrscheinlich.  Da  die  norw.  dialekte  auch  die  form 
andhicres  mit  derselben  bedeutung  aufweisen,  scheint  mir  die 
ankuüpfung  an  Mr  'haar'  nahe  liegen  zu  müssen,  was  eine 
grundbedeutung  'widerhaarig,  struppig'  ergibt. 

Cap.  61,  Strophe  2.  Ich  vermute  in  regnat^ar  regni  eine 
kenning  rögnat5ra  Reginn  =  'proeliator';  fyr  rögnatira  Regni 
=  vor  Erik.  Rögna^r  ist  wie  valnatir  und  vignat^r  gebildet.  — 
Zur  erklärung  der  kenning  magnabr  hugins  vära  construiert 
Jönsson  aus  dem  adj.  vcerr,  dem  subst.  yöPrÖ  etc.  ein  nomen 
värar  fpl.  'ruhe,  freude'.  Mit  demselben  recht  könnte  man 
wol  auch  nach  vceri  n.  'alimentum'  ein  vär  resp.  väri  mit  der- 
selben bedeutung  ansetzen.  Es  ist  aber  eine  frage,  ob  man 
nicht    besser    tut,    mit  dem   gegebenen   und  belegten    sprach- 


364  FALK 

material  auszukommen  zu  suchen,  in  welchem  falle  sich  das 
wort  väri  m.  'flüssigkeit,  wasser'  darbietet.  Zwar  schreibt 
Fritzner,  Rettelser  og  TilUiig  s.  871  (er  ist  der  einzige  lexiko- 
graph,  der  das  wort  anführt)  vari  mit  kurzem  a,  allein  HofuÖ- 
lausu  21,  wo  es  mit  Idi-a  reimt,  beweist  für  länge  des  vocals. 
Wir  bekommen  hiernach  folgende  kenning:  magnatir  hugins  vära 
=  'vermehrer  des  rabentrunkes'. 

Cap.  64,  Strophe  1,  z.  3 — 4  lautet  bei  Jönsson: 

sigrat  gaukr,  ef  glamma 
gamra  veit  of  sik  ]:>rarüma, 

worin  ich  keinen  sinn  zu  entdecken  vermag.  Statt  sigrat,  das 
von  hnhjrat  z.  7  influiert  zu  sein  scheint,  bietet  K.  s'mgja,  das 
sicher  auf  ein  syngrat  der  vorläge  zurückgeht.  Dies  gibt  den 
sinn:  'es  singt  nicht  der  kukuk,  wenn  der  adler  über  ihm 
schwebt'.  —  Wenn  gjälpar  in  z.  8,  wie  es  den  anschein  hat, 
richtig  ist,  wird  es  wol  zu  ags.  gielpan,  mhd.  gelfen  gehören. 

In  der  vierten  strophe  desselben  capitels  kommt  eine 
dativform  vmd  vor,  von  welcher  Jönsson  erklärt,  er  verstehe 
sie  nicht.  Wenngleich  dieses  bekenntnis,  in  anbetracht  der 
nicht  ganz  wenigen  belege  für  ebensolche  dativbildung  der 
«^stamme  (vgl.  auch  Noreen,  Anord.  gramm.  §  309,  3),  einiger- 
niasseu  befremden  muss,  darf  doch  diese  form,  mit  anderen 
kriterien,  als  beweis  für  späteren  Ursprung,  in  casu  für  un- 
echtheit  der  strophe  angesehen  werden. 

In  der  nächsten  lausavisa  haben  die  ausgaben  eine  kenning 
cegir  hauga.  Allein  das  nom.  ag.  wgir  kommt  sonst  nie  in  der- 
artigem gebrauche  vor;  auch  wird  meines  bedünkens  die  an- 
gesetzte kenning  durch  heranziehung  der  Umschreibung  dtti 
ormvengis  (vir  liberalis)  nicht  um  sehr  viel  wahrscheinlicher, 
da  doch  immerhin  den  bezeichnungen  'der  schrecken  des  gol- 
des'  und  'der  erschrecker  der  goldringe'  ein  ziemlich  ver- 
schiedener ästhetischer  wert  beizumessen  sein  wird.  Dürfen 
wir  somit  dem  genialen  und  formgewanten  Egill  ein  solche 
geschmaeklosigkeit  nicht  beilegen,  so  brauchen  wir  nur  das 
(cgir  in  A:lgir  zu  ändern,  um  einen  in  jeder  beziehung  un- 
tadelhaften  ausdruck  zu  bekommen,  der  mit  der  kenning  hauga 
Tyr  ganz  auf  einer  stufe  steht. 

Cap.  82, 1  endet  bei  Jönsson  folgendermassen: 


zu  DEN  LAUSAVISUR  DER  EGILSSAGA.  365 

letk  af  emblu  aski 
eldi  valbasta  kastat, 

wo  das  wort  eldi  metrisch  unrichtig-  ist,  weil  es  dem  verse 
eine  überschüssige  silbe  erteilt.  Zu  lesen  ist  eld  oder  elds. 
Das  object  des  verbums  kasta  wird  dann  in  der  voraufgehen- 
den zeile  zu  suchen  sein.  Es  bleibt  somit  kaum  eine  andere 
combination  möglich  als  diese:  elds  emhla  =  'femina'  (vgl. 
eld-Gerbr  und  eld-Gefn),  valhasta  askr  =  'pugnator,  vir'  (wo 
valhost  metaphorisch  für  schwert  steht).  Der  sinn  wird  hier- 
nach folgender:  'ich  befreite  die  frau  von  dem  krieger'.  Der 
satz  bezieht  sich  auf  die  cap.  64  erzählten  begebenheiten.  Der 
ausdruck  kasta  af  'abwerfen'  darf  nicht  beanstandet  werden; 
es  wird  an  gegebener  stelle  von  Ljö(s  ofriki  gesprochen,  für 
welchen  begritf  das  zeitwort  Uggja  ä  (vgl.  Lex.  poet.  s.  517  a. 
Oxforder  wb.  s.  389  a)  zu  geböte  steht,  dessen  gegensatz  wir 
vor  uns  haben. 

Zeile  6  der  folgenden  strophe  hat  bei  Jünsson  die  form 
bafjoU  digulsDJävi, 
obwol  metrische  wie  sprachliche  gründe  für  digul-  beweisen 
(vgl.  die  verse  armleggs  digul farmi,  hafleygr  digulskafli  SE.  I,  404, 
mjok  litt  digidjokla  Hättalykill  "28,  4  und  Beitr.  X,  526).  Von 
den  Wörterbüchern  hat  nur  Fritzner  das  richtige.  —  Statt  meb 
orbum  in  z.  7  ist  wol  met)  virbiwi  'unter  den  männeru'  zu 
lesen;  dass  hier  drei  reime  sind,  tut  nichts.  —  Was  die  gänse- 
füsschen  bei  fyr  z.  5  für  einen  zweck  haben,  ist  mir  unklar. 

In  der  letzten  strophe  des  cap.  82  i^t  mir  keine  andere 
wahrscheinliche  auffassuug  ersichtlich,  als  zu  verbinden  lofs 
at  enda  'am  ende  des  lobgedichtes',  und  die  discrepanz  mit 
den  einleitenden  werten  der  prosaischen  erzählung  ok  er  peita 
uppJiaf  at  als  einen  Irrtum  seitens  letzterer  anzusehen.  —  crt5- 
glöins  in  z.  8  ist  eine  wie  metrisch  so  gewiss  auch  sprachlich 
unmögliche  form. 

Cap.  83,  str.  1.  Da  keine  parallele  zu  einer  form  ätlka  == 
cittaka  bekannt  ist,  wäre  in  zeile  2  der  lesart  eigi  statt  ///  der 
Vorzug  zu  geben;  letzteres  wort  scheint  wie  die  auffällige 
form  arfa  statt  arfs  durch  die  ähnliche  verszeile  in  cap.  88 
arfa  Geirs  til  parfar)  bewirkt  zu  sein.    Ich  lese  somit: 

attak  ertiuyrja 

arfs  mör  eigi  )?arfan. 


366         FALK,  ZU  DEN  LAUSAVISÜR  DER  EGILSSAGA. 

Ein  ähnlicher  pleonasmus  wie  erfi-nyti  arfs  findet  sieh  öfters, 
so  z.  b.  hä-degi  dags.  —  In  z.  3  ist  aus  metrischen  gründen 
svikvinn  für  svikimi  zu  lesen. 

In  der  folgenden  lausavisa  sind  die  zwei  letzten  verse  un- 
verständlich. Da  es,  so  viel  ich  sehe,  kein  anderes  wort  auf 
h  gibt  als  hegna,  welches  mit  fregna  aÖalhending  bildet,  und 
hegna  hier  keinen  ersichtlichen  sinn  gibt,  liegt  es  nahe  zu  ver- 
muten, dass  fregnask  statt  irgend  eines  seltneren  synonymons 
hineingeraten  sei.    Eine  derartige  emendation  wäre  z.  b.: 

—  hrafnstyrandi  heyri 
hranna  —  min  of  sannask. 

TÜBINGEN,  april  1887.  HJALMAR  FALK. 


MISCELLEN. 

1.  In  meiner  'Soester  mundart'  habe  ich  auf  s.  15,  §  56  a, 
sys  'sonst'  als  beispiel  eines  unerklärten  /-unilauts  von  u  auf- 
geführt. Ich  glaube  nun,  dass  man  bereits  in  mnd.  zeit  das 
and.  sus  nach  der  analogie  von  düs  (=  and.  ihus)  zu  süs  um- 
gebildet hat;  das  aber  hatte  sein  ü  von  dem  zugehörigen 
demonstrativpronomen  düsse,  düt  bekommen,  dessen  formen  ich 
a.  a.  0.  s.  91,  §  401  anm.  2  zu  erklären  versucht  habe.  Später 
ist  dann  düs  ganz  durch  süs  verdrängt  worden,  während  sich 
im  nl.  noch  dus  und  zus  nebeneinander  erhalten  haben.  Vgl. 
hierzu  Sievers,  Beitr.  XII,  498  ff. 

2.  Ein  weiteres  beispiel  für  die  lautliche  angleichung  be- 
grifflich verwanter  Wörter  (vgl.  Beitr.  XI,  553)  bietet  westfäl. 
moend  'mutter,  tante'  in  der  Soester  mundart.  Es  ist  etymo- 
logisch genau  =  nhd.  muhme  (ahd.  muoma,  mnl.  moeme),  das 
im  mnd.  nicht  bloss  als  mome,  sondern  auch  mit  dissimilation 
der  beiden  nasale  als  mone  (vgl.  me.  möne^  aisl.  mono)  er- 
scheint. Die  Vertretung  von  mnd.  and.  ö  =  westgerm.  got.  ö 
ist  aber  in  unserer  mundart  aö,  woneben  als  i-umlaut  ae  steht 
(vgl.  meine  'Soester  mundart'  §  74  f.),  also  kann  mben9  keine 
lautgesetzliche  form  sein.  Es  ist  offenbar  nach  dem  muster 
von  bem9  'oheim'  —  vielleicht  schon  in  mnd.  zeit^)  —  um- 
gebildet, wie  sich  ähnlich  z.  b.  im  ital.  7iuora  'Schwiegertochter' 
nach  suocera  'Schwiegermutter'  gerichtet  hat. 

3.  Mnd.  meven  'nur,  ausser,  allein,  sondern,  indes,  aber', 
woraus  später  men,  man  wurde,  das  auch  ins  dänische  und 
schwedische  in  der  form  men  übergieng,  möchte  ich  auf  ein 
and.  *un-bi-efno  zurückführen,  woraus  zunächst  *umbevene,  dann 


')  Bereits   Lauremberg   hat   (1662)  in   seinen   'Niederdeutschen 
scherzsredichten '  7710^  me. 


368  HOLTHAÜSEN 

*ummeven{e),  und  schliesslich,  mit  abfall  des  vortonigen  vocals, 
dessen  bedeutung  dem  sprachlichen  bewusstsein  vollständig 
dunkel  geworden,  ineven  entstanden  wäre.  Die  ursprüngliche 
bedeutung  war  wol  dieselbe,  wie  die  der  entsprechenden  bil- 
dungen:  and. -zi«-e/>2o,  ae.  un-efne,  mhd.  un-ehene  'uneben,  un- 
gleich'. Für  die  bedeutungsentwicklung  verweise  ich  nur  auf 
ne.  hut  =  ae.  hi'itan. 

4.  Bugge  hat  Beitr.  XII,  410  f.  ae.  distcef,  ne.  distaff 
'kunkel,  rockenstock',  wozu  auch  ne.  dizen  (phonet.  daizn) 
'schmücken,  zieren,  putzen'  gehört,  mit  mhd.  d'ehsen,  lat.  iexere 
zusammengebracht.  Ich  glaube  nicht  nur  diese  etymologie  als 
falsch  erweisen,  sondern  auch  eine  bessere  an  ihre  stelle  setzen 
zu  können.  Zunächst  ist  ae.  distcef  mit  langem  i  zu  lesen, 
was  aus  der  me.  form  dysestafe  d.  i.  distUf^),  aus  mnd.  dise, 
disene  'Spinnrocken'  —  kurzes  i  in  offener  silbe  hätte  zu  ton- 
langem e  werden  müssen!  —  nnd.  westf  dutn,  disn,  dise,  und 
endlich  dem  ne.  diphthougen  ai  des  verbums  dizen  deutlich 
hervorgeht.  Wenn  dJs-,  was  möglich  ist,  aus  '*dJhs  entstanden 
wäre,  so  müsste  dieses  notwendig  auf  einem  urgerm.  *dh]hs 
beruhen,  wie  z.  b.  got.  pe'ÜKin  auf  älterem  '''•pi7jhan]  eine  wzl 
*dirj1is  aber  mit  i  =  idg.  e,  also  nach  Bugge  idg.  ^lerjks,  er- 
scheint in  keiner  der  verwanten  sprachen,  besonders  nicht  im 
germanischen,  wo  nur  pehsan  und  pahs  der  idg.  wzl.  ieks  an- 
gehören. Aus  diesem  gründe  glaube  ich  Bugges  aufstellung 
verwerfen  zu  müssen  und  stelle  distcef  etc.  zu  lat,  füsus 
' Spindel',  das  ganz  gut  ein  urlat.  ■^•foissos  sein  kann  und  bis 
auf  die  ablautsstufe  der  wurzel  genau  dem  germ.  dis-  ent- 
spricht: /  =  idg.  dh,  Ol  =  idg.  oi,  ss  =  idg.  d  +  t  oder 
t  -\~  t,  woraus  nach  langer  silbe  einfaches  (kurzes)  s  werden 
musste.  Das  germ.  i  dagegen  kann  sowol  ==  idg.  i  (längere 
tiefstufenform)  wie  ei  sein,  s  <  ss  erklärt  sich  wie  im  lat., 
vgl.  Osthoff,  Zur  gesch.  des  perf  s.  522  ff. 

5.  Zu  dem  von  Bugge  a.  a.  o.  s.  419  f.  besprochenen  mhd. 
hit,  bet,  betalle,  mnl.  bedalle  gehört  auch  noch  me.  biclSne,  be- 
dene  'zumal,  zugleich,  zusammen;  alsbald,  unverzüglich',  worin 
ene  =  ae.  cene^  instr.  von  cm  'ein'  ist. 


^)  Bei  stäfst&mmt  die  tonliinge  wie  in  nhd.  staO  aus  den  zweisilbigen 
casus  obliqui;   ne.  distaff'  zeigt  regelrecht  t  wie  fisl. 


MISCELLEN.  369 

6.  Kauö'mann  setzt  Beitr.  XII,  504  unten  and.  hwitl  an, 
das  ja  auch  einmal  im  Gott.  (ed.  Sievers)  v.  3127  in  dieser 
form  vorkommt.  Da  aber  sonst  stets  einfaches  t  und  langes 
/  erscheint,  so  dürfte  jene  Schreibung  wenig  beweisen.  Mnd. 
nnd.  nl.  wit  erklärt  sich  sehr  leicht  als  ausgleichung  nach 
dem  comp,  und  superl.  witter,  witste^\  wie  ich  bereits  Beitr. 
X,  s.  415  und  551  ausgeführt  habe;  ganz  entschieden  gegen 
alte  kürze  spricht  aber  Remscheider  w7,  dessen  i  nur  Ver- 
kürzung von  i  sein  kann,  da  altes  kurzes  /  zu  geschlossenem 
e  geworden  wäre,  vgl.  rebd  'rippe'  etc.,  a.  a.  o.  s.  407. 

7.  S.  505  anm.'  2  wird  v.  Fierlingers  erklärung  von  soll 
angenommen.  Warum  heisst  es  denn  nun  schulter,  nicht,  wie 
man  nach  jenem  'gesetz'  erwarten  sollte,  *sulter,  da  doch  hier 
offenbar  n  aus  idg.  /  sonans  entstanden  ist? 

8.  Zu  dem  a.  a.  o.  s.  515  aufgeführten  ags.  rcccc,  an.  rakki 
' Spürhund'  gehört  doch  wol  auch  nl.  rekel,  nnd.  westf.  ridkl 
'männlicher  hund',  dessen  i  entweder  auf  altes  /  oder  auf 
i-umlaut  von  a  weist,   also   and.  "^rikil  oder  *rakU,  ''''rekil. 

9.  Ebenda  z.  6  v.  u.  hat  Kauflfmann  die  unglückliche  er- 
klärung Kluges  von  ndd.  fuken  'oft'  =  jtvzvä  widerholt,  ob- 
wol  die  richtige  schon  längst  gegeben  ist,  vgl.  DW.  III,  1220,6. 
Darnach  ist  ndd.  fäken,  nl.  vaak  der  dat.  pl.  von  fak  'gefach, 
Zeitraum'  (letztere  bedeutung  bereits  in  ae.  fcec),  und  ebenso 
md.  {gejvache  eine  ableitung  von  vach.  Urgerm.  kk  hätte  doch 
nach  kurzem  a  nicht  vereinfacht  werden  können  (ä  in  faken 
ist  tonlanges  a)\ 

10.  In  den  bemerkungen  auf  s.  526  über  nhd.  zaupe 
'hündin'  finden  sich  mehrere  Unrichtigkeiten.  Einmal  ist  ahd. 
zdha  statt  zoha  anzusetzen,  wie  die  Weiterbildung  Schweiz. 
zcßle,  nnd.  westf.  toeld  (meine  Soester  ma.  §  77  a)  =  urgerm. 
*tauhilö  beweist.  Sodann  haben  züpe,  zopp,  zoha  natürlich 
nichts  mit  ndd.  tewe  zu  tun,  weil  diese  worte  doch  ganz  ver- 
schiedenen ablautsreihen  angehören 2)  • —  und  endlich  geht  ndd. 
e  nicht  auf  e   zurück   ('mndl.  teve''),   sondern   der   grundvocal 


')  Wie  e.  hot,  vgl.  die  dissert.  von  Ferd.  Brück:  Die  cons.  Ver- 
doppelung in  den  me.  compp.  und  superl.,  Bonn  1SS)6. 

'-)  An  M-epenthese  wird  doch  jetzt  mit  Möller  niemand  mehr 
glauben ! 


370  HOLTE  AÜSEN 

ist  entweder  i  oder  ?-umlaut  von  «,  wie  westf.  tldv9  zeigt,  vgl. 
meine  Soester  ma.  §  100  b. 

11.  Auf  s.  528  führt  K.  nach  Jellinghaus  ein  nnd.  hodde 
'geronnene  milch'  an,  übersieht  dabei  aber,  dass  in  der  Ravens- 
bergischen  mundart  inl.  t  >  d  wird  (vgl.  Jellinghaus,  Westfäl. 
grammatik  §  146,  s.  55  f.).  Die  echte  ndd.  form  erscheint  da- 
gegen in  mnd,  hotte. 

12.  Auf  s.  541  anm.  2  wirft  mir  K.  vor,  ich  hätte  in  den 
Soester  und  Remscheider  worten  für  bese7i  das  )?i  als  'stimm- 
losen' consonanten  genommen.  Diese  art  mich  zu  kritisieren 
steht  dem  im  Lit.  bl.  1887,  nr.  2  von  demselben  herrn  geleiste- 
ten würdig  zur  seite;  ich  begreife  nicht,  wie  ein  verständiger 
und  aufmerksamer  leser  die  von  K.  angeführten  stellen  so 
misverstehen  kann.  Ich  habe,  wie  dies  deutlich  aus  dem  Wort- 
laut der  regel  und  der  reihenfolge  der  gegebenen  beispiele 
hervorgeht,  beide  male  die  erhaltung  des  s  durch  seine 
Stellung  im  silbenauslaut  erklärt! 

13.  Das  von  Paul  Beitr.  XII,  551  unten  zur  spräche  ge- 
brachte ahd.  wetiaff  hat  sein  e  statt  ei  wol  am  ehesten  durch 
anlehnung  des  adj.  an  we  =  got.  )imi  erhalten. 

14.  Luick  meint  Beitr.  XI,  514  f.,  dass  im  ndd.  die  bei- 
den e,  nämlich  e  und  der  «-umlaut  von  a  zusammengefallen 
seien.  Fürs  mnd.  beruft  er  sich  dabei  auf  die  autorität  Lübbens, 
der  sich  so  in  seiner  mnd.  grammatik  ausspreche;  für  die 
neueren  mundarten  will  er  seine  behauptung  durch  'Stich- 
proben' beweisen.  Damit  nun  nicht  etwa  diese  ansieht,  weil 
ihr  nicht  widersprochen  ist,  für  wahr  gehalten  werde,  so  will 
ich  hiermit  ausdrücklich  dagegen  protestieren.  Auf  Lübbens 
buch  sollte  sich  niemand  berufen,  denn  es  ist  eine  ganz  ver- 
fehlte arbeit,  die  am  besten  ungedruckt  geblieben  wäre;  bei 
seiner  Umschau  in  den  neueren  dialekten  hat  aber  Luick  ent- 
schieden Unglück  gehabt,  indem  ihm  entgangen,  dass  viele 
westfälische  mundarten  die  beiden  e,  wenigstens  in  offe- 
ner silbe,  wenn  kein  r  folgt,  streng  auseinander  halten. 
Um  bereits  gesagtes  nicht  zu  widerholen,  verweise  ich 
bloss  auf  die  §§  58—61.  86—87.  99—100.  103—107  meiner 
'Soester  mundart';  ferner  unterscheidet  Jellinghaus  in  seiner 
westfäl.  grammatik  genau  zwischen  liepel  'löffel'  (§  77),  ie/el 
'esel'  (§  78)  und  swiarvel ' Schwefel'  (§  80),  wenn  ihm  auch  das 


MISCELLEN.  371 

gesetz  Dicht  klar  g'eworden  ist.  Die  in  §  81  verzeichneten  aus- 
nahmen, wo  ia  =  umlauts-e  ist,  erklären  sich  als  neubildungen 
wie  in  der  Soester  ma.  §  61  und  §  105.  Gerade  wie  die 
ravensbergische  mundart  der  kreise  Herford,  Bielefeld  und 
Halle  unterscheidet  auch  das  märkische  in  Altena  und  Iser- 
lohn die  beiden  e,  denn  Woeste  schreibt  in  seinem  Wörterbuch 
der  westfäl.  mundart  z.  b.  idsel  'esel',  aber  ^teu  'essen',  wo  ^ 
den  von  mir  mit  ea  transscribierten  diphthongen  *)  bezeichnet. 
In  der  auch  von  Luick  genannten  abhandlung  Woestes  in 
K.  Z.  II,  81  ff.  wird  für  (;  die  bezeichnung  iä,  resp.  bei  deh- 
nung  ice  gebraucht  und  dies  (s.  92  ö".)  streng  von  ie,  te  = 
2-umlaut  von  a  (s.  96,  4  f.)  geschieden,  vgl.  täten  'essen',  triceen 
'treten'  gegenüber  schiepel  ^^q\\qEq\\  iege 'egge\  Die  aufs.  94  f. 
verzeichneten  ausnahmen,  wo  iä,  ice  den  /-umlaut  von  a  ver- 
tritt, sind  teils  analogiebildungen  mit  'angelehntem'  umlaut^), 
teils  erklären  sie  sich  durch  das  folgende  r. 

Auch  Kau  mann  unterscheidet  in  seinem  'Entwurf  einer 
laut-  und  flexionslehre  der  münsterischen  mundart',  Münster 
1884  (dissert.),  bieke  'bach'  (§  8)  von  ki^'/e  'kehle',  Inege 
'hecke'  von  wi'ege  'wege'  u.  s.  w.  Die  ausnahmen  sind  meist 
dieselben  wie  oben;  die  vielen  Unregelmässigkeiten,  welche  die 
§§  7  und  8  aufweisen,  erklären  sich  zum  teil  durch  die  flüch- 
tigkeit  und  Unwissenheit  des  Verfassers,  der  z.  b.  sl'iewl ' Stiefel* 
unter  umlauts-e,  liedich  'leer'  (=  mhd.  lidic)  unter  urspr.  e 
aufführt! 

E.  Hoffmann  in  ihrem  jüngst  erschienenen  buche:  Die 
vocale  der  lippischen  mundart,  Hannover  1887,  unterscheidet 
bei  dehnung  in  offener  silbe  deutlich  izdl  'esel'  von  lezdn 
'lesen',  vgl.  §§  15.  16.  47.  68.  69.  Die  ausnahmen,  welche  z.  t. 
dieselben  sind,  wie  in  den  übrigen  mundarten,  lassen  sieh 
meistens  leicht  erklären. 

Da  es  mir  augenblicklich  an  zeit  gebricht,  den  gegen- 
ständ weiter  zu  verfolgen,  so  lasse  ich  es  mit  diesen  an- 
deutungen  vorläufig  genügen,    indem  ich  mir  eine  ausführliche 


1)  Ich  muss  Dochraals  ausdrücklich  Kauffmann  gegenüber  (vgl.  Lit. 
bl.  ISST,  nr.  4,  sp.  193)  erklaren,  dass  ea  in  der  Soester  mundart  ein 
deutlicher  diphthong,  kein  triphthong,  ist. 

^)  Vgl.  über  diesen  begriff  und  ausdruck  Soester  ma.  s.  112  unten. 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutsclien  spräche.    XIII.  25 


372  HOLTHAUSEN 

abhandlung  über  die  beiden  e  im  ndd.  für  später  vorbehalte. 
Man  wird  aber  bereits  aus  dem  gegebenen  material  ersehen 
können,  dass  M.  Heyne  schon  im  jähre  1873  in  seiner  'klei- 
nen as.  und  andfrk.  grammatik'  s.  12  mit  recht  behau})tet  hat: 
'Das   aus   a'  durch   i  entstandene   e  lautet   daher  hell,   dem  i 

ziemlich   nahe Dagegen   hat  das  durch  a  aus  i  um- 

gelautete  e  einen  breiten,  dem  a  nahen  ton  . . . .' 

15.  Sievers  hat  gewiss  mit  recht  Beitr.  X,  495  f.  fussnote 
in  ags.  hegen  m.  'beide'  Zusammensetzung  mit  dem  pronomen 
jener  vermutet  und  Ags.  gr.-  §  324  anm.  1  bemerkt  er,  dass  in 
hegen,  hoe'ga,  hoe  m  'vielleicht  alte  dualformen  stecken'.  Da 
aber  aus  seinen  äusserungen  nicht  hervorgeht,  wie  er  sich  die 
entstehung  dieser  form  im  einzelnen  denkt,  so  möchte  ich 
im  folgenden  jenen  fingerzeig  benutzend  eine  erklärung  ver- 
suchen. 

Aus  den  ältesten  formen  gen.  hce  ga,  dat.  hce'm,  sowie  aus 
nordh.  tuoßge  geht  hervor,  dass  hegen  =  älterem  hoe  gen  ist, 
worin  der  umlaut  natürlich  durch  ein  ursprünglich  folgendes  i 
hervorgerufen  sein  muss.  Dies  l  stand  in  der  zweiten  silbe, 
wo  es  zu  e  geschwächt  wurde,  wie  z.  b.  bei  opt.  sHgen  =  got. 
stigeina.  '-^hö-gin  als  dualform  hatte  selbstverständlich  auch  in 
dem  zweiten  teile  die  idg.  dualendung  des  masc,  -ö,  woraus 
urags.  -II  wurde.  Auslautendes  -u  schwindet  aber  nach  dem 
Ags.  gr.-  §  135  dargelegten  apokopierungsgesetze  in  dreisilbigen 
Wörtern  nur  nach  langer  mittelsilbe,  und  darnach  erhalten 
wir  als  urags.  grundform  *hü-gmu  ==  urgerm.  '*hö-gJnü,  eigeutl. 
'jene  zwei',  eine  ähnliche  bildung  wie  anord.  ftdö/r,  nhd,  heide 
u.  s.  w.  (vgl.  Sievers  a.  a.  o.  und  R.  Meringer,  K.  Z.  XXVIII, 
236  ff".),  glnoz  'jener'  verhält  sich  zu  got.  j'ahis  wie  oixti  zu 
(Hxoi,  d.  h.  jene  form  ist  vom  idg.  loc.  iei,  diese  von  ioi  des 
anaphorischen  Stammes  w-  (skr.  yds,  gr.  og)  mit  dem  suffix 
no-  gebildet,  vgl.  Lidcn,  Ark.  for  nord.  fil.  III,  242,  der  passend 
Ixu-voc  und  yJj-voq  vergleicht,  twegen  halte  ich  mit  Sievers 
für  eine  neubilduug  nach  hegen\  wegen  der  ursprünglichen 
flexion  der  zwei -zahl  verweise  ich  auf  Meringers  aufsatz 
a.  a.  o.  s.  234  ü". 


VO  =  0'  IM  BELIAND.  373 


UEBER   UO  =  O^  IM  HELIAND. 

Kauffmauu  bat  mir  im  Literaturblatt  1887  sp.  60  einen 
Vorwurf  daraus  gemacht,  dass  ich  bei  der  darstellung  der 
sogen,  'brecbung'  von  altem  ö  >  oa,  wie  dieselbe  in  der  Soester 
mundart  in  betonter  offener  silbe  eintritt,  einen  wichtigen  um- 
stand ausser  acht  gelassen  hätte,  nämlich  das  erscheinen  eines 
entsprecheuden  uo  in  der  Londoner  hs.  (Cottonianus)  des 
Heliand.  Auf  meinen  dagegen  a.  a.  o.  sp.  192  erhobenen  Wider- 
spruch hat  er  sp.  193  durch  Verweisung  auf  seinen  artikel  in 
den  Beitr.  XII,  356  ff.  geantwortet,  in  welchem  auf  s.  358  unter  4 
dieses  uo  verwertet  wird,  um  daraus  Schlüsse  auf  die  heimat 
des  dicbters  zu  ziehen.  Er  stellt  sich  dadurch  in  gegensatz  zu 
Sievers  und  Jostes,  von  denen  der  erstere  auf  s.  XIV  f.  seiner 
Heliandausgabe  sich  über  diese  uo  folgendermassen  ausspricht: 
'Bei  der  beurteilung  dieser  formen  muss  man  mit  in  rechnung 
ziehen,  dass  auch  kurzes  o  ausserordentlich  häufig  durch  uo 
vertreten  wird.  Eine  solche  Vertretung  kann  nicht  wol  für 
wirklich  dialektisch  gehalten  werden;  es  ist  nicht  unmöglich, 
dass  die -erscheinung  auf  die  tätigkeit  eines  der  mundart  frem- 
den Schreibers  zurückzuführen  ist,  welcher  mechanisch  die  o 
seiner  vorläge  in  uo  umsetzte',  während  Jostes  im  Jahrbuch 
des  Vereins  f.  ndd.  Sprachforschung  XI  (1886)  s.  91  sagt:  'Dass 
schon  im  10.  Jahrhundert  Urnen,  himven  etc.  gesprochen  sei, 
wird  Jellinghaus  zu  behaupten  nicht  einfallen  . .  .'  Eine  ent- 
scheidung  in  dieser  frage  ist  natürlich  nur  ^möglich,  wenn  wir 
die  mit  uo  statt  mit  o  geschriebenen  Wörter  genauer  be- 
trachten und  mit  den  heutigen  formen  vergleichen. 

uo  =  0  steht  im  Cott.  (ed.  Sievers)  in  betonter  silbe 
bei  folgenden  Wörtern: 

a)  in  geschlossener  silbe:  guod  994.  4038.  2340;  thuoh 
4681.  5920;  ?)moh/a  574;  farmuonstun  5286. 

b)  in  offener  silbe:  guomon  654.  3109;  guodes  1064.  1069. 
1072.  1084.  1260.  1440.  1456.  1784.  2499.  2509.  2699.  3678; 
guoda  1261;  gidruogi  2925. 

Die  drei  letzten  unter  a)  aufgezählten  formen  können 
keinesfalls  etwas  der  modernen  'brechung'  entsprechendes 
haben,   da   diese  —  abgesehen  von  der  gruppe  o  -\-  r  —  nur 

25* 


374  HOLTHAUSEN 

in  offener  silbe  eintritt,  vgl.  meine  Soester  ma.  §  63;  guod 
könnte  allerdings  seinen  diphthong  nach  den  unter  b)  ge- 
gebenen casus  obliqui  erhalten  haben,  wie  z.  b.  unser  honf 
'bof,  a.  a.  0.  §  375.  Sehen  wir  jetzt  die  andere  gruppe  näher 
an,  so  muss  zunächst  das  vorherrschen  von  guodes  'gottes' 
und  guoda  dat.  auffallen,  indem  die  3  übrigen  'lautgesetz- 
lichen' —  um  einmal  K.'s  Standpunkt  einzunehmen  —  uo  ja 
noch  nicht  den  4  (resp.  7)  falschen  unter  b)  die  wage  halten 
würden!  Nichts  liegt  nun  näher  als  die  annähme,  dass  der 
Schreiber  in  diesen  fällen  god  'gott'  mit  god  'gut',  die  beide 
in  seiner  vorläge  gleich  geschrieben  waren,  verwechselt  hat; 
V.  2340  könnte  er  wol  geradezu  god  statt  god  gelesen  haben! 
Die  verschreibung  uo  für  o  wurde  auch  vielleicht  noch  da- 
durch veranlasst,  dass  sehr  häufig  ein  oder  mehrere  Wörter 
mit  echtem  uo  =  o  in  der  nähe  stehen,  d.  h.  unmittelbar  vorher- 
gehen oder  nachfolgen,  vgl.  v.  994.  1064.  1440.  1456.  2509. 
2699.  2925.  3109.  5286.  5920.  In  giwjnon  endlich  dürfen  wir 
vielleicht  eine  Vermischung  des  nebeneinander  gebrauchten 
gumo  =  ags.  ^uma  und  gomo  =  ahd.  gomo  erblicken.  Was 
jedoch  die  bedeutungslosigkeit  des  uo  völlig  klar  macht,  ist 
seine  Verwendung  auch  für  g^  <  westgerm.  au  in  folgenden 
Wörtern: 

fruo  4509.  4685.  5017;  fruohen  5007;  tuogiayi  5291;  gihuo- 
cnida  4597;  gruotes  5192;  hruod  2844;  gilmod  3850;  bluothi 
4872;   huomes  5507;   huomo  3676. 

Da  die  heutigen  westfälischen  dialekte  altes  o  und  au 
strenge  auseinanderhalten,  so  ist  natürlich  an  einen  lautlichen 
zusammenfall  von  6  und  o^,  der  durch  diese  Schreibung  zum 
ausdruck  gebracht  wäre,  nicht  zu  denken  —  diese  uo  sind 
wie  jene  nichts  als  schreiberversehen.  Sogar  in  unbetonten 
endungen  finden  sie  sich  hin  und  wider  statt  der  gewöhnlichen 
0  oder  u. 

Zum  schluss  will  ich  noch  darauf  hinweisen,  dass  Kauflf- 
mann auch  die  'brechung'  von  e  >  westfäl.  ea  bereits  in  den 
formen  iMeses,  ihiemo  (Beitr.  XII  s.  358,  4)  zu  finden  vermeint. 
Gegenüber  den  unzähligen  fällen,  wo  e  unverändert  bleibt,  be- 
weisen diese  paar  formen  doch  gar  nichts;  sie  erklären  sich 
überdies  sehr  einfach  als  bildungen  nach  dem  nom.  thie  = 
the^  wo  ie  die  lautgesetzliche  diphthongierung  von  e  ist.    Wenn 


ÜO  =  Or  IM  HELIAND.  375 

ie  in  v.  5368  sogar  für  [■  <  ai  in  h'ieri^)  steht,  so  zeigt  dies 
nur,  gerade  wie  die  Vertretung  von  0  =  au  durch  uo  (oben 
8.  374),  dass  wir  auch  in  ie  noch  nicht  den  Vorläufer  des 
heutigen  ea  erblicken  dürfen. 


^)  Das  von  Kauffmann  Beitr.  XII,  349  aus  metrischeu  gründen  ver- 
langte femin.  Iieri  ist  natürlich  keine  nebenform  zu  dem  m.  n.  heri  = 
g.  harjis,  sondern  genau  :=  ahd.  hcrl  'dignitas,  raagnitudo,  majestas, 
meritum,  ordo',  hier  in  concreter  bedeutung  gebraucht. 

SOEST.  F.  HOLTHAUSEN. 


GRAPHISCHE  VARIANTEN  IM  HELIAND. 

Jjeitr.  XII,  287  hat  Kauffmann  versucht  zu  beweisen,  dass 
die  pronominal-  und  adjeetivendungeu  auf  -7nu  dem  abschreiber 
von  M.  angehören  und  nicht  in  der  vorläge  standen;  dies  und 
andere  (anderwärts  zu  besprechende)  gründe  führen  ihn  zu 
dem  schluss  (s.  356  f.)  dass  C.  in  ostsächsisches  gebiet,  M.  nach 
Werden  oder  Umgebung  zu  verweisen  ist.  In  bezug  auf  das 
letztere  bin  ich  aus  anderen  gründen  zu  derselben  ansieht  ge- 
kommen, dass  nämlich  der  Monac.  in  Essen  oder  Werden  ge- 
schrieben ist  (meine  gründe  gedenke  ich  an  geeigneter  stelle 
mitzuteilen).  In  betreff  des  abschreibers  von  M.  kann  ich 
jedoch  Kauffmann  (s.  287)  nicht  ganz  beistimmen;  auch  nicht 
Behaghel,  wenn  er  (Germania  31,  378)  behauptet,  dass  in  der 
vorläge  des  Monacensis  mehrere,  mundartlich  verschiedene, 
bände  zu  erkennen  seien.  Wenigstens  können  mich  die  au- 
geführten gründe  und  stellen  nicht  überzeugen. 

An  erster  stelle  die  frage,  ob  die  formen  themu  etc.  vom 
abschreiber  aus  seiner  mundart  eingeführt  oder  ob  sich  diese 
formen  in  der  vorläge  fanden.  Wie  Kauffmann  richtig  be- 
merkt, sind  die  formen  auf  nm  bis  v.  1450  in  der  minderheit; 
1450  bis  2247  bezeichnet  einen  Übergang;  von  da  ab  über- 
wiegen sie. 

Vor  1450  findet  sich  hnu  l  mal  (v.  784),  themu  3  mal  (zu- 
erst 605),  fnimwm  3  mal  (219),  thinwnu  1  mal  (500),  hwiUcumu 
2  mal  (605),  enumu  1  mal  (1176),  obru/nu  1  mal  (1441),  allumu 
1  mal  (1274),  rikiumii  1  mal  (940),  eganumu  1  mal  (491),  geli- 
cumu  1  mal  (1221);  ferner  die  form  imo  (301  und  302  in  bei- 
den das  0  von  der  2,  band):  im  ganzen  also  27  formen  auf 
-mu  gegen  252  auf  -m  oder  -n.  Sieht  mau  von  im  (121  mal) 
und  ihem  (69  mal)  ab,  so  bleiben  20  auf  -um,  die  übrigen  auf 
-un,  -on,  -an. 


GALLEE,  GRAPHISCHE  VARIANTEN  IM  HELIAND.  377 

Von  1450 — 2247  sind  als  neue  formen  auf  -mu  zu  ver- 
zeichnen: iuiiuomu,  gihuuUicunm,  liuuemu,  usumu,  thurfligumu, 
enigumu,  wisimiu,  zusammen  88;  zwei  auf  -mo.  Dagegen  89 
andere  formen,  von  welchen,  im  (23  mal)  und  them  (9  mal) 
mitgerechnet,  40  auf  m.    Hier  also  ein  gleiches  Verhältnis. 

Von  2247  ab  nehmen  die  formen  auf  -inu  noch  mehr  zu. 
Neu  kommen  hinzu:  gihuuemu,  niyenumu,  sidicumu,  seWtwiu, 
sinumu,  managumu,  grotiimu,  middiumu,  helagumu,  godumu\  zu- 
sammen 555,  daneben  3  auf  -mo.  Dagegen  nur  58  andere 
formen,  worunter,  abgesehen  von  33  im  (so  weit  verzeichnet), 
16  them,    noch  2  auf  -um.^) 

Auf  mehrere  Schreiber  dürfen  diese  Verschiedenheiten  nicht 
zurückgeführt  werden,  da  die  formen  bis  zum  schluss  neben- 
einander hergehen.  So  liegt  es  denn  nahe  die  eine  form  dem 
abschreiber  zur  last  zu  legen,  nur  fragt  sich  welche.  Kauff- 
mann  ist  der  ansieht  dass  die  formen  auf  -inu  aus  dem  dia- 
lekt  des  abschreibers  stammen,  dass  er  sich  erst  an  das 
original  gehalten,  später  aber  von  der  eigenen  mundart  habe 
beherrschen  lassen.  Mich  dünkt,  es  könnte  sich  vielleicht  an- 
ders verhalten. 

Mit  -Jim  scheint  der  Schreiber  von  M.  weniger  gut  vertraut: 
er  fühlt  es  nicht  mehr  recht  als  endung  des  dat.  sing.,  denn 
er  gebraucht  -mu  auch  für  den  dat.  plur.:  iinu  1936.  2972. 
3016.  4817;  ebenso  -om:  si7iom  1838,  suUcom  1737,  a^rom  2985 
u.  a.  Als  acc.  sing.  masc.  steht  iuuuo?nu  4416  (C  iuuuoii)]  seiner 
spräche  war  diese  endung  also  fremd,  er  schrieb  sie  nur  weil 
er  sie  vorfand.  Anfänglich  merkte  er  weniger  darauf,  je 
weiter  er  kam  desto  besser  wurde  er  mit  der  spräche  seiner 
vorläge  bekannt,  desto  genauer  schrieb  er  ab.  Dass  seine 
mundart  eine  andere  war,  und  zwar  dass  sie  dem  hochdeut- 
schen näher  stand  erhellt  auch  aus  einigen  andern  fehlem. 
So  setzte  er  auch  anfangs  häutiger  als  weiterbin  den  ver- 
schlusslaut g  statt  /.-,  und  h  für  k,  z.  b.  173.  545.  674.  785, 
925.  935.  975.  978.  979,  später  viel  seltener:  2624.2628.3383. 
5080.  Einmal  (749)  schrieb  er  zuerst  piforan,  worauf  er  p  in 
b   corrigierte.     Den   dichter   oder    abschreiber    mit    dem   hoch- 


1)  Die  citate  werde  ich  in  meinem  As.  wörterb.  und  meiner  Gram- 
matik genau  angeben. 


378  GALLEE 

oder  mitteldeutschen  für  vertraut  zu  halten,  scheint  mir  ohne 
bedenken;  auch  in  anderen  altsächsischen  denkmälern  sind 
spuren  eines  solchen  einflusses  zu  finden,  wie  ich  nächstens 
an  anderer  stelle  zeigen  werde.  Es  scheint  mir  deshalb  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  geistliche,  die  in  der  schule  zu  Fulda 
gebildet  waren,  sich  mit  abfassung  von  werken  für  die  Sachsen- 
bekehrung beschäftigt  haben;  zu  diesen  mag  denn  auch  der 
dichter  des  Heiland  oder  der  abschreiber  gehört  haben. 

Dass  die  vorläge  -mo  oder  -mu  hatte  macht  auch  der 
Cottonianus  wahrscheinlich.  Auch  hier  findet  sich,  wenngleich 
in  geringerer  zahl  die  vollere  form.  Vor  1500  nur  imo  355. 
779.  1370;  v.  1500—4000:  ihesom  (2753),  imi  (3218),  thinemo 
(3376);  themo  findet  sich  bis  zum  schluss  22  mal,  imo  zwischen 
4195  und  5571  7  mal,  weiterhin  obremo  4537,  thesamo  5015, 
mmemo  5614.  Mir  kommt  es  am  wahrscheinlichsten  vor,  dass 
diese  formen  als  -inu  oder  -mo  in  der  vorläge  standen  und 
dass  der  Schreiber  von  C,  welcher  das  gedieht  im  dialekt  seines 
Wirkungskreises  für  die  heidnischen  laien  abschrieb,  so  viel 
als  möglich  alle  abweichenden  formen  vermied,  aber  doch  an 
einigen  stellen  unwillkürlich  seine  herkunft  verriet,  an  anderen, 
vielleicht  irrtümlich,  die  form  der  vorläge  beibehielt. 

Behaghel  will  auf  grund  der  verschiedenen  Schreibung  von 
eo  io  gio,  antthat  anttal,  eu  iu,  c  und  k,  her  hir  verschiedene 
bände  in  M.  oder  in  der  vorläge  annehmen.  Ein  sehr  ent- 
schiedener einschnitt  ist  nach  seiner  ansieht  in  der  gegend 
von  1860  einzusetzen,  weil  bis  dahin  thana,  von  da  ab  aus- 
schliesslich thena  vorkommt. 

Auf  grund  der  abwechslung  von  Jier  und  Ä/r  unter- 
scheidet er: 

a  b  c  d  e 

248—934      1105-1312     13U1— 1519     1568—2326     2583  — schluss 
her  hir  her  hir  her 

der  abwechslung  wegen  von  gio,  io  und  eo: 

I  II  III  IV 

120—1324     1494—2063     2127—2875     3096—3892 
formen  mit  e  2  18  1  7 

„      i         18  -  11  — 


GRAPHISCHE  VARIANTEN  IM  HELIAND. 


379 


formen  mit  e 

1»  :i  ' 


V  VI  VII 

3889—4055  4120—4178  4325—5267 

—  2  5 

4  —  11 


Wenn  für  einige  eigentiimlichkeiten  der  Schreibung  in 
diesen  woiteu  ein  unterschied  besteht,  der  auf  abschreiber  zu- 
rückzuführen ist,  so  muss  auch  bei  andern  worten,  die  der- 
gleichen Varianten  fähig  sind,  in  denselben  abschnitten  Ver- 
schiedenheit der  Schreibung  wahrzunehmen  seiu. 

Meine  Untersuchung  galt  daher  zuerst  Behaghels  abschnit- 
ten a,  b,  c,  d,  e.    Folgendes  ergab  sich: 


a 

b(a) 

c 

d(b) 

e(c) 

f(d) 

& 

h(e) 

(Behaghel) 

1 

bis 

248 
bis 

934 
bis 

1105 
bis 

1301 
bis 

1519 
bis 

2326 
bis 

2583 
bis 

248 

934 

1105 

1301 

1519 

232G 

2583 

ende 

hei 
hiel. 

5 
2 

13 
1 

hcl 

bis 

zu 

ende 

he 
hie 

nur 

he 

he 

24 

44 

he 

ist 

regel 

hi 

2 

30 

1 

her 

2 

11 

1 

7 

1 

(3822) 
stets 

hier 

l 

her 

hir 

5 

20 

(2439) 

ne 

4 

18 

4 

1 

12 

62 

2 

27 

ni 

14 

25 

4 

1 

12' 

24 

16 

183 

eo 
eorviht 

1 

9 
3 

4 

8 

gio 
giorviht 

3 
1 

5 

1 

1 

3 

7 

io 
iorviht 

1 

1 

1 

1 

8 

neo 

l 

4 

neoman 
neorviht 
nerviht 

1 

2 

nio 

2 

1 

1 

3 

nioman 
niorvihl 

1 

2 

l 

nia 

1 

380 


GALLEE 


a 

b(a) 

C 

d(b) 

e(e) 

f{d) 

g 

h(e) 

(Bcliaghel) 

1 

248 

934 

1105 

1301 

1519 

2326 

2583 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

248 

934 

1105 

1301 

1519 

2326 

2583 

ende 

m 

3 

iuu 

1 

giu 

4 

1 

1 

2 

giuu 

■ 

1 

Schw.  V.  auf  ian 

-ia- 

W 

1 

1 

7 

ß 

4 

30 

-ca- 

10 

1 

1 

4 

IT 

1 

2 

71  CO  Ian 

1 

3 

nioiaii 

1 

nialan 

1 

ihn  na 

' 

1 

2 

1 

1 

4 

(1863, 
64,88 
und 
2 1 5S) 

1 
(5238) 

ihan 

1 

lltcua 

thena 

ist 
regel 

ihoi 

1 

1 

(tu  foruicn  nicht 

1 

verzei<;linct) 

CH 

5 

4 

2 

euues 

1 

euua 

2 

1 

euuuan 

4 

1 

euuar 

2 

giu 

1 

1 

anllhat 

4 

1 

iinllal 

1 

"2 

4 

anlal 

1 

17 

unlüiat 

2 

2 

untlal 

1 

eflha 

1 

3 

8 

eftho 

1 

1 

2 

1 

2 

eliha 

1 

2 

2 

etiko 

1 

4 

ohttho 

1 

GRAPHISCHE  VARIANTEN  IM  HELIAND. 


381 


lieber  andere  worte  und  formen  werde  ich  vielleicht 
später  handeln,   diese  genügen  zu  der  zu  besprechenden  frage. 

Vergleichen  wir  einige  dieser  mit  den  abschnitten  I,  II, 
III,  IV,  V,  VI,  VII  von  ßehaghel. 


I 

II 

HI 

IV 

V 

VI 

VII 

120 

1494 

2127 

309G 

3889 

4120 

4324 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

1324 

20G3 

2ST5 

3892 

4055 

417S 

5267 

hei 

22 

von 

hier 

ab 

nur 

het 

— 

Iiiel 

3 

her 

13 

(6-)  2 

9 

nur 

her 

— 

— 

hir 

6 

16 

3 

hier 

1 

he 

nur  he 

31 

64 

nur 

he 

— 

— 

hi 

24 

4 

1 
(3322) 

ne 

26 

62 

7 

10 

3 

1 

3 

ni 

41 

24 

48 

44 

17 

6 

75 

gio 

9 

1 

7 

3 

io 

2 

2 

7 

eo 

10 

2 

1 

2 

iu 

2 

l 

gilt 

8 

2 

ihana 

5 

3 

1 

1 

than 

1 

thena 

4 

meist 

thena 

— 

— 

Ihen 

2 

1 

cflha 

1 

4 

1 

1 

4 

eflho 

1     [ 

]     2 

;•• 

[ 

J     1 

ettha 

2 

1 

1 

ettho 

6 

ohiho 

1 

antlhat 

4 

l 

anital 

6 

antat 

1 

4 

I 

5 

unthat 

4 

unttat 

1 

Man  sieht  aus  diesen  Zusammenstellungen,  dass  wol  da 
und  dort  eine  einzelne  form  iu  einem  der  rubrikcn  merklich 
überwiegt;  gross  ist  der  unterschied  jedoch  nur  bei  he  (IL  und 
III.  bis  schluss,   antat  IV.  bis  schluss,  eftha  V.  bis  schluss)  im 


382  GALLEE 

allgemeinen  finden  sicii  die  abweichenden  formen  durch  alle 
teile  hin.  Eftho  und  ettho,  ni  und  wt'  stehen  oft  neben  ein- 
ander in  derselben  zeile,  in  demselben  satze  (1664.  243.  2049. 
2561  u.  a.).  Augenscheinlich  gebraucht  hier  der  abschreiber 
die  verschiedenen  formen  der  abwechslung  zu  liebe.  Die  eine 
ist  die  ältere,  die  wol  noch  nicht  so  ganz  veraltet  war,  die 
andere  die  meist  gebräuchliche. 

Bei  andern  Worten,  wie  hir,  her,  liier,  he,  liir  möchte  ich 
eher  eine  Unsicherheit  in  der  Schreibung  vermuten,  wie  man 
sie  ja  immer  wahrnehmen  kann,  wenn  unerfahrene  eine  spräche, 
mit  deren  formen  und  Schreibung  sie  nicht  genügend  vertraut  sind, 
aufschreiben  wollen.  So  möchte  ich  auch  erklären,  dass  im  letzten 
teil  grössere  regelmässigkeit  herrscht  als  in  den  früheren,  z.  b.  bei 
he,  het^  her,  neotan\  verursachen  doch  diese  laute  noch  heute 
Schwierigkeit  in  verschiedenen  niederdeutschen  raundarten,  da 
der  ungeübte  kaum  unterscheiden  kann  ob  er  einen  e-  oder  «-laut 
hört.  Bei  eo,  w,  gio,  den  schwachen  verben  auf  -ian  liegt  m.  e. 
ein  ähnlicher  grund  vor.  Wie  man  bei  der  schwachen  conju- 
gation  wahrnimmt  sind  e,  i  und  auch  g  für  den  Schreiber  mehr 
oder  minder  gleichwertig,  wenn  es  den  /-laut  auszudrücken 
gilt.  Der  /-laut  in  inlaut  und  anlaut  vor  u  unterscheidet  sich 
zwar  von  i  und  e]  in  der  dialektischen  ausspräche  näherte  er 
sich  aber  doch  beiden,  und  deshalb  schwankte  auch  der 
Schreiber. 

In  bezug  auf  Behaghels  ansieht,  dass  bei  der  gutturalen 
tenuis,  z.  b.  im  auslaut  von  Worten  wie  sprac,  iverc  u.  a.  'von 
vereinzelten  ausnahmen  abgesehen'  sich  in  der  gegend  von 
2257  ein  unterschied  bemerklich  macht,  dass  nämlich  vor  2257 
nur  c,  später  nur  k  sich  finde,  so  glaube  ich  dass  der  'ver- 
einzelten ausnahmen'  doch  zu  viele  sind.  Vor  2257  fand  ich 
ausl.  k  in  werk  753.  1032;  si)rak  61*.).  1667;  nach  2257:  sprac 
11A1.  2846.  2931.  3061.  3137.  3387.  3556.  4571.  4604.  4615. 
4674.  4747.  4956;  werc  3231;  skoc  2707;  folc  steht  412—5107 
23  mal  wovon  17  nach  2257. 

Während  flesk  vor  und  nach  2257  mit  sk  geschrieben 
wird,  findet  sich  biscop  stets  mit  sc]  vor  4156  werden  werte 
auf  -skepi  an  6  stellen  mit  sc  geschrieben,  nach  4156  fand  ich 
noch  sk  in  4574.  4652,  Tatsache  ist  also,  dass  die  Schreibungen 
mit  sk  und  sc  nicht  so  ausschliesslich  vor  oder  nach  einer  be- 


GRAPHISCHE  VARIANTEN  IM  HELIAND.  383 

stimmten  stelle  vorkommeu.  Hiermit  fällt  m.  e.  der  gruud 
nach  2257  und  4156  eine  neue  band  anzunehmen. 

Die  Verschiedenheiten  in  der  Schreibung,  weniger  in  der 
ausspräche  der  laute,  sind  allerdings  sehr  zahlreich,  aber  die 
meisten  finden  sich  durch  das  ganze  gedieht.  In  betreff  1),  u,  h 
findet  sich  z.  b.  v.  1—1450  16  mal  u,  7  mal  «;  v.  1450—2247 
3  u  gegen  6  ^';  v.  2247  bis  schluss:  \'2  ic  gegen  W  i).  So 
findet  sich  meistens  gisahun,  gisahi,  gesahin,  aber  gisaimin  604, 
gisauui  l'iW,  gisaun  2597;  das  beweist  m.  e.  nur  dass  h  in 
diesen  fällen  nicht  mehr  ausgesprochen  wurde. 

Auch  in  C.  haben  solche  schreibuugsdiö'erenzen  statt:  liier 
allgemein,  sporadisch  Wir,  her;  hiet  allgemein,  einige  male  het\ 
ni  und  ne\  nio  und  neo\  eo,  io,  gio;  thana,  than  und  thena, 
antthat,  untthat  und  antat.  So  gut  man  annehmen  kann,  dass 
hierbei  verschiedene  bände  tätig  gewesen  seien,  könnte  man 
auch  der  meinung  sein  dass  dem  abschreiber  handschriften 
von  verschiedener  Schreibung  s'orlagen. 

Doch  kann  ich  mich  hiermit  nicht  befreunden,,  sondern 
glaube  lieber  mit  Sievers  an  einheit  des  Schreibers  und  schreibe 
die  abweichungen  der  Schreiber,  wie  oben  gezeigt,  einer  Un- 
sicherheit in  der  lautbezeichuung  zu.  Diese  Unsicherheit  kann 
in  der  vorläge  bestanden  haben  und  die  Schreiber  von  M.  und 
C.  sjichten  sie  vielleicht  auf  ihre  weise  zu  normalisieren. 

UTRECHT.  J.  H.  GALLEE. 


AHD.  LEO,  LIO,  LEUUO,  LOUUUO. 

IVauffmaun  hat  in  diesen  Beiträgen  XII,  207  fi".  ahd.  UuuOy 
louuuo  auf  eine  germ.  grundform  *xlauiö  zuiiickzufüiiven  ver- 
sucht. Ich  halte  diesen  versuch  für  missglückt.  Kauffmann 
selbst  gibt  gemeingerm.  eutlehnung  des  lat.  leo  sogar  für  das 
ahd.  zu;  daneben  soll  im  ahd.  ein  einheimisches  wort,  welches 
'der  brüller'  bedeutete,  zur  benennung  des  lövven  in  anwendung 
gekommen  sein.  Die  Deutschen  hätten  also  teils  das  ihnen 
fremde  tier  —  sie  hielten  die  ihnen  zuerst  zu  gesiebt  kommen- 
den löwen  der  Römer  bekanntlicli  für  grosse  hunde  —  mit 
dem  lateinischen  namen  genannt,  teils  ein  in  ihrer  eignen 
spräche  vorhandnes  wort  von  allgemeinerer  bedeutung  an- 
gewant,  um  seinen  gebrauch  auf  jene  neue  bedeutung  einzu- 
schränken. Das  erscheint  an  sich  schon  wenig  glaublich,  selbst 
wenn  ein  germ.  '''•.rlauu)  nachweisbar  wäre.  Dies  ist  aber  nicht 
nur  nicht  der  fall;  nicht  einmal  das  vorausgesetzte  zeitwort 
'^xlaukin  ist  als  germ.  nachweisbar  oder  auch  nur  aus  andern 
sprachen  als  idg.  erschliessbar.  Die  ganze  etymologie  Kaufif- 
manns  schwebt  also  völlig  in  der  luft. 

Aher  selbst,  wenn  es  ein  germ.  wort  '^xlauw  gegeben  hätte, 
und  selbst  wenn  sich  die  von  Kauft'mann  vorgetragne  bedeu- 
tungseutwicklung  wahrscheinlich  machen  Hesse,  die  brücke  von 
diesem  '■"•xlauiö  zum  ahd.  leuuo,  louuo  wage  ich  nicht  zu  be- 
treten. Es  ist  gar  nicht  einzusehn,  weshalb  ein  ahd.  stamm- 
ahstufendes  paradigma  louuuo,  leuuin,  wie  es  Kauffmann  an- 
setzt, zwei  paradigmen  louuuo  und  leimo  geschafit'en  habe, 
während  bei  den  zahlreichen,  weit  häufiger  gebrauchten  Wör- 
tern, bei  welchen  das  gleiche  Verhältnis  vorlag  {Imno  :  henin 
u.  dgl.)  die  nicht-umgelautete  form  zur  alleinherschaft  gelangte: 
also  nur  hono,  namo  u.  s.  w,,  kein  '*heno,  *nemo.  Man  würde, 
um   den   von   Kauffmann    ])ehaupteten   Ursprung    von   leuuo  zu 


BREMER,  AHD.  LEO,  LIO,  LEUUO,  LOUUUO.  385 

rechtfertigen,  wenigstens  hier  und  da  einmal  unter  der  grossen 
zahl  von  belegen  ein  ''-'-heno,  '*nemo  nachweisen  müssen.  Viel- 
mehr aber  sagt  Braune  an  der  von  Kauffmaun  angeführten 
stelle,  Ahd.  gramm.,  §  221  anm.  2,  ausdrücklich  von  den  um- 
gelauteten  formen  wie  henin:  'Jedoch  hat  sich  der  umlaut, 
unter  einwirkung  der  übrigen  casus,  nicht  halten  können  und 
findet  sich  nur  in  alten  quellen;  im  9.  jh.  ist  schon  das  fehlen 
des  Umlauts  regel'.  Und  der  gen.  dat.  sing,  leuuin  sollte,  als 
einziges  beispiel,  nicht  nur  sich  über  das  9.  und  10.  jahrh. 
hinaus  erhalten  sondern  eine  so  grosse  kraft  besessen  haben, 
dass  er,  trotz  des  louuu-  sämmtlicher  andern  casus,  einen  neuen 
nominativ  leuuo  aus  sich  heraus  schaffen  konnte?!  Kaufluiann 
hat  selbst  diesen  schwachen  punkt  wol  gefühlt,  weiss  aber 
nichts  zur  erklärung  beizubringen,  als  dass  lat.  leo  mitgewirkt 
haben  könnte.  Eine  einwirkung  dieses  Vorbildes  ist  indes 
schon  darum  abzuweisen',  weil  zu  jener  zeit,  in  welcher  die 
umgelauteten  formen  wie  henin  zu  schwinden  begannen,  ahd. 
leuuin  nach  Kauffmann  noch  ''-hleuuin  gelautet  haben  müsste, 
was  von  dem  lein  doch  recht  weit  abliegt. 

Die  richtige  erklärung  des  ahd.  leuuo,  louuuo  liegt  auf  der 
band.  Es  ist  allein  von  lat.  leo  auszugehu,  welches  zunächst 
unverändert  herübergenommen  wurde.  Im  acc.  sing,  und  nom. 
acc.  plur.  entwickelte  sich  vor  dem  -un  der  eudung  auf  phy- 
siologischem wege  ein  u,  also  lewm  für  lemi,  vielleicht  auch 
vor  dem  o  der  endung  des  gen.  und  dat.  plur.  und  dem  o  der 
endung  des  nom.  sing.,  so  dass  nur  der  gen.  dat.  sing,  sein 
uu  von  jenen  casus  her  übernommen  hätte,  wie  ich  Heitr.  XI,  72 
gezeigt  habe.  Dass  das  lautgesetzliche  paradigma  nicht  mehr 
erhalten  ist,  verschlägt  nichts.  Zur  zeit  unserer  deukmäler 
waren  eben  die  uu-foimen  schon  für  das  ganze  paradigma 
verallgemeinert  worden. 

Ob  die  im  ahd.  belegten  leo,  leon,  leono  (Graff  II,  31  f) 
als  die  Vorstufen  zu  leuuo  zu  betrachten  sind,  ist  mir  sehr 
zweifelhaft.  Ich  möchte  glauben,  dass  die  entstehung  des  uu 
in  leuuo  weit  vor  die  zeit  unserer  denkmäler  fällt.  Die  belegte 
form  leo  lässt  sich  auf  drei  verschiedene  weisen  erklären.  Ein- 
mal ist  anzunehmen,  dass  der  löwe  unseren  vorfahren  noch  in 
weit  höherem  masse  als  uns  als  etwas  fremdartiges  erschien. 
Hatte   sich   seine  bezeichnung  noch  nicht  so  recht  als  ein  ein- 


386  BREMER 

heimisches  wort  eingebürgert,  so  konnte  ein  deutscher  schrift- 
steiler immer  wider  von  neuem  das  wort  unmittelbar  aus  dem 
lateinischen  entlehnen.  Eine  andere  erklärung  gibt  Kögel, 
Beitr.  IX,  513,  7  a  und  Braune,  Beitr.  XII,  208  anm.  1,  nach 
welcher  das  :uu  zwischen  vocalen  ausgefallen  sein  könnte.  Eine 
dritte  erklärung  endlich  fordert  die  wol  schwerlich  aus  vulgär- 
lat.  leonem  >  '^Vipne  entstandene  ahd.  form  lio  heraus.  Wäh- 
rend nämlich  leo  einerseits  zweisilbig  genommen  wurde,  so  dass 
sich  ein  leuuo  auf  lautlichem  wegc  entwickeln  konnte,  fasste 
man  andrerseits  das  wort  einsilbig  auf,  indem  das  eo  mit  dem 
ahd.  diphthong  eo  zusammenfiel.  Ich  möchte  in  der  tat  glau- 
ben, dass  sämmtliche  belege  von  ahd.  leo  in  dieser  weise  zu 
verstehen  sind.  So  musste  leo  in  der  ersten  hälfte  des  9.  jhdts. 
zu  lio  werden,  wie  hob  >  Uoh  (Braune,  Ahd.  gramra.  §  48).  In 
dieser  auffassung  stimmen  die  freilich  geringen  belege  trefflich: 
leo  Isidor  IX,  9  (nach  Weinhold,  wo  das  wort  aber  im  glossar 
fehlt),  leo  Carmen  ad  deum,  Müllenhoff-Scherer,  Denkm.  LXI,23, 
leono  Rb.,  Steinm.-Sievers  Gl.  I,  553,  1.  Das  einmalige  leo  bei 
Notker  (Ne.)  nach  Graff,  gegenüber  dem  bei  demselben  Schrift- 
steller 14  mal  belegten  leuuo,  loiiuuo  könnte  ein  Schreibfehler 
für  leuuo  sein.  Sonst  ist  nach  Graff'  noch  belegt:  leo  Sg.  242 
und  leon  Em.  18;  beide  stellen  kann  ich  augenblicklich  nicht 
einsehen;  Sg.  242  ist  aus  dem  9.  jhdt.,  Em.  18  eine  abschrift 
des  10.  jlidts.  von  glossen  aus  dem  9.  jhdt.  Isidor  und  Carmen 
ad  deum  haben  auch  sonst  regelmässig,  Rb.  öfter  noch  eo 
(Braune,  Ahd.  gramm.  §  48  anm.  1).  Lio,  lioin  hat  Sg.  242; 
lioniia  Rb.  stimmt  zu  dem  für  dieses  deukmal  anch  sonst  nor- 
malen io  (Braune  a.  a,  o.).i) 

Wenn   wir   nun  neben  der  gebräuchlichsten  form  leuuo  im 
spätem  ahd.  noch  ein  louuuo  finden,  so  gibt  es  hierfür  nur  eine 


^)  Die  für  ahd.  leo  vorgetragne  erklärung  findet  aucn  auf  aengl.  leo 
anwendung.  Kauffmann  meint  3.208  anm.  2,  man  sollte  nach  meiner 
theorie  auch  hier  ein  rv  erwarten.  Das  trift"t  nicht  zu.  Einmal  begann 
im  aengl.  mit  u  nur  die  endung  des  dat.  plur.;  falls  also  nur  folgendes 
M,  nicht  auch  o,  jenes  rv  bewirkt  hat,  so  könnte  man  ein  rv  im  aengl.  gar 
nicht  erwarten.  Aber  auch  -on,  -ona  ist  aengl.  nur  selten  gegenüber 
-an,  -ena.  Im  aengl.  fasste  man  das  eo  von  leo  naturgemäss  als  den 
diphthong  eo  auf,  was  durch  north,  k'a  sicher  gestellt  ist.  Vgl.  die 
gleiche  flexion  von  irveo,  Srveon,  meo,  beo,  ceo,  peo,  reo,  seo  (Sievers, 
Ags.  gramm. 2  §  277  anm.  2  und  27S  anm.  2). 


AHD.  LEO,  LIO,  LEUVO,  LOVUUO.  387 

erklärung,  welche  schoü  durch  das  spätere  auftreten  der  letz- 
teren form  nahe  gelegt  wird.  Es  gab  im  ahd,,  soweit  ich 
sehe,  kein  einziges  wort  mit  euu  im  stamme 9,  das  nicht  da- 
neben eine  andere  Stammform  mit  ouuu  aufwiese  (Kögel,  Beitr. 
IX,  530 — 533).  Der  Wechsel  von  geuui  :  gouuues,  freuuita  : 
frouuuen  ist  ein  lautgesetzlich  begründeter.  Durch  ausgleichung 
entstanden  die  doppelformen  geuui :  gouuiii,  freuuen  :  frouuuen. 
Es  liegt  auf  der  band,  dass  nachdem  einmal  die  Vermischung 
eingetreten  war,  dem  Sprachgefühl  ouuu  neben  euu  als  gleich- 
berechtigt galt.  Konnte  man  statt  geuui  ebensogut  gouuui 
sagen,  warum  nicht,  so  musste  man  sich  unbewusst  sagen, 
auch  louuuo  für  leuuo,  louuuili  für  leuuili,  louuuin  für  leuuin'i 
Es  wäre  sehr  zu  verwundern  gewesen,  wenn  man  in  diesem 
einzigen  falle  nicht  ein  ouuu  neben  euu  neu  hergestellt  hätte; 
denn  man  konnte  damals  unmöglich  noch  eine  ahnung  davon 
haben,  dass  es  sich  mit  dem  euu  von  leuuo  etymologisch  an- 
ders verhielte  als  mit  dem  euu  von  geuui. 

Die  entwicklung  der  ahd.  formen  ist  demnach  diese: 

westgerm. 

*leo 


leO  ^""^  '^'^'^  '''^^'^  unserer  denkmiiler 

-^  leuuo 


1.  liälfte  des  !).  jlults. 

lio 


leuuo  ««it  i""o 

louuuo 


1)  Nämlich   dem   ?-iimlaiit   von  mm,    wol  zu  unterscheiden  von  dem 
mit  iuuu  wechselnden  euuu  (Kögel,  Beitr.  IX,  5;<5  ff.). 

STRALSUND,  den  21.  Juli  1887.  OTTO  BREMER. 


Beiträge  zur  gesciiichte  dor  deutschen  spräche.     XIII. 


26 


ZUR  THEORIE  ])1:R  EN^rSTEHUNG 
DER  SCI1WELLVER8E. 

in  meinem  aufsatz  über  den  versbau  der  Judith  (Bcitr. 
XI,  470  ff.)  habe  ich  versucht,  die  in  diesem  denkmal  vor- 
kommenden schvvellverse  von  den  normalen  versen  abzugrenzen 
und  ihren  bau,  wie  er  sich  in  dem  beschränkten  kreise  dieses 
gedichtes  zu  erkennen  gab,  darzulegen.  Dass  bei  einer  Unter- 
suchung des  gesammten  versmaterials  manches  unter  einen 
anderen  gesichts))unkt  rücken  würde,  war  bei  der  beschränkt- 
heit  des  materials  i)  vorauszusehen.  In  der  tat  stellt  sich  nach 
den  ausführungen  Sievers'  (Beitr,  XII,  454  ff'.)  vieles  anders. 

Namentlich  weicht  Sievers  von  meiner  damaligen  auf- 
fassung  der  schwellverse  in  der  erklärung  ihrer  entstehung 
ab  (Beitr.  XII,  458.  481).  Die  argumente,  welche  er  bei- 
bringt, kann  ich  nicht  widerlegen;  aber  andererseits  drängen 
sich  mir  bedenken  gegen  seine  auffassung  auf.  Zunächst  trifft 
diese  erklärung  bei  manchen  typen  nicht  sofort  zu.  Es  ist 
wol  von  geringer  bedeutung,  wenn  bei  B  und  C  statt  —x 
bloss  -1  vortritt;  möglicherweise  wäre  diese  ausnähme  nicht 
einmal  notwendig:  Ix  I  X  — X—  "^^^  -X  I  x  —  -X  könnten  das 
ursprüngliche  sein  und  die  formen  mit  einsilbiger  erster  Senkung 
nur  eine  spätere  rückbildung;  dass  aber  einmal  (s.  468)  auch 
Vorschiebung  von  x—  ^^^^^t  -ix  angenommen  werden  muss, 
scheint  mir  misslich.  Vor  allem  jedoch  halte  ich  folgendes 
für  wichtig.  Wenn  die  erste  hebung  die  hinzugetretene,  secun- 
däre  ist,  wie  sie  sich  deutlich  im  zweiten  halbverse  durch  die 
schwache   betonung   (s.  4G0  anm.)   zu   erkennen   gibt,   so  sollte 


')  So  finden  sich  z.  b.  unter  den  schwellversen  der  Judith  i<eine 
B-formen,  welche  für  die  auffassung  derselben  von  Wichtigkeit  sind; 
(vgl.  Beitr.  XII,  459  anm.). 


LUICK,  ENTSTEHUNG  DER  SCHWELLVERSE.  389 

man  erwarten,  dass  sie  aucli  im  ersten  halbvers  die  minder 
betonte  ist;  statt  dessen  bildet  sie  gewöhnlich  eine  von  den 
zwei  alliterierenden  hebungen.  Wenn  die  formen  des  ersten 
halbverses  ebenso  aus  den  normaltypen  desselben  entstanden 
sind  wie  die  des  zweiten  aus  den  seinigen,  so  sollte  nach  dem 
muster  des  letzteren  die  alliteration  entweder  auf  der  zweiten 
und  dritten  hebung  oder  nur  auf  der  zweiten  stehu.  Das  ist 
eine  Schwierigkeit,  über  die  ich  nicht  hinauskomme.  —  Mir  ist 
daher  eine  andere  auffassung  wahrscheinlich  geworden,  die 
mir  schon  bei  der  Judith  flüchtig  vorschwebte,  die  aber  nun, 
wo  das  gesammte  material  gesammelt  vorliegt,  erst  ihre  stütze 
findet. 

Danach  wäre  die  erste  hälfte  der  schwellverse  auf  folgende 
weise  gebaut.  Der  vers  beginnt  mit  einem  jener  normaltypen, 
deren  silbenzahl  nicht  eine  geschlossene  ist,  also  mit  A,  B 
oder  C;  mit  der  zweiten  hebung  jedoch  tritt  eine  abfolge  ein, 
als  ob  sie  die  erste  hebung  irgend  eines  der  fünf  typen  wäre. 
Z.  b.:  der  normale  typus  A  ist  .Ix  — x!  bei  der  zweiten  hebung 
ist  aber  das  erregte  gefühl  noch  nicht  befriedigt.  Es  fängt 
von  neuem  an,  fasst  sie  als  erste  hebung,  eine  weitere  schliesst 
sich  an  u.  z.,  wie  leicht  erklärlich,  in  einer  weise  wie  sonst 
bei  irgend  einem  typus.  Nehmen  wir  C,  so  entsteht  J-x  — -x- 
Es  findet  also  eine  durchdringung  zweier  typen  statt: 

-x-x 

X--X 


-X X 

Dabei  wird  gewissermassen  zweimal  angefangen;  da  nun  in 
den  gewöhnlichen  typen  normaler  weise  die  erste  hebung 
alliteriert  —  wenn  nicht  alle  beide  —  so  ist  es  natürlich,  dass 
die  ersten  zwei  hebungen  des  neu  entstandenen  gebildes, 
w'elche  ursprünglich  zwei  erste  hebungen  waren,  nunmehr  alli- 
terieren, wenn  nicht  alle  drei  dies  tun.  Theoretisch  ergäben 
sich  nun  15  formen: 

AA  ^x--x.-x 

AB  Ix.-x-- 

AC  -X---X 

AD  ^x----x 

Kl?  '  '     ^  ' 

AH.      _x x- 

26* 


390  LUICK 


BA 

X- 

-X--X--X 

BB 

X- 

-  X  •  -  X  •  - 

BC 

X- 

-X---X 

BD 

X- 

-  X  •  -  -  -  X 

bp: 

X- 

-X--  '  X- 

CA 

X- 

-  -  X  •  -'  X 

CB 

X- 

--X-- 

cc 

X- 

1     1     1 

X 

CD 

X- 

----X 

CK 

X  • 

— --X  - 

Von  diesen  theoretischen  möglichkeiten  fallen  einige  weg, 
CD  ist  ein  unding.  CC  und  CB  nähern  sich,  da  nach  ausweis 
der  alliteration  die  dritte  hebung  des  ersten  halbverses  minder 
betont  ist,  zu  sehr  dem  normalen  typus  D  mit  auftakt  (und 
beziehungsweise  zweisilbiger  Senkung  im  zweiten  fuss),  (Beitr. 
X,  301  f.  D.  5,  6),  um  als  schwellvers  empfunden  zu  werden; 
ebenso  ist  CE  nur  eine  art  erweiterter  ty])us  D  mit  auftakt. 
Es  bleiben  somit  noch  U  formen;  von  diesen  sind  die  ersten 
fünf  genau  die  typen  der  Sievers'schen  tabellarischen  übersieht 
(Beitr.  XII,  473  f}'.),  die  nächsten  fünf  ihre  Varianten  mit  auf 
takt  und  CA  endlich  jene  form  auf  s.  46S,  welche  nur  im 
ersten  halbvers  vorkommt.  —  Diese  erklärungsweise  scheint 
mir  den  vorteil  zu  besitzen,  dass  mittelst  einer  und  derselben 
Operation  alle  formen  sich  ergeben  und  dass  die  Stellung 
der  alliteration  ihre  begründuug  findet.  Ja  ich  möchte  sogar, 
wenn  diese  auffassung  richtig  ist,  in  dem  wideraufgreifen 
eines  betonten  elementes  (der  ersten  hebung),  in  jenem  sich 
nicht  genug  tun  können  an  erregten  stellen  ein  metrisches 
Seitenstück  zu  gewissen  Stileigentümlichkeiten  der  ags.  poesie 
erkennen. 

Es  lässt  sich  nun  einwenden,  dass  die  aus  B  als  erstem 
typus  abgeleiteten  formen  fraglich  sind,  da  nur  ein-  und  zwei- 
silbiger auftakt  und  der  nur  selten  erscheint,  gerade  so  wie 
ja  auch  sonst  im  ersten  halbvers  vor  normaler  weise  auftakt- 
losen typen  ein-  oder  zweisilbiger  auftakt  vorkommt.  Dieses 
bedenken  scheint  mir  nicht  unberechtigt  und  es  ist  möglich, 
dass  B  aus  der  reihe  der  jener  entvvicklung  fähigen  typen  zu 
streichen   ist.     Es   ist   denkbar,    dass  dieser   typus,    weil  sein 


ENTSTEHUNG  DER  SCHWELLVERSR.  391 

hauptcharakteiisticum  an  seinem  ende  liegt  und  er  dadurch 
seinen  ausgang  so  scharf  von  den  anderen  abhebt,  der  Weiter- 
bildung stärkeren  widerstand  entgegensetzte.  Wenn  mau  in 
A  und  C  bei  der  zweiten  hebuug  angelangt  ist,  so  ist  der  vers 
noch  nicht  abgeschlossen;  man  erwartet  noch  etwas  und  so 
kann  sich  leichter  anstatt  der  Schlusssenkung  eine  erweilerung 
anschliessen.  Bei  B  hingegen  ist  mit  der  zweiten  hebung  der 
vers  überhaupt  zu  ende,  man  erwartet  nichts  weiter. 

Danach  wäre  so  zu  formulieren:  Der  vers  beginnt  mit 
einem  der  normaltypen,  deren  silbenzahl  nicht  eine  geschlossene 
und  deren  ausgang  klingend  ist,  also  A  und  C;  mit  der  zwei- 
ten hebung  tritt  eine  abfolge  ein,  als  ob  sie  die  erste  hebung 
eines  der  fünf  typen  wäre.  Von  den  zehn  theoretischen  mög- 
lichkeiteu  kommen  nur  sechs  zur  geltung:  AA,  AB,  AC,  AD, 
AE  und  CA.  Vor  den  so  entstandenen  gebilden  ist  ebenso 
massiger  auftakt  gestattet,  wie  vor  den  normaltypen  des  ersten 
halbverses. 

Die  formen  der  zweiten  hälfte  der  seh  well  verse  werden 
nicht  auf  diese  weise  zu  erklären  sein.  Die  alliteration  nimmt 
hier  eine  andere  stelle  ein  und  eine  form  —  die  wir  oben  als 
AC  erklärt  haben  —  fehlt  ganz.  Ich  glaube,  einem  gewissen 
metrischen  symmetriebedürfuis  widerstrebte  es,  parallel  zur 
ersten  vershälfte  nun  ebenfalls  von  den  liaupthebungen  all- 
mählig  durch  die  nebenhebung")  zum  versschluss  herabzusteigen; 
nachdem  die  tonstärke  im  ersten  halbvers  langsam  gesunken 
war,  entsprach  es  diesem  bedürfnis,  nun  allmählig  zur  tonstärke 
des  hauptstabes  hiuanzusteigen  und  so  entstand  die  secundäre 
hebung.  Daher  ist  sie  häufig  so  schwach  und  im  allgemeinen 
viel  weniger  ausgeprägt  als  die  dritte  hebung  des  ersten  halb- 
verses. Nun  aber,  nachdem  dies  geschehen  war,  erst  wider 
jene  Umbildungen  eintreten  zu  lassen,  war  zu  spät;  da  würden 
die  verse  ungeheuerliche  ausdehnung  angenommen  haben.  — 
Im  zweiten  halbvers  also  tritt  eine  secundäre  hebuug  vor  die 
normaltypen.     Das  fehlen  der  form  AC  ist  begreiflich. 

So   denke  ich   mir   den   Ursprung  der    seh  well  versformen; 


1)  Ich  meine  damit  die  dritte  nicht  alliterierende  hebung,  welche 
auch  nach  Sievers'  ansieht  —  ich  verdanke  diese  kenntnis  brieflicher 
mitteilung  —  minder  betont  war  als  die  ersten  zwei. 


392  LUICK,  ENTSTEHUNG  DER  SCHWELLVERSE. 

sobald  sie  sich  gefestigt  hatten,  mochte  das  gefiihl  für  denselben 
mehr  und  mehr  schwinden;  daraus  erklären  sich  jene  Stellungen 
der  alliteration,  welche  von  der  normalen  abweichen.  Nament- 
lich sind  die  ersten  halbverse,  in  denen  nicht  die  erste  hebung 
alliteriert,  mit  der  form  A  3  der  normalverse  zu  vergleichen. 
Manche,  mögen  übrigens  auftaktverse  zu  normaltypen  sein  (vgl. 
Sievers,  Beitr.  XII,  467). 

WIEN,  13.  april  1887.  KARL  LUICK. 


GESCHLOSSENES  E  AUS  E  VOR  L 

Die  von  Paul,  Beitr.  XII,  548  f.  gegebene  erklärung  von 
geschlossen  e  in  nhd.  fels^  pelz,  welch  kann  durch  weitere  be- 
lege gestützt  und  gesichert  werden.  Im  schwäbischen  und 
alemannischen  dialekt,  die  etym.  e  und  ("  lautlich  streng  schei- 
den, indem  e  als  umlaut  von  a  durch  geschl.  e  (ö),  e  (sog,  ge- 
brochenes e)  durch  oifeu  ('  (im  schwäb.  unter  gewissen  be- 
dingungen  e^)  vertreten  ist,  bestehen  eine  anzahl  'ausnahmen', 
in  denen  e  (ö)  statt  ^  erscheint.  Franck  hatte  Zs.  fda.  25,  218  ff. 
das  schwäbische  zur  feststellung  der  mhd.  qualitäten  angezogen 
und  s.  220  in  schwäb.  hresfr  (alem.  hvöstdr  vgl.  z.  b.  Stickel- 
berger,  Mundart  von  Schaffhausen  s.  20)  wie  mhd.  swester  (vgl. 
den  reim  swester  :  vester  in  Hartmanns  Gregor  449  f.  u.  a.)  und 
ebenso  in  gestrt  gestern  die  entstehung  des  geschl.  (?-lautes 
auf  den  einfluss  der  folgenden  lautgruppe  -st,  -st  zurückgeführt. 
Dieser  ausweg  ist  nicht  statthaft,  weil  beispielsweise  n^st  nest, 
hrpthaft  zerbrechlich  u.  a.  offen  ^  bewahrt  haben.  Analog  der 
annähme  Pauls  ist  vielmehr  die  Ursache  für  e  in  dem  alten 
Suffixablaut  zu  suchen,  vgl.  ahd.  swester  :  swister  bei  Tatian 
106, 6  (zweimal)  wie  anord.  systir,  und  eine  mischform  ahd. 
*sfvestir  >  '"^swestir  vorauszusetzen.  Dasselbe  hat  für  gestrt 
gestern  zu  gelten,  vgl.  ahd.  gestaron  :  kestirn,  egestir  Graff 
IV,  273;  denkbar  wäre  indessen  auch,  dass  der  geschlossene 
laut  aus  der  -/^/-ableitung  ahd.  gestrig  stammte.  Wenn  für  ehd 
eben  (planus)  gegen  ^dhd  soeben  etc.  ausser  ahd.  ehari  auf  diese 
weise  eine  nebenform  */im,  die  mit  der  ersteren  zusammen 
ehin  >  ehin  Graff  I,  95,  ergäbe,  wahrscheinlich  wird,  so  erklärt 
sich  geschl.  e  in  dem  substant.  ehdne  die  ebene  (ebenso  alem. 
vgl.  Stickelberger  a.  a.  o.)  aus  ahd.  ehani  >  ehini  Graff  a.  a.  o. 
(vgl.  Braune,  Ahd.  gr.  §§  67.  68)  und  möglicherweise  ist  von 
dem  Substantiv  der  geschl.  laut  in  das  zugehörige  adjectiv  ge- 


ö 


394  KAUFFMANN,  aESCHLOSSENES  E  AUS  E. 

drungen.  Auffallend  ist  die  in  manchen  mundarten  wie  im 
Schwab,  und  alem.  (vgl.  Stickel berger  a.  a.  o.)  bestehende 
differenz  bei  dem  zahlwort  srks  und  seinen  ableitungen;  der 
oftene  laut  (=  ahd.  ii^  idg.  e)  ist  in  sedclitse,  s^dchtsk  üblich, 
während  die  einfache  zahlform  geschl.  e  zeigt.  Doch  kann 
hierfür  nun  ein,  wie  ich  glaube,  einleuchtender  grund  geltend 
gemacht  werden.  Die  mundarten  verwenden  in  der  regel  die 
alte  flectierte  form  (z.  1).  schwäb.  meist  sekse,  wahrscheinlich  = 
neutr.  plur.  ahd.  sehsiu)  und  da  nun  wie  bekannt  die  Zahl- 
wörter von  4 — 12  ahd.  in  die  flexion  der  f-stämme  eingetreten 
sind  (vgl.  Braune  a.  a.  o.  §  271),  ergibt  sich  hieraus  die  Wand- 
lung von  e  ZU  e  vor  i  der  flexion,  die  für  s^9chtse,  s^dchisk 
ausgeschlossen  war  (z.  b.  ahd.  dat.  sehsiin  :  sehzug,  sehzog  u.  s.  w. 
Graft"  VI,  152).i)  Dass  ferner  dem  adj.  ledig  altes  (gebrochenes) 
e  zukam  beweisen  anord.  lipigr,  lil>ugr  und  der  wol  kaum 
bezweifelte  Zusammenhang  mit  got.  leipan  gehen;  mhd.  ledic, 
ledec  bezeugen  durch  den  stammvocal  eine  ursprüngliche  ab- 
leitung  -ag,  die  wie  in  andern  fällen  (vgl.  Beitr.  XII,  205  f.) 
auf  analogischem  wege  durch  die  -7^-ableitung  (diese  in  ahd. 
lidigen  expedire  Graft"  II,  ISO)  verdrängt  worden  ist  {*ledig  > 
ledig).  Dieselbe  ableitung  hat  im  alem.  chressig  (vgl.  Stickel- 
berger  a.  a.  o.)  aus  mhd.  kresse  (danach  schwäb,  kr^ssig)  den 
geschlossenen  laut  veranlasst ,  wahrscheinlich  ist  ebenso  alem. 
schwäb.  ellicli  aus  mhd.  etelich  zu  erklären.  D^s  geschl.  e  in 
schwäb.  hcsd  (nicht  allgemein,  auch  h^dsd)  besen  führe  ich  auf 
die  genetiv-  und  dativ-formen  des  Singulars  der  ursprünglichen 
schwachen  flexion  zurück,  hüsamo  :  hesiinin  vgl.  Graft"  III,  217, 
in  analogen  fällen  ist  bekanntlich  umlaut  eingetreten  (Braune 
a.  a.  0.  §  221  anm.  2).  Diese  umlautung  von  ^  zu  f  vor  i  ist 
nur  in  isolierten  Wörtern  nachweisbar,  in  zahlreichen  andern 
fällen,  in  denen  die  mundarten  heute  f  vor  i  zeigen,  hat  sich 
der  ofi'ene  laut  gehalten,  weil  etym.  verwante  formen  mit  ^ 
überwiegen. 


^)  Die  Wirkung  der  z-flexion  wird  auch  durch  mlid.  ehte  acht  be- 
wiesen, dem  umlaut  dieser  form  entspricht  genau  der  Übergang  von  f  in 
e  bei  seks. 

MARBURG,  12.  mai  1887.  FR.  KAUFFMANN. 


ETYMOLOGICA  I. 


1.     Got.  afaikan. 


E. 


js  ist  eine  ganz  unbegründete  Voraussetzung,  dass  in 
got.  af-aikan  'leugnen,  verleugnen',  weil  man  es  auch  'ab-sagen' 
übersetzen  kann,  das  Schlussglied  -aikan  'sagen'  bedeutet 
haben  müsse;  die  darauf  gegründete  hypothese,  dass  hier  die 
german.  entsprechung  von  aind.  aha  perf.  'sagt,  spricht',  gr.  i) 
'sprach'  und  lat.  üjo  'sage,  spreche'  <  *«ä/ö  oder  *agw,  ad- 
U(j-ium  'Sprichwort'  vorliege,  richtet  sich  heutzutage,  wo  man 
über  die  famose  germanische  /-epenthese  hoffentlich  allge- 
meiner zur  tagesordnung  übergegangen  sein  wird,  von  selbst. 
Was  hindert,  in  got.  af-aikan  ein  'ab-schütteln'  zu  sehen? 
Dann  würde  das  verbum  zu  aind.  ej-a-ti  'rührt  sich,  bewegt 
sich,  bebt',  l'j-a-ti  in  äpejate  'treibt  von  sich  weg,  verjagt' 
(<  *dpa-ljati)  gestellt  werden  dürfen. 

Die  Wurzel  aind.  ej-  'schütteln'  ist  schon  durch  die  dazu 
gestellten  griechischen  Wörter  aly-sg  f.  pl.  'grosse  meereswellen', 
aly-lg  f.  'gewitterwolke,  sturmwolke,  Sturmwind',  'gewitterschild 
des  Zeus'  (als  'kräftig  geschüttelter'),  xar-aiyig  f.  'plötzlich 
herabfahrender  windstoss,  stürm',  ejt-aiyiC,i:iv  'heranstürmen, 
herandringen'  (G.  Curtius,  Grundz.  der  griech.  etymJ'  180  f., 
Vanicek,  Griech.-lat.  etym.  wörterb.  83,  Etym.  wörterb.  d.  lat. 
spr.'-  30,  Leo  Meyer,  Vergleich,  gramm.  d.  griech.  u.  lat.  spr. 
12  867)  für  den  vocalismus  in  beschlag  genommen,  der  dem 
got.  af-aikan  seine  ablautsreihe  bestimmt.  Ebenso  durch  das 
bereits  bei  aind.  eJ-  und  der  erwähnten  griechischen  sippe 
untergebrachte  auord.  eikenn  adj.  'wild',  das  jetzt  als  erstarrtes 
particip  des  got.  (af-)aikan  sich  darstellt.  Dass  auch  der  name 
der  eiche  —  ags.  äc,    ndl.  eck,    ahd.  eih,   mhd.  eich,   im  anord. 

Beiträge  zur  geschiebte  der  deutschen  spräche.    XIII.  27 


396  OSTHOFF 

eik  f.  nur  'bäum'  —  sich  hiev  anschliessen  möge,  hätte  Kluge, 
Etym.  wörterb.  u.  d.  w.  vielleicht  zuversichtlicher  ausgesprochen 
bei  berücksichtigung  von  griech.  ai'ytiQog  f.  'pappel',  eigentlich 
'zitterbaum'  nach  Curtius  a.  a.  o. 

Wenn  got.  af-aikan  von  dem  grundbegriff  des  abschüttelns 
ausgegangen  ist,  so  bedeutete  es  anfänglich  ein  'energisches 
verleugnen,  sich  lossagen  mit  entschiedenheit',  wie  es  z.  b.  das 
von  Petrus  gegen  Jesus  verübte  war,  das  Wulfila  an  allen 
darauf  bezüglichen  stellen  (Matth.  26,  72.  75.  Marc.  14,  68.  71. 
Jon.  13,38.  18,25)  durch  afaikan  bezeichnet.  Die  begrififsüber- 
tragung,  'abschütteln'  zu  'verleugnen',  hat  gute  analogien  im 
lateinischen:  re-pudiTtre  eig.  'mit  dem  fasse  zurückstossen'; 
spevncre,  aspenmri  'verwerfen,  verschmähen'  zu  dündi.  sjyhur-üd 
'schnellt,  zuckt,  stösst  von  sich  ab',  griech.  öJiaiQco  'zucke', 
lit.  spir-li  'mit  dem  fusse  stossen',  sowie  zu  ags.  asächs.  ahd. 
spurnan  'treten'  nebst  ags.  spora,  alid.  sporo,  mhd.  spo?^  'sporn'. 

2.  Asche,  esse. 
Die  Vereinigung  des  got.  azgö  f.  'asche'  mit  lat.  ärere 
'trocken  sein,  dürr  sein',  Urtdus  'trocken,  dürr',  ardere  'brennen' 
(aus  '-'aridere),  ferner  mit  aind.  ä'sa-s  m.  'asche,  staub'  unter 
einer  wurzel  as-,  der  der  grundbegriff  der  'ausdörrenden  glut- 
hitze'  zukam,  ist  schon  versucht  worden  von  Fick,  Vergleich, 
wörterb.  ir^,  28.  Ill-*,  29;  vgl.  auch  Vanicek,  Etym.  wörterb.  d. 
lat.  spr.2  34,  Zehetmayer,  Analog. -vergleich,  wörterb.  35  a., 
Leo  Meyer,  Vergleich,  gramm.  I-,  114. 

Von  as-  hat  es  nun  eine  alte  Wurzelerweiterung  durch 
-d-,  etwa  eine  indog.  praesensbildung  mit  stammerweiterndem 
f/-suffix  '■''■az-do  ,  gegeben,  deren  spuren  deutlich  im  griech.  und 
slav.  vorliegen:  griech.  aCo)  'dörre,  trockne'  (Hesiod.),  aCofiaL 
pass.  'verdorre'  (Homer,  Herod.),  aC,(ci'8rca  'vertrocknet',  a^aivco 
'dörre,  trockne',  aC,r/  (aCa)  f.  'dürre,  trockenheit',  übertr.  als 
folge  derselben  'rost,  schimmel'  (Hom.),  auch  'hitze,  glut' 
(Oppian.),  dCaXiog  adj.  'dürr,  trocken,  dörrend,  austrockend,  er- 
hitzend, entflammend'  (-g-  <  -zd-  wie  in  /'^o?,  o^og,  ^d-7JvaC,s)', 
cech.  apoln.  ozd  m.  'malzdarre',  slov.  cech.  ozditi,  polnisch 
oz'dzic  'malz  dörren',  klruss.  oznyc'a  f.  'rauchloch  im  stroh- 
dache' <  ^ozdnyc'a. 


ETYMOLOGICA  I.  397 

Mit  Fiek  auf  die  basis  *az-d-  auch  lat.  ardere  zurückzu- 
bringen, gebt  nicht  au,  da  dieses  nur  eine  synkopierte  form 
aus  *äridere,  denom.  zu  Urtdus,  sein  kann.  Doch  scheint  mit 
hilfe  des  *az-d-  vielmehr  das  lat.  adolere  'als  brandopfer  ver- 
brennen' [hostiam,  tUra,  viscera  u.  dgl.),  'opfernd  in  brand 
setzen'  (äram,  alläria,  focös)  sich  deuten  zu  lassen.  Ein  dem 
griech.  *aCaXo-  in  aC^aX-to-q  entsprechender  lat.  adjectivstamm 
*ädolo-  <  *azdolo-  (vgl.  mdus,  sido)  lieferte  das  denom.  *Udo- 
lere^  das  durch  einflüsse  der  Volksetymologie  zu  adolere  wer- 
den konnte,  da  sowol  ad-olere  'duften,  riechen'  nahe  lag,  um 
das  brandopfer  in  wolgeruchspende  sich  umwandeln  zu  lassen, 
als  auch  das,  wie  es  scheint,  von  den  alten  noch  mehr  herbei- 
gezogene ad-olescere  'heranwachsen',  dem  zufolge  das  lodernde 
altarfeuer  als  'wachsendes'  erscheinen  konnte  (Paul.  Fest.  5,  6) 
oder  als  die  gottheit  'stärkendes,  wachsen  machendes'  (Serv. 
Verg.  Aen.  1,  704.  buc.  8,  65,  Non.  p.  58,  21);  bei  Bröal- 
Bailly,  Dict.  etyra.  lat.  231  wird  ja  sogar  die  Verbindung  von 
adolere  'verbrennen'  mit  adolcscere  auch  wissenschaftlich  noch 
vertreten.  Ficks  'europäisches  al  brennen'  (Kuhns  zeitschr. 
XXI  3  f.,  Vergleich,  wörterb.  P,  500.  \\\  307.  IIl^,  27)  ist  mis- 
raten,  da  anord.  eldr  (für  *e//e5r  nach  dat.  sing,  elde  <  '"^eilde, 
Noreen,  Altisläud.  und  altnorw.  gramm.  §111  s.  45.  §270,2 
s.  111),  ags.  (Ued,  asächs.  cid  m.  'feuer'  und  ags.  Alan  'bren- 
nen' <  '■^ailjan  auf  german.  *«//-  beruhen,  daher  mit  lat.  ado- 
lere, selbst  wenn  dieses  in  ad-olere  zu  zerlegen  wäre,  nichts 
zu  schaifeu  haben  können.  Nach  unserer  auffassung  von 
adolere  'opfernd  verbrennen'  käme  dieses  passend  mit  lat.  Tira 
'altar'  zusammen,  das  doch  wol  richtig  von  Bücheier,  Lex. 
ital.  V  b.  auch  zu  ürere,  (xridus,  ordere  gestellt  wird. 

Die  jedenfalls  aus  dem  griech.  und  slav.,  w'eun  lat.  adolere 
als  unsicherer  verwanter  dahin  gestellt  sein  mag-,  sich  er- 
gebende basis  *az-d-  'brennend  dörren'  darf  man  auch  das 
ihrige  beitragen  lassen  zur  hebung  der  consonantischen  Schwierig- 
keit, welche  das  -zg-  von  got.  az(/ö  gegenüber  dem  -sk-  in 
anord.  aska,  ags.  cesce,  ahd.  asca,  mhd.  nhd.  asche  f.  bereitet. 

Ein  dem  griech.  a^rj  entsprechendes  german.  nomcn  war 
*asiö]  vgl.  ast  =  o^oq,  nest  <  id^.  '■^'•ni-zdö-m  u.  dgl.  Von 
einem  aus  ^astö  abgeleiteten  adjectiv  germ.  "^-asta-gö-z  'zur 
dörrhitze   gehörig',    gleichsam  griech.  ^aC^a-xo-q,  war  das  sub- 

27* 


398  OSIHOFF 

stantivierte  feminin  '■'•asta^ön-.  Indem  dieses  lautgesetzliche 
Synkope  seines  mittelvocals  erlitt,  entsprang  "^'aslgön-,  das 
dann  je  nach  den  dialekten  zufolge  riickwärtswirkender  assi- 
milatiou  in  az{d)gön-  (got.)  oder  zufolge  vorwärts  wirkender 
in  *as{t)kö}i-  (skandin.-westgerm.)  ausmündete.  Die  gotische 
vocalahsorption  in  azgön-  <  '''•asfagön-  —  die  in  den  übrigen 
dialekten  bedarf  als  mit  den  allgemeinen  synkoperegeln  der- 
selben in  einklang  keiner  besondern  erläuterung  —  reiht  sich 
den  bekannten  erscheinungen  wie  abinöJmn  für  ^ainanö-hun, 
ferner  den  synkopieruugen  des  compositionsvoeals  in  ain-falps, 
aU-waldandSy  gud-hüs,  laus-qiprs,  rve'm-drugkja  u.  s.  w.  an,  für 
die  freilich  auch  nach  Julian  Kremer,  Beitr.  VIII,  378  ff,  das 
gesetz  noch  zu  suchen  bleibt. 

Zu  der  wurzel  as-  'brennen'  stellt  Fick,  Vergleich,  wörterb. 
IP,  28  auch  ahd.  essa,  mhd.  nhd.  esse  f.  'ustrina,  feuerherd  des 
metallarbeiters'.  Auch  darin  hätte  man  ihm,  wie  es  bereits 
Vauicek  und  Zehetmayr  aa.  aa.  oo.  taten,  folgen  und  die  wol  auf 
Schleichers  autorität  Kuhns  zeitschr.  XI,  52  beruhende,  von 
mir  selbst  Morphol.  unters.  IV,  324  leider  auch  noch  gebilligte 
deutuug,  wonach  essti  als  reflex  einer  grundform  ''^idh-ta  zu 
griech.  cäd-co,  aiud.  edh-,  idh-  'entzünden,  entflammen'  bezogen 
wird,  längst  fahreu  lassen  sollen.  Ein  deiartiges  particip  von 
indog.  aidh-  können  wir  uns  nach  heutigem  wissen  von  indo- 
germanischer lautentwickelung  nur  wol  als  germ.  '^•izdö  = 
indog.  '''•id^dha  denken;  vgl.  Bartliolomae,  Ar.  forsch.  I,  24.  176, 
Kluge  in  diesen  Beitr.  IX,  153,  abweichend  freilich  Brugmann, 
Grundr.  d.  vergleich,  gramm.  I  §  552  s.  406.  Ferner  aber,  was 
noch  ausschlaggebender  ist:  esse  hat  in  allen  lebenden  deut- 
schen volksmundarteu,  in  denen  ich  sein  auftreten  verfolgen 
konnte,  geschlossenes  e,  also  ein  durch  «-umlaut  aus  a  ent- 
standenes. Wird  schon  dadurch  auf  ein  got.  '"^asja  (oder  nom. 
*asi),  gen.  '''•asjüs  hingewiesen,  so  \ollends  durch  die  noch  deut- 
lich das  ableitende  jod  zeigenden  skandinavischen  Wörter 
aschwed.  cesja  'esse',  norweg.  esja  'glühende  kohle'  und  am 
allerklärlichsten  durch  das  vor  der  z-umlautung  von  dort  ent- 
lehnte tinn.  ahjo  'esse'.  Es  ist  fast  unverständlich,  wie 
Thomsen,  Ueb.  d.  einflus,^d.  german.  spr.  auf  d.  finn.-lapp.  128 
und  0.  Schade,  Altdeutsch,  wörterb.-  154  b.  unter  gleichzeitiger 
nenuung   der   skandin.    formen    und  des  finnischen  wortes  sich 


ETYMOLOGICA  I.  399 

noch  zustimmend  zu  der  Sehleicher'schen  etyraologie  verbalten 
konnten.  Brugnuinn  hat  sieh  Grundr.  d.  vergleich,  granim. 
I,  565  durch  den  uachtrag  zu  s.  36.  260.  105  auf  meine  au- 
regung  von  derselben  losgesagt. 

Umlautslose  formen  der  gleichen  wurzel,  die  sich  hierher 
stellen,  sind  noch  die  dialektischen  mnd.  ase  (äsen)  'ort  wo 
man  das  fleisch  zum  dörren  aufhängt',  hess.  äse  dass.;  ferner 
nud.  westfäl.  asse  f.  'rauchbiihn  über  dem  herde'  (Schiller- 
Llibben,  Mittelniederd.  wörterb.  I,  133  a.,  Woeste,  Wörterb.  d. 
westfäl.  mundart  12  b.).  Das  letztere  erinnert  in  seiner  laut- 
form und  bedeutung  auffällig  an  lat.  assus  adj.  'auf  trockenem 
wege  oder  durch  blosse  hitze  bereitet,  trocken  gebraten,  ge- 
schmort' und  knüpft  vielleicht  mit  diesem,  dafern  es  =  *ass-ö-s 
wäre,  an  ein  altes  neutrum  mit  -<?5-suftix  *as-es-,  *as-s-  an. 

Am  lehrreichsten  jedoch  für  die  verwautschaftliche  be- 
ziehung  zwischen  asche  und  esse  erweist  sich  das  formal  zu 
ersterem,  begrifflich  zu  beiden  gehörige  mhd.  esclie  f.  'asche' 
und  'esse'  =  nnd.  westfäl.  esche  f.  'rauchkammer'  (Woeste 
a.  a.  0.  69  a.):  hier  liegt  ein  got.  ''^azg-ja  oder  '''azg-jö  zu 
gründe. 

Nachträglich  eine  bemerkung  zur  richtigstellung  dessen, 
was  ich  Z.  gesch.  d.  pcrf.  545  f.  über  lat.  assus  und  griech. 
«Cra  im  anschluss  an  Froehde,  Bezzenbergers  beitr.  I,  206. 
VI,  173  und  Müllenhoft",  Zs.  fda.  23,9  vorgebracht  habe.  Eine 
Wurzel  ad-  'dörren,  brennen'  ist  nicht  aufstellbar,  da  man  die 
hesychischen  Wörter  für  'herd'  und  'russ,  asche',  aöiq  •  toyJiQa, 
adiag  •  toxccQa,  ßcoiuK  und  ddaXog  •  aoßoXog,  sehr  wahrschein- 
lich für  den  makedonischen  dialekt  in  anspruch  nimmt  und 
so  nur  die  sippe  von  ald-co  'entflamme',  cdd-aXog  'russ'  mund- 
artlich gefärbt  in  ihnen  vertreten  findet,  gestützt  auf  aöf]  ' 
ovQavog,  Maxsöovsg,  d.  i.  (dd/jQ^  und  dÖQaic'c '  aiÜQuc,  ßlaxs- 
öovEg  Hesych.  Vgl.  Mor.  Schmidt  zu  d.  glossen  A  9S7.  1079, 
Fick,  Kuhns  zeitschr.  XXII,  195,  G.  Curtius,  Grundz.  d.  griech. 
etym.5  nr.  302  s.  250. 

8.    Flehen,  gr.  laixäg,  lat.  lena. 
Durch  die  Zusammengruppierung  von  got.  gä-pläihan 'lieh- 
kosen,  umarmen,  trösten,  freundlich  zureden',  ga-plinhts  f.  'trost, 
ermahnung',    anord.  ßär    adj.    'falsch,   hinterlistig',    ags.  Iläh 


400  OSTHOFF 

'schlau,  hinterlistig',  ahd.  ßchan,  /Ichon  ^driugencl  bitten,  lieb- 
kosen, schmeicheln',  nihil,  vlchen  'dringend  bitten'  gewinnt 
Kluge,  Etyni.  wörterb.  unt.  liehen  als  den  grundbegrift'  der 
Wurzel  germ.  plaix-:  "etwa  'zudringliche,  einschmeichelnde 
rede'."  Sollte  das  nicht  bestimmend  sein,  um  griech.  ?Mix-c'cg 
f.  'hure'  und  lat.  lena  f.  'kupplerin',  leno  m.  'kuppler'  hier 
auzuschliessen? 

Huren  und  kupplerinnen  sind  doch  gewiss  die  meisterinnen 
der  'zudringlichen,  einschmeichelnden  rede',  sie,  die  das  'be- 
rücken durch  Worte'  (oder  sonstige  sanfte  mittel),  d^tXytiv 
tjrtsoöiv  —  wie  bei  Homer  Od.  a  56  die  Kalyjiso  den  Odysseus 
ahl  fiaXaxolOi  xcd  a((ivXioiOi  Xoyoioi  &tZy£i  —  aus  dem  gründe 
verstehen  und  darin  ihr  metier  suchen.  Ueberdies  ist  für  kca- 
xäCtiv,  das  denominativ  von  latxag  gewöhnlich  im  sinne  von 
'hurerei  treiben,  huren',  geradezu  auch  die  bedeutung 'betrügen' 
überliefert,  nach  anführuugen  der  alten  lexikographen:  Suid. 
lex.  n  1,  514  rec.  Beruhardy  AuixäC^co  ■  ajiarm,  Zonar.  lex. 
1292  ed.  Tittmann  XarycäL,ro  zo  anarco,  äxartjrixcd  yccQ  cd 
Xar/.üöTQiai,  ö  loriv  lu  jioQvai.  —  Mit  Xaixac,  XaixccCo)  hat 
des  Wurzel vocalismus  wegen  die  sippe  von  Xtjxc')  f.  'penis', 
Xi]xl(.co  'futuo'  Aristopb.,  h]xaXtog  'hurerisch'  kaum  in  urver- 
wantschaft  gestanden;  vielleicht  aber  in  volksetymologischem 
verbände,  wodurch  auch  die  formale  äussere  ähnlichkeit  eine 
grössere  geworden  sein  könnte,  als  sie  es  etwa  von  hause 
aus  war. 

Was  das  lautliche  der  combination  von  flehen  mit  ?Mixccg, 
lat.  lena  angeht,  so  steht  zunächst  im  lat.  der  gewinnung  eines 
'''iaena  aus  '■^•tlaic-na  oder  eher  noch  aus  '''Uaic-s-nU  (zu  einem 
nomen  ''''•tlalc-os  n.  'berückung)  kein  hindernis  entgegen.  Die 
aulautsgruppe  tl-  wäre  wie  in  iruus  part.  <  ^'lla-to-s  (zu  tollo, 
gr,  TXijvai)  behandelt.  Den  vocal  e  statt  ae  könnte  lena  ohne 
Schwierigkeit  auf  volksetymologischem  wege  durch  anlehnung 
an  lenis  'sanft,  gelinde,  milde',  als  'die,  welche  sanft  zu  werke 
geht',  empfangen  haben.  Das  verbuni  de-lenio  nebst  seinem 
Zubehör  {dclemmentmn,  delenltor,  dclenllrix,  deleni/icus),  das 
mit  seinen  bedeutungen,  'durch  schmeicheln,  liebkosungen,  auch 
durch  list  gewinnen',  'für  sich  einnehmen'  (gleichsam  'bezaubern'), 
'kirren,  ködern,  locken'  vortrefflich  zu  der  kupplerin  und  zu 
germ.  plaihan  passt,    schwankt  bekanntlich  zwischen  der  form 


ETYMOLOGICA  I.  401 

mit  c  und  einer  ebenfalls  gut  bezeugten  mit  7,  dc-Unio.  Ob- 
gleich eine  eikläiung  des  eintiittes  von  i  für  e,  und  zwar  von 
mir  selbst,  versucht  worden  ist  (vgl.  Brugmann,  Grundr.  d. 
vergleich,  gramm.  I  §  73  s.  G5),  so  könnte  doch  auch  die  sache 
sich  so  verhalten:  dc-llnio,  das  lautgesetzlich  aus  ''^de-Zainiö 
(vgl.  oc-cJdo,  il-lido,  ex-lsiumo,  in-iquoSy  AchivJ  u.  a.  ni.)  ent- 
standen wäre  als  zu  *laena  gehörig,  erlitt  mit  letzterem 
zusammen  die  volksetymologische  Umgestaltung  nach  lenis, 
lenio. 

Schwieriger  scheint  es  zu  sein,  im  griech,  die  Xcix-äi;  auf 
eine  wurzel  '-'t Xatx-  =  germ.  p/uix-  zurückzubringen.  Dass  in- 
lautend die  gruppe  -rk-  hier  durchaus  geduldet  wird  (vgl. 
avxXoq  avrXko,  b/ixh],  oxtrXov,  oxtT?uoS),  kann  freilich  für 
den  an  laut  nicht  schlechthin  einen  massstab  abgel)en.  Es  ist 
aber  das  seltene  vorkommen  von  anlautendem  rX-  im  griech. 
—  nur  in  dem  fremdworte  TXcog  und  in  dem  einen  stamme 
tXä-,  xX^^vai  —  schon  von  anderer  seite  hervorgehoben  wor- 
den (G.  Curtius  bei  verf.  Forsch,  im  geb.  d.  indog.  nomin. 
Stammbildung  I,  22  anm.,  Gust.  Meyer,  Griech,  gramra.2  §  257 
s.  254),  TXcög,  name  einer  Stadt  in  Lykien  und  einer  solchen 
in  Pisidien,  bleibt  als  wahrscheinlich  unhellenisches  wort  ganz 
ausser  betracht.  Für  T?.rjvai,  t/z/toc,  tXri^cov,  rXijoiq  u.  s.  w. 
aber  mag  man  getrost  annehmen,  dass  sie  ihre  volle  anlauts- 
gruppe  rX-  nach  analogie  der  wurzelgesippen,  die  -xX-  in- 
lautend hatten,  also  nach  l-rXrjV,  TErXtjxa,  a-rXi^xoq,  JcoXv-xXäg 
u.  dgl.,  wider  hergestellt  haben, 

4.     Fleisch,  gr.  XM^rvög,  lat,  lüridum. 

Die  so  eben  mutmassliche  geäusserte  ansieht,  dass  germ. 
]jI-  (skandin.  westgerm.  //-)  und  griech.  X-,  lat.  /-  als  ent- 
stammend von  einer  indog.  anlautsverbindung  tl-  lautgesetz- 
liche entsprechungen  seien,  würde  erwünschte  und  rasche  be- 
stätigung  finden,  wenn  auch  die  folgenden  combinationen  in 
der  hauptsache  das  rechte  treffen  sollten. 

Gegenüber  ags.  ßcesk,  fries,  fläsk,  asächs.  flesk,  ndl.  vleesch, 
ahd.  fleisk,  mhd,  vlcisch  n,,  die  sämtlich  nur  die  allgemeine  be- 
deutung  des  nhd,  Wortes  haben,  kommt  dem  anord,  /Jesk  n.  der 
engere  begriff  von  'lardum'  zu.  Darüber  bemerkt  Kluge, 
Etym.   wörterb,   uut.   ßeisch  gewiss  ansprechend:    "anord.  flesk 


402  OSTHOFF 

wird  nur  von  'schweiüellcisch',  spez.  von  'schinken'  und  'speck' 
gebraucht,  während  kjot  das  allgemeine  wort  des  nord.  für 
'fleisch'  ist.  Es  Hesse  sich  recht  gut  denken,  dass  die  nord. 
spezialisierte  bedeutung  von  fleisch  des  wortes  die  älteste  [lies: 
die  älteste  des  wortesj  war  und  erst  durch  Verallgemeinerung 
die  gemeinwestgerni.  bedeutung  zu  stände  gekommen  ist."  Dass 
die  leider  unbekannte  got.  form  ebenso  wol  ein  *plaisk  als 
■^/kiisk  gewesen  sein  könne,  wird  gleichfalls  von  Kluge  au- 
gedeutet. 

Wir  wagen  es,  unter  der  Voraussetzung  eines  got.  ^plaisk 
den  verwantschaftlichen  Zusammenhang  mit  den  Wörtern  der 
alten  klassischen  sprachen,  die  denselben  begriff  wie  flesk  im 
skandinavischen  ausdrücken,  zu  behaupten.  Also  mit:  gr.  yläpf- 
vöc  adj.  'gemästet,  fett'  (von  ßoix,  xavQOi^  und  ovo),  Xä()Tr£va) 
'mäste';  lat.  läridus  adj.  'gepökelt,  pökel-',  läridwn  n.  'Schweine- 
fleisch, Pökelfleisch,  si)eck',  nebst  der  synkopierten  satzdou- 
bletteuform  laräuin^  in  der  das  wort  in  die  romanischen  si)rachen 
(italien.  lardo,  prov.  larl,  franz.  lard)  übergieng. 

Die  Verbindung  der  griech.  und  lat.  Wörter  unter  sich,  die 
ja  nahe  liegen  musste  und  die  ich  am  frühesten  bei  Döderlein, 
Lat.  synon.  u.  etym.  VI  (1838)  s.  189  ausgesprochen  finde,  ist, 
abgesehen  von  Benfey,  Griech,  wurzellex.  II  (1842)  s.  122  und 
Zehetmayr,  Analog.-vergleich.  wörterb.  (1879)  s.  238  b.,  weniger 
von  den  eigentlich  sprachwissenschaftlichen  kreisen  vertreten 
worden.  Es  bekennen  sich  zu  ihr  zumeist  die  lexika:  Freund, 
Wörterb.  d.  lat.  spr.  III  (1845)  s.  31b.,  Georges,  Ausführl.  lat.- 
dcutsch.  band  wörterb.  IT,  501,  Littre,  Dict.  de  la  langue  fran^. 
III,  254  c.  Man  scheint  vor  der  Schwierigkeit  gestutzt  zu 
haben,  dass  in  läQivö^  (zuerst  bei  Aristoph.  und  Xenoph.)  das 
a  auch  attisch  ist,  also  auf  eine  vocalcoutraction  nach  spiranten- 
ausfall  hindeutet  und  den  schlechthinnigen  ansatz  eines  'graeco- 
italischen'  */«;•-  verbietet.  Auf  das  auskunftsmittel,  entlehnung 
des  lat.  Wortes  aus  dem  griech.  anzunehmen,  ist  wol  nur 
G.  A.  Saalfeld,  Griech.  Ichnw.  im  lat.  19.  33,  D.  lautges.  d. 
griech.  lehnw.  im  lat.  11.29,  Tens.  italogr.  610  f.  verfallen. 
Diese  annähme  entbehrt  jeder  einleuchtenden  begründung.  Wie 
sollten  auch  die  Römer,  die  für  die  fleischarten  der  verschie- 
denen tiere  {caro)  suina,  porcma,  haedtna,  anaiina^  anserina 
u.  s.  w.   sagten    und  denen  überhaupt  die  stoffadjectivableitung 


ETYMOLOGICA  I.  403 

mit  -mos  (s.  weiter  unten)  viel  lebendiger  war  als  den  Griechen, 
veranlassung-  gefunden  haben,  an  einem  aus  Griechenland  er- 
borgten *lc(nniün  oder  {caro)  *länna  eine  suffixänderung  be- 
hufs herstellung  von  läridum,  lärida  vorzunehmen?  An  sich 
richtig  verwirft  daher  auch  0.  Weise,  D.  griech.  Wörter  im 
lat.  60  die  auffassung  von  läridum  als  lehnwort,  wenn  auch 
sein  grund  einer  vermeintlichen  'quantitätsverschiedenheit'  der 
<<-vocale  in  läridum  und  )mqTv6v  nicht  gelten  kann.  Die 
falsche  messung  läridum  bei  Weise  (vgl.  auch  bei  demselben 
a.  a.  0.  546  den  nachtrag  zu  s.  60),  wie  übrigens  auch  l)ei 
Saalfeld,  scheint  durch  den  Vorgang  von  Georges,  der  auch 
noch  in  der  siebenten  aufläge  seines  lat.-deutsch.  handwörter- 
buclis  läridum,  läridus  hat,  veranlasst  zu  sein;  an  der  länge 
des  ä  in  läridum  lässt  das  metrura  bei  Plautus,  Capt.  847.  1)03. 
Men.  210  keinen  zweifei. 

Dass  griech.  att.  XüQTvog  aus  einer  grundform  '^'XaißO-Q-Tvö-g 
wol  entstanden  sein  könne,  wird  kein  sachkundiger  leugnen. 
Die  nächste  Vorstufe  vor  dem  Vollzug  der  synizese  war  dann 
*Xai]Q-Tr6-g  oder  wahrscheinlicher  noch  (nach  den  darlegungen 
F.  Solmsens,  Kuhns  zeitschr.  XXIX,  87.  348  f.)  ein  ^XaeiQ-ivo-g 
mit  'unechtem  diphthoug'  si;  vgl.  rif/äv  aus  rluc'uiv  <  *Ti- 
fiäisfev,  fpävög  aus  (pccsivög  <  *(paHo-vö-g  u.  dgl.  Das  doppel- 
suffix  -Q-Tvo-  in  '"^'Xcdiö-Q-Tro-g,  wenn  wir  das  ganze  gebildc 
von  einem  '''Xaltö-  'mast,  mastung'  ausgehen  lassen,  ist  un- 
schwer zu  rechtfertigen.  Häufung  synonymer  ableitungsmittel 
gehört  ja  zu  den  bekanntesten  Vorgängen  im  sprachleben. 
Aus  lat.  aenus  <  ^aüii-no-f!  gieng  durch  einfluss  von  uer-cu-s, 
auch  von  aur-eu-s,  argent-eu-s  (vgl.  gr.  aQyvQ-ao-g,  -/iciXx-to-g, 
XQvOeo-g),  späteres  aeneus  hervor,  ebenso  pöpul-n-eu-s  'von 
l)appeln,  pappel-'  Cat.  Col.  zufolge  der  contamination  von  pöpul- 
nu-s  Plaut,  und  pöpul-eu-s  Enn.  Verg.  Ov.  Hör.;  und  daher  der 
Ursprung  der  suffixgruppe  -n-eo-s  für  stoftadjectiva,  quer{c)- 
n-eu-s  neben  querc-eu-s  'eichen',  acer-n-eu-s  neben  acer-nu-s 
'ahornen'  (=  ahd.  ahorn  m.).  Aehnlich  konnte  im  griech., 
wenn  zunächst  ein  wie  loxv-QO-g,  6iL,v-Q6-g  gebildetes  *Xai_^t6- 
Q(')-g  'mastig,  gemästet'  bestand,  dieses  nach  analogie  von  ad- 
jectiven  der  herkuuft  und  des  Stoffes  mit  der  alten  ablcitung 
-Ino-s  in  xogax-lvo-g  'junger  rabe,  rabenbrut'  =  lat.  [aescul-, 
urgent-,    haed]-Jnu-s,    got.    [aitr-,   (jail-,   silubr\-ein-s   (Brugmann, 


-IUI  OSTHOFF 

Giuuclr.  d.  vergleich,  graiijui.  1  §  'M  8.  39)  sieh  zu  '''Xaltö-Q-fvo-q 
>  XfiQivö;:  erweitern. 

liei  dem  lat.  luridus  <  '''läa-ido-s  weideu  wir  durch  die 
gleichungeu  /Wr-idus  :  /lös  =  rör-idus  :  rös  =  lär-idus  :  x  zur 
erschliessuug-  eines  '^-lUs  'mast,  niastfett'  geführt.  Dies  als  eine 
zusanimenziehung  aus  '*lales-  zu  betrachten,  ist  lautgcsetzlich 
erlaubt,  mit  riicksicht  auf  den  wol  schon  als  uritalisch  anzu- 
nehmenden Schwund  von  intervocalischem  jod.  Vgl.  Brugmann, 
Grundr.  d.  vergleich,  gramni.  1  §  134  s.  122,  dazu  meine  an- 
merkung  auf  folgender  seite.  Gricch.  att.  ä  und  lat.  U  in  Xä- 
(ii'i'ö^,  lürklus  würden  sich  also  ähnlich  zu  einander  verhalten 
wie  dieselben  laute  in  den  verbalformen  imper.  praes.  xl[icc, 
xt  iiärt  und  \i\.\.  cum,  curat e. 

Das  hiermit  widergewonnene  griech.  und  lat.  '*Uües-  er- 
langt nun,  wenn  wir  es  auf  beiden  gebieten  das  vorschrifts- 
mässige  evolut  einer  vorn  noch  ungckapj)ten  grundform  '^Ulales- 
sein  lassen,  den  anschluss  an  /leiach  =  got.  '^-plaisk.  Nur  ein 
urgerm.  '■'•  ]4ais-ko-  <  '•'plaUs-ko-  vermochte  ja  die  entvvicke- 
lung  eines  indog.  '"^-ilales-ko-  'mastig,  von  der  mast  herkommend' 
zu  sein.  Wegen  germ.  -ai-  <  -aü-  kann  man  unmittelbar  die 
got.  lautform  des  alten  -c»'-neutruras  indog.  *äies-  'erz'  =  aind. 
äyas-,  avest.  aijanh-  vergleichen:  got.  aiz.  Auch  würde  ein 
lautliches  analogen  zu  griech.  -ü-  aus  *-«/£-  in  XäQlvö:^  und 
germ.  -ai-  aus  *-aü-  in  '"^'-plaisk  noch  sein:  a.Qiotov  n.  'früh- 
stück' <  '■^auQ-iöTO-p  superl.  'frühestes,  erstes'  neben  asächs. 
ahd.  er  ist,  ags.  (er  est  'der  früheste,  erste'  (got.  *air-ist-s  superl. 
zu  air  adv.  'früh',  air-iza  compar.  'der  frühere,  vorfahr')  nach 
der  einleuchtenden  von  avest.  «?/are  n.  'tag',  eig.  'das  tagen'  aus- 
gehenden erklärung  Ficks,  Kuhns  zeitschr.  XXII  95  f.,  Vergleich, 
wuirterl).  P,  27.  506,  D.  eliemal.  spracheinh.  d.  Indog.  Eur.  303  f. 
(vgl.  auch  Vanicek,  Griech.-lat.  etym.  wörterb.  947  f.,  0.  Schade, 
Altdeutsch,  wörterb.-  111  a.),  w^elche  deutung  durch  diis  von 
Windisch  bei  G.  Curtius,  Grundz.  d.  griech.  etym. '^401  zweifelnd 
herangezogene  air.  an-äir  'östlich'  gestützt  wird;  griech.  (cqiötov 
bei  Homer  wol  noch  mit  offenen  icti>-,  wenn  man  anders  II.  1.1 124, 
Od.  jt  2  mit  IvTvvovT  ätQiotov  dem  durch  überliefertes  tvzv- 
vui'To  ('.Qiörov  gestörten  metrum  aufzuhelfen  haben  wird. 

Vielleicht  aber  wird  man  bei  got.  aiz  'erz'  und  air  'früh', 
airis,  airiza  compar.,  die  annähme  der  vorformen  *aiiz-o-,  ''•'•aiir- 


ETYMOLOGICA  I.  405 

vermeidend,  lieber  au  suffixiscliwacbe  theiiieu  iiulog.  '''■cus-,  '''ah-- 
auknüpfcu  wollen;  eine  auffassuug,  die  für  lat.  nes,  gen.  aer-is 
(alat.  aifid,  aire)  die  einzig  übrig  bleibende  ist.')  Nichtsdesto- 
weniger bestünde  die  parallele  mit  got.  -''plais-k,  da  man  meinet- 
wegen auch  dieses  auf  ein  mit  griech.-lat.  '■'•llalcs-  im  stamm- 
abstufuugsverbältnis  stehendes  indog.  ^tla'is-  zurückbringen  mag; 
vgl.  unten  s.  410  tf.  die  griech.  niederschlage  von  einem  solchen 
'-''Hals-. 

Es  ist  nun  aber  von  fleisch  das  germanische  tliema  nicht 
eigentlich  ''•plais-ko-,  sondern  unser  wort  ist  wegen  des  /-undauts 
in  der  ags.  form  /Id'sc,  nach  dem  was  Kluge,  Noniin.  stammbild. 
§  84  b.  s.  40  und  Sievers,  Angels.  gramm.-  §  207  a.  s.  121,  §  288 


1)  Anders  über  lat.  aes,  aber  verkehit,  Brugmann,  Kuhns  zeitschr. 
XXIV,  1()  anm.  und  neuerdings  Grundr.  d.  vergleicli.  gramm,  I  §  131  s.  122. 
Die  einsilbige  form  acs,  aer-  als  'contraliierte'  aus  *aU's-  aufzufassen, 
verbieten  doch  die  verbalen  ausgänge  [cür\-ü^  -äle,  -äs,  die  aueh  Brug- 
mann aus  '''-(tfc,  *-aiete,  *-ales  herleitet;  dazu  nun  unser  lär-idus.  Dass 
aueh  der  alte  nom.-ace.  sing,  indog.  '^dios  zu  lat.  -'äs  geworden  wäre,  ist 
wahrscheinlich,  wenn  es  gleich  durch  \cdr]-a,inus,  eventuell  ^^*-aiomos, 
aus  nahe  liegendem  gründe  nicht  sicher  bewiesen  wird.  Jedenfalls  ver- 
mag ich  mir  Brugmanns  deutung  von  slö  'ich  stehe'  aus  einem  *stü-lö 
ebenso  wenig  anzueignen,  wie  seine  erklärung  von  aes.  Für  letzteres 
beweist  auch  ainus,  umbr.  ahesnes  dat.-abl.  plur.  mit  nichten,  dass  man 
in  der-  die  Stammform  indog.  *afes-  zu  suchen  hat:  warum  soll  nicht 
das  italische  in  dem  stotVadjectiv  die  längere  themaform,  in  der  declina- 
tion  von  aes  selber  aber  gleichzeitig  das  kürzere  indog.  *ö/5- fortführen  V 
Freilich  wird  man  fragen,  weshalb,  wenn  wir  aenus  =  ^ak'S-no-s  setzen, 
hier  keine  vocalcontraction  nach  jodausfall  wie  in  Uir-idus.  Es  ist  zu 
antworten,  dass  das  gesetz  der  vocalcontractionen,  sowol  derer  nach  ein- 
getretenem Jodschwunde  als  der  iUirigen,  bestimmten  einschränkungen 
unterworfen  ist.  Eine  nähere  ausführung  anderem  orte  vorbehaltend, 
deute  ich  hier  nur  kurz  zwei  solcher  einschränkenden  regeln  an.  Ein- 
mal nehmen  nicht  alle  vocale  an  den  contractionen  teil,  sondern,  ähnlich 
wie  im  griechischen,  gehen  auch  im  italischen  (lateinischen)  nur  die  a-, 
(•-,  ö-laute  mit  ihresgleichen  synizese  ein.  h'odann  aber  unterbleibt  auch 
zwischen  diesen  die  vocalcontraction  lautgesetzlich,  wenn  der  zweite  der 
in  diaerese  stehenden  vocale  als  ein  vom  vorhergehenden  (jualitativ  ver- 
schiedener zugleich  in  schwerer  (natura  oder  positione  langer)  silbo 
sich  beiludet.  Hiernach  steht  ital.  *aes-no-s  (aenus)  -^  ''ales-no-s  neben 
*tläs-ido-s  {(äridus)  ^=z  *llaies-ido-s  ähnlich  da  wie  lat.  co-äclus,  co-agu- 
luni,  co-'egi.  neben  cögo  -^  ^co-dgö,  co-Vpit  neben  cöpula  -=:  *co-dpuld. 
Ich  komme  mit  dem  hier  bemerkten  auf  eine  erweiterung  der  Z.  gesch. 
d.  perf.  15S  ft".  aufgestellten  theorie  hinaus. 


406  OSTHÜFF 

anni.  1  s.  134  benieikt  haben,  für  das  urgcrniauiselic  als  ein 
A-ncutruni  ''-p/aiffkiz,  demnach  auch  für  das  gotische  genauer 
als  *f4alsks  anzusetzen.  Trotzdem  dürfte  kaum  denkbar  sein, 
dass  dieses  *plais-k-iz-  anderswo  die  quelle  seiner  bildung  ge- 
habt habe,  als  in  einem  zu  gründe  liegenden  adjectiv  '■'•plais-ko-. 
Dessen  suffix  -ko-  wäre  das  bekannte  altindogermanische  für 
adjectivableitungeu  aller  art  dienende  =  aind.  -A-a-,  griech. 
-xo-,  lat. -cö-,  das  im  gernian.  bei  intervocalischer  Stellung  des 
gutturals  als  -yo-  und  -^o-  abwechselnd  erscheint  (got,  staina-h-s, 
innlitei-g-s)  und  mit  vorausgehenden  voealeu  die  mannigfachsten 
combiuationen  eingeht;  vgl.  Kluge,  Nomin.  stammbild.  §§  202  ff. 
s.  86  flf.,    Kautfmann  in  diesen  Beitr.  XII,  201  ff. 

In  der  rolle,  solche  substantivischen  secundärableitungen 
aus  adjectivstämmen  (insbesondere  adjectivischen  o-stämmen) 
zu  liefern,  wie  es  bei  germ.  '*f4ais-k-iz  n.  'mastfleisch,  speck' 
von  einem  adj.  *plais-k<)-  'mastig'  der  fall  sein  müsste,  scheint 
im  germanischen  das  ursprünglich  nur  primäre  neutrale  -os-j-es- 
suffix  noch  sonst  einige  male  aufzutreten.  Ich  verweise  hier 
auf:  germ.  '''■y/ii-l-iz  n.  'gesundheit,  glück,  heil'  =  ags.  h(sl, 
anord.  Iwi/l,  asächs.  hcl,  abd.  mhd.  heil  (ags.  auch  hälor  n.  aus 
der  nebenthemaform  '*yai-l-oz-),  von  '^iai-lo-z  adj.  'gesund, 
ganz,  heil'  =  got.  hail-s,  anord.  heil-l,  ags.  lud,  asächs.  hel^ 
ahd.  mhd.  heil,  abulg.  cclu  adj.  'vollständig,  ganz'  (Kluge, 
Etym.  wörterb.  unter  Heil  und  hcit).  Ferner  auf:  germ.  '^-ylai- 
w-iz  n.  'hügel,  grabhügel'  =  ags.  hlobw  neutr.  und  masc,  von 
einem  adjectiv  indog.  '■^■klol-uo-s  'gelehnt,  sich  neigend',  mit 
welchem  lat.  cli-vo-s  m.  'hügel,  abhang'  (vgl.  ac-cltvo-s,  de- 
cllvo-s  als  adjectiva)  in  der  wurzel  ablautet;  ags.  hläw  m., 
asächs.  hleo  masc.  oder  ncutr.,  ahd.  hleo,  leo  m.  'grabhügel, 
grab'  und  got.  hlaiw  n.  nebst  dem  urnord.  run.  hlaiwa  n.  'grab' 
(Xoreen,  Altisländ.  und  altnorweg.  gramm.  §  88,  3  anm.  4  s.  39' 
und  s.  193)  könnten  die  alten  j)rimitiva  ^kloM.w-s,  '■'''•  kl oi-no-m 
darstellen,  wofern  sie  nicht,  was  aber  für  die  runenform  schwer 
zu  motivieren  wäre,  von  der  neutralen  Ä-declination,  auf  die 
nur  ags.  hlcerv  deutlich  weist,  Überläufer  zur  o-declination  sind 
(vgl.  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter  lehnen,  Sievers,  Angels. 
gramm.2  §  250  anm.  1  s.  112,  §  288  anm.  1  s.  134).  Weitere 
beispiele  dieser  art  mögen  unter  dem  bei  Kluge,  Nomin. 
stammbild.  §  84  s.  39  f.  und  §  145  s.  65  f.  zusammengebrachten 


ETYMÜLOGICA  I.  407 

material  bei  uäheiem  zusehen  sich  wol  tindeu  lassen.  In  den 
verdacht  ähnlicher  bildungsweise  kommen  mir  namentlich 
noch:  anord.  Am',  ags.  hrcc{/v)  n.  Meichnam,  aas'  <  '''^rai-w-iz 
neben  ags.  hrä{fv)  u.  dass.,  got.  hrain-a-  in  hrai/ra-dubü  'leichen- 
taube' (asächs.  hreo,  ahd.  hrcu,  rt'o,  mhd.  re  u.  sind  dop})el- 
deutig);  anord.  mi/rkr  n.  'dunkelheit'  neben  mijrk-v  adj.  'dunkel, 
finster'. 

Dass  das  -k  des  altgerman.  Wortes  fleiscli  ableitung  sein 
werde,  glaubte  Kluge  im  Etyni.  worterb.  bereits  aus  ndl. 
vleez-ig  'fleischig'  schliessen  zu  müssen.  Sollte  letzteres  in 
der  tat  noch  eine  von  dem  urgerm.  '*plais-  =  indog.  '"^'-llales- 
selbständig  ausgegangene  adjectivbildung  sein? 

Ein  an  fleisch  anklingendes  wort  ist  anord.  fJikke,  ags. 
flicce,  engl.  /Jitch  {pf  hacon)  'Speckseite',  womit  das  aus 
Leidener  glossen  des  9.  jahrh.  (vgl.  Zs.  fda.  V,  197)  belegte 
und  von  Diez,  Etym.  wörterb.  d.  roman.  spr.*  585  f.  zur  er- 
klärung  von  franz.  fleche  de  lard  benutzte  altdeutsche  ßcci 
'perna'  übereinkommt.  Mir  ist  fraglich,  ob  dieses  nach 
E.  Müller,  Etym.  wörterl).  der  englischen  spräche  I^,  444.  449 
etymologisch  etwas  mit  fleisch  zu  tun  habe,  trotz  der  an  anord. 
flesk  so  nahe  sich  anschliessenden  bedeutung.  Denn  der  ge- 
brauch von  nhd.  fUck  für  'abgeschnittener  läppen,  fetzen  fleisch', 
laütel-fleck  u.  dgl.,  scheint  doch  jenes  anord.  ßkke^  ags.  pcce 
eher  dahin  zu  weisen,  wohin  es  von  Grimm,  Deutsch,  wörterb. 
I,  1741,  Skcat,  Concise  etym.  dict.  of  the  engl,  language-  152  b., 
zweifelnder  auch  von  Kluge,  Etym.  wörterb.  d.  deutsch,  spr. 
unter  fUck  gestellt  wird.») 

Die  für  indog.  *tlai-es-  in  deutschem  fleisch,  griech.  Xüqi- 
j'oc,  lat.  lUridus  aufzustellende  wurzel  //«/-,  tiefstufig  (If-  mit 
dem  grundbegriflc  des  'mastigen,  gefettetseins'  dürfen  wir  nun 
auch  noch  anderwärts  zu  suchen  uns  anschicken.  Vor  allem 
wäre  sie  zu  finden  in  lat.  lac-tu-s  adj.,  das,  ursprünglich  ein 
ausdruck  der  landwirtschaft  für  animalische  und  vegetabilische 


*)  Anders  freilich  jetzt  Kluge  in  der  mir  erst  nach  abschluss  des 
obigen  zugegangenen  zweiten  lieferung  der  vierten  verbesserten  aufläge 
seines  etymologischen  Wörterbuchs  unter  fleisch,  wo  nunmehr  auch  ein 
ags.  (kcnt.)  flUvc  (woher?)  für  fld'sc  'fleisch'  beigebracht  wird. 


408  OSTHOFF 

üi)pig-keit,  fülle,  iu  deu  bedeutuugen  'fett,  feist,  üppig,  geil, 
fruchtbar'  das  von  gesundheit,  kraft  und  guter  nahrung 
strotzende  nutzvieh,  das  üppige  gedeihen  der  Auren  und 
dessen,  was  darauf  wächst,  und  ähnliches  bezeichnete  und 
endlich  durch  mehrfache  metaphorische  Verwendung  in  die 
begriffsmannigfaltigkeit  von  'lachend,  freundlich,  herrlich', 
'blühend'  (vom  redestil),  'heiter,  fröhlich,  freudig',  'erfreulieh, 
angenehm',  'beglückend,  glückverheissend'  u.  dgl.  ausmündete. 
Also  lehren  richtig  Bröal-Bailly,  Dict.  etymol.  latin.  149  b.: 
''  Laetus  signifie  proprement  'gras,  fertile',  en  parlant  des  plantes 
et  des  animaux.  De  lä,  en  parlant  de  la  terre,  laelUre  'en- 
graisser  la  terre'  et  laetämen  'engrais'."  Auf  der  grundvor- 
stellung  beruhen,  ausser  diesen  laetäre  'düngen'  Fall.,  laetämen 
'dünger,  mist'  Plin.  Fall.  Serv.,  laetificüre  'durch  düngung  und 
bewässerung  befruchten'  Cic.  Flin.,  noch:  laeta  houm  armenta 
Verg.,  glande  sues  laeil  id.,  ferner  ager  crassus  et  laetus  Gate, 
laetus  ager  Varr.  Verg.  Sali.,  tellUs  jUstü  laetior  Verg.,  laeta 
pUscua  Liv.,  laetae  segetes  Cic.  Verg.,  laetum  legUmen  Verg., 
laetissima  farra  id.,  vile  quid  est  laelius?  Cic.,  frugiferae  aut 
laetae  ai'hores  Sen.,  colles  frondihus  laetJ  Cmt,  laetitia  ^  ü-ppiger 
wuchs,  fruchtbarkeit'  in  loci  laetitia  Col. ,  trunci  id.,  pabult 
Justin.,  u.  dgl.  mehr.  Bei  Hör.  sat.  1,  1,  8  fassen  Breal-Bailly 
a.a.O.  150 a.  vJctöria  laela  ansprechend  als  'la  victoire  avec 
son  butin'. 

Die  metaphorischen  Übertragungen  im  gebrauche  von 
laetus  haben  manche  analogieu.  So  im  latein  selbst  an  der  be- 
deutungsgeschichte  von  niltre,  nilescere,  nitidus,  niloi\  wenn 
diese  ihren  begriffskern  des  'feisten,  wolgenährten  ausehens' 
(von  menschen  und  tieren)  oder  des  'strotzens,  Üppigseins' 
(von  ackern,  pflanzen,  fruchten)  in  der  richtung  nach  'gleissen, 
prangen,  schmuck  und  nett  aussehen,  zierlich  erscheinen'  aus- 
]>ildeten;  sclion  Döderleiu,  Lat.  synou.  u.  etym.  II  (1827)  s.  73 
zieht  diese  parallele,  indem  er  unter  auderm  auf  j'ümenta  nitida 
Nep.  neben  laeta  armenta  Verg.,  auf  nitida,  laela  als  gegensatz 
von  Jiorrida,  inculta  bei  Cic.  orat.  11  verweist.  Ferner  ver- 
gleiche man:  griech.  liTtaQÖq  'fett,  fettig',  'fruchtbar,  ergiebig', 
'wohlgenährt,  strotzend,  frisch',  übertr.  'behaglich,  wolbehäbig', 
'anmutig,  heiter';  nhd.  geil  adj.,  mhd.  geile  f.  'Üppigkeit,  fetter 
boden,   fruchtbares  ackerland'   und   'lustigkeit,  fröhlichkeit'   zu 


ETYMOLOGICA  I.  409 

g-ot.  (jailjan  ^erfreuen'.  Wir  gewinnen  demnach  I actus  aus 
einem  ^tlai-to-s  part.  'gemästet,  fett'. 

Lat.  largus  adj.  'reichlich,  reich  an  etwas',  übertr.  'reich- 
lich schenkend,  freigebig'  zeigt  mit  laetus  wol  bemerkenswerte 
gebrauchsberühningen.  So  in  pähula  larga  Lucr,,  cöpiam  quam 
Im-gissimam  facere  Cic,  foUa  larga  sUcö  Plin.;  in  largJ  cöjiia 
lactis  Vcrg.  Georg.  3,  308  verglichen  mit  dem  kurz  darauf 
(310)  folgenden  verse  laeta  magis  jjressls  münübinä  flümina 
mammis,  woselbst  Georges,  Lat.-deutsch.  handwörterb.  II',  479 
laeta  mit  'reichlich'  überträgt;  insbesondere  auch  in  der  con- 
struction  beider  adjectiva  mit  dem  genitivus  copiae,  largus 
opum  Verg.,  comae  Sil.,  föns  aqiiae  largus  Lucan.,  wie  pabul/ 
laetus  ager  Sali.,  lUcus  laetissimus  umhrae  Verg.  Andererseits 
bat  largus  geradezu  mit  lardum,  lUridum  und  griech.  ?mqTi'oc 
schon  Döderlein,  Lat.  synon.  u.  etym.  VI  (1838)  s.  189  zu- 
sammengebracht, indem  er  versuchsweise  ein  'largus,  AAP- 
0X0^'  aufstellte.  Dem  nahe  bleibend,  dürfen  wir  largus  wol 
als  synkopiert  aus  ''"lür-igo-s  betrachten,  so  dass  es  formal  an 
dasselbe  *las-  <  *tlaies-  wie  läridus,  lardus  anzuknüpfen 
wäre;  *lär-igo-s  <  '*lUs-ago-s  hätte  im  gründe  'mastigkeit 
führend,  fett  ansetzend'  bedeutet.  Zum  phraseologischen  wäre 
auf  spümäs,  scintillUs  agere,  ferner  rimas  agere  'risse,  Sprünge 
bekommen',  gemtnäs,  cöliculum,  folia,  ßörem,  frondem  agere 
'knospen  u.  s.  w.  ansetzen',  ossa  röhur  agunt  'die  gebeine  wer- 
den zu  hartem  holze'  Ov.  zu  verweisen;  die  art  der  composi- 
tion  von  largus  und  ihre  lautliche  bchandlung  beleuchtet  u.  a. 
jurgüre  'zanken,  streiten'  <  ''^•jUr-igäre  'ein  rechtsbctreiber 
i^jUs-ago-s)  sein,  rechthaberisch  auftreten'. 

Zweifelnd  wage  ich  noch  weiter  zu  tasten.  An  lat.  laetus 
wird  man  erinnert  bei  lit.  läima  f  'glück,  gUicksgöttin,  pa-liiima 
'glück,  wolergehen',  laimusm.^].  'glückhaft',  laimiu,  laime'ti  deuom. 
'gewinnen'.  Ist  diese  baltische  Wortfamilie  möglicherweise 
ohne  erhaltung  der  Zwischenglieder  am  ende  der  bcdeutuugs- 
geschichtlichen  entwickelungsreihe  angelaugt,  an  dem  laetus 
als  'glückverheissend,  glückbringend'  steht  in  wk"  [i.  e.  3fer- 
rurium]  laetum  Plaut.  Amph.  prol.  2,  in  laelwn  prödigium  Plin., 
tuet  um  augurhim  Tac,  exta  laeliöra  Suet.,  In  et  um  est  'es  be- 
deutet glück'  Plin.?  Die  beziehung  zu  dem  grundbegriif  der 
Wurzel  tJal-  könnte  man  sich  etwa  greifbarer  machen  mit  hilfc 


410  OSTHOFF 

unseres  bekannten  slangausdvucks  scfmein  haben  für  grosses, 
•gleichsam  mastiges  glück;  auch  franz.  *il  engra'isse  de  male- 
(lictions,  c'est-a-dire  tout  lui  prospere  nialgre  les  maledictions 
(|ui  s'elüveut  contre  lui'  (Littre,  Dict.  de  la  langue  frau^.  II, 
1399  a.)  ist  äbnlicb.  Die  Läima  würde  somit  zu  einer  oplma 
oder  göttin  Ops  des  baltischen  Volkes.  Wegen  lit.  lett.  l- 
aus  *//-  verweise  icb  auf  den  folgenden  artikel  IHehen  (unten 
s.  413). 

Mit  der  nötigen  reserve  kann  endlich  auch  der  Vermutung 
räum  gegeben  werden,  ob  nicht  das  seither  noch  dunkel  ge- 
wesene griecb.  Xi-iu\  ion.  homer.  l'ujv  adv.  'sehr,  stark,  heftig', 
'zu  sehr,  allzu'  hierher  gehöre.  Von  hause  aus  hätte  es  dann 
'mastig'  ausgedrückt.  Auch  XäQfvöc,  'fett'  kommt  ja  derge- 
stalt metaphorisch  gebraucht  vor  in  .wt/a  xcä  )mqivov  tjiog  ri 
Aristoph.  av.  465  für  ein  'derbes,  kräftiges  wörtlein';  dazu 
vielleicht  in  der  ableituug  läQTvaloQ  'gross,  stark,  fest' 
(nach  Passow,  Handwörterb.  d.  griech.  spr.  11^,  1,21  b.),  von 
geflochtenen  fischreusen,  wenn  nicht  XaQiralov  xvqtov  ot 
aXitlg  TOP  ix  Xtvxtag,  ?/  fityav  Hesych.  zu  dem  seefisch  Xüqi- 
voQ  gehört  (vgl.  Mor.  Schmidt  z.  d.  gl.).  In  Xl-äv^  mit  l  und  T, 
würde  tiefstufiges  indog.  iW-  vorliegen,  -^xr-lä-v  oder  *TXr- 
fä-v  etwa  die  grundform  des  erstarrten  acc.  sing.  fem.  gewesen 
sein.  Dazu  kommt  die  vorsatzsilbe  ?.i-  von  verstärkender 
kraft:  in  XL-av&rjg  'blumenreich'  Orph.  Arg.  588,  wo  die  lesart 
vielleicht  mit  unrecht  angezweifelt  wird  (G.  Hermann  schreibt 
aliarih'ig),  Xi-afiäd-fjj'  aiyiaXtö  Xlar  afiaD^cöÖsi  Hesych.,  Xi-Ji6- 
V7jQog'  Xlcw  jiorrjQog  Hesych.  Ueberall  könnte  hier  der  begriff  des 
'mastigen,  massenhaften'  wol  angebracht  erscheinen:  Xi-avd^rjg 
cig.  'mastig  an  blumen'.  Formal  deutet  dann  das  Xl selb- 
ständiges Xl  für  Xiäv  soll  nach  Strabo  8  p.  364  Epicharm  ge- 
braucht haben  (vgl.  Passow,  Handwörterb.  II'',  1,  55  b.,  Lobeck, 
Pathol.  I,  200)  —  wol  auf  ein  wurzelnomen  idg.  *UT-  'mastig- 
keit'  hin,  wovon  '^llt-w-  oder  *lli'-no-  in  Xiäv  adjectivische  ab- 
leitung  war,  sowie  vielleicht  auch  Xl-Qo-g  adj.  'frech,  unver- 
schämt, dreist,  lüstern'. 

Andererseits  scheinen  wir  dagegen  in  dieser  selben  regiou 
auf  eine  neue  spur  unseres  in  fleisch,  XägTvog,  lUridus,  largiis 
gefundenen  -^^-ueutrums  indog.  '*llal-es-  zu  stossen.  Ich  meine, 
bei    griech.  Xuio-xajiQog   'sehr  geil,    sehr  wollüstig'    Etym.  M. 


ETYMOLOGICA  I.  411 

558,  39  Gaisford,  eig.  'üppiger  eber',  Xaiö-xccjcgav  ZafWQav 
Hesych.;  laic-jcaig'  ßocxaig,  AtvyMÖioi  Hesych.;  Xcuöjroöiag 
'sehr  geil,  sehr  wollüstig'  für  '*Xcuö-6Jioöiac  {öjcoötco  s.  v.  a. 
ßivtco);  Xaif/aQycg  'sehr  gefrässig,  gierig'  <  '^•laio-^aQyog. 
Etwa  auch  bei  Xaio-Jco6iag  'der  einen  fehler  am  fusse  hat' 
Aristoph,,  eig.  vielleicht  'klotzfuss,  kerl  mit  mastigem  fusse', 
von  Hesych  als  'der  sichelfttssige',  o  ÖQSjtavokhiQ  Jioöaq  tr/(o^> 
erklärt  wegen  vermeintlicher  herkunft  von  Xalov]  bei  Äcaö- 
TQvyovEg,  wenn  dies  mythische  riesenvolk  als  'die  kräftig 
brummenden'  (TQvycör  'turteltaube',  tqv^co  'gurre,  knurre')  be- 
zeichnet war.  Das  Xaif/agyog  hätten  also  die  alten  gramma- 
tiker,  die  freilich  nur  eine  partikel  Xai-,  nicht  Xcuo-,  sahen, 
richtiger  zu  fiagyog  'rasend,  toll',  'gierig,  gefrässig'  gezogen, 
als  neuere  zu  Xaiftog  'kehle'  und  aQyog  (in  welcher  bedeutung 
dieses  adj.?).  So  dürfte  denn  nun  auch  XalXaip  (gen.  XalXaji-og) 
f.  'Sturmwind,  regensturm,  orkan'  wol  aus  *Xaiö-Xajr-g  'mastig 
packend'  gedeutet  werden,  wobei  die  seither  schon  empfoh- 
lene beziehung  des  Schlussgliedes  zu  Xaftßavco  und  zu  Xäß-Qo-g 
adj.  'heftig,  reissend,  stark,  gewaltig,  ungestüm',  eig. 'packend', 
durch  'entgleisung'  des  mutastammes  ''^'XaiXaß-  in  der  alten 
flexion  XalXay),  '^XaiXaß-og  nach  verf.  Z.  gesch.  d.  perf  311. 
(519  f.  zu  erklären  wäre;  freilich  bliebe  die  deutung  aus  einem 
intensivstamme  '^Xai-Xaß-,  der  in  der  weise  von  dcu-öäXXm, 
jiai-jiäXXoj,  jrai-fpüoöco,  homer.  fdöOco  <  *fca-Mxlco  und  zu- 
gehörigen nominalformen  wie  6ai-6aX-o-g,  jiaL-jxaX-rj  (Curtius, 
Verb.  d.  griech.  spr.  P,  307  f.,  verf  Beitr.  VIII,  271,  Jak.  Wacker- 
nagel, Kuhns  zeitschr.  XXVII,  276,  ßrugmann,  Iwan  Müllers 
handb.  d.  klass.  altertumswiss.  24.81,  Grundr.  d.  vergleich, 
gramm.  I  §96  s.  91)  zu  verstehen  wäre,  gleichberechtigt.  In 
Xalö-iro^'  xh'aidog,  jioQvtj  Hesych.,  wenn  es  zu  iTijg,  hai/og 
adj.  'drauflosgchend,  dreist,  keck,  frech,  unverschämt'  gehört, 
müsste  Xaic-  von  beispielen  wie  XcdG-y.ajTQog,  Xaia-Jiaig,  Xaio- 
jcoölag  analogisch  übertragen  sein.  —  Fern  indes  steht  wol 
diesem  kreise  Xatfta  adv.  ntr.  i)lur.  'ausgelassen,  toll'  in  ?Mifm 
ßaxxtvei  Menand.  p.  100  Meineke,  Xaifja'  XafivQa  Hesych.;  es 
scheint  Xcufwg  <  '■'•Xao-iiiu-g  ein  der  sii)pe  von  XtXcdoficu,  lat. 
las-clvus  (G.  Curtius,  Grundz.  d.  griech.  ctym.''  361)  anzureihen- 
des adjectiv  gewesen  zu  sein. 

Haben  wir  in  diesen  griech.  Zusammensetzungen  mit  Xai6- 

Jieitiiigu  zur  gescliichtc  der  rtciitscheii  spr.aclic.     XI 11.  28 


412  OSTHOFF 

in  der  tat  uocli  ein  ganzes  nest  von  veitietern  des  indog. 
'^tlaies-  ntr.  entdeckt,  so  bieten  sie  uns  denn  auch  die  schwache 
Stammform  des  letzteren,  '•^(lais-,  dar,  die  das  germanische 
wort  '''plais-ki-z  'mastfleisch'  nach  dem  oben  s.  405  bemerkten 
wenigstens  auch  enthalten  kann.  Begreiflich  ist,  dass,  mit 
einziger  ausnähme  des  gerade  der  gewählten  und  dichterischen 
spräche  seit  Homer  eigenen,  vielleicht  aber  eben  auch  nicht 
hierher  gehörigen  XüiXaip,  'totum  hoc  genus  intentionis,  cui 
Icdü-jiaiQ  quoque  adjicitur,  politior  sermo  declinat'  (Lobeck, 
Proleg.  50):  gemäss  der  grundbedeutuug  des  Xai6-  waren  die 
bildungen  und  ihr  gebrauch  in  den  volkskreisen  zu  hause,  in 
denen  man  vorzugsweise  auch  bei  uns  von  klotzig  viel  geld^ 
es  schneit  massig  u.  dgl.  zu  hören  bekommt.  Allerdings  auch 
Göthe:  tretet  nicht  so  mastig  auf  wie  elephantenkältjer. 

5.    Fliehen,  lat.  locusta,  lit.  lekiii. 

Professor  Wilh.  Meyer  sprach  mir  vor  einiger  zeit  die 
Vermutung  aus,  dass  der  lat.  name  der  'heuschrecke',  locusta, 
das  tier  wol  in  derselben  weise  als  ' Springerin,  grashiipferiu' 
bezeichnen  werde,  wie  dies  bekanntlich  in  manchen  anderen 
sprachen  geschehe:  z.  b.  bei  franz.  sauterelle,  engl,  grasshopper, 
ndl.  sprinkhaan,  ahd.  hewi-skrekko,  mato-screch  und  vielfach 
sonst  noch  (vgl.  A.  von  Edlinger,  Erklärung  der  tiernamen 
aus  allen  Sprachgebieten,  Landshut  1886  s.  57);  locusta  werde 
nemlich  anzuschliessen  sein  an  die  baltische  Wortsippe  von 
lett.  lezu,  lekt  's])ringen,  hüpfen',  lekdt  iter.  dass.,  lekas  f.  pl. 
'herzschlag',  wozu  mit  etwas  abweichend  entwickelter  bedeu- 
tung  die  litauischen  Wörter /^/wV^,  /e"/:^/ 'fliegen',  läkas  m.^^\\^\ 
laka  f.  'flugloch  der  bleuen',  lakta  f  'hühnerstange'  (zum  auf- 
fliegen) kommen. 

Indem  ich  diesen  glücklichen  gedanken  W.  Meyers,  den 
mir  derselbe  für  mein  in  arbeit  begriffenes  etymologisches 
lateinisches  Wörterbuch  freundlich  zur  Verfügung  stellte,  weiter 
verfolgte,  bin  ich  dabei  zu  einer,  wie  mir  scheint,  brauchbaren 
etymologie  des  deutschen  vcrbums  /liehen,  got.  JAiuhayi  gelangt. 
Zunächst  nemlich  drängte  sich  mir  die  möglichkeit  auf,  dass 
zu  lat.  locusta  und  jenen  lit.-lett.  Wörtern  auch  got.  plahsjan 
trans.  'in  schrecken  versetzen',  ga-plahsnan  intr.  'erschrecken' 
zu  stellen  sein  dürften;  die  bedcutimg  wäre  bei  diesen  analog 


ETYMOLOGICA  T.  413 

entwickelt  wie  eben  in  unserem  schrecken,  d.  i.  bekanntlich 
als  ahd.  scr'ecchön  —  und  so  ja  noch  in  heu-schreck  —  'auf- 
springen, auffahren'.  Als  wurzel  ergäl)e  sich  ein  indog.  tlek-] 
lat.  locusta  <  '^tlocostu  ist  ohne  weiteres  lautgesetzlich  (vgl. 
oben  s.  400);  halt,  lek-  aus  "^-ilek-  herzuleiten  erscheint  auch 
statthaft,  da  weder  lit,  noch  lett.  einen  anlaut  tl-  kennen  und 
von  einer  anderweitigen  Umwandlung  eines  solchen  auf  diesem 
Sprachgebiete,  etwa  der  für  den  inlaut  geltenden  in  -kl-  (suft'. 
-kla-  <  *-flo-)f  nichts  verlautet.  Zwischen  !ocus-ta  und  dem 
got.  plahs-jan  waltet  noch  eine  engere  morphologische  be- 
ziehung:  der  nominale  (neutrale)  ^-stamm  urlat.  *tloc-os-  'das 
aufspringen',  auf  den  locus-ta  weist  (vgl.  onus-lus,  venus-tus, 
vetus-tus,  alat.  cön-foedus-ti),  bildete  in  seiner  themaschwachen 
form  idg.  *llok-s-  auch  das  germ,  denominativum  plali-s-jan. 

Dass  'fliehen',  pliu/ian,  und  'erschrecken',  plahsjan,  wenn 
anders  die  formale  einigung  gelingt,  begrifflich  sehr  wol  unter 
dem  gemeinsamen  grundbegriflf  'aufspringen,  aufgescheucht  sich 
hinwegbewegen'  sich  zusammenfinden  würden,  dafür  mögen  uns 
die  bedeutungsverhältnisse  einer  griechischen  Wortfamilie  als 
Zeugnis  dienen:  q)eßo{/ai  'werde  gescheucht,  fliehe,  flüchte' 
nebst  ffoßtco  'schrecke,  scheuche,  jage  in  die  flucht',  med.-pass. 
ffoßtofiai  'werde  erschrekt'  und  'werde  verscheucht,  fliehe', 
cpoßog  'Schrecknis,  schrecken,  furcht'  und  'verscheuchung,  flucht'. 

Von  der  ältesten  germanischen  verbalflexion  der  wurzel 
indog.  tlek-  'aufspringen'  bietet  wol  das  altnordisclie  mit  der 
hier  in  alten  und  dichterischen  quellen  erscheinenden  ablautung 
/Iijj'a,  flö,  flugom  (Noreen,  Altisländ.  u.  altnorw.  gramm.  §  262,  4 
s.  105,  §404  anm.  3  s.  161)  das  relativ  treueste  bild  dar.  Hier 
ist  flijja  <  *flyh-jan  <  '^-ßuh-jan  (got.  *plaüh-jan)  die  von  lit. 
lek-i'u  nur  im  wurzelablaut  abweichende  alte  jodpracsens- 
biklung:  indog.  '■^llek-tu  und  *tl'k-io  neben  einander  wie  verg-u) 
(gr.  i-QÖco)  und  iirg-iü  (got.  waurkja,  avest.  vereztjämf)  und  ähn- 
liches bekanntlich  sonst  öfter;  vgl.  H.  Möller  in  diesen  Beitr. 
VII,  532,  verf.  ebend.  \  III,  287,  Z.  gesch.  d.  perf.  89.  596  anm., 
neuerdings  G.  Burghauser,  Indog.  praesensbildung  im  germau., 
Wien  1887  s.  39  ff".  Das  jodpraesens  germ.  ''" plüx-jö  war  wurzel- 
betout,  daher  mit  -i-  (-/<-),  trotz  seiner  tiefstufigkeit  nach  alter 
regel,  die  got.  fi o/Ja,  hlahj'a,  frajjja,  skapja  wie  aind.  ;;^/^/v'//<', 
nljyali,  küjiyali   u.  a.    kennen.      Anord.   llui/otn    plur.   perf.    und 

2»* 


414  OSTHOFF 

'^ßogenn  pavt.,  bei  denen  gerni.  }Aug-  =  idg.  /Ik-  mit  nach- 
iolgeudem  grundspraclilichen  acceute,  und  das  praesens  ''''-JAuh- 
jan  stellen  sich  hinsichtlieh  ihres  lu  für  /  sonans  auf  eine  linie 
mit  den  bekannten  got.  bnikans,  ahd.  gi-brohhan,  got.  t7'udan 
Irudans  ==  ■  anord.  Irotia  ti'otienn,  ahd.  gi-sprohhan,  gi-irofl'an 
u.  s.  w.:  hatte  die  uugesch wachte  wurzel  die  lautfolge  liqu. 
+  voc,  so  dürfen  wir  eben  In,  nicht  ul,  bei  den  tiefstufen- 
formen  von  tiek-  erwarten.  Von  der  heischung  eines  plur. 
perf.  anord.  '"^flogom  i^=  got.  *plegurn)  statt  flugom  düi-fen  wir 
Umgang  nehmen,  wenn  wir  auch  got.  skulum.  munum  für  ur- 
sprünglicher dem  ablaute  nach  als  helum,  hetmm,  nenium  zu  halten 
uns  berechtigt  glauben;  vgl.  verf.  Z.  gesch.  des  perf.  118  f., 
Burgauser,  Die  bildung  d.  german.  perfectst.,  Wien  1887,  s.  64.  65. 

Im  anord.  paradigma  von  ßijja  ist  eine  entschiedene  neu- 
bildung  nur  der  sing.  perf.  flö  =  got.  plduh,  und  natürlich 
eine  durch  den  plur.  /lugo?n  und  das  part.  *ßogenn  veranlasste: 
/Id  'flog'  zu  flugom  flogenn,  lö  zu  lugom,  smb  zu  smiigom  u.  dgl., 
auch  '*tö  'zog'  (=  got.  tnuh)  zu  ''^' lugom  plur.  und  togenn  part. 
waren  die  musterverhältnisse.  Nichts  hindert  aber  die  annähme, 
dass  solche  analogische  Schöpfung  des  sing,  perf  schon  ur- 
germanisch stattgefunden  habe;  und  somit  kann  denn  als  die 
weitere  consequenz  eines  frühzeitig  zu  '*plu^um,  *plu^ans  neu 
entwickelten  pläuh  'floh'  das  praesens  des  got.  und  westgerm., 
pliuhan  =  ags.  fleon,  asächs.  ahd.  fliohan,  betrachtet  werden. 
Das  alte  '^■pluhjan  erhielt  sich  im  anord.  dadurch,  dass  flijja 
in  der  späteren  spräche  in  die  schwache  conjugation  übergieng: 
praet.  flijba,  noch  jünger  flütia  (Noreen  a.  a.  o.  §  404  anm.  3  s.  105). 

Von  den  nominalen  bildungen,  die  zu  pliuhan  in  den  altgerm. 
dialekten  gehören,  kann  ags. /7m«  m.  'flucht',  nach  Sievers,  Ags. 
gr."-  §  222,  2  aus  '■'"flcahm,  auch  auf  '-'•fleahm  =  got.  *plahm-s  be- 
ruhen (vgl.  3igH.t>wcal  =  go\. prvahi)]  nach  von  Bahder,  Verbal- 
abstr.  133  wäre  es  gar  von  fliehen  ganz  zu  trennen.  Got  plaüh-s- 
m.  (st.  plaühi-),  anord.  flölti  m.  (=  got.  '-^'- plaühla)  und  ags.  flyht, 
ndl.  vlugl,  asächs.  ahd./ft<A^  f  'flucht'  bleiben  im  alten  ablautsgeleise 
von  ''"pley-  =  idg.  /lek-,  in  dem  sie  etwa  so  dastehen,  wie  ahd. 
fvidar-bruht  neben  brühhan,  got.  slaühis  neben  slahan,  mhd.  iruht 
{truhl-sceze)  neben  tragen  (von  Bahder,  Verbalabstr.  65.  68.  69). 
Den  zusammenfall  dieser  bildungen  mit  entsprechenden  formen 
von  fliegen  {\v.  indog.  p/eugh-)  bespricht  Kluge  in  seinem  Etym. 


ETYMOLOGICA  I.  415 

wörteil).  unter  fliehen,  fluchf.  Die  misch uui;'  beider  verba  und 
ihrer  sippeu  konnte  eine  vollständigere  freilich  nur  im  skandi- 
navischen und  westgerm.  werden,  wo  in  folge  des  hier  statt- 
findenden Überganges  von  germ.  got.  />/-  in  //-  allerdings  ein 
anord.  flugo  und  ags.  fluffun  sowol  'sie  flohen'  als  auch  'sie 
flogen'  in  einer  form  ausdrückten,  und  wo  ags.  fit/ht,  engl. 
/Jiffht  'flucht'  und  'flug'  zusammen  bedeutet.  Denkbar  ist  aber 
auch  bei  der  grossen  lautähulichkeit  von  einem  plu^-  und 
flug-,  dass  immerhin  schon  in  der  urgermanischen  zeit  begriff- 
liche association,  die  unserem  neuhochdeutschen  Sprachgefühl 
jetzt  fest  anhaftet,  eingetreten  war  und  den  geschilderten  process 
der  Umformung  der  wurzel  plex-  in  eine  wurzel  pleux-  be- 
schleunigen half.  Wie  nahe  solche  begriffsassociation  lag,  deutet 
das  lit.  an,  wo  das  dem  fliehen  etymologisch  entsprechende 
verbum  lek-iii,  le'kti  den  sinn  ^on  'fliegen'  bekommen  hat. 

Den  ablautsreihenwechsel  macht  unter  den  nominen  aber 
der  name  des  flohes  mit:  anord.  fld,  ags.  fleah,  ndl.  vho,  ahd. 
floh,  mhd.  vlöch  m.  =  got.  *pläuh-s.  Ihn  als  den  'flüchtigen'  mit 
Kluge  (Etym.  wörterb.  unter  floh)  zu  fassen,  empfiehlt  sich  viel- 
leicht jetzt  weniger  als  ein  unmittelbares  zurückgehen  auf  die 
schon  von  Grimm,  Deutsch,  wörterb.  III,  1789  eben  nach  floh 
gcmutmasste  grundbedeutung  von  fliehen,  der  gemäss  der  floh 
dann  als  'der  aufspringende,  hüpfer'  erscheint,  wie  die  mit 
ihm  ja  wurzel verwante  lateinische  Springerin  locusta. 

G,  Häher,  reiher. 
Alte  mehr  oder  weniger  in  Vergessenheit  geratene  etymo- 
lügieen  gelegentlich  wider  aufzufrischen,  hat  zuweilen  seinen 
nutzen.  Eine  solche  ist  die  von  Beufey,  Griech.  wurzellex. 
II  (1842)  s.  IGl  (vgl.  auch  Förstemann,  Kuhns  zeitschr.  III  56, 
A.  Kuhn  ebend.  XIII,  73)  herrührende  Zusammenstellung  von 
griech.  xiooa  {xirra)  f.  'häher,  eichelhabicht'  <  ^xiy.-l«.  mit 
den  germanischen  nanien  desselben  vogels,  ags.  hignra  m., 
ahd.  hehara  f,  mhd.  heher  m.  f.,  ndd.  hegcr  m.  Diese  combina- 
tion  scheint  von  0.  Schade,  Altdeutsch,  wörterb.^  378  b.  und 
Kluge,  Etym.  wörterb.  unter  häher  übersehen  zu  sein.  Auf- 
genommen hat  sie  jedoch  neuerdings  A.  von  Edlinger,  Erklä- 
rung der  tiernamen  52,  der  auch  bret.  qegiiin  'häher'  und, 
A.  Kuhn  a.  a.  o.  folgend,   aind.  kiki-sh  f.  'der  blaue  holzhäher' 


4  IG  OSTHOFF 

(dazu  kiki-clivi-sh  und  vcd.  kiki-divi-sh  ni.  als  composita)  bei- 
bringt. Die  aind.  formen  vergleicht  auch  Grassmann,  Wörterb. 
z.  rigv.  325  mit  dem  deutschen  häher.  Das  kiki-sh,  beiläufig 
bemerkt,  nicht  lautgesetzlich  wegen  der  zweimaligen  nicht- 
palatalisierung  von  A%  gewann  wol  sein  formales  aussehen 
durch  ausgleichung  des  alten  lautwechsels  in  einer  stamm- 
und  suffixabstufenden  declination  nom.  sing.  *keci-sh,  abl.-gen. 
'^cike-sh  =  indog.  '■'kölki-s,  *kiköl-s. 

Es  bestehen  einige  bemerkenswerte  onomatologische  be- 
riihrungen  im  germanischen  zwischen  dem  häher  und  einem 
andern  vogel,  dem  reiher.  Neben  ags.  firä^ra,  asächs.  hreiera, 
ndl.  mhd.  reiger  m.,  —  die  man  etwa  mit  homer.  y.Q[y.i,  aor., 
den  dem  storche  verwanten  reiher  als  'knarrenden,  knacken- 
den' nach  seinem  geräusche  gefasst,  in  Verbindung  bringen 
darf  (A.  von  Edlinger  a.  a.  o.  86  f.)  —  liegen  als  ''auffällige 
ncbeuformen  ahd.  heigir,  mhd.  heiger  'reiher'"  (Kluge,  Etym. 
wörterb.  unter  reiher).  Man  i)flegt  die  letzteren  allgemeiner 
als  formverwante  den  bezeichnungen  des  hähers  beizugesellen; 
so  ausser  Benfey,  Förstemann  und  A.  Kuhn  auch  Graft",  Alt- 
hochd.  sprachsch.  IV,  791).  Im  skandinavischen  geht  die  for- 
male berührung  so  weit,  dass  anord.  here  (<  *hehre)  nebst 
der  den  grammatischem  Wechsel  habenden  seitenform  hegre 
m.  'reiher'  ganz  die  mit  dem  westgerm.  namen  des  'hähers' 
übereinkommende  lautgestalt  aufweist  und  darum  geradezu 
als  identisch  damit  betrachtet  wird.  Das  letztere  bei  Cleasby- 
Vigfusson,  Icel.-engl.  dict.  247  a.  und  Noreen,  Altisl.  u.  altnorw. 
gramm.  §202,4  s.  105,  welche  gelehrten  indes  über  die  be- 
deutungsdiflerenz  schweigen;  ferner  bei  Kluge,  Etym.  wörterb. 
unter  häher,  nur  dass  dieses  fälschlich  den  nordischen  hcre,  hegre 
für  einen  'häher'  ausgibt. 

Mir  scheint  nun,  dass  die  namen  der  beiden  vögel  früh- 
zeitig volksetymologisch  auf  einander  eingewirkt  haben.  Beide 
haben  die  eigenschaften  gemein,  dass  sie  buntfarbig,  Strich- 
vögel und  geschreimacher  sind.  Im  hochdeutschen  geschah 
wol  die  formale  beeinflussung  so,  dass  sich  aus  einem  *hrelgir 
=  mhd.  reiger  (oder  '*hreigaro  =  ags.  hrä^ra)  und  einem 
*hegara  als  der  zu  hehara  'häher'  im  grammatischen  Wechsel 
stehenden  nebenform  (vgl.  ags.  higora,  ndd.  heger)  die  misch- 
form  heigir   zur   bezeichnung  des  'reihers'   herausbildete.    Im 


ETYMOLOGICA  I.  417 

skandinavischen  schob  sich  der  name  des  'hähcis'  schlechthin 
an  die  stelle  desjenigen  für  den  'reiher';  wobei  immerhin  an- 
genommen werden  mag,  dass  auch  hier  anfänglich  eine 
dem  ahd.  heigir  entsprechende  mischform,  etwa  anord.  ''^häre 
(<  '-^haihre)  oder  *heigre  'reiher',  bestanden  habe  und  diese 
dann  in  der  folge  noch  weiter  von  den  für  den  'häher'  gelten- 
den benennungen  attrahiert  wurde.  Ein  gewisses  dissiraila- 
torisches  bestreben,  dem  die  Volksetymologie  füglich  die  band 
bot,  wird  wol  auch  mit  im  spiele  gewesen  sein,  um  für  den 
reiher  eine  neue  namensform  zu  gewinnen,  die  nicht  wie  die 
alte  zu  dem  r  im  suflixteile  noch  ein  solches  in  der  anlauts- 
gruppe  hr-  enthielt.  Dissimilation  schuf  auch  die  mhd.  neben- 
form  reigel  für  reif/er. 

Die  häher-  und  reiherfrage  hat  auch  noch  eine  besondere 
bedeutung  für  die  altgermanische  lautlehre.  Wegen  gr.  xiööa 
und  aind.  kiki-sh  hat  das  ags.  higora  ein  indog.  /  und  ahd. 
hchara  mithin  ein  aus  indog.  /  'gebrochenes'  c.  Das  letztere 
erscheint  aber  auch  in  niederd.  lieger  'häher'  und  in  anord. 
here,  hegre  'reiher'.  Damit  werden  die  beispiele  um  eins  ver- 
mehrt, die  ein  solches  'brechungs-t;'  auch  auf  den  ausserhoch- 
deutschen  dialektgebieten  zeigen.  Ich  bin  neudich  nicht  der 
ansieht  von  Paul  in  diesen  Beitr.  VII,  82  tf.,  der  sich  neuer- 
dings Brugmann,  Gruudr.  d.  vergleich,  gramm.  I  §  35  s.  36  f. 
anschliesst  (unbestimmter,  wenn  auch,  wie  es  scheint,  ebenfalls 
mehr  im  sinne  Pauls  äussert  sich  Braune,  Althochd.  gramm. 
§  52  s.  40  f.),  dass  jene  /-brechung  oder  «-umlautung  sich  einzig 
auf  das  hochdeutsche  beschränke.  Ich  neige  mich  vielmehr 
entschiedener  einem  Standpunkte  wie  dem  von  Noreen,  Alt- 
isländ.  u.  altnorweg.  gramm.  §  5ü  s.  23,  §  173  s.  65  und  von 
anderen  gelehrten  vertretenen  zu,  wonach  die  crscheinuug  als 
eine  solche  von  dialektisch  weiterem  umfange  anzusehen  ist, 
die  nur  in  den  anderen  gebieten  durch  ausgleichungen  zu 
gunsten  der  neben  den  t'-formen  hergehenden  /-formen  mehr 
verwischt  worden  ist  als  im  hochdeutschen.  Haben  uns  doch 
die  Vertreter  der  Panischen  theorie  bisher  noch  nicht  gesagt, 
wie  sie  ihrerseits  die  von  Xorccn  angeführten  isl.-anorw.  neban, 
ncbre  'nieder',  anord.  siege  'leiter'  u.  a.,  wie  ferner  mengl. 
«t'ö^r,  nengl.  nelher,  ndl.  neder  'nieder',  ags.  ndl.  nesi  'nldus', 
anord.  verr,  ags.  asächs.  ner  'vir'  auffassen;    lauter  Wörter,  in 


418  OSTHOFF 

denen  indog.  i  so  sicher  ist  wie  nur  etwas.  Als  eine  aus  dem 
niederdeutschen  hinzukommende  form  dieser  art  gilt  mir  noch 
asäehs.  heda  f.  'bitte,  gebet'  {knio-beda),  ndl.  bede  =  got.  hida, 
ahd.  beta.  Denn  an  der  ßeitr.  VIII,  140  ff',  ausführlicher  be- 
gründeten, auch  von  Kluge,  Etym.  wörterb.^  32  a.  unter  hitteyi 
aufgenommenen  Zusammenstellung  dieses  verbums  mit  griech. 
jtiiiho)  machen  mich  die  abweichenden,  jedoch  keineswegs  an- 
nehmbaren bemerkungen  von  J.  Franck,  Etym.  woordenboek 
d.  uederl.  taal  94  f.,  deren  consequenzen  E.  Martin,  Anz.  fda. 
X,  414  f.  bis  ins  unglaubliche  zieht,  nicht  irre;  desgleichen 
auch  nicht  die  von  Bechtel,  Litteraturbl.  f  german.  u.  roman. 
philol.  IV  (1883)  s.  6  und  von  Fick,  Bezzenbergers  beitr. 
VIII,  330.  IX,  318  empfohlene  vergleichung  des  got.  hidjan 
mit  griech.  »9^£öofö9ßt  'flehen',  avest.ya/Ö//m? 'bitte',  air.  guidiu 
^  bitte',  eine  combination,  die  trotz  ihrer  auf  der  flachen  band 
liegenden  lautgesetzlichen  unhaltbarkeit  sich  den  beifall  Bezzen- 
bergers, Götting.  gel.  auzeig.  1883  s.  392  und  Prellwitz's,  De 
dial.  thessal.  26  erwarb. 

Ob  nun  freilich,  wie  Noreen  will,  die  /-brechung  zu  e 
schon  für  das  urgermanische  in  anspruch  zu  nehmen  sei,  ist 
eine  andere  frage,  die  zu  bejahen  ich  mich  nicht  so  ohne  wei- 
teres entschliessen  möchte.  Jedenfalls,  dünkt  mich,  wird  dieser 
lautwandel  ebenso  sehr  oder  —  je  nachdem  —  ebenso  wenig 
als  schon  urgermanisch  zu  gelten  haben,  wie  die  in  phone- 
tischer hinsieht  und  dem  Verbreitungsgebiet  nach  (d.  i.  überall 
ausser  im  got.  auftretend)  ihm  durchaus  parallel  gehende  u- 
brechung  zu  o. 

1.  Got.  handugs.  Gr.  60(f6g,  lat.  /aber. 
Mir  scheint,  dass  das  etymologisch  schwierige  got.  adjectiv 
handugs  'weise'  einmal  von  ganz  anderer  seite,  als  es  bisher 
immer  geschah,  anzupacken  ist.  Seine  bildung  haben  wol  alle, 
die  sich  damit  befassten,  so  verstanden,  als  ob  das  suffix  -go- 
=  indog.  -ko-  darin  enthalten  sein  müsse,  mochten  sie  nun 
mit  der  am  nächsten  liegenden,  aber  begrifflich  anstössigeu 
anknüpfung  an  handu-s  'band'  sich  begnügen  oder  auf  andere 
deutungsmittel  bedacht  sein.  Kluge,  Xomin.  stammbild.  §  203 
s.  86  hat  es  mit  der  hcranzichung  von  griech.  z8VTt(a  'steche, 
stachele',   wozu  xovro-g  m.  'stange,  stecken,  speerschaft',    ver- 


ETYMOLOGICA  L  419 

sucht,  indem  er  zugleieli  ideutificieruug  von  handiujs  mit  ahd. 
hantag  'scharf  vorschlug.  Das  ist  ebenfalls  von  selten  der 
bedeutung  wenig  einleuchtend  und  selbst  der  Zusammenhang 
mit  dem  ahd.  adjectiv  äusserst  fraglich,  wenn  man  den  be- 
griffsumfang  des  letzteren,  ahd.  hantag  'acer,  ferus,  saevus, 
mordax,  durus,  fortis,  asper,  gravis,  acerbus,  araarus,  immanis, 
intolerabilis'  u.  dgl.  mehr  (Graff,  Althochd.  sprachsch.  IV,  972. 
973),  richtig  erwägt.  So  hat  denn  auch  Kluges  auffassung  mit 
recht  Kauffmanu  in  diesen  Beitr.  XII,  202  anm.  2  nicht  be- 
friedigt, der,  an  suffix  -go-  freilich  festhaltend,  vorsichtiger  be- 
merkt: 'das  grundwort  ist  nicht  klar,  möglicherweise  liegt  in 
hayidugs,  handugei  doch  volksetymologischer  einfiuss  von  han- 
dus  vor'. 

Ich  zerlege  han-dug-s  und  finde  als  die  grundbedeutuug 
von  germ.  ''''•yan-dug-o-z  =  indog.  ''^•köm-dhugh-o-s'.  'tauglich, 
tüchtig,  geschickt'.  Das  Schlussglied  ist  ein  nomen  agentis  der 
Wurzel  von  got.  daug,  dugan  'tauglich  sein,  nütze  sein,  sich 
brauchbar  erweisen,  geschickt  sein',  anord.  duga^  ags.  asächs. 
dugan^  ahd.  tugan,  mhd.  tugen,  ndl.  deugen,  nhd.  taugen,  wozu 
als  andere  nominalbildungen  anord.  dggb,  ahd.  tugid  f.  und 
ags.  dugu^,  ahd.  fugund  f.  'brauchbarkeit,  tauglichkeit,  tugend', 
mhd.  tuht  f.  'kraft,  tüchtigkeit',  mhd.  tühtic  adj.  'brauchbar, 
kräftig,  wacker,  tüchtig'  gehören.  In  der  vorsilbe  von  got. 
han-dug-s  steht  das  Itan-  auf  assimilatorischem  wege  vor  -d- 
für  *ha)n-  zufolge  desselben  lautwandels,  den  man  als  urger- 
manischen für  nhd.  hundert,  rand,  sand,  schände,  sund  gemäss 
der  etymologie  dieser  Wörter  anzunehmen  hat  (vgl.  Kluges 
Etym.  wörterb.  unter  den  einzelnen  artikeln,  dazu  Brugmanu, 
Grundr.  d.  vergleich,  gramm.  I  §  214  s.  182);  d.  h.  ich  sehe 
hier  die  german.  form  des  praefixes  indog,  '-^kom  'mit,  zu- 
sammen' =^  lat.  com-  ciwi,  osk.  küm-  com,  umbr.  kuni  com, 
air.  com,  griech.  *xo,a  in  xouw^  <  '^xofi-lö-g  (verf.  Z.  gesch. 
d.  perf.  507).  Das  praefix  '''kom-  hatte  in  indog,  '■'•kniJi-dJiugh-o-s 
=  got.  han-dug-s  lediglich  verstärkenden  sinn,  eine  deu  begrift' 
des  Simplex  bestimmter  ausprägende  kraft,  wie  sie  lat.  com-, 
con-  so  oft  zeigt,  z.  b.,  um  nur  adjectiva  zu  nennen,  in  cofn- 
pos,  con-cavus,  con-dignus,  cön-slUns,  con-suclus,  con-tumäx  (zu 
temnere,  con-ternnere)',  wie  sie  ferner  dem  semasiologisch  wenig- 
stens   zu    lat.  com-    durchaus    stimmenden   germ,  ga-   (got,  ga- 


420  OSTHOFF 

main-s  gleichartig  mit  lat.  coni-mwii-s)  bekannter  massen  häufig 
zukommt,  in  gc-wiss,  ahd.  (ji-wis  adj.,  gi-wisso  adv.  neben  ahd. 
ivisso  adv.,  in  gesund,  ahd.  gi-sunt,  ags.  gesund  neben  afriess. 
ags.  sund,  engl,  sound  u.  dgl.  Mit  ^a-  ist  daug,  dugan  'taugen' 
verstärkend  zusammengesetzt  in  mhd.  ge-louc,  ge-tugen  vb., 
gctuht  f.,  g'e-tühtic  adj.  Das  got.  han-dug-s  wird  als  germani- 
scher Vertreter  von  indog.  */tow-  praef.  nicht  allein  dastehen, 
wenn  die  unten  s.  427  f.  aufgestellte  erklärung  von  hanse  beifall 
vcidient. 

Was  die  Wegstrecke  in  der  bedeutungsgeschichte  von 
'tüchtig,  geschickt'  zu  'weise'  anbetrifft,  so  erscheint  diese  als 
eine  leicht  durchmessene.  Auch  die  griechischen  Wörter,  die 
Wiilfila  eben  mit  handugs^  handugei  übersetzt,  haben  sie  zu- 
rückgelegt. Sehr  zutreffend  ist  das  bild,  welches  Passow, 
Handwörterb.  d.  gr.  spr.  11^,  2,  1485.  1487  f.  unter  öofpoq,  GO(pla 
von  der  begrifflichen  entwickelungsgeschichte  dieser  w^ortsippe 
entwirft.  Darnach  war  der  ausgangspunkt  hier:  'geschickt, 
geübt'  "von  körperlicher  und  mechanischer  fertigkeit,  in  einem 
handwerk  oder  einer  kunstfertigkeit  erfahren,  gewant",  'fertig, 
kundig'  "in  jeder  mehr  oder  weniger  geistigen  fertigkeit,  als 
arzt,  Wahrsager,  feldherr,  redner  u.  dgl";  von  da  gelangte  man 
über  'anstellig,  gewant,  erfahren'  "in  angelegenheiten  des  häus- 
lichen wie  des  öffentlichen  lebens"  zu  'klug,  verständig,  ge- 
scheit, praktisch',  auch  'gewitzigt,  vorsichtig,  schlau,  listig' 
und  endlich  erst  zu  'intellectuell  klug,  gelehrt,  denkend,  weise'. 
Dieser  rote  faden  ist  verfolgbar  von  der  frühesten  und  einzigen 
homerischen  spur,  rtzrovoc,  sv  jtaXäfüjOi  öat](iovog  6g  (>«  re 
jta07]g  EV  tidii  ooffifjg  II.  0  412,  von  den  rtxtoveg  öocpol  Find., 
dem  öoqbg  aQ(i)]Xct.ri]g  id.,  xvßsQvrjr/jg  id.,  der  öog)rj  x^^Q  t£xt6- 
i'cov  Eurip.  über  den  oocpog  fiavtig  Aeschyl.  oder  ohovod^irag 
Soph.,  latQÖg  Soph.,  jtoitjtt'jg  Aeschin.  u.  s.  w.  bis  zu  den  letzten 
ausläufern  derjenigen  gebrauchsweisen,  in  denen  öo^og,  oocpia 
wulfilanisch  durch  liaudugs,  handugei  widergegeben  werden. 
In  die  alte,  von  aocpog  später  meist  verlassene  semasiologische 
stelle  ist  als  jüngeres  Substitut  tvrixvog  eingerückt. 

Mit  got.  daug,  dugan  'taugen'  pflegt  man  bekanntlich  all- 
gemeiner griech.  rsvx'^  'richte  geschickt  her,  bereite  kunst- 
voll, verfertige',  xtvyi-og  n.  'gerät,  geschirr,  rüstzeug,  rüstung' 
zusammenzustellen;    vgl.  verf.  Z.  gesch.  d.  perf.  304  f.  und  die 


ETYMOLOGICA  I.  421 

dort  angefühlte  litteratur.  Das  vereinigt  sich  mm  sehr  gut 
mit  han-dug-s,  und  wir  hätten  den  grundbegriif  'geschickt', 
den  wir  hier  ermittelt  zu  haben  glauben,  jetzt  nur  genauer 
präcisiert  etwa  als  'wer  geschickt  anfertigt'  hinzustellen,  um 
ihn  dem  der  wurzel  indog.  dheugh-  adäquat  zu  machen.  In 
dem  praeteritopraesens  got.  daug  ,'ich^tauge'  können  die  in- 
transitive (passivische)  bedeutung^'bin  geschickt  hergerichtet, 
bin  tauglich  zubereitet  (für  etwas)',  wie  bei  griech.  ßoo^  (nvolo 
TSTsvxcög  Od.  fi  423  (verf.  a.  a.  o.  305),  und  andererseits  die 
activische  'verstehe  geschickt  zu  machen',  daher  'zeige  mich 
anstellig  (zu  etwas)'  in  formaler  ungeschiedenheit,  ganz  ent- 
sprechend eben  der  doppelbedeutung  von  griech.  rETtvya  perf., 
bei  einander  gewohnt  haben.  Als  ein  zeugnis  aber,  wie  ähn- 
lich von  einer  'machen,  verfertigen'  bedeutenden  w^urzel  aus- 
drücke für  'tüchtigkeit'  sowol  als  auch  'klugheit,  Weisheit' 
entspringen  können,  diene  uns  schliesslich  das  von  aind.  kar- 
' machen'  gebildete  indo-iranische  nomen  ved.  kr-ä/u-sh  m.  'ver- 
mögen, tüchtigkeit,  Wirksamkeit'  und  'einsieht,  verstand',  avest. 
yratu-sli  m.  ' Weisheit,  verstand';  d.  i.  nach  der  erläuterung 
Grassraann's,  Wörterb.  z.  rigv.  353  'ursprünglich:  die  fähigkeit, 
etwas  ins  werk  zu  richten  und  durchzuführen  [von  /,/•],  daher: 
tüchtigkeit,  kraft,  und  zwar  sowol  leibeskraft  als  geisteskraft, 
namentlich  verstand,  wille  u.  s.  w.' 

Lit.  ddug  'viel',  däug-sinli  'mehren',  daug-y'be  f.  'menge, 
Vielheit'  möchte  ich  jetzt  lieber  von  rsvxtiv,  got.  dugan,  weil 
begrifflich  wenig  dazu  stimmend,  scheiden.  Doch  frage  ich,  ob 
nicht  air.  dül  'geschöi)f,  dement',  düil  f.  dass.  nebst  dülem  m. 
' Schöpfer',  deren  Verbindung  mit  aind.  dhü-li-sh  f.  'staub',  lat. 
fidlgo  'russ,  schwalk',  lit.  d'ulkcs  f.  plur.  "staub'  (Fick  nach 
Stokes,  Bezzenbergers  beitr.  XI,  74)  semasiologischen  bedenken 
unterliegt,  passender  sich  unserer  wurzel  dheugh- J\Q,i-iQvi\^Q,n, 
kunstvoll  bereiten'  anschliessen  dürften;  air.  dül-  <  '"''dug-l- 
wäre  ja  lautgesetzlich.  Thurneyseu  meint  (brieflich),  dass  man 
ebendahin  dann  auch  stellen  könnte:  air.  düan  f.  'gedieht,  lied' 
als  'kunstvolles  erzeugnis',  für  '*dognä,  umgelautet  aus"/<;?2<//-Mä, 
oder  für  ur-inselkeltisch  '^dögna  (=  indog.  '■■'•dheugh-nä  oder 
*dhough-7ia)]  etwa  auch  air.  dual  'flechte,  franse'  als  'künst- 
lich gedrehtes'  (stamm  indog.  '■'''•  dhugh-lo-  oder  '-''dheugh-lo-, 
'•^dhough-lo-).    Und  von  Stokes,  Bezzenbergers  beitr.  XI,  132  ist 


422  OSTHOFF 

auch  (las  freilich  g-anz  unsichere  g-all.  dugeonleo  oder  diujUontiio 
einer  iuschrift  schon  zu  g-riech.  rtvxoi,  revxo^  und  deutschem 
taugen,  iugend  bezogen  worden. 

Da  uns  für  got.  han-dug-s  das  griech.  öogoog  brauchbare 
dicuste  als  bedeutungsanalogon  erwiesen  hat,  so  sei  es  trotz 
des  germanistischen  Charakters  dieser  Zeitschrift  gestattet,  dass 
wir  hier  nunmehr  anhangsweise  uns  auch  mit  den  etymologi- 
schen Verhältnissen  des  griech.  adjectivs  selbst  beschäftigen. 

Von  lat.  sapiens  ist  GOffog  aus  gründen  der  inneren  wie 
der  äusseren  sprachform  etymologisch  entschieden  fern  zu 
halten.  Das  sah  richtig  schon  Stokes,  Kuhn-Schleichers  beitr. 
z.  vergleich,  sprachf  V  365,  der  hingegen  air.  sdi  'gelehrter' 
als  genaue  entsprechung  von  lat.  {ne)-sapius  hinstellte.  Lat. 
sapiens,  -sapius  gehen  ja  mit  asächs.  af-sebhian^  mhd.  en{t)-sehen 
'wahrnehmen,  inne  werden,  bemerken',  ahd.  in{t)-suah  perf. 
(Otfrid),  anord.  sefe^  ags.  sefa,  asächs.  seijo  m.  'sinn,  geist'  von 
der  in  lat.  saplo^  sapere^  sapor  lebenden  grundvorstellung  des 
'schmeckens,  geschmackbekommens'  aus,  die  von  dem  für 
oo(f(')g  notwendig  anzunehmenden  begriffskern  'praktisch  geübt 
sein,  geschick  haben'  beträchtlich  weit  abliegt.  Und  zur 
hebuug  der  formalen  Schwierigkeiten,  die  der  vergleichung  von 
6o<f<K  und  sapiens  entgegenstehen  —  anlautend  griech.  ö- 
gegenüber  lat.  s-,  inlautende  aspirata  -<p-  an  stelle  von  lat.  -p- 
■ —  war  mein  Vorschlag  einer  einigenden  wurzelform  indog. 
'*lsaph-  bei  Hübschmann,  D.  indog.  vocalsyst.  191  doch  nur  ein 
künstlicher  notbehelf. 

Ich  möchte  aber  jetzt  dem  griech,  aorpog  'geschickt,  geübt, 
kunstfertig'  seinen  lateinischen  verwauten  in  /"aber  adj.  'künst- 
lerisch, meisterlich,  geschickt',  'kunstgerecht,  technisch  vollendet, 
sachkundig,  meisterhaft',  m.  'künstlerisch  oder  handwerksmässig 
verfertigender,  Werkmeister,  künstler,  handwerker'  geben.  Die 
herkömmliche  anknüpfung  des  /aber  als  'macher'  an  fa-c-io, 
griech.  ri-d^r/-iu,  ags.  dd7i,  ahd.  (uo7i,  aind.  dä-dhä-mi  {dhä-iär- 
m.  'gründer,  schöpfer')  u.  s.  w.  lässt  das  moment  der  'kunst- 
geübtheit',  der  'technischen  fertigkeit  oder  geschicklichkeit', 
welches  doch  namentlich  in  fahre  adv.,  af-faber,  af-fabre,  auch  in 
fabrica  so  entschieden  vorwiegt,  nicht  zu  seinem  rechte  kommen; 
ist  der  faher  gleich  ein  arli-fex,   so  doch  nicht  schlechthin  ein 


ETYMOLOGICA  I.  423 

*fax.  Von  moipbologischer  seite  verdient  wenigstens  angemerkt 
zu  werden,  dass  faher  als  ^fa-bro-s  von  würz,  ß-  =  indog. 
dhe-  'rid^erai',  d.  i.  mit  männlicher  oder  adjectivischer  primär- 
ableitung  -bro-s  ^==  indog.  -dhro-s,  zwar  einige  spärliche  bil- 
dungsanalogieen  im  griech.,  z.  b.  XäX7j-{^Q0-c  adj.  'geschwätzig', 
hätte,  im  latein  selbst  aber  so  gut  wie  isoliert  dastehen  würde: 
ob  er  eher  die  Zerlegung  '^cre-hro-s  gestattet,  ist  bei  der  Un- 
sicherheit der  etyniologie  zweifelhaft;  Mulci-her,  gen.  -beris, 
weicht  in  der  flexion  ab  und  mag  wie  candelä-her  im  letzten 
gründe  doch  ein  compositum  (mit  fero)  sein;  endlich  salU-her, 
das  Corssen,  der  freilieb  faber  und  facere  beide  von  rl&fjfu 
scheidet,  Ausspr.  voeal.  11',  41  (vgl.  auch  Krit.  beitr.  355  f., 
Krit.  nachtr.  188)  neben  faber  noch  nennt,  ist  deutlich  deno- 
minal. —  Was  von  anderer  seite  Fick,  Kuhns  zeitschr.  XIX, 
260  f.,  Spracheinh.  d.  indog.  Eur.  333,  Vergleich,  wörtcrb.  P,  ()33. 
11-,  116  (unter  beistiramung  von  Vanicek,  Griech.-lat.  etyni. 
wörterb.  392  f.,  Etym.  wörterb.  d.  lat.  spr.^  130  f.,  Leo  Meyer 
Vergleich,  granim.  P,  61  f.  81.  257.  984  f.  und  Miklosich,  Etym. 
wörterb.  d.  slav.  spr.  47)  alles  mit  faber  unter  einer  europäi- 
schen Wurzel  dhäbh-  oder  dhab-  'passen,  fügen,  schmücken' 
zusammenbringt  —  lit.  dabtnti  'schmücken',  abulg.  doha  'oppor- 
tunitas',  dobrü^^\xi\  (foJ/? 'tapfqr',  got  (/a-daban  'sich  schicken, 
sich  geziemen',  ga-döf  adj.  ntr.  'schicklich,  passend',  ahd. 
tapfar  'schwer,  gewichtig',  nhd.  tapfer  und  gar  Hesychs  OißQÖv 
TQvcptQov  —  das  alles  laboriert  zum  teil  unter  sich,  insbeson- 
dere aber  in  seinen  bezieh ungen  zu  lat.  faber  an  solchen  be- 
grifflichen und  formalen  unwahrscheinlichkeiten,  dass  man 
Corssens  gründliche  polemik  dagegen  Beitr.  z.  ital.  sprachkunde 
178  ff.  nur  gerechtfertigt  finden  kann. 

Mir  vereinigen  sich  nun  griech.  oocföq  und  lat.  faber  formal 
durch  den  ausatz  eines  *Tfo(p-d<  <  ■••/>/or/;-o-g  für  das  grie- 
chische, und  andererseits  durch  zurücklcitung  des  urital.  ^faf- 
ro-s  (oder  '*faf-ro-s)  auf  ein  älteres  '^fvaf-ro-s  {'''fvaf-ro-s)  = 
indog.  ''■dhuabh-ro-s.  Griech.  6-  in  öo(pöq  <  Tfo(p-6-q  wäre 
wie  in  öt  acc.  sing,  'dich',  cöc.  pron.  poss.  'dein'  <  *tH,  *Tf6-c, 
aind.  ivd^  ivd-s,  auch  wie  in  oiio)  'schüttele,  erschüttere'  für 
indog.  *lHcls-ü  =  aind.  tvcsh-ämi  'bin  heftig  erregt'  u.  dgl.  mehr; 
vgl.  Froehde,  Kuhns  zeitschr.  XXII,  263,  Jak.  Wackernagel 
ebeud.  XX VIII,  123.     So   kommt   auch    die   form    kjri-ööofpo-c, 


424  OSTHOFF 

die  als  narae  eines  amtes  auf  einer  tlieräischen  insehrift  (Cauer, 
Del.  inscript.  Graee.^-  no.  148,  F  30.  G  9.  19.  35.  H  15.  19.  29) 
erscheint  und  mit  der  G.  Curtius,  Grundz.  d.  griech.  etym.^  512 
beim  festhalten  an  der  alten  Zusammenstellung  des  ootpöz  mit 
lat.  sapio,  sapiens  begreiflicherweise  nichts  anzufangen  wusste, 
in  das  richtige  licht:  in  txi-ooocpo-g  ist  das  inlautende  -öö-  < 
-t/-  wie  in  rtaöuQeg.  Für  die  relative  zeitliche  datierung 
des  lautgesetzes  der  Verwandlung  von  ttj,  in  griech.  -öö-  (att. 
böot.  -TT-),  anlautend  ö-  (auch  attisch,  vgl.  Wackernagel  a.  a.  o.) 
liegt  nun  übrigens  ein  beachtenswertes  moment  in  009:0-?, 
ijiL-ooo<po-g,  sowie  auch  in  6tQ<po-g  m.  'kleines  geflügeltes 
Insekt,  mücke,  ameise'  <  '"^Tfigcp-o-g  <  *&f£Qg)-o-g,  wenn  von 
Bradke,  Zeitschr.  der  deutsch,  morgenländ.  gesellsch.  XL,  352 
und  Holthausen  in  diesen  Beitr.  XI,  554  letzteres  in  solcher 
weise  aufgefasst  richtig  zu  germ.  '''"dwer^o-z  m.  'zwerg'  = 
anord.  dvergr,  ags.  dweorg,  ahd.  twerg,  von  Bradke  auch  zu 
lat. /ormFca 'ameise'  <  '*-fvorg-m-icTi,  stellen.  Jenes  lautgesetz 
war  jünger  als  die  Grassmann'sche  hauchdissimilationsregel; 
denn  d-f-  an  sich  ergibt  nur  griech.  d^-:  nach  d-aiQÖ-g  'türangel' 
aus  '^O-fag-iö-g  zu  d^vga  (G.  Curtius,  Grundz.  d.  griech.  etym.^ 
258,  Fick,  Vergleich,  wörterb.  P,  121.  G41.  IF,  117),  nach  d^ög- 
rvfiai,  ihoQsiv  'springen,  stürmen,  eilen',  homer.  poet.  ^ovQog 
'anstürmend,  ungestüm'  (<  '^•B-fag-fo-g)  zu  avest.  dvar-aite  'läuft, 
stürzt',  lit.  pa-dkrmai  adv.,  su  padhrmu  instr.  'mit  ungestüm, 
stürmisch'  (Curtius  a.  a.  0.  256,   Fick  a.  a.  0.  P,  121.  640). 

Was  den  vocalismus  von  öo(p-6-g  und  lat.  fab-er  anbelangt, 
so  steht  hier  a-stufe  in  der  einen  neben  o-stufe  in  der  andern 
spräche  wie  in  den  bei  Hübschmann,  ü.  indog.  vocalsyst.  190  f. 
mitgeteilten  ablautsfällen.  Die  a-stufe  begegnet  aber  auch  auf 
griechischem  boden  selbst  in  den  von  öotpög  nicht  zu  trennen- 
den oa.(p-a  adv.,  öacp-'^g  adj.  Dem  paelign.  faber  gibt  Bücheier, 
Rhein,  mus.  f.  philol.  XXXV,  496  (vgl.  auch  Bücheier,  Lex. 
Ital.  IXa.,  Zvetajeft;  Inscr.  Ital.  med.  21.  106,  Inscr.  Ital.  infer. 
12.  105)  langes  a  auf  grund  saturnischer  lesung  der  grabschrift, 
in  der  es  vorkommt.  Das  bleibt  freilich  vor  der  band  sehr 
fraglich;  sollte  es  aber  richtig  sein,  so  würde  es  dem  ablaut 
paelign.  läb-  :  lat.  fäb-,  giiech.  oac/,-  :  griech.  009p-  auch  nicht 
an  parallelen  fehlen:  lat.  üc-et%  griech.  ravv^jx-rjg  :  lat.  äc-ies, 
äc-us,   griech.  ax-gog,   (cx-gic  :  lat.  oc-i^is,    umbr;  oc-ar,    griech. 


ETYMOLOGICA  I.  425 

ox-Qic,  ferner  lat.  üc-iiis,  ex-ä{g)-men,  co-äg-ulum  :  lat.  äg-o,  griech, 
ay-co  :  griecb.  öy-f/og,  etwa  auch  lat.  scUh-j  perf".  ;  scäh-o  : 
scoh-is,  scoh-ma  würden  sieb  ähnlich  verhalten.  Es  soll  im 
griechischen  zu  009:0^  auch  der  Schlauberger  2i-6vcp-o-c,  hesych. 
O£0vg:og'  jravovgyoq  gehören;  und  homer.  a-övfp-i^Xo-q  adj, 
'nichtsnutzig'  (Curtius,  Grundz.'  512),  welches  letztere  dann 
wol  ursprünglich  'ungeschickt,  untüchtig'  bedeutet  hätte.  Wenn 
nicht  -öv(f-  hier  dialektische  (aeolische?)  gestaltung  von  öorp- 
ist,  dürfte  daran  zu  erinnern  sein,  dass  indog.  dhuabh-,  dhuobh- 
eine  tiefstufenform  dhiibh-  haben  mussten;  diese,  lautgesetzlicb 
zu  griech.  ^tvcf-  werdend,  mochte  in  anlehnung  an  die  wurzel- 
gesippten  öo(p-6-g,  oägj-a  das  0-  übernehmen,  wofür  eine  be- 
kannte analogie  wäre  att.  ov  für  tv  nach  oov,  ool,  oe 
und  öog. 

Auf  die  bedeutungsverhältnisse  von  griech.  öäg:a  und 
6aq)^g  —  sie  besagten  nicht  eigentlich  oder  von  hause  aus 
'deutlich,  klar,  verständlich',  sondern  'richtig,  genau,  zutreffend', 
wie  noch  stets  das  adverb  oucfa  bei  Homer  —  gehe  ich  viel- 
leicht später  einmal  an  anderem  orte  ausführlicher  ein.  Hier 
nur  der  eine  hinweis  auf  die  nähere  berührung  mit  dem  grund- 
begrift"  von  ooffög,  lat.  fahej'  in  rostig  ov  jrco  öcicpa  dÖcog 
d-rjQL  fiaxijoao&ca  II.  0  632,  von  dem  jungen  hirten,  der  im 
kämpfe  gegen  den  löwen  'wenig  geübt  noch'  (Voss),  oder  'un- 
erfahren, ungeübt'  ist  nach  Faesi-Kayser  z.  d.  st.;  ferner  in 
jiXriQoiijig  oacf'i'ig  Demosth.  p.  183, 28  Keiske,  d.  i.  'tüchtige 
bemannung',  eine  kunstgeübte,  die  ihre  sache  versteht,  nach 
Jacobs  und  Schäfer,  vgl.  des  letzteren  Appar.  crit.  et  exeg.  ad 
Demosth.  I,  773,  auch  Passow,  Handwörterb.  d.  griech.  spr. 
IP,  2,  1386  b.  unter  öa^p/j^. 

8.  Hanse,  lat.  Cönsus,  cönsul. 
Aus  dem  gebrauch  von  lat.  con-derc,  das  als  compositum 
aus  com-  und  dare  zunächst  das  'zusammentun,  zu  einem 
ganzen  zusammenfügen'  bezeichnet,  hebe  ich  vorab  zwei  be- 
sondere anwendungsweiseu  hervor:  einerseits  die  im  sinne  von 
'zusammenfügend  bilden,  gründen,  stiften'  mit  objecten  wie 
urhem,  Röiiuun,  oppida,  colöniüs,  wie  ferner  cTvilülcs  noväs  Cic., 
coUegium  novum  Liv.,  novam  seclam  Plin.,  Römänam  gentem  Verg., 
mllitärem  discipUnain  Flor.;   sodann  die,  wonach  condere  für  das 


426  OSTHOFF 

'eintun,  einbringen,  einheimsen  und  aufspeichern'  der  geernteten 
fruchte,  früctUs,  frUmentum,  früges,  messis,  pabulu7n,  vinum,  oleum 
u.  dgl.,  der  übliche  ausdruck  ist. 

Von  dem  recompositum  abs-condere,  das  schon  allein  durch 
sein  dasein  verrät,  wie  condere  von  dem  Sprachgefühl  als  ein 
Simplex  gleichsam  von  einer  'vvurzel'  co7id-  empfunden  zu 
werden  anfing,  hat  die  spätere  latinität  nach  analogie  {pensus, 
prehcnsus,  cünscensus  u.  dgl.)  die  von  grammatikern  noch  ver- 
worfene participform  abs-cönsus  (vgl.  Neue,  Formenl.  d.  lat.  spr. 
IP,  572)  gebildet;  ein  sprachtrieb,  der  romanisch  in  dem  Italien, 
perfect  7i-ascosi  neben  part.  n-ascoso  (und  noch  jüngerem  na- 
scosto)^  walach.  ascunsu  seine  fortsetzung  hatte.  Vgl.  Pott, 
Etym.  forsch.  IP,  1,  563. 

Einer  anderen  auffassung  muss  notwendig  wegen  seines 
weit  höheren  alters  der  name  des  altrömischen  gottes  Cünsus 
unterliegen.  Sein  wesen  ist  dadurch  hinlänglich  klar  bestimmt, 
dass  er  als  unterirdische  gottheit  gedacht  und  verehrt  wurde, 
dass  er  ferner  mit  seinem  fest  der  Cö7isuäUa  bezug  auf  das 
bergen  der  saaten  und  das  einheimsen  der  fruchte,  jedoch 
auch  auf  die  eheschliessung  und  -Stiftung  sowie  auf  die  grün- 
dung  des  staatsbürgerlichen  Vereines  hatte;  vgl.  Härtung, 
Religion  d.  Römer  II,  87  ff.,  Schwegler,  Rom.  gesch.  I,  471  flf., 
Rossbach,  Untersuch,  üb.  d.  röm.  ehe  302.  330  £f..  Preller,  Rom. 
mythol.  U'',  23  ff.  Es  ist  darum  auch  über  die  etymologie  von 
Cönsus  die  landläufige  ansieht  der  sachkundigen  altertums- 
forscher  neuerer  zeit  die,  dass  das  wort  eben  von  condere  ab- 
zuleiten sei;  ausser  Härtung  und  Preller  vertreten  diese  ab- 
leitung  u.  a.  Th.  Mommsen ,  Corp.  inscr.  Lat.  I  p.  400  und 
H.  Jordan  zu  Preller,  Rom.  mythol.  II^,  24  anm.  2.  Zweifeln- 
der verhält  sich  dazu  Pott,  Etym.  forsch.  IP,  1,  562  tf.,  indem 
er  namentlich  auf  das  unzulängliche  der  formalen  parallele 
des  abs-cönsus  aufmerksam  macht,  welches  letztere  mit  wenig 
glück  Jordan  a.  a.  o.  dagegen  als  'wahrscheinlich  nicht  erst 
eine  neubildung,  sondern  volkstümlich '  in  schütz  nimmt. 

Uns  dürfte  aber  nunmehr  der  name  des  gottes  Cönsus  als 
eine  altberechtigte  neben  form  des  part.  con-diius,  und  zwar 
jener  in  der  weise  von  pränsus,  pötus,  jürUtus  u.  dgl.  in  acti- 
vischem  sinne  wie  con-dilor  gedacht,  erscheinen;  die  von  Serv. 
Verg.  georg.  1,21  erwähnte  feldgottheit  Condilor  'der  Speicherer' 


ETYMOLOGICA  I.  427 

ist  nur  ein  jüngeres  Substitut  der  einen  seite  im  wesen  des 
alten  Cönsus.  Letzteres  wort,  indem  es  für  ein  indog.  *Aw«- 
isto-s  (oder  allenfalls  '^köm-tpto-s)  <  ^köm-d-to-s  mit  schwäch- 
ster wurzelstufe  von  da-  'geben,  tun'  stünde,  würde  zusammen- 
gehören mit  den  altindischen  bildungen,  die  die  participform 
-t-ta-s  mit  vorherhergehendem  verbalpraefix  oder  auch  nomiual- 
stamme  zusammengesetzt  enthalten:  a-tta-s,  m-tta-s,  parä-tta-s, 
püri-t(a-s,  pra-t(a-s,  prati-tla-s,  vl-tta-s,  sü-tta-s,  auch  inmar-tta-s 
'widergegeben',  devä-tta-s  'gottgegeben'  u.  a.  (verf.  Morphol. 
unters.  IV,  vorw.  XII  f.,  Hübschmann,  D.  indog.  vocalsyst.  §  3 
s.  15,  Brugmann,  Grundr.  d.  vergleich,  gramm.  I  §  309  s.  248, 
§  310  s.  249,  §  317  s.  258);  con-dUu-s  :  Cönsus  =  aind.  vij-ä- 
ditas  'aus  einander  getan,  geöffnet'  ;  vij-a-tta-s  dass. 

Zu  berücksichtigen  bleibt  nun  aber  Cönsu-älia,  'statt  dessen, 
wäre  es  von  cons-us,  -«,  -um  abgeleitet,  ja  freilich  ConsaUa 
(vgl.  VollurnaUa,  NeptunaUa  u.  a.  m.)  zu  erwarten  wäre',  nach 
der  richtigen  bemerkung  Jordans  a.  a.  o.,  der  indes  auch  mit 
dieser  'Schwierigkeit'  sich  nicht  genügend  abzufinden  weiss. 
Der  von  Cönsu-Ulia  erforderte  w-stamm  kann  auch  in  dem 
primitivum  Cönsus  selbst  zu  gründe  liegen,  wenn  wir  nur 
dessen  flexion  Cönsus,  Cönsi  den  bekannten  altlateinischen 
metaplasmen  aus  der  vierten  in  die  zweite  declination,  wie 
adventi,  quaestl,  senUtl  u.  dgl.  mehr  (Neue,  Formenl.  d.  lat.  spr. 
112,  352  ff.  522  ff.,  Bücheler-Windekilde,  Grundr.  d.  lat.  declin. 
§  153  s.  62),  zurechnen.  Dann  wäre  also  Cönsus  ein  zum  con- 
cretum  gewordenes  abstractum:  m^o^. '''köm-fsfus  (^kdm-tptus) 
'bergung,  gründuug',  im  lat.  metonymisch  für  den  schutzgenius 
derselben.  Entsprechende  -^ew-bildungen  des  altindischen  von 
der  Wurzel  dö-  kenne  ich  nicht,  doch  sind  hier  feminine 
nomina  actionis  mit  dem  suffixe  -tel-  die  hJiäga-ttish  'glücks- 
gabe',  maglu'i-ttish  und  väsu-ttish  'empfang  von  gütern',  pän- 
llish  'Übergabe'  (verf.  a.a.O.,  Hübschmann  a.a.O.,  Brugmann 
a.  a.  0.  I  §  317  s.  258). 

Was  ich  für  die  deutung  des  namens  der  Hanse,  des  l)e- 
rühmten  norddeutschen  städtebundes  im  niittelalter,  nach  dem 
vorhergegangenen  bezwecke,  liegt  nahe.  Got.  hcmsa,  ags.  hos, 
ahd.  hansa  f.  bedeuten  'cohors,  schaar',  aber  immer  nur  von 
menschen;  mhd.  hans, /ia7ise  i'.  war  'societas  mercatorum,  kauf- 
männische Vereinigung  mit  bestimmten  ritterlichen  befuguisseu, 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutgehen  spraolie.    XIII.  29 


428  OSTHOFF 

kaufmannsgilde'.  Dazu  kommt  finn.  kansa  f.  'populus,  societas' 
als  aus  dem  skandiuavisclien  eutlelmt  (Thomseu,  Ueb.  d.  ein- 
fluss  d.  german.  spr.  auf  d.  finn.-lapp.  140),  und  die  im  nor- 
dischen selbst  lebende  von  Noreen,  Aikiv.  f.  nord.  fil,  III,  12  f. 
nachgewiesene  spur  dieses  Substantivs  in  schwed.  dän.  Itos  adv. 
praep.  praef.  'zusammen  mit,  bei'  (etwa  alter  instruni.  sing.?). 
Das  urgerm.  '■''•■^ansö  f.  'zusammengeschlossene  gesellschaft,  ver- 
band, verein'  aus  indog.  *Av)/«-/-?/ä  part.  'condita',  seil,  societas, 
wäre  formal  das  feminin  zu  dem  lat.  Cönsu-s,  wenn  dieser 
nicht  ursprünglich  der  w-declination  angehört  hätte.  In  hanse 
das  -s-,  zunächst  für  -ss-  als  Vertreter  der  alten  lautgruppe 
eines  doppeldentals,  vergleicht  sich  demselben  nach  nasal 
stehenden  Zischlaute  in  ahd.  funs,  ags.  asächs.  füs,  anord. 
füs-s  'bereit,  eilig,  willig'  <  urgerm.  *funsö-z,  part.  zu  ags. 
fiindian,  ahd.  funden  'eilen,  streben',  während  der  römische 
gottlieitsname  sich  in  derselben  hinsieht  zu  pensiis^  sensus, 
scänsum,  tUnsus  u.  dgl.  stellt  (vgl.  Kluge  in  diesen  Beitr.  IX,  154, 
verf.  Z.  gesch.  d.  perf.  562). 

Das  von  uns  oben  s.  419f  bereits  in  got.  han-dug-s  ge- 
fundene praefix  indog.  '^-kom  'mit,  zusammen'  sah  in  der  be- 
zeichnung  der  hanse  auch  schon  Bugge,  dessen  bemerkungen 
Beitr.  XII,  418  f.  überhaupt  diesen  meinen  etymologischen  ver- 
such erst  anregten.  Ich  habe  aber  bei  dem  Bugge'schen  an- 
satz  eines  indog.  '^•köm-söd  ' Zusammensitzung'  (würz,  sed-  'se- 
dere,  sitzen')  mich  nicht  beruhigen  können  wegen  des  laut- 
lichen bedenkens,  dass  von  einer  solchen  grundform  vielmehr 
got.  ahd.  '*hamsa  zu  erwarten  wäre.  Denn  in  got.  amsans  acc. 
plur.  'schultern'  =  griech.  miiovg,  lat.  iimerös,  in  got.  mimz 
'fleisch'  (zu  aind.  mämsd-m,  abulg.  ?nfso,  preuss.  metiso),  ferner 
auch  in  ahd.  amsala  'amsel',  wenn  dies  richtig  zu  lat.  meriüa 
<  '"^-mesolä  gestellt  wird  (vgl.  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter 
amsel),  liegt  doch  wol,  wie  auch  Brugmann,  Grundr.  d.  ver- 
gleich, gramm.  I  §214  s.  182  erkennt,  der  beweis,  dass  es 
keineswegs  urgermanischer  lautwandel  war,  die  ererbte  conso- 
nantenfolge  von  labialem  nasal  und  indog.  s  assimilatorisch  in 
-ns-  (-71Z-)  umzusetzen.  Unsere  erklärung  von  germ.  *x^n*ö 
hat  denselben  einwand  nicht  zu  fürchten,  denn  nach  ihr  war 
das  -s-  nicht  =  indog.  -s-:  wird  man  nun  in  -tst-  oder  — 
wozu  ich  jetzt  weniger  neige   —   in  -t/'l-  die  grundsprachliche 


ETYMOLOGICA  I.  429 

zurechtformung  der  alten  dentalgruppe  sehen  müssen,  die  im 
germau.  und  latein.  historisch  durch  -ss-,  beziehungsweise  nach 
consonant  oder  langem  vocale  durch  -s-  vertreten  wird  (vgl. 
zu  der  frage  Kluge,  Beitr.  IX,  151  f.,  verf.  Z.  gesch.  d.  perf. 
566  flf.,  neuerdings  Brugmann,  Grundr.  der  vergleich,  gramm. 
I  §469,4  s.  347,  §527  s.  384),  in  jedem  falle  war  das  an- 
fangselement  der  gruppe  noch  ein  dentaler  verschlusslaut  -/-. 
Und  so  hindert  nichts,  den  eintritt  des  dentalen  nasals  von 
^yßnsö  zu  einer  zeit  geschehen  sein  zu  lassen,  als  noch  im 
urgermanischen  die  in  indog.  ^köm-tstä  i^köm-tlHa)  unmittelbar 
auf  das  -m-  folgende  dentale  Verschlussbildung  nicht  unterge- 
gangen war;  etwa  auch  durch  den  nemlichen  assimilatiousact, 
durch  den  got.  han-dug-s  und  jene  hunderl,  rand  u.  s.  w.  zu 
ihrem  -n-  kamen  (vgl,  oben  s.  419).  Indogermanisch  musste 
noch  -m(-  vorhanden  sein,  so  weit  hier  wenigstens  lit.  szimtas 
'hundert'  einen  schluss  erlaubt.  Lat.  Cönsus  <  '■^•Com-su-s  ist 
unter  allen  umständen  lautgesetzlich. 

Uebrigens  haben  die  alten  Römer  selbst  diesen  ihren  gott 
als  genius  der  geheimen  ratschlage  mit  grosser  einhelligkeit 
etymologisch  zu  cönsilium  bezogen.  So:  Paul.  Fest.  p.  41,  15 
Müller  'Cönst,  quem  deum  cönsilii  putabant',  Serv.  Verg.  Aen. 
8,636  '' Cmisus  autem  deus  est  cdnsiliörum,  qui  ideo  templum 
sub  Circo  habet,  ut  ostendatur  tectum  esse  debere  cünsilium\ 
Tert.  de  spect.  5  '  Crmsiis  cönsUiö,  Mars  duello,  Lares  COILLO 
[verderbt]  potentes'  (als  worte  einer  altariuschrift),  Arnob.  3, 23 
'salutaria  et  fida  cönsilia  nostris  suggerit  cogitationibus  Cönsiis\ 
Augustiu.  de  civ.  dei  4,11  'deus  Cönsus  praebendo  cönsilia\ 
Pseudo-Ascon.  in  Cic.  Verr.  1,  31  p.  142  Or.  ^  cönsiUörum  secre- 
torum  deo'. 

Selbst  dahinter  könnte  ein  körnchen  von  richtigem  stecken, 
trotzdem  es  mit  den  neueren  mythologen  und  antiquaren  auch 
Pott,  Etym.  forsch.  II'^,  1,  562,  dieser  als  'eitel  Spielerei',  ver- 
wirft, ferner  trotz  der  von  uns  gerechtfertigten  ableituug  des 
CöJisus  ü  condendö.  Selbstverständlich  geht  ja  cönsil-iu-?n  zu- 
nächst von  cönsul  aus,  wie  exsilium  von  exsul,  familia  von  fa- 
mulus.  Sollte  aber  nicht  der  cöns-ul,  dieser  etymologisch  so 
viel  versuchte  beamtentitel,  in  einem  '*cönsa  f.  'gegründeter 
verein,  korporation'  =  got.  hansa  seinen  Ursprung  gehabt 
haben  können?    Die  bildung  wäre,  wenn  man  cöns-ul  =  urlat. 

29* 


430  OS'J^HOFF 

^cö7is-ol{o)-s  (vgl.  altlat.  /'u/}w/  für  famidus)  setzt  und  von  diesem 
nom.  sing,  aus  vollzogeneu  fiexionsweclisel,  übertritt  in  die  con- 
.sonantische  declination,  annimmt,  zu  vergleichen  mit  derjenigen 
von  Röm-ulu-s  :  Roma,  fam-ulu-s  :  '*/'ama  (wovon  denom.  osk. 
faamat  'liabitat'  in  pompejanischen  wohnungsanzeigen),  auch 
vou  griech.  yßafi-aX6-g  :  yßcov.  Es  würden  also  die  nach  ab- 
sebafifung  des  königtums  eingesetzten  cönsules  der  etymologie 
nach  etwa  bezeichnet  haben:  'die  zur  corporation  (^-cöJisa)  ge- 
hörigen', d.  i.  die  aus  dem  verband  der  am  Staatswesen  be- 
teiligten personen  (der  patricier)  oder  auch  aus  der  staats- 
leitenden körperschaft  (dem  senat)  selbst  entnommenen  beiden 
obersten  executivbeamten,  daher  auch  'Vertreter  der  körper- 
schaft'; im  gegensatz  nemlich  zu  dem  früheren  r^a:,  der  ausser- 
halb des  ständischen  Verbandes  des  patriciertums  sich  befand, 
beziehungsweise  dem  senatskörper  als  diesem  übergeordnet 
nicht  angegliedert  war.  Das  alte  stammnomen  *cönsä  wurde 
eben  hernach  durch  das  erst  wider  aus  cönsut  abgeleitete  cün- 
silium  'rat,  Versammlung  der  beratenden  personen,  ratsver- 
sammlung',  speciell  vom  Senate  gebraucht,  verdrängt,  wie  ähn- 
liches ja  so  oft  geschieht  im  sprachleben. 

Ich  werde  bei  solcher  etymologischen  auffassung  des 
consulnamens  nicht  sehr  durch  die  rUcksicht  auf  das  verbum 
cönsulo,  cönsulere  geniert.  Dieses,  obzwar  nicht  der  form  nach 
denorainativ  von  cönsul,  sondern  umgekehrt  wie  dessen  stamm- 
verb  aussehend,  braucht  dennoch  nicht  älter  zu  sein  als  das 
institut  der  consuln.  Man  gab  wol  dem  cönsul{s)  das  seine 
amtshandlung  bezeichnende  verbum  in  der  form  cönsulo  bei 
nach  analogieen  wie  dnco  :  dux,  re;/o  :  rex,  vielleicht  gerade 
in  besonderer  gegensätzlichkeit  zu  dem  verhasst  gewordenen 
reijere  des  rex.  Die  begriffserweiterung  von  cönsulere  'zu  rate 
gehen,  sich  beraten',  'beschluss  fassen,  beschliessen',  'zu  rate 
ziehen,  um  rat  fragen,  befragen',  'rat  schafien,  sorgen'  wäre 
dann  ein  späterer  Vorgang  gewesen.  Der  ausspruch  des  Varro 
de  ling.  lat.  5,  80  ^cönsiU  nominatus  qui  cönsulere/  populum  et 
senatum,  nisi  illinc  j)otius  unde  Attius  alt  in  Bruto:  qui  recte 
cönsulat,  cDnsnl  cluat'  würde  weniger  für  den  Ursprung  des 
cönsul,  als  für  den  des  tätigkeitwortes  cönsulere  belehrend  sein. 


ETYMOLOGICA  I.  A'M 

9.    {Gerymär,  sinv.  (riadi)-meru,  gr.  {^yx£(jl)-ficoQoc,  air.  mär; 

mehr,  ineist. 

Zu  got.  -mcrs  in  tvaila-mers  'tvc/tjfiog\  anord.  mccr-r,  ag's. 
tncere,  asäcbs.  ahd.  fnäri,  mlid.  mcere  adj.  'herrlich,  bekannt, 
berühmt'  weiss  Kluge  im  Etym.  vvörterb.  unter  märchen  keine 
andere  aussergermanii?c*he  verwantschaft  als  diejenige  von  slov. 
-merii  in  eigennaraen  wie  Vladi-merü  'Wladimir,  Waldemar' 
und  von  lat.  ?nerus  'rein,  lauter,  klar,  unvermiseht'.  Das  be- 
ruht im  wesentlichen  auf  Fick,  Kuhns  zeitschr.  XXII,  382  f., 
Vergleich,  wörterb.  !•',  719.  IP,  233,  D.  ehemal.  spracheinh.  d. 
indog.  Eur.  354,  der  auch  noch  gallisches  -märus  in  Virido- 
märus  u.  dgl.  und  air.  mar  adj.  'gross,  ansehnlich,  bedeutend' 
herbeizieht  und  alles  an  die  wurzel  mar-  'glänzen'  in  griech. 
fi((Q-iiaiQco  'flimmere',  {laQ-^taQ-so-g  adj.,  a-fiuQ-voOcu  'funkle, 
schimmere',  u-iiaQ-vyr'i  f.,  aind.  mär-ici-sh  m.  f.  'lichtatom,  licht- 
strahl'  anknüpft.  Vgl.  auch  0.  Schade,  Altdeutsch,  wörterb.^ 
592  b.,  F.  Bcchtel,  Ueb.  d.  bezcichn.  d.  sinnl.  wahrnehiu.  in  d. 
indog.  spr.  IUI.  Der  letztere  gelehrte  machte  dadurch  einen 
bemerkenswerten  fortschritt  über  die  Vorgänger  hinaus,  dass 
er  zuerst  ebend.  anm.  'gr.  lyito'iiiwQog,  iötiwQog,  vXaxöf/coQog 
mit  dem  speer,  dem  pfeil  s.  auszeichnend,  durch  bellen  sich 
bemerklich  machend'  an  dieselbe  sippe  anreihte. 

Lat.  mcrus  —  bei  Schade,  Bechtel  und  Kluge  fälschlich 
als  merus  angegeben  —  liegt  wegen  seines  c  lautlich  ferner 
und  begrifi"lich  ganz  abseits.  Mit  Egilsson,  Lex.  poet.  565  a. 
messen  Fick  und  Kluge  dem  anord.  mdr-r  die  nebenbedeutung 
'rein,  unvermiseht'  bei.  Aber  enn  nuera  mjo<5,  mdran  dnjkk 
mja^ar,  i  enom  mwra  Mimes  brunne,  die  Egilsson  dafür  anführt, 
beweisen  eine  solche  nicht  und  werden  anders  und  richtiger 
von  Cleasby-Vigfusson,  Iceland.-engl.  dict.  443  a.  verstanden, 
die  auch  hier  nur  'famous,  illustrious,  great,  Germ,  herrlich' 
sehen;  also  cnn  mcera  mjot)  bezeichnet  nur  'den  herrlichen 
met'  und  i  enom  mcera  Mimes  brunne  ist,  wie  auch  Simrock 
Voluspä  22  überträgt,  'in  der  vi  elbekannten  quelle  Mimirs'. 
Anders  steht  es  mit  ags.  nuere  für  'merus,  purus'  in  der  ein- 
zigen belcgstelle  mid  V  pundum  nucrra  2)enin^a  leg.  Aelfr.  3. 
Hier  sind  allerdings  'pfenuige  von  reinem  silber'  gemeint;  vgl. 
R.  Schmid,    D.   gesetze   d.  Angels.-   73  anm.  026  a.,    Ettmüller, 


432  OSTHOFF 

Lex.  Auglosax.  223.  Wie  aber  öchmid  a.  a.  o.  592  a.  zeigt,  ist 
(las  nur  eine  Übersetzung  der  sogenannten  merl  denärii  des 
niittellateins  jeuer  zeit  (vgl.  Du  Gange,  Gloss.  med.  et  inf.  Latin, 
unter  merus):  und  so  werden  wir  annehmen  dürfen,  dass  man 
bei  der  wrdergabe  des  niems-  durch  das  anklingende  miBre 
volksetymologisch  verfuhr,  die  bona  moncta  der  merJ  denärii 
als  'anerkannte,  gäng  und  gäbe  pfennige',  im  gegensatz  zu 
etwa  unterweltigen  prägungen,  sich  zurechtlegte.  Ein  wirk- 
liches Zeugnis  für  die  geltung  des  german.  adjectivs  als  'merus, 
purus'  ist  demnach  bisher  nicht  beigebracht.') 

Auch  griech.  naQfiaiQco,  c'naQiooco,  aind.  ?när-ici-sh  weise 
ich  ohne  bedenken  als  unverwant  ab.  'Glänzend'  im  sinne 
des  natürlichen  glanzes  auch  nur  als  eine  der  bedeutungen, 
geschweige  denn  als  die  ursprünglichste,  von  auord.  mcer-r,  ags. 
rncere,  asächs.  ahd.  fiiäri  aufzustellen,  liegt  nirgends  in  dem  ge- 
brauche dieses  adjectivs  eine  nötiguug  vor.  Zwar  interpretiert 
Mor.   Heyne,    lieliand-   gloss.    s.  261    das    asächs.    märi,    so- 


')  Das  lat.  merus  Mauter,  unvennischt,  rein,  unverfälscht'  ist  dem 
got.  -?ncrs  um  so  fremder,  wenn  ich  jenes  in  ähnlicher  weise  etymo- 
logisch deuten  darf,  wie  nach  Jak.  Wackernagel,  Kuhns  zeitschr.  XXVIII, 
l.')7  griech. /<-wjt|  'einhufig'  aufzufassen  ist.  Auch  m-eru-s  kann  bahu- 
viihiconipositum  mit  dem  zu  scm-el,  sim-ul  gehörigen  *sm-  von  griech. 
(o)i(-lu  fem.  sein;  '^sm-eso-s  'wer  nur  eines  wesens  ist',  daher  'von 
fremdartigen  zutaten  frei',  enthielte  im  schlussgliede  die  übliche  adjecti- 
vische  Umformung  eines  femininen  nomens  indog.  *es-a  'das  sein,  wesen' 
von  der  wurzel  des  verbum  substantivum  lat.  esse.  Solches  *es-a  wäre 
nicht  lediglich  nur  erschlossen  nach  der  analogie  von  griech.  (pvy-i'j,  lat. 
fiig-a ,  griech.  dy-y  'bruch'  u.  ähnl.,  sondern  läge  wol  schon  historisch 
verkörpert  vor  in  dem  gen.  plur.  homer.  ep.  eüojv,  dem  meines  erachtens 
sehr  ansprechend  Göttling  zu  Hesiod.  theog.  GG4  und  Lobeck,  Technol.  253 
(vgl.  auch  Brugmann,  Ein  problem.  d.  homer.  textkrit.  (Jl  anm.  2)  einen 
nom.  sing.  *i7]  {*tr])  im  sinne  von  ovoia,  tu  ovxa  unterlegen:  die  dfot 
(SojTTjQsq  iücov  sind  darnach  nur  einfach  'die  geber  der  dinge',  Mi,  a 
quibus  omne  quodest  in  rer um  natura  profisciscitur'.  'Güter',  den 
gegensatz  von  xuxoiv,  bezeichnet  luojv  (icuov)  nur  li.  i2  528  und  hat 
hier  in  y.uxüiv,  'izf-Qoc  Sh  iraov^  abweichend  von  den  festen  formein 
()('jr7J()eg  iüojv,  ()ajzo(j  ir/iov  (Od.  i>  325.  335.  hyiim.  in  Merc.  XVIII,  12. 
hynm.  in  Vest.  XXIX,  S  Baumeister),  deutliche  digammaspur.  Somit  könnte 
in  il  52S  ursprünglich  irgend  eine  an  aind.  vüsu-sh,  avest.  vaiihu-sh  adj. 
'gut'  anzuknüpfende  fouii  (welche?  ist  dunkel)  gestanden  haben,  die 
dann  dem  misverständlich  aufgefassten  gen.  plur.  in  (korr/Qfg  iäcDV,  6u- 
TO(j  hi/Mv  hätte  weichen  müssen. 


ETYMOLOGICA  T.  433 

weit  es  als  epitheton  zu  berg,  hurg^  cröa,  Hohl  (vom  himmel), 
doff  oder  dom-dag  (vom  jüngsteD  tage)  auftritt,  durch  'glanz- 
voll, klar,  licht';  und  noch  weiter  geht  0.  Schade  a.  a.  o.,  wenn 
er  hier  und  bei  ahd.  märi,  nihd.  mcere  sogar  ein  'glänzend, 
namentl.  von  der  sonne  beschienen,  leuchtend  (licht,  see,  erde, 
bürg)'  zu  erkennen  glaubt.  Weit  besser  und  zutreffender  be- 
urteilte schon  Miillenhoff',  Deukni.^  254  diese  und  ähnliche  Ver- 
bindungen, wenn  er  zur  erklärung  von  der  mdreo  seu  im  Wesso- 

bruuner  gebet  bemerkt:  "der  märeo  seu ist  'das  grosse, 

herliche  meer',  wie  alts.  Ihea  märiim  ertlia,  (hat  märlo  Höht 
Hei.  39, 5.  105,24  und  an  zahlreichen  anderen  stellen  auch 
ahd.  das  adjectiv  diese  erweiterte  [?]  bedeutung  zeigt,  und 
daher  zu  vergleichen  mit  thie  grbto  seu  Hei.  131,  22,  se  bräda, 
sc  slda  scc  Crist.  1145,  Beov.  507.  2394,  aldinn  marr  Hävam.  02." 
Durch  Miillenhoff  hat  sieh  freilich  der  ihn  citierende  Bechtel 
a,  a.  0.  nicht  abhalten  lassen,  gerade  vorzugsweise  in  die  stelle 
des  Wessobrunner  gebets  dem  griech.  f/aQficuQco  zu  liebe  das 
vermeintliche  'glänzend'  hineinzubringen. 

Mir  will  es  überhaupt  scheinen,  dass  man  schon  allein 
vom  Standpunkte  des  altgermanisehen  Sprachgebrauches  —  von 
etymologischen  riicksichten  ganz  abgesehen  —  unrecht  getan 
hat,  nicht  'gross,  wichtig,  bedeutsam'  an  die  spitze  der  be- 
griffsverzweigungen  von  got.  -mers,  anord.  ?ncer-r  u.  s.  w.  zu 
stellen.  Tatsächlich  lässt  es  sich  sehr  oft,  wie  eben  in  den 
von  Miillenhoff  berührten  fällen,  lateinisch  durch  nichts  besser 
als  durch  magnus  oder  auch  magnificus  widergeben.  Gewicht 
zu  legen  ist  in  dieser  hinsieht  auch  auf  die  ableitungen  und 
Zusammensetzungen  wie  ags.  mcer-lic  adj.  'magnificus',  mcer-lice 
adv.  'magnopere,  valde',  mckre-ness  ^q\ü\\{\x(\.o'  und 'magnitudo' 
(Ettmüller,  Lex.  Anglosax.  223),  frühmhd.  märe-groz  '  sehr  bedeu- 
tend' (»2<3re  adv.),  mhd.  it*r-w«re  'höchst  wichtig',  un-mcere  'un- 
wichtig' (Mittelhochd.  wörterb.  \\  1,  69  a.  b.  70  a.,  Lexer, 
Mittelhochd.  handwörterb.  I,  328.  HI,  1911.  1912).  Wie  sich  zu 
diesem  ausgangspunkte  der  bedeutungsgeschichte  von  got.  -mers 
das  denominative  verbum  merjan  und  sein  Zubehör  verhält,  er- 
sehen wir  hernach  (s.  437). 

Das  in  slavischen  personennamen  als  zweites  compositions- 
glied  vorkommende  -mcru  stellt  man  allerdings  mit  Wahrschein- 
lichkeit   zu    got.  -mers,    ahd.  nihd.  -mär.     Dieser    ansieht    war 


434  OSTHOFF 

schon    Scbafarik,  Slav.  altert.  I,  53  f.,    desgleichen    Miklosich, 
Denkschr.  d.  kaiserl.  akad.  d.  wissensch.  pbilos.-hist.  cl.  X  (Wien 
1860)  s.  289  f.,  derselbe  neuerdings  Etym.  wörterb.  d.  slav.  spr. 
195  b.    Es   wechselt   aber   dieses   slav.  -mei-u   bekanntlich   mit 
-mirü  ab,   z..b.  slov.  Goj-mer  {goß  m.  'pax')  mit  serb.  Goj-mir, 
wie   serb.  Vladi-mer,  russ.  Volodi-mer  mit  eech.  Vladi-mir,  poln. 
Wiodzi-mierz   {-mierz  <  -mirü,   vgl.    Brückner,  Archiv,  f.  slav. 
philol.  YII,  540).    .  Ein    sicherer   entscheid   nun   über   das   Ver- 
hältnis der  e-  und  der  f-form  Hesse  sich  zwar  erst  geben,  wenn 
zuvor  festgestellt  wäre,    in  welchen  slavischen  dialekten  -merü 
eigentlich  auftritt.     Vorläufig  kann  aber  so  viel  wol  behauptet 
werden,  dass  -merü,  wenn  es  anders  dem  got.  -mers  entspricht, 
mit  der  anderen  form  slav.  -mirü  lautlich  unvereinbar  ist.    Nun 
hat   man   ansprechend    bereits  in  dem  letzteren  das  Substantiv 
mirü  m.   'friede'   gefunden.      So    Pott,    Personennamen   (1853) 
s.  254,   Förstemano,  Altdeutsch,  namenb.  I  sp.  907,   Ign.  Petters, 
Kuhn-Schleichers  beitr.  z.  vergleich,  sprachf.  II,  133  f.;   ähnlich 
auch   Leskien,    der   mir  schreibt  (13.  nov.  1887):    "Ich  möchte 
zunächst  die  sache  so    ansehen:    -merü  ist  =  got.  -mers,   aber 
nicht   entlehnt,  sondern  urverwant;    -mirü  ist  ein  ganz  anderes 
wort  =  'friede';   in  späterer  zeit  sind  componierte  namen  mit 
-merü  und  -jiiirü   durcheinander  geworfen  worden.     Die  bedeu- 
tung  -mi7'ü  'friede'  passt  in  vielen  namen  sehr  gut,   z.  b.  serb. 
Ljiibo-mir  =    gratam   pacem   habens".     Denkbar   wäre    auch, 
dass  das   als   namensstotfwort  ererbte  -merü,    nachdem  es  bei 
sonstigem   nichtmehrvorkommen   etymologisch   verdunkelt  war, 
volksetymologisch  meistenteils  durch  -mirü  ersetzt,   also   Vladi- 
mer  'Waldemar'  in  Vladi-mir  'Waltfried'  umgedeutet  worden  sei. 
Recht   hat  jedenfalls   Petters  a.  a.  o.   mit   der   bemerkung, 
dass  der  zusammenklang  des  slav.  -mirü  mit   der  in  den   ger- 
manischen   namen   auftretenden  nebenform   -mir  an   stelle  von 
sonstigem   -mcr   und   -mär  für  zufällig  zu  halten  sei.     Wie  wir 
von  Theodo-mir,  Theode-mir  wissen,  dass  damit  gotische  persön- 
lichkeiten bezeichnet  waren  (vgl.  Förstemann  a.a.O.  I  sp.  1183. 
11S4),    wie    Gaila-mir,    Gunlhi-mir^   lloha-mir   bekanntlich    oder 
nachweislich   dem    Wandalenstammc    angehörten    (Förstemann 
a.  a.  o.  1  sp.  459,    Ferd.  Wrede,  Ueb.  d.  spräche  d.  Wandalen, 
Strassburg  1886,   s.  77.   79  ff.  81  f.  84  f.  92.  95.  106.  107.  110. 
115),   so  steht  zu  erwarten,   dass  dies  gernian.  -mir  überhaupt 


ETYMOLOGICA  T.  435 

nur  den  dem  späteren  gotischen  und  seinen  ihm  zunächstehen- 
den  östlichen  schwesterdialekten  eigenen  lautstand  mit  J  für  c 
in  wulfilanischem  -mers,  merjan  repräsentieren  werde.  Der 
beweis  solcher  östlich-germanischen  herkunft  der  sämtlichen  vor- 
kommenden namen  mit  -w/r  ist  freilich  im  einzelnen  noch 
nicht  erbracht;  doch  hat  neuerdings  Bremer,  Beitr.  XI,  8  ff. 
einen  anfang  zur  ausfüUung  dieser  Kicke  gemacht,  indem  er 
eine  grössere  reihe  derartiger  gotischer  namen  (latinisiert  auf 
-mirus  und  seltener  -miris)  von  dem  um  376  anzusetzenden 
Vithi-miris  des  Ammianus  Marcellinus  herab  bis  gegen  ende 
des  siebenten  jahrhunders  quelleumässig  belegt  vorführte.  Die 
quellenangaben  für  die  namen  auf  -mir  in  Förstemanns  'Alt- 
deutschem namenbuche'  finden  sich:  I  sp.  18.  51.  125.  248. 
282.  352.  366.  416.  434.  465.  525.  677.  694.  715.  791.  914.  1048. 
1049.  1069.  1183.  1184.  1253.   1287. 

Aus  slav.  -merk,  wenn  dessen  Identität  mit  got.  -mers  fest- 
zuhalten ist,  ergibt  sich  unter  mitberücksichtigung  der  -/ö-flexion 
des  german.  adjectivs  im  skandinavischen  und  westgermani- 
schen die  mutmassliche  herstellung  des  ursprünglichen  thema- 
charakters.  Von  slavischer  seite  ist  /-decliuation  ausgeschlos- 
sen; die  tatsächlich  bestehende  o-decliuation  kann  in  be- 
kannter weise  die  historische  nachfolgerin  ursprünglicher  u- 
declination,  auf  veranlassung  des  nom.  und  acc.  sing,  -mcrü 
(<  '*-mcru-s  und  '''-mcru-m),  gewesen  sein;  vgl.  Leskien,  Ilandb. 
d.  altbulg.  spr.2  §  57  s.  63  ff.  Got.  -mcrs^  *-merJa-  =  skandin. 
westgerm.  mUrjo-  würde  sich  gegen  die  ansetzuug  eines  /-themas 
germ.  *imcri-  zwar  nicht,  jedoch  gegen  ein  *ma~ru-  als  ur- 
sprüngliche Stammform  sträuben.  Aber  M-flexion  ist  auch  von 
Seiten  des  germanischen  als  die  ursprüngliche  Signatur  des 
adjectivs  wol  zulässig.  Bei  annähme  derselben  würde  in  for- 
maler hinsieht  alles  so  liegen,  wie  in  den  germanischen  flcxions- 
verhältnissen  des  dem  aind.  svädü-sh,  griech.  t^öv-c.  'süss'  ent- 
sprechenden alten  «-adjectivs:  anord.  mccr-r,  ags.  nucre,  asächs. 
ahd.  mdri  wie  anord.  scet-r,  ags.  swele,  asächs.  sn-oli,  ahd. 
suozi  mit  der  bekannten  ausdehnung  der  -/o-form  auf  den  nom. 
sing,  von  den  obliquen  casus  aus;  andererseits  wäre  das  ein- 
mal belegte  got.  waila-jner  nom.  sing,  neutr.  Phil.  4,  8  so  zu 
beurteilen,  wie  das  ebenfalls  einmal  bei  Wulfila  erscheinende 
suis  nom.  sing.  masc.  Tim.  I,  3,  3,    sei  es  nun  beide  als  ersatz- 


436  OSTHOFF 

bilduugen  für  *-meru,  *sutu-s  nach  analogie  des  nom.  sing-,  der 
/-adjectiva  (verf.  Liter,  centralbl.  1876  sp.  180),  oder  mit  got. 
tugr  <,  */affru  (=  griech.  daxQv)  als  lautgesetzlich  eine  u- 
syukope  erlitten  habende  formen,  nach  B.  Kahle,  Zur  entwiekl. 
d.  conson.  decl.  im  german.,  Berlin  1887,  s.S.  In  der  alten 
?<-declination,  wenn  diese  also  den  einigungspunkt  für  die 
flexivischen  divergenzen  von  slav.  -ffierü  und  got.  -mers,  ahd. 
mdri  abgab,  wird  dann  das  ahd.  mhd.  -7ndr  der  deutschen 
Personennamen  Danc-mär,  Diet-mär,  Ot-mär  u.  s.  w.  dieselbe 
Stellung  wie  slav.  -meru,  als  nom.  und  acc.  sing,  aus  germ. 
*m(C~ru-z^  *tn(c'i^u-n,  eingenommen  haben. 

Was  sav.mär,  mar,  cymr.  »laz^r  adj.  'gross,  ansehnlich'  be- 
triftt,  so  stehen  die  a-  und  die  ö-form  des  irischen  unter  sich 
in  dem  Verhältnis,  dass  jedenfalls  der  ersteren  die  Priorität 
zukommt.  Was  mar  anbetrifft,  so  kommt  nach  Thurneysens 
brieflichen  aufschlnssen  zunächst  in  betraciit,  dass  im  altirischen 
wenigstens  das  kurze  a  in  der  Stellung  nach  labialen  vor  pala- 
talen  (und  wol  auch  ?<-farbigen)  consonanten  in  weitem  um- 
fange in  0  übeigeht,  z.  b.  in  hoill,  fnoirb  (neben  mairh)  als  den 
pluralen  zu  ball,  marb]  mithin  könnte  bei  ?ndr  auch  ?n6ir,  die 
form  des  fem.  sing,  und  des  gen.  sing,  masc.-neutr.,  eine  solche 
gewesen  sein,  die  das  ö  für  ä  lautgesetzlich  erzeugt  hätte. 
Dann  wol  andererseits  der  comparativ  ?nöo,  mö,  indem  dieser 
auf  müo  zurückgehen  mag  nach  analogie  von  gäu,  gäo  und  da- 
neben göo,  gö  'falsches,  lüge',  lau,  Im  und  löo,  lö,  dat.  sing,  von 
läa  'tag',  -tau  und  -tö  'ich  bin'  u.  ähnl.  mehr.  Es  wäre  also 
zu  vermuten,  dass  von  formen  wie  inöir  und  mdo  aus  sich  das 
ö  verbreitet  haben  dürfte. 

Die  rolle,  welche  das  adjectiv  air.  7när,  mar,  cymr.  maw' 
in  der  namengebung  der  Kelten,  insbesondere  als  äusserst  be- 
liebtes Schlussglied  von  vollnamen,  wie  deutsches  -mär,  spielt, 
wird  von  Ch.  W.  Glück,  Die  bei  C.  Jul.  Caesar  vorkomm.  kelt. 
namen  76  ff.  unter  beibringung  vielen  materials  (vgl.  auch 
Zeuss-Ebel,  Gr.  celt.2  16  anm.**  94.  95)  gründlich  erörtert.  Ich 
nenne  hier  beispielshalber  gall.  JSemeto-,  JSerto-,  Sego-märus 
(zu  ahd.  Sigi-mär),  Vlrido-inärus  (trotz  Virdomäri  Prop,  V, 
10,  41  rec.  Haupt,  vgl.  Zeuss-Ebel  a.  a.  o.  3  anm.*  16  anm.* 
Glück  a.  a.  o.  77  anm.  1),  air.  Teacht-mär,  cymr.  Cat-mör  (zu 
ahd,  Jladu-mär),  bret.  Chono-moris  {=  Cuni-märus)  bei  Greg.  Tur. 


ETYMOLOGICA  I.  437 

Glück  verficht  die  zusauimenstellung  des  got.  -mcrs,  ahd. 
märi  mit  dem  keltischen  Worte,  die  er  (1857)  lange  vor  Fick 
(1874)  ausgesprochen  hat,  gegen  Holtzniann  auch  durch  ein- 
gehen auf  die  bedeutungen  des  keltischen  adjectivs:  im  irischen 
und  gälischen  drückt  nach  Glück  mär,  mör  'gross'  'auch  in- 
clytus,  illustris,  praeclarus,  insignis,  nobilis'  aus;  'im  kymr. 
dagegen  kommt  maur  bloss  mit  der  bedeutung  magnus,  grandis, 
amplus  vor'.  In  Verbindung  mit  diesem  moment  der  Überein- 
stimmung ist  meines  erachtens  das  semasiologische  zusammen- 
treffen der  denominativen  verbalbildung  auf  beiden  Sprachge- 
bieten erwähnenswert:  ?ä\\  niäraim  {inöraim)  'maguifico,  verherr-. 
liehe,  erhebe'  (Windisch,  Ir.  texte  m.  wörtcrb.  G96  a.);  ent- 
sprechend got.  merjan  ^ x?jqvO(j8ii',  8vayy£XiL,tö&ai\  anord.  mcera 
'to  praise,  laud',  ags.  ^e-mccran  'darum  reddere,  honorare, 
magnificare',  asächs.  ?ndrimi  'rühmen,  verkünden',  ahd.  mär{r)en, 
gi-mär{r)eu  'celebrare,  clarificare,  praedicare'.  Wenn  wir  den 
begriff  'gross',  namentlich  in  qualitativer  hinsieht,  auf  den  uns 
schon  von  -anderer  seite  erscheinungen  im  gebrauche  des  ger- 
manischen adjectivs  selbst  zurückführten  (s.  433),  eben  für  den 
ursprünglichen  halten,  so  bieten  sich  hier  als  bedeutungsanaloga 
dar:  ausser  lat.  magnificare  das  griech.  (ityalvvtiv  und  got. 
mikUjan  'preisen',  ahd.  mihhilösdn  'magnificare'  (Tat.),  etwa 
auch  aind.  mahäyaä  'verherrlicht,  verehrt,  feiert',  eigentlich 
'macht  gross'.  Es  erscheint  mir  auch  wol  annehmbar,  dass 
der  sinn  von  'wolbekannt,  berühmt',  den  das  adjectiv  germ. 
*mce'ru-z,  ^mce'rjo-  in  den  historischen  Zeiten  so  vorwiegend 
aufweist  und  der  in  unserem  mär,  märe^  märchen  der  schliess- 
lich allein  fortlebende  gewesen  ist,  wesentlich  durch  den  ein- 
fluss  des  denominativen  verbums  merjan  zu  solcher  erstarkung 
auf  kosten  des  zurückgetretenen  grundbegriffes  'gross,  ansehn- 
lich, bedeutend'  gelangt  ist. 

Im  wurzelvocalismus  besteht  zwischen  air.  mär  und  an- 
dererseits germ.  '^mce'ru-z,  slav.  -mcrü  eine  abweichung,  und 
hier  eben,  glaube  ich,  hilft  das  altgriechische  von  Bechtel  ver- 
glichene -[4coQO-g  in  homer.  tyx^ol-fKDQog,  lö-ficoQO-g,  vXaxö- 
ficoQo-g  und  nachhomer.  (bei  Herodot,  Hippokrates  und  Atti- 
kern)  öirä-ficoQo-g  vermittelnd  aus.  Das  ablautsverhältnis 
germ.  ce",  slav.  indog.  e  :  griech.  indog.  ö  hob  schon  Bechtel 
richtig  als  ein  anerkannt  regelmässiges  hervor;  es  findet  eine 
nahe  liegende  stütze  an  dem  entsprechenden  von  got.ßr,  anord. 


138  OSTHOFF 

är,  ags.  ^eär,  asächs.  ahd.  mbd.  jdr  ii.  zu  griech.  ojQO-q  m, 
'jähr',  cüQä  f.  'friihling,  Jahreszeit,  jähr'.  Der  vocal  aber  von 
air.  mär,  cymr.  maiu-  kann  nun  iudog.  ö  gewesen  sein,  nach 
air.  da  'zwei'  :  öcö-ötTca^  gndth  'bekannt,  gewohnt'  :  yvcoro-g, 
lat.  7iötu-s,  acymr.  di-aiic  'segnem'  (eigentlich  'unschnell')  : 
(oxv-g,  lat.  öc-ior  u.  dgl.  mehr  (vgl.  Brugmann,  Grundr.  I 
§  90  s.  85  f.);  in  dem  gall.  -mürus  der  eigennamen,  Nei'to-märus 
u.  s.  w.,  würde  denn  auch  das  bisher  noch  vermisste  erste 
sicherere  zeugnis  begegnen,  dass  der  inselkeltisch  durchaus  (ab- 
gesehen von  wortschliessenden  silben)  erfolgte  Übergang  von 
indog.  ö  zu  ä  auch  dem  gallischen  gebiete  nicht  fremd  ge- 
wesen sei  (Brugmann  a.  a.  o.  s.  86  anm.):  urkelt.  '■^•müro-s  stünde 
genau  =  griech.  -^coqo-q. 

Aber  die  bestimmte  bedeutuug  des  griech.  lyxeoi-^aoQoq 
und  seiner  drei  bildungsgenossen  war  erst  durch  die  gewinnung 
der  richtigen  etymologie  des  Schlussgliedes  -fimgo-g  zu  ermitteln. 
Von  der  Unzulänglichkeit  der  früheren  auffassungen  dieser  viel 
besprochenen  griechischen  composita  überzeuge  sich  der  leser 
selbst  durch  einblick  in  folgende  litteratur:  Apollon.  soph.  lex. 
s.  vv.  lyxtol-,  16-,  vXaxö-fiojQoi,  Hesych.  in  gloss.  E  344,  /  747, 
F144,  Heyne  llias  t.  IV  p.  603,  Lucas,  Philol.  bemerkungen 
üb.  d.  auf  MiiPOl'  ausgehenden  homer.  epitheta  (gymnasial- 
l)rogr.,  Bonn  1837)  s.  1  ff.,  Benfey,  Griech.  wurzellex.  I,  507. 
508,  Braune,  Odyssee  XIV,  1—60  (gymnasialprogr.,  Cottbus 
1845)  s.  11,  Passow,  Handwörterb.  d.  griech.  spr.  P,  2,  773  a. 
1486  a.  IP,  2,  1424  a.  2042  b.,  BBnary,  Kuhns  zeitschr.  IV,  53  f., 
Goebel,  Zeitschr.  f.  d.  gymnasial w.  XVI  (1862)  s.  587,  Philo- 
logus  XIX  (1863)  s.  418"  ff.,  Ameis  zu  Od.  /  188.  g  29  und 
ebend.  IP,  178,  Döderlein  zu  II.  B  692,  Düutzer,  Kuhns  zeitschr. 
XII,  3  fi'.  XVI,  284  f.,  Faesi-Kayser  zu  II.  zi  242.  Od.  /  188, 
Pott,  Wurzel-wörterb.  d.  indog.  spr.  I,  1,  282,  Ebeling,  Lex. 
Homer.  I,  333  f.  596  b.  II,  361  b.,  Brugmann,  Curtius  stud.  IV, 
161,  Vanicek,  Griech.-lat.  etym.  wörterb.  735.  736,  G.  Curtius, 
Grundz.  d.  griech.  etym.'^  330,  Benseier -Autenrieth,  Griech.- 
deutsch.  schulwörterb.*^  s.  210  a.  unter  tyxtöificoQog.  Weder 
griech.  (lojQo-g  adj.  'stumpfsinnig,  dumm,  töricht'  konnte  etwas 
crspriessliches  zur  lösung  der  Schwierigkeit  beitragen,  da  eyxsoi- 
(iüQyog  und  ayxä-fiaQyog  Et.  Magn.  p.  313,  7.  14  Gaisford, 
tyxto'mccQyog  •  lyx^^    [laivöy^evog    Hesych.,    wie    schon    Benary 


ETYMOLOGICA  I.  439 

a.  a.  0.  erkannte,  nur  zu  etymologisierendem  zwecke,  nemlich 
als  ausdruck  der  verfehlten  deutung  £7;f£ö/-//fO()o-g  =  'speer- 
toll, mit  dem  Speere  wütend',  erfundene  präparate  sind;  noch 
war  mit  hilfe  der  von  Lucas  zuerst  versuchten  auknüpfung  an 
(lOQog,  f/oiQa,  fitQog,  fitiQOf/ai  ein  ungezwungen  einleuchtender 
sinn,  etwa  tyxfOi-ffoyQo-g  =  'den  speer  zu  seinem  teile  habend,  dem 
der  Speer  als  loos  zugefallen  ist',  erzielt;  von  anderen  allzu 
einseitigen  erklärungsweisen,  wie  der  mit  ^aQvaodai  'kämpfen' 
nach  Braune  a.  a.  o.,  ganz  zu  geschweigen.  Wenn  Leo  Meyer, 
Vergleich,  gramn).  d.  griech.  u.  lat.  spr.  P  (1884)  s.  914  schreibt: 
^^kyx^Gi-l^imQoq  'mit  Speeren  .  .  .  (?)",  so  ist  damit  die  bis  heute, 
auch  trotz  Bechtel  (1879),  noch  obwaltende  rätselhaftigkeit  der 
frage  genügend  angedeutet.  Denn  Bechtel  hielt  eben  noch, 
obwol  er  richtig  die  verwantschaft  mit  ags.  m(ct^e,  ahd.  tnäri 
sah,  die  auch  von  Goebel,  Ameis  und  Döderlein  aa.  aa.  oo. 
vertretene  ansieht  eines  Zusammenhanges  mit  mar-  'schimmern, 
flimmern,  glänzen',  griech.  fiagf/aigco,  ccfiaQvy//  fest,  und  gegen 
diese  bestand  nach  wie  vor  der  einwand  von  G.  Curtius  a.  a.  o. 
zu  recht:  "Dass  diese  wenig  verwendete  wurzel  bei  Homer  in 
der  abgeblassten  bedeutung  'sich  auszeichnen,  sich  hervortun', 
zumal  von  den  nach  dieser  erklärung  'durch  bellen  glänzen- 
den' hunden  \xvpsg  vZaxöf/wQot  Od.  §29.  jr  4j  gebraucht  sei, 
ist  schwer  zu  glauben". 

Nach  uns  ist,  mit  wegfall  der  rücksicht  auf  das  'glänzen', 
tyiiGL-iiojQo-g  IL  ß  692.  840.  //  134.  Od.  /  188  als  bei  wort 
tapferer  krieger  'im  speerwurf  gross,  in  Speeren  sich  hervor- 
tuend', daher  'speerberühnit',  gleichsam  ahd.  (lei'-imh-  (vgl. 
Ge?-mers-hei??i).  Wenn  1<j-/icoqoi  'die  im  pfeilschuss  grossen' 
II.  /]  242.  3*479  einen  tadelnden  beigeschmack  hat,  so  liegt 
der  verächtliche  nebenbegritf  nicht  im  worte  selbst,  sondern 
wie  Faesi-Kayser  zu  der  ersteren  stelle  richtig  bemerken,  in 
dem  sachlichen  momcnte,  dass  'der  kämpfer,  der  sich  aus- 
schliesslich des  bogens  bedient,  in  hinsieht  auf  bewaftnung 
und  kampfart  nur  eine  untergeordnete  geltung  und  viel  weniger 
anspruch  auf  den  namen  eines  kriegers  hat,  als  der  in  der 
vollen  schweren  rüstung';  wegen  lo-  in  homer.  fo-fWjQoi  und 
pindariscliem  lo-yjaioa  gegenüber  ^oc  vgl.  ve.rf.  Morphol.  unters. 
IV,  185,  Aber  eben  weil  -iuooo-q  'gross  in  etwas,  sich  hervor- 
tuend durch '    an    sich  eine  vox  anceps  et  ambigna  war,    fand 


440  OSTHOFF 

bei  dem  damit  gebildeten  compositum  notwendig  ein  in  pejus 
abire  seines  sinnes  statt,  wenn  die  bedeutung  des  ersten  gliedes 
darnach  angetan  war.  So  bei  bomer.  vXaxo-f/coQo-g  'gross  im 
bellen,  d.  i.  durch  bellen  unangenehm  auffallend';  nachhomer, 
otP('c-(icoQO-c  'schädlich,  naschhaft',  zu  einem  '^oirrjf.  'heimliches 
beschädigen',  'naschen',  vgl.  olvojjcu  praes.  Also  wenn  bei 
Ebeling,  Lex.  Homer.  I,  334  a.  596  b.  nach  dem  sprachge- 
brauche, nicht  auf  dem  dort  betretenen  etymologischen  wege, 
sich  die  begriffsbestimmungen  'permultus  in  jaculando',  'qui 
permultus  est  in  jaciendis  sagittis',  'qui  permultum  latrat' 
ergeben,  so  sind  eben  diese  es,  die  durch  unsere  darstellung 
die  etymologische  bestätigung  erhalten. 

Es  zeigt  sich  das  in  rede  stehende  griech.  -{iwQo-g  fast 
zu  einem  suffix  verblasst;  die  Griechen  werden  kaum  noch 
etwas  anderes  empfunden  haben  als  z.  b.  bei  vXax6-[i(OQo-c. 
*  wahrsch.  blosse  abltg.  von  vXaxtj  ohne  zstzg.',  die  es  nach 
Passow,  Handwörterb.  11^  2,  2042  b.  sein  sollte.  Auch  darin 
nun  gleicht  so  vollständig  als  möglich  dem  -(wjqo-q  das  formal 
identische  kelt.  '*märo-s  'gross'.  Im  irisclien  und  cymrischen 
ist  dieses  geradezu  suffix  geworden,  indem  es  nach  Glück, 
Kelt.  nameu  77.  80  ff.  anm.  entweder  mit  vielen  anderen  bei- 
wörtern  verbunden  zur  Verstärkung  ihrer  bedeutung  dient  oder 
an  hauptwörter  angefügt  die  function  der  lat.  endung  -usus 
ausübt.  Das  letztere  z.  b.  in  air.  cenn-mär  'grosskopf,  capito' 
(zu  cend  cenn  m.  'köpf,  haupt'),  ir.  aos-mhar,  gäl.  aos-mhor 
'grandaevus,  antiquus'  (zu  air.  aes  m.  'aetas'),  mittelir.  ed-mur 
'eifersüchtig'  (=  gall.  JanUi-märus  nom.  pr.,  zu  air.  et  'eifer'), 
ir.  glör-mharj  gäl.  glor-mlior  (zu  air.  gUnr  aus  lat.  glüria  ent- 
lehnt), ir.  neart-mhar^  gäl.  neart-mhor,  cymr.  nerth-fawr  'potens, 
validus,  robustus,  fortis'  (=  gall.  Nerto-märus  nom.  pr.,  zu  air. 
nert  n.  'kraft,  macht'),  Q,ym\\hndd-fanT  (zu  büdd,  ix\v.  büaid  n. 
'sieg'),  g wer th- füll r  'pretiosus'  <  '*verto-märo-s\  das  erstere  in 
air.  ardd-mär  'sehr  hoch'  {j'ird  adj.  'hoch'),  cymr.  cJod-fawr  < 
*cloto-märo-s  (zu  clod,  air.  cloth  adj.  'berühmt',  vgl.  ahd.  Hlodo- 
mär  nom.  pr,),  doelh-fawr  'persapiens'  <  *doclo-märo-s  (zu 
doelh  aus  lat.  doclus  entlehnt),  mwyn-fawr  'percomis,  perurbanus' 
<  '*meno-nmro-s  (zu  rmvyn  =  min  adj.).  'Owen  stellt  in  sei- 
ner grammatik  [A  grammar  of  the  welsh  language  s.  66.  67j 
marvr  geradezu  unter  die  adjectivendungen.     Ist  dies  auch  un- 


ETYMOLOGICA  T.  441 

richtig,  so  ersclieint  es  doch  in  der  tat  wie  eine  ableitungs- 
silbe.'  lieber  das  allgemeine  wesen  solcher  sprachprocesse, 
wie  der  entwickelung  des  compositionsgliedes  griech.  -ficogo-g, 
kelt.  *-märo-s  zum  derivationssuffixe,  vergleiche  man  Paul, 
Princip.  d.  spracbgesch.2  294  ff.  Aehnliche  entstehung  von  ab- 
leitungen  auf  grund  alter  composition,  die  im  sinne  der  latei- 
nischen bildungen  auf  -dsus  auftreten,  liegt  bekanntlich  vor:  in 
nhd.  jvitz-hold,  trunken-hold,  rauf-hold  u.  dgl.  mit  -hold  als  der 
unbetonten  form  des  adjectivs  ahd.  hald,  mhd.  halt  'kühn';  in 
dem  gebrauche  von  got.  hardus^  shd.  nhd.  hart  bei  der  Schöpfung 
der  Wörter  wie  mhd.  nit-hart,  lüg-hart  und  besonders  bei  vielen 
romanischen  nachahmungen  derselben,  Italien,  hugi-ardo,  l'miju- 
ardo ,  cod-ardo  =  franz.  couard,  vecchi-ardo  =  franz.  vieillard, 
franz.  criard,  fuyard,  hlanchard  u.  a.  mehr  (Diez,  Gramm,  d. 
roman.  spr.  11^,  385  f.). 

Zur  gewinnung  der  nackten  wurzel  von  germ.  *mceru-z, 
slav.  -meru  und  dazu  griech.  -^coqo-q,  kelt.  *mUro-s  —  ob  indog. 
me-^  mö-  oder  mer-,  mar-  —  weist  uns  die  gradationsbildung 
des  air.  ?ndr  'gross'  den  weg:  f}iäo,  mäa  {möo,  möa)  compar. 
'grösser,  mehr',  rnäam  superl.  (Zeuss-Ebel,  Gramm,  celt.'-  277, 
Windisch,  Kurzgef.  ir.  gramm.  §  183  s.  43).  Das  -r-  in  den 
positivstämmen  war  darnach  nicht  wurzelhaft,  sondern  gehörte 
nur  der  themenableitung  an.  Air.  mäo  compar.  weist  wol  zurück 
auf  *mä-{l)üs  <  '*mä.-iös  nom.  sing,  masc,  während  dagegen 
das  -a  der  nebenform  mä-a  wie  der  ähnlichen  li-a  'mehr',  si-a 
'länger',  ö-a  'jünger'  der  erklärung  noch  grössere  Schwierig- 
keiten macht. 

Man  hat  nun  mit  air.  inäo  'grösser'  bereits  unsere  grada- 
tionsfoi  men  mehr,  meist,  d.  i.  got.  mais  adv.,  m.aiza  adj.  compar. 
'grösser',  maists  superl.  'grösster',  anord.  meir{r)  meire,  mestr, 
ags.  ?nä  mära,  nuhst  (über  den  umlaut  —  northumbr.  noch  mäst 
=  nengl.  7nost  —  s.  Holthausen,  Beitr.  XI,  556),  asäehs.  mer 
mero,  mest,  ahd.  mer  mero,  meist,  in  Verbindung  gebracht,  jedoch 
gewöhnlich  nicht  ohne  die  unhaltbare  Voraussetzung  eines 
gutturalausfalles  in  ihnen  und  eines  Zusammenhanges  mit  aind. 
mahiyän,  mahishtha-s,  griech.  iitL^cov  ((leiC^wr),  fiiyiozo-g,  lat. 
fnagis,  major  (dieses  notwendig  für  *magjös  oder  '*-mahjös, 
wegen  des  für  ursprüngliches  intervocalisches  jod  geltenden 
ausfallgesetzes  im  lat.).    So  Pott,  Wurzel-wörterb.  III,  984,  Fiek, 


442  OSTHOFF 

Vergleich,  wöiterb.  l\  709.  IU\  227.  Das  richtige  lehrte  aber 
dem  gegeuüber  schon  Windiscli  bei  G.  Curtius,  Grundz.  d. 
griech.  etym.^  32S:  'Die  keltischen  Wörter  für  gross,  altir.  w^<r, 
mör,  cymr.  ?nanT,  zeigen  keine  spur  eines  gutturals  und  stam- 
men von  w.  ma.  Dazu  der  compar.  altir.  ftiäo,  mö,  corn.  moy 
cymr.  mw?/  major  (wie  skr.  däv-iijas  zu  dü-rä  fern),  identisch 
mit  got.  mais]  superl.  altir.  mdani,  cymr.  mwyaf  (Z.2  270.  299).' 
Den  letzten  gescheiterten  versuch,  die  hypothese  von  dem  unter- 
gegangenen guttural  (palatal)  in  got.  ma'is^  maiza,  maists  laut- 
gesetzlich zu  rechtfertigen,  machte  J.  von  Fierlinger,  Kuhns 
zeitschr.  XXVII,  478  f.  aum.  In  dem  gradationsschema,  das 
got.  mikils,  anord.  ?nikell,  ags.  ?nicel,  asächs.  f/iikil,  ahd.  ?nihhi/ 
mit  got.  maiza,  maists  u.  s.  w\  bilden,  sowie  in  demjenigen  des 
adverbs  anord.  ?njgk  :  meir{r),  mest  sehen  Braune,  Got.  gramm.^ 
§  138  s.  57,  Althochd.  gramm.  §  205  s.  180,  Noreen,  Altisländ. 
und  altnorweg.  gramm.  §  354  s.  141,  §350  s.  143  und  Sievers, 
Angelsächs.  gramm.-  §  312  s.  140,  ebenso  Paul,  Mittelhochd. 
gramm.-  §  141  s.  55  bei  mhd.  michel  :  merer,  meiste,  mit  recht 
'defective  comparation'  (nach  Noreens  ausdruck,  besser  wäre 
noch:  suppletorische),  insofern  als  die  zu  griech. //fc'/a, //f/fdo-, 
aind.  juähi  gehörigen  positive  anord.  jnjok,  mikell,  got.  mikils 
mit  den  für  ihre  Steigerung  dienenden  formen  etymologisch 
nichts  mehr  zu  tun  haben,  als  bei  uns  viel  oder  sehr  mit 
mehr,  meist. 

Das  auf  den  ersten  blick  befremdlich  erscheinende  resultat, 
dass  mehr,  meist  formal  als  die  regelrechten  gradationsbildungen 
zu  dem  positiv  got.  -mers  in  ivaila-mers,  zu  dem  hochd.  -mär 
der  eigennamen  zu  betrachten  seien,  haben  wir,  was  hervor- 
zuheben vielleicht  nicht  unzweckmässig  ist,  nicht  auf  grund 
irgend  einer  neuen  etymologie  unsererseits  ermittelt,  sondern 
lediglich  auf  dem  wege,  dass  wir  schon  vorgefundene  combi- 
nationen  anderer  gelehrter  nach  näherer  begründung  derselben 
unter  sich  in  Zusammenhang  brachten  und  daraus  die  con- 
sequenzen  zogen:  ^^ui. -mers,  ahd.  wa//  zu  'mx:  mär  'gross'  nach 
Glück  und  Fick;  zu  air.  mär  der  comparativ  wao,  mäa\  zu 
diesem  got.  maiza,,  maists  nach  Windisch. 

Auch  für  germ.  *maf-ru-z  :  got.  ma-iza,  ma-ist-s  gilt  die 
von  Windisch  gezogene  parallele  des  aind.  dü-rä-s  :  ddv-tydn, 
däv-ishthu-s.      Man   vergleiche    aber    weiter:    aind.  kship-rä-s  : 


ETYMOLOaiCA  T.  443 

kshep-iyän  kshep-ishiha-s ,  cak-rä-s  :  cäc-ish/ha-s,  cuk-rä-s  :  cöc- 
ishtha-s,  cuhh-rü-s  :  cöbh-ishiha-s,  cü'-ra-s  :  cäv-ishlha-s,  gr.  aiöy- 
Qo-g :  alox-icoi'  aiöx-ioro-g,  tyß-Qo-g  :  tx&-icov  £x&-iüTO-g,  y.vö- 
q6-q  :  xvö-lcov  xvd-iöTO-g,  f/ax-Qo-g  :  fiäööov  fiTjx-iOto-g,  oixr- 
Qo-g  :  olxT-iöTO-g.  Sodann  aind.  ug-rä-s,  avest.  ug-ro  :  compar. 
aind.  öj-iyän,  avest.  aoj-yäo  :  superl.  aind.  dj-isJitha-s ,  avest. 
aoj-ish'io;  aind.  a-cn-rä-s  'unschön,  hässlich',  avest.  sri-rö  'schön'  ; 
compar.  aind.  cre-yän  :  super),  creshtha-s,  avest.  sraesJi  to  (für  ein 
aind.  *criy-ishthä-s,  avest.  '"'•sriy-ish'td  nach  dem  comparativ  um- 
gebildet')); gr.  "^-jikri-QO-  in  JiXrj-Q-yjg^  \sit.  ple-7'U-s  (plen-que)  : 
compar.  aind.  prä-yas  neutr.  adv.,  avest.  fra-yäo,  gr.  jtXk-coiy 
(<  '*jth']-{i)a)v),  alat.  ple-ör-es,  p)lous  plus  (<  '^'pleus  <,  ple-os 
<  '^'ple-{f)os),  air.  li-a,  anord.  fleire  (=  got.  '■'"fJa-iza)  :  superl. 
avest.  fraesh'tö  (<  indo-iran.  '-'"jjra-ishthä-s,  s.  u.),  gr.  jiXs- 
tOro-g  (<  ^JcXyj-iöTO-g,  s.  u.),  anord.  fJestr  (=  got.  '''/la-ist-s); 
lat.  se-ru-s  'spät',  air.  si-r  'lang,  ewig'  ;  compar.  air.  si-a. 
Lauter  Verhältnisse,  in  denen  die  mit  dem  'primären'  indog. 
comparativ-  und  Superlativsuffixe  gebildeten  steigeruugsformen 
einen  positivstamm  mit  ;--suffix  begleiten.  Dass  das  letztere 
in  den  genannten  fällen  immer  -ro-  ist,  bei  slav.  -me-rü  aber 
und  germ.  '*mce'-ru-z  zur  seite  von  got.  ma-iza,  ma-isl-s  vielmehr 
das  seltenere  suffix  -reu-^  wie  etwa  auch  in  aind.  pc-ru-sh 
'schwellend',  hhi-rü-sh  'furchtsam'  (Lindner,  Altind.  nominalbild. 
§  80  s.  103  f.),  erscheint,  tut  nichts  zur  sache;  haben  wir  ja 
doch  auch  mit  -;-e/-stammbilduug  der  positivform  das  Verhältnis 
aind.  hhü'-ri-sh  'reichlich,  viel',  ntr.  adv.  bhü'-ri  :  hhü'-yän 
compar.,  bhuyishiha-s  suj)erl.  (für  '''•bhiw-is/i/hd-s  zufolge  Umbil- 
dung nach  dem  comparativ),  sowie  analog  avest.  tig-ri-sh'  m. 
pfeir  (und  tig-rö  adj.  'spitz')  neben  aind.  tej-lyän,  tej-ishtha-s. 
Wegen  der  äusseren  ähulichkeit  von  anord.  meire,  mestr 
=  got.  maiza,  maisis  mit  anord.  /leire^  flesti-  —  zur  entstehuug 


>)  Lebte  etwa  das  lautgesetzliche  aind.  *-^riy-ish(/i((-s  noch  fort  an 
den  neun  ligvedastellen,  wo  nach  (Jrassnianu,  Wörterb.  z.  rigv.  1431  f. 
für  das  überlieferte  ncshijia-  des  textes  aus  metrischen  gründen  drei- 
silbiges *i;rdijishlha-  substituiert  werden  soll?  Die  gleiche  Vermutung 
eines  superl.  prii/-islUjid-s  für  das  dem  compar.  prc-yas  neutr.  nach- 
gebildete preshijxa-s  (zu  priy-ä-s  posit.  'lieb,  erwünscht')  könnte  statt 
haben  für  die  elf  stellen  des  rigveda,  denen  Grassmann  a.  a.  o.  894  die 
form  *präyishtha-  zuweisen  will. 

Beiträge  zur  geachichte  der  deutscheu  spräche.    XIII.  30 


444  OSTHOFF 

von  mest7'  und  flestr  aus  '^meistr,  *ßeislr  vgl.  Noreen,  Altisländ. 
u.  altuoiweg.  gramm.  §  1 1 1  s.  45  —  liegt  es  am  nächsten,  die 
formalen  Verhältnisse  dieser  letzteren  dem  sprachgebrauche 
nach  zu  anord.  margr  'mancher'  sich  stellenden  gradations- 
bildungen  vergleichsweise  herbeizuziehen  und  näher  zu  beleuch- 
ten. Der  vergleich  ist  um  so  mehr  angezeigt,  als  wir  jetzt 
wissen,  dass  für  mehr,  meist  von  einer  basis  indog.  me-,  wie 
dort  von  indog.  plc-,  auszugehen  ist. 

Bremer  in  diesen  Beitr.  XI,  11  ff.  zieht  hauptsächlich  oder 
eigentlich  nur  aus  anord.  fleire,  flestr  die  folgeruug  eines  laut- 
gesetzes,  nach  welchem  aus  einem  indog.  e'i  unter  allen  um- 
ständen germ.  ai  geworden  sei.  Richtiger  schon  verfährt  Brug- 
mann,  Grundr.  d.  vergleich,  gramm.  I  §  142  s.  127  f.,  wenn  er 
nur  für  die  'unbetonten  Schlusssilben'  einen  lautvvandel  von 
indog.  -ele-  zu  germ.  -ai-  statuiert;  freilich  legt  derselbe  ge- 
lehrte a.  a.  0.  I  §  116  s.  109  f,  §  611  s.  463,  §  614  s.  466  im 
Widerspruch  damit  und  offenbar  im  sinne  der  Bremer'schen  an- 
schauung  den  anord.  fleire,  flestr  dennoch  ein  indog.  ■^•ple'is-  zu 
gründe.  Auf  die  nach  der  germanischen  wurzelbetonungsregel 
nicht  haupttonigen  nebensilben  beschränkt  sich  meines  erach- 
tens  der  eintritt  von  germ.  -ai-  für  ursprüngliches  -^/-  und 
-eij-  durchaus  und  ist  hier  durch  die  Zwischenstufen  urgerm. 
^-äT/-,  *-«/■-,  beziehungsweise  ■^■-a'ii-,  ^-äü-  vermittelt  worden. 
Z.  b.  in  got.  habais,  hahaip  =  ahd.  habes,  habet,  verglichen 
mit  lat.  habr-s,  habet  (<  '-'habet),  für  indog.  '*khabhe'-ie-si^ 
*khabhe'-i^e-ti  >  urgerm.  '''•'läbafnzi,  *xä^ce'ii'bi  (Burghauser,  Indog. 
])raesensbild.  im  german.  11);  in  go\.  armaiö  L  'barmherzigkeit' 
aus  urgerm.  '''•ärmoTlön.  Weder  Bremer  aber  noch  irgend  ein 
anderer  hat  bisher  den  zwingenden  beweis  erbracht,  dass  in 
got.  saiip  (saijip),  ahd.  säit  'er  sät'  nicht  die  strict  lautgesetz- 
liche entsprechung  von  abulg.  sejett  und  fortsetzung  von  indog. 
*se-ie-ti  >  germ.  ^'safübi  uns  vorliege. 

Es  haben  Bremer  und  Brugmann,  indem  sie  in  anord. 
flestr  <  *fleistr  =  got.  '-^flaisls  ein  indog.  *pleisto-s  sahen,  auf 
griech.  jiXtiöTOQ,  das  freilich  für  '^-jThflöTog  steht  (verf  Philol. 
rundschau  1881  sp.  1593,  Brugmann,  Iwan  Müllers  handb. 
d.  klass.  altertumswiss.  II,  29,  Grundr.  d.  vergleich,  gramm.  I 
§  611  s.  463,  Gust.  Meyer,  Griech.  gramm.2  §  298  s.288),  zu  ein- 
seitige,   dagegen    auf   das  avest.  fraeslitb   superl.   'der   meiste, 


ETYMOLOGICA  I.  445 

mächtigste'  gar  keine  rücksicht  genommea.  In  dem  letzteren 
kann  nicht  ein  indog.  *plcisto-s  vertreten  sein,  da  dieses  viel- 
mehr zu  avest.  ^frdish'td  geführt  haben  würde;  andererseits 
vermag  doch  fraesh'to  augenscheinlich  als  der  unmittelbare 
refiex  von  anord.  flestr-  =  got.  '^/laisls  zu  gelten.  In  an- 
betracht  .der  ursprünglichen  endbetonung  des  Superlativs  und 
der  damit  band  in  band  gehenden  tiefstufigkeit  der  ersten 
silbe  der  superlativformen  (ßrugmanu,  Kuhns  zeitschr.  XXIV,  99, 
Kluge  in  diesen  Beitr.  VIII,  519  ff.,  Job.  Schmidt,  Kuhns  Zeit- 
schrift XXVI,  384,  verf.  Z.  gesch.  d.  perf.  448  anm.  449.  450 
anm.)  dürfen  wir  avest.  frahlito  =^  anord.  fleslr  <  germ. 
'^ßaistö-z  unzweifelhaft  auf  einem  indog.  '*plv-lslö-s  (»  =  'schwa 
indogermanicum')  beruhen  lassen;  indo-iran.  ai  =  avest.  ae 
ist  normaler  Vertreter  von  ursprünglichem  »/  nach  Hübschmann, 
D.  indog.  vocalsyst.  16.  21  ff.  24.  68.  79  (vgl.  auch  Brugmann, 
Grundr.  d.  vergleich,  gramra.  I  §  109  a.  s.  102).  Für  das  grie- 
chische wäre  als  anfänglich  dagewesene  superlativform  ein 
'^jiXa-iöro-Q  zu  erwarten;  dieses  ist  jedoch  frühzeitig  durch 
ein  nach  analogie  des  comparativs  *jTXtj-{i)G)v  >  jtltmv  neu- 
geschaffenes *jth'j-iOTO-g  >  tcXhötoq  verdrängt  worden  (vice 
versa  dann  später  der  comparativ  griech.  jildcov  nach  jtXttaroQ 
superl.).  Umgekehrt  aber  ergab  im  germanischen  die  aus- 
gleichung  zwischen  der  niederen  uud  der  höheren  gradations- 
form  ein  got.  '*ßaiza  =  anord.  fleire  nach  massgabe  des  superl. 
'^ßa-ist-s  =  anord.  ßeslr.  Das  ursprüngliche  abstufungsver- 
hältnis  wahrt  eben  nur  das  avestische  mit  fräyäo  compar. 
neben  fraesh'to  superl.  =  indog.  '"^-ple-iös,  *plr)-istö-s. 

Aus  altlat.  ploirufne  'plürimi'  C.  I.  L.  I,  32  wäre  kaum 
die  berechtigung  abzuleiten,  in  dem  diphthong  von  avest. 
/raesh'to  und  germ.  *ßaistö-z  :=  anord.  ßesir  vielmehr  ein  indog. 
oi  zu  erblicken.  Wenn  der  verfertiger  der  alten  Scipionen- 
grabschrift  sein  oino  etwa  bereits  Uno{m)  sprach  unter  beibe- 
haltung  der  etymologischen  Schreibweise,  konnte  er  das  un- 
mittelbar nachfolgende  ploirumc  für  gesj)rochenes  ^p/ürime  in 
'umgekehrter  Schreibung'  setzen;  desgleichen  wären  ploeres, 
ploera  aus  anderer  archaistischer  quelle  (Corssen,  Ausspr. 
vokal.  12,  702.  709  anm.  711)  phonetisch  nur  =  piUres,  plüra. 
Aehulich  ist  andererseits  ou  in  inschriftlichem  couraverunl 
(Corssen  a.  a.  0.  P,  668)  für  w  <  oi  (vgl.  paelign.  coisatens  und 

30* 


446  OSTHOFF 

altlat.  coira  coh'Uuit,  coerae  coerävit,  Corssen  a.  a.  o.  I-,  708  f.") 
zufoli>-e  'umgekehrter  Schreibung'  eiogetreten,  nach  dem  ver- 
leitenden vorbilde  nemlicli  von  plous,  plouruma,  auch  douco 
u.  dgl.,  als  diesen  bereits  der  ausspräche  nach  nur  mono- 
phthongisches ü  =  graphischem  und  etymologischem  ou  zukam. 
Analoges  bei  L.  Havet,  Mem.  de  la  soc.  de  linguist.  IV,  410. 
Das  pliir-  in  plUr-es,  plür-irnJ  selbst  dürfte  einzig  dem  neutr. 
sing,  plus,  alat.  p/ons  <  indog.  *pli' -ws  (vgl.  oben  s.  443, 
Gust.  Meyer,  Zeitschr.  f.  d.  österr.  gymn.  1885  s.  282)  ent- 
nommen sein.  Mehrfacher  deutuug  kann  die  andere  altlatei- 
nische form  plisima  'plurima'  (Fest.  p.  205,  17  Müller)  unter- 
liegen: wäre  plis-  =  (vorrhotacistischem)  plJs-  für  *pleis-  < 
indog.  *plc-is-,  so  läge  der  suffixschwache  stamm  des  compa- 
rativs  indog.  '^ple'-lös  (vgl.  ple-ör-Ps)  zu  gründe;  vielleicht  ist 
aber  plishna  auch  nur  altertümliche  Schreibung  für  ein  *pUssma, 
zu  welchem  plUrima  oder  dessen  ausgangsform  '"^plonzimä  durch 
den  einfluss  der  gewöhnlichen  Superlativbildungen  auf  -issimus 
umgemodelt  sein  würde. 

Was  auf  grund  der  vorherigen  ausführungen  über  die  for- 
malen Verhältnisse  der  gradationsbildungen  von  indog.  ple-  für 
got.  *flaiza,  '^ßaists  =  anord.  fleire,  flestr  gilt,  haben  wir  nun 
zur  beurteilung  des  vocalismus  von  got.  maiza,  maisis  anzu- 
wenden: d.  h.  der  comparativ  hat  auch  hier  sein  ai  von  dem 
Superlativ  maist-s  =  indog.  '''■tnv-istö-s  übernommen.  Für  maiza, 
ahd.  7nero  wäre  lautgesetzlich  ein  got.  ^•maiiza  {*maißza),  ahd. 
*mäiro  zu  fordern,  nach  massgabe  eben  von  got.  sai{j)ip,  ahd. 
satt  'säet'  und  bei  Zugrundelegung  von  indog.  *me-les-  als 
Stammform;  das  mit  *me-ies-  im  suffixablaut  stehende  altindog. 
*me-is-  dagegen  hätte  sehr  wahrscheinlich  durch  '*meis-  hin- 
durch zu  einem  got.  *meisa.  ahd.  *rinso  geführt,  da  ja  das 
vocalkürzungsgesetz  auch  dem  germanischen  zuzuerkennen  ist 
(verf.  Philol.  rundschau  1881  sp.  1595). 

Im  altirischen  sollte  —  denn  die  Verschiedenheit  der 
Stammbildung  und  wurzelablautuug  des  i)Ositivs  urkelt.  *mä-ro-s 
(<  indog.  *mü-ro-s  =  griech.  [8-/iE6'L\-poi-Q0-!i)  von  germ.  '^mce- 
ru-z,  slav.  -me-ru  ist  ohne  belang  für  die  formation  des  'pri- 
mären' comparativs  mit  -iös  —  es  statt  mäo,  mäa  'grösser' 
eigentlich  '*7nio,  *mia  lauten;  vgl.  lia,  sia  von  indog.  ple-,  se-. 
Hier   ist   füglich  anzunehmen,    dass  nach  dem  positiv  air.  mar 


ETYMOLOGICA  T.  447 

sich    tiiäo    (daraus  dann  möo^  mö  nach  s.  436),    mäa    statt    der 
lautgesetzlichen  *mio,  *mia  eingestellt  haben. 

10.     Oheim. 

Nach  einer  auf  mehreren  indogermanischen  gebieten  zu 
beobachtenden  sprachsitte  gewinnen  die  vülker  unseres  Stammes 
ihre  bezeichnungen  des  'oheims',  d.  i.  zunächst  des  'mutter- 
bruders',  zumeist  oder  doch  mit  Vorliebe  aus  derjenigen  des 
'grossvaters  mütterlicher  seits'.  Jedoch  die  einzelnen  in  ver- 
schiedener weise. 

In  preuss.  aw-i-s  'oheim',  abulg.  u-jt  'avunculus'  {uß-ka  f. 
'amita')  erscheint  ein  indog.  '•^'•au-w-  mit  dem  nom.  sing,  '^au-i-s 
(Brugmann,  Grundr.  d.  vergleich,  gramm.  I  §  84  anm.  1  s.  81), 
also  im  gründe  eine  adjectivische  bildung  mit  dem  bekannten 
die  Zugehörigkeit,  herkunft,  abstammung  u.  dgl.  ausdrückenden 
Suffix  -w-  {-Ho-),  das  auch  aind.  piir-ya-s,  griech.  jiärQ-io-c, 
lat.  patr-iu-s  hat;  das  Stammwort  für  ^mi-h-  'gross väterlich', 
welches  letztere  denn  auch  in  air.  «?<^,  öa 'enkel'  <  ^avio-s  Aqü. 
descendenten  zweiten  grades  bezeichnen  kann  (Windisch,  Kuhn's 
beitr.  z.  vergl.  sprachf.  VIII,  434  anm.),  war  natürlich  lat.  avo-s 
'grossvater'.  Ebenso  für  lit.  aw-ijna-s  'onkel,  oheim,  der  mutter 
und  des  vaters  bruder',  das  sich  in  suffixaler  hinsieht  zu  kaim- 
ijna-s  'nachbar'  {ki'cma-s  'dorf,  hof)  und  zu  den  bei  Schleicher, 
Lit.  gramm.  §  51  s.  121  und  Kurschat,  Gramm,  d.  litt.  spr. 
§  289  s.  87  genannten  jit^giexrixa  wie  akmen-ijna-s  ' Steinhaufen', 
ang-ijna-s  'natternest',  herz-ipia-s  'birkenhain'  stellt,  d.  i.  sub- 
stantivierten adjectiven  mit  dem  alten  herkunfts-  und  stoff- 
adjectiva  bildenden  indog.  -ino-  (vgl.  oben  s.  403);  also  lit. 
atv-yna-s  eigentlich  auch  'der  vom  grossvater  abstammende' 
oder  'aus  grossvaterstoff  bestehend'.  Lat.  avun-culu-s  'mutter- 
bruder,  oheim'  ist  einfach  deminutivisch  'der  kleine  gross- 
vater', knüpft  übrigens  bekanntlich  nicht  sowol  an  das  0- 
stämmige  avo-s  an,  als  vielmehr  an  ein  nebenthema  ^avon- 
(vgl.  honmn-culu-s,  lenun-culu-s ,  sermim-culu-s  u.  a.),  dem  durch 
anord.  äe  '  urgross vater'  =  got.  '*arva,  gen.  ^arvin-s  (vgl.  auch 
got.  awd  f.  'avia,  grossmutter',  dat.  sing,  airön)  sein  höheres 
alter  zugesichert  wird.  Uebrigens  hat  eben  aus  avun-culu-s 
als  'oncle  maternel'  L.  Havet,  Mem.  de  la  soc.  de  ling.  VI,  20 
den   richtigen   rückschluss   auf  die  grundbedeutung   von    avo-s 


448  OSTnOFF 

gemacht,  dass  dieses,  obwol  historisch  für  'grossvater'  über- 
haupt, übertragen  für  'ahn,  ahnherr,  vorfahr'  gebräuchlich, 
ehedem  auch  nur  hm  dcgre  de  parentc  maternelle'  ausgedrückt 
haben  müsse. 

Wenig  ausbeute  in  der  angedeuteten  morphologischen  rich- 
tung  ergeben  cyrar.  e?vithr  und  e/ra  'oheim  väterlicher  oder 
mütterlicher  seits',  acorn.  euiter,  bret.  eonlr,  jedoch  so  viel, 
dass  wir  das  alte  ?i-thema  des  grossvaternamens  von  lat. 
avun-cidu-s  und  anord.  äe  darin  widererkennen.  Im  wesent- 
lichen das  richtige  über  die  bildung  dieser  keltischen  formen 
bemerkte  schon  Diefenbach,  Vergleich,  wörterb.  d.  goth.  spr. 
I  (184G)  s.  83,  dessen  auffassung  mir  durch  Thurneysen  be- 
bestätigt wurde.  Darnach  ist  cymr.  enm,  das  bis  heute  als 
blosse  koseform  in  familiärem  redegebrauch  dient,  'nur  ver- 
kürzt aus  e)viihr\  also  nicht  alt;  andererseits  gehen  die  voll- 
formen aller  drei  britannischen  dialekte  zunächst  zurück  auf 
ein  ''''even-tr  oder  *evin-tr,  das  mit  umlaut  aus  einem  *aven-(r 
entsprang  und  in  dessen  -tr  (nom.  sing.  *-/fr)  man  anlehnung 
an  die  verwantschaftsnamen  mit  indog.  -ter  {-ter-,  -tr-)  zu 
sehen  hat.  Welche  ableitung  aber  vor  dieser  suffixanbildung 
bestanden  habe,  um  die  beziehung  zu  '^aven-  'grossvater'  zu 
markieren,  ist  nicht  auszumachen. 

Am  originellsten  erscheint  die  germanische  weise,  das 
wort  oheim  aus  der  bezeichnung  des  mütterlichen  grossvaters 
zu  gewinnen,  vorausgesetzt  dass  der  folgende  erklärungsversuch 
als  ein  gelungener  wird  gelten  können.  Dass  für  die  west- 
germanische sippe  von  ags.  eam,  afries.  em,  ndl.  oom,  ahd.  mhd, 
oheim  'mutterbruder'  Kluge  im  Etym.  wörterb.  die  gotische 
entsprechung  in  der  form  *anhaims  regelrecht  erschliesst,  lässt 
zwar  den  auch  sonst  schon  längst,  z.  b.  von  Diefenbach  a.  a,  o., 
vermuteten  Zusammenhang  des  ersten  wortteiles  mit  lat.  avo-s, 
avun-culu-s^  anord.  äe,  got.  awö  deutlicher  hervortreten,  hat  aber 
im  übrigen  noch  nichts  zur  lösung  der  hier  obwaltenden  mor- 
phologischen Schwierigkeiten  beigetragen.  Die  von  einigen, 
wie  Lexer,  Mittelhochd.  handwörterb.  II,  148,  beigebrachte  Ver- 
mutung, im  hinblick  auf  nhd.  frauen-zimmer  könne  b-he'm  als 
'onkels  heim'  gefasst  werden,  weist  Kluge  mit  recht  ab.  Cor- 
recter  wäre  auch  nur  ein  aufgestelltes  'grossvaters  heim''  ge- 
wesen, und  so  hat  schon  ansprechender  MüUenhoff,  nach  einem 


ETYMOLOGICA  I.  449 

mir  vorliegendeu  collegienheft  über  Tacitiis  Germania  aus  den 
6Uer  jähren,  o-heim  bahuvrihisch  als  'den  im  hause  des  gross- 
vaters  wohnenden'  gedeutet. 

Gegen  die  im  sinne  von  frauen-zhnmer  unternommene  er- 
klärung  spricht  sich  auch  Singer  in  diesen  ßeitr.  XII,  214  aus, 
glaubt  aber  in  veranlassung  davon  die  Kluge'sche  erschliessung 
des  got.  *auhaims  verwerfen  zu  müssen:  für  das  -elm  von  bhelm 
bleibe,  wenn  'onkels  heini'  nicht  angehe,  nur  übrig  es  als  ab- 
leitung  zu  nehmen,  als  solche  könne  es  dann  aber  nicht  goti- 
schem ^-aims  entsprechen,  da  got.  ai  in  unbetonter  silbe  zu 
ahd.  c  werde.  Das  heisst  doch  offenbar  das  kind  mit  dem 
bade  ausschütten.  Kann  denn  nicht  -lieim  immerhin  composi- 
tionsglied  bleiben,  indem  es  nur  ein  anderes  nomen,  das  mit 
heim  Svohnung,  haus'  äusserlich  zusammenfiel,  darstellt?  Aller- 
dings wurde  in  o-heim  gerni.  got.  ai  nicht  zu  ahd.  e  nach  der 
für  die  Stammsilben  des  zweiten  teiles  der  composita  (vgl. 
namentlich  das  suffix  -heit  =  got.  haidus),  jedoch  überhaupt 
für  schwere  mittelsilben  mit  stärkstem  nebeuton,  wie  in  ahd. 
agaleizi,  araheit  =  got.  uglaitei,  arbaips  u.  dgl.,  geltenden 
vocalgestaltuugsregel.  Den  einfall  Holtzmanns,  der  Altd.  gramm. 
I,  1,  243  öheim  zweifelnd  zu  got.  auhuma  'höher'  stellte,  hätte 
als  einen  lautlich  und  begrifflich  ganz  ungenügenden  Singer 
lieber  nicht  der  Vergessenheit  entreissen  sollen. 

Von  got.  '''au-haim-s  aus  gestatten  die  germanischen  laut- 
gesetze  die  weitere  reconstruction  eines  urgerm.  ''äu-^/iaimo-z 
oder   vielmehr   noch    "^äu-xainio-z ')  <  *äun-xaimo-z  <  *dwu!j- 


*)  Mit  .  bezeichne  ich,  dem  transscriptionsvorschlage  Techiuers, 
Internat,  zeitschr.  f.  allgem.  sprachwiss.  I,  177.  182.  185  folgend,  die 
' apertura  nasalis',  die  ja  das  urgeimanische  wenigstens  bei  ä  vor  ■/  i° 
lallen  wie  */'j7';(ö 'fahe,  fange',  */ji'/jJ  ^hsixige'  sehr  wahrscheinlich  noch 
gehabt  hat.  Vgl.  Sievers,  Ags.  gramm.-  §  45,  5  s.  19,  §  ISiJ  anm.  4  s.  77, 
dazu  Bremer,  Beitr.  XI,  15.  Die  aus  dem  u  von  ags.  brvlite,  ddhte  ge- 
zogene Sievers'sche  Schlussfolgerung  erklärt  Brugniann,  Grundr.  I  §  214 
s.  183  fussn.  mit  verschweiguug  eines  grundes  für  'nicht  zwingend'.  Dass 
die  notwendigkeit,  auch  noch  nasalierte  i/')  ßZ-  für  das  urgermanische 
anzusetzen,  nicht  durch  ebenso  zwingende  kriterien  sich  erweisen  lasse, 
hat  schon  Sievers  selbst  angemerkt;  vgl.  auch  Noreen,  Altisl.  gr.  §  53 
anm.  Man  könnte  nun  den  bekannten  ablautsreihenwechsel  von  got. 
peihan,  ags.  di'on,  asächs.  thi/ian,  ahd.  dihan  und  von  got.  preihan 
(Joh.  Schmidt,  Z.  gesch.  d.  indog.  vocal.   1,52.53,    Paul,  Beitr.   VI,  540, 


450  OSTHOFF 

'/ai-mo-s  =  indog.  '"^änn-qomo-s.  Die  einzelnen  hier  statuierten 
lautübergänge  haben  ihre  ziemlich  genaue  parallele  au  der  be- 
kannten entstehungsweise  des  got.  jühiza  compar.  'jünger'  < 
*ju'yjzö  <  ^ju'axizd  <  *jü{w)u)jxisö . 

Germ,  '"^^aim-  <  '^awun-  als  die  sehwache  theraaform  des 
vou  anord.  äe,  lat.  aviin-culu-s  und  cymr.  ewi-tr  dargebotenen 
alten  ?j-stammes  indog.  ''^■anen-,  '^murn-  'muttergrossvater'  lässt 
sich  zur  erklärung  des  ersten  gliedes  vou  o-heim  nicht  ent- 
behren; denn  falls  wir  etwa  ein  urgerm.  ''^•awo-%aimo-z  oder 
'*(iwi-xamo-z  mit  dem  -o-/-e-stamme  von  lat.  avo-s  aufstellen 
wollten,  wäre  die  ausstossung  des  compositionsvocales,  mittels 
deren  man  zu  *au-  =  ahd.  o-  zu  gelangen  hätte,  bei  der 
kürze  der  vorhergehenden  Stammsilbe  eine  mit  den  westger- 
manischen synkoperegelu  unverträgliche  annähme. 

Das  Schlussglied  *-qomo-s  in  dem  als  bahuvrihicomposi- 
tum  anzusehenden  indog.  '^äm-qomo-s  =  ahd.  d-heini  stellen 
wir  zu  griech.  tT-^ü)  f.  'Schätzung,  Wertschätzung',  'ehre',  'preis' 
<  indog.  '''•qj-mu.  Neben  der  Stammform  *qi-ma-  eine  damit 
in  Wurzelablaut  stehende  phase  indog,  ^q(yj-ma-,  gleichsam 
griech.  '^jroi-fiä-  (vgl.  rroi-v/j),  vorauszusetzen,  ist  nach  manchen 
analogien  unbedenklich  (vgl.  verf.  Morphol.  unters.  IV,  127  ff.); 
und  von  einem  derartigen  *qdi-nm  ist  das  schlussglied  des 
indog.  *äu73-qo'mo-s  die  erforderliche  adjectivische  Umformung, 
wie  -rffio-g  in  den  griech.  bahuvrihibildungen  ä-,  fityä-,  jioXv-, 
löo-Tifio-g  u.  a.  diejenige  von  xTfirj. 


Kluge,  Etym.  wörterb.  unter  dringen,  gedeihen,  verf.  Z.  gesch.  d.  perf. 
49.  50  anm.,  Biugmann  a.  a.  o.)  dafür  anführen  wollen,  dass  hier  reines  i 
im  praesens  schon  urgerinanisch  vorhanden  gewesen  sei.  Aber  die  neu- 
bildung  der  formen  got.  ga-pdih,  ags.  di^on,  di^en,  asächs.  gi-lhigan, 
ahd.  deh,  digi,  gi-digan,  andererseits  got.  */>rdih  (vgl.  praihun  perf.  plur., 
praihans  part.)  braucht  doch  nicht  notwendig  in  die  germanische  grund- 
sprache  verlegt  zu  werden,  (lerade  die  erhaltung  so  vieler  -«(/-formen 
bei  diesen  verben,  nemlich  ags.  '^un^on,  'bunten  (Sievers,  Ags.  gr.-  §  383 
anm.  y  s.  175),  asächs.  gi-lhungan,  vollends  die  tatsache  ihrer  machtge- 
winnung  über  die  A-formen  bei  der  Schöpfung  der  neuen  praesenstypen 
anord.  pryngva,  ags.  d?in^an,  asächs.  Ihringa7i,  ahd.  dringaji  lässt  meines 
bedünkens  schliessen,  dass  hier  im  wesentlichen  die  alten  ablautsver- 
hältnisse  urgermanisch  noch  intact  waren,  also  etwa  damals  noch  (mit 
gotischen  endungen)  "pr/an,  *pßx,  '^pungum,  -'pungans  und  *prr/an, 
*prny_,  *prungum,  " prungans  im  schwänge  waren. 


ETYMOLOGICA  I.  451 

Der  Wurzel  (indog.  qei  'schätzen,  schätzen')  von  aind. 
cäy-ale  'rächt,  straft',  eig.  'scliätzt  für  sich  (den  entgelt)  ab', 
äpa-ci-la-s  'geehrt,  geachtet',  {dpa)  cdyaii  praes.  'respectiert, 
ehrt'  (vielleicht,  des  vocalismus  wegen,  denom.  für  *cdy-aya-ti 
mit  ' Silbenausfall  durch  dissimilation'),  dpa  cikihi  imper.  'nimm 
rücksicht  auf,  respectiere',  griech.  t'l-vco  'büsse,  bezahle',  ri-vj 
'schätze,  ehre',  «-rfro-c  'ungebtisst,  unbezahlt',  'ungerächt', 
'ungeehrt,  ungeachtet',  .-roXv-rfro-^  'hochgeehrt',  abulg.  ci-U^ 
'zähle,  ehre,  verehre',  abulg.  russ.  cmiü  m.  'rangordnuug'  hat 
man  bereits  aus  dem  germanischen,  als  form  gleichen  ablauts 
mit  dem  alten  feminin  avest.  kae-na  'strafe',  griech.  jioi-vi] 
'busse,  strafe,  entgelt,  belohnung',  abulg.  ce-na  'preis',  lit.  kai-na, 
das  anord.  hei-ti-r  ra.  'ehre',  angeschlossen  (Fick,  Vergleich, 
wörterb.  P,  34.  532).  Dieses  niüsste  somit  von  anord.  hei^-r  'hei- 
ter, klar',  heib  n.  'klarer  himmel'  und  dem  westgerm.  adj.  ags. 
hädor,  asächs.  hedar,  ahd.  hellar,  mhd.  nhd.  /ieitet%  sowie  von 
aind.  ci(-rd-s  adj.  'glänzend,  strahlend,  hell'  nur  weiter  ent- 
fernt werden,  als  es  gemeiniglich  geschieht  (Fick  a.  a.  o.  IIP, 
56,  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter  heiter),  wenn  auch  nicht  zu 
verkennen  ist,  dass  mit  dem  zu  aind.  ket-ü-sh  'helle,  klarheit, 
eischeinung,  gestalt'  gehörenden  got.  haid-us  m.  'art,  weise', 
ags.  hdd  m.  'art  und  weise,  eigenschaft,  stand,  geschlecht', 
asächs.  hedvü.i.  'stand,  zustand',  ahd.  heil  m.  f.  'rang,  stand', 
mhd.  heit  f.  'art  und  weise,  beschatfenheit'  jenes  anord.  heitir 
'ehre'  bei  alter  fiexionsgleichheit  (gen.  sg.  hei(5ar  und  jünger 
heitirs,  Noreen,  Altisl.  gr.  §  269,  2)  begrilfsberührungen  hat.  Auf 
jeden  fall  aber  käme  wenigstens  ein  anderes  altisländ.  nomen 
entschieden  nur  als  verwanter  der  sippe  von  griech.  x'ivco,  zico, 
Tifii],  Jioivr'i  und  mithin  auch  des  -heim  in  ö-heim  in  betracht: 
das  nach  Cleasby-Vigfusson,  Icel.-engl.  dict.  247  a.  obsolete  und 
auf  die  poetische  spräche  beschränkte  anord.  heib  f.  'bezahluug, 
besoldung,  lohn',  'wert,  preis'  <  indog.  *qol-tn. 

Scheint  aber  nicht  sogar  ein  zu  griech.  rCfi)),  -tr/io-j:  ge- 
radezu stimmendes  *du-klmo-z  für  'oheim'  im  german.  noch 
nachzuspukenV  Ich  habe  die  durch  ihren  umlaut  merkwür- 
digen formen  im  mittelhochdeutschen  und  auf  niederdeutschem 
gebiete  im  äuge:  mhd.  cehcim,  ccheime,  sowie  auf  mnd.  ^  ceme 
weisendes  heutiges  westfäl.  ohnd  in  der  Soester  mundart,  das 
dort   mit   seinem    oe  selbst  den  tantennamen  mhhxd  an^-esteckt 


452  OSTHOFF 

hat  nach  IlolthauHen,  Beitr.  XI If,  3()7.  Mein  eigener  heimats- 
(lialekt  (Billuieiich  bei  Unna)  hat  beides,  is^owol  oemo  (und 
mocnd)  wie  das  Soestische,  als  auch  ohne  umlaut  homd  <  niud. 
nmc  =  mhd.  oheimc]  wobei  homd  als  die  gewähltere  und  vor- 
nehmere form  gilt.  Auch  Woestc,  Wörterb.  d.  westfäl.  mundart 
ISS  b.  bringt  öm  und  daneben  o'^me  aus  anderen  gegenden  West- 
falens bei. 

Läge  nun,  was  die  unigelauteten  formen  anbetrifft,  die  an- 
nähme fern,  dass  in  früher  hochdeutscher  zeit  —  denn  ahd. 
oheim  kann  Ja  sowol  dem  unigelauteten  mhd.  cehelm  entsprechen 
als  das  heutige  umlautslosc  nhd.  wort  und  =  ags.  mm  (<  '*ea- 
ham)  sein  —  sich  aus  dem  einst  bestehenden  flexionsbasen- 
wcchsel  d'heim-  und  *ce-kim-  die  compromissform  cehehn  heraus- 
gebildet habe?  Noch  einfacher  stünde  es  mit  dem  nd.  oemd, 
über  welches  mir  dr.  Holthauseu  (Soest,  22.  october  1887) 
schreibt:  'Ich  sehe  jetzt  erst,  welche  Schwierigkeiten  diese 
form  macht,  und  würde  ein  as.  •^oVr<;;j  =  Ihrem  '^•au-h'uno-z  ent- 
schieden [anderen  in  dem  briefe  versuchten  erklärungsweisen] 
vorziehen,  fast  notwendig  finden!'  lieber  die  Umbildung  in 
die  w-declination  bei  mhd.  öheime,  ceheime  und  mnd.  öme, 
westfäl.  eomo,  oe?nd  {p^me)  s.  unten  s.  450. 

Als  grundbedeutung  von  oheim  hätte  sich  somit  ergeben: 
entsprechend  wie  griech.  d^üö-Tino-Q  'eines  gottes  ehre  ge- 
niessend, wie  ein  gott  geehrt'  ausdrückte,  so  germ.  *äu-xaimo-z 
(^äu-Mmo-z)  =  indog.  ^dm-qomo-s  {^mu-qimo-s)  'grossvaters 
Schätzung  habend,  in  dem  ränge  des  grossvaters  stehend'.  Der 
'kleine  grossvater'  bei  den  Römern  steht  hiergegen  an  würde 
der  bezeichnung  zurück. 

Von  dem  intimen  und  engen  Verhältnis,  welches  im  ger- 
manischen altertum  vorzugsweise  von  allen  vervvanten  der 
mütterliche  onkel  zu  den  neffen  einnahm,  legt  Tacitus  wert- 
volles und  bekanntes  zeugnis  ab,  Germ.  20:  'sororum  filiis  idem 
apud  avimculum  qui  ad  patrem  honor\  quidam  sanctiorem  ar- 
tioremque  hunc  nexum  sanguinis  arbitrantur'.  Die  vielbe- 
sprochene stelle  enthält  nach  übereinstimmender  auslegung  der 
Philologen  und  rechtshistoriker  den  hinweis  auf  den  uralten 
brauch,  welchen  das  in  vorhistorischer  zeit  bei  den  Germanen 
und  wol  noch  höher  hinauf  bei  den  Indogermauen  geltend  ge- 
wesene mutterrecht  mit  sich  brachte:  wie  nach  dem  tode  des 


ETYMOLOGICA  I.  453 

Vaters  eine  unverlieiratete  Schwester  in  gewalt  und  schütz  des 
bruders  iibcrgieug,  so  war  dieser  auch  zur  pflicht  und  ehre 
der  Vormundschaft  über  die  kindcr  einer  verheiratet  gewesenen 
berufen,  wofern  der  zunächst  in  betiacht  kommende  mütter- 
liche grossvater  nicht  mehr  am  leben  war.  Vgl.  Kritz  zu 
Tac.  Germ.  20,  besonders  aber  Schweizer -Sidler  z.  d.  st.  in 
seiner  kleineren  ausgäbe  der  Germania  und  in  dem  commcntar 
der  Baiter-Orelli'schen  Tacitusausgabe  vol.  II  fasc.  1  p.  42; 
ferner  die  von  Schweizer-Sidler  angeführte  ältere  rechtsge- 
schichtliche litteratur,  dazu  von  neueren  L.  Dargun,  Mutter- 
recht und  raubehe  und  ihre  reste  im  germanischen  recht  und 
leben,  Breslau  1883,  in  Gierkes  Untersuch,  z.  deutschen  staats- 
u.  rechtsgesch.  XVI,  21  f.  Die  nach  Schweizer-Sidler  'echt 
indogermanische  anschauuug,  die  sich  im  lateinischen  worte 
avu7iculus,  im  litauischen  awijnas,  mutterbruder,  und,  wie  Diefen- 
bach  richtig  ahnte,  im  ersten  teile  des  deutschen  ö-heim  (mhd. 
Geheim)  widerspiegelt',  erhält  nun  auch  durch  den  zweiten  teil 
dieses  o-hehn,  nachdem  dessen  herkunft  ermittelt  rst,  eine 
schöne  beleuchtung.  Dass  die  ehrenvolle  Stellung  der  sororura 
filii  apud  avuneulum  als  notwendiges  correlat  die  hohe  Wert- 
schätzung des  mutterbruders  durch  die  neften  haben  musste, 
ist  klar,  und  so  ist  in  den  Worten  des  auch  hier  sich  kurz 
ausdrückenden  culturhistorikers  unserer  vorzeit  gewiss  im- 
plicite  enthalten,  dass  ^avuncidö  idem  apud  sororum  filios  qui 
patri  et  avö  (mortuis)  honor\  Wie  das  im  alten  farailienrecht 
begründete  nahe  Verhältnis  zwischen  mutteroheim  und  nefte 
durch  manche  Zeugnisse  in  geschichte,  sage  und  brauch  der 
germanischen  Völker  bestätigt  wird,  so  deutet  insbesondere  auf 
die  ranggleichstellung  des  ersteren  mit  dem  avos  der  umstand 
hin,  'dass  es  gar  häufig  in  der  sage  vorkommt,  dass  nicht  nur 
der  grossvater,  sondern  auch  der  mütterliche  olieim  das  recht 
hatte  den  namen  zu  geben'.  Aehnliches  wird  zu  der  Tacitus- 
stelle  im  anschluss  an  Kraut,  Vormundschaft  I,  44  f.  auch  von 
Müllenhoff  in  dem  s.  448  f.  erwähnten  vorlesungsheft  ausge- 
führt, wo  unter  anderm  die  bcmcrkung  sich  findet:  'Der  oheim 
galt  also  dem  neften  wie  der  grossvater  zu  achten'.  Zur  ety- 
mologie  übrigens  von  lat.  avos  selbst  und  anord.y^/e  möchte  ich 
hier  fragen,  ob  nicht  der  grossvater  mütterlicherseits  als  'schützer' 
der   enkel,    der   er    eben    zunächst   (der   väterlichen   verwant- 


454  OSTHÜFF 

Schaft  gegen  über  und  sonst)  nach  dem  alten  mutterrechte  war, 
bezeichnet  gewesen  sei;  vgl.  aind.  ^^i;-^/-// 'fördert,  hilft,  schützt', 
ävas  n.  'förderung,  beistand',  avest.  avö  n.  'hilfe,  schütz'. 

Für  bahuvrihizusammensetzungen,  wie  ö-heim  eine  ist,  gilt 
als  die  allgemeine  nach  dem  sanskrit  gewonnene  grundsprach- 
liche betonuugsregel:  'Der  accent  liegt  auf  dem  vordergliede'. 
Vgl.  Garbe,  Kuhns  zeitschr.  XXIII,  502  ff.,  Whitney,  Ind.  gramm. 
§  1295  s.  47(),  Leop.  Schröder,  Kuhns  zeitschr.  XXiV,  104  f., 
Wheeler,  D.  griech.  nominalacc.  43.  Demgemäss  haben  wir 
unser  indog.  '■^äm-qoimo-s  mit  betonter  erster  silbe  angesetzt; 
denn  an  ein  *ann' -qoimo-s  mit  haupttonigkeit  des  tiefstufe 
repraesentierendcn  sonantischen  nasals  wird  man  doch  nicht 
denken  wollen.  Zur  vergleichung  im  accent  böten  sich  hier 
etwa  indische  bahuvrihis  mit  w-stämmen  im  vordergliede  wie 
grava-hasla-s,  brähma-jyeshtha-s^  sama-lejäs  dar.  Es  muss  aber 
im  urgermanischen  wegen  des  -li-  von  bheim  zur  zeit  des  Wir- 
kens von  Verners  gesetz  die  accentstelle  in  diesem  worte  doch 
schon  unmittelbar  vor  dem  -li-  (-x-)  gewesen  sein,  *ätvm3- 
Xaimo-s  also  damals  bereits  zu  *äut3-xamo-s  geworden  sein. 
Und  widerum  die  gleiche  annähme  erfordert  ja  auch  got.  ju- 
hiza\  denn  so  sicher  dieses  einmal  in  viersilbiger  lautgestalt 
und  dabei  mit  comparativischer  anfangsbetonung  als  '^jürvwj- 
Xisö  bestanden  hat  (vgl.  Verner,  Kuhns  zeitschr.  XXIII,  127, 
Kluge  in  diesen  Beitr.  VIII,  520),  ebenso  sicher  kann  es  nur 
in  einer  verkürzten  dreisilbigen  wortform,  als  *juHxisö  oder 
Vß'yßö,  von  dem  Verner'schen  gesetz  angetroffen  sein.  Der 
bekannte  ausfall  des  w  vor  u,  den  wir  für  formen  wie  got. 
ahd.  Htun  'neun',  goi.  juggs,  anord.  ungr,  ags.  geong,  asächs. 
2i\\di.jung  (=  aind. yuvacä-s,  \2ii.  juvencu-s)  und  got j'unda 'Jugend' 
(=  \?i\.  juventa)  annehmen  (Paul,  Beitr.  VI,  162  ff.,  verf.  Morph, 
unters.  IV,  306. 312. 316,  Brugmann,  Grundr.  d.  vergleich,  gramm. 
1  §  179  s.  157),  weist  sich  also  nicht  nur,  was  schon  vermutet 
wurde,  als  ein  bereits  urgermanischer,  sondern  auch  sogar  als 
ein  der  Wirksamkeit  der  Verner'schen  lautverschiebungsregel 
zeitlich  vorausliegender  sprachgeschichtlicher  act  aus.  Wenn 
neuerdings  W.Schulze,  Kuhns  zeitschr.  XXIX,  271  für  got. 
stiur  diesen  w- ausfall  annimmt,  um  es  dann  als  zwei- 
silbiges sti-ur  mit  kurzer  endsilbe  -ur  hinzustellen  und  so  als 
ausnähme  (hinsichtlich  des  fehlenden  nominativ-^)  von  Braune, 


ETYMOLOGICA  I.  455 

Got.  gTamm.2  §  78  anm.  2  s.  33  (=3  g^  34)  2.11  beseitigen,  so 
ergibt  sieh  das  hier  als  etwas  unhaltbares:  mag  auch  ein  ur- 
urgerm.  *siefvuro-z  =  aind.  sthävira-s  adj.  'breit,  dick,  derb, 
massig'  zu  gründe  liegen,  so  gieng  doch  jenes  nur  als  '-'"steuro-z 
oder  urgot.  ^stiura-s  mit  einsilbigkeit  des  stlu-  in  die  einzel- 
dialektische sprachentwickeluug  über.') 

Unter  eidam  deutet  Kluge  im  Etym.  wörterb.  die  möglich- 
keit  an,  dass  von  ags.  dcium,  afries.  ätlnim,  ahd.  eidiwi,  mhd. 
ekle?»  'die  scheinbare  ableitung  -mit  der  von  o/ielm  vielleicht 
verwant  ist'.  Besonderen  suffixalen  anklang  an  das  letztere 
könnte  man  nur  in  der  ahd.  nebenforra  eideim  sehen,  die  von 
Graif,  Sprachsch.  I,  156  in  einem  einzigen  belege  aus  den  gl. 
Lindenbrog.  (10.  jahrh.)  aufgeführt  wird.  Nun  hat  jedenfalls 
Singer,  Beitr.  XII,  214  aus  diesem  eide'mi  zu  viel  gemacht  zum 
zwecke  der  formalen  deutung  von  öheim.  Wäre  die  existenz 
des  eideim  als  gesichert  zu  betrachten,  so  müsste  es  wol  local- 
mundartlich  irgendwie  durch  suffixanbildung  an  öheim  zu  stände 
gekommen  sein.  Aber  ein  solcher  Vorgang  hätte  kaum  grosse 
Wahrscheinlichkeit  gehabt,  denn  der  eidam  und  der  oheim  sind, 
ob  wol  beide  verwantschaftswörter,  doch  nicht  gerade  solche, 
die  begrifflich  einander  näher  stehen  und  daher  zur  formaus- 
gleichung  gegenseitig  sich  besonders  reizen  könnten.  Mau 
wird  gut  tun,  einstweilen  mit  Braune  in  der  redactionsnote  zu 
Beitr.  XII,  214  die  correctheit  der  Überlieferung  des  einmaligen 
eideim  in  zweifei  zu  ziehen. 

Wichtiger  und  sicherer  nachweisbar  ist  formaler  und  sema- 
siologischer  austausch  zwischen  oheim  und  anderen  verwant- 
schaftsbezeichnungen,  solchen,  die  als  wirkliehe  begriffscorrelate 
dazu    sich    verhalten,    wie   insbesondere  nefl'e  'schwestersohn'. 


1)  Möglicherweise  ist  aber  ein  bereits  synkopierter  noui.  sing.  *sliurs 
im  got.  wider  zweisilbig  geworden,  etwa  zu  einem  *sliu-urs  der  aus- 
spräche nach,  indem  sich  auf  das  consonantische  r  bei  seiner  Stellung 
nach  dem  abfallend  betonten  diphthong  iu  ein  neuer  silbenictus  legte. 
Das  hätte  ein  analogon  an  der  neuhochdeutschen  entwickelung  von  aus- 
lautendem -r  zu  -er  in  fällen  wie  geier,  sauer,  feucr  =  mhd.  gtr,  sür, 
viur  (Paul,  Mittelhochd.  gramm  -  §  2(3  s.  12);  denn  unstreitig  hängt  hier 
das  spätere  zweisilbigwerden  auch  eausal  mit  der  ueuhochd.  diphthongie- 
rung  der  alten  monophthongischen  längen  mhd.  z,  ü,  iu  (=  «  )  zusammen. 
Auch  so  wurde  sich  denn  got.  stiur  nom.  sing.,  als  eigentlich  sliu-ur, 
der  Braune'schen  regel  fügen. 


456  OSTHOFF 

Ich  uiüchte  deu  übertritt  von  oheim  zur  ?ideclination  in  mhd. 
ohehne,  ceheime  und  mnd.  ome^  und.  westfäl.  homd,  benid  (s.  oben 
s.  452)  als  analog'iebilduug-  nach  der  flexion  von  ne/fc,  mhd. 
niud.  neve  (im  westfälischen  jetzt  verloren)  erklären.  Doch 
nicht  nur  darnach  allein:  in  mhd.  vetei^e,  veler,  mnd.  veddere 
' Vatersbruder',  dann  auch  in  dem  feminin  mhd.  muome,  mnd. 
7iidme  (mö^nie,  möne,  moine)  'muttersch wester'  hatte  der  oheim 
als  'mutterbruder'  paarbegriff liehe  ergänzungen  in  anderer  art, 
die  seineu  anschluss  an  die  'schwache'  declination  veranlassen 
konnten.  Wenn  im  mittelhochdeutschen  oheim  {ceheim,  oheime, 
(ßheime),  ebenso  mnd.  ow,  otne,  gelegentlich  auch  selbst  den 
'neffen,  schwestersohn'  bezeichnet  (Mittelhochd.  wörterb.  II,  1, 
435  b.,  Lexer,  Handwörterb.  11,148,  Schiller-Llibben,  Mittel- 
niederd.  wörterb.  III,  227),  so  gehört  das  in  die  rubrik  des 
crsatzgebrauches,  nach  dem  umgekehrt  auch  mhd.  neve  für  den 
S)heim'  und  überhau])t  verwautschaftsnamen  im  germanischen 
so  oft  für  die  mit  ihnen  corresi)ondierenden  begrifi'e  eintreten. 
Vgl.  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter  hase,  eidam,  neffe,  nichle, 
oheim,  Schwager,  vetler\  auch  Lexer,  Mittelhochd.  handwörterb. 
1,2239  und  Schiller-Lübben,  Mittelniederd.  wörterb.  111,110 
über  mhd.  muome,  mnd.  7nöine  als  'weibliches  geschwisterkind', 
'weibliche  anvcrwautc'  überhaupt.  Entweder  brachte  es  die 
gemütlichkeit  altgermanischen  familienverkehrs  vielfach  so  mit 
sich,  dass  ein  dem  alter  und  ränge  nach  übergeordneter  ver- 
wanter  freundschafts-  und  namensaustausch  mit  dem  jüngeren 
eingieng,  was  vornemlich  bei  geringeren  altersunterschieden 
leicht  eintreten  konnte;  oder  die  ursprünglich  engeren  bedeu- 
tungen  der  verwantschaftswörter  mochten  auch  auf  dem  wege 
sich  lockern,  dass,  entsprechend  einem  noch  heute  in  bäuer- 
lichen und  kleinstädtischen  kreisen  geltenden  brauche,  die  ver- 
traulich ehrende  anrede  zu  freigebig  nähere  verwantschafts- 
grade  an  entfernter  oder  kaum  noch  verwante  personen  er- 
teilte. 

lieber  die  in  mittelhochdeutschen  quellen  begegnenden 
formen  von  oheim  mit  auslautendem  -n,  ohain^  oehein  und  an- 
dere Varianten  bei  Lexer,  Handwörterb.  II,  148,  vergleiche  man 
Paul,  Mittelhochd.  gramm.^  §  84,  6  s.  34.  Wenn  aber  im  spät- 
althochd.,  mittelhochd.  und  mitteld.  auch  sonderbare  formen 
mit  anlautendem  h-,  höheim,  lueme,  bestanden  (Graff,  Sprachsch. 


ETYMOLOGICA  I.  457 

I,  132,  Mittelhochd.  wörterb.  a.  a.  o.,  Lexer  a.  a.  o.),  so  dürfen 
wir,  glaube  ich,  für  diese  die  kindersprache  unserer  altvordern 
verantwortlich  machen,  die  aulaut  an  inlaut  assimilierte  oder 
lautversetzung  vom  wortinneru  auf  den  wortanfang-  vornahm, 
wie  CS  ihr  eigen  zu  sein  pflegt;  der  gute  onkel  hat  sieh  auch 
diese  naniensverdrehung  von  den  sprachunfertigen  kleineu 
neffeu  und  nichteu  gefallen  lassen  müssen. 

11.    Germ,  saljan,  gr.  IXuv,  Xutqov. 

Philol,  rundschau  I  (1881)  sp.  1591  habe  ich  griech.  tXuv, 
hXtöd^ai  aor.  'nehmen'  für  verwant  mit  lat.  velle  und  deutschem 
ivoUen,  7vählen  ausgegeben.  Dieser  etymologie  des  griech.  verbs, 
gegen  welche  schon  der  mangel  aller  sicheren  digammaspuren 
bei  sehr  häufigem  vorkommen  in  den  homerischen  gedichten 
spricht'),  hätte  Gust.  Meyer,  Griech.  gramm.^  §241  s.  240  nicht 
zustimmen  sollen;  sie  wird  jetzt  vollends  hinfällig  durch  die 
grosse  gortynische  Inschrift,  auf  der  IXtjv,  tXorxa,  tXövoi,  tXo- 
fiivco,  dv-sX/jTca,  JtaQ-kX?j  II,  34.  37.  44.  III,  4.  10.  VI,  48.  52. 
X,  40  ohne  /-  sind,  während  sonst  das  kretische  dieses  denk- 
mals  anlautendes  digamma  noch  durchaus  festhält. 

Aber  ein  sei-  kann  die  wurzel  des  l).-tlv  wol  gewesen 
sein,  dXo^'  für  'H-6eX-o-r  stehen  mit  Übernahme  des  spiritus 
asper  von  den  nicht  augmentierten  formen.  Dann  ist  ver- 
gleichung  möglich  mit  got.  saljan  'als  opfer  darbringen',  anord. 
selja,  ags.  sellan,  afries.  sella,  asächs.  sellian,  ahd.  mhd.  seilen 
'übergeben',  ahd.  sala,  mhd.  sal  f.  'rechtliche  Übergabe  eines 
gutes',  mhd.  sal  m.  'vermächtni's'  (nlid.  in  sal-buch  =  mhd. 
s//l-buodi),  ahd.  fi(?--seli  f.  'Überlieferung,  verrat';  dieser  germa- 
nischen Wortfamilie,  zu  der  man  lit.  siülau,  smlyli  'anbieten', 
pa-siUla  f.  'angebotenes,  anerbietung'  nur  mit  nichtachtung  der 
vocal Verhältnisse  stellt  (Fick,  Vergleich,  wörterb.  11-,  481.  673. 
IIP,  319  f.). 

Die  bedeutungen  von  griech.  IXhv^  IXiod-ai  'nehmen'  und 
germ.  saljan  'übergeben,  einhändigen'   vermitteln  sich  einfach. 


^)  An  wenigen  stellen  hebt  sich  der  scliein  des  digammatischen 
anlauts  durch  leichte  textiinderungen.  So  ist  z.  b.  II.  /iMlS  avö(/  ^^l^eZv 
statt  uvÖQa  iXtlr,  O  71  "l?.ior  ctmvr  i?.o(ev  für  ainv  tloi^v  (vgl.  Faesi- 
Kayscr  z.  d.  st.)  zu  lesen. 


458  OSTHOFF 

wenn  man  nur  den  formalen  cbarakter  dieses  letzteren  in  be- 
tiaebt  zieht,  demgemäss  es  ja  causativum  oder  factitivum  ist: 
salja  <  indog.  ^solew  Mcb  lasse  nehmen,  mache  dass  jemand 
nimmt',  daher  'ich  übergebe',  zu  einem  starken  verbum  got. 
'''sUan  'nehmen'  =  tlnv,  wie  got.  nasja  zu  ga-nisan,  fra-atja 
zu  fra-üan  u.  dgl.  mehr.  Das  'rechtskräftige  übergeben'  wird 
zu  einem  'verkaufen'  bei  saljan  in:  anord,  selja,  das  auch 
'verkaufen'  ausdrückt,  anord,  sal  n.  und  sala  f.  'verkauf, 
handel',  engl,  io  seil  'verkaufen',  asächs.  gi-sellian  'als  kauf- 
preis  hingeben'  (neben  far-kbpdn  Hei.  4580.  4809),  md.  ver- 
seilen 'verkaufen,  verhandeln'  bei  Nie.  Jerosch.  (Mittelhochd. 
wörterb.  II,  2,  34  a.,  Lexer,  Handwörterb.  III,  224),  'Verkaufen' 
(d.  i.  'kaufen  lassen')  :  'übergeben'  =  'kaufen'  :  'nehmen';  und 
so  gewinnt  man  auch  von  dieser  seite  eine  die  vergleichung 
des  saljan  mit  griech.  tlav  'nehmen'  rechtfertigende  begritfs- 
parallele  an  lat.  emo  'kaufe',  eig,  aber  'nehme'  und  so  in  ad-imo, 
demo,  ex-imo  u,  a.  (vgl.  Paul.  Fest.  76,  4  Müller  '■  einer e^  quod 
nunc  est  mercari,  antiqui  accipiebant  pro  sümere^),  dazu  umbr. 
emantur  'sumantur',  air.  w-/ö-/m/m 'suscipio',  abulg.  ?m^,  lit. 
imh  'nehme',  auch  got.  7iifna  'nehme'  (verf.  Z.  gesch.  d.  perf.  142, 
ßezzenberger  in  seinen  Bcitr.  X,  72). 

Eine  nominalbilduug  mit  tiefstufenvocalismus  von  indog, 
sei-  'nehmen'  möchte  ich  nun  noch  in  griech.  ^a-r()o-^  n. 'sold, 
dienstlohn,  arbeitslohn'  erkennen,  wovon  XatQ-i-g  m.  ' Söldner, 
tagelöhner,  diener'  und  als  entlehnung  lat.  latro  m.  'mietling, 
Söldner',  übertr.  'freibeuter,  räuber'  (G.  Curtius,  Grundz.  d. 
griech.  etym.^  363,  0.  Weise,  D.  griech.  Wörter  im  lat.  31.  325. 
446,  Saalfeld,  Tens.  italogr.  612  ff".).  Dieses  Xargov  mit  Curtius 
und  Weise  an  ajco-Xavco  'geniesse',  Xtjig  'beute'  (für  '^Xäf-ic), 
lat.  lucrum,  got.  laun  'lohn',  abulg.  lovu  'jagd,  fang'  anzu- 
schliessen,  verbietet  sich  ja  oifenbar  des  vocalismus  wegen. 
Nach  unserer  auffassung  stünde  XätQov  vielmehr  für  *oXcc-tqo-v 
=  indog.  *sl-tro-m  'entnommenes,  empfangene  besoldung',  und 
das  wäre  begriff'licherseits  zu  .stützen  durch  aQvvfiai  'trage  für 
mich  davon,  erwerbe,  empfange,  bekomme',  insbesondere  'be- 
komme als  preis,  als  lohn  oder  belohnung',  [iioihov  aQvvoB-ai 
Plato,  f/iöl^-uQvo-g  und  iiiOih-äQvri-q  'der  lohn  empfangende, 
tagelöhner,  lohnarbeiter'.  Auf  nhd.  sold,  mhd.  soll  m.  'lohn  für 
geleistete  dienste',  'gäbe,  geschenk,  Unterstützung'  und  'was  zu 


ETYMOLOGICA  T.  459 

leisten  ist,  schuld,  pflicht,  dienst',  das  erst  seit  1200  im  mittel- 
hochd.  auftritt,  macht  allerdings  romanisches  sprachgut  als 
quelle,  nemlich  Italien,  soldo,  franz.  sou,  d.  i.  eigentlich  der 
münzname  lat.  solidus,  mlat.  soldus  'Schilling,  löhnuug'  —  franz. 
sohle  f.  'lohn'  erst  wider  aus  dem  deutschen  —  gegründeten 
anspruch;  und  für  die  doppeldeutung  des  mhd.  Wortes  pflegt 
man  den  einfluss  des  verbums  sollen^  mhd.  soln  anzurufen 
(Lex er,  Mittelhochd.  handwörterb,  II,  1055,  Kluge,  Etym.  wörterb. 
unter  sold).  Die  an  sich  nun  mögliche  deutung  des  sold  als 
eines  germanischen  erbwortes  aus  indog.  *sl'-to-s  'empfange- 
nes, rechtlich  bekommenes'  wird  somit  wol  zu  unterbleiben 
haben. 

12.    Schaden,  gr.  aoxtjd-rjg. 

lieber  die  sippe  von  got.  skapjan  'schaden,  unrecht  tun', 
ags.  scet5<5an  'schädigen',  ahd.  scadon,  mhd.  schaden  dass.,  got. 
skapis  n.  'schaden',  anord.  skat5e,  ags.  sceat^a,  asächs.  skabo, 
ahd.  scado,  ndl.  mhd.  schade  m.  nom.  ag.  '  Schädiger,  feind' 
und  (in  einzelnen  dialekten)  abstr.  'schaden,  verderben,  nach- 
teil'  bemerkt  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter  schade,  dass  dazu 
noch  nichts  vervvantes  aus  anderen  indog.  sprachen  gefunden  sei. 

Die  vergleichuDg  von  griech.  d-öxfj&fjg  adj.  'unversehrt, 
unverletzt,  wolbehalten',  das  von  Homer  an  der  epischen  und 
epigrammatischen  dichtung  eigen  ist,  hat  wol  hauptsächlich 
deshalb  nicht  allgemein  befriedigt,  weil  sie  gewöhnlich  mit 
vielem  wüst  von  unbrauchbarem  verquickt  vorgebracht  wurde 
(vgl.  Schweizer-Sidler,  Kuhns  zeitschr.  XVII,  306,  0.  Schade, 
Altdeutsch,  wörterb.  771  a.),  andererseits  auch  vielleicht  wegen 
formaler  bedenken  nicht.  Das  dem  griech.  compositum  zu 
gründe  liegende  neutrum  '''öxädoq  'Verletzung,  Schädigung', 
mor])hologi8ch  zu  got.  skapis  stimmend,  entspricht  im  ablaut  dem 
])erf.  got,  sköp,  ags.  scöd  (sceod)  und  den  nominen  anord.  sköb  n. 
'ungcmach,  elend,  schädliches  ding',  skce'tir  adj.  'schädlich'. 
Der  consonantismus  findet  seine  rechnung  beim  ansetzen  einer 
iudog.  Wurzel  skath-  mit  tcnuis  asi)irata,  unter  der  griech.  -i9-- 
uud  germ.  -p-  sich  ja  nach  den  Kluge'schen  regeln  (Kuhns 
zeitschr.  XXVI,  88  fl:,  vgl.  auch  Brugmanu,  Grundr.  d.  vergleich, 
gramm.  I  §  553  s.  408)  wol  vereinigen. 

Beiträge  /.iir  gearliiohte  ilor  deutschen  spräche.    XIII.  31 


460  OSTHOFF 

13.    Stehlen  und  hehlen. 

In  got.  stilan,  anord.  stela,  ags.  asächs.  ahd.  sielan  steckt 
"eine  specifiseb  germ.  wz.,  welche  dem  gr.  öt^qiöxo^  'beraube' 
nur  ungenau  entspricht".  So  Kluge,  Etym.  wörterb.  unter 
stehlen.  Ja,  noch  weiter  geht  Fick,  Vergleich,  wörterb.  IIP, 
347,  indem  er  unter  abweisung  von  oteqioxo),  öteqsco,  örtQO- 
fiai  die  begritflicli  gar  nicht  einleuchtende  combination  von 
gr,  "öTtXXttv  zusammenziehen  [d.  i.  vielmehr  'ein  kleid  zu- 
sammennehmen, die  segel  einziehen'  u.  dgl.j,  aroUa  falte" 
vorzuschlagen  wagt.    Anders  jedoch  noch  Fick,  Spracheinh.  383. 

Es  wird  bei  der  vergleichung  der  griech.  r-formen  sein 
bewenden  haben  dürfen,  wenn  wir  erwägen,  dass  hehlen,  ags. 
ahd.  helan,  fries.  heia  'geheim  halten,  verbergen',  dem  gemäss 
der  vervvantschaft  mit  lat.  celare,  oc-culere^  dam,  air.  celini  'ver- 
hehle', gr.  yMliä  'hütte,  Scheune'  altes  /  zukommt,  schon  in  den 
germanischen  urzeiten  mit  stehlen,  dem  zeitwort  für  das  'heim- 
liche wegnehmen',  ebenso  geläufig  in  formein  und  redensarten 
des  alltäglichen  lebens  verbunden  auftreten  mochte,  wie  uns 
heute  der  stehler  und  der  um  kein  haar  breit  bessere  hehler 
unzertrennliche  kumpane  sind.  Wenigstens  in  der  mittelhochd. 
litteratur  gehört  nachweislich  das  paar-  und  reimweise  zu- 
sammenfassen von  heln  und  stein  zu  den  allergewöhnlichsten 
Stilmitteln  und  Spracherscheinungen.  So  in:  7iu  helnt  und 
steint]  der  da  vei'hilt  der  ist  ein  diep  als  rvol  als  jener  der  da 
stilt\  hei  er  si7it  steler]  swä  ein  diep  den  andern  hilt,  dane 
rveiz  ich  weder  me  stilt]  wir  mähten  Sünden  vil  v  er  st  ein,  wolle 
uns  der  tiiwel  helfen  heln;  der  shi  yeferte  muoz  verheln  und 
vor  den  Hüten  wil  versteht  daz  leheii  und  den  namen  sin;  daz 
mein  daz  wir  unz  hiute  der  werlte  haben  vor  verstoln,  dazn 
wil  niht  me  sin  verhohi;  unverstoln  und  unverholn.  Vgl. 
über  diese  und  weitere  belege  Mittelhochd.  wörterb.  I,  675  a.  b. 
676  b.    II,  2,  634  a.  b.  635  a.  b. 

Diese  gewöhnung,  denke  ich,  wenn  sie  sehr  alten  datums 
war,  konnte  es  mit  sich  bringen,  dass  schon  in  der  periode 
der  germanischen  Spracheinheit  ein  '*sleran  die  wurzelanbil- 
dung  —  nach  Scherer,  Z.  gesch.  d.  deutsch,  spr.^  s.  XIV  und 
s.  214  'Wurzelübertragung'  (vgl.  über  das  wesen  des  Vor- 
ganges   auch    J.   Franck,  Anz.   fda.   XI,  14)   —   an   helan   er- 


ETYMOLOGICA  I.  461 

fuhr.  Daher  stelan  mit  /.  Vielleicht  hat  auch  helan  —  sei 
es  vor  oder  nach  der  formalen  anbildung  ■ —  auf  *steran  bezw. 
stelmi  den  einfluss  gehabt,  dass  der  nebensinn  des  'heimlich- 
tuns,  heimlichvollbringens',  insbesondere  auch  von  'heimlich 
sich  wegbegeben',  in  letzteres  erst  hineinzog.  Ich  meine  die 
eigentümliche  gebrauchsweise  wie  in  engl,  to  steal  a  marriage 
'heimlich  heiraten',  to  steal  into  'sich  einschleichen',  to  steal 
lipon  'überfallen',  to  steal  one's  seif  arvmj  =  nhd.  sich  weg- 
stehlen. Aehnliches  im  nihd.,  wo  auch  kumher  stein,  minne 
stein  (Mittelhochd.  wörterb.  II,  2,  634  b.,  Lexer,  Handwörterb. 
II,  1173),  und  damit  übereinstimmend  ags.  hine  hestelan  'clam 
se  subducere'  (Ettmüllcr,  Lex.  anglosax.  730),  sowie  anord. 
stela-sk  'to  steal  in  or  upon',  stelask  frä  'to  steal  from  one 
auother'  (Cleasby-Vigfusson,  Icel.-engl.  dict.  591  b.);  wornach 
kaum  zu  bezweifeln  ist,  dass  solche  Verwendung  von  stelan 
im  germanischen  hoch  zurückreicht.  Aber  griech.  oteqsco,  öre- 
QiOxco  kennen  sie  nicht  und  bezeichnen  nur  das  einfache,  auch 
offen  geschehende  'rauben,  berauben'. 

14.  Triefen,  air.  druchl. 
Ags.  dreöpan^  asächs.  driopan,  ahd.  triofan,  mhd.  triefen 
'tropfen,  triefen',  ndl.  druipen  dass.,  dazu  ahd.  mhd.  irouf  m., 
mhd,  troufe  i.  'traufe',  anord.  drope^  ngs.  dropa^  a&ächs.  dropo, 
ahd.  tro//'o  und  tropf o,  mhd.  tropfe  m.  'tropfen'  führen  auf  eine 
Wurzel  des  indog.  ablauts  dhrenb-,  dhnmb-,  dhrüb-  (in  ndl. 
druipen  aoristpraes.),  dhrüb-.  Der  letzten  stufe  wird  auch  air. 
drucht  'tau,  tautropfen'  angehören,  indem  es  ein  grundsprach- 
liches *dhrup-lu-s  oder  *dhrup-ti-s  widerspiegelt.  Wegen  -cht- 
als  urkeltischer  entwickelung  von  indog.  -pt-,  z.  b.  in  air.  secht 
'Septem',  wecÄ^  'neptis',  vgl.  Windisch,  Kuhns  beitr.  VllI,  IG  f., 
Kurzgef.  ir.  gramm.  §  36  s.  9,  Brugmanu,  Gruudr.  d.  vergleich. 
gramm.  I  §  339  s.  272. 

15.    Zwerch,  gr.  jtQajiiöfq. 
Wenn  den  griechischen  ürztcn  (Galen)  öiäcpgcq^a  'Scheide- 
wand, querwand'  das  brustfell,  die  quer  durch  den  leib  gehende 
und    die   brusthöhle    von    der   höhle   des    Unterleibs  scheidende 
starke  haut,   bezeichnet,   so  ist  das  eine  ähnliche  vorstellungs- 

31* 


462  OSTHOFF 

weise,  wie  sie  in  unserem  zwerch-fell  zu  gründe  liegt.  Eine 
ähnliche  auch  bei  dem  discretörium  des  Caelius  Aurelianus, 
völlig  die  gleiche  bei  iränsversum  saeptum  des  Celsus,  womit 
diese  Kömer  den  griech.  terminus  zu  verdrängen  suchten,  ohne 
erfolg  freilich,  wie  die  romanischen  sprachen  zeigen. 

Sollte  nicht  entsprechendes  schon  hinter  dem  viel  älteren 
griech.  worte  für  'Zwerchfell'  zu  vermuten  sein,  hinter  den 
schon  homerischen  jtQajriÖtg  fem.  plur.,  seltener  und  später 
(Find.,  Eurip.)  auch  jiQajcig  sing.,  übertr.  als  vermeintlicher  sitz 
aller  geistigen  regungen  'gedanken,  sinn,  verstand,  neigung, 
gefiihl,  herz'?  Dann  könnte  der  versuch  einer  formalen  ver- 
mittelung  mit  unserem  adj.  zwerch  (quer)  angezeigt  erscheinen, 
denn  dass  in  dem  wurzelhaften  teile  jtqccx-,  wenn  man  -Qajr- 
=  indog.  -rq-  setzt,  schon  viel  lautliche  Übereinstimmung  mit 
got.  Jjwairh-s  'zornig',  eig.  'quer',  anord.  pver-r  'quer,  hinder- 
lich', ags.  bweorh  'verkehrt',  a.h(\.  dwerah,  twerh  'schräg,  quer', 
mhd.  dwerch,  ttverch,  md.  querch  'schräg,  verkehrt,  quer'  be- 
steht, ist  unverkennbar.  Die  vergleichung  von  jcQajiiötq  mit 
lat.  corpus,  aind,  k7'p  f.  'gestalt,  erscheinung,  Schönheit',  die 
L.  Havet,  Mem.  de  la  soc.  de  ling.  VI,  18  vorschlägt,  kann  ich 
aus  begrifflichen  gründen  nicht  gutheissen. 

Die  germanischen  formen  für  'zwerch,  quer'  weisen  auf  ein 
indog.  '''•luerqo-;  im  got.  ist  pwairha-  und  '*ptvairhi-  =  indog. 
*tnerqe-  zu  gunsten  der  ersteren  Stammform  ausgeglichen,  das 
abgeleitete  fem.  abstr. /'wairÄd  'zorn'  sollte  lautgesetzlicher  als 
^pwairlvei  erscheinen.  Vgl.  Kluge,  German.  conjug.  42  ff.,  verf. 
in  diesen  Beitr.  VIII,  281  ff.  Für  das  griech.  wäre  von  einem 
mit  *luerqo-  im  ablaut  stehenden  '*üirqö-  auszugehen. 

Es  fragt  sich:  was  wird  im  griech.  aus  dem  ursprüng- 
lichen anlaut  rfg-  oder  überhaupt  aus  dieser  lautgruppe? 
Einen  anhält,  den  einzigen,  so  viel  ich  sehe,  geben  formen  des 
Zahlwortes  'vier'.  In  TttQaöi  dat.  (homei-.  und  poet.),  zerQarog 
(vgl.  iit.  ke(w)r/as,  abulg.  relvritt/ß),  rirgd-xig,  r£TQa-x6öioi, 
xtTQa-  als  anfangsglied  zahlreicher  com])osita  ist  inlautend 
-t/()-  zu  -tq-  geworden.  Bei  rQä-7rtC,a,  da  es  =  urgriech. 
^jirjQä-jihdnc  <  '•'•qr/Qa-jitdla  ist,  liegt  als  uralt  der  anlaut 
qrfQ-  vor.  Vgl.  Joh.  Schmidt,  Kuhns  zeitselir.  XXV,  44  ff., 
Gust.  Meyer,  Griech.  gramm.^  §  400  s.  370  f.  Die  fälle  sind 
also  dem  für  jTQajTig  anzunehmenden,  wo  es  sich  nur  um  ehe- 


ETYMOLOGICA  I.  463 

maliges  im  anlaut  gestandenes  rfQ-  handeln  kann,  nicht  völlig 
conform. 

Dennoch  ist  in  anbetracht  eben  von  rga-xtL^a,  wenn  hier 
sogar  ein  qrJ-Q-  sich  zu  rfg-  >  tq-  reducierte,  nicht  abzu- 
sehen, wie  so  ein  einfacheres  ursprüngliches  rfQ-  an  sich  nicht 
den  gleichen  wandel  in  tq-  hätte  erfahren  sollen.  Aber  'singu- 
läres  wird  singulär  behandelt'.  Und  das  'singulare'  der  Sach- 
lage bestand  bei  einem  ur-urgriech.  *TfQaqö-  'quer'  darin,  dass 
nach  einem  alten  rf-  im  anlaut  der  ersten  ein  -q-,  d.  i.  -k'"-, 
im  anlaut  der  gleich  folgenden  zweiten  wortsilbe  stand.  Was 
wunder,  dass  aus  dem  *t/()«;c"'o-  durch  vorausnähme  der  guttu- 
ralen (velaren)  artikulation  im  wortinnern,  welcher  der  mit  / 
in  t/-  grosse  lautähnlichkeit  habende  labialparasit  uachschlug, 
zunächst  ein  *xfQax''6-,  daraus  dann  ^jiQajxo-  wurde?  Wir 
nehmen  jetzt  wol  allgemein  einen  ähnlichen  Vorgang  bei  lat 
coquo  für  *quequö  und  qulnque,  wo  indog.  *peqö,  '^peuqe  vor- 
ausliegen, an;  vgl.  Ph.  Bersu,  Die  guttur.  und  ihre  Verbindung 
mit  V  im  lat.  62  anm.  186,  Brugmann,  Grundr.  d.  vergleich, 
gramm.  I  §431  s.  322  (anders  noch  über  quinque  verf.  Morphol. 
unters.  1, 94).  In  dem  uns  beschäftigenden  griech.  falle  mochte 
die  veranlassung  zur  assimilation  der  anlauts-  au  die  inlauts- 
gruppe  so  zu  sagen  noch  dringlicher  als  in  den  beiden  latei- 
nischen erscheinen,  weil  dort  die  aufeinanderfolge  von  rf-  und 
noch  einem  consouanten,  der  liquida  -q-,  der  ausspräche  be- 
sondere Schwierigkeiten  darbieten  musste. 

Die  annähme  eines  zu  dem  germ.  '^pwcryj)-  'zwerch,  quer' 
stinmienden  griech.  adj.  '■^jxQanö-  hat  für  7iQajx-[(S-i.c,  auch  den 
wert,  dass  sie  das  innere  -n-  zu  erklären  hilft;  denn  wenn 
dieses  =  urspr.  indog.  -q-  ist,  müsste  es  vor  l  lautgesetzlich 
als  -r-  auftreten,  wie  in  ric,  und  rtrcü,  rr////.  Von  '^ütQano-c.  ist 
jiQaji-iq  abgeleitet  wie  z.  b.  von  dfn'o-i^  df^iv-'iq,  djuteXo-g 
afiJttX-lg,  ajiXöo-g  ajiko-tg,  OrQorfo-g  öTQocp-ig,  (pcÜMQO-g  <pa~ 
XäQ-ig  u.  dgl.  mehr. 

HEIDELBERG,  den  1.  dez.  1887.  H.  OSTHOFF. 


BEHAGHP]LS  ARGUMENTE  FÜR  p:iNE 
MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE. 

in  der  schiift:  'Zur  frage  nach  einer  mittelhochdeutschen 
Schriftsprache',  Basel  1886  (sonderabdruck  aus  der  festschrift 
der  Universität  Basel  zum  Heidelberger  Jubiläum),  ist  Otto 
Behaghel  zu  dem  resultat  gelangt:  *Es  wird  also  doch  bei 
der  annähme  einer  mhd.  Schriftsprache  sein  bewenden  haben 
müssen',  s.  18.  Diese  entscheidung  ist  belangreich  genug,  um 
eine  sorgfältige  priifung  der  einzelnen  argumente  Behaghels 
und  seiner  Schlussfolgerungen  zu  rechtfertigen.  'Die  einzige 
unbedingt  zuverlässige  grundlage  der  forschung  bilden  die  Ur- 
kunden, vorausgesetzt,  dass  bei  ihrer  Verwertung  gewisse  vor- 
sichtsmassregeln  nicht  ausser  acht  gelassen  werden. •)  Mit  dem, 
was  aus  diesen  denkmälern  zu  entnehmen  ist,  müsste  verglichen 

')  Es  fragt  sich,  was  darunter  zu  verstehen  ist;  a.  a.  o.  schränkt 
Bcliaghel  die  (doch  erst  zu  beweisende)  absolute  giiltigkeit  der  Urkunden 
als  quelle  für  die  lebeudige  Volkssprache  dahin  ein,  dass  er  aufzeich- 
iiungen,  welche  volle  endvocale  auch  an  stelle  ahd.  kürzen  zeigen,  vom 
beweisuiaterial  ausschliesst.  Ich  glaube  nicht,  dass  damit  alle  vorsichts- 
massregeln  erschöpft  sind.  Von  grösster  Wichtigkeit  wäre  gewesen,  festzu- 
stellen, ob  und  wie  weit  wir  der  Orthographie  überhaupt  vertrauen  dürfen, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  mit  phonetischen  lautwerten  zu  operieren. 
Es  ist  von  vornherein  sehr  wahrscheinlich,  dass  ein  orthographischer 
usus  geherrscht  haben  wird;  verirrungen  sind  nur  zu  vermeiden,  wenn 
es  gelingt,  das  Verhältnis,  das  zwischen  diesem  orthographischen  usus  und 
den  lautformen  besteht,  klarzulegen.  Am  zuverlässigsten  ist  das  meiner 
meinung  nach  nur  möglich  aufgrund  lautgeschichtlicher  Studien 
im  gebiete  der  betreffenden  mundart.  Ich  bemerke,  dass  ich  im  folgen- 
den vorzugsweise  vom  (süd-)schwäbischen  ausgegangen  bin,  um  so  mehr 
als  ich  eine  umfassendere  Untersuchung  über  die  historische  entwick- 
lung  eines  schwäb.  localdialekts  seit  längerer  zeit  in  angriff  genom- 
men habe. 


KAUFFMANN,  MITTELHOCHD.  SCHRIFTSPRACHE.  465 

werden  was  die  reime  und  der  innere  bau  des  verses  für  die 
spraclie  der  dichter  erschliessen  lassen',  s.  5.  In  diesem  sinne 
hat  Behaghel  die  Untersuchung  aufgenommen;  dieselbe  be- 
wegt sich  auf  dem  gebiete  der  lautlichen  und  flexivischen 
merkmale.i) 

Er  stellt  s.  6  für  das  alemannische,  einschliesslich  des 
schwäbischen,  den  satz  auf:  'Nur  die  kurzen  flexions- 
vocale  des  althochdeutschen  sind  im  mittelhochdeutschen  zu 
dem  irrationalen  c  geworden;  die  langen  vocale  bestehen  bis 
tief  in  das  13.  Jahrhundert  als  volle  vocale  fort  und  sind 
noch  gegen  1300  nicht  völlig  in  den  irrationalen  vocal  über- 
gegangen'. Bezüglich  der  chronologischen  Schlüsse  ist  doch 
der  alte  zweifei  zu  erheben,  ob  denn  die  Orthographie  der 
Schreiber  genau  sehritt  gehalten  hat  mit  den  Veränderungen 
im  lautstande.  Mir  ist  wenigstens  eines  sehr  bezeichnend.  In 
schwäbischen  Originalurkunden,  die  ich  auf  dem  Staatsarchiv 
in  Stuttgart  eingesehen  habe,  dringt  die  diphthongierung  der 
mhd.  J,  U  etwa  erst  vom  jähre  1510  ab  in  der  Schreibung 
durch,  bereits  von  den  öOger  jähren  des  15.  jhdts.  an  sind 
aber  einzelne  ci  nachweisbar  und  zwar  in  der  art,  dass  ein- 
und  dieselben  Wörter  an  einem  und  demselben  orte,  in  denen 
nach  Zeugnis  einzelner  papicre  di])iithong  gesprochen  worden 
sein  muss,  in  der  weitaus  überwiegenden  zahl  der  Urkunden 
noch  mit  i  geschrieben  werden.  In  Horb  z.  b.  1463  zcyt, 
zeylten,  weys,  tveyssen  u.  a.  gegen  stark  überwiegende  zi(^ 
wis  etc.  gleichzeitiger  und  späterer  Urkunden.  Ich  glaube,  man 
wird  gut  tun,  für  die  Umformung  einer  Orthographie  auf  grund 
eines   veränderten   lautstaudes  mehrere    decennieu    in    aurecli- 


*)  Es  wäre  lohnend,  die  syntaktischen  formen  der  litenitur- 
denkniäler  in  ähnlicher  weise  mit  denen  der  geschäftssprache  des  täg- 
lichen lebens  zu  vergleichen,  wozu  die  oft  sehr  ausführlichen  Urkunden 
zusammen  mit  der  entwicklungsslufe  heutiger  dialektsyntax  reiches 
material  liefern  können.  Es  erhebt  sich  die  frage ,  ob  die  (unbestreit- 
baren) syntaktischen  ab  weichungen  von  der  volksraässigen ,  land- 
läufigen ausdrucksweise  für  eine  über  den  muudarten  stehende  literatur- 
sprache  geltend  gemacht  werden  können  oder  müssen.  Ein  Verfasser 
kann  sich  durchaus  der  mundartlichen  laute  und  flexioneu  bedienen,  aber 
sehr  willkürlich,  d.  h.  kunstmässig  von  den  syntaktischen  formen 
der  mundart  sich  emancipieren,  für  seinen  stoff  und  seine  Situationen 
sie  sieh  umgestalten. 


466  KAUFFMANN 

nuug  zu  bringen.  Aehnlicli  verhält  es  sieh  mit  dem  terminus 
ad  quem.  Behaghel  gelaugt  zu  dem  Schlüsse,  dass  noch  gegen 
1300  die  vollen  endvocale  gesprochen  worden  seien,  weil  um 
diese  zeit  die  a,  0,  u,  i  der  eudungen  sehr  viel  seltener  wer- 
den. In  den  von  mir  eingesehenen  Urkunden  des  13.  und  14. 
Jahrhunderts  besteht  überhaupt  kaum  eine  dififerenz  im  procent- 
satz  der  vollen  endvocale  zu  den  ' geschwächten' 1),  so  auch 
Pfeiffer,  Freie  Forschung  s.  333  f. 

Ich  sehe  ferner  von  den  bei  Birlinger,  Die  alem.  spräche 
rechts  des  Rheins  s.  154  f.  gegebenen  beispielen  ab  (vgl.  z.  b. 
priorhmn  1342.  widun  1383,  hoson  1465  u.  v.  a.)  und  bemerke, 
dass  die  0  der  superlativendung  -ost  (vgl.  Birlinger  a.  a.  0. 
s.  160  u.  a.)  das  ganze  15.  jhdt.  hindurch  im  datum  üblich 
sind:  zwaintzigosten  1420.  sechziyosten  1460  etc.,  ferner  143D 
der  ersamen  frowun  {geü.  sg.)  gewerof  U7id  bezalt.  \Ai9  dieselbmi 
zway  pfwLd  u.  a.  Der  schreibusus  hält  an,  nachdem  die  buch- 
staben  ihren  nenn  wert  längst  verloren  haben.  Darin  liegen 
Schwierigkeiten,  die  meiner  meinuug  nach  bei  beurteilung  der 
frage  nach  einer  Schriftsprache  noch  nicht  deutlich  hervor- 
gekehrt worden  sind.  Wir  haben  in  vielen  fällen  keinen  ein- 
zigen anhaltspunkt  oder  beweis  dafür,  wenn  wir,  in  der  regcl 
von  der  heutigen  gemeinsprache  geleitet,  einen  buchstaben  mit 
diesem  oder  jenem  phonetischen  wert  versehen.  Wie  grosse 
vorsieht  erforderlich  ist,  möchte  ich  an  folgendem  beispiel  ver- 
anschaulichen: Schon  in  ahd.  periode  finden  wir  nicht  selten 
für  n  >  0",  ou  geschrieben,  vgl.  z.  b.  Denkmäler^  582.  616. 
Weinhold,  Bair.  gram.  s.  103.  Mhd.  gram.  s.  83.  Braune,  Ahd. 
gram.  §  45  anm.  5  u.  a.  Besonders  häufig  ist  diese  Orthographie 
in  der  Vorauer  handschrift,  vgl.  Waag,  Beitr.  XI,  123.  143.  153 
u.  a.  Diese  selbe  Schreibung  erscheint  weiterhin  in  den  schwä- 
bischen Urkunden  und  entspricht  durchaus  dem  heutigen  laute 
Schwab,  ao  (auch  =  mhd.  o?<),  der  entsprechung  von  ahd.  ö. 
Ich  sehe  mich  auf  grund  dieses  tatbestandes  genötigt,  bereits 
im    10.  11.  jhdt.  wenigstens  fürs  schwäb.  eine  entwicklung  von 


1)  Vgl.  z.  b.  auch  aus  den  von  Bartsch  veröffentlichten  Engelberger 
denkmälern  Germ.  18, 66  ff.:  zügon,  unkehilot,  ha/sschkgi/on,  bereginol, 
rilerschol,  gemiesot,  valterlot,  hanlsclüegolon  {plaudo),  brahtosl,  manon, 
hatlosl,  die  im  14.  Jahrhundert  aufgezeichcnt  sind. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  467 

ö  :  0"  unter  gewissen  andern  orts  näher  auszuführenden  be- 
dingungen  zu  coustatieren.  ^Yas  hindert  uns  anzunehmen,  dass 
z.  b.  der  Sehwabe  Heinrich  von  Rugge  nicht  gebot :  tot  99,  1.  2 
sondern  geholt  :  to'^t,  erko"s  :  ver!o"s  103,  12.  14.  gro"z  :  geno"z 
106,  7.  9  u.  s.  w.  gesprochen  und  gereimt  hat?  Was  verbietet, 
dem  buchstabeu  o  den  lautwert  ö"  beizulegen?  In  diesem 
sinne  ist  die  frage  nach  einer  mittelhochdeutschen  literatur- 
sprache  neben  der  lautgeschichtlichen  eine  in  eminentem  sinne 
orthographische.  Es  muss  auch  für  die  Untersuchung  der  reime 
der  mhd.  denkmäler  immer  strenger  das  Verhältnis  der  buch- 
stabeu zu  den  betr.  lautwerten  festgestellt  werden;  von  den 
heutigen  mundarten  aus  ergeben  sich  bei  systematischer  be- 
handlung  der  einzelnen  lautvorgänge  in  vielen  fällen  mehr  als 
wahrscheinliche  resultate. 

In  den  von  Behaghel  angezogenen  fragen  handelt  es  sich 
nur  um  die  lautwerte  der  endsilbenvocale.  Auch  hiefür 
wäre  es  eine  sehr  dienliche  auskunft,  wenn  wir  über  die  heutige 
lautung  in  den  obd.  mundarten  in  allen  stücken  zuverlässig 
orientiert  wären.  Wenn  nach  Behaghels  meinung  in  denselben 
z.  b.  ahd.  -ä  lautgesetzlich  bis  ins  13.  jhdt.  in  seiner  klang- 
farbe  erhalten  geblieben  ist,  also  lliohtera  (zweimal)  a.  1292 
(s.  8)  unmittelbar  etwa  Notkers  nom.  pl.  -ä  entspricht,  wenn 
andererseits  Birlinger  a.  a.  o.  s.  154  berichtet,  dass  heute  noch 
im  Allgäu  a  rein  gesprochen  werde  in  dötra  töchter,  muoddra 
mütter  u.  s.  w.  könnte  mau  versucht  sein,  an  eine  crhaltung 
der  alten  klangfarben  bis  heute  zu  glauben,  wenigstens  in  ge- 
wissen isolierten  strichen.  Da  nun  zudem  nach  der  ansieht 
Behaghels  die  'analogiewirkung'  bei  der  Verbreitung  der  irra- 
tionalen -e  eine  sehr  wichtige  rolle  gespielt  hat,  wäre  es  sehr 
wol  denkbar,  dass  an  vereinzelten  orten  auch  umgekehrt  auf 
gruud  des  vollen  vocals  ausgeglichen  worden  wäre,  und  wenn 
wir  davon  kenntnis  hätten,  wäre  es  für  die  entscheidung  von 
durchschlagender  Wichtigkeit.  Allein  wir  werden  im  folgenden 
nur  selten  in  der  läge  sein,  heutige  lautstufen  nutzbar  machen 
zu  können.  Ich  behandle  die  einzelnen  enduugsvocalc  ge- 
sondert, und  werde  ausser  den  Urkunden  auch  eine  anzahl 
'literaturdenkmäler'  heranziehen.') 


*)  Ich   habe  allerdings  nur  eine  auswahl  getrulieu  und  nicht  alles 


468  KAUFFMANN 

I.  Ahd.  -ö-  der  endung: 
a)  Die  schwachen  -öw-verba  (vgl.  Weinhold,  AI.  gr. 
§  357  f.  361  ö").  Der  tathestand  des  materials  ergibt,  vgl. 
Kehaghel  s.  15,  dass  von  der  ältesten  zeit  ab  fast  überall  neben 
den  -o-himen  auch  solche  mit  -e-  auftreten.  Ich  verzichte  hier 
die  belege  Behaghels  noch  einmal  anzuführen.  Von  den  Ur- 
kunden zunächst  abgesehen,  findet  sich  in  der  von  Birlinger 
Germ.  18,  186  ff",  publicierten  (schwäbischen)  Deutschen  Fran- 
ciscauerregel  des  XIII.  jhdts.  ein  einziger  inf.  SivX -on  {hezzeron 
s.  193),  sonst  durchweg  -en  (z.  b.  hezzeren,  manen  s.  193).  Eine 
besonders  interessante  fuudgrube,  bilden  die  von  Grieshaber 
herausgegebenen  'Deutschen  predigten  des  13.  jhdts.' 
Hier  finden  sich  äusserst  zahlreiche  belege  voller  vocale,  die 
Schreiberpraxis  ist  von  der  der  Urkunden  durchaus  nicht  ver- 
schieden, maclion  1,  4  ;  machen  1,  15  u.  a.  machot  :  machet 
1,33.  dienon  1,36  ;  gedienen  1,37.  dienot  1,44  ;  dienet  1,46. 
laden  :  laden  1,47.  wainon  :  wainende  1,82.  n-ainol  1,31  ;  ge- 
wainet  1,165.  salhostii  1,45_,  getroslost ,  zerhrailost  1,164  ; 
fcrdieneslu  1,  166,  ferdienon  1,  166.  marterost,  marterot  1,  166 
;  marteren  1,  167.  volgot  2,  3  ;  volget  1,  163.  2,  3.  wotiot,  wonon 
2,  1  ;  wonet  2,  3,  ivoncge  2,  2.  gidingot,  dingot  2,  45  ;  gedinget 
ebda,  wissost  2,  43  (wusstest).  phlanzot  :  gephlanzet  2,  47.  lohot 
2,51  ;  ze  lohende  2,49.  vaston  2,  15  ;  vastende  1,  166.  2,48 
u.  a.  helon  2,  18  :  betende  2,  48.  dienon  1,29  ;  dienende  2,48 
u.  a.  schamon  2,  18  ;  schämen  2,  75.  gervalot  :  ivaleti  2,  112. 
füron  2,  113  ;  füren  2,  111,  füregen  1,  7.  ebda,  füron,  fürot  : 
fiiref  1,8  u.  V.  a.  Die  beurteilung  der  einzelnen  Schreibungen 
wird  erschwert  durch  die  sehr  früh  eingetretene  vermengung 
der  -ön  und  -^/i-verba,  vgl.  Braune,  Ahd.  gr.  §  369  anm.  1 ;  wie 
bei  Otfrid  fasten  neben  faslön,  klagen  neben  klagön  u.  a.  so  bei 
Notker  chlagfm  :  chlagcn,  gcrön  :  geren,  Jagön  :  jagen  (vgl. 
Beitr.  IX,  520),  ladön  :  laden,  leidon  :  leiden,  lobön  :  loben, 
mandn  :  majien,    spiWn  :  spilen,    üzstadön  :  üzstaden,    tarön  : 


einschlägige  benützt.  Vgl.  noch  Pfeiffer,  Freie  forschung  s.  331.  Auch 
ist  nicht  aus  dem  äuge  zu  lassen,  dass  sowol  die  Sammlung  Behagheia 
(vgl.  s.  ()  unten)  als  meine  eigenen  urkuudenbelege  nur  aus  einer  be- 
schränkten zaiil  von  Schriftstücken  genommen  sind,  in  vielen  Urkunden 
sind  volle  vocale  überhaupt  nicht  belegbar. 


I 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  469 

laren^)  und  es  wäre  denkbar,  dass  diese  fusion  mit  der  zeit 
immer  grössere  ausdehnung  angenommen  hätte,  und  oben 
voUjot  :  volgel,  tvonot  :  wonet  etc.  darauf  zurückgeführt  werden 
müssten.  Es  ist  übrigens  zu  beachten,  dass  Notker  zwar 
sorgest,  fragest  aber  spilest  (Boethius  1556'  Hattem,),  ebenso 
leidet  (aber  folget  u.  a.),  leiden  (aber  folgen)  schreibt,  die  auf- 
fassung  Keiles  demnach  nicht  unangreifbar  ist,  vgl.  noch  Zs. 
fda.  30,319.  Besondere  beachtung  verdienen  jedenfalls  formen 
der  predigten  wie  vrägon,  volgot,  n-onon  :  wonege,  vaston  :  vaste- 
gest  (2,  49),  füron  :  furegen  u.  a.,  vgl.  2,  X.  Dazu  kommen 
noch  folgende  Schreibungen:  lonan  inf.  1,  22  ;  lonon  1,  2S.  29. 
ferdampnaten  :  ferdamjmoten,  -ton  \,  40.  41.  vastan  inf.  ;  vaston, 
vasfotif,  vastegest  2,  49.  Vgl.  dienan  bei  Behaghel  s.  8  a.  1276. 
vertgan,  manat  1298.  vcrchumbcran  1282  s.  11,  vgl.  Weinhold, 
AI.  gr.  §  356.  370.  381.  Andererseits  ist  koinon  kommen  inf. 
1,  47  geschrieben  (vgl.  rverdon  (=  werdan)  ahd.  glossen  1, 310, 20), 
ferner  müson  conj.  praet.  1,  43  (=  müssten).  Nun  ist  in  den 
predigten  von  fol.  73^*  bis  zur  sechstletzten  zeile  von  77*  (vgl. 
Grieshaber  I,  XVII)  ein  anderer  schrciber  tätig  gewesen,  der 
eine  total  verschiedene,  zweifellos  verwilderte,  Orthographie  ein- 
geführt hat.  Es  finden  sich  aber  trotzdem  eine  reihe  deutlicher 
kennzeichen,  die  ihn  als  Schwaben  (im  gegensatz  zum  aleman- 
nischen Oberland,  vgl.  Grieshaber  II,  XII  ff.)  erkennen  lassen. 
Da  Behaghel  seine  regel  auch  auf  den  schwäbischen  dialekt 
sich  erstrecken  lässt,  muss  näher  auf  diese  partie  eingegangen 
werden.  Hier  habe  ich  bei  den  alten  5«-verben  überhaupt 
kein  o  gefunden,  vielmehr  erscheint  an  seiner  stelle  u:  heiiutin^ 
dancut,  ich  fastun,  gerechtvertgutcr,  dienun,  lo^nunde  1,  84; 
oplierun,  ferstänun  (vgl.  ferstainon  2,bi))  1,85;  begerut,  machut, 
hero^but,  gediejiun  1,  86  u.  ö.;  begerust,  lo^bim,  furdrunl  1,  87; 
geschaudgudust,  geschaudgut  1,88;  mangelun  \,S9-^  ich  betun  vn 
fvachiin,  enl los/gut  1,90;  wainut,  redunt,  machutun,  /rndrul  \.,^i. 
Ausserdem  findet  sich  geschrieben:  ferscmahatun  1,  83;  Unat 
1,84;  comant  1,84;  gefolgan  1,86  (vgl.  auch  ctainaden  1,89); 
ferner:    lohnen  1,  85;    dienen  1,  85;    berobel  1,  86  (s.  o.  bero^bul 


>)  Vgl.  Kelle,  Das  verbum  und  nomen  in  Notkers  Boethius  in  den 
Sitzungsberichten  der  Wiener  akadeniie  bd.  109,  s.  260  f.  (im  folgenden 
als  Kelle,  Sitzungsber.  citiert),    Zs.  fda.  30,  298.  i319. 


470  KAUFFMANN 

1,  86.  87.  90);  gedimen  (s.  o.  gedienun)  1,  86;  geschadgethi  (s.  o. 
geschaudgudust  1,88)  1,89;  vgl.  andererseits  geschaufun  1,88; 
ansmaidus  (einstmals)  1,  90;  vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  §  30.  32. 
Behaghel  hat  sich  über  diese  -u-  nicht  weiter  geäussert  (vgl. 
s.  16),  obwol  sie  auch  in  seinem  materiale  vertreten  sind: 
mrichim  1296  (Bebenhausen),  vervestinim  1281  (Ulm.),  manun 
1295  (zweimal  ebda.),  giordenul,  gid'mgut  1296  (ebda.),  urkun- 
dun  1307  (ebda.),  vordrun  1274  (Bern).  L.  Laistner  hat  Beitr. 
VII,  548  die  vocale  der  verbalendungen  in  einer  Zwiefalter 
BenedictinerregeH)  behandelt.  Die  handschrift  befindet  sich 
auf  der  kgl.  öffentlichen  bibliothek  zu  Stuttgart  (cod.  thcol.  et 
])hil.  no.  230),  ist  im  anfang  des  13.  jhdts.  geschrieben  und 
für  die  geschichte  des  schwäbischen  dialekts  von  grosser  be- 
deutung.  Ich  besitze  eine  eigene  copie  dieser  regel,  deren 
deutscher  text  eine  interlinearversion  darstellt.  Die  ön-verba 
erscheinen  hier  wie  in  der  bereits  besprochenen  (schwäbischen) 
partie  von  Grieshabers  predigten  mit  dem  flesionsvocal  -u 
nicht  o:  2.  sg.  praet.  leitust,  vürtust  14  b,  demütust  15  b;  3.  sg. 
l)raet.:  tninnul,  horsamut,  widerut;  ebenso  3.  sg.  praes.:  gewon- 
lichut  gloriatur  3  b,  horsamut  9  a.  10  a,  irvoUut  18  a.  19  b.  20  a 
u.  ö.,  ?}iinnut  10a,  murmurut  10a,  volhd  10a,  hezzirut  10b, 
aiscul  30a,  aisckut  36b,  trahlut  31a,  ofßuä  Ala,,  offerut  AZh, 
spotul  50b,  hozzut  57b  (])ulsauerit  vgl.  Laistner  a.a.O.  s.  553 
anm.*);  3.  plural.  praes.:  minnuni  9a,  geriint  9b,  nahvolgund 
10a,  scouhunt  13a,  segenuud  14b,  sundunt  29b,  wandilimt 
36  b,  uirrunt  42  b.  46  a,  wonunt  47  a  (vgl.  oben  s.  468  tvonot)\ 
dazu  die  imperative  hihlunt  confitemini  15  a,  dienunt  seruite 
24  b;  ferner  die  infinitive:  wandelun  3  a,  dienun  4b,  minnun 
7  a.  7  b.  8  a.  8  b  u.  ö.,  muotrviUmi^  kestigun,  vazzun,  wisun  (visi- 
tare)  7  a,  v/üchiin  1  h,  gesegemm  1  h,  bihtimSa,  gehot^sa/min  Sh, 
iruoUun  8  b.  13  b  u.  ö.,  betun  8  b.  33  a.  44  b  u.  ö.,  mernm  (augere) 
35  b,  offinun  41  a,  widerun  (excusare)  50  a,  seginun  52  a,  uestinun 
53  a  und  schliesslich  von  part.  praet.:  gehezzirut  6a.  34a, 
irvollut  8b  u.  ö.,  vur'wollut  9b,  unglmäsuf  (inmaculatus)  12b, 
gitemperut  17  a,  endut  18a.  22  a.  33  a,  gisunderut  23b.  27  a 
u.  ö.,  gahtut  23  b.  34  a,  girefsiit  25  b.  29  b,  tvundut  26  a,  girrul 
28  b,   gihannul  28  b.  39  a,    gidienut  30  a,    insculdut  32  b,    gisellut 


')  Vgl.  auch  Pfeifter,  Freie  forsch,  s.  331  ff. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  471 

39  a,  giordinul  41  b,  l)ezz,rui  45  b,  gwonlichut  49  a,  gofferut  51  a, 
u'mnacchut  51b,  gUihtrut  52a,  dienut  53b,  bösirut  53a.  Da- 
gegen erscheint  das  pari  praes.  -önde  niemals  bIs -unde  son- 
dern stets  als  -end  (so  auch  Laistner  a.  a.  o.  s.  559  f.):  vUichun 
mi.  :  vlüchende  7  b,  minnend  13  b  (aber  tninnim  inf.),  iriiullend 
14  b  (aber  iruollun  inf.),  segenend  18  b  (inf.  segetiun),  aiscend 
33  a  (3.  sg.  praet.  aiscut),  ebenso  horsamend,  wandlend  9  b,  »«<7'- 
milendis  10  a,  mayiejid  24  a.  36  b,  dienend  33  b.  35  a,  ^«  seilend 
53  b,  2/  m  wonend  53  b.  Neben  dem  inf.  dienim  4  b  erscheint 
ebenda  dienen  inf,  neben  a/*cw/  30  a,  ö/^c//  expetit  56  b  und 
umgekehrt  wurkut  operatur  3b  (neben  wurkenden  ebda.);  ge- 
runt  9  b  aber  gert  3.  sg.  praes.  53  a,  begerne  inf  8  a,  ^^r/  part. 
praet.  35  a,  bigert  46  b,  ger  petat  34  b  und  neben  gedienut  part. 
praet.  30  a  finden  sich  gedient  17  a.  33  b,  gedienet  46  a  ebenso 
neben  segenun  inf.  gisegint  part.  praet.  27  b.  33  a,  neben  glrefsut 
29  b,  girafsit  31a,  girafsut  39  a,  rafsut  60  a;  sundunt  3.  pl. 
praes.  aber  gisundit  34  a,  gibezzirut  34  a  gegen  gibezzirt  41a, 
girrut  28  b  aber  girret  44  b,  vazzim  uestire  7  a  aber  giuazzit 
uestitus  51  a.  Vgl.  ferner  gibannut  :  gibantim,  betun  :  gibst  wie 
dienun  :  gidient  u.  a.  Dass  ^/ö//e  Äa;'  (uocavit)  3  a,  ^/a///  uocati 
Oa  einem  giladut  entsprechen  würden  wie  Laistner  a.  a.  o. 
s.  529  will,  ist  nicht  wahrscheinlich,  vgl.  zfdudi  convocet  6a, 
und  ladin  inf.  48  b  (vgl.  oben  s.  468  ladon  :  laden  bei  Notker). 
Von  interesse  sind  schliesslich  die  formen  des  conj.  praes.: 
manei  2  a,  nahvolgei  6  b.  7  a.  17  b.  18  a.  28  a  u.  ö.,  jnüdei  la- 
cescat  14  a,  volgei  17  a,  segenei  17  b,  ordinei  24  a,  masei  con- 
taminet  29  a,  irvollei  29  a,  diene/n  (3.  pl.)  32  b,  ahteigen  con- 
siderent  33  b,  segeneigen  benedicant  36  b,  temperei 'dl  Si,  bezzirei 
37  b,  girivTvei  38  b,  virrei  vacet  39  a,  rüwei  40  a,  o//m  43  b, 
bitei  exspectet  43  b,  betei  44  b,  ahtei  47  b,  garnei  mereat  53  a, 
insculdei  excuset  58  a,  horsamei  58  b.  59  a.  b,  ordineigen  59  a; 
dagegen  w«m  existimet  12  a.  16  a,  nahvolgi  19  a.  60  b  (vgl.  oben 
-volgei),  ir-vollen  compleant  38  a  (vgl.  oben  -vollei),  ebenso  virren 
uacent  41b,  riiwen  41b,  beten  40  a,  betin  50  b,  off'ren  51b, 
virdamnen  IIa  (1.  pl.).  Da  neben  hovertei  superbiat  56b,  ho- 
vertigend  superbiendo  58  b  sich  findet,  kann  Jenes  wol  nur  aus 
'^-vertegi  entstanden  sein  und  wir  erhalten  dadurch  einen  festen 
anhaltspunkt  für  die  beurteiluug  der  übrigen  ^/-formen.  Diese 
erseheinen  gerade  bei  ön-verben  {dienun  :  dienein,  seginun  :  sege- 


472  KAUFFMANN 

nei,  helun  :  hetei  u.  s.  w.),  von  dem  ö-timbre  ist  also  keine 
spur  mehr  geblieben,  vgl  die  aleni.  chlagoe,  trahtohee,  deo- 
noen  (BR),  gizuchoie,  touhoge,  machoge,  ahtogen  u.  s.  w,  Kögel, 
Beitr.  IX,  507.  Zwischen  o  und  e  hat  sich  als  übergangslaut 
/  gebildet  (vgl.  gizuchoie  u.  a.,  Braune,  Ahd.  gr.  §  310  anm.  4.  5) 
der  später,  wie  in  andern  fällen,  vor  hellen  vocalen  zu  g  geworden 
ist,  das  aber  lautgesetzlich  im  alem.  in  der  lautfolge  -ent- 
schwinden mussle  {ahtoe  >  ahtoie  >  ahtoge  >  ahtege  >  ah- 
tegi  >  ahtei).  Verfolgen  wir  nun  die  entwicklung  der  ön-verba 
von  der  mitte  des  13,  jhdts.  an,  so  erscheinen  in  den  schwäb. 
Urkunden  folgende  belege:  1253  gelohet,  irren  inf.,  geueste- 
nut.  1260  f erwandlet  part.  praet.,  ierren  inf.,  beuestnet.  1281 
gevertiget.  1287  gevestenot,  geurkundot,  gevestenot.  .292  ge- 
urkundot  (2  mal),  geuestenot.  1293  geurkundot,  geuestenot. 
1295  gewerl.  1298  bewerte  gezaichent^  schadegeti,  —  schaidegun 
(1.  schade-),  schaidegtti,  gemani,  hedinget  —  schadegeti.  1301 
7nit  gesamnofer  haut.  1305  clagen  inf,,  ze  ainer  bewerten  ge- 
zügnust.  1307  gedingot.  1314  gewert,  vertigan,  geirren,  rvan- 
delen.  1315  gedingot  (2  mal),  7veren  inf.,  shaffun  inf.,  geur- 
kundot (2  mal),  gelobet,  besigelete,  geuestenot.  1318  hesserot, 
gewerot,  geuertigot,  vertigetin.  1320  gewerot,  uertigon.  1322 
vertigen,  manen  inf.  1325  geuertigut.  1326  ze  uertigamie.  1327 
vertigan,  vertigate,  ze  vertigenne.  1330  vertigan.  1333  gerve- 
rat,  ze  mananne,  geuertigat.  1335  ze  mananne,  geuertigat.  133G 
vertigan.  1337  gewerat,  rveran,  uertigan,  uertigati,  geuertigat, 
ze  schadiganne.  1341  gewerat,  vertigan,  geuertigat.  1348  ge- 
wert, uertigan,  geirren.  1351  globan  (ich  gelobe),  ebenso  lehan 
(ich  lebe).  1354  gewerot,  vertigan,  geverlegot,  ermanof,  gevor- 
derat.  1359  ungewerot.  1362.  1365  gewerat,  vertigan  u.  s.  w. 
Uebcrblicken  wir  die  Schreibungen,  so  ergibt  sich,  dass 
durchweg  und  überall  neben  o-,  w-formen  solche  mit  -e-  (i) 
auftreten,  bereits  in  den  Grieshaber'schen  predigten  macht 
sich  auch  a  geltend,  das  in  späterer  zeit  immer  mehr  an 
ausdehnung  gewinnt  (vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  §  79).  Es  fragt 
sich,  wie  diese  vielformigkeit  («,  o,  u,  e,  i)  sprachgeschichtlich 
beurteilt  werden  muss.  Für  Behaghel  bleibt  s.  16  nur  die  'an- 
nähme, dass  wir  es  mit  wirklichen  "doppel formen"  zu  tun 
haben:  'in  den  einen  wurde  wirklich  c  {i),  in  den  andern  wirk- 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  473 

lieh  0  bezw.  n  (a)  gesprochen.  Diese  doppelformen  könnten 
rein  lautlieh  entstanden  sein,  d.  h.  unter  gewissen  aeeentver- 
hältnissen  könnte  der  voeal  sich  geschwächt,  unter  gewissen 
andern  seine  vollere  gestalt  bewahrt  haben.  Die  erklärung 
wäre  an  sieh  möglich,  wenn  in  den  frühsten  und  spätesten  Ur- 
kunden das  Verhältnis  zwischen  alter  und  neuer  bezeichnung 
das  gleiche  wäre  .  .  tatsächlich  nimmt  aber  ja  die  neue  be- 
zeichnung immer  mehr  zu;  es  müsste  die  unter  bestimmten 
accentverhältnissen  eintretende  Schwächung  sich  vor  unsern 
äugen  vollziehen  .  .  wir  werden  somit  zu  der  annähme  ge- 
zwungen, dass  die  einen  der  doppelformen  —  natürlich  die 
mit  den  vollen  vocalen  —  die  rein  lautliche  entwicklung 
darstellen,  dass  dagegen  die  jüngeren  formen  der  analogie- 
wirkung  ihre  entstehung  verdanken.'  Leider  erfahren  wir 
nichts  näheres,  was  wir  uns  unter  dieser  'analogiewirkuug'  zu 
denken  haben.  Doch  werden  wir  kaum  fehlgehen,  wenn  wir 
voraussetzen,  dass  Behaghel  die  «-formen  bei  alten  ön-verben 
nach  analogie  der  en-  und  yaw-verba  wird  entstanden  gedacht 
haben.  An  sich  Hesse  sich  das  vorstellen,  man  versuche  aber 
am  überlieferten  formbestand  damit  durchzukommen.  Der 
Schreiber  von  Grieshabers  predigten  hat  I  s.  33  in  der  3,  pers. 
sing,  praes.  ?nachot  die  lautgesetzliche  form  'gesprochen',  da- 
gegen auf  derselben  seite  in  machet  die  analogiebildung  voll- 
zogen, vgl.  ausserdem  ladoti  neben  ladest  I,  47;  wainon  :  wai- 
nende  I,  82;  ferdienestu  :  ferdienon  I,  166  u.  s.  w.,  s.  o.  s.  468  fi". 
Diese  annähme  ist  durchaus  unstatthaft  und  unmöglich.  Man 
denke  sich  ein  und  dasselbe  Individuum  beständig  zwischen 
diesen  beiden  möglichkeiten  schwanken!  Es  wäre  sehr  wol 
möglich,  dass  verschiedene  Individuen  in  ganz  verschiedener 
weise  verfahren,  und  so  Hesse  sich  z.  b,  das  gegenseitige 
Verhältnis  der  einzelnen  Schreiber  in  den  bei  Behaghel  auf- 
geführten Urkunden  fassen,  in  der  spräche  des  einen  wären 
in  gewissen  formen  die  lautgesetzlichen  entsprechungen  ver- 
treten, während  ein  anderer  in  ebendenselben  formen  die  ana- 
logischen bildungen  aufgenommen  hätte.  Ich  kann  mir  aber 
nicht  vorstellen,  wie  ein  und  derselbe  Schreiber  7;Wo/mwM  neben 
priolinen  (bei  Behaghel  s.  10  a.  1275),  Agnesun  neben  Agnesen 
(ebda.  a.  1277),  herlzogon  neben  hertzogen  (a.  1287),  erhon  neben 
erben   (s.  11   a.  1282),    kilclmn   neben   kilchen  (a.  1285)  u.  s.  w. 


474  KAÜFFMANN 

habe  sprechen  können.  Um  bei  den  ö«-verben  zunächst  zu 
bleiben  vgl.  man:  gesamenoter  :  hesamenen  s.  7  a.  1293;  gedhigut 
:  gedinget  s.  9  a.  1296  und  die  zahlreichen  oben  mitgeteilten 
Schwankungen.  Ausserdem  muss  aber  sehr  viel  merklicher, 
als  dies  bei  Behaghel  geschehen  ist,  hervorgehoben  werden, 
dass  der  von  ihm  s.  6  aufgestellte  satz,  dass  die  langen  vocale 
des  ahd.  als  volle  vocale  fortbestehen  nicht  genau  der  spräche 
der  betr.  denkmäler  und  Urkunden  entspricht.  Auch  Behaghel 
führt  unter  den  'vollen  vocalen'  der  öw-verba  solche  auf  wie: 
dienan  inf.  s.  8  a.  1276.  machvn  s.  8  a.  1296.  vertgan,  veriigan^ 
manat  (ermahnt)  s.  9  a.  1298.  gedienat  1307.  manun  1295.  gi- 
ordenut,  gidingut  1296.  urkundun  1307.  vercliumheran  s.  11 
a.  1282.  vordrun  s.  13  a.  1274,  und  ich  habe  oben  s.  469  flf. 
zur  genüge  zahlreiche  belege  für  derartige  u-  und  a-vocale 
beigebracht.  Der  eine  Schreiber  in  den  predigten  (s.  o.) 
kennt  die  o-vocale  gar  nicht.  Behaghel  äussert  sich  s.  16 
allerdings :  'so  viel  ist  sicher,  dass  die  qualität  der  alten  vocale 
schon  im  13.  jahrh.  nicht  rein  bewahrt  blieb'.  In  welchem 
Verhältnis  stehen  nun  aber  diese  a-  und  z^schreibungen  zu  den 
vorauszusetzenden  ö?  Hier  befindet  sich  in  der  argumentation 
Behaghels  eine  noch  empfindlichere  lücke.  Ich  komme  hierauf 
erst  zurück,  wenn  ich  die  übrigen  kategorien  Behaghels  werde 
besprochen  haben. 

Wir  finden  also  in  den  Urkunden  aus  dem  letzten  drittel 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  bei  den  öw-verben  ahd.  periode 
vielfach  an  der  stelle  von  ahd.  o  auch  mhd.  o  geschrieben,  da- 
neben e,  a,  u  (vereinzelt  auch  /,  bei  Behaghel  dienin  s.  11 
a.  1282).  Die  grösste  Verbreitung  haben  o,  u,  e  und  zwar  ist 
es  kaum  möglich  o  und  u  auf  verschiedene  dialekte  zu  ver- 
teilen (vgl.  auch  Weinhold,  AI.  gr.  §  363  s.  367),  wenn  auch 
hervorzuheben  ist,  dass  im  schwäbischen  zum  unterschied  vom 
alem.  u  stark  überwiegt,  in  gewissen  denkmälern  allein  herrscht, 
während  aus  alem.  Urkunden  immer  nur  vereinzelt  belege  dafür 
beigebracht  sind.  Die  erklärung  Behaghels,  wonach  die  e- 
formen  producte  einer  'analogiewirkuug'  seien,  rausste  ab- 
gewiesen werden.  Es  lässt  sich  ferner  der  nachweis  führen, 
dass  Behaghel  seine  Schlüsse  auf  unzutreffende  prämisseu 
gebaut  hat.  Er  geht  allem  nach  von  der  Voraussetzung  aus, 
dass   die   öw-verba  in   ahd.  epoche  in  sämtlichen  formen  ü  ge- 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  475 

habt  hätten,  was  nicht  richtig  ist.  Bereits  Braune,  Beitr. 
II,  136  hatte  beobachtet,  dass  das  o  des  Stammes  bei  der  ö-classe 
von  Notlier  im  conj.  praes.  nicht  bezeichnet  werde,  sondern 
dass  fast  immer  -oe-  geschrieben  wird;  vgl.  auch  Kögel,  Beitr. 
IX,  508.  In  weiterem  umfange  ist  von  Fleischer,  Zs.  fdph. 
14,  158  die  annähme  Weinholds  (AI.  gr.  s.  364)  als  unrichtig 
zurückgewiesen,  dass  Notker  durchaus  -ön-  habe,  und  s.  170 
erkannt  worden,  dass  die  participialendung  des  praet.  -öt- 
durchgehends  kurz  wird  vor  *  schwerem  suffix',  zuweilen  auch 
vor  leichtem  suffix'  s.  171;  ähnliches  gilt  für  die  praesentische 
participialendung  -önt  und  schliesslich  gelangt  Fleischer  s.  172 
zu  dem  allgemeinen  resultat,  'dass  vor  kurzem  suffix  das  u 
sich  lang  erhalten  kann,  dass  es  aber  kurz  werden  muss 
vor  schweren  suffixen'.  Diese  selbe  auffassung  liegt  auch  den 
darstellungen  von  Kelle  zu  grund,  vgl.  Das  verbum  und  nomen 
in  Notkers  ßoethius  in  den  Sitzungsberichten  der  Wiener 
akademie  1885,  bd.  109,  s.  258  ff'.  Das  verbum  und  nomen  in 
Notkers  Capeila,  Zs.  fda.  bd.  30,  295  ff".  Das  verbum  und 
nomen  in  Notkers  Aristoteles,  Zs.  fdph.  18,  342  ff'.  Das  schwan- 
ken unserer  Überlieferung  in  bezug  auf  setzung  des  circumflexes 
war  seitdem  immer  so  aufgefasst  worden,  als  ob  nachlässigkeit 
des  Schreibers  dasselbe  verschuldet  habe,  die  statistischen 
Sammlungen  haben  nun  aber  einleuchtend  erwiesen,  dass  auch 
in  dem  fehlen  des  circumflexes  regel  herrscht.  Nur  ist  es 
nicht  richtig  mit  Fleischer  und  Kelle  (a.  a.  o.)  anzunehmen, 
dass  das  gewichts-  oder  quantitätsverhältnis  der  flexionsendungen 
für  länge  oder  kürze  des  o  massgebend  gewesen  sei,  dieser 
annähme  widersprechen  gar  zu  zahlreiche  ausnahmen,  vielmehr 
beruht  die  quantität  des  o  auf  den  allgemeinen,  allerdings 
nicht  näher  zu  fixierenden  (vgl.  Beitr.  XII,  550  f.),  gesetzen  für 
die  Verteilung  der  nebentöne  im  Satzzusammenhang, 
wie  dies  in  nuce  bereits  von  Paul,  Beitr.  VI,  137  ff',  dargelegt 
worden  ist.  Paul  hat  hier  s.  139.  140  f.  auch  gerade  die 
differenz  zwischen  -öt  und  -ot  neben  -et,  -ote  neben  -ete,  -te 
in  diesem  sinne  besprochen.  Wenn  demnach  wenigstens  für 
die  spräche  Notkers  der  formbestand  der  ist,  dass  in  einer 
und  derselben  form  langer  und  kurzer  ableitungsvocal  be- 
standen hat  (vgl.  z.  b.  machola  Boeth.  95^'"  .-  machoia  Boeth. 
30a26_  141^33)^  die  quantität  desselben  keineswegs  fest,  sondern 

Beiträge  zur  gesclüchte  der  deutschen  spräche.     XIII.  32 


476  KAUFFMANN 

wechselnd  war  (man  vgl.  die  Sammlungen  Keiles  namentl. 
Sitzungsber.  109,  258  flf.),  darf  nicht,  wie  das  Behaghel  getan 
hat,  für  beurteilung  sämtlicher  jüngerer  entwicklungsformen 
des  13.  jhdts.  derselbe  lange  r7-laut  zu  gründe  gelegt  werden. 
Vielmehr  ist  festzuhalten,  nach  den  als  immer  wertvoller  sich 
ergebenden  orthographischen  regeln  Notkers,  dass  möglicher- 
weise in  den  ö-formen  der  ableitungsvocal  bestehen  bleiben 
konnte,  dass  aber  notwendig,  die  vorauszusetzenden  o-formen 
in  e  übergehen  und  als  solche  im  13.  jhdt.  erscheinen  muss- 
ten.  Die  Überlieferung  der  denkmäler  des  13.  jhdts.  ist  in 
eben  dieser  weise  zu  erklären,  die  flexions formen  mit 
'vollen'  vocalen  entsprechen  den  ahd.  längen,  die  da- 
neben existierenden  mit  e  sind  die  fortsetzer  der  ahd. 
kürzen.  Diese  möglichkeit  der  erklärung  ist  gleichfalls  von 
Paul,  Beitr.  VI,  139  anm.  1  ausgesprochen  worden:  'es  ver- 
diente einer  genaueren  Untersuchung,  ob  das  schwanken  der 
flexionsendungen  in  der  Übergangszeit  vom  ahd.  zum  mhd. 
wirklich  nur  auf  einer  Unsicherheit  in  bezug  auf  die  laut- 
bezeichnung  beruhte,  oder  ob  dabei  wirklich  verschiedene 
laut  stufen  vorliegen,  die,  unter  verschiedenen  syntaktischen 
bediugungen  entwickelt,  mit  einander  um  die  herschaft  kämpfen. 
Das  resultat  wäre  dann  im  allgemeinen  ein  sieg  der  abge- 
schwächten formen  gewesen,  woneben  sich  aber  namentlich 
im  alem.  volle  endvocale  behauptet  hätten ,  die  nur  durch 
ausgleichung  etwas  unter  einander  gemischt  wären'.  Ueber 
die  letztere  annähme  näheres  unten.  Den  e  (neben  o)  der  Ur- 
kunden des  13.  jahrh.  gegenüber  handelt  es  sich  also  nicht  um 
eine  Schwächung  aus  n  zu  e  (wie  das  Behaghel  s.  16  annimmt), 
sondern  bereits  in  ahd.  zeit  hatten  sich  doppelformen  im 
Satzzusammenhang  entwickelt  i);  in  der  verkennung  dieser  tat- 
sache  beruht  der  eigentliche  fehler  der  Behagbel'schen  argu- 
mentation. 

Bei  der  inneren  Unmöglichkeit  der  erklärung  Behaghels, 
wonach  e  neben  o  auf  einer  analogiewirkung  beruhte,  s.  o.  s.  473, 
findet  sich  demnach  ein  ganz  anderer  ausweg  in  der  geschichte 
der    ahd.   ön-verba,    wie    der    übrigen    categorien    mit    vollem 


•)  Nicht,  wie  Behaghel  s.  10  als  möglich  aufstellt,   in  luhd.  periode. 


\ 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  477 

eudungsvocal.  Die  g-foimen  ergeben  sich  als  fortsetzung  der 
unter  einem  bestimmtem  satzrhytbmus  entstandenen  ahd.  -0-, 
die  frage  bleibt  nur  noch,  wie  die  0,  a,  ic  des  13.  jhdts.  auf- 
zufassen sind.  Darüber  ist  vorerst  eine  entscheidung  nicht 
möglich,  es  müssen  vorher  die  Schicksale  weiterer  ö-laute  unter- 
sucht werden. 

b)  Plural,  praet.  der  schwachen  verba  ahd.  -iöm, 
-tot,  -tön,  vgl.  Weinhold,  Al.gr.  §367.  Behaghel  bringt  bei 
s.  7:  Freiburg  i.  B. :  hatton,  Irahton  1265.  irzugiton,  hezugeton 
1276.  hatto7i  1282.  seilon  1291.  hatten  1302.  S.  8:  hatten 
1326.  S.  9:  Bebenhausen:  leitan,  clagton,  hettan  1307.  Ulm: 
hetun  (4  mal)  1298.  horten  1299.  Salem:  horton  1282.  het- 
tunt,  gelobtun  1290.  S.  10:  heton  1290.  hatton,  irwalton,  hanch- 
ton,  rumden,  horten  1290.  herton  (gehörten)  1294.  St.  Gallen: 
hetton  1294.  S.  11:  Thurgau:  hatton  (2  mal)  1276.  1285. 
tailton  1285.  Geschichtsfreund:  massewayidon,  haton  1275.  hor- 
ten 1276.  hatton  (3  mal)  1282.  S.  12:  hatten  1290.  horten 
1297.  Aarau:  horton  1292.  clagton  1304.  S.  13:  Bern:  vrag- 
tin  \214.  Basel:  ha(te7i,  horten  1279.  vertigotten  1299.  Ausser- 
dem horten  1238/39.  S.  17:  Man  vergleiche  dazu  aus  Gries- 
habers  Predigten:  waineton  1,  16.  clagton  ebda,  horton  1,26. 
ivolton  1,38.  volgeton  1,29.  haton  1,40.  wändon  ebda,  fer- 
ko^fton  1,61.  santon  \,\^\.  vrägeton  1,1Q2.  süchton2,d.  krie- 
geton  2,  7.  kerton,  tvändon,  sühton,  hörtoji  2,  9.  fulton,  heton 
2,  16,  ebenda  wizzon.  hrähton  2,  HO  u.  s.  w.  Dagegen  ge- 
täten  2, 16.  wänden  2, 46  u.  s.  w.  Bl.  73  ff.  erscheint  der  eudungs- 
vocal wider  als  -u-\  ferscmahatun  1,  83.  randun  1,  86.  ebda. 
setun  (1.  seitun),  dagegen  setin  (1.  seitin)  1,  91.  wessut  1,  90 
(vgl.  wizzon  2,  16).  furtun,  machutun  1,  91.  Ebenso  in  der 
Zwiefalter  Benedictinerregel:  nwltun  2a,,  Trätun  Aa,  ge- 
urägetun,  hörtun  4  b,  dumm  49  a,  rihtun  55  a,  saztun  56  b,  ^Z- 
huctun  6 1  a,  -e?i  ist  bei  den  schwachen  verben  überhaupt  nicht 
zu  belegen.  Dagegen  tritt  es  in  den  Urkunden  auf  {haten 
1296.  sähen  und  hörten  1305  u.  a.)  ist  aber  verhältnismässig 
selten,  die  gewöhnlichen  formen  sind:  1287  hattun  (4  mal), 
1292  santun,  hatun,  sähen  und  hör  tun,  129d  hatun,  saztun,  1295 
gelopton,  1305  hatun,  1315  hatun,  1327  hettan,  gehortan,  1337 
hettan,  \ZM  hettan,  ldQ2  kauf  tan,  13Q1  tiettan,  IdQS  kouftan  u.  a. 
Wie  bei  den  (7«-verben  ist  der  späteren  zeit  die  Schreibung  -a- 

32"' 


478  KAUFFMÄNN 

eigen,  vgl.  Pfeiffer,  Freie  forschung  s.  331  f.  (belege  aus  Strass- 
burg). 

c)  Genetiv  und  dativ  pl.  der  starken  und  schwachen 
fe mini  na:  Bei  ßebaghel  s.  7:  Freiburg  i.  Br.:  1265  minnen 
D.  PI.  V6\^' sfvesleran  (sechsmal  D.  PI.,  zweimal  G.  PI.)  rehan 
G.  PI.  S.  8:  1332  closerinan  D.  PI.  1333  hrwjgan  D.  PI.,  hruggen 
D.  PI.  (zweimal).  Fürstenberg  s.  8:  1276  frowen  D.  Pl.  (zweimal). 
1290  hmiivestinan  D.  PI.  S.  9:  Ulm:  1294  vrowen  D.  PI.  1295 
irotven  Xy,V\.  Salem:  1290  ve^o  G.  PI.  S.  10:  truwon  "D.  ?\., 
sluron  G.  PI.  1294  truwon,  hantveslinon  D.  PI.,  iriuwen  D.  PI. 
(zweimal).  St.  Gallen:  1275  swestron  D.  PI.,  srvestron  Gen.  PI. 
(dreimal).  1277  gnaden  D.  PI.  (zweimal),  triuwen  D.  PI.  1287 
minnen  D.  PI.  (zweimal),  sachen  D.  PI.  1291  hanivestinon  D.  PL, 
triiwen  D.  PI.  1294  iriuven  (zweimal)  stunden,  eren  D.  PI.  1307 
ginaden  D.  PI.  S.  11:  Thurgau:  1276  triuwen,  der  ewigen  vroden. 
1282  iriuven  u.  ö.  Geschichtsfreund:  1275  vrowon  D.  PI.  1282 
vrowon  D.  G.  PI.  (fünfmal),  gnadon  G.  PI.  (zweimal).  1287  schul- 
don  D.  PI.  1288  swesteran  G.  PI.  (zweimal),  eron  G.  PL,  selon 
G.  PL,  swesteran  G.  PI.  1290  matton,  würzon  D.  PI.  S.  12:  1297 
froivan  G.  D.  PI.  (viermal).  Aarau:  1301  eron,  frowon  D.  PL, 
geherden  G.  PL,  einungen  D.  PI.  1304  frowon  D.  PI.  (zweimal), 
frowen  D.  PI.  Bern:  1271  eron  und  seildon  ane.  S.  13:  1275 
Sachen  G.  D.  PI.  Basel:  1276  rehen  G.  PL,  vrowen  G.  PL  S.  14: 
1280  vrowen.  1283  frowen  D.  PI.  1283  mulinan  D.  PL  1284 
fasten  D.  PI.  Mulhouse:  messen  D.  PI.  Das  Verhältnis  der 
vocale  ist  hier  wie  bei  den  verben  ö,  «,  e,  beachte  besonders 
in  einer  und  derselben  Urkunde  1288  swesteran  neben  sweste- 
ron  als  G.  PI.  Vielfach  zeigen  gerade  die  ältesten  Urkun- 
den zahlreichere  e  als  die  jüngeren,  vgl.  auch  Behaghel 
s.  17.  Sehr  interessant  ist  nun  aber  gen.  pl.  fem.  veso  1290 
(cod.  dipl.  Salem.),  ebenda  G.  pl.  sw.  mascuL  grozzo.  Aus 
Grieshabers  predigten  führe  ich  an:  to^htero  G.  PL  1,  10. 
kröno  G.  PL  1,29.  hrosemo  1,39.42.  rvundo  G.V\.  1,43.  ßugo 
G.  PL  1,  46.  hino  G.  PI.  1,  16.  der  swalwo  2,  34  (vgL  II,  XI), 
daneben  die  dative:  türon  1,2.  rütoji  1,  11.  hinon  1,  15.  zungon 
1,30.  genadon  1,33  [genaden  1,34),  ebenso  -on:  en  1,163; 
von  binsoyi  und  von  widon  2,  111  u.  a.  VgL  noch  mit  forchtun 
\,  89.  In  der  Zwiefalter  Benedictinerregel  finden  sich: 
der  wachlo   G.  PL   (vigiliarum)  17  a.  19  a,    der  lietmottino  19  b. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  479 

der  vespero  uespertinorum  23  b,  sculdo  culparum  26  b,  der  sicho 
selo  28  a,  rüto  virgarum  28  b,  der  uasto  45  b.  Dagegen  dat.  pl.: 
sculden  culpis  27  a,  wahtun  17  a.  18  a.  24  a,  tvahtin  18  a.  21a. 
22  b,  Uetmottinun  19a.  21  b,  ahslun  28  b,  vastun  29  b,  wilun 
(horis)  37  b,  turun  (fores)  39  b,  selun  (animabus)  57  b,  lezzen 
leetionibus  18a.  19a  u.a.  In  den  Urkunden  dagegen  1360 
frotva  gen.  pl.,  sonst:  1296  wlsen.  1336  selan.  1341  vesan, 
wisan.  1362  selan.  1412  vesa.  1426  seilen  (=  seien)  als  gen. 
pH.  Dativformen  sind:  \292  genadun.  \'29d  ?visun.  129b  rvisen, 
gehaerden.  1296  ivison.,  tvisen.  1298  wisen,  genaden.  1314  vrowen. 
1327  IrhiTven,  wisan,  schinran,  wochan.  1333  vrowan.  1335  vro- 
tvan.  \Z^1  schulden.  1345  wi^a.  1359 />-o;ra;?.  lAQl  geschweslran 
u.  s.  w.,   vgl.  Weinbold,  AI.  gr.  s.  439  f. 

d)  Genet.  und  dat.  pl.  der  scbwachen  mascul.  und 
neutra.  Bei  ßehaghel  s.  7:  Freiburg  i.  B.:  1272  erbun  G. 
D.  PI.  1275  komindon  G.  PI.,  fürston  D.  PI.,  nachgehuron  D.  PI. 
\2n  gehuron  G.V\.  heiligouY).^.  1303  Mr^m  G.  PI.  S.  8:  1326 
bürgen  D.  PI.  1332  siechan  D.  PI.  Fürstenberg:  1276  erben  D.  PI. 
1284  heiligen  G.  PI.  1290  hailigen  D.  PI.  1292  erbon  D.  PI. 
(zweimal).  Bebenbausen:  1296  der  vorgenanto,  der  burgo  G.  PI. 
S.  9:Ulm:  1294 /?m-^?i  G.  PI.  1295  ^>wr^?m  D.  PI.  129S  Ämvm 
G.  PI.  1299  bescheidnan  D.  PI.  sw.,  erben  G.  PI.,  bürgen  G.  PI. 
1307  ^;-&^?«  G.  PL,  zn-elfboten  G.  PI.  Salem.:  1273  vorderon  D. 
PI.  (zweimal).  1282  herren  G.  PI.  1290  ^rozzo  (G.  PI.  sw. 
Masc).  S.  10:  herren  D.  PI.  1290  erbon  D.  PI.  1294  studon, 
bamon(J),  bo7igarton,  w^'^öw  (!)  D.  PI.,  ^rfton  (achtmal),  Iluton{\)G. 
PL,  burgon  G.  PL,  Druhsaezon  G.  PL,  fto//^;«  D,  PI.  St.  Gallen: 
1287  herron  G.  PI.  (dreimal),  hertzogon  D.  PL,  herron  D.  PL, 
hert zogen  G.  PI.  1291  er&en  G.  PI.  1294  ^rZ^o«  D.  PL  (zweimal). 
1307  kernen  G.  PI.  S.  11:  Thurgau:  1276  vorderon  G.  PI.  1282 
erbon  D.  PL  (zweimal),  burgon  D.  PI.  (dreimal),  ^/-J^«  D.  PL, 
den  hailigen  (zweimal),  hurgen  G.  PL  1282  den  hailigen,  nacho- 
wßw  D.  PL  (dreimal).  1285 /m^e?z  G.  PL  Gescbichtsfreund:  1282 
herron  G.  D.  PL  vorgenanion  herron  G.  PI.  1287  herron  G.  D.  PL 
(dreimal),  vorderon  G.  PL,  gotzhusron  (!)  G.  PI.  (zweimal).  1 290 
erbon,  güsellon  D.  PI.  S.  12:  kernen  G.  PL,  herren  D.  PL,  erben 
G.  PL  1297  er^^n  G.  PI.  Aarau:  1292  er&o?*  D.  PL,  der  vorgenan- 
don  kindon(\).  1301  fremdon  G. PL,  mannon  G. PL,  ^«^o/i  D.  PL, 
oe^^e«  D.  PL  1304  erbon  D.  PI.  (dreimal),  kernen  G.  PI.  (zweimal). 


480  KAUFFMANN 

1310  erbon  D.  PI.  (fünfmal).  1313  kernen  G.  PI.  (dreimal),  vor- 
dren D.  PL,  erben  G.  D.  PL  Bern:  1251  ze  den  heiligon.  1271 
erben  D.  PL  S.  13:  1275  der  gleulngen  manschen,  der  erwirdi- 
fjen  (jeisiliclien  mannen.  Basel:  1276  kindon  G.  PL,  pheningon 
G.  PL  (zweimal),  eigeron  G.  PL,  lülen  G.  PL  1279  Herren  G.  PL 
1276  erben  D.  PL  erbon  D.  PL  (1278  kinden  G.  PL).  S.  18: 
1280  nachkomen  D.  PL  1282  erben  D.  PL  1286  erben  D.  PL 
Mulhouse:  (1295  kinden  G.  PL)  thutschen  herrin  G.  PL  1310 
erbeji  D.  PL 

Aus  Grieshabers  predigten  führe  ich  an:  füzstapho 
G.  PL  1,45.  der  belialteno  1,49.  der  gfito  werche  1,164.166. 
vil  haligo  1,166.  2,48.  der  bocke  und  der  ochso  2,115.  ochso 
2,29  ;  ochsen  nom.  pl.  ebda,  vil  blümo  2,3.  der  Judo  2,  16. 
der  u7idertano  2,31.33  u.  ö.  der  geler to  ebda,  der  wissago 
2,  33.  der  erwelto  2,  46.  der  gaistelicho  hierto  2,  31.  36.  vil 
hierto  (hirten)  2,  78.  der  cwarto,  töto,  rehto  vgl.  II,  XL  An- 
dererseits: zwelfpoion  1,30  :  zwelfpoien  1,31  D.  PI.  under  den 
hailigon  1,  40.  o^gon  1,  163.  164  u.  ö.  o^'gen  2,  34.  m  den  blü- 
mon  2,  1.  den  Judon  2,  24.  32.  33.  ze  drin  mälon  2,21.  ebenso 
Gen.  PI.  der  zwelfboton  2,  27.  den  imdertanon  2,  34.  iungern 
D.  PL  2,  35  u.  ö.  ieron  gesellon  2,  36  (ebda,  gesetlon  nom.  pL). 
under  den  guten  2,  38.  mit  den  guten  und  mit  den  rehten  2,  39, 
aber  durch  der  güto  willen  2,  40.  41.  mit  den  haidenen  2,  42. 
sinen  herron  dat.  pl.  2,  42  u.  s.  w. 

In  der  Zwiefalter  Benedictinerregel  finden  sich:  der 
ovgo  (oculorum)  r2a;  der  menscho  gen.  pl.  13  a.  15  b.  46  b;  der 
dultindo  (suflferentium)  14  a;  der  merro  (maiorum)  15b;  der 
wissago  (prophetarum)  18  b;  der  hailgo  (sanctorum)  20  b.  50b. 
61a;  der  dri  salmo  gen.  pl.  21b.  23  a.  23  b.  24a;  der  eltro 
(seniorum)  26b;  der  siecho,  durftigo  30  a  (ebda,  der  kinde)\ 
siecho  33  b.  36  a;  der  altho  (senum)  34  a;  der  mislicho  (diver- 
sorum)  35b;  der  midro  (aliorum)  36  a;  der  armo  richo  45b; 
der  botho  48  a;  der  durftigo,  nidndo  (inuidentium)  48  a;  der 
//5w?/rAo  (artificum)  48  b;  der  edilo  armo  51a;  der  ewarto  b2a. 
53  b;  der  phafo  53  b;  der  namo  55a;  dagegen  der  phafin  gen. 
pl.  52b.  Andererseits:  der  betti  (\QQ,\.o\wm)  48a;  der  sithi,  sith 
(morum)  60  b;  der  vleische  (carnium)  34  a.  36a;  der  kunige 
37b  U.S.W.  Ferner  dative  plural:  {mit  wortun  16a!)  ougun 
2  a.  8a.  16  a,  ebenda  ougen\   örun  2a;  ?nit  gurtilun  {fem,?)  oder 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  481 

saUlin  26  a;  von  den  eltrun  26  b;  ewartun  52  a.  53  b.  Die 
endungen  lauten  in  den  schwäbischen  Urkunden:  1287 
heren  G.  PI.,  ze  den  hailegun  D.  PI.  1292  herrun  (3  mal)  D.  PL, 
wasun  D.  PL,  herho  (1.  erho)  G.  PI.,  ebda,  erho,  nahchomendo 
(zweimal).  1293  herrun  D.  PI.  (4  mal),  herj^o  G.  PI.,  erho,  7iah- 
cotnendo  G.  PL,  ebda,  nahcomenden  G.  PL  1295  herren  D.  PL 
1296  erhon  G.  PL,  herren,  herron,  erhon,  rvasen  D.  PL  1296 
erho  G.  PL,  herron  (2  mal),  garton^  nachkomenden  D.  PL  1298 
herren,  wasen,  herron  D.  PL,  erhen  G.  PL  1302  herron  D.  PL 
1303  erhon  D.  PL  (2  mal).  1305  füsstapphon  D.  PL  1305  erhen, 
herron,  herran,  holen  D.  PL  1307  erhoji  D.  PL  1314  mit  allin 
tninun  rehten  (!).  1315  Jndun,  herrun,  nachomejiden.  1318  erhon 
D.  PL,  &?<r^öw  G.  PL,  hurgo  G.  PL  1319  fewr^^«  G.  PL  1322 
hur  gen  D.  PL  1327  (allan),  gartan,  wasen,  unsern  aigenan  in- 
sigeln  D.  PL  (vgl.  ebenda  an  offenan  rvirten,  zivischant).  1330 
herron  D.  PL  1333  erhan,  hurgan,  haUgan,  der  vorgeschrihnan 
G.  PL,  der  vorgeschrihenan  hurgan  D.  PL  (vgl.  haidanthalh).  1334 
allan,  erhen,  hur  gen  D.  PL  1335  erhan,  hurgan  (2  mal)  G.  PL 
{haidanthalh).  1336  envessen  G.  PL  1337  allan,  Iran  erhen  von 
unseran  wegen  (vgl.  1400  von  unsra  wegen),  {zwischant).  1338 
hotten,  nachkomen  D.  PL  1348  erhen  G.  PL,  nachkomen  D.  PL 
1351  allan,  offenan,  iran  erhen.  1365  zu  disen  zitan  vgl,  1333. 
1335  zu  disan  ziten  u.  a.  1367  inan  (ihnen)  u.  s.  w.  In  der 
folge  treten  G.  D.  PL  stark  überwiegend  als  -en  auf,  vgl.  noch 
Weinhold,  AI.  gr.  s.  435  f. 

Damit  wäre  die  Übersicht  der  laugen  r7-(o-)laute  ahd.  periode 
geschlossen.  Das  wichtigste  ergebnis  besteht  darin,  dass  zu 
einer  und  derselben  zeit  gowol  bei  denselben  als  bei  verschie- 
denen Individuen  in  den  einzelnen  kategorien  stark  abweichende 
entwicklungen  (nach  massgabe  des  orthographischen  ausdrucks) 
vorliegen.  Sehen  wir  zunächst  von  den  überall  sich  finden- 
den übereinstimmenden  -ew-(-/M-)bildungen  ab.  so  erscheint  an 
stelle  von  ahd.  -un: 


482 

KAUFFMA 

NN 

Grieshabers 

Zwiefalter 

Urkunden. 

Predigten. 

Benedict. 

R. 

schwacbe  vba.: 

inf. 

-on,  -un,  -an 

-un 

-on,  -un,  -an. 

})l.  praet: 

-on,  -un 

-un 

-un,  -an. 

st.  sw.  fem.:  G. 

PL 

-0 

-0 

-on,  -an,  -o,  -a. 

D. 

PI. 

-on 

-un 

-un,  -on,  -an,  -a. 

sw.  masc:     G. 

PI. 

-0,  -on 

-0 

-on,  -an,  -o. 

D. 

PI. 

-on 

-un 

-on,  -un,  -an. 

Die  in  den  uriiunden  bei  Bebagbel  wie  aus  meinen  eige- 
nen Sammlungen  belegten  -an-,  -«-formen  sind  vorerst  als 
einer  wahrscheinlich  späteren  periode  angehörig  ausser  be- 
tracht  zu  lassen.  In  allen  hier  verzeichneten  fällen  hat  Notker 
die  enduug  -on  {-on)  und  daran  haben  wir  diese  jüngeren  bil- 
dungen  jedenfalls  anzuknüpfen,  es  wird  zulässig  sein,  Notkers 
sprachformen  als  die  allgemein  gültigen  zu  fassen. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  die  von  ßehaghel  nicht 
beachteten  schwachen  G.  PI.  masc.  fem.  -o  (vgl.  z,  b.  bei 
Behaghel  s.  9  unten  u.  a.),  um  so  mehr  als  die  Schreibung  in 
einer  weise  constant  und  einheitlich  auftritt,  wie  es  bei  keiner 
andern  classe  vorkam.  Der  schluss  der  sich  ergibt,  liegt  auf 
der  band.  Wenn  in  den  inf.  der  schwachen  verba  ahd.  -ön  noch 
im  13.  jhdt.  -on  der  Schreibung  gemäss  gesprochen  worden  ist, 
warum  findet  sich  diese  orthographische  bezeichnung  nicht  bei 
dem  G.  PI.  der  schwachen  deel.  und  umgekehrt?  i)  Diese  eine 
tatsache  des  schw.  gen.pl.  auf  -o  genügt,  jeden  glauben  an 
die  phonetische  geltung  der  Orthographie  in  den  an- 
gezogenen quellen  zu  zerstören,  wemn  wir  uns  von  allen 
andern,  möglicherweise  durch  'analogiewirkung'  etc.  zu  recht- 
fertigenden formen  noch  nicht  beirren  lassen  wollten.  Es 
lassen  sich  aber  noch  mehr  gegenzeugnisse  beibringen,  die 
auch  dazu  dienen  werden  -o  für  -Ön  etwas  mehr  zu  verdeut- 
lichen. 

II.   Ahd.  ä  der  endung.    Auch  dieses  hat  nach  Behaghel 


')  Man  könnte  denken  o  sei  nur  schreibversehen  statt  ö  =  on,  wie 
vielfach  in  den  Urkunden  schwanken  zwischen  -en  und  e  besteht,  dieser 
ausweg  ist  aber  nicht  statthaft,  weil  in  verschiedeneu  denkniälern  die- 
selbe einheitlichkeit  der  Schreibung  herrscht,  möglicherweise  liegt 
schreibversehen  vor  in  dem  einmaligen  inf.  verdampno  Griesh.  II,  XII. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  483 

bis  ins  13.  jhdt.  seine  qiialität  bewahrt;  er  gründet  diese  an- 
nähme auf  folgende  belege:  s.  7  Freiburg  i.  Br.:  1258  Jünnan. 
1265  h'mnan.  1272  dannan,  dannen.  1273  dannon.  1275  swan- 
nan,  dannon  (dreimal),  damian.  1282  hinnanthin.  1291  schüra 
(N.  P.  F.).  1293  einunga  (N.  P.  F.)  {cinungan  G.D.V).  1303 
hinnan.  1316  swestera  (A.  PL,  dreimal)  {swesteran  sechsmal 
D.  PI.,  zweimal  G.  PI.)  {rehan  G.  PI.).  S.  8:  1326  dannan.  1332 
closerina  (N.  PI.)  (c/oserinan  D.  PI.).  1333  hrugga  (A.  PI.)  {hrug- 
gan  D.  PI).  1340  h'mnan,  dannan  'sonst  nur  geschwächter  vocal'. 
1344  vestma,  (mit  den  vestinan)  'sonst  geschwächter  vocal'. 
Fürstenberg:  1284  schult  er  ra.  1291  obenan.  1292  thohtera 
(zweimal).  S.  9:  Ulm:  1307  dannen.  S.  10:  1294  vrorvan. 
St.  Gallen:  1275  dannan,  srvesiran  (N.  PI.),  dannan.  XYll  wan- 
nan.  \2Q1  dannan.  1294  w/^a^z  (A.  PI.  zweimal).  S.  11:  Thurgau: 
1282  dannan  (zweimal).  1285  andeswannen.  Geschichtsfreund: 
1282  geverda  (A.  PI.),  immn,  gaha  (N.  PI.),  sn-eslren  (N.  PI.). 
1287  dennen.  S.  12:  1291  hinnan,  dannan,  rittra.  1297  srvestere 
(N.  PL).  S.  13:  Bern:  1295  dannanl  (zweimal).  Basel:  1273 
hinnan.  S.  14:  1282  hinan,  geverda  (A.  PL).  1283  {^nulinan 
D.  PL).  1295  tnatha  (die  matten;  viermal)  {mathon  S.,  zweimal). 
Mulhouse:  1295  vnderdannen.  1318  ohoian,  nidenan.  Strass- 
burg:  1262  hinnan,  dannan.  1263  obenan,  dannan.  S.  15:  dan- 
nan,  hinnan,  dannan  (zweimal).  1264  obenan,  dannan  dieses 
ausserdem  noch  zweimal,  obenan  noch  6  mal,  nidenan  zweimal 
bis  1284.  Behaghel  glaubt  s.  15  dass  ä  so  gut  wie  aus- 
nahmslos als  a  geblieben  sei.  Was  die  orts-  und  zeitadverbia 
auf  ahd.  -an  betrifft,  so  war  hier  widerum  zu  beachten,  dass 
auch  die  Quantität  dieser  silbe  wenigstens  bei  Notker  sicher 
schwankte,  vgL  Zs.  fdph.  14,  163;  ausserdem  handelt  es  sich 
nur  noch  um  die  fem.  nom.  acc.  pl.  -d,  für  deren  quantität 
dasselbe  gilt,  bei  Kelle,  Sitzungsber.  s.  290  ff.  sind  20  nom.  acc. 
auf  -a  aus  Notkers  Boethius  beigebracht.  Ausserdem  musste 
das  Verhältnis  dieser  auf  ahd.  ä  zurückweisenden  formen  zu 
den  übrigen  im  G.  D.  PL  u.  a.  erscheinenden  a-endungen  fest- 
gestellt werden.  Ich  weiss  nicht,  ob  Behaghel  der  ansieht  ist, 
dass  -an  im  G.  D.  PI.  analogisch  die  a-färbung  bekommen  habe 
nach  nom.  acc.  pL  -«.  Es  gienge  nicht  an,  weil  -an  bekannt- 
lich auch  sonst  vielfach  an  stelle  von  -ön  erscheint.  Vgl.  die 
schw.  o«-verba. 


484  KAUFFMANN 

Die  Sachlage  steht  in  diesem  punkte  nicht  anders  als 
wenn  Behaghel  s.  6  diejenigen  quellen  für  die  frage  nach  er- 
haltung  des  i  ausschliesst,  in  denen,  besonders  in  der 
endung  -en,  der  irrationale  vocal  durch  /  bezeichent  wird. 
Wenn  dann  fernerhin  s.  7  a.  1316  A.  P.  swestera,  s.  10  a.  1275 
N.  P.  swesiran,  s.  11  a.  1282  N.  P.  swestren,  s.  12  a.  1297  N.  P. 
swestere  belegt  ist,  so  erwecken  bereits  Schreibung  und  chrono- 
logisches Verhältnis  sehr  gewichtige  bedenken  gegen  eine  iden- 
tificieruug  von  -an,  -en,  -e,  a-  mit  ahd.  -ä.  Von  Interesse  sind 
hier  widerum  die  Grieshaberschen  predigten:  tu'ra  n.  pl. 
1,  1  (vgl.  Braune,  Ahd.  gr.  §  220  anm.  1).  nmda  acc.  pl,  1,  2. 
13.  32.     to'htera   n.  pl.    1,  3.  24.     sela  n.  pl.    1,  3.     mwa  n.  pl. 

1,  5.  ivirtinna  acc.  pl.  1,  10.  rüta  n.  acc.  pl.  1,  10.  11.  17.  ta- 
vela  n.  pl.  1,  23.  schara  n.  pl.  1,  29.  63,  acc.  pl.  2,  35.  kröna 
acc.  pl.  1,  29.  straza,  gassa  acc.  pl.  1,44,  nom.  pl.  2,26.  ßmga 
n.  pl,  1,  45.  46.  krota  (kröten)  n.  pl.  1,46.  schussela  (schusseln) 
acc.   pl.    1,  46.     in   die  fersenna   acc,   pl.    1,  167.    frowa  n.  pl. 

2,  7.  8.  42,  mäsa  acc.  pl.  2,  36.  yaisela  nom.  pl.  2,  30.  reha 
2,  50.  rvucha  acc.  pl.  2,  111  u.  a.  Vgl.  vjnundiiina,  nachge- 
hwina,  kircha,  gaha,  viga,  mugga,  brosema,  swalwa,  iunchfrowa 
II,  XI  lauter  nomin.  oder  accus,  der  mehrzahl  weiblichen  ge- 
schlechts,  für  deren  einige  in  jener  zeit  zwar  -e,  für  andere 
aber  -en  zu  erwarten  wäre'.  Ich  erinnere  an  die  G.  PI.  dieser 
nomina  auf  -o  und  mache  besonders  darauf  aufmerksam,  dass 
gen.  pl.  der  wirtinna  1,  2  genau  ebenso  geschrieben  ist  wie 
acc.  pl.  wirtinna  1,10  (ahd.  -ä  :  -öno).  Man  vergleiche  ausser- 
dem in  der  Zwiefalter  Benedictinerregel:  vnze  in  d  öslra 
16b,  von  ostra  17a  (dagegen  von  östrun  36b  u.a.),  in  ostro 
37  a,  ostra  acc.pl.  43  b,  wahta  n.  pl.  20  b,  ^^/a  n.  pl.  37  a,  acc. 
pl.  49  b.  56  a,  hohina  culmina  61b.  Was  nun  schliesslich  die 
Urkunden  betrifft  so  kenne  ich  vor  1318  nur  -en  im  fem. 
nom.  acc.  pl.:  vrowa  1318,  swestran  1327,  vier  wochan  1336, 
frowan  1337,  7visa  1345,  tochtran  1352,  frowa  1359,  frowa, 
frorvan  1362,  mutschla  (heute  mutschein,  gebäck)  1362,  frowan 
1367,  swestrafi  1420.  1438  u.  a.,  vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  s.  417. 
420  f.  437  ff.  Die  endungen  -«  und  -an  ergeben  sich  dadurch 
als  gleichwertig,  sie  stimmen  ausserdem  mit  den  obliq.  cas. 
des  PI.  überein  (s.  o.  s.  479)  und  es  kann  nicht  zweifelhaft 
sein,    dass  dieselben  die  der  schwachen  decl.  sind.    Die  be- 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  485 

lege  aus  Grieshabers  predigten  zerfallen  auf  alte  voealische 
wie  consonantisehe  stamme  und  während  Behaghel  anzunehmen 
scheint,  dass  im  fem.  n.  aee.  pl.  die  endung  starker  flexion 
(ahd.  -ä,  -a)  verallgemeinert  sei,  kann  ich  nur  einen  allgemei- 
nen übertritt  in  die  schwache  flexion  für  wahrscheinlich 
finden. 1)  So  auch  Weinhold,  AI.  gr.  s.  446.  Nicht  bloss  schwanken 
in  ahd.  periode  einzelne  substant.  zwischen  fem.  starker  und 
schwacher  decl.,  'von  den  meisten  zweisilbigen  fem.  der  o-decl. 
werden  sich  in  irgend  einer  quelle  auch  schwache  formen  nach- 
weisen lassen'  (Braune,  Ahd.  gr.  §  208  anm.  2,  Kelle,  Zs.  fda. 
30,  299.  332),  wie  weit  bereits  im  mhd.  die  Vermischung  beider 
classen  gediehen  ist,  braucht  nicht  belegt  zu  werden.  Es 
hiesse  demnach  die  gesamte  Überlieferung  auf  den  köpf  stellen, 
wollte  man  in  diesen  fem.  enduugen  -a  {-an)  reflexe  der  starken 
decl.  erkennen.  Vielmehr  muss  -a  ganz  ebenso  beurteilt  wer- 
den wie  -0  der  genetive  (s.  o,  s.  478  f.,  Weinhold,  AI.  gr.  s.  415), 
der  ursprünglich  auslautende  nasal  ist  verschwunden;  ob  wir 
-a,  -an  als  unmittelbare  entsprechung  von  nom.  acc.  pl.  ahd. 
-ün,  -un  zu  betrachten  haben,  wird  später  zu  erörtern  sein. 
Die  adverbia  auf  -an  bewahren  in  der  Schreibung  -a-  sehr  con- 
stant;  urkundlich  kann  ich  sie  noch  im  15.  jhdt.  reichlich  be- 
legen, um  so  weniger  ist  es  wahrscheinlich,  dass  die  Ortho- 
graphie sich  mit  der  ausspräche  deckt.  Es  ist  auch  an  die 
elsäss.  belege  zu  erinnern.  Behaghel  constatiert  s.  14  dass 
'altes  -on,  -un  nicht  mehr  bewahrt  sei-),  obwol  die  Urkunden 
bis  zum  jähr  1261  zurückgehen.  Von  Substantiven  auf  ur- 
sprüngliches i  finden  sich  fast  keine  belege,  dagegen  ist  -an 
im  13.  jhdt.  stets  bewahrt.'  Das  ist  durchaus  unwahrscheinlich. 
Vgl.  auch  Weinhold,  AI.  gr.  §  122,  wo  ausserdem  auf  -a-  in 
praefixen  wie  antiveder  u.a.  verwiesen  wird,  vgl.  dazu  §  118. 
III.  Ahd.  IL  Es  handelt  sich  hier  nur  noch  um  den 
singl.  der  schwachen  fem.  decl.  des  substant.,  und  die  betr. 
casus  der  schwachen  adjective.  Es  ist  hier  wider  vorauszu- 
schicken,   dass   die   quantität  des  vocals  nach  Notkers  System 


*)  Dies  gilt  auch  für  die  oben  s.  •1('>7  augcfühiteu  heutigen  foiiiien 
aus  dem  AUgäu  (a  =  a-haltig  .->  aus  -cti). 

^)  Vgl.  die  auffallenden  belege  bei  Socin,  Strassbui-ger  Studien 
I,  248  f. 


486  KAUFFMANN 

als  bald  kurz,  bald  lang  angesetzt  werden  muss,  vgl.  z,  b. 
Kelle,  Sitzungsber.  s.  297  ff.  Bei  Behaghel ')  s.  7  Freiburg  i.  Br. 
finden  sich:  1272  svnnvntage,  errun  (G.  Sgl.  F.),  vrorven  (Gen.  S.). 
1273  n-ilim  (Dat.  S.).  1275  kilchun,  frorven,  nahgand'm  (Gen. 
S.  F.),  Wochen  (sechsmal).  1276  similvn,  mitchun  (zweimal), 
jungirun  (G.  S.  F.),  vrowin.  1282  vorgenantun  (G.  S.  F.),  mitchun. 
1291  tvirtinyiun,  lovbun,  Sultzgassun,  der  oberun  Undun,  frowen. 
1293  genanten  (G.  S.  F.).  1302  ohervn  (G.  S.  F.,  zweimal),  ge- 
nantvn  (S.  F.,  fünfmal).  1303  genantun  (S.  F.),  altun  (S.  F.), 
1316  gassun,  srvellun,  genanten  (A.  S.  F.),  Margareten,  kertzen, 
meisterinnen,  frowen,  Margareten  die  Turnerinen,  frowen  der 
Jüngeren.  S.  S:  1326  seVmn  (S.  F.),  der  nehsten  inittewochen. 
1332  frowen.  1333  oberen  (S.  F.),  langen  (S.  F.,  zweimal),  nidern 
staininen  (S.  F.),  vasfen  (D.  S.).  Fürstenberg:  1276  niderun  (S.  F.), 
ewigen  (A.  F.),  die  vorgenanten  frowen.  1280  kirchun.  1284  Gvtvn. 
1290  Marivn,  Magdalenen.  1291  Brigen,  7vochen.  1292  ganzzvn 
ßebenhausen:  1291  Margretun,  1292:  9  -en  =  -un.  1293 
kilchun.  1296  Ernstinvn,  vasiim.  1297  wirtinnvn,  vrowen  (zwei- 
mal). S.  9:  1297  4  -e-  =  -ü-.  1298  AUunstaig,  wochun.  1301 
edelvn  frouwn,  wochwn  (zweimal),  frown  der  jungervn,  einmal 
-en  =  -im.  1307  frowun  (viermal),  kilchun,  genantun  (S.  F.), 
selbun,  errun,  jungerun,  PetroneUun\  sechsmal  -e-  =  -ü-  u.  s.  w. 
Es  ist  überflüssig  die  belege  in  extenso  zu  geben,  ich  führe 
noch  an:  St.  Gallen  s.  10:  a.  1275  Gutun  :  Guten,  priolinun  : 
priolinen.  1277  Agnesun  :  Agnesen.  Thurgau  s.  11:  a.  1285 
kilchun  :  kilchen.  Aarau  s.  12:  a.  1292  Reberron,  Eisbeton.  1301 
selbon  (D.  S.  F.).  1304  bi  der  Aron,  obron  (G.  S.  F.).  1313  ebti- 
schinon  (G.  S.).  Basel  s.  14:  1280  tninrun  (G.  S.  F.)  ;  minren, 
niderun  :  oberen.  1295  der  eberon  vrowon  der  eptissinon,  Ciaron, 
tninneron  (S.  F.),  mathon  (S.,  zweimal),  genanton  (S.  F.)  u.  a. 
Wir  sehen  teilweise  einen  und  denselben  Schreiber  zwischen 
den  formen  mit  -u-  und  denen  mit  -e-  schwanken  (s.  o. 
s,  473  f.),  auffallend  sind  die  fälle  mit  -o-  der  enduug  aus 
Aarau   und  Basel.    Sie  finden  sich  auch  in  den  Predigten 2): 


1)  Ich  kann  leider  nicht  controlieren,  wie  weit  bei  den  folgenden 
beispielen  die  belege  singulare  oder  plurale  sind,  Behaghel  hat  es  nicht 
immer  angegeben. 

2)  Vgl.  Germ.  13,  186  der  ewigon  froude  in  der  Franciskanerregel 
des  13.  jhdts. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  487 

üz  der  sifon  1,4.11.32.  die  intvendigon  n-aide  acc.  sg.  1,8. 
üzTvendlgon    1,  39.      die    claitioti    zit    1,  13.      emigon    G.  S.  F. 

1,  16,  D.  S.  F.  1,28.29,  A.  S.  F.  1,43.  die  ganzon  vollon 
A.  S.  F.  1,  27.  der  bifferon  helle  D.  S.  F.  1,  27.  manech- 
valtigon  D.  S.  F.,  grözon  A.  S.  F.  1,  27.  erston  D.  S.  F.  1,31. 
in  ai)ier  fiurinon  zungen  D.  S.  F.  1,  35.  ze  der  niuwon  e  :  in 
der  alten  e  1,  36.  zungo7i  A.  S.  F.  1,  38  :  zungen  1,39.  in  der 
t'iufon  7vize  1,  39.  ain  sniton  A.  S.  F.  1,  60.  der  armer  witirvo 
G.  S.  1,  72.  7vä7'on  G.  S.  F.  1,  162.  der  rehten  wäron  hecherde 
G.  S.  F.  1,  163.  von  der  zarton  kuneginnon  miner  frorven  S.  Ma- 
rien 2,  1.  Mariun  2,  8.  wiegon  A.  S.  F.  2,  3.  dwimion  krön 
A.  S.  F.  2,  6.  der  ai^ion,  androji  frowon  :  froiven  2,  7.  gesege- 
noton  A.  S.  F.  2,  8.    zimelichon,  ko^melichon  A.  S.  F.  2,  10.    zangon 

2,  11.  Je/  ö'er  zarton  Marion  2,  13.  mm  frowen  S.  Marion 
2,  15.  m  amer  gasson  2, 16.  gallo7i  A.  S.  F.  2, 18.  «wncÄ  frowon 
Saron  D.  S.  2,  19.  gro'ston  D.  S.  F.  2,  21.  ze  £?er  ainlifton 
zit  2,46.  der  ewig 0  fro^mde  [und  der  ewigoti  ere]  2,44.46.  der 
hailige7i  scrift  2,  46.  gi7nahelon  A.  S.  F.  2,  51.  5.  Marion  Mag- 
dalenen  2,  75.  die  her t in  trahta  imd  die  herto7i  spise  und  div 
herton  hrot  2,  107.  hi  ai7ier  7vit7V07i  2,  113  u.  a.,  dagegen:  ze 
der  hailigeti  messe  2,  1.  mi7ier  frowen  2,  8.  13.  sa7ite7i  Marien 
2,  8.  mit  der  hailigen  7nin7ie  2,  9.  ze  ai7ier  fro7ven  2,  20  u.  s.  w. 
Der  sclireiber  von  bl.  73*ff.  wendet  auch  hier  das  «-zeichen 
an:  in  der  hailigun  messe  1,  83;  n-achmi  D.  S.,  in  der  altim  e 
1,86.  m  der  alti7i  e  1,  89.  schunge7i  (1.  zu7ige'ii)  A.  S.  2,  91  in 
Übereinstimmung  mit  der  Zwiefalter  Benedictinerregel: 
ei7vigv7i  perpetuam  2a;  -en  4b;  zungwi  D.  A.  S.  2b.  3  b.  10b. 
15b;  7nit  der  selbun  7'ätgebu7id  3b;  sce7'un  tonsuram  5b;  der 
regillichvn  D.S.  6  b;  wö/^/rmw«  magistram  6  b;  der  selbun  laiter 
G.  S.  IIb;  der  ahtodun  stund,  halbunnaht  16b;  7iah  der  driitun 
lezzun  17  b;  der  hailguji  triualti,  der  gotlichun  orthabunge  17  b; 
V071  der  altu7i  gezivgu7ige  18a;  der  andru7i,  vierdun,  vu7iftim, 
sehstun  feri  19  b.  20  a;  alrwirstun  boshait  D.S.  31b;  der  stren- 
gi7'U7i  disciplin  32  a;  'vo7i  der  7vocchu7i  32  b.  33  a;  der  mcrru7i 
D.  S.  F.  41  a;  sua7'stun  D.  S.  F.  48  a;  mi7iistun  A.  S.  F.  61  a  u.  a.^) 


^)  Dass,  wie  Behaghel  s.  18  meint,  die  geschwächten  vocale  in  den 
endungen  des  adj.  früher  eintreten  als  in  denen  des  Substantivs,  wird 
durch  die  Materialien  nicht  bestätigt. 


488  KAUFFMANN 

Es  ist  indessen  zu  beachten,  dass  auch  masc.  neutr.  schwach, 
flexion  denselben  ausg-ang  zeigt  in:  hunder tusten  :  hunder titstun 
G,  S.  M.  22  b;  von  zwainziymtvn,  hundertusten,  hundertustuji  22h. 
23  a.  23  b;  dim  b?'üder  gibantun  D.S.  27  b;  tnhirwi  alt  er  minore 
etate  36  a;  zim  anderun  male  39  a  (vgl.  Behaghel  s.  6)  und 
ebenso  die  adverbia:  anderswanun  aliunde  35a;  sunderUngvn 
singillatim  21b;  allenihalhun  -10  b;  bei  Grieshaber  hinderwerti- 
linyon  2,  AI]  entnornon  2,  112;  eniuschon  2,  1  u.  ö.  und  ferner 
die  Zahladverbien:  drisfun  iexQio  dreimal  17a.  50b  (dreimal 
zu  belegen);  sihinstun  septies  21a;  sehr  interessant  ist  widerum, 
dass  dafür  in  Grieshabers  Predigten  -o  erscheint:  dristo, 
suhensto,  zehensto,  zwainzechsio,  hundersto  vgl.  II,  XI.  Es  kann 
nicht  zweifelhaft  sein,  dass  -slun  der  Benedictinerregel  die 
erste  stufe  der  abschwächuug  des  die  composition  bildenden 
-stunt  darstellt,  und  die  'isolierten'  formen  der  Predigten  auf 
-0  aus  -un  geben  ein  sehr  treffendes  und  sicheres  zeugnis  für 
die  fernere  lautliche  Veränderung.  In  den  Urkunden  finden 
wir  durchgängig  schwanken  zwischen  -un  und  -ew,  nähere  an- 
gaben sind  überflüssig.  Wir  kommen  auch  hier  zu  dem 
Schlüsse,  dass  die  Orthographie  der  Urkunden  etc.  nicht  mass- 
gebend sein  darf,  für  die  taxierung  des  lautlichen  wertes  der 
endvocale.  Wie  bereits  beim  gen.  pl.  (masc.  und  fem.  s.  o. 
s.  478  ff.)  begegnen  uns  hier  neben  einzelnen  flexivischen  formen 
wie  7vitiwo,  ervigo  (s.  o.)  namentlich  die  zahladverbia  in  den 
Predigten  ohne  auslautenden  nasal;  und  zur  beurteilung  der- 
selben sind  noch  aus  den  Predigten  anzuführen:  zwiro,  zwiero 
(zweimal),  ahd.  zwiro,  zwiron,  z7viront,  mhd.  neben  zwir,  zrviren 
zwirent,  znirnt\  ie  vasto  und  ie  vasto  1,  163,  ie  haldo  und  ie 
baldo]  dester  gerno  2,3;  aller  vaslo  2,21;  also  vaste  2,48; 
vgl.:  Wan  so  der  mensch  ie  verro  ist  von  got,  so  er  ie  vaster 
sol  . .  ie  tiufer  .  .  ie  vasto  .  .  ie  vasto  2,  92  (2,  XI  f.).  Ich 
glaube,  wenn  wir  das  vorgeführte  material  als  zuverlässig  an- 
erkennen, wenn  wir  ferner  au  einer  gesetzmässigen  laut- 
entwicklung  festhalten,  dürfen  wir  uns  nicht  länger  an  die 
buchstaben  der  Urkunden  etc.  gefangen  geben.  Noch  bleibt 
aber  die  wichtigste  categorie,  ahd.  4  zu  erörtern. 

III.  Ahd.  -?  der  enduug:  Die  lautgeschichtliche  auf- 
fassung  ist  hier  sehr  schwierig  da  der  buchstabe  -i-  gerade 
auch   in  obd.  quellen  des   13.  jhdts.  eine  ausserordentlich  um- 


I 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  489 

fassende  Verwendung  gefunden  hat.i)  Für  die  alemannischen 
mundarten  (hoch-,  nieder-alem.,  schwäb.)  gilt  heute  das  all- 
gemeine gesetz,  dass  die  musikalische  höhe  der  tonbewegung 
im  Worte  (resp.  Sprechtakte)  bei  ruhiger  rede  umgekehrt  pro- 
portioniert ist  der  expiratorischen  Intensität  der  einzelnen 
Silben,  d.  h.  expiratorischer  ictus  (nachdruck)  geht  zusammen 
mit  musikalischem  tiefton,  nachdruckslose  silben  sind 
musikalisch  höher,  Z.  b.  schwäb.  ^pis  etwas  (schweiz. 
öpis)  zerfällt  in  die  nachdruckssilbe  f-,  und  die  nebensilbe 
-pis'^  -^  hat  den  expiratorischen  ictus,  liegt  aber  musikalisch 
tiefer  als  die  mehr  oder  weniger  nachdruckslose  silbe  -pis, 
dass  die  alem.  mundarten  sehr  stark  in  betreff  des  musikali- 
schen intervalles  zwischen  ictus-  und  nebensilbe  differieren 
soll  hier  nur  bemerkt  werden,  für  die  principielle  beurteilung 
ist  dies  nebensächlich.  Wenn  wir  nun  an  stelle  eines  heutigen 
i-timbres  der  endung  in  ahd.  und  mhd.  zeit  -a-  {elewaz)  ge- 
schrieben finden,  ist  es  uns  möglich  auf  grund  dieses  allge- 
meinen tongesetzes  die  entstehung  des  /-timbres  ungefähr  zu 
begreifen.  Als  in  nebensilbe  stehend,  musste  der  alte  a-laut 
zunächst  an  Quantität  wie  Intensität  herabgesetzt  werden  >  3, 
und  wenn  historisch  das  tongesetz  aufgetreten  ist,  zu  einer 
zeit,  als  «zu  3  geworden  war,  musste  sich  zum  mindesten 
eine  erhöhung  des  dem  betr.  a-laute  eigenen  tones  geltend 
machen.  Die  ausgesprochene  «-färbe  vermögen  wir  zunächst 
nicht  zu  erklären;  wenn  ich  auch  hier  beiläufig  bemerken  darf, 
dass  allgemein  im  südschwäb.,  nieder-  und  hoch-alem.  d  vor  s 
wie  palatal.  cli,  zu  i  geworden  ist. 

Leider  sind  wir  noch  nicht  so  weit,  diese  wichtigsten  aller 
sprachlichen  factoren  (exspirations-  und  tonbewegung)  historisch 
in  ihrer  entwicklung  und  ausbildung  verfolgen  zu  können,  aber 
in  unserem  fall  liegt  es  nahe,  wenn  wir  heute  dieses  tongesetz 
experimentell   constatiert  haben,    es   für   eine   literarisch  über- 


')  Vgl.  z.  b.  in  einer  Urkunde  a.  1296:  In  gotis  namin,  ansehinl 
oder  horint  lesin,  wirtiyin  tohlir,  habin  gebin,  vnsii'  aigin,  agkir,  mit 
allir  ehafli,  horit,  silbirs,  des  herin  abbit,  vnsir  rehün  erhin  solin,  sinir 
rehtin  erbon  u.  a.  Ich  verweise  ausserdem  auf  das  von  Bartsch,  Germ. 
18,  50  f.  publicierte  Engelberger  Marjengedicht,  in  dem  beinahe  sämt- 
liche endungen  als  -i  erscheinen,  die  aufzeichnung  ist  allerdings  sehr 
bedenklich. 


490  KAUFFMANN 

lieferte  epocbe  in  auwendung  zu  bringen,  die  gerade  durch 
ihre  Orthographie  auf  ähnliche  zustände  hinzuweisen  scheint. 
So  glaube  ich  denn,  ohne  es  vorerst  näher  beweisen  zu  können, 
dass  die  zahlreichen  /-Schreibungen  in  den  alem.  endungen  des 
13.  jhdts.  die  existenz  dieser  heutigen  tonverhältnisse  zwischen 
Stammsilbe  und  endung  bezeugen.  Da  wir  nun  in  abd.  zeit 
diese  Schreibungen  nur  spärlich  vorfinden,  in  der  regel  an 
stelle  eines  späteren  hellen  \ocals  tiefere  timbres  auftreten, 
möchte  ich  weiter  schliessen,  dass  dieses  tongesetz  erst  in 
mhd.  periode  wirksam  geworden  sei,  ohne  damit  behaupten 
zu  wollen,  dass  diese  betonung  in  ahd.  zeit  überhaupt  nicht 
existiert  habe,  möglicherweise  hatte  sie  ursprünglich  nur  ein 
bestimmtes  geschlossenes  territorium.  Findet  man  diese  an- 
nahmen wahrscheinlich  (ich  werde  an  einem  andern  orte  ein- 
gehender darüber  bandeln),  so  haben  wir  kein  recht,  ohne  be- 
stimmte beweise  endungs-/  des  13.  jhdts.  direct  als  fortsetzer 
von  ahd.  4  zu  nehmen,  es  spricht  dann  vielmehr  alles  dafür, 
dass  die  -i  des  13.  jhdts.  ein  product  jüngster  Spracherscheinungen 
sind,  durch  deren  Wirkung  der  ursprünglich  geschwächte  vocal, 
unter  ganz  anderen  bedingungen  als  vordem,  das  /-timbre  neu 
bekommen  hat.  Auf  diese  weise  kämen  wir  auf  die  entwick- 
lungsreihe  ahd.  giioti  >  ffiieti  >  giiete  >  gü'eti  ('  fallender, 
'  steigender  ton).  Jedenfalls  darf  ich  die  von  mir  entwickelte 
anschauung  als  möglich  betrachten,  nehmen  wir  dazu,  dass  die 
reime  der  mhd.  dichter  die  aussprachsform  -e  direct  bezeugen, 
wenn  wir  uns  zunächst  auf  den  unbefangenen  standpunct  einer 
constatierung  von  tatsachen  stellen,  so  meine  ich  fügt  sich  unsere 
gesamte  Überlieferung  ohne  zwang.  Dazu  kommt  noch  ein  sehr 
wichtiges  argument.  Es  ist  nicht  ganz  correct,  wenn  Behaghel  s.  1 5 
behauptet:  'Die  wenigen  belege  für  e  aus  z  müssen,  wenigstens 
so  weit  sie  der  Schweiz  angehören,  ungenaue  Schreibungen 
sein,  denn  so  weit  wenigstens  meine  künde  reicht,  w^eisen  die 
schweizerischen  dialekte  noch  heute  in  den  in  frage  kommen- 
den Substantiven  das  i  auf.'  Das  ist  richtig,  aber  in  den 
heutigen  dialekten  des  Schweizerlandes  erscheint  -/  auch  in 
solchen  fällen,  wo  nicht  ahd.  i  zu  gründe  liegt  und  ich  weiss 
nicht,  wie  Behaghel  dieselben  erklären  will. 

Winteler,  Ker.  ma.  s.  177  f.  verzeichent  folgende  Neutra: 
hö/fti  (ahd.  hefti  n.)  heft  des  messers,    milltsi  (ahd.  milzi)  milz, 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  491 

netsi  (ahd.  nezzi)  netz,  hJrni  (abd.  hirnt)  hirn,  heri  (alul.  heri) 
beere,  rippi  (abd.  r//;;>«  n.)  rippe,  essbi  (abd.  rt^/;a)  espe,  ^/r.r/ 
(abd.  birihhu)  birke,  ivesshi  (vgl.  abd.  tvefsd)  vvespe,  hii  (abd.  bia) 
biene,  xüni  (abd.  Ä/Vm/)  kinn,  tremi  (mbd.  clräme)  balken. 
Feminina  ausser  den  geläufigen  //<V~  r/ böbe,  r^^^/ scbärfe  etc. 
{hirti  beerde),  hcesi  {i\\\([.  hasa)  base,  iUi  (abd.  6/i//a)  diele, 
gUri'i  (abd.  /zV«)  scblecbtes  getränke.  Maseulina:  göti  (mbd. 
ö'öY^)  pate,  Japi  (mbd.  läppe),  hutsi  (mbd.  hutze)  und  weitere 
kategorien  s.  178  f.  Namentlicb  diese  maseulina  und  neutra 
sind  wicbtig  und  interessant,  bei  den  übrigen  formen  kann 
analogiebildung  im  spiele  sein,  die  freilieb  nicbt  klar  zu  fassen 
ist;  bereits  Winteler  fand  die  berkunft  dieser  -i  scbwer  festzu- 
stellen. Stickelberger,  Ma.  von  Sehalibausen  s.  55  ff.  bringt 
weiteres  material  bei,  i  stellt  an  'stellen,  wo  man  e  (d.  i.  d) 
erwarten  sollte'  und  kann  'gescbwäcbt'  sein  nicbt  bloss  aus 
altem  /,  sondern  aucb  aus  a,  e,  e,  u,  ü  (s.  56):  bindi  (abd.  binda), 
segi  (abd.  saga,  sega),  ausserdem  sind  beachtenswert  die  pro- 
clitieae  di-  =  mbd.  da:  dihäm  dabeim,  difonid  davorn,  dl-limid 
da  binteu,  ebenso  mi  man  indef.,  die  wol  am  treffendsten  die 
Wirkung  des  tongesetzes  veranscbaulicben.  Damit  schwindet 
die  sicberbeit,  mit  der  Bebagbel  die  beutigen  -/  der  Scbweizer- 
mundarten  direct  an  mbd.  /,  abd.  l  angeknüpft  baben  will. 
Es  stebt  durchaus  nichts  im  wege,  diese  -/-endung  aus  irgend 
welchem  vocaltimbre  secundär  entstehen  zu  lassen.^    Es  dürfte 


*)  Wenn  schon  das  tongesetz  zur  erklärung  der  heutigen  -i  aus- 
reicht, so  kommt  noch  ein  zweites  hinzu,  was  Behaghel  nicht  beachtet 
hat.  Wie  Kögel,  Beitr.  IX,  319  f.  nachgewiesen,  sind  es  in  ahd.  zeit  vor- 
wiegend Isidor  und  Murbacher  denkmäler,  in  denen  die  form  der  obliquen 
casus  -m  (von  dem  einfluss  der  verbalsubstantiva  abgesehen)  auch  in  den 
nominativ  der  abstracta  gedrungen  ist,  doch  ist  diese  analogiebildung 
aus  weiteren  alem.  denkmälern  zu  belegen,  vgl,  ebenda  s.  32ü,  Beitr.  IV,  420. 
In  mhd.  zeit  erscheinen  reime  auf  -in,  -in  vgl.  Sievers,  Beitr.  IV,  438, 
Weinhold,  AI.  gr.  s.  441  ff.,  ferner  Paul,  Mhd.  gr.  i^  I2ü  anm.  3.  Wein- 
hold belegt:  l^om.menegin,  predin,  greuwin,  kelwin,  geliorsamin,  gu<^lin, 
rveitraichin,  freßn,  s/mjflin,  koltin,  Ütuerin.  den.:  guelin.  Dat.:  fins/e)-in, 
meliin,  roetin,  lacw'm,  keltin  u.  a.  Ich  bin  der  meiuung,  dass  wir  für 
die  alem.  Volkssprache  des  12.  13.  jhdts.  gerade  so  doppelformen  (-<?: -m) 
vorauszusetzen  haben,  wie  wir  in  ahd.  periode  die  betr.  Substantive 
zwischen  -i,  -i  (?)  und  -in  schwanken  sehen.  Paul  hat  bereits  constatiert, 
dass  die  <?-formen  auf  den  nasallosen  nom.  sg.  zurückgehen,  -hi  hat  im 
12.-13.  jhd.  ebenso   den  ausl.  nasal   verloren    wie   das   dim.  -im  ==-  -/t, 

Beiträge  zur  gesohichte  der  deutschen  spräche.     XIII.  33 


492  KAUFFMANN 

überflüssig'  sein,  das  material  widerura  detailliert  vorzuführen, 
iu  den  bei  Behagbel  verzeichneten  Urkunden  finden  sich  e  aus 
?,  z.  b.  gehorsame  Fürstenberg  a.  1295  s.  8,  St.  Gallen  a.  1275 
hmUvesle,  gegenwurle.  1277  hantveste  (mehrmals).  1291  liehe, 
haniveste  s.lO.  Aus  Basel  s.  13  zahlreiche  e,  i  nur  zweimal. 
liehe  1275.  s.  14  1283  lenge  u.  a.  Aus  Grieshabers  Predig- 
ten nenne  ich:  wit^sti  \,1. 11.  frühste  1,8.15.  ru^ti  1,11.  ru'le 
1,17.  verri  1,42.  verre  \,o^.  unku'schl  2,1H.  U7iku^sche  2^  lOS 
u.  s.  w.,  vgl.  2,  XVII.  In  der  Zwiefalter  Benedictiner- 
regel  finden  sich  die  Schreibungen:  gehorsami  Ib.  4b.  9a; 
gnumlichi  2a.  3b;  vili  2  b;  gedulli  Aa.  5  a;  sfiziba;  denudida 
u.  (").;  zurni  7a;  an  aller  steti  (loco)  8a;  statt  stabilitas  9a; 
der  ersti  grad  9a;  in  der  sjielli  9b;  disi  seihe  horsami  10a; 
höhi  IIa;  der  zuhti  G.  S.  12a;  alli  steti  omni  loco  12a;  alli 
stund  omni  hora  ebd.;  di  gidaiiki  cogitationes  (zweimal)  12a; 
ih  dähti  1.  sg.  praet.  15  a;  lündi  sint  agendi  sunt  17  a;  sehs 
salmi  N.  PI.  17  a.  21b.  22  a.  {salmim  17  b.  18  b.  salmin  18  b. 
19  b.  20  b.  23  a);  der  sehzignst  sehte  salmi  19  a  (vgl.  Weinhold, 
AI.  gr.  s.  433);  sahne  19b;  krenki  (infirmitati)  28b;  di  trosti 
solatia  32  b;  soryi  alrgröste  N.  S.  33  b;  di  sireniji  34  a;  grozzi 
(quantitas)  36a;  triinkini  36  b;  lancsa?ni  38b;  pfisiri  (pistrino) 
40b;  der  nihi,  uraisi  56a;  di  snäri  der  hurdi  58 b;  alrswärsti 
sacche  :  sacchi  (occasio)  59  a;  als  langi  (tamdiu)  60  a;  di  rothi 
der  scami  (rubor  confusionis)  61a;  vgl.  ferner  der  heiti  (lecto- 
rum)  48a;  der  nouici  G.  PI.  49b;  der  sithi  morum  60b  u.a. 
Aus  den  Urkunden  sind  1292.  1293  liehi,  1296  ehafti,  1305 
liehi  die  einzigen  mir  zu  gebot  stehenden  belege. 

Eine  formenkategorie  ist  von  Behaghel  nicht  behandelt 
worden,  die  conjunctive  practeriti  der  schwachen  verba. 
Man  hat  schon  mehrfach  gerade  hieraus  argumente  gegen  einen 
unmittelbaren  Zusammenhang  zwischen  literatur-  und  Volks- 
sprache entnehmen  wollen.  In  Grieshabers  predigten 
stehen:  rüweti  1,8.  woHti  1,10.81.  mo'^hte  1,11.  ßrti  1,18. 
ferWgenti  1,27.     macheti  1,37.     martereti  1,167.     hlüti  1,168. 


Vgl.  Grieshaber  pred.  II,  XII  und  den  gen.  pl.  -o  aus  -on.  Wir  kommen 
so  auf  doppeltem  weg  zu  den  heutigen  bildungen.  Von  interesse  sind 
einzelne  endungslose  formen  die  Weinhold  beibringt  (s.  441),  Synkope 
war  nur  bei  zu  grund  liegendem  -e  möglich,  hlül  :  güeli  wie  soll :  lepti 
vgl.  unten  s.  494  f. 


MIlTELHOCHDEUrSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  493 

so''(/efi  2,1.  lll.  tveretl  2,2s.  so'lte  2,h.  A'^.  heti  2,\0'd.  wo'lte 
2,107  (s.o.  n-o'Ki).  tvalefi  2,  112.  bre/ife  2,  lld.  Vgl.  auch 
ersiihti  3.  sg-.  iudic.  praet.  2,  109.  Vgl,  ih  dähti  1.  sg.  indic. 
praet.  Zwief.  Bened.-Reg.  loa.  (Weinliold,  AI.  gr.  §  366.) 
In  dieser  letzteren:  virhancdi  permiserit  31b;  ebenda  gUbi 
dederit  (vgl.  Beitr.  VII,  564);  58  a  z.  8.  lese  ich  deutlich  under- 
kanii,  kämi  ist  wol  correct,  aber  "  wird  von  dem  folgenden 
i  =  in  fälschlich  auch  auf  das  vorangehende  /  geraten  sein;  du 
hul/i  33  a  (2.  sg.  ind.  praet.);  ahliezi  15  a  (reniisisti);  wklermchhe 
1  a  (recesseras),  d<<  Ä'aw  (venisti)  52 a.  In  den  Urkunden  sind 
die  betr.  fälle  nicht  weniger  spärlich:  1298  .vcÄa/^.v^/// (schadete) 
3.  sg,  conj.  pr.  iheUla  (thäten)  3.  pl.  schadegeli  3.  sg.  1299 
dühte  3.  sg.  1315  woU'm,  müslin  3.  pl.  1318  vertigetint.  1333 
laH  und  nit  laisli  1335  gelwrlij,  gefrnmti,  löget e  (=  leugnete 
conj.),  sölty,  sölt.  1365.  1367  fügli  (1365  zugi).  1327  verligaie 
(1327  ahgiengi).  1330  hedorfeün  {ahgieng,  sturh  3.  sg.  conj. 
praet.).  13^3  angiengf.  1337.  \M1  vertigati  {nmrdi,  wcri,  k(fme), 
tetin,  (hrechin),  irolten.  vSo  erschwert  schon  die  überwiegende 
Übereinstimmung  mit  dem  conjunctiv-ausgang  der  starken  verba 
die  beurteilung,  ich  glaube  aber,  dass  die  Schreibungen  mit  -e 
den  ausschlag  geben  müssen  (vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  s.  375),  das 
-i-timbre  nicht  unmittelbar  an  die  ahd.  -l  anzuschliessen.  Es 
muss  auch  hier  widerum  hervorgehoben  werden,  dass  bei  Notker 
circumflectierte  formen  mit  kürzen  wechseln,  vgl.  Kelle,  Sitzungs- 
berichte s.  275.     Zs.  fdph.  14,  160. 

Zu  beachten  ist  andererseits,  dass  in  den  heutigen  schweizer- 
mundarten  (z.  b.  Kerenzen,  Winteler  s.  159  ff".  152  f.)  der  con- 
junctiv  praesentis  der  starken  verba  -/  als  endung  hat, 
während  der  conj.  praeteriti  endungslos  ist,  z.  b.  steli  conj. 
praes.,  stcel  conj.  praet.,  helffi  :  hulff,  sterhi  :  stUrh,  ferlifri  : 
ferlur  etc.,  die  schwachen  verben  gehen  im  conj.  praes.  mit 
den  starken  zusammen  lehi  (wie  steli),  losi,  tsahli  u.  s.  w.,  conj. 
praet.  endet  aber  auf  -ti:  lepti,  losdti,  tsahldti  u.  s.  w\  Wir 
sind  danach  wol  berechtigt  anzunehmen,  dass  i-  der  starken 
und  i-  der  schwachen  verba  eine  gemeinsame  geschichte  gehabt 
haben  und  wie  ersteres,  so  auch  letzteres  aus  mhd.  -e  ent- 
wickelt sei,  geradezu  beweisend  scheint  mir  dafür  der  umstand, 
dass  in  denselben  Schweizermundarten  (Kerenzeu  s.  164)  der 
conj.   praet.   der  praeterito-praesentia  endungslos    ist:    törft, 

33* 


404  KAUFFMANN 

tlirsf,  söl,  mo.r.rl,  7)mssf,  .vwimf,  wet,  yrnsst,  ebenso  ifPl,  hrreJif, 
lud  (hätte),  obwol  für  diese  veiba  im  conj.  praet.  genau  die- 
selben etymologischen  Voraussetzungen  bestehen  wie  für  die 
sollwachen  verba.  Da  nun  so  viel  mir  bekannt,  etym.  /  der 
ilexionscndung-  in  der  geschichtc  der  niundart  von  der  mhd. 
epochc  bis  heute,  in  keinem  fall  synkope  erfahren  hat,  haben 
lepti :  lürfl  etc.  als  satzdoppelfornien  zu  gelten,  beiden  scheint 
-1e  zu  gründe  zu  liegen,  das  je  nach  satzrhythmus  erhalten  ge- 
blieben (resp.  zu  -ü  weiterentwickelt,  s.  o.  s.  490)  oder  ge- 
schwunden ist.')  Vgl.  darüber  Behaghel,  die  deutsche  spräche 
s.  159. 

Tabellarisch   stellt   sich   die   Überlieferung  in  sämmtlichen 
bisher  erörterten  flexionsendungen  folgendermasseu  dar: 


')  Hei  Boncr  fiadcn  wir  z.  1).  cdolstein  LXXXV',  8  ff.:  wöli'i,  sölti, 
möcitl,  nu'ilt  etc.  Vgl.  aiu-h  ähnliches  bei  Weinliold,  AI.  gr.  §3()S-, 
9.  4ü9  11.  a. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  495 

Behaghel.       Predigten.     Benedict. -R.   Schwab,  urk. 


inf.-ön,(-6üt) 

on,  un,au,  cn, 
in 

on,  en,  an, 
(un) 

uu,  eu,  iu 

ou,  eu,  uu,  au 

-6t,  -Ost 

ot,  ut,  et,  at 

(ut,  ust)  ot,  et, 
at,  ost,  est 

ut,  ust,  it,  et 

et,  ut,  ot,  at 

-onde 

-ende 

-ende 

-6e 

-ege 

-ei,  -ege 

-ton 

on,  cn,an,uu, 
in 

on,  en,  un 

uu 

uu,  an,  eu 

G.D.Pl.fem. 

en,  au,  ou. 
G. -0 

G.  -0,  -a 
D.  -on. 

G.  -0,  D.  -en, 
uu,  in 

G.  -a,  an,  en, 

D.  un,  ou,  eu, 
an 

G.  D.  PI. 

masc. 

un,  on,  en, 
an,  -0 

G.  -0,  on,  en, 
D.  ou,  eu 

G.  -0,  in, 
D.  uu,  eu 

G.  -0,  en,  on, 

au,  i).  uu,  ou, 

en,  an 

-ä(n) 

an,  on,  en, 
a,  e 

a,  an,  en 

a,  an 

en,  a,  au 

-im 

un,  en,  in,  on 

on,  eu,  0,  un, 
in 

un,  en 

un,  en 

-i 

i,  e 

i,  e 

i 

i,  e 

Wie  stellen  sich  nun  dazu  die  literaturdeukmäler?') 
Es  handelt  sich  daiuui,  ob  die  geschwächten  -c  der  reime  der 
niundart  alem.  dichter  gemäss  waren  oder  nicht.  Behagliel 
meint  zwar  s.  17,  die  möglichkeit  müsse  zugegeben  werden, 
dass  schon  'einzelne'  der  jüngeren  formen  existierten.  Wenn 
wir  berechtigt  waren,  l)ereits  für  die  ahd.  periode  auf  grund 
von  Notkers  acceutuieruugsrcgeln   einen  Wechsel  der  quantität 


1)  Es  kann  sich  hier  nur  um  die  anfangsperiode  der  mhd.  literatur 
handeln;  auch  die  'gegner  einer  mhd.  Schriftsprache'  sind  des  glaubens, 
dass  im  laufe  des  lo.  Jahrhunderts  ein  allgemeinerer  typus  für  die  lite- 
ratur sich  festgesetzt  hat. 


496  KAUFFMANN 

für  die  in  frajic  stehenden  cudsilbenvucale  anzusetzen,  und 
daran  wird  nicht  gezweifelt  werden  icönneu,  so  niusste  bereits 
im  11.  12.  jhdt.  eine  ganze  kategoric  von  formen 'lautgesetzlieh' 
mit  geschwächtem  c  erscheinen,  so  weit  eben  gekürzter  end- 
vocal  zu  gründe  lag.  Der  dopjjellieit  der  lautformen  (ge- 
schwächter neben  vollem  vocal)  entspricht  noch  durchaus  die 
Orthographie  der  Urkunden,  und  ich  glaube  sie  kann  nur  auf 
diese  weise  sachgemäss  erklärt  werden.  Demnach  ist  es  ein 
durchaus  unberechtigtes  ansinnen,  wenn  Behaghel  in  den  poe- 
tischen litcraturdenkmälern  durchgchends  die  vollen  end- 
vocale  verlangt.  'Es  ist  zwar  äusserst  unwahrscheinlich,  aber 
docii  nicht  ganz  ausgeschlossen,  dass  schon  die  mundart 
Ulrichs  (von  Zazikofen)  vereinzelte  Jüngere  -cn  gekannt  hätte. 
Immerhin  müssten  dann  solche  reime  bei  Ulrich  viel  seltener 
auftreten,  als  bei  dichtem,  die  nur  -en  in  den  cndsilbcn  kennen' 
s.  18.  Bei  meiner  auffassung  fällt  all  das  weg.  Wir  müssen, 
nach  der  Orthographie  zu  schliesscn,  voiaussetzen,  dass  Ulrich 
von  Zazikofen  in  seiner  mundart  geschwächte  eudvocale  als 
historisch  gleichwertig  neben  den  vollen  besass;  das  numerische 
Verhältnis  ist  für  uns  ül)erhaupt  nicht  mehr  festzustellen.  Es 
ist  sehr  zu  beachten,  dass  nach  Hahn  (ausgäbe  s.  XVll)  die 
Wiener  handschrift  des  Lanzelet  'tiefere  vocale  statt  e  in  den 
cndungen,  z.  b.  hekandan,  sahun,  hosun\  aufweist.  Es  genügt 
diese  dürftige  angäbe  (in  dem  Variantenapparat  sind  dieselben 
leider  nicht  berücksichtigt),  zusammen  mit  den  predigten  und 
der  Benedictinerregel  überhaupt  nicht  mehr  zwischen  der  Ur- 
kunden- und  der  literatursprache  zu  scheiden,  wir  sehen 
dass  dieselbe  Schreiberpraxis  geherrscht  zu  haben  scheint. *) 
Behaghel  war  meiner  meinung  nach  durchaus  im  irrtuni, 
wenn  er  reime  wie  heginnen  :  hinnen,  n-unncn  :  mannen, 
(tonnen  :  mamien  (s.  17)  als  gegen  die  mundartliche  lautform 
verstossend  betrachtete,  ich  finde  im  Lanzelet  allerdings  keinen 


^)  Folglich  entspricht  es  auch  nicht  den  tatsachen,  wenn  Wackernagel, 
Literaturgesch.  s.  124  behauptet:  'Das  dreizehnte  Jahrhundert  kennt  die 
schärfere  ausprägung  und  sonderung  der  mundarten  und,  damit  verbun- 
den, nachhaltende  altertüinlichkeit  der  formen  nur  noch  in  zwei  gattungen 
der  literatur,  die  vom  hofleben  weniger  berührt  oder  gar  von  demselben 
ausgestossen  waren,  in  der  prosa  der  geistliclikeit  und  in  der  Volks- 
dichtung'.   Dagegen  auch  Pfeiffer,  Freie  forschung  s.  .SIT  f. 


5IITTELH0CHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  497 

reim  auf  die  volleii  eudvocalc,  dagegen  zeigen  die  baudschriften 
mehifacli  im  inncrn  des  verses  die  endung  -an:  ü:;enan  4101, 
inuan  4674,  ii2,aH  4773,  mnatt  4890,  obenan  5056  W  u.  a.; 
zeugniss  geoug,  dass  die  iiiuudart  des  dichters  auch  hier  die 
doppelfornieii  gehabt  hat  und  es  mögen  äussere  tecimische 
gründe  gewesen  sein,  dass  sie  im  reime  nicht  gebunden  wor- 
den sind.  Ebenso  wenig-  dürfen  die  übrigen  -en-formen  (ahd. 
-du,  -nn)  als  nicht  numdartlich  angefochten  werden,  da  eine 
grosse  zahl  von  reimen  existiert,  in  denen  die  vollen  vocale 
zulässig  sind,  und  das  gleiche  gilt  bei  beurteilung  der  -e  aus 
•i  Der  reim  vcrhenye  :  Icnge  49.  50  (Behaghel  s.  17)  ist  ge- 
wiss zu  Ulrichs  zeiteu  mundartlich  ebenso  correct  gewesen,  wie 
er  CS  heute  im  schweizerischen  sein  würde,  vgl.  oben  s.  493  f. 
Au  zutreffenden  reimen  hebe  ich  hervor:  gedwhlc  :  brmhle 
Lauz.  217.  218;  bedeckte  :  brcchle  757.  758;  tccle  :  hiclc  Voll. 
1578.  4989.  4990;  erten  :  kSrlen  (conj.  praet.)  761.  762  u.  a.: 
und  wenn  sich  Behaghel  an  dem  reim  kemenälen  :  beraten  89. 
90  stösst,  so  führe  ich  kemenäten  :  täten  (3.  pl.  praet.)  1185. 
1186.  2 127.  2128  als  gegenzeugen  an;  es  lässt  sich  nicht  be- 
weisen, dass  die  zahlreichen  vroiuven  :  schouwen  incorrect  sind. 
Vgl.  ferner  zuo  den  stunden  :  wunden  (A.  PI.)  2197.  219S;  wol 
auch  künden  :  stunden  8705.  8706  u.  ö.;  sümden  :  schümden  2567. 
2568;  gunden  :  künden  81.  82;  gerte  :  werte  83.  84.  6167.  6168; 
gewaget  :  yenissaget  93.  94;  stunden  :  künden  3469.  3470;  bran- 
den :  bekunden  3701.  3702;  enge  :  (enge  4869.  4870;  gerende  : 
werende  5240.  5241;  täten  :  häten  5555.  5556;  gelobet:  ertobel 
5889.5890;  handeln  :  wandeln  8213.8214;  mähte  :  töhte  SIU. 
8712  u.  ö.,  wol  auch  machen  :  suchen  9007.  9008  u.  a.,  lauter 
fälle,  in  denen  die  einsetzung  der  vollen  endvocale  statt- 
haft wäre.  Ich  mache  noch  auf  die  reime  in  Keiuhart  Fuchs 
(Elsass)  ed.  Eeissenberger  aufmerksam,  die  sehr  instructiv  sind; 
während  das  'ursj)rüngliche  gedieht'  gehandelot  :  döt  1617  reimt, 
finden  wir  1750  gehandelt^  ebenso  gän  :  damiän  IIb.  776,  län  : 
dannän  821.  822,  kan  :  dannan  1561,  dannan  1730,  aber  daniiin 
1714,  {gewinnen  :  hinnen  1989,  mit  unminnen  :  liinnen  521.  522). 
Vgl.  ferner  wainunde^W,  weitere  belege  Weinhold,  Al.gr.  s. 380; 
gleti^\i)\  gletinSW;  einost  Uli;  nher  santest  1^1  b;  weizgot  : 
umbemurot  829.  830;  gevolgöt  :  not  1645.  1646.  Vgl.  gevolgete 
1634;    war)iete  752;    gelagot  :  not  1697.    1698.     Die   jüngeren 


498  KAUFFMANN 

texte  P  imd  K  haben  an  den  bctretieuden  stellen  die  reime, 
weil  ihrer  mundait  nicht  augchörij;',  umgangen  und  andere 
constructioneu  eintreten  lassen  (vgl.  Schönbach,  Zs.  l'da.  29,  52. 
55.  60.  63.  64),  doch  ist  tot  :  ühcrkündiydt  1127.  1128  stehen 
geblieben.  Schon  für  das  alte  gedieht  ist  demnach  die  existenz 
der  vollen  neben  den  geschwächten  endvocalen  gesichert  und 
sind  formen  wie  scotvittc  KUl  (analoge  fälle  bei  Weinhold,  AI. 
gr.  §  358),  wochin  \}.  PI.  {:  geslocliin)  18*.M,  tjehandclt  1750  u.  a. 
nach  unserer  auffassung  anstandslos.  Auch  in  Barlaam  und 
Josaphat  stehen  noch  z.  b.  yelichsonte  8,39  (D.  13. — 14.  jhdt.), 
hinnan  9, 18.  164,2  C.  K.  175,34  C.  181,13  B  u.  a.,  hattisl  111,35, 
aber  haitost  1),  38  (D)  (vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  s.  372),  saglont 
35,  13  (A.  D.),  (lamian  76,35  (A.  ü.).  171,2  K,  ze  shicr  vinstrun 
K,  lingun  C  92,33,  dise  seVnm  lere  137,  20  K,  wollont  278,3 
(d.  13.  Jhdt.),  dannmi  285,  10  (d,),  dannan  :  man  337,39.  40  K; 
n-einonde  373,29.  374,2  (A).') 


')  Vgl.  ausserdem  die  satuuiluiigen  bei  Jak.  Griimu,  Graiuiu.  1,  S77 
(ueudr.),  Weinhold,  AI.  gr.  s.  3S0.  Meinloh  von  Sevelingen  hat  nur 
varn  :  hewarn  als  in  frage  kommende  bindung,  betvarn  ist  so  wenig 
anstüssig  als  die  gern,  bewcrn,  gcmanl  etc.  der  Urkunden  s.  u.  s.  472. 
Ebenso  sind  zu  beurteilen  bei  Heinrich  von  Rugge:  tvcincn  1)7,  38: 
meinen  08,  2.  gert  :  wert  !)s,  33.  34.  IDO,  2.  5.  gebunden  :  stunden  101,  27. 
leren  :  cren  :  verkeren  :  meren  110,  27.  20.  3!.  33  (gehören  29  und  33  zu- 
sammen? doch  vgl.  anm.),  dagegen  verwandelöt  :  rot  107,  13.  14,  für 
correct  halte  ich  auch  zeren  :  meren  HO,  3.  4  (s.  o.  s.  478),  über  behüele 
:  güele  etc.  vgl.  s.  493  f.  Aus  Bartsch,  Die  Schweizer  Minne- 
sänger notiere  ich:  gueti  Rudolf  von  Fenis  3,  24.  32  B.  liebi  Ulrich  von 
Singenberg  24,  8.  23  BC.  24,17  B.  conj.  merti  :  erti  25,2.4  A.  Göli: 
anderan  1,  36  B.  zwirant  1,  54  B.  samnoni  2,  49  C.  Jacob  von  Warte: 
liebitn  1,36.  Hadloub:  dannan  5,  33  C.  6,6  C.  hinnan  36,3.  stubun 
18,  :32  C.  matigi  26,3  C.  liebi  34,  5.  6  C.  ro^ti  52,  101  C.  Ringgenberg: 
ließ  30  C.  halost  47  C.  santost  45.  Gliers:  gesundost  2,  146.  ütte  zem 
Turne:  gallun  IS.  Rost  ze  Sarne:  liebi  5, 10  C.  Vgl.  noch  Bartsch,  Germa- 
nistische Studien  I,  s.  8  und  anm.  zu  v.  617.  Heinrich  von  Veldeke:  Annan 
:  dannan  1451,  52  B.  u.  a.  —  Es  fragt  sich,  wie  es  psychologisch  aufgefasst 
werden  muss,  wenn  wir  einem  Individuum  schwanken  zwischen  'vollem' 
und  'geschwächtem'  vocal  aufbürden.  Die  Sachlage  ist  hier  eine  ganz 
andere,  als  wenn  Behaghel  die  eine  form  als  'analogiebildung'  erklärt 
(vgl,  0.  s,  473),  die  immer  eine  gewisse  spontane  activität  der  gedächnis- 
kraft  erfordert,  welche  nicht  einen  augenblick  ruht,  nachdem  sie  eben 
in  action  gewesen  ist.  Bei  meiner  mit  Paul  zusammentreffenden  er- 
klärung  involviert  ein  bestimmter  satzrhythmus  eine  bestimmte  lautform, 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  499 

Weuu  uuu  Beluighel  scliliei^slicb  Boiier's  edelstein  (14. 
jhdt.)  als  gcgcubcwcis  anzieht,  so  kann  idi  hier  wider  niclit 
beistimmen.  Dass  bei  ihm  hinnen,  dannen  etc.  nicht  im  reime 
erscheinen,  l?ann  nicht  für  die  ausschliessliche  existcnz  der 
volleren  hinnan,  dannan  geltend  gemacht  werden,  und  wenn 
die  'eigcuschal'tssubstantivc'  nicht  reimen,  so  stimme  ich  hier 
Behaghel  durchaus  bei,  dass  Boner  'f/üeli,  schoeni  etc.  sprach 
und  es  seiner  mundart  an  reimbindungeu  dafür  gebrach'  s.  18. 
Aber  ich  habe  oben  s.  4SI)  ti'.  ausgeführt,  dass  /-  dieser  kategorie 
als  jüngere  eutwicklung  aus  -e  aufgefasst  werden  muss,  die 
im   14.  jhdt.  in  der  Schweiz  bereits  stattgefunden  hatte.') 

Aus  allem  geht  hervor,  dass  sich  nicht  beweisen  lässt, 
dass  die  alem.  dichter  wie  Ulrich  von  Zazikofen  u.  a.,  in  ihren 
reimbiudung-en  lautformen  verwendet  haben,  die  ihnen 
ihre  eigne  mundart  nicht  gewährt  hätte.  Wenn  wir  die 
lautgeschichte  der  endsilbenvocale  nach  unseren  denkmälern 
ahd.  zeit  einer-  und  nachclassischer  mhd.  zeit  (ende  des  13. 
jhdts.)  andererseits  objectiv  zu  beurteilen  vermögen,  so  hat  der 
alem.  dialekt  bereits  im  11.  12.  jhdt.  geschwächte  -e  für  alle 
kurzen  vocaltimbres  ahd.  periode  eintreten  lassen,  die  langen 
spätahd.  endvocale  haben  ihre  qualität  bewahrt,  über  die 
quantität  lässt  sich  nichts  bestimmtes  sagen.  Folglich  brauchte 
ein  Ulrich  von  Zazikofen  u.  a.  nicht  lautformen  fremder  gegen- 
den  oder  einer  bestimmten  literaturspracbe  sich  anzueignen, 
vielmehr  hat  ihm  sein  eigener  heimatlicher  dialekt  die  ge- 
schwächten wie  vollen  flexionen  geboten.  Folglich  ist  von 
dieser  seite  her  kein  argument  gegen  eine  nicht  der  mundart 
gemässe  sprachform  aufrecht  zu  erhalten.  Folglich  wird  es 
vorerst    immer    noch    bei    der    früheren   ansieht  'sein   beweu- 


wenn  der  rhythmus  eingesetzt  ergeben  sich  ursprünglich  mechanisch  die 
iliui  adäquaten  töne  und  quantitäten  (vocaltimbres).  Für  die  reime  der 
dichter  kommt  dazu,  dass  sehr  viel  refiexion  über  die  sprachform  mit 
unterläuft,  die  für  einen  urkundeuschreiber  oder  prosaiker  nicht  in  dem 
masse  besteht,  die  'reimnot'  kann  häutig  für  diese  oder  jene  laut- 
tbrm  entscheiden,  und  es  darf  in  unserem  falle  der  'geschwächte'  vocal 
der  endung  nicht  auf  rechnung  fremdsprachlichen  einflusses  gesetzt 
werden. 

')  III,  IV)  findet  sich  noch  begegnoten  in  papierhandschriften  des 
15.  jhdts.  Vgl.  noch  got  :  verdknot  22,  ül.  (>2;  spot  :  vcrwandefot 
2'.»,  17.  IS, 


500  KAUFFMANN 

den  haben  müssen'.  Von  dieser  seite  war  kein  angriff 
niöglicb. 

Im  anschluss  an  Paul,  Beitr.  Yl,  137  ff*,  lässt  sich  die  ge- 
schichte  der  ahd.  cndsilbenvocalc  in  den  alem.  dialekten») 
skizzieren:  'ein  von  natur  langer  oder  durch  do})pelconsonanz 
gestutzter  vocal  auf  der  niittclstufe  oder  mindestens  auf  der 
stärksten  mittelstufc  entzieht  sich  der  abschwächung.  Nur 
haben  diejenigen  formen,  in  denen  die  erhaltung  des  vollen 
vocals  durch  die  syntax  bedingt  ist,  immer  nebenfornien  mit 
abgeschwächtem  vocal  zur  seite,  von  denen  sie  gefahr  laufen, 
ganz  verdrängt  zu  werden.'  Paul  a.  a.  o.  s.  137  f.  Ich  glaube  mit 
dem  eben  vorgeführten  material  die  Paul'sche  anschauung  aufs 
neue  gesichert  zu  haben-),  und  es  kann  als  ausgemacht 
gelten,  dass  bei  dem  schwanken  der  ilexionsendungen  'wirk- 
lich verschiedene  lautstufen  ^orliegen,  die  unter  verschiedenen 
syntaktischen  bedingungen  entwickelt  sind.  Paul  a.  a.  o. 
s.  13'.)  anni.  1.  ISämtlichc  langen  endvocalc  auf  schwäch- 
ster nachdrucksstufe  sind  in  ahd.  i)eriode  quantitativ 
reduciert  worden,  unter  denselben  uachdrucksbedingungen 
ist  die  qualitative  reduction  zu  e  durch  eine  beschleu- 
nigung  des  Sprechtempos  erfolgt,  die  in  der  zungen- 
articulation  nachdrucksloser  vocale  eine  art  neutralstellung 
herbeiführen  konnte.  Daneben  bleiben  aber  unter  der  macht 
des  nebentons  (stärkste  mittelstufe  Pauls)  positione-  oder 
natura-lange  endvocale  gewahrt.  Allein  damit  ist  die  entwick- 
lung  noch  nicht  abgeschlossen  gewesen.  Nun  machen  sich 
weitere  Specialgesetze  der  alem.  mundarten  geltend,  unter  deren 
Wirksamkeit  neue  Veränderungen  eintreten. 

Untersuchungen  ganz  anderer  art  haben  mich  seit  längerer 
zeit  darauf  geführt,  bei  der  feststellung  einer  Chronologie  der 
lauterscheinungen   des  schwäbischen   dialekts   den  eintritt  des 


')  Bezüglich  der  nördlicheren  mundarten  glaube  ich,  dass  vermut- 
lich das  lebendigere  Sprechtempo  und  die  energischere  musi- 
kalisch hochtonige  accentuation  der  Stammsilbe  (im  gegensatz 
zu  den  alem.  dialekten,  in  denen  markierte  nebentöue  herrscheu)  die  ab- 
schwächung eine  stufe  weiter  geführt  haben;  beide  momente  mussten  eine 
ausgedehntere  reduction  an  qnantität  und  qualität  zur  folge  haben. 

-)  Ich  verstehe  nicht,  warum  Behaghel  dieselbe  keiner  discussion 
gewürdigt  hat. 


MITTELHOCHDEUTSCHE  SCHRIFTSPRACHE.  501 

sämtliche  aleai.  mimdarten  uuiCassseudcu  lautgesetzes  der  nasa- 
lieruug-  ins  12. — lo.  jhdt.  zu  veiiegeu.  In  staninisilbeu  hat 
heute  das  hoch-  und  niedcralem.  die  nasalvocale  nicht  mehr, 
vielmehr  ist  im  laufe  der  zeit  wider  choauenverschluss  einge- 
treten, dagegen  hat  das  schwäb.  sie  festgehalten.  Wol  aber 
gehen  schwäb.  und  alem.  darin  zusammen,  dass  in  endsilben 
keine  spur  des  nasals  geblieben  ist,  die  alte  endung  -en  >  9 
(nicht  nasaliert).  Paul  a.  a.  o.  s.  lo9  hat  diesen  abfall  des 
nasals  nach  dem  Vorgang  von  öicvers  unter  denscll)en  ge- 
sichtspunkten  wie  die  allgemeine  abschwächung  der  endsilben- 
vocale  betrachtet,  und  es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dass 
diese  anschauung  für  die  ebenda  aufgeführten  beispiele  zutrifl"t, 
es  ist  auch  möglich,  dass  der  'abfall'  des  nasals  im  auslaut 
chronologisch  gleichzeitig  vor  folgender  cousonanz  eingetreten 
sei  (a.  a.  o.  anm.  2),  da  nun  aber  in  den  alem.  dialcktcn  auch 
in  Stammsilbe  die  lautfolge  vocal  -|-  nasal  zu  nasalvocal  führte, 
musste  in  späterer  zeit  —  ich  werde  durch  verschiedene  combi- 
uationen  ins  12. — 113.  jhdt.  geführt  —  auch  in  absoluter  auslaut- 
stellung  der  nasal  schwinden.  Damit  stimmen  vortrefllich  die 
oben  s.  178  ff.  mitgeteilten  belege  für  -o,  -a  =  ahd.  öu,  ün,  wie 
die  zahladverbia  drislo  etc.  s.  4SS,  die  anders  überhaupt  nicht  sich 
werden  erklären  lassen.  Vgl.  auch  Weinhold  s.  348.  378.  Im 
13.  jhdt.  mussten  also  die  -on,  -im,  -an  etc.  durch  nasalvocale  hin- 
durch den  nasal  verloren  haben.  Die  Schreibungen  der 
Urkunden  und  deukmäler  sind  also  nicht  der  aus- 
sprachsform  congruent,  wenn  der  nasal  überwiegend 
beibehalten  wird.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  sich  n\is\.o,u,a,c 
gleichzeitig  zu  d  reducierten,  es  lässt  sich  nicht  beweisen,  dass 
der  heutige  unbestimmte  laut  schon  das  product  der  Schwächung 
bei  dem  Übergang  von  ahd.  zu  mhd.  periode  gewesen  sei,  viel- 
mehr scheint  diese  reduction  erst  jetzt  eingetreten  zu  sein  und 
hat  c  so  gut  mitbetroffen,  als  o,  u,  aA)  So  fielen  nach  mei- 
ner meinung   lautlich    die    e-vocale    mit    den    vollen    endungs- 


^)  Zweifellos  stellen  aucli  die  o  in  gravo,  schenko,  altho,  crbo  bei 
Behaghel  s.  0,  Weinhold,  Al.gr.  s.  432,  nur  eine  transscription  des 
p-lautes  dar,  der  vielfach  in  späteren  Jahrhunderten  in  derselben  weise 
mit  o  widergegeben  worden  ist;  vgl.  Weinhold,  AI.  gr.  §26.83.  'Eine 
Übertragung  aus  dem  Gen.  und  Dat.  PI.'  wie  Behaghel  will,  erscheint 
mir  als  anachronismus. 


502  KAUFFMANN 

Yücaleu  zusammeD,  imd  uuu  ist  es  leicht  denkbar,  dass  auch 
die  vollcu  M»cale  iu  der  stellaug:  vor  -/.  -^7  (pract.,  part.  praet., 
2.  sg.  praes.  der  o^-verba)  nachdem  int'..  ])raes.,  part.  praes.  und 
die  alten  satzdoppclfornicn  mit  -e-  iu  ^  zusammengefallen 
waren,  allmählich  unterliegen  und  dem  gedächtuis  entschwinden 
mussten,  vgl.  noch  die  reime  bei  Boncr  u.  a.,  Wcinhuld, 
AI.  gr.  i;  43.  So  sehe  auch  ich  in  der  bunten  Orthographie 
der  Urkunden  etc.  nichts  anderes  als  den  reduetionsvocal  .* 
iBehaghel  s.  5  f.),  vgl.  auch  Schmeller  bei  Griesbaber  II,  XI  f. 
Allein  noch  bleibt  das  bedenken  bestehen,  wie  es  denn  ge- 
kommen sei.  dass  die  sehreiber  im  grossen  ganzen  so  auffallend 
genau  mit  den  historischen  (ahd.i  hingst  untergegangenen  laut- 
formen in  ihrer  Orthographie  zusammentrafen? 

"Wenn  ahd.  -en,  -on,  -un,  -an  so  gut  wie  ahd.  -f«,  -ön,  -ün,  -du 
zu  c^  geworden  waren,  warum  ist  im  13.  14.  jhdt.  -on,  -un,  -an 
nicht  häufiger  auch  an  stelle  jener  früheren  kürzen  eingetreten, 
warum  sind  fälle  wie  komon  inf.  (s.  o.  s.  469),  tratjon,  werdun, 
[/ebiefun,  unpfelhun,  helff'un,  haissun,  bindun,  lihun,  neimm  Wein- 
hold, AI.  gr.  §  35U.  352.  370,  kindon,  hömon.  negon,  hiisron  (s.  o. 
s.  479  f.),  engilon,  geiston,  himelon,  sinnon,  phennhigon,  fogtun, 
neynn  Weinhold,  AI.  gr.  s.  415  f.,  kindon,  nerchun,  mälon,  hoiip- 
lon,  jöran,  nortan,  dingan  s.  425,  namon,  nillun,  herrun,  scha- 
d«n,  gehrestun,  hasan,  lantgrävon,  geseUan,  die  andran  s.  434  f., 
mannen  s.  44S  u.  a..  Gotzun,  offun,  Odun  Behaghel  s.  6.  nicht 
zahlreicher?  Mir  bleibt  zur  erklärung  dieser  auffallenden  er- 
scheinung  nur  der  ausweg,  dass  auf  alem.  boden  das  ortho- 
graphische System  des  11. — 12.  Jahrhunderts  noch  im  13.  14. 
Jahrhundert  traditionell  im  grossen  und  ganzen  beibehalten 
worden  ist,  was  mir  um  so  leichter  glaublich  scheint,  als 
der  Schreibunterricht  immer  au  band  geschriebener  vorlagen 
gegeben  worden  sein  muss. 

Doch  ist  zu  beachten,  dass  -on,  -un,  -an  vielfach  unter 
sich  coufundiert  worden  sind,  vielfach  ist  die  bezeichnung  -an 
tnr  ahd.  -an   an  stelle  von    ahd.  -on,  -un   getreten  ^j,    besonders 


-)  Dazu  kommt  noch  ein  weiteres.  In  den  heutigen  alem.  mundarten 
ist  ?  sehr  stark  a-haltig,  d.  h.  der  resonanzraum  tür  a  und  9  ist  beinahe 
derselbe,  ich  glaube  dass  dies  auch  bei  den  im  14.  Jahrhundert  immer 
zahlreicher  auftretenden  a-schreibungen  von  einflnss  gewesen  ist.  —  Es 
mass  hier  ferner  bemerkt  werden,   dass  auch  andere  etym.  volle  vocale 


MITTELHüCHDELT.SCHE  SCITRIF TSPRACHE.  503 

häufig  ist  -nn  durcli  -un  ersetzt  worden,  seltener,  der  zahl 
der  raöglicheu  fälle  entsprechend  ist  -on  für  -an  eingetreten 
s.  o.  s.  4S3,  "Weinhold,  AI.  gr.  §  26.  Beachtenswert  sind  die 
schwäh.,  seltener  alem.  -ii-  an  stelle  von  ahd.  -o-  der  -o«-verba 
und  im  pl.  praet.  der  sw.  verba  überhaupt,  s,  o,  s.  46S  tf.  Ich 
halte  es  für  sehr  wahrscheinlich,  dass  hier  ein  lautlicher  Über- 
gang von  0  >  u  bereits  in  ahd.  periode  eingetreten  ist,  Isidor 
und  Otfrid,  die  in  andern  beziehungen  mit  dem  schwäb.  ver- 
wantschaft  zeigen,  kenneu  gleichfalls  -u-  an  dieser  stelle 
ebenso  Tatian  u.  a..  vgl.  Braune.  Ahd.  gr.  §§  319.  320.  360 
anm.  1  {zi  i/invihhunne  Ahd.  gl.  I,  326,  51),  doch  bedarf  dies 
einer  besondern  Untersuchung. 

Die  tatsache,  dass  ein  und  derselbe  Schreiber  iu  ein  und 
derselben  form  vielfach  bald  'vollen"  bald  'geschwächten"  end- 
vocal  gesetzt  hat  (s.  o.  s.  472  tf.),  ist  nur  so  erklärlich,  dass 
etym.  -o,  -u  wie  etym.  -e  in  d  zusammengefallen  waren; 
dass  die  von  anfang  au  in  der  spräche  stark  überwiegen- 
den -e  in  der  Orthographie  immer  mehr  terraiu  gewinnen, 
ist  nicht  verwunderlich,  nachdem  o  allgemeiner  endungsvocal 
geworden  war. 


in  den  heurigen  dialekten  durch  p  vertreten  sind,  z.  b.  schwäb.  d?b9i  = 
mhd.  dühi  u.  ähnl.,  faeßtsrvanisk  fünfundzwanzig  (.-'  =  und).  an.'>le  dim. 
zu  Anna,  fasn9t  (fastn.icht)  u.  a. 

MARBURG,  den  16.  juui  IS^T. 

FRIEDRICH  KAUFFMA^'X. 


ZUR 

ALTGERMANISCHEN  SPRACHGESCHICHTE. 

GERMANISCH  UG  AUS  UW. 

Vi  ie  in  ueunordischen  mundarten  uw  in  ug  {^g  als  stimm- 
hafter Spirant  gesprochen)  übergeht  (vgl.  Noreen,  Arkiv  I,  161  ff.), 
so  ist  vorgerm.  an-  {uu)  unter  gewissen  bedingungen  im  iir- 
germanischen  in  ug  tibergegangen.  Diesen  lautiibergang,  der 
bisher  fast  gar  nicht  beachtet  ist,  will  ich  hier  näher  behandeln, 
um  dadurch  die  von  mir  begründete  lautverschiebuug  bei  einer 
wichtigen  Wortsippe  nachzuweisen. 

1.  Ahd.Jugimd  fem.,  dat.  Jugundi]  selten  und  später  jm»- 
gund.  Mhd.  Jiigent,  Jugend:,  nhd.  Jugend.  Asächs.  Juguth,  gen. 
und  dat.  Jwjuthi  (psalm.  Jug'mde  dat.).  Nndl.  Jeugd.  Ags.  geo- 
gut),  das  als  ö-stamm  flectiert  wird.  Dies  wort  zeigt  einen 
stamm  Jugünpi-.  Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  dies 
mit  ind.  ?/ui'a?z-,  jung,  \2ii.  Juven-,  womm.  juvenis,  woyon  Juventus, 
zusammengehört.  Daher  ist  Jugünpi-,  statt  '^Junn'mpi-,  aus 
vorgerm.  7«//'w//-  entstanden,  wie  auch  Kluge,  Stammbild.  §  1311) 
erkannt  hat."  Das  un  der  früher  betonten  silbe  (statt  en) 
scheint  aus  anderen  formen,  in  denen  das  un  unbetont  war, 
übertragen. 

Die  form  auf  Jug-  wird  durch  die  Übereinstimmung  des 
ags.,  asächs.,  ndl.,  ahd.  wenigstens  als  urwestgerm.  nachge- 
wiesen. Später  hat  man  \idiQ\\  Jung  ahd.  Jungujid,  mhd.  Jungenl 
Junz/el,  mitteleng.  youngth  (vgl.  norw.  dial.  yngd)  gebildet. 

Got.  Junda   setzt    dagegen    vorgerm.  ''^Jünla   aus    '^-Junnla 
voraus. 

2.  Altnord.  prUga,  praet.  prUgabi.  Weigand  und  Kluge, 
Beitr.  IX,  173  verbinden  dies  mit  mit  ahd.  drUh  fessel,  drucchen, 
ags.  pryccan,  drücken.  Allein  prUga  bedeutet  nie  'drücken' 
sinnlich  gefasst,  dagegen  'bedrücken,  durch  drohungen  zwingen' 


BUGGE,  GERMANISCH  IJG  AUS  UTF.  505 

und  ist  im  ueunordischen  das  g-e wohnliche  wort  für  'drohen'. 
Es  ist  oftenbar  mit  den  folgenden  westgerman.  Worten  ver- 
vvant:  ahd.  ürao,  drö  f.  drohung,  ags.  prea:  ahd.  drouwen, 
drohen,  ags.  prew/eun,  prean  'arguere,  inerepare,  corripere*, 
auch  'eogere,  coartare,  urgere  (bedrücken,  zwingen)'.  Hier- 
nach scheint  mir  der  nordische  verbalstamm  prüga-,  urnord. 
''''prügö-  aus  '^'prwvd  -  entstanden. 

3.  Ags.  hrycg  f.,  engl,  hriüge,  setzt  einen  urgerm.  stamm 
'Hrugjö-  voraus.  Auch  in  schwacher  form  afries.  hrigge,  hregge, 
mnl.  brugghe,  ahd.  hrucca,  mhd.  uhd.  brücke,  altn.  hryggja. 
Das  altnorw.  wort  bedeutet  selten  brücke,  gewöhnlich  hafen- 
damm,  quay,  auch  eine  zur  landung  augewante  planke. 

Daneben  steht  altnorw.  isl.  hrU  (gen.  sg.  hruar,  n.  pl.  hruar) 
f.,  schwed.  däu.  hro  'brücke',  auch:  fester  weg  über  sümpfe, 
treppe  vor  einem  hause. 

Kluge  meint,  dass  hrü  aus  einer  grundform  '''bruwü-  für 
'•'brug7vö-  entstanden  sei.  Allein  dass  g  diesem  stamme  ur- 
sprünglich nicht  zukommt,  wird  durch  die  formen  der  verwan- 
teu  sprachen  erwiesen.  Ksl.  brüvi  f.  braue,  auch:  poutieulus. 
Gr.  6(pQv-^  oder  oqQvc.  f.  braue,  jeder  erhöhte  rand,  uferrand; 
ocpQv?]  bergrand.  Ind.  bhrU-s  f.  braue,  acc.  bhn'wam,  instr. 
hhruva .  Ir.  bra  braue,  pl.  brai;  daneben  gen.  dual,  bniad. 
Mit  altn.  brU  f.  'brücke'  formell  identisch  ist  ags.  brU  f.  braue, 
cas.  obl.  brüwe,  pl.  brUwa.  Erweitert  ags.  gen.  pl.  brüna,  altn. 
brün  f.,  pl.  bnfnn,  braue,  hervorragender  rand.  Dem  ahd. 
hrärva  f.  braue,  altn.  brä  f.  augenwimper  (urgerm.  Hreirn). 
ags.  brcew  m.,  palpebra,  entspricht  formell  gall.  by^tva  'brücke' 
aus  "^breva. 

Hiernach  setzt,  wie  ich  vermute,  ags.  brycg,  sisimm '^bruggjo-, 
älteres  ''•'•hrugijä-  aus  '■•'bru/rijä-  voraus.  Für  die  ableitung  ver- 
gleiche man  gr.  ycovia,  lyydtj,  x/Lioi/j  u.  s.  w.  Im  ags.  brUft-e 
(cas.  obl.)  hat  sich  das  tv  nach  einem  bei  der  freien  accentua- 
tion  betonten  vocale  ungeäudert  erhalten  \'^brugJ  aus  Hrwvj, 
Kluge,  Et.  wb.^]. 

Lat.  brukas  m.  Steinpflaster,  steinbrücke,  lett.  bruge,  bi-ugis 
poln.  weissruss.  b^-uk,  est.  prüggi  sind  aus  dem  schwed.  bryggja 
oder  aus  einer  niederdeutschen  form  entlehnt. 

4.  Nhd.  mückc^  mhd.  mücke,  mucke  f.,  asächs.  muggia,  ndl. 
mng,   ags.  mycge,   eng.  midge,  mittschwed.  myggia  (Rydqvist  III, 


50G  BUGGE 

132).  Diesen  formen  Avürde  ein  got,  ■hmif/jö,  stamm  mugjrm-y 
entsprechen.  Sehwed.  dün.  inygg^  myg  n.  setzt  einen  stamm 
mijggjn-  ans  mugja-  voraus.  Fick  und  Kluge  haben  dies  wort 
mit  gr.  ftvy.äofiai  ver])unden.  Hiergegen  sprechen  mehrere, 
wie  es  sckeint,  vcrwante  nordische  formen.  Altisl.  w?//"  n. 
'mücke',  auch  in  norweg.  und  sehwed.  mundarten.  Eine  form 
aus  Dalarne  (Schweden)  setzt  altes  mifja  f.  voraus;  s.  Xoreen, 
Ordlista  128  f.  Neben  dem  compositum  norweg.  dial.  myhanke 
(eine  art  langbeiniger  miicken;  ?/ geschlossen,  setzt  altn.  langes 
if  voraus)  finden  sich  in  anderen  mundarten  meliank  {e  ge- 
schlossen, setzt  altn.  langes  e  voraus)  und  mehrere  formen  mit 
mer.  Wenn  mugg'm,  mijggia  mit  my  zusammengehört,  kann  das 
//  desselben  nicht  dem  x  von  ficxäofmt  entsprechen.  Die  ver- 
wantschaft  mit  fny~  beweist  vielmehr,  das  mücke,  stamm  '''•mug- 
jon-,  und  nord.  ?nygg  n.,  stamm  '"^iniigja-,  aus  ''^•muwj-  entstanden 
sind,  '''muw-  stand  zur  zeit  der  freien  betonung  jedenfalls  in 
protonischer  Stellung.  \'ielleicht  darf  man  vorgerm.  ^mumiü, 
'■"•mu/rih-?))  voraussetzen.  Zwischen  altn.  wt/"  und  norw.  dial. 
mehank  besteht  dasselbe  Verhältnis  der  vocale  wie  zwischen 
altisl.  hhfja  ^obdach  geben,  schützen,  wärmen'  und  dem  praeter, 
dieses  verbs  hle^^a  (auch  Iil/r^a),  zwischen  sy'Ja  'tabularum  in 
corpore  navis  ordo',  praes.  inf.  ''''sfja  'zusammennähen,  zu- 
sammenfügen' und  dem  praet.  dieses  verbs  setia  (auch  ssba). 
hlyja  ist  aus  '^'Miujan,  hie<)a  aus  ^hlcnibö  entstanden.  Ebenso 
*sy'ja  und  set5a  aus  siujan  und  *sewibö,  *smi()().  Dass  nicht 
*.«Öa  aus  *siwibö  entstand,  erkläre  ich  daraus,  dass  t  vor  ?r 
in  e  übergieng.  Hiernach  führe  ich  altn.  my'  auf  einen  urnord. 
stamm  '''miuja-  zurück.  Die  compositionsform  me-,  welche  im 
norw.  mehank  erscheint,  führe  ich  auf  urnord.  ^?ne/ri-  zurück. 
Anderswo  werde  ich  näher  ausführen,  dass  ein  selbständiges 
nord.  harj3R  (ich  lasse  die  qualität  des  nach  j  folgenden  vocales 
unbestimmt  und  bezeichne  denselben  daher  durch  d)  gleichzeitig 
mit  der  compositionsform  hari-  bestand.  Ebenso  bestand  *mmjd 
neben  *mcwi-. 

Ausser  den  oben  genannten  nordischen  formen  finden  wir 
noch  sehwed.  dial.  inugg  m.  (Dalarne),  niogg  f.  (Södermanland), 
norw.  dial.  mugg  n.  (Telemarken).  Diese  setzen  wol  die  Stamm- 
formen '-hnuggwa-,  *muggwö-  voraus,  welche  durch  'Verschärfung' 
aus  '''■muwo-,  munü-  entstanden  sind. 

In  dem  Verhältnis    von  mllcke^   nord.  mygg   zum    nord.  nnf 


GERMANISCH  IJG  AUS  [JW.  50"/ 

finden  wir  also  einen  uralten  ablaut  wie  z.  b.  in  dem  Verhältnis 
des  altn.  trür,  nbd.  trauen  zum  altu.  tryggr,  nbd.  treu. 

5.  Altnorw.  isl.  hrüga  f.  baufen  übereinander  liegender 
dinge;  auch  klumpen,  besonders  von  unrat.  Das  wort  gebort, 
wie  icb  bereits  Kubns  zs.  XIX,  420  bemerkt  habe,  zu  lit. 
kräfvh  f.  häufen  übereinander  liegender  dinge  (z.  b.  stroh, 
dünger).  hrüga.  urnord.  stamm  *hrUgön-  ist  also  aus  ''"hrüwd'n- 
eutstanden. 

In  norvveg.  mundarten  findet  sich  nicht  nur  ruga,  sondern 
auch  in  derselben  bedeutung  ruva.  In  Arkiv  II,  220  habe  ich 
dat.  rrifuu  in  mehreren  beispielen  aus  dem  14.  Jahrb.  im  süd- 
östlichen Norwegen  nachgewiesen.  Dies  v  ist  nicht  unmittelbar 
aus  dem  ursprünglichen  w,  sondern  zunächst  aus  g  entstanden; 
vgl.  norw.  dial.  jfwr  ==  altn.  jUgr  euter. 

Das  mit  hrüga  in  betreff  der  bedeutung  verw^ante  norw. 
dial.  ruka,  schwed,  ruka  setzt  ein  altes  ''^hruka  mit  ableitendem 
k  voraus. 

6.  Got.  hugjan  (praet.  hugida).  Altn.  hyggja  (praet.  hugtia, 
pf.  pcp.  hugat).  Ags.  hycgean  (praes.  2.  sg.  hogas  Durhambook, 
3.  sg.  hogati  kent.  psalt.,  praet.  hogde).  Asächs.  hugglan  (praet. 
hogda,  hugda).  Ahd.  huggen,  aobd.  hukkan  (praet.  hugita^  hogta., 
obd.  hocia,  bei  Otfrid  auch  hogeta).  Das  verbum  bezeichnet: 
denken,  meinen,  beachten,  beabsichtigen  u.  ähnl.  Siehe  über 
die  fiexion  u.  a.  Sievers,  Beitr.  VIII,  91;  Kögel,  Beitr.  IX,  509—23; 
Braune,  Ahd.  gr.  §  361  anm.  4.  Der  urgerman.  verbalstamm  ist 
*hugc-,  praes.  1.  sg.  *hugejö. 

Nach  meiner  Vermutung  ist  huge-  aus  '"^huwe-,  vorgerm. 
kuwe-  entstanden.  Dies  gehört  mit  dem  ind.  knvdte  in  ü-ku- 
vate  'beabsichtigen'  zusammen.  Ebenso  ist  got.  hugs,  altn. 
hngr  (nom.  pl.  hugir),  ags.  hyge,  asächs.  hugi,  ahd.  in  den 
bair.  Pariser  glossen  huki  'mens,  animus'  aus  vorgerm.  ''^knrvl-s 
entstanden.  Wie  im  ind.  säküti-s  'verliebt'  so  wird  auch  im 
german.  diese  Wortsippe  auf  die  liebe  bezogen. 

Got.  gahugds  fem.  (stamm  hugdi-)  'gedanke,  gesinnung, 
gemüt',  ags.  gehygd,  asächs.  glhugd,  ahd.  gihuci,  altn.  '^hugti 
(im  gen.  hugtiar)  verdankt  dem  verbalstamrae  huge-,  dem  sub- 
stantivstamme hugi-  und  anderen  verwanten  formen  sein  g. 
Durch  analogie  ist  also  der  substantivstamm  "'Vm^^rf/- aus  *//m<//- 
entstaudeu.     Dies   '■'hüdl-s   entspricht    lautgesetzlich    dem   ind. 

Beiträge  zur  geschichto  der  deutaclien  spräche.    XIII.  34 


508  KUGGE 

'*kTiti-s,    das  in   den    eompositis   aknti-s   'absieht'   und  sdkUti-s 
'begierig,  verliebt'  vorkommt^) 

Zum  substantivstamme  hugdi-  fem.  gehören  altn.  composita 
auf  -hilf),  -üb,  -hugb,  -ugt5,  -ygt)  fem.  'sinn',  deren  vorderglied 
ein  adjectiv-  oder  substantiv-stamm  ist.  Davon  werden  adjec- 
tiva  auf  -übigi'  'gesinnt'  abgeleitet  und  von  diesen  wider  ab- 
stracto feminina  auf  -ybgi.  Die  form  -üb  erscheint  in  älteren 
handschriften  und  häufiger  als  die  formen  auf  -gb.  Besonders 
hebe  ich  hervor  aus  der  Clemens  saga  (hschr.  um  1200  ge- 
schrieben) asthupar  Postola  s.  I,  143,  alup  146;  aus  der  von 
Wisen  herausgegebenen  Homil.  äslhüp  s.  190  z.  1.  So  ferner 
z.  b.  illv'j>  Volund.  21,  23,  illvbgar  Atlam.  13,  .s7ö/-y/>^/ Härb.  15, 
grumujbgi  Atlam.  74.  Ebenso  ohne  g  ülfüb  (Ulbüb),  pverüb, 
ledüb,  fieilübigr.  Nur  in  einem  adj.  habe  ich  die  form  mit  g 
gefunden:  harb  vgbict  Grip.  27  cod.  reg.  Neben  varüb  kommt 
oft,  jedoch  nicht  in  sehr  alten  handschriften,  varhygb,  varygb 
vor.  In  älteren  band  seh rr.  findet  sieh  munop  Leifar  26  (cod. 
AM.  677,  um  1230  gesehrieben)  'wollust';  tnimopa  (gen.  pl.) 
Homil.  ed.  Wisen  s.  116  z.  0;  munopsamlect  7..T1\  mvnob  Hävamäl 
79;  mvmb  Oddr.  24,  H.  Hund.  I,  5.  Hier  ist  der  vokal  der  zwei- 
ten silbe  verkürzt. 

Erst  in  späteren  hschrr.  munugb,  munlmgb  (Barlaams  s.  86), 
mwfihygb. 

Im  asächs.  hat  der  Cotton.  des  Heliand  nicht  nur  -hügelig 
'gesinnt',  sondern  auch  -hudig  d.  h.  -hüdig.  Im  ags.  erscheint 
-fiy~d  und  -hifdig  neben  -hygd  und  -hyydig. 

Im  ags.  kann  in  betonten  silben  g  vor  d  nach  palatalen 
vocalen  schwinden  (Sievers).  Allein  dass  das  fehlen  des  g 
in  -hyd,  -hydig  nicht  aus  dem  einfluss  des  palatalen  vocales  zu 
erklären  ist,  folgere  ich  aus  asächs.  -hüdig,  altn.  -hüb,  -üb,  -übigr. 
Wenn  diese  formen  ohne  g  auf  den  stamm  hugdi-  zurück- 
gehen, muss  der  Schwund  des  g  daraus  erklärt  werden,  dass 
die  Silben,  in  denen  es  vorkam,  nicht  den  hauptton  hatten. 
Allein  sicher  scheint  mir  diese  erklärung  nicht,  da  ich  einen 
analogen   schwund    des   g   im    altn.    und   asächs.   nicht  nach- 


')  Anders  über  gahugds  Möller,  Beitr.  V'II,  473—475;  Kluge  IX,  153-, 
Kugel  IX,  520  f. 


GERMANISCH   V(;  AUS  IW.  509 

weisen  kann.')  Sollten  die  i;cnannten  eomposita  nicht  viel- 
mehr die  ursprünglichere  Stammform  '*hudl-  (welche  später  zu 
hugdi-  geändert  wurde)  =^  ind.  küti-  erlialten  haben? 

German.  hudi-s  'haut'  wirkte  wahrscheinlich  dazu  mit, 
dass  '-'"gahudi-s  'gedanke'  in  (jahiigdi-s  geändert  wurde. 

Wie  der  substantivstamm  hugd't-  so  hat  auch  das  prae- 
teritum  (asächs.  Imgda  u.  s.  w.)  durch  association  sein  g  er- 
halten. 

7.  Ahd.  hartti'uyil,  harldrugil,  hartriigil,  hartrugida,  harli- 
rugil  'sanguinuarius  arbor'  Gratf  V,  501.  Nhd.  harlriegel  (wo- 
neben mehrere  mundartliche  formen)  'iigustrum  vulgare'  und 
'cornus  sanguinea'  Deutsch,  wtb.  IV,  2,  s.  518,  liarl-lrugil  ist 
ist  die  ursprünglichste  dieser  formen,  wie  dies  durch  schwed. 
h'ij  masc,  mundartl.  tryg,  iryd  'lonicera  xylosteum',  auch 
'Iigustrum  vulgare'  (Hietz  755,  Jenssen-Tusch,  Nordiske  Plan- 
tenavne  160)  bewiesen  wird.  Aus  der  vergleichung  des  schwed. 
iry  erhellt  zugleich,  dass  ahd.  trugil  nicht,  wie  Weigand  an- 
nimmt, von  trog  abgeleitet  ist.  Franz.  troene  m.  'Iigustrum 
vulgare',  im  13.  jahrh.  iroine,  aus  '^-trugino-,  ist  durch  das  roma- 
nische Suffix  -mo  vom  germanischen  stamm  Irwj-  abgeleitet 
(verf.  Romania  III,  159). 

Das  ahd.  trugil,  urgerm.  '^trugila-s,  scheint  mir  ein  demi- 
nutiv. Das  Stammwort  entspricht,  wie  Rietz  bereits  angedeutet 
hat,  dem  gr.  ögvg  'eiche'.  So  enthält  schwed.  dial.  eknas  'cornus 
sanguinea'  ek  'eiche'.  Der  name  erklärt  sich  aus  dem  harten 
bolze  des  Strauches.  Also  ist  ahd.  trugil,  urgerm.  '^trugila-s  aus 
'■^•trujvita-s,  vorgerm.  *drun'ilo-s  entstanden.  Dem  fi  von  conso- 
nanten  {6()vg)  steht  protonisches  u/r  vor  vocalen  {'^•dru/rilo-s) 
gleich;    vgl.  Osthotf,  Morph,  unt.  IV,  353  ff. 

Nach  loiQi/MQ,  Aioyv)Mq,  fuxxvXog  u.  ähnl.  dürfen  wir  viel- 
leicht die  betonuug  *druwilo-s  voraussetzen. 

8.  Ags.  sugu  f.  'sau'  mit  kurzem  vocale  in  der  ersten 
silbe;  mittengl.  suge.  Mnd.  söge,  suge.  Ndl.  zog,  zeug.  Schwab. 
suge  (Kluge).  Daneben  ahd.  mhd.  ags.  sU,  altnorw.  sifr  acc.  sU, 
lat.  sUs,  gr.  v-Q  u.  s.  w.  Neben  dem  vorgerm.  nominative  sü-s 
stand  regelrecht  in  cas.  obliq.  die  Stammform   *suw' ,    vgl.  gr. 


^)  Altn.  hriVöa   'lehne  eines  stnlils,  bündel'   ist  nicht  aus  ^brugtia 
entstanden. 

34* 


510  BUGGE 

v6c  und  ind.  bhrU-s,  instr.  hhruva.  Vorgerm.  *suw-  wurde 
im  german.  regelrecht  sug ' .  Die  Stammform  sug '  ist  im  ags. 
siigu  in  den  nomiuativ  übertragen.  Diese  erklärung  ist  mir 
walirscheinlieber  als  dass  ags.  sugu  aus  einem  vorgerm.  durch 
das  Suffix  -kü  abgeleiteten  deminutive   '"suku  entstanden  wäre. 

9.  Got.  praeterito  -  praes.  daug.  Altn.  infin.  duga,  praes. 
3.  sg.  dugir.  Ags.  dugmi,  praes.  denli.  Asächs.  dugan,  praes. 
dag.  Ahd.  tougan^  praes.  louc  'taugen,  tüchtig  sein,  nützen'. 
Einige  verbinden  dies  germanische  verbum  mit  lit.  daug  'viel', 
andere  mit  ind.  duh-,  dögdhi  'melken;  nutzen,  ertrag  ziehen 
von  — ;  milchen;  ertrag  geben',  noch  andere  mit  rv'py,  rir/'/ävco] 
Kern  endlich  betrachtet  dugan  als  eine  varietät  von  driugan. 
Gegen  alle  diese  combinationen  s])richt.  wenn  ich  nicht  irre, 
ein  verwantes  nordisches  wort. 

Altnorw.-isl.  dyggv  bezeichnet  'treu'  'utilis,  bonus,  probus'; 
adv.  dyggiliga  auch  'hinreichend'.  Norweg.  dial.  dygg  adj. 
'tüchtig,  zuverlässig',  besonders  'kräftig,  von  speise  und  futter'; 
auch  'stark,  solid',  von  zeug  und  kleideru.  dyggr  ist  von  du- 
gandi  in  betreff  der  bedeutung  nicht  wesentlich  verschieden, 
und  die  verwantschaft  desselben  mit  duga  lässt  sich  nicht  be- 
zweifeln. Allein  die  form  des  adjectivs  ist  bisher  nicht  er- 
klärt. Vor  a,  i,  e  erscheint  regelmässig  die  Stammform  dyggv- 
:  dyggvar  Voluspä  in  cod.  reg.,  auch  in  H.;  dyggvan  Sn.  Edda 
I,  448  (Markus  Skeggjason);  dyggva  Hkr.  Ol.  s.  h.  252  (t>ör- 
arinn  loftunga).  Selten  ist  die  form  dyggia  (acc.  sg.  f.)  Reginsm. 
20  in  cod.  reg.  und  in  cod.  AM.  62  fol.  Es  scheint  mir  hier- 
nach nicht  zulässig,  dyggjan  für  die  ältere  form  des  acc.  sg.  m. 
zu  halten,  dies  aus  '^dugjmia  zu  erklären  und  in  dyggvan  eine 
analogiebildung  nach  tnjggvan  zu  sehen.  Altn.  dyggr  ist  viel- 
mehr wie  altn.  Iryggr,  hryggr  u.  m.  zu  eiklären.  Altn.  iryggr 
gehört  mit  dem  got.  Iriggws^  ags.  treorve,  tryrve,  asächs.  triunn, 
ahd.  gUrium  zusammen.  Altn.  dyggvan  setzt  also  ein  urnord. 
''"diggivjana  voraus.  Dies  führt  auf  eine  wurzelform  detv-. 
Hiernach  lässt  sich  altn.  dyggr  mit  duga,  praes.  dugir  nur 
unter  der  annähme  verbinden,  dass  german.  dugan,  dug'-  aus 
du7v'   entstanden  ist. 

Mit  dem  german.  dugan  aus  *duw'  vergleiche  ich  ind.  lu-, 
praes.  lavJli,  perf.  lUtäva  'geltung  — ,  macht  haben';  iuvt-  (in 
com])p.)  'krJiftig,  mächtig';    (aväs-  'tatkräftig,  tüchtig'. 


GERMANISCH  UG  AUS  UW.  511 

Nach  der  vou  mir  bej^'riindeteii  regcl  wurde  vorgerni.  /  im 
germaiiischeu  zu  d  verschoben,  wo  der  haupttou  bei  der  freien 
betonung"  auf  der  dritten  silbe  lag  oder  vom  wortanfang-  noch 
weiter  getrennt  war.  Dass  vorgerm.  /  bei  dem  hier  behandelten 
stamme  zu  germ.  d  fortgeschoben  ist,  stimmt  bei  dugum,  cj. 
'''•dugjau  mit  der  von  mir  gegebenen  regel  überein,  wenn  diese 
einst  redui)liciert  waren,  denn  die  ursprünglichen  formen  (vgl. 
ind.  ''^lüluvmn,  opt.  '^(ütüyam)  hatten  in  diesem  falle  den  haupt- 
ton auf  der  3.  oder  4.  silbe.  Ja  da  daug  ursprünglich  wie 
ind.  pf.  lU/ava  redupliciert  war,  so  kann  das  d  von  daug  nach 
dem  Vernerschen  gesetz  aus  vorgerm.  /  entstanden  sein.  Frei- 
lich ist  das  lautliche  Verhältnis  der  perfectformen  bei  den 
starken  verbeu  sonst  nicht,  wie  hier,  für  den  germanischen  an- 
laut  bestimmend.  Allein  die  abweichende  bchandlung  kann 
hier  zum  teil  dadurch  veranlasst  sein,  dass  die  perfcctform  als 
praeteritopracsens  hier  selbständiger  auftrat.  Jedocii  sind  an- 
dere formen  für  den  anlaut  d  des  german.  dugan  gewiss  noch 
mehr  bestimmend  gewesen.  Ind.  luvlli  ist  wie  brnvlli  gebildet; 
1,  ps.  })1.  wird  also  '^•Inmüs  wie  hrümäs  gelautet  haben.  Die 
Wurzel  ist  nach  de  Saussure  zweisilbig;  *lüm(ls  also  aus  *lu9- 
mäs  entstanden.  Es  scheint  hiernach  begreiflich,  dass  die  for- 
men, welche  lautgesetzlich  im  urgerm.  anlautendes  d  erhielten, 
zahlreich  und  häufig  genug  waren  um  formen  mit  anlautendem 
/>  zu  verdrängen. 

Das  y  von  diujum,  dwjan  u.  s.  w.  scheint  durch  association 
auf  davo  und  andere  formen  übertragen. 

Von  dwjan  ist  duhli-  ndid.  (md.)  lulil  'tüchtigkeit'  abge- 
leitet, wie  got.  ustauhts,  -yähts,  mahls,  aihls,  ahd.  flahl ,  zuhf 
u.  s.  w.  Formell  scheint  got.  dauhts  gastmal  {ßo'fji)  dasselbe 
wort.  Vom  substantivstammc  duhli-  ist  wider  das  adjectiv 
mhd.  (md.)  tilhtic  'brauchbar,  wacker',  nhd.  tüchtig,  ags.  dyhtig, 
engl,  doughly  gebildet.  Genesis  l'J93  heisst  es:  sweord  ecgum 
dihtig,  Beow.  1287:  sweord  ecgum  dyhtig  (dies  wort  ist  jetzt  in 
der  handschrift  unleserlich,  allein  die  abschriften  Thorkelins 
haben  dyhttig,  dyttig).  Dagegen  Beow.  1558:  eald  stveord  ecgum 
pyhtig.  Das  />  beruht  liier  nicht  auf  einem  schreibfelder,  denn 
higepihligne  findet  sich  Beow.  74(3.  Gewöhnlich  hat  man  pyhtig, 
pihtig  vou  dyhtig,  dihtig  gänzlich  getrennt  und  jenes  zu  peon, 
got.  peihan,  gedeihen   gestellt.     Dies   scheint   mir   nicht  richtig, 


512  BÜGGE 

weil  der  wortsimt  sich  liicigcgcn  sträubt.  Im  ags.  bezieht  sich 
fycoH  initucr  iiiif  leiblichen  oder  gcistij^cu  Wachstum.  Nirgends 
lindet  mau  einen  ausdruck  wie  sweord  ecgum  gepunyen  {ge- 
/jogcn).  Auch  ist  ein  von  pcon  abgeleitetes  Substantiv  */>«ft/ 
nicht  nachgewiesen. 

Ich  habe  vermutet,  dass  das  d  von  dugan  durch  p  aus 
vorgerm.  /  verschoben  ist.  Hiernach  wage  ich  die  Vermutung, 
dass  das  ursprünglichere  />  sich  in  /ligepih/ig  und  ecgum  pghlig 
erhalten  hat.  Man  wird  hiergegen  gewiss  einwenden,  dass 
man  in  ptjhlig  {dyhtig)  anlautendes  p  am  wenigsten  erwartet, 
weil  dieser  adjectivstamm  ursprünglich  schlussbetont  war;  vgl. 
Kluge,  Stammbild.  §  202.  203,  Kauttmanu,  Beitr.  XII,  201—207, 
verf.  Beitr.  XIII,  331.  Ich  antworte:  in  dem  compositum  lügc- 
pih/ig  hatte  zur  zeit  der  freien  betouung  p>jh/ig  nicht  dieselbe 
betonung  wie  in  selbständiger  Stellung.  In  indischen  determi- 
nativen compositis,  deren  vorderglied  einen  casus  obliquus  ver- 
tritt und  deren  Schlussglied  ein  adjcctiv  ist,  liegt  der  hau|)tton 
aul'  dem  vordcrgliede.  8o  z.  b.  lanu  cuhhra-s  ^  eitel  auf  seine 
person',  ijajnädhlra-s  'der  götterverehrung  kundig';  siehe  Garbe, 
Kuhns  zs.  XXIII,  489,  L.  Schröder,  Kuhns  zs.  XXIV,  120.  Nun 
hat  Kluge  durch  mehrere  beispiele  nachgewiesen,  dass  die 
germanischen  composita  früher  wesentlich  wie  die  indischen 
betont  waren,  german.  hundäfadi-  wie  ind.  caiäpati-,  vgl.  Beitr. 
VI,  3'.)  1  f.  398.  Dies  habe  ich  durch  die  Verschiebung  der  an- 
lautenden consonanten  bestätigt  gefunden.  Hiernach  vermute 
ich,  dass  ags.  higepihlig  zur  zeit  der  freien  betonung  '^-hufji- 
pnhiigdz  betont  war.  Dass  higepihlig  neben  dghlig  das  ur- 
s])rünglichere  p  eriialten  hat,  ist  also,  wie  ich  vermute,  aus 
dem  Vernerschen  gesetz  zu  erklären.  Auch  ecgum  pijhtig  findet 
so,  durch  die  annähme  einer  natürlichen  association,  seine  er- 
klärung.  Der  instrumentalis  war  wol  früher  mit  dem  folgen- 
den adjective  durcb  einen  hauptton  verbunden;  vgl.  iujtl.  müde- 
rughii-s  'in  der  begeisteruiig  flink',  wo  mude  locativ  ist.  Die 
plurale  instrumentalisform  war  wenigstens  bei  consonantischen 
Stämmen  schlussbetont. 

Ahd.  lugund,  tugend,  ist  wie  jugund  gebildet.  In  jenem 
wie  in  diesem  scheint  mir  das  g  aus  w  entstanden,  dugünpi- 
verdankt,  wie  es  scheint,  verwanten  formen  sein  d  und  sein  un. 

Im  altnorw.  erscheint  dugr  m.  'tüchtigkeit',  nom.  pl.  dugir, 


GERMANISCH  VG  AUS  VW.  513 

stamm  duyi-.  Diestern  entspricht  vielleicht  der  iud.  in  compo- 
sitis  als  vttidciglied  vorkommende  adjcctivstamm  luvt-  'kräftig'. 
Das  d  des  german.  stamme»  dugi-  ist  in  dreisilbigen  schluss- 
betontcn  casusfbrmcn  aus  vorgerman,  /  laiitgesetzlich  entstanden. 
Wenn  das  /  des  ind.  (uvi-  aus  s  entstanden  und  nicht  ein  ur- 
sprüngliches l  ist,  deckt  sich  damit  der  altn.  stamm  du(ji-  nicht 
vollständig. 

Altn.  dijygr  scheint  dem  ind.  tävija-s  oder  lavijhs  {tavia-s) 
mit  circumllectiertem  ya  'kräftig,  stark'  zunächst  zu  ent- 
sprechen. Jedoch  scheint  dyggr  ein  vorgerni.  '*tcivihj-s  voraus- 
zusetzen. 

Die  im  vorhergehenden  versuchten  combinationen  führen 
auf  die  Vermutung,  dass  auch  andere  gcrni.  Wörter  mit  ind. 
Uwi-  'kräftig  sein'  zu  verbinden  sind. 

Ags.  deoi'  bezeichnet  -brave,  hold;  heavy,  severe,  dire, 
vehement'.  Es  wird  am  öftesten  von  personen  angewendet, 
jedoch  heisst  es  auch  dcor  scTw  'heavy  rain',  dcarra  dijaln 
(gen.  |)1.)  'severe  blows'.  Dies  ags.  dcor  entspricht  wol  dem 
ind.  Idvisä-s  'tatkräftig,  tüchtig,  ungestüm',  oft  von  personen, 
allein  auch  als  epitheton  zu  ürmi-s  'woge',  rava-s  'gebrüU' 
u.  s.  w.  Ags.  dcor  scheint  urgerm.  dcuzö-s^  vorgerm.  ictvdsö-s 
vorauszusetzen.') 

Das  sul)st.  Her,  got.  dhis  u.  s.  w.  scheint,  wie  Kluge  au- 
niuimt,  das  substantivierte  neutrum  dieses  adjcctivs  zu  sein; 
vgl.  ahd.  Horlih  'wild'. 

Auch  ahd.  Huri  'teuer',  asächs.  diurl,  ags.  difrc,  dcore, 
altn.  dyrr  verbinde  ich  mit  ind.  tavJ-  'geltung  haben'.  Die 
germanische  grundform  scheint  '''•diazl-s,  vorgerm.  ''Uewjsilo-s 
'der  geltung  hat'.  Die  bedeutung  'kräftig  sein'  geht  leicht  in 
'wert  haben'  ül)er;    vgl.  lat.  vulere. 

Im  ablautvcrliältnis  zu  Hure  steht  mhd.  mich  iUrct  ein  d. 
oder  eines  d.  'es  dünkt  mich  zu  kostbar,  dauert  mich',  tUr 
'Wertschätzung'.  Dies  setzt  wol  vorgerm.  *iüs-  aus  '''•luss- 
voraus  und  gehört  mit  dem  ind.  stamm  fuvis-  in  luvistama 
'der  stärkste',  iüvismanl-  'kraftvoll'  zusammen.  Vgl.  meine 
bemerkungen   über  Jmsimdi,  lausend  Beitr.  XIII,  327.     Endlich 


1)  Anders  Möller,  Kulms  zs.  XXIV,  427.    Kluge  führt  dcor  auf  die 
wurael  dhus-  'atmen'  zurück. 


514  BUGGE 

eriüDcrc   ich  daran,    (Uii^s  got. /^luda  'volk'  zu  dersclbeu  wort- 
si})pc  gehört. 

Im  vorhergehenden  habe  ich,  wie  ich  meine,  durch  sichere 
beispiele  nacJjgewiesen,  dass  uw  unmittelbar  vor  einem  be- 
tonten (oxytonierten)  vocale  im  urgermanischen  ug  geworden 
ist.  Warum  aber  dieser  Übergang  in  mehreren  wortformen, 
wo  mau  denselben  erwarten  könnte,  nicht  eingetreten  ist,  lässt 
sich  nur  schwer  bestimmen.  Hier  ist  mir  mehreres  unklar. 
Ags,  brUfve  cas.  obl.  von  brü  erkläre  ich  so,  dass  brüw-  die 
vor  vocalen  angewendete  stanmiform  war,  wo  das  ü  zur  zeit 
der  freien  betonung  den  hauptton  trug.  Dass  in  ahd.  ingrücn 
'schaudern',  altn.  grifla  'schreckbild'  und  mehreren  vcrwantcn 
Wörtern  der  Übergang  von  nw  in  Ug  nicht  eingetreten  ist, 
möchte  ich  daraus  erklären,  dass  die  lautver])indung  Tiw  hier 
nicht  vorhanden  war,  als  der  Übergang  von  Uw  in  üg  sich 
geltend  machte.  Wie  lässt  aber  got.  skuggmi  'spiegel',  altn. 
skiujiji  'schatten,  abbild'  neben  ahd.  scuuuo  'schatten',  ags.  scua, 
sciuva  sich  mit  dem  Übergang  von  mv  in  ug  vereinigen?  Wie 
ferner  mehrere  nordische  formen,  die  ngg  aus  uggiv  zeigen? 
Welche  abweichende  bedingungen  haben  bewirkt,  dass  eine 
form  '^skuga  nicht  eingetreten  ist?  Dies  weiss  ich  nicht  nach- 
zuweisen. Sollte  die  gotisch-nordische  form  mit  ngg/r  lautge- 
setzlich dort  eingetreten  sein,  wo  der  hauptton  auf  einer  nicht 
unmittelbar  folgenden  silbe  ruhte?  Also  z.  b.  skuggtv9n~l 
Auch  unmittelbar  vor  einem  circumfiectierten  vocale??  Beide 
behandlungsweisen  linden  sich  bei  demselben  wortstamme  in 
ags.  sugu  'sau'  neben  neuscliwed.  norw.  dial.  sugga.  Schwed. 
dial.  sägg  'sau'  (Vesterbotten)  scheint  altschwed.  *sugg  gen. 
'"soggar  vorauszusetzen. 

Dem  ind.  dualstamme  des  pronomens  der  2.  person  yuvä- 
(in  yuväm  oder  yuvum  u.  s.  vv.)  entspricht  begrifflich  der  gotische 
stamm  igqa-,  igqi-.  Formell  ist  dies  verhältniss  ganz  unregel- 
mässig, findet  aber  seine  erklärung  durch  das  Verhältnis  bei 
den  formen  des  pronomens  der  1.  person  got.  ugka-,  ugki-,  ind. 
ävä-.  Der  stamm  igqa-  verdankt,  wie  icli  vermute,  sowol  den 
nasallaut  als  den  A'-laut  dem  einfluss  von  ugka-.  Der  stamm 
ugka-,  der  dem  ind.  üva-  entspricht,  scheint  lautgesetzlich  aus 
vorgerm.  '-^/irvu-  entstanden  (^-tonlose  Stammform  des  prono- 
mens der  1.  person  +  d/vo-    zwei'). 


GERMANISCH  VG  AUS  VW.  515 

Wie  in  uyka-  nach  protonischcm  n,  so  ist  auch  uach  pro- 
tonischem ai,  ol  vorgerm.  w  in  geiman.  k  übergegangen.  So: 
ags.  iäcor,  ahd.  zeihhur  vgl.  ksl.  dcveri,  lit.  dcweris^  lat.  Icvir^ 
gr.  (J«//(),  ind.  dcvür-  nom.  f^em  . 

Nhd.  mhd.  speichel,  ahd.  speihhila,  speihhUla  f.,  auch  apeih- 
hallra,  mnd.  speke,  spekcle,  and.  speka/dra,  ndl.  speeksel;  got. 
p>amma  spalskiddra  Joh.  9,  Ö,  nach  Kluges  Vermutung  verschrie- 
ben statt  spaikuldra,  vielleicht  jedoch  umgestellt  statt  *spaik- 
suldra.    Diese  gehören  sämtlich  zu  got.  spei/ran  praet.  spuiw. 

Altn.  skeika,  praet.  skeikabi  'schief  gehen',  stamm  '*skaikö- 
aus  '''skabvü-  verbinde  ich  mit  lat.  scaevus,  gr.  axaiö^. 

Altn.  kvcikja,  kvcijkva  'lebendig  machen,  auziinden'  zu  got. 
qias  qi/mua  'lebendig',  ind.  jJvä-s  u.  s.  w.  Das  k  auch  in  altn. 
kvikr,   acc.  kvikvan  'lebendig',    ags.  c/rtcu,  ahd.  qucc. 

Allein  warum  ist  in  got.  ains,  /'rain-,  hUi'ur,  hra'm,  saiws, 
snaiws,  saiwala,  {im-)aiwisks  das  tv  nicht  in  k  übergegangen? 
Dass  diese  Wörter  bei  der  freien  betonuug  sämtlich  den  haupt- 
ton auf  der  ersten  silbe  gehabt  hätten,  ist  nicht  wahrscheinlich. 
Gieng  vielleicht  vorgerm.  w  nach  ai,  oi,  h  lautgesetzlich  in 
vorgerm.  g,  german.  /.-  über,  wenn  der  hau})tton  auf  einem 
nicht  unmittelbar  folgenden  vocale  ruhte?  Der  stamm  uiwiska, 
der  nach  ai  w  hat,  war  freilich  auf  der  schlusssilbe  betont, 
kann  aber  das  w  des  Stammworts  erhalten  haben. 

Nhd.  nachen,  ahd.  nahho,  asächs.  nako,  ags.  naca,  altn. 
nokkvi  hängt  gewiss  mit  vavc  u.  s.  w.  zusammen.  Setzt  das 
wort  eine  vorgerm.  Stammform  nauivdn--  voraus? 

CHRISTIANIA.  SOPHUS  BUGGE. 


EINIGE  BE^MERKUNGEN  UEBER  GE-  BP:i 
VERBEN. 

Lne  1885  erschienene  Giessener  dissertatiun:  'Leber  die 
Function  des  pruelixes  ge-  in  der  composition  mit  verben.  Teil  I. 
Das  praelix  bei  Ultilas  und  Tatian'  von  K.  ÜorCeld,  iiat  das 
verdienst,  die  frage  nach  der  bedeutuug  des  ge-  in  der  Zu- 
sammensetzung mit  verben  zum  erstenmale  auf  der  sicheren 
grundlage  seiner  Verwendung  in  einzelnen  bestimmten  denk- 
mälern  zu  behandeln  (sie  beschränkt  sich  daher  auch  beim 
got.  auf  die  bibelübersetzung)  und  damit  den  weg  einzuschlagen, 
der  allein  zum  ziele  führen  kann,  lieiö'erscheids  Sammlungen, 
so  reichhaltig  sie  sind,  würden,  auch  wenn  sie  fortgesetzt  wor- 
den wären,  zu  einem  eigentlichen  ergebnis  nicht  haben  führen 
können,  weil  sie  das  von  den  einzelnen  denkmälern  gelieferte 
material  zersj)littern  und  besonders  deshalb,  weil  sie  zu  dem 
bilde  das  gegenbild  vermissen  lassen,  die  fälle,  in  welchen 
trotz  wirklich  oder  scheinbar  gleicher  bedinguugen  das  ge- 
nicht  vorhanden  ist.  Dieses  gegenbild  ist  nicht  nur  für  die 
erkcnntnis  und  Umgrenzung  des  Wirkungskreises  unseres  vor- 
wörtchens im  allgemeinen  von  Wichtigkeit,  sondern  es  kann 
auch  nur  aus  ihm  ein  schluss  gezogen  werden,  ob  die  Ver- 
wendung des  ge-  in  allen  hd.  mda.  ganz  die  gleiche  oder,  wie 
wahrscheinlich,  verschiedene  ausdehnung  gehabt  hat.  Es  ist 
doch  von  ganz  anderer  bedeutung,  ob  z.  b.  in  einem  denkmal 
sich  überhaupt  nur  10  fälle  eines  von  praet.-prs.  abhängigen 
iniinitivs  linden,  und  in  diesen  sämtlich  ge-  erscheint  oder  ob 
10  solcher  ge-infinitive  in  einem  denkmal  neben  vielleicht  eben 
so  vielen  oder  gar  zahlreicheren  ohne  ge-  stehen.  Dieses 
gegenbild  hat  nun  allerdings  auch  der  verf.  der  oben  genann- 
ten dissertation  nur  für  den  von  prt.-i)rs.  abhängigen  inf.  sowie 
für  die  verallgemeinernden  relativsätze  gegeben,  aber  er  kennt 


PIEFSCH,  UEBER  GE-  BEI  VERBEN.  517 

die  Wichtigkeit  derselben  udü  hat  wol  nur  vorläufig  darauf 
verzichtet;  in  einer  späteren  umfassenderen  beliandlung  des 
gegenständes,  die  wir  vielleicht  von  ihm  erwarten  dürfen,  wird 
dasselbe  hoffentlich  ganz  zu  seinem  rechte  kommen. 

D.  bespricht  kurz  die  bisherigen  Untersuchungen  über  ge- 
nebst ihren  ergebnissen  und  führt  dann  das  material  aus  der 
got.  bibel  und  dem  Tatian  in  3  gruppen  vor:  I.  ge-  bezeichnet 
die  Vereinigung,  das  Zusammensein;  11.  ge-  bezeichnet  Voll- 
ständigkeit und  geht  allmählich  in  eine  Verstärkung  übei; 
III.  ge-  bezeichnet  temporale  Vollendung.  Diese  einteilung  ist 
vom  Standpunkt  der  historischen  entwickluug  der  Verwendung 
unseres  praeHxes  durchaus  richtig,  die  Verwendung  desselben 
als  formales  dement  der  tempusbezeichnuug  ist  gewiss  die 
jüngste.  Eine  andere  frage  ist  es,  ob  diese  anordnuug  des 
materials  zugleich  als  die  am  meisten  zweckentsjjrechendc  be- 
zeichnet werden  darf,  ob  sie  am  meisten  geeignet  ist,  uns  zu 
einem  wirklichen  einblick  in  die  gebrauchssphäre  des  ge-  zu 
verhelfen.  Ich  glaulie  diese  frage  verneinen  zu  müssen,  weil 
sich  begreiflicher  weise  feste  grenzen  zwischen  den  3  gruppen 
in  manchen  oder  vielmehr  sehr  vielen  fällen  nicht  ziehen  lassen. 
Und  zwar  nicht  nur  deshalb,  weil  das  gi-  l)ei  demselben  ver- 
bum  sovvol  als  materielles  wie  als  formales  dement  tatsächlich 
erscheinen  kann,  sondern  auch,  weil  oft  gar  nicht  auszumachen 
sein  wird,  ob  es  das  eine  oder  andere  ist,  namentlich  dann 
nicht,  wenn  nur  wenige  formen  eines  verbums  in  dem  betr. 
denkmal  belegt  sind,  die  mitwirkung  des  zufalls  also  in  höhe- 
rem grade  in  rechuung  gestellt  werden  muss.  Durch  die  auf- 
stellung  dieser  3  gruppen  ist  der  verf.  genötigt  worden,  jeder 
form  einen  bestimmten  platz  anzuweisen,  entscheidung  zu 
treffen  über  die  bedeutung  des  gi-  in  vielen  zweifelhaften 
fällen.  Er  ist  dabei  mit  grosser  besonnenheit  verfahren  und 
hat  auch  die  zweifei  über  die  richtige  einreihung  des  einzelnen 
zuweilen  angedeutet,  aber  wir  erhalten  doch  keine  ganz  klare 
Vorstellung  von  dem  stände  des  gebrauches  unseres  praefixes 
in  den  beiden  behandelten  denkmälern.  Dazu  trägt  allerdings 
auch  der  schon  erwähnte  umstand  bei,  dass  der  verf.  hinsicht- 
lich der  fälle,  in  denen  das  gi-  fehlt,  meist  mit  allgemeinen 
angaben  sich  begnügt.  Nach  meinem  dafürhalten  wäre  ein 
klareres  bild  zu  stände  gekommen,   wenn  der  verf.  nach  fest- 


518  PIETSCH 

stclliiug  der  veiscbiedcncn  verwciuluugeu  des  gi-  verbum  für 
verbuni,  bei  dem  es  sieb  findet,  vorgelubrt  bätte  und  zwar  etwa 
in  der  reibenfolge  der  verbältuismässigen  bäufigkeit  des 
gi-.  Vurauzustellen  wären  die  verba,  die  in  dem  betr.  denkm. 
stets  gi-  babeu,  am  scblusse  beizufügen  diejenigen,  welcbe  es 
gar  uicbt  aufweisen.  Bei  denjenigen,  die  es  bald  haben,  bald 
nicht,  wären  ausser  den  seiner  entbehrenden  formen  auch  die 
zusamjnensctzungen  mit  anderen  i)raeHxen  zu  berücksichtigen, 
ebenso  bei  denjenigen,  welche  sicli  nie  mit  gi-  verbinden. 
Innerhalb  der  einzelnen  verba  wären  dann  die  belegten  formen 
nach  den  vorher  festgestellten  verschiedenen  Verwendungsarten 
zu  ordnen,  auf  welche  zur  leichteren  übersieht  durch  zahlen 
oder  buchstaben  bczug  zu  nehmen  wäre.  Ich  will  am  Schlüsse 
an  einigen  beispielen  praktisch  zeigen,  wie  ich  mir  dies  denke, 
hier  mögen  erst  noch  einige  bemerkungen  zur  begründung 
platz  finden.  Ich  lege  diesen  das  im  Tatian  vorliegende  mate- 
rial  zu  gründe  und  berücksichtige  gelegentlich  einiges  aus  dem 
Isidor,  weil  mir  für  diese  beiden  denkm.  früher  gemachte  Zu- 
sammenstellungen zur  band  sind.  Den  Tatian  eitlere  ich  in 
der  üblichen  weise,  da  die  von  Dorfeid  gewählte  (nach  selten 
und  Zeilen  der  Öieversschen  ausg.)  zwar  genauer  ist,  aber 
die  identificierung  der  citate  m'it  denen  in  Sievers  glossar  er- 
schwert. 

Es  kommt  in  Dorfeids  darstellung  die  zweifellose  tatsache 
nicht  zur  gcltung,  dass  gewisse  verba  mehr,  andere  weniger 
oder  gar  nicht  zu  der  Verbindung  mit  gi-  geneigt  sind.  Die 
gründe  dieser  Verschiedenheit  scheinen  mir  zu  liegen  entweder 

1.  in  der  bedeutung  der  verba,  oder 

2.  in  dem  umstände,  ob  von  einem  verbum  eine  Zusammen- 
setzung (oder  auch  mehrere)  mit  anderem  praefix  gebräuch- 
lich ist,  in  welcher  das  i)raefix  keine  wesentliche  änderung, 
sondern  nur  eine  Vervollständigung  oder  Verstärkung  des  verbal- 
begriffes  bewirkt,  —  oder  nicht. 

Was  den  ersteren  punkt  anlangt,  so  ist  freilich  Dorfeid 
im  rechte,  wenn  er  s.  5  die  von  Martens  (Kz.  XII,  31  f  o21  f.) 
aufgestellte  Unterscheidung  von  verba  perfecta  und  imperfecta 
im  deutschen  als  durch  Tobler  (Kz.  XIV,  108  f.)  widerlegt  an- 
sieht.    Aber  es  wird  doch  ohne  zweifei  zuzugeben  sein,   dass 


UEBER  QE-  BEI  VERBEN.  519 

nicht  alle  verbalbeiiriife  in  gleicher  weise  eine  Vervollständigung 
oder  Verstärkung  ertragen  bez.  erfordern. 

Es  kann  natürlich  auf  verschiedenen  sprachstufen  das 
Sprachgefühl  hinsichtlicli  einzelner  verba  ein  verschiedenes  sein, 
es  können  hier  Verschiebungen  eintreten,  wenn  entweder  die 
ursprüngliche  bedeutung  sich  ändert  oder  das  verbura  in  folge 
von  isolierung,  bewirkt  durch  verschwinden  seiner  verwanten 
nicht  mehr  mit  einem  lebhaften  bedeutungsinhalt  empfunden 
wird.  Es  gibt  aber,  wie  bekannt  und  wie  auch  D.  ohne  zweifei 
weiss,  einige  verba,  welche  dem  gi-  stets  widerstrebt  haben 
und  es  erst  in  sehr  junger  zeit  selbst  an  der  stelle  sich  haben 
gefallen  lassen,  wo  allmählich  gi-  notwendig  geworden  war,  im 
prtc.  prt.  Es  gehören  hierher  namentlich  kommen,  bringen, 
finden.  Graft' IV,  655  f.  bei.  nur  1  m.  gaquemet  (venite);  Lexer, 
Nachtr.  1  m.  gekomen;  das  prtc.  prt.  gekomen  belegt  Müller- 
Zarncke  I,  900='  1  mal;  dass  das  prtc.  prt.  kommen  bis  ins  vorige 
Jahrhundert  in  der  Schriftsprache  gebraucht  wurde,  ist  aus 
Grimm,  Wtb.  Y,  1628  zu  ersehen.  —  Von  bringen  belegt  Graff 
keine  ge-form,  Lexer  allerdings  mehrere  (5);  für  prtc.  gebrüht, 
gebrungen  geben  weder  Müller-Zarncke  noch  Lexer  belege,  Grimm, 
Wtb.  11,384  bei.  gebracht  aus  Henisch,  Thesaurus  (1616).  —  Von 
fin den  gibt  Graft' cafundauer(St.-Siev.  1,27,29);  Lexer  gevinden 
1  4-  1  mal,  prtc.  prt.  gevunden  2  mal.  Belege  für  funden  aus 
d.  16./17.  jh.  gibt  Kehrein,  Gram.  d.  d.  spr.  d.  15. — 17.  jhs.  II 
§  220.  .Ich  meine  der  grund  dieser  erscheinung  kann  doch  nur  in 
der  bedeutung  der  verba  gesucht  werden:  die  begriffe  des  . 
kommens,  bringens,  findens  sind  materiell  so  vollständig, 
schliessen  so  sehr  die  dauer  aus,  dass  sie  einer  Steigerung 
nicht  fähig  sind  und  auch  zum  ausdruck  der  zeitlichen  Voll- 
endung der  von  gi-  gewährten  beihilfe  nicht  bedürfen.  Vgl. 
dagegen  gän  und  suochen.  Aehnlich  muss  es  sich  ursprüng- 
lich mit  werden  verhalten  haben.  Auch  dieses  bekundet  eine 
entschiedene  abneigung  gegen  gi-,  welche  sich  vielleicht  aus 
der  ursprünglichen  bedeutung  'wenden'  erklärt.  Aber  diese 
abneigung  ist,  oÖ'enbar  in  folge  der  bedeutungsänderung,  schon 
frühe  durchbrochen  worden,  vgl.  Graft'  I,  992/3;  Lexer  unter 
gewerden.  —  Umgekehrt  war  vielleicht  die  entwicklung  bei 
treffen,  das  wol  ursprünglich  'schlagen'  bedeutete  und  erst 
allmählich  die  bedeutung  'erreichen'  angenommen  hat.  Daher 
ahd.  getrefl'au  und  prtc.  i)rt.  getrofi'an    neben  trofl'an,    während 


520  PIETSCH 

im  mhd.  getreffen  verhältnismässig-  selten  und  pitc.  troffen 
herrschend  ist. 

Das  gegeubild,  die  ueigung  sich  mit  gi-  zu  verbinden, 
zeigen  uns  verben  wie  sehen,  hören,  liegen,  stehen,  sitzen. 
Dorfeid  hat  ihnen  daher  mit  recht  eine  besondere  besprechung 
zu  teil  werden  lassen.  Der  grund  kann  widerum  nur  in  der 
bedeutung  liegen.  Alle  die  genannten  verba  bezeichnen  eine 
dauernde  tätigkeit  oder  einen  dauernden  zustand.  Soll  nun 
die  momentane  Vollendung,  die  dauerlosigkeit  ausgedrückt  wer- 
den, so  rauss  gi-  aushelfen,  horta,  sah,  stuont,  lag,  saz  besagen 
nur,  dass  die  dauernde  tätigkeit  des  hörens  und  sehens,  der 
dauernde  zustand  des  Stehens,  liegens,  sitzens  zeitlich  vollendet 
sei;  gihorta,  gisah,  gistuont,  gilag,  gisaz  bedeuten:  ich  habe 
durch  das  ohr,  das  äuge  in  mein  bewusstsein  aufgenommen, 
ich  bin  zum  stehen,  liegen,  sitzen  gekommen. 

Hinsichtlich  des  zweiten  punktes  kann  ich  nur  meine  be- 
obachtungen  aus  dem  Tat.  mitteilen.  Wir  finden  hier  ungefähr 
300  verba,  die  gi-,  abgesehen  vom  prtc.  prt.,  nie  aufweisen. 
Darunter  sind  mindestens  150,  welche  nur  1  oder  2  mal  belegt 
sind,  bei  denen  also  der  zufall  der  Überlieferung  in  rechnung 
gesetzt  werden  muss.  Von  ihnen  sehen  wir  ab.  Unter  den 
übrigen,  von  denen  noch  eine  ganze  anzahl  nur  3  oder  4  mal 
vorkommt,  finden  wir  nun  zunächst  manche,  welche,  wie  z.  b. 
bittan  (etwa  50),  fliohan  (9),  fnlgen  (38),  leben  (26),  leren 
(etwa  50),  minnon  (etwa  60),  scriban  (36),  suohhen  (etwa  70), 
trinkan  (36),  thenken  (14),  uuasgan  (17),  uuuofan  (20)  u.  s.  w., 
häufig  genug  belegt  scheinen,  um  den  zufall  auszuschliessen 
(s.  jedoch  unten),  die  aber  doch  nie  mit  gi-  erscheinen,  ob- 
gleich auch  keine  anderen  composita  von  ihnen  sich  finden. 
Ihnen  kann  man  noch  einige  andere  anreihen,  z.  b.  senten,  da 
die  neben  dem  ungemein  häufigen  simplex  stehenden  compo- 
'  sita  ana-,  üz-,  uuidarsenten  hier  nicht  in  betracht  kommen 
können.  Der  grund  des  ausbleibens  des  gi-  bei  diesen  verben 
kann  —  ich  habe  dies  nicht  untersucht  —  teilweise  darin 
liegen,  dass  von  ihnen  keine  oder  doch  nur  wenige  formen 
vorkommen,  in  denen  es  hätte  erscheinen  können.  Wie  weit 
die  bedeutung  der  einzelnen  verba  in  anschlag  gebracht  wer- 
den könnte,  will  ich  hier  auch  nicht  näher  erörtern  und  nur 
bemerken,  dass  Graflf  von  allen  den  genannten  verben  formen 
mit   gi-   l)elegt,    ausser  von  wuofan,    dass  deren  al)er  nur  bei 


UEBER  GK-  BEI  VERBEN.  521 

fliohan,  lereu,  scrtbaii,  suohheii,  trinkaii  mehr  als  2  sind  uud 
dass  nur  bei  suohheu  (20)  dieses  g-i-  eine  weitere  örtliche  Ver- 
breitung hat;  die  belege  für  gifliohan,  7  an  der  zahl,  sind 
sämtlich  aus  Notk.,  von  den  9  für  gitrinkan  sind  8  aus  Notk., 
von  den  12  für  gileren  sind  7  aus  Notk.,  2  aus  Otfr.,  von  den 
16  für  giscriban  11  aus  Otfrid,  3  aus  Notk.  Demnach  scheint 
das  gi-  dieser  verba  einer  örtlichen  beschränkung  zu  unter- 
liegen, denn  die  Otfridischen  belege  können  insofern  nicht  für 
voll  gelten,  als  l)ei  (otfrid,  —  wie  wol  mehr  oder  weniger  bei 
jedem  dichter  —  das  gi-  im  dienste  der  metrik  steht,  nach 
den  bedürfnissen  des  verses  gesetzt  oder  weggelassen  wird 
(Dorfeid  s.  45).  Im  mhd.  finden  wir  ge-  bei  allen  diesen  ver- 
ben,  wuofen  ausgenommen  (s.  Lexer),  und  zwar  nicht  selten; 
die  belege  sind  jedoch  meist  nicht  geeignet,  anhaltspunkte 
für  eine  örtliche  bestimmung  zu  geben. 

Leichter  scheint  es  mir,  bei  einer  reihe  anderer  im  Tatian 
vorkommender  verben  den  grund  des  nichterscheinens  des  ge- 
festzustellen. Ich  glaube,  wie  bereits  angedeutet,  denselben 
öfter  in  dem  umstände  finden  zu  dürfen,  dass  dem  oder  den 
Übersetzern  Zusammensetzungen  dieser  verba  mit  anderen  prae- 
fixen  geläufig  waren,  durch  welche  sie  dem  bedürfnis  einer 
Steigerung  des  verbalbegrifies  bez.  der  zeitlichen  Vollendung 
genügen  konnten.  So  steht  im  Tatian  neben  läzan  das  viel 
häufigere  furläzan,  neben  brechan  :  zibrechan,  bibrechan,  neben 
uuerphan  :  ar-,  für-;  uz-,  üz-ar-,  üz-furwerphan,  neben  nur 
1  maligem  skeidan  :  ar-,  ziskeidan;  neben  slahan  :  arslahan; 
neben  sterban  :  arsterbau;  neben  graban  :  bigraban;  neben 
teilen  :  ziteilen;  neben  brennen  :  bi-,  fur-brennen;  neben  geltan  : 
furgeltan;  neben  uuecken  :  aruuecken;  neben  gurten  :  bigurten; 
neben  thecken  :  bithecken;  neben  losen  :  ar-,  zilosen;  neben 
uuerban  :  uuidaruuerban  u.  s.  w.  Nirgends  findet  sich  bei 
diesen  eine  form  mit  gi-  daneben,  bei  einigen  anderen  finden 
sich  solche  vereinzelt;  sie  würden  gewiss  zahlreicher  sein,  wenn 
nicht  übliche  Zusammensetzungen  mit  anderen  praefixen  vor- 
handen wären.  So  ist  gifähan  verhältnismässig  selten  wegen 
bi-  und  besonders  intfähan.  So  finden  wir  obgleich  diese  verba 
oft  genug  vorkommen,  bei  stigan  nur  3  m.,  bei  ougen  nur  2  m., 
bei  iehan,  ruoren,  uuonen  nur  je  1  m.  gi-,  weil  ar-,  üf-  (ar-üf-) 
stigan,  arougen,  biiehan,  biruoren,  thurul»iuonen  für  das  Sprach- 
gefühl  im  wesentlichen  genügen.     Und  umgekehrt  werden  wir 


522  PIETSCH 

auch  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  annehmen,  dass  z.  b.  gibergan, 
gieuton,  gifestinön,  gitruobeu  darum  häufig  sind,  weil  dem 
Übersetzer  des  Tatian  andere  Zusammensetzungen  dieser  verba 
wie  furbergan,  bienton,  bifestinon,  bitrnoben  nicht  geläufig 
waren. 

Zeigen  die  vorstehenden  erwägungen,  wie  wichtig  ein 
näheres  eingehen  auf  die  fälle  ist,  in  denen  gi-  fehlt  bez.  durch 
andere  praefixe  vertreten  wird  —  und  ich  glaube,  dass  sich 
das  gewicht  derselben  noch  bedeutend  verstärken  Hesse,  wenn 
ich,  wozu  mir  in  diesem  augenblick  die  zeit  mangelt,  die  ein- 
zelnen von  den  besprochenen  verben  belegten  formen  in  er- 
wägung  ziehen  wollte  (s.  jedoch  die  Zusammenstellung  der  for- 
men von  losen,  ar-,  zi-16sen  am  Schlüsse)  — ,  so  ergibt  sich 
die  nicht  völlige  Zweckmässigkeit  der  Dorfeldschen  anordnung 
des  materials,  sobald  man  die  einzelnen  von  den  in  gruppe  II 
zusammengestellten  verben  vorkommenden  formen  sich  des 
näheren  ansieht.  Gruppe  II  vereinigt,  wie  wir  sahen,  die 
verba,  in  denen  gi-  den  verbalbegriff  nach  der  richtung  der 
Vollständigkeit  oder  einer  blossen  Verstärkung  modifiziert.  Wir 
finden  in  dieser  gruppe  mit  recht  verba  wie  gilouben,  gifehan, 
gibiotan,  deren  simplicia  entweder  schon  ahd.  gar  nicht  mehr  oder 
doch  nur  in  einer  von  der  des  gi-compositums  stark  abweichen- 
den bedeutung  vorkommen.  Es  kann  auch  nicht  zweifelhaft 
sein,  dass  manche  andere  gi-composita  in  bestimmten  einzelnen 
denkraälern  jenen  durchaus  gleich  stehen.  So  z.  b.  im  Tat. 
giberehton  (clarificare),  gitrüuuen  (confidere,  sperare),  gilimphan 
(decere,  oportere),  indem  bei  ihnen  das  gi-  für  das  Sprach- 
gefühl des  Übersetzers  notwendig  gewesen  zu  sein  scheint. 
Ein  ähnliches  Verhältnis  ist  natürlich  an  sich  auch  da  denkbar, 
wo  neben  den  gi-formen  solche  des  simplex  sich  finden,  auch 
hier  kann  das  gi-  für  eine  bestimmte  (wenn  auch  für  uns 
schwer  wahrnehmbare  und  feststellbare)  Schattierung  des  ver- 
balbegriffes  notwendig  gewesen  sein.  Aber  es  mangelt  uns. 
namentlich  wenn  neben  öfterem  simplex  nur  etwa  eine  oder 
2 — 3  formen  mit  gi-  vorkommen,  meist  ein  mittel  festzu- 
stellen, ob  wirklich  die  annähme  einer  solchen  modificierung 
des  verbal  begriff  es  berechtigt  sei,  und  unter  allen  umständen 
werden  wir  meist  ausser  stände  sein,  reinlich  zu  scheiden 
zwischen    den    gi-    der   gruj)})e  II    und   denen   der   gruppe  lll. 


UEBER  GE-  BEI  VERBEN.  523 

Denn  es  ist  doch  sehr  wol  möglich,  dass  z.  b.  neben  einem  in 
seinem  begriff  gesteigerten  verbum  gihalOn  sich  formen  dieses 
verbums  finden,  in  denen  gi-  dem  ausdruck  der  zeitlichen  Voll- 
endung dient.  Darauf  hat  denn  Dorfeid  auch  bedacht  genom- 
men, wir  finden  also  z.  b.  gihalön  =  herbei  holen,  einladen 
unter  II,  gihalot  (duxerit)  unter  III,  3  angeführt.  Es  scheint 
mir  jedoch,  dass  in  manchen  fällen  sich  die  Sphäre  dieser  be- 
grifflichen Steigerung  noch  weiter  einengt,  wenn  man  die  ein- 
zelnen formen  der  gi-verba  näher  ansieht,  bei  denen  Dorfeid 
eine  solche  annimmt.  Wir  finden  nämlich,  dass  unter  diesen 
formen  das  praet.  eine  sehr  hervorragende  Stellung  ein- 
nimmt. So  kommen  von  den  28  gihalön  nicht  weniger  als 
23,  von  den  10  gioifanon  9,  von  den  9  gifähan  6,  von  den  6 
gihaltan  4  (in  Sievers  glossar  fehlt  gihielt  :  custodivi  178,  4) 
auf  das  praet.;  gifallau,  gikiosan,  giscouuou,  giirron,  giuuihen, 
gitruoben,  giuuäten  sind  nur  durch  gifiel  (3),  gikos  (7),  giscou- 
uuöta  (3),  giirrota  (2),  giuuihita  (2),  gitruobta  (2),  giuuätita  (2) 
und  gimären,  gifurhten,  gisuueran,  giturrau,  gilernen,  giheften, 
gikeren,  gimagen  nur  durch  je  einmaliges  praet.  vertreten. 
Auch  bei  den  anderen  in  die  gruppe  II  eingereihten  verben  ist 
das  praet.  an  den  gi-formen  fast  stets  beteiligt.^)     Dieses  ver- 


1)  Noch  deutlicher  tritt  z.  b.  im  Isidor  das  praeteritum  bei  den  gi- 
formen  in  den  Vordergrund.  Wir  linden  hier  chi-  1.  beim  futurischen 
praes.:  chistiftu  (2),  chihruoru  (1),  chirestit  (requiescit  des  lat.  textes  f. 
requiescet)  37,10;  chifestinOn  (1),  chidhuuingu  (1),  chiuueihhit  (1).  — 
2.  beim  in  f.,  der  vom  prt.  prs.  abhängt:  mac  chirahhön  (1),  mahti  chi- 
garauuen  (1),  mahti  chifrummen  (1).  —  Sonst  aber  steht  chi-  fast  nur  in 
praet.  und  zwar  chifrumida  (4),  chideda  (:{),  chiuuorhta  (.3),  chi8cuof(4), 
chibar  (3)  [neben  beremes  :  exhibemus  und  dhemu  berandin  reve  :  vulva], 
chichundida  (2),  feiner  je  1  mal:  chiunhreinida,  chihuurfi,  chisalböda,  cbi- 
rista,  chiminnerodes,  chioffanOdom,  chiquihhida,  chifenc,  chihalöda,  chi- 
lihheda,  chirahhoda,  chideilida.  Nach  abzug  dieser  formen  bleiben  für 
die  annähme  des  begriffssteigernden  chi-  ausser  chilauban  nur  noch 
übrig:  chihoris  -ant,  chihori  (2),  chihördon,  chihöran  (simpl.  n.  bei.); 
chisehet  -e,  chisah  (2),  chisehenne  (simpl.  n.  bei.);  ferner  dhen  mina 
berga  chisitzit  (possidentem  montes  meos)  31,  !3  neben  sitzit  -ent, 
sitzi  sitzendan;  chidhinsit  (contrahat),  chidhuhit  (exprimit),  chischeinit 
(3.  sg.  prs.  id.;  corruscans),  neben  denen  die  simpl.  nicht  vorkommen. 
Schliesslich  noch  chichundemGs  27,  2G  (demonstremus;  text:  demonstretur), 
bei  dem  aber  das  unmittelbar  vorhergehende  chichundidöm  in  anschlag 
zu  bringen  ist. 

Beiträge  zur  >;esehioIite  der  dputsohfin  spräche.     XIII.  35 


524  PIETSCH 

hältnis  legt  entweder  den  zweifei  nahe,  ob  wir  es  in  den  an- 
geführten fällen  nicht  vielmehr  mit  dem  zeitliche  Vollendung 
ausdrückenden  gi-  zu  tun  haben,  oder  —  und  dies  scheint  mir 
wahrscheinlicher  —  es  zeigt  uns,  dass  das  bedürfnis  begriff- 
licher Verstärkung  am  lebhaftesten  da  gefühlt  wurde,  wo  es 
sich  um  den  ausdruck  der  Vergangenheit  handelte.  0  Im  erste- 
ren  falle  wären  die  erwähnten  verba  aus  Dorfeids  II  ganz  zu 
entfernen,  im  letzteren  wäre  eben  mehr  rücksicht  zu  nehmen 
auf  die  von  jedem  verbum  belegten  formen.  Es  ist  jedenfalls 
nicht  angänglich,  mit  gi-  verbundene  verba  wie  die  eben  be- 
sprochenen mit  solchen  wie  gilouben,  gifehen  oder  auch  gi- 
fremmen  auf  eine  linie  zu  stellen.  Dass  Dorfeid  nicht  die  in- 
finitive  mit  gi-  angesetzt  hat,  zeigt,  dass  ihm  der  angedeutete 
gesichtspuukt  nicht  ganz  entgangen  ist,  aber  was  nützt  es, 
wenn  er  statt  des  in  f.  die  zufällig  zuerst  belegte  form  ansetzt. 
Es  kann  leicht  zu  irriger  auffassung  anlass  geben,  wenn  wir 
z.  b.  finden:  giburgi  abscondere  verbergen  145,  17.  151,  33. 
155,5.  270,15  (vgl.  246,1).  279,16.  280,10,  während  giburgi 
nur  145,  17,  steht  an  den  anderen  stellen  aber  gibarc  (3),  gi- 
birgit  (2). 

Unter  allen  umständen  aber  muss  auf  grund  dieser  tat- 
sachen  der  begriff  des  das  praeteritum  verstärkenden  gi-  etwas 
weiter  gefasst  werden,  als  Dorfeid  getan,  der  unter  II,  2  nur 
das  plusquamperfectische  gi-praeteritum  behandelt.  Dorfeid 
führt  ja  selbst  die  worte  Toblers  an,  dass  dieselbe  vergangene 
handlung  trotz  ihrer  relation  auf  eine  andere,  der  sie  objectiv 
vorausgieng,  subjektiv  absolut  genommen  werden  kann;  ich 
vermag  nicht  einzusehen,  was  also  zu  einer  verschiedenen  be- 
urteilung  von  gifieng  =  cepi  und  gifieng  :=  ceperam  nötigen 
sollte. 

Weiterhin  scheint  mir  auch  Dorfelus  abschnitt  111,4,  der 
den  von  praet.  prs.  abhängigen  gi-infinitiv  behandelt,  einer  er- 
weiterung  fähig  zu  sein,  insofern  nämlich  auch  die  von  ande- 
ren praet.  abhängigen  inf  eine  neigung  zu  gi-  zu  haben  schei- 
nen.    Ich   spreche   dies  aber  mit  grösstem  vorbehält  und  nur 


')  Ich  möchte  %.  b.  auf  Tat.  79,5  hinweisen:  ther  cuning  qnad 
themo  niagatine:  biti  fon  luir  thaz  thfi  uiiili,  inti  ih  gibii  thir.  Inti 
gisuuor  iru  .  .  .    d.  h.  und  er  hat  ihr  wirklich,   wahrhaftig  geschworen. 


UEBER  GE-  BEI  VERBEN.  525 

auf  grund  einiger  beobaehtungen  am  Tatian  aus.  Statistisch 
liegt  hier  die  sache  so,  dass  nach  praet.  der  inf.  etwa  17  ra. 
gi-  hat,  20  m.  nicht,  nach  prs.  etwa  12  m.  gi-,  40  mal  nicht. 
Dies  Verhältnis  verschiebt  sich  noch  einigermassen  zu  gunsten 
von  gi-  nach  praet,  wenn  man  von  den  gi-  nach  praes. 
3  maliges  gilouben  und  2  maliges  gifremmen  (fremmen  ohne 
gi-  nicht  belegt)  und  von  den  gi-losen  inf.  nach  praet.  3  maliges 
tuon  (tuon  nie  mit  gi-  belegt)  in  abzug  bringt.  Vgl.  z.  b.  ni 
curet  sprehhan  34, 3;  managu  haben  von  iu  zi  sprehhanne 
131.9,  dagegen  suohtun  inan  zi  gisprehhanne  59,1  (daneben 
freilich  auch  bilan  zi  sprehhanne  19,6).  Andererseits  ist  aber 
zu  beachten,  dass  unter  den  17  inf  mit  gi-  nach  prt.  9  m.  gi- 
sehan  sich  befindet,  welches  insofern  nicht  vollwichtig  ist,  als 
sehan  sich  überhaupt  gern  mit  gi-  verbindet.  Neben  9  m.  inf. 
gisehan  steht  nur  1  m.  sehan,  und  zwar  nach  prt.:  zi  hin 
giengut  ir  üz  ...  sehan  64,4,  während  64,5,  wo  derselbe  satz 
widerkehrt,  gisehan  gebraucht  ist.  Beachtenswert  ist  jedoch 
noch  quedenti  sih  gisiht  gisehan:  dicentes  se  visionem  vidisse 
226,2;    vgl.  Gr.  gr.  IV,  170. 

Schliesslich  dürfte  noch  ein  umstand  für  den  gebrauch 
des  gi-  hie  und  da  in  betracht  kommen,  den  auch  Tobler, 
Kz.  XIV,  127  angedeutet  hat,  nämlich  die  rücksieht  auf  die 
ebenmässigkeit  gleichgeordneter  Satzglieder.  So  z.  b.  wenn  wir 
4,7  finden:  zispreitta  . .  .,  nidar  gisazta  . .  .  inti  arhuob  . . ., 
gifulta  ...  inti  forliez;  148,4:  erstuontun  ...  inti  gigarauui- 
tun  (surrexerunt,  ornaverunt):  200,4:  intuuatituu  inan  ...  inti 
giuuätitun  inan  (exuerunt,  induerunt);  5,13  gibar  ...  inti  bi- 
uuant  .  .  .  inti  gilegita;  127, 1:  thie  fatoro  arstarb  .  . .  inti  ther 
thritto  ginam  sia  (mortuus  est,  accepit)  u.  s.  w. 

Es  war  lediglich  meine  absieht,  einiges  auszusprechen,  das 
sich  mir  bei  früherer  erwägung  der  jetzt  von  Dorfeid  in  an- 
griif  genommenen  aufgäbe  ergeben  hatte.  Ich  glaube,  dass 
die  betr.  punkte  weitere  prüfung  an  anderen  denkmälern 
wol  verdienten.  Die  kritik,  die  ich  übte,  wollte  eine  durchaus 
positive  sein  und  sie  wird  ihren  hauptzweck  erfüllt  haben, 
wenn  bei  den  weiteren  Untersuchungen  mehr  als  bisher  einer- 
seits das  ausbleiben  des  gi-,  andrerseits  die  möglichkeit  in  be- 
tracht gezogen  wird,  dass  bei  demselben  verbum,  ja  in  der- 
selben form  die  beiden  hauptfunctioneu  des  gi-,   die  Steigerung 

35* 


526  PIETSCH 

des  verbalbegriffes  und  die  Steigerung  der  zeitliehen  Vollendung 
sieh  berühren  können.  Weil  bei  der  Verwendung  des  gi-  die 
subjeetive,  augenblickliche  auffassung  des  schreibenden  zweifel- 
los eine  grosse  rolle  spielt,  ist  nach  meinem  dafürhalten  die- 
jenige gruppierung  des  materials  die  beste,  welche  möglichst 
wenig  vorweg  entscheidet,  welche  zwar  den  massstab  für  die 
beurteilung  der  einzelnen  fälle  zunächst  aus  der  gesamthaltung 
des  untersuchten  denkmals  entnimmt,  aber  doch  die  möglich- 
keit  offen  hält,  dass  die  Sachlage,  die  sich  aus  anderen  denk- 
mälern  ergibt,  manche  einzelfälle  in  ein  anderes  licht  rückt. 
Welche  art  der  auordnuug  des  materials  mir  im  vorliegenden 
falle  als  die  zweckmässigste  erscheint,  habe  ich  oben  bereits 
angedeutet.  Ich  gebe  nun  zum  Schlüsse  einige  proben  der- 
selben.    Ich    bemerke,    dass   ich   im  anschluss  an  Dorfeid  mit 

I  gi-   als   ausdruck    der  Vereinigung,    des  Zusammenseins,    mit 

II  gi-  als  ausdruck  der  Vollständigkeit  bez.  Verstärkung  des 
verbalbegriftes,  mit  III,  1^  gi-  beim  praet.  (=  perfectum),  mit 
III,  2^  gi-  beim  praet.  (=  plusqpf.),  mit  III,  3  gi-  beim  futur. 
praesens,  mit  III,  4 ^^  gi-  beim  inf  nach  prt.-prs.,  mit  111,4^  gi- 
beim  inf.  nach  praet.;  mit  III,  5  gi-  in  verallgemeinernden  relativ- 
sätzen  und  sonst  :=-:  lat.  fut.  exact.;  mit  III,  6  gi- hervorgerufen 
durch  gleichgeordnete  composita,  bezeichne.  Für  gi-  des  prtc. 
prt.  (Dorfeid  III,  1)  sind  genauere  angaben  über  die  einzel- 
nen bei.  formen  nicht  erforderlich,  da  dasselbe  im  ahd.  bereits 
meist  feststeht.  Dagegen  wären  für  jedes  denkm.  die  etwaigen 
ausnahmen,  die  ge-losen  prtc.  prt.  festzustellen. 

In   eckige  klammer  habe  ich  dasjenige  gesetzt,    was  den 
im  vorstehenden  enthaltenen  aufstellungen  nicht  entspricht. 

füllen  (5)  :  implere  (adimplere,  couiplere).     gi-  (S)  :  impleie,   eon- 
suminare  (replere,  complere).  —  ar-  (2)  nur  prtc.  prt. 

a)  füllen 

II  füllet :  implete;  fullanti  :  coiupleturus. 

III,  2»  fulta  (2)  :  iinplevit,  -erunt. 

111,4''  [quam  zi  fuUenne  :  adimplere  2,'>,  4]. 

b)  gi- 

II  gifullet :  implete. 

III,  2a  gifulta  (2)  :  implevit,  -erunt. 

III,  2'J  gifulta  :  consuinmasset  78,  1. 

111,41'  girdinota  gifuUen  :  cupiebat  impl.  97,  2;   nOtdurf  uuas  zi  gif.  r 

necesse  est  inipleri  281,3.  —  [gilimphit  uns  zi  gif.  :  dccet  nos 

impl.  14,2]. 


UEBER  GE-  BEI  VERBEN.  527 

III,  6  zispreitta  .  .  .,    nidargisaata   (deposuit)   .  .  .   iuti    arhuob    .  .  ., 
gifulta  (implevit)  .  . .  inti  forliez  4,  7. 
Prtc.  prt.  gi-  oft,  ar-  (2). 

halon  :  voeare  (3),  adducere  (1),  culllgcre  (1);  diiccre  =^  heiraten  (3). 
gi- :  vocare  (11),  convocare  (4).  advocaie  ( 1 ),  adliiberc  (1),  colligere  (2), 
adquireie  (1);  ducere  (1). 

a)  halon 

II  halO  :  voca  (2),  halönt :  ducimt. 

111,2»'  halötut :  collegistis  152,8. 

III,  2  b  [halüta  :  duxerat  79,  1]. 

IIT,  4''  gilimphent  zi  h.  :  adducere  188,  18  [saiita  zi  li.  :  vocare  125,  2]. 

III,  5  [thle  thär  halöt  :  qui  duxerit  2'J,  2J. 

b)  gi- 

I  gihalöt :  convocat  (2). 

II  gihalo  (2)  :  adhibe,    voca,   —    oba    her   ...   in   eht  gihalöt  :  si 

lucretur  90, 5. 
III,  2a  gihalöta  :  vocavi  -it(ll);    :  vocat  (bist,  prs.)  45,7;    giböt  thaz 
man  gihaloti  :  iussit  vocari   151,4;  —  collegimus -istis  152,4.6; 
adquisivit  151,5;   auflösung  von  convocans  (34,1.  118,1;    von 
advocans  94,  2. 
Prtc.  prt.  gi-  (8). 

ougen  :  ostendere  (1);  sih  o.  :  apparere  (2).  —  gi- (2) :  deraonstrare, 
ostendere.  —  ar-  :  ostendere  (10),  manifestare  (1);  sih  arougen  :  (ap)pa- 
rere  (11). 

a)  ougen 

II  sih  ougent  (2).    ouget :  ostendite. 

b)  gi- 

II  giougi :  ostende. 

III,  3  giougit :  demonstrabit. 

c)  ar- 

II  arougis.    erougi  (2),  -et  :  ostendere. 

111,2»;  eroucta  :  ostendi,  -it  (8).     aroucta  sih  :  apparuit,  -eriint  (lo). 
III,  3  erougit  sih  :  parebit  145, 19. 
III,  4b  bigonda  arougen  :  ostendere  9o,  4. 
Prtc.  prt.  ar-  (2). 

haltan  (etwa  16)  :  custodire,  servare.  —  gi-  (8)  .-  custodire,  servare, 
conservare.  —  bi-(14)  :  custodire,  servare,  observare  (conservare). 
a)  haltan: 

II  heltit  (4;  165,2  lat.  text  servavit  f.  servat);   haltes;  halt,  -ot  (4). 
111,2»  hielt(4):  custodiebat,  servabant,  servaverunt,  servabaiu. 
111,8  haltent  :  servabunt  170,2. 
III,  4b  [gigeban  sint  zi  haltanne  84,4]. 

111,5  [oba  uuer  .  .  .  ni  heltit  :  si  quis  non  custodierit  148,4;    ob  ir 
.  . .  haltet  :  si  .  .  .  scrvaveritis  16",  9]. 


528  PIETSCH 

b)gi- 

III,  2a  gihielt  :  conservabat,  servasti,  custodivi. 
111,6  thie  gihoient  gotes  iiuort  inti  thaz  gihalteut :  audiunt,  custo- 
diimt  58,2;    thie  dar  minnöt  sin  ferah  thie  forlioses,  thie  dar 
hazzöt  sin  ferah  .  .  .  giheltit  iz  :  perdct,  custodit  139,3. 
c)  bi- 

II  bihaltu,  biheltit,  bihaltet  (iuip.),  bihaltenti  (2)  :  custodirc  (servare). 
III,  2»  bihiclt  (5)  :  observabant  (2),  conservabat,  servavi,  -erunt. 
III,  4b  [gibiut  zi  bih.  :  iube  custodiri  215,3;  leret  zi  bih.  :  docentes 

servare  242,  2]. 
111,5  so  uuer  ...  biheltit  :  si  quis  servaverit  131,22.23. 
Anin.    Beachtenswert  scheint,  dass  hielt  3  m.  =  lat.  iiupf.  und  nur 
1  m.  =  lt.  perf.  steht,   gi-biliielt  aber  nur  =  impf,  von  con-u b servare, 
sonst  =  perf.  servavi  custodivi. 
Prtc.  prt.  gi-  (2). 

losen  :  solvere  (8),  llberare  (1).  —  ar-  :  solvere  (3),  liberare  (5), 
eruere(l),  redimere  (1).  —  üz-  :  eruere  (1).  —  zi-  :  solvere  (7). 

a)  lösen 

II  16sit(2),  -et;   löset  (imp.),  lösenteii  :  solvere.  —  lösenti  :  liberans. 
III,  4^^  [gilainf  zi  1.  103,5,   ih  quäiui  (quam)  zi  1.  25,4(2)  :  solvere]. 

b)  ar- 

II  erlösit  :  liberet  2ü5,  3.    arlösi  (2)  :  crue,  libera.     erlöset  :  solvite. 

arlösenti  :  redempturus  225,  3. 
III,  2  a  erlösta  :  liberavit. 
in,  5  so  uuelichu  so  ir  arlöset  :  ([iiaccumciue  solveritis  !)8,  3 ;  —  oba 

arlösit  :  si  liberaverit  131,  15. 

c)  uz- 

II  üzlösi  :  erue. 

d)  zi- 

II  zilöset  :  solvite. 

III,  2 ■>  zilösta  sih  :  solutum  est  81),  I;  zilösta  :  solvebat  88,6. 
III,  5  so  uuaz  thu  ziiösis  :  quodcniuiue  solveris  UO,  3.  —  ther  zilösit : 
qui  solverit  25,  6. 
Prtc.   prt.  arlösit  ;   liberatus   solutus;    si   zilösit  :  solvatur;    zil.  uuer- 
dan  :  solvi. 

Ich  habe  diese  beispielc  beliebig  herausgegiiffen ,  es  han- 
delte sich  ja  nur  darum,  das  verfahren,  wie  ich  es  mir  denke, 
wenigstens  durch  einige  beispiele  zu  verdeutlichen.  Dennoch 
sind  dieselben  geeignet,  manche  der  vorhin  angedeuteten  ge- 
sichtspunkte  erkennen  zu  lassen,  z.  b.  haben  ar-zilösen  ganz 
deutlich  die  Functionen,  welche  bei  anderen  verben  der  Zusammen- 
setzung mit  gi-  zufallen.  Vgl.  besonders  III,  5.  Auch  der  bei 
haitau   angedeutete  gesichtspunkt   verdiente  vielleicht   weitere 


PIETSCH,  UEBER  GE-  BEI  VERBEN.  529 

beachtung.  Dass  ich  die  einzelnen  formen  alle  ganz  ange- 
messen untergel)racht,  beanspruche  ich  nicht;  es  lässt  sich  in 
der  anordnung  manches  gewiss  zweckmässiger  gestalten.  Es 
war  eben  nur  meine  absieht,  einige  andeutungen  zu  geben. 
Natürlich  bin  ich  auch  weit  entfernt,  diese  etwas  weitläufige 
art  der  behandlung  des  gegenständes  für  jedes  einzelne 
denkmal  als  notwendig  anzusehen;  nur  für  die  wichtigeren  der 
verschiedenen  zeiten  und  der  verschiedenen  mundarten  scheint 
sie  mir  empfehlenswert.  Besonders  so  lange  wir  noch  in  den 
anfangen  der  genaueren  Untersuchung  dieses  in  seiner  Ver- 
wendung so  proteusartigen  vorwörtchens  stehen. 

GKEIFSWALD.  P.  PIETSCH. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 

Uie  königliche  öffentliche  bibliothek  in  Hannover  besitzt 
unter  den  handscbriften  Dietrichs  von  Stade,  welche  dieselbe 
nach  dessen  tode  (1718)  im  jähre  1723  ankaufte,  auch  eine 
Sammlung  einer  grossen  anzahl  von  kleinen  Wörterbüchern  ein- 
zelner altdeutscher  literaturwerke  unter  dem,  auf  dem  rücken 
des  bandes  befindlichen  titel  'Glossaria  varia  ordine  alphabe- 
tico',  ms.  IV,  447,  folio.  Eine  Inhaltsangabe  der  handschrift 
findet  man  bei  a  Seelen,  Memoria  Stadeniana,  Hamburgi 
MDCCXXV,  s.  144  f.  Dieser  band  enthält  auf  blatt  453—461 
ein  ostfriesisches  Wörterverzeichnis,  welches  ich  hier  zum 
abdruck  bringe.  Ich  benutze  diese  gelegenheit  der  Verwaltung 
der  kgl.  bibliothek  in  Hannover  auch  au  dieser  stelle  meinen 
aufrichtigen  dank  auszusprechen  für  das  bereitwillige  entgegen- 
kommen, mit  welchem  mir  die  handschrift  zur  Verfügung  ge- 
stellt wurde.  Nur  die  Überschrift  ist  von  der  band  Dietrichs 
von  Stade: 

Vocabula  qdam  Fresica,  in  Wursatia,  prsecipue  in  pa- 
rochia  Wremensi,  inter  Frisios  usitata,  qua)  Dom.  M.  Luderus 
Westing,  tunc  temporis  ibidem,  jam  in  civitate  Luneburgensi, 
Pastor,  mihi,  äo  M.  DC.  XXCVIII.  rogatus,  ex  ore  suorü  Pa- 
rochianorum  excepta,  communicavit. 

Der  nun  folgende  text  rührt  von  einer  andern  band  her. 
Wir  haben  offenbar  das  original  von  Westings  niederschrift 
vor  uns.  Die  handschrift  ist  sauber  geschrieben  und  scheint 
vollständig  zu  sein.  In  dem  folgenden  abdruck  sind  die  zahlen 
von  mir  hinzugefügt.  Die  in  klammer  stehnde  zahl  verweist 
auf    die    entsprechende    seite    von    Kükelhans    ausgäbe    des 


BREMER,  WÜRSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


531 


Cadovius-Müller,  Leer  1875.  Die  wörtei-  des  letztern  habe 
ich  denen  Westings  in  klammer  hinzugefügt,  und  zwar  mit 
benutzung  der  verbessrungen,  welche  Kükelhan  in  Zwitzers' 
Ostfries,  monatsblatt  III,  Emden  1875,  s.  289 — 299  nachgetragen 
hat.  Bis  636  laufen  die  zahlen  für  Cad.-M.  fort;  von  638  bis 
zum  schluss  gilt  die  in  klammer  stehnde  zahl  nur  für  das 
betreffende  wort  selbst,  nicht  auch,  wie  vorher,  für  die  folgen- 
den Wörter.  Die  wenigen  buchstaben,  welche  Westing  antiqua 
schreibt,  sind  durch  nichtkursiven  druck  gekennzeichnet. 


(31=^)  gott 

ein  geist 
engel 
teuffei 
5  gespenst 
uohtwendigkeit 
das  glück 
der  Zufall 
die  uatur 

10  ein  bewegung 
eine  ruhe 
(3P')  ein  ort 

die  zeit 
ein  iahr 

15  der  frühling 
der  Sommer 
der  herbst 
der  winter 
ein  monat 

20  eine  woche 
ein  tag 
eine  nacht 
ein  stunde 
(32-'*)  die  weldt 

25  der  himmel 
ein  Stern 
die  sonne 
der  moud 
das  feüer 

30  der  rauch 
eine  kohle 


got  [gaade) 

geist  {geest) 

engel  {enget) 

devel.    Imsum ')  deyd  {tiu/fli) 

gespcnss  {spoiick) 

{nohtheide) 

{luck) 

tofall  {toofall) 

{natur) 

bewey'de  {horeigening,  r dring) 

raufv  {rill,  rost) 

{oode) 

tidde  {tu de) 

en  jcer  {ohn  jehr) 

fratv  je  er  {farjchr) 

siihmr-)  {zuhmer) 

hervest  {heest) 

{n'ijhnter) 

mond  {mohnnt) 

en  wieck  {wyhk) 

en  die  {dy) 

{nocht) 

[stulmde) 

tvh-ähl  {iverrelf) 

hiemnwl'^)  {hyhtnel) 

en  stiem  {stiarn) 

sönj'e  {saufm) 

mahn  {meen,  jnonn) 

fiejuhr  {fiauhr) 

smeeck  {schmayck) 

köläh'^)  {koll) 


')  doif,  ',2  uieile  südlich  von  Wiemen. 
•'')  c  oder  c.      *)  käluh  hs. 


-)  smulir  oder  smnhr  hs. 


)32 


BREMER 


asclie 

die  lufi't 

ein  regen  bogen 
35  der  blitz 

der  douner 

der  wind 

ein  wülcke 

der  tbau 
40  der  reiff 

der  schnee 

dasz  eiss 

der  regen 

uugewitter 
(32'')     45  das  wasser 

das  meer 

weser 

ein  fluss 

eine  bulge 

50  ein  see 
eine  pfütze 
ein  brun 
ein  tropff 
ein  Wasserblase 

55  die  erde 
ein  berg 
ein  hügel 
ein  winckell 
ein  erdenkloss 

(30  eine  sode 
der  koth 
das  sand 
der  untiath 
(33*)  ein  laudschatlt 

65  acker 
ein  wald 
ein  wiese 
ein  garte 
ein  Weinberg 

70  eine  brücke 
ein  Stadt 
ein  dorff 
ein  thurn 
ein  graben 


kscke  {csli) 
lacht  {luchi) 
rins  bogäh  {rienhaag) 
leidt,  IjuclU  {laijde) 
toyiijhr^)  (ihunder) 
{rvihnde) 
rvulcke  {wulck) 
dem  {daiv) 
ripp  (reip) 
(schnee) 
iss  (ijhs)  -) 
rhi  {riehii) 

aischwidder  (uhnwidder) 
wilihr  (we/ter) 
see  (zech) 
wissuhr 

wiitirtoch  {dilph  gegrabener 
fluss) 


putte  {morast) 

saadt  {boohde) 

druppah 

intfihr  blase  (wetterblubber) 

ehrde  {eerde) 

beerg  (birg) 

kloadt  {biilte,  lütken  birg) 

en  heeren  (heene) 

a  erde  kludl  {eerdenklomp) 

sade  {aijde,  turjf) 

treck  (bletz) 

söhn  (sauhn) 

niiuchss  {suhndels') 

lohn  {lauh?ischep) 

dcker  (ecker) 

woag  {holde,  wolt) 

wisch  {mehtlaun) 

tunne  (tlmen) 

(wynbirg) 

breggc  {bregge) 

stedde  (stcde) 

tdrpe 

thoren 

en  ßljiid 


^)  y  otler  y  oder  y.      '^)  jss  hs. 


WURSTENEU  WÖRTERVERZEICHNIS. 


533 


75  eiü  thor 
ein  gasse 
ein  kiiche 
ein  maickt 
ein  zech  hauss 
(33'')     80  g-oki 
Silber 
bley 
zinn 
eisen 
85  saltz 
Schwefel 
ein  stein 
ein  Ziegel  stein 
kalck 
1)0  ein  glass 

ein  dach  ziegel 
ein  edelgestein 
das  holtz 
ein  bäum 
1)5  ein  vvuitzel 
ein  stamm 
ein  ast 
ein  zweig 
ein  blat 
(34=*)    100  ein  wein  rebe 
ein  holdeibauni 
kraut 

ein  Stengel 
eine  blume 
105  eine  Helle 
ein  rose 
ein  rübe 
ein  rettich 
(•^1")  grass 

110  heii 

die  frucht 
ein  apöel 
ein  birn 
ein  pflaum 
1 15  eine  feige 
ein  kirsch 
ein  nuss 


dahr  {darr) 

siraat  {strait) 

sch/räVA-')  (zierck) 

marcked  {merck) 

kro(j  {krauch) 

gohl  {(joel) 

siljähr  {zilvcr) 

hUij  {bhj) 

/hmen-)  {(m?i) 

iseni^)  {ijhser) 

söH^)  {mit) 

schwefihl  {schweifet) 

sleen  {fllnte) 

muhr  stehn  {backstain) 

{kaUick  kelch) 

(jlesse  {gles) 

imune  {krock) 

deman  {eedelslain) 

holt  {hald) 

lähm  {Jnaum,  buam) 

ivörtel  {wi(iel) 

stamm  {stock) 

t eigen  {lulg) 

ttviß  {twillig) 

bladde  {bleede) 

{tvyhnstock) 

dlhorn 

krudt  {knihde) 

{steehl) 

blomcke  {blaime) 

{liljen) 

{rosen) 

cn  röfe  {rilf'e,  rcij/'e) 

{schn-erte  reijfe) 

gress  Imsum  {ges) 

föddcr  {hah) 

facht  ifrichte) 

appel  {appel) 

en  pähr-^)  {pyhrr) 

plumme  {quidse) 

/ige 

kassbehr  (kess) 

nöte  {nuuht) 


')  oder  sch»vrcAV    Vgl.  s.  557  anm.  1. 
*)  soll  hs,      ^)  jjräh  lis. 


•■')  limien  hs.     3)  Jseni  lis. 


531 


(35=^) 


(35") 


(3G'») 


(36'^) 


BREMER 

ein  Weintraube 

{wyhntruffen) 

weitzeu 

weten  {iveete) 

120  rocken 

rogtjen  {rogge) 

garsten 

körn  {gest,  kohrii) 

habern 

Ijeffähr  {lieffer) 

ein  erbs 

erith  [erre/J'l) 

ein  bohne 

bahne  {höhne) 

125  nieel 

mita  (mi/l) 

bier 

befahl'  {biahr) 

essig 

et)ck  (suhr) 

honig 

homiig  1)  {hun'uj) 

wachs 

wachss  {rvags) 

130  milch 

meMjhck-)  {melck) 

butter 

bultuhr  (biihter) 

lauge 

läge  ilooge) 

ein  thier 

tjahrd  (ivucht) 

ein  vogel 

vagel  (fiuggel) 

135  ein  storch 

ein  äbhehj'-'')  (slorck,  adebahi 

") 

ein  rabe 

rä/e  (ra/en) 

ein  krähe 

krag  {kragen) 

ein  schwalbe 

schtvillnck  (schwohleke) 

ein  spärling 

sparllnck  {ßnck) 

140  ein  schwan 

schwohn  {schwohn) 

ein  ganss 

göoss  {goos) 

ein  endte 

emidt^)  {oente) 

ein  hahn 

röper  {hahn) 

ein  hänne 

h('mne  {heine) 

145  capaun 

capuhn  Qiahnruhn) 

ein  rebhun 

(rephein,  patrisken) 

ein  Wachtel 

{kutjehlick) 

ein  taube 

dwve  {duhfe) 

ein  lerche 

levercke  {letzkc) 

150  ein  fisch 

fische  (fiosck) 

ein  bering 

{herring) 

ein  lachs 

lass  {lochs) 

ein  hecht 

hecket  {hecke/ e) 

ein  ahl 

ehle 

155  ein  krebs 

ikrefft) 

ein  thier 

{jvucht) 

das  vieh 

becst  (goot) 

ein  woltf 

H'ul//'  {nndff) 

ein  fuchs 

foss  Cfogks) 

160  ein  hasc 

hässah  {haase) 

')  i  oder  \  oder  i.       '-)  e  oder  e.       ■'')  ä  kaun  allenfalls  auch  ä  ge- 
lesen werden.       <)  ^mndt  hs. 


WUKSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


535 


ein  maulwuiff 

ein  mauss 

ein  ratze 

ein  pferd 

165  mutterpferd 

ein  esel 

ein  ochse 

ein  stier 

ein  kuii 

170  ein  kalb 

ein  schaff 

ein  hamel 

ein  lamm 
(37'')           eine  ziege 

175  ein  bock 

ein  Schwein 

ein  eher 

ein  hund 

ein  katze 

180  ein  frosch 

ein  wurm 
raupe 

ein  schlänge 

ein  Schnecke 

185  ein  fliege 
ein  miicke 
ein  imme 

(37'')  ein  wespe 

ein  heiischreck 
190  ein  ameiss 
eine  spinne 
ein  lauss 
ein  mensch 
ein  man 
195  ein  weib 
ein  kind 
ein  mägdleiu 
ein  alter  man 
ein  alt  weib 

(38*)  200  der  leib 
die  haut 
das  fleisch 

(38^^)  die  ader 


{muH) 

mus  {fuuhs) 
rotte  {rotte) 
pärdt  {hingst) 
mehr 

esehl  {eesel) 
en  äusse  {eghs) 
en  st  jähr  {stiar) 
kuh  {ky) 
käalf  {ka/f) 
schepp  {schaip) 
{hahmel) 
löhm  {laum) 
zage  {zege) 
ramme  {bück,  rcunm) 
schwill  {schwyhn) 
^everd  {hajver) 
hunn'  {huhn) 
kätt'  {ziet,  mueshuhn) 
pdgge  {pogge) 
n-örm  {tvorm) 
en  nipp  {ruhhe) 
schtenge 
schnigge  {schnigge  weisze 

Schnecke) 
ßiäg  {/Hage) 
mügge  {migge) 
imm  {ihme) 
{stehckihme) 
{gesprenger) 

migelrehm    {iniren^  pissebedden) 
{spimi) 
liiss  {lues) 
minscke  {minsck) 
mänii  {zieht,  keret) 
wiff  {rviif}') 
bahren  (been,  bein) 
föjven^)  {fohn) 
ahle  mann  {ohlden  zieht) 
en  ähle  wi/l'  {o/itd  n-uff) 
tili  {lief) 
hede  {heude) 

ßesck  {ßesck,  /lasck,  fliosck) 
ader  {ooder) 


')  fdwen  hs. 


53G 


BREMER 


ein  bein 
205  das  marck  im  bein 
blut 

ein  glied 
(37^')  ein  haar 

(38*)  das  ohr 

210  das  angesicht 
die  Stirn 
die  aug  lieder 
ein  äuge 
die  nase 
215  ein  backe 
ein  kinn 
ein  bart 
eine  lippe 
ein  mund 
220  Zahnfleisch 
der  zahn 
ein  zunge 
(38'')  der  halss 

der  nacke 
225  die  brüst 
eine  zitze 
ein  rücke 
die  Schulter 
die  achseln 
230  eine  seite 
das  hertz 
ein  arm 
eine  band 
die  rechte  band 
235  die  lincke  band 
ein  finger 
ein  daum 
der  bauch 
der  nabel 
240  der  hinder 
die  bilben 
ein  schenckcl 
die  hüfft 
das  knie 
245  eine  wade 
ein  fuss 
die  ferse 


beim 

märck  in  hehn  {inirck  in'l  behi) 

blöde 

glid 

hier  {heere,  hair  die  haare) 

ahr  {ehr) 

{antlaat) 

stier 7m  (voorblade) 

owje  Jid  {oogenlidde) 

en  oäge  {pog) 

nesie  (nusze) 

Isjäck'  (tvange,  kohn) 

{kinneb(ick) 

bürde  (bähde) 

{lippen) 

muH  {thuffy  junhl) 

lösch  ßesck'  {tnsckfUosk) 

losch  {/iisck) 

tonge  {fong) 

(hals) 

neck'e  (neck) 

bröst'  [bosl) 

ward,  litte  {tilte,  spehn) 

regg  {rigg) 

schulder  {sckulders,  plur.) 

schi'dderblel 

sldd'e  (side) 

hart  {hart) 

ar"?n  {irm) 

hölm  {haunde) 

riücht'er  höhn  {riuchler  haunde) 

Jochter  höhn  {lincker  haunde) 

{finger) 

Umme'  {thum) 

bück  {hauck) 

niggehl  {naffel) 

aerss  {neers) 

aerss  bellen  {neersbacken) 

senck  {schincke) 

{kruesbunck) 

(knldd) 

7vad^)  {kühle) 

fndt  {faul) 

hacke  {hacke) 


^)  wnd  hs. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


537 


die  fussohlen 
(39*)  stäreke 

250  Schwachheit 
gesuüdheit 
kranckheit 
taubheit 
blindheit 

255  ein  höcker 
der  hust 
das  fieber 
die  pestilentz 
die  masern 

260  eine  beule 
ein  geschwer 
(«^9'')  ein  wunde 

ein  wundmahl 
das  leben 

265  der  tod 
die  Seele 
das  futter 
die  speise 
der  tranck 

270  ein  morg  suppe 
das  Vesper  brod 

ein  gasterey 
brodt 

ein  kringel 
275  ein  kuche 


(40=*) 


ein  suppe 
speck 
ein  wurst 


ein  ey 
280  milch 
butter 
(53,3)         ein  käse 
(40=^)  der  seh  weiss 

ein  thräne 
285  Speichel 

seiche 
ein  wind 


släa 

{starckte) 

kroi'mck 

sunn  {suhndheide) 

kroanck  {kronckheide) 

daaf  concr.  {daufheyde) 

hlinn  concr.  {hlhidheide) 

krum"  regg'  ihiten) 

hösC  {host) 

köhldr^)  {kohJde) 

{peest  die  pest) 

masehi  {nie y sei) 

buhle"^)  {duhle,  druhle) 

idem  {ähcket) 

(fi'uhnde) 

?iene  (/iddleyken) 

fit  liff'an  {Hefen) 

dad  {doude) 

{zeehl) 

fohr  {fodder) 

spiese  {kost) 

drinck  {drawick) 

niaren  hrade 

vesperUtcke  {midduliren,  schep- 

mehl) 
igeesteboode) 
hrrade  {brodde,  brande) 
{kroickUnge) 
kocken  {kayckes) 
{juck,  broye) 
{spiock) 
örst  {rvuust) 
{eye) 

mel" ejück'^)  {inelck) 
buttuhr  {buhten) 
zise  {tzise) 
schweet  {schweif) 
thrähn  {thrnnen  die  thräueu) 
spegel  {spoch,  spey) 
[pölcke]  4) 
hölcke  {niieg) 
w'me,ßrV  {ßest  crepitus  ventris) 


')  e  oder  t.  2)  „  ojjer  y^^  ^■>  allenfalls  auch  e.  3)  meffjück  hs. 
*)  steht  in  der  hs.  über  luilcke,  ist  also  oftenbar  eine  Variante  zu 
diesem  wort. 


538 


BREMER 


niensehendreck 
(40'')  ein  sinn 

290  das  gesiclit 

das  licht 

finsternis 

die  färbe 

das  gebor 
295  ein  scball 

ein  stimme 

das  rieeben 

der  gerueb  *) 

das  kosten 
300  der  gescbmack 

das  füblen 

die  wärme 

die  kälte 

die  gedäcbtniss 
305  die  vergessenbeit 

der  scblaff 

ein  träum 

die  wacbt 

das  gemütb 
310  die  veruuflft 

der  wille 

die  Wollust 

die  freiide 

der  scbmertz 
315  die  traurigkeit 

die  barrabertigkeit 

die  missgunst 
(41^)  die  liebe 

der  bass 
320  der  zorn 

die  furcbt 

die  boffnung 

ein  feiertag, 

eine  glocke 
325  ein  priester 

ein  küster 

ein  leiche 

ein  l)egräbniss 

ein  bürger 
330  ein  frembder 

die  obriffkeit 


menschen  treck  {strunt) 

{sinne  die  sinnen) 

tschah  (sciah) 

^Ij'acht  {(Jacht) 

tjusternlss  (tjunck) 

früw  {ferfe) 

hähr  (hee)') 

lüddi 

stemm'  (stem) 

rücken  {ruhk) 

(royck) 

schmeckend  {profen) 

schmecke  {schmeck) 

fehl  {faijlen) 

{helfe) 

kohl  (kohlde) 

{gcdachtenis) 

vergitthän  {verjetenheide) 

sleep  {schlaip) 

dreemde  {draim) 

finckthn  {rvaaken) 

gemüht  {gemaide) 

vernunfft '-)  {verstandigheide) 

{ivalle) 

wehlost  {(higheyde) 

fr  0  fr  de  {fraude) 

schmart  {sch?nert) 

trorlgkeit  {trurigheide) 

harmhartigkeit 

aofgunst  {au f Jons i) 

liafd  {Huf de) 

quaade 

thoren 

growen  {freyse) 

{hapcnlnge) 

fierdie  {helgendi) 

klocke 

pasa  in  plu.  puppuhn  {pastor) 

koster  {coster) 

dade^  lick 

dad'  hjdhr  {bygreffnis) 

horger  {horger) 

framhder  {fraumhdling) 

lio/fch  r  ig  keil  {överlteyde) 


')  geruh  hs.      -')  veruuffl  hs. 


WURSTENER  WORTE  RVERZEICHNIS. 


539 


(411') 


(42=^) 


(42 '0 


(43'') 


(38^) 

(37 1') 
(38^) 
(37*) 
(38*) 
(37") 

(38'-') 
(37") 
(38*) 


der  kayser 
ein  köuig 
ein  königin 
335  ein  fürst 
ein  edelman 
ein  ampt 
ein  Schreiber 
zusammen  kunfft 

340  der  rath 

ein  rahts  b. 

ein  gericht 

ein  ricbter 

der  friede 
345  der  krig 

ein  feind 

kriegsber 

ein  fabne 

ein  schildt 
350  ein  gescbütz 

scbiessen 

ein  bücbs 

ein  kugel 

ein  spiess 
355  ein  scbwerd 

ein  dolcb 

ein  raesser 

das  befft 

die  scbeide 
3G0  baussbaltung  oder 
baussgesind 

ein  gescblecbt 

blutfreündscbafft 

gross  vatter 

gross  mutter 
365  ein  vatter 

ein  stiefi"  vatter 

ein  mutter 

ein  stieft"  mutter 

kiuder 
370  ein  sobn 

stieffsobn 

ein  tocbter 

stieft'  tocbter 


{kayser) 

henihn  {könninck) 
kelmihein  {köninghine) 
{first,  ferst) 

{leening) 

schriver  {sckrifer) 

tosamen  kommah  {hijhnauhn- 

komst) 
rekde^)  {rayde) 
rehdshelir  {rayhdsmon) 
gürrjücht  2)  {ger'mcht) 
gurrjucliter  {riuchter) 
feradäh  (fridde) 
kriegg  (fehde) 
fejendt 

ßnnäh  ^)  {fahne  ein  febndel) 

(sckilde) 

gesehnt 

schäjafh 

röhr  (röhr) 

(kloot) 

speet  {spait) 

schnärd  (saghs) 

körten  deg  {fugge) 

säx' 

schünnah 

Schede  {schayde) 

hnssholding  {huesliohVtng),    hof- 

gesind 
stamm  {vollck) 
blöd  frünschop 
gröot  nänn  (aahlvaar) 
groote  möhm  (ahlfnem) 
nänn'  {vaahr,  babbe,  heile) 
stj'ip  nann  {sliapvaar) 
möhme  {mem) 
stjip  möhme'^)  {sliapmem) 
bahren  {been,  bein  ein  kind) 
snuh  (zuhn) 
stjip  snuh  {sliapzuhn) 
dochter  (tiochter) 
stjip  dochter  {stiaptiochter) 


*)  e  od(3r  e\  allenfalls  atich  e.      ")  eher  u  zu  lesen.      •')  möhme  hs. 

Beiträge  ziir  geschiclite  dei  deutsclien  spräche.     XIII.  gg 


540 


BREMER 


ein  kindes  söhn 
375  ein  kindes  tochter 
(43^)  ein  bruder 

ein  Schwester 

des  vattern  bruder 

der  mutter  bruder 
380  vatern  Schwester 

mutter  Schwester 
(43"^)  der  ehestandt 

ein  hochzeit 

ein  ehe  frau 
385  ein  bräutigam 

ein  braut 

Schwager 

Schwiegermutter 

sohns  frau 
(43=^)    390  ein  herr 

ein  frau 

ein  knecht 

magd 

(43'')  ein  hauss 

395  ein  wohnung 
ein  platz 
ein  Stube 
(44^)  ein  keller 

ein  scheüne 
400  ein  körn  hauss 
ein  kuche 
ein  herd 
ein  oifen 
ein  stall 
405  tauben  hauss 
hünerhauss 
(44'')  ein  gebau 

ein  wand 
ein  maur 
410  ein  thür 
ein  schloss 
ein  Schlüssel 
ein  fenster 
ein  leiter 
415  ein  trepff 


hrohrens  söhn 

hahrens  dochter 

bf'ohr  (brawer) 

schrvester  {süs(er) 

nan  hrohr  {vaahrshraiver) 

?nohm  hrohr  (memsbrawer) 

nan  Schwester   {vaahrssüster) 

mohm  Schwester  {memssüster^ 

{echtestaund) 

gäme    {waschop) 

ehe  rviff  {echtervuff) 

burdühgahm  {braidigonmi) 

brehde  {brayde) 

{schwaiyer) 

schwieger  mohm  {schwaigermein) 

snnh  wiff  {zuhns  wiiff) 

här  [heehr) 

wifT 

{thyansl  knecht) 

fäichhi  {thyanstmagd  ein  dienst- 

magd) 
huss  (hues) 
uenymhn ')  {kommer) 
piaatz  (pletze  ein  herdstete) 
dornske,  pisel  {do7'ns,  pisel) 
{siUeni) 

scheüfi  {schien) 
kornhuss  {boode,  spyhker) 
koäcken  {kouken) 
{heerd) 

niß'wuncke  -)  {auf ende) 
{stall) 

duf  huss  {duhfensphinde) 
Immer  huss  {hennenhock) 
geböwd  {geboude) 
wag  {waage) 
muhr  {?PMhr) 
dcrräh  {darr) 
Schlotte'^) 
kay  {kay) 
andern  {fihnster) 
ladder  {ladder) 
trep  {tratte) 


')  e  allenfalls  auch  <",    iinu  oher  iin)i  zu  lesen.      -)  oder  nif/'/vucke; 
die  hs.  liat  für  ttn  nur  3  striche.      •')  e  allenfalls  auch  <*. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


541 


ein  dach 
ein  dach  ziegel 
haussgerath 
(45''}  ein  gefäss 

420  ein  tisch 
ein  banck 
ein  stuhl 
ein  Schemel 
ein  tischtuch 

425  ein  teller 
ein  saltzfass 
ein  lofifel 
ein  messer 
ein  becher 

430  ein  schale 
ein  kelch 
ein  glass 
ein  kanne 
ein  flascbe 

435  ein  kiug 
ein  becken 
ein  handfass 
ein  fass 
ein  tonne 
(45'')    440  ein  zuber 
ein  trechter 
eine  kertze  | 
ein  licht       ] 
ein  leüchter 

445  ein  latern 
ein  lichtputze 
späne 
blasebalg 
bratspiess 

450  rosst=*) 
kessel 
topff 

drey  fuess 
ein  korb 

455  ein  sack 
taschen 
besem 
bette     • 
wiege 


duckkäh  (theck) 

(paan) 

hussgerahde  {huesgerayde) 

{fett) 

{taffet) 

hänck  {benck) 

stöhl  {stull) 

scKimmchl^)  (sckamel) 

twäal  {ßisklayken) 

tellähr 

soltfelt  {saltfett) 

leppel  (letz) 

sax  {saghs) 

bettschier  {bihker) 

schillifah 

käilcke  {bihker) 

gless 

könne  [konn  ein  steinern  kan) 

flesck  {lechel) 

konne'^),  kross 

(plaate) 

{hauhnfett) 

vedt 

tonne  {tunne) 

töfähr 

trachter  {trichter) 

,.    ,^  {keers) 

'J""''^'^  \liacht) 

Ijuchtiir 

Ijucht 

Ijacht  scheer  {liachtschnütte) 

spohn  {sphone) 

puster  ijdaasbelg,  pühster) 

{brähdespitt) 

{rüster  eine  röster) 

tsch'ittihl  {tschittel) 

kroog*)  {kroch) 

triefuht  {trianfaut) 

koorf  {kor/]') 

sacke  (seck) 

ficke  {kmapseck) 

besinyi  {bisseni) 

bedde  [bedde) 

n'edsü  {widse) 


')  scJiimnehl  hs.      ^)  kome  hs.      ^)  rosse  hs. 


*)  krogg. 
36* 


542 


BREMER 


460  spannbett 

küssen 
ein  decke 
(46*)  ein  kieste 

spinroek 

465  haspel 
spin  radt 
eine  spule 
ein  sciiere 
fingerhut 

470  ein  nadel 
ein  kämm 
ein  Spiegel 
ein  biil 
ein  kleid 

475  ein  hut 
ein  haube 
ein  Schleyer 
(46'')  ein  mantel 

ein  rock 

480  ein  peltz 
ein  hembd 
ein  krag 
ein  ermel 
handscbue 

485  bösen 
strümj)ffe 
ein  stieß el 
ein  scbue 
pantofl'el 

490  ein  krobne 
ein  fmger  ring 
ein  giirtel^) 
ein  nessel 
ein  sebueriem 

495  geld  und  gut 
ein  brautscbatz 
ein  erbscbafl't 
das  gute 
das  böse 
(47*^)   500  der  schade 
reicbtbum 


schließ     häncke     {schlaiphenck 

eine  schlaffbank) 
k essen  {k essen) 
däcke 

käste  {sphinde) 
(spoel  ein  spindel) 
hespel  {rahl) 
Spin  red  {iveyht) 
spohle  iflüeyet) 
schere  {scheine) 
fingerhode  {fingei'hoode) 
neddel^)  {nedel) 
köhmm  {kayhni) 
speyel  {spiagel) 
{briet) 

kläed  {klaade) 
höde  (hoohde) 
hufe  {mutze) 
schlejer 
möntil  {manlel) 
(rock) 

stjusl  {siust) 
hemniin  '^)  {hemhde) 
hefken  (kaag) 
sleefe  {maw) 
wand  {wunthe) 
bocksen  (bückse) 
fesick'  {Iltissen) 
stevel  {Steffel) 
schifwalir  {schuar) 
tuffel 
{krohneii) 

gorrel  {gerdel) 

{üddern  rehm) 

rijalim  {schuar riehiii) 

geelen  göde  {j'ilde  geld) 

hrcdtschet  {braydschelt) 

arfschöppie 

göde  {yoode) 

quade  {bayse) 

schädda  ^)  (schade) 

ricke  Juggäh  (ryhckedohm) 


')  e  allenfall.s  au(-li  t?. 
*)  schtdda  hs. 


■-)  lu'Dvun  hs.         ^)  (V  oder  u. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


543 


armuth 

gewalt 

ehre 
505  guter  nähme 

freiheit 

dienst  bahrkeit 

wolfahrt 

schände 
510  Zierde 

tugend 

laster 

bossheit 

bubenstiiek 
515  gefahr 

die  arbeit 

die  gedult 

ungedult 

trunckenheit 
520  die  zucht 

demuth 

hoffart 

schertz 

gerechtigkeit 
525  billigkcit 

gewalt 

todtschlag 

gesetz 

ein  bitte 
530  kaiiffnung') 

das  lohn 

die  bezahlung 

das  lob 

die  straffe 
535  die  hiilffe 

die  Wahrheit 

die  lügen 

der  einfalt 

der  betrug 
540  der  geitz 

frciindsehafft 

feindschafft 

einigkeit 

Uneinigkeit 


aermolit  {ermohde) 

{gervelde) 

aehre  {ehre) 

gode  nama  (ohn  goede  nonini) 

frieheil  {fryheide) 

tjanstharJieit    {tyahnstharheijde) 

wchlfried  {wallfehrde) 

schoan 

tjuthud 
Ulster 
hösshcit 
howenstuck  i) 

aarheit 


drinckcnheit 
t  licht 
demoth 

schätz  {körtztvyl) 
g'örjuchügkcit  2) 

{geivelde) 

dadschlag 

(seede) 

hidde  {heede) 

koop 

loahn  [laahn) 

hetlien 

loff  {laufde) 

stra/r 

helpc  {lülpc) 

werhcit 

Icjeu  ■') 

ehnfoIdigkcU 

hederjAh 

gletz 

frinschop 

fcindschop 

enigkcit 


I 


')  7V  oder  v.      ^)  g'örjiiiektigkeii  hs.       »)  es  kann  auch  -nnug  ge- 
lesen werden.      *)  oder  Icjen. 


544 


BREMER 


(48") 


(47-'^) 


(47") 


545 


550 


555 


560 


505 


570 


575 


580 


ein  irtlium 

das  gewissen 

die  klugheit 

die  weissbeit 

die  listigkeit 

die  narrheit 

einkunstbaudtiiierung 

ein  schul 

ein  Schüler 

ein  buchstab 

ein  syllbe 

ein  name 

ein  wort 

ein  rede 

ein  buch 

ein  zedel 

ein  brielf 

ein  blat 

ein  schreibfedcr 

ein  dintfass 

dinte 

ein  Spruch 

ein  ziel  oder 


(48=0 


585 


ein  gedieht 

ein  mährlein 

ein  Sänger 

ein  handwcrck 

baursman 

ein  mejer 

ein  plug 

schauffei 

ein  gabel 

sichel 

Hegel 

wagen 

karren 

ein  Schlitten 

ein  radt 
ein  zäum 
ein  sattel 
ein  sporn 
vieh-hiert 


regel 


wittänd 

klockheit 

7vissheU 

darheit 
handlerung 
schooV)  {schaid) 

hockst  ef 


ncmmäfi  (nomm) 

worde'  {rvoode) 

schnack 

hoock  (bauck) 

sedei 

hrkf  {braif) 

hledde  {hleede) 

schrif  feder'^) 

hlackhoni 

hlack 

spreeck 

reeg 

mahr 

tVjcnger 

hennie  tverckmon  (ombachi) 

hussman  {huesmohn) 

?nedcr  {hUermohn) 

plog  {plaug) 

sclüjätfät  ^0  {schiadde) 

foörck  {forck,  jeffel) 

sieht  {sied,  sichte) 

fUiel^)  ifhiyel) 

wäjen  {wayn) 

kear  {n-üppe) 

schüddäh  (schlidde  ein  pflueg- 

schlitten) 
7-edt  {fiauhl  ein  pfiuegratt) 
töhm  {toohni) 
suddöhl  (zaadel) 
sprach  {spaude) 
hier  de 


^)  schook  hs. 
falls  auch  I 


-)  schref  fed'cr  lia.        ^)  oder  fteiel.        *)  i  alleu- 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


545 


jager 

Vogelfänger 

{ßug  gel  fang  er) 

fischer 

{fioskfänger) 

590  angel 

{ongel) 

müller 

{ineller) 

ein  mühle 

moln^)  {mell) 

ein  beeker 

ein  fleischer 

Schlüchtern  {schlechter) 

595  ein  koch 

kock 

ein  wirtii 

n-irth  [werlh) 

ein  hier  brauer 

hijahr  braiier 

barbierer 

Ulberder  (ast) 

bader 

600  weber 

rvefer 

Schneider 

schnider  (schrader) 

hutniacher 

hodnückihr  {hohdemahkcr) 

kürssner 

korsner  {fellbereyder) 

Schuster 

schostcr  {schuarmahker) 

605  ein  sattler 

sudduhl  {zadelker) 

ein  mahler 

mehler 

buchbinder 

baumeister 

timmennon  (tifiimermohn) 

Schmied 

(schmee) 

610  zimmerman 

Schreiner 

Schnitzer  (spihndemahker) 

dreher 

drejer 

ein  axt2) 

ein  bell 

bin 

615  ein  m aurer 

muhnnon 

(48'')           ein  glaser 

glascker  {glesker) 

ein  töpfler 

hotjer  {pottebacker) 

ein  goldschmied 

gohlschmid 

kan  giesser 

konnjäter^) 

620  eisenschmied 

ein  Schlosser 

kan  mickier 

messerschmied 

süa;'  schmid 

ein  handelsmau 

handelsmon 

ein  schieffmau 

schipper  {schtpper) 

625  ein  schieff 

schip 

ein  schifflein 

kahn,  kanäh 

ein  spiel 

spült 

ein  fechter 

ein  ballspiel 

balsplie 

630  kugel 

^)  allenfalls  auch  moic.     2)  ^^jt  hs.      ^)  oder  konnjä' tcr. 


546 

BREMER 

kegel 

kegcl 

küsel 

{trop) 

ciu  huren 

horc 

ein  dieb 

liafT 

035  meer  läubev 

see  rover  {kaapcr  ein  Seeräuber) 

ein  alte  hex 

olde  hex  {iJug-ofer-di-heyde  eine 
hexe) 

wer 

(57, 34)        gut 

goode  {goed) 

(59, 47)        boss 

boss  {hmjs) 

640  roht 

radc 

gruhn 

gronjc 

weiss 

wit 

schwartz 

schn-art 

lang 

long 

615  breit 

brede 

hoch 

hoch 

tieff 

liap 

schnei,  geschwind 

drade ') 

starck 

650  schwach 

schwack 

(32\  37^45''.  46".  67. 97,25) 

gross 

(  grad  (graal,  grool) 

grosser 

greller 

am  grossesten 

grotleslen 

boss 

boss 

655  ärger 

arger 

schlimsten 

gelehrt 

gelahrt 

gelehrten 

am  gelehrtcslen 

glückseelig 

glockselig 

660  reich 

rick 

arm 

äerm 

schön 

schon 

hesslich 

aisch 

(66*)           ein 

ehn  {eyhn,  en,  ohn) 

(66*)    665  zwei 

lon-hh  {ifro,  Itvah) 

(66-'')            drev 

ti'rjdh  (triaii,  Iriah) 

(66*)            vier 

vcijöhr  {vianr,  viahr) 

(06*)           fünf 

fivc  i/i/fc) 

(66*)           sechs 

sechss  {seghs) 

(66*)    070  sieben 

tsingim'^)  (soggen) 

(66*)           acht 

acht  (ochle) 

(66*)           neun 

2)  isiät 

nigühn  {niuggeri) 

')  grade  hs.  wie  704. 

jün  hs. 

WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 


547 


(60=^) 

zeben 

/Jahn  {ihijahn,  thtjn) 

(60=^) 

eilf 

ünel/r  {citr,  ey//r) 

(66-^) 

G75 

zwölf 

twelUff'  {twülfe,  Iwalfe) 

nackt 

nückküde 

bekleidet 

bekladc 

barmheitzig 

selig 

680  elend 

verba: 

bauen 

bauen 

libren 

lernen 

(öü-^) 

lieben 

tjUjäfen  {Hafen) 

(50 '0 

685 

liegen 

Ij'Ujägen  (lidscn) 

lügen 

mentiri 

i^n 

selireibeu  geben 

schriven  {sckrifen  schreiben) 

(52-^) 

geben 

gcvvan^)  {ß/fen) 

schencken 

• 

690 

finden 

/'}  enden'-) 

(50'') 

geben 

gongen^)  (gungen) 

(50>) 

stehen 

stöhn  (staunen) 

(bi^) 

schlaffen 

slepen  (schlaipen) 

(51") 

wachen 

wecken  {wahken) 

695 

springen 

(52^0 

spielen 

spelin  (sj)ee/c)i) 

(50-^) 

tantzen 

dont:e)t,  lecken  (duiissen) 

gläntzen 

glanlzern 

brennen 

harnen 

700 

leschen 

losekeil,  utdehn 

verbrennen 

verbarnen 

(50'^) 

kommen 

komahn  {kuhmen) 

weggehen 

weggong  *) 

lullen 

follmickic 

705 

halten 

holt 

müde  machen 

mode  macken 

kehren 

kahren 

(51") 

schneiden 

schnicdcn  (schnieden,  schraden] 

(50") 

neben 

seien  {zijen) 

710 

crndten 

mä^rie 

dres^cben 

trescken 

reinigen 

schon  nuckle 

fahren 

infalls  auch  givvan. 

fähren 

1 

)  all( 

'^)  fundm  hs.        ^)  hongcn.        *)  weg- 

hong  1 

IS. 

548 

BREMER 

(51  '^)           schiffen 

schapien  (schaipen) 

715  backen 

hacken 

gebrauchen 

gibruck 

schmeicheln 

anfangen 

onfeiig 

enden 

le  mjc  brcng 

720  kauffen 

kopen 

bezahlen 

hetUn 

(51''.  52'')   binden 

{benden,  bihnen) 

(50^)            hören 

hären  (heeren) 

(50  \  55, 23)  sehen 

sijnhn  {schiadcn,  schian) 

725  schmecken 

messen 

minchsen 

(52')           warten 

lofen  {taifen) 

erlangen 

erlangen 

(52*)           graben 

gorwan  {dilfen^  schiölten) 

(52'')   730  nehmen 

nänulhn  {nüwien) 

(51'')           fliehen 

filjagmd  {ßiagen  fliegen) 

.               beugen 

bugen 

kehren,  fegen 

feg'in 

pflantzen 

planten 

(52 •■^)    735  reiben 

rifen  {rifen) 

(52  =^)           giessen 

jäten  {jaa(en) 

(5 1 '')           ziehen 

lucken  {lauckeyi) 

wollen 

welen 

nicht  wollen 

nil  welen 

(51-^)    740  treiben 

driwcn  {trifen) 

(52 '')           sagen 

teilen  {teilen  erzehlen) 

ruhen 

raucn 

(51'')           weiden 

gersinen^)  {eilen,  fennen) 

fordern 

foddern 

745  kennen 

können 

(5 1  •')           frieren 

freren  {freesen) 

schwitzen 

schwelen 

warm  seyn 

worin  bin 

gesund  werden 

sunn-)  werden 

750  nass  sein 

wcet  sin 

schwellen 

schwellen 

per 

son^c  vborü: 

(19)            ich 

ick  {ick) 

(49)             du 

du  {tu) 

(49)            er,  sie,  es 

hie,ju,  cl  {jummasQ.jJarJufGüi.) 

')  Statt  tu  küunte  auch  »I,  allenfalls  auch  ni  oder  ni  gelesen  werden. 
'^)  sonn  lis. 


WURSTENER  W  üRTER VERZEICHNIS. 


549 


(49) 

755 

wir 

wi  {wy) 

(49) 

ihr 

tjinn  {jem) 

(49) 

sie 

tja  (zy) 

paiticul 

je: 

(49) 

heut 

tUnge  {düling) 

(49) 

gestern 

jestern  {jistern) 

(89) 

760 

uun 

nu  {nuh) 

(49) 

morgen 

to  mären  {mehii) 

(49) 

zu  abend 

lo  even  (tal/end) 

langsahm 

lomjsahm 

geschwind 

drade  i) 

(55,  28) 

765 

wie 

wo  {wo) 

(96, 12) 

also 

also  {zo) 

gleichsahm 

glich 

vielleicht 

vieUcht 

(5;^,  1) 

und 

(iihn) 

(59,  46) 

770 

auch 

ock  {ock) 

so,  wan,  sie 

wenn 

quando,  wenn 

wenehr 

derowegen 

der  wegan 

siutemahl 

775 

demnach 

dendcr  efler 

(91) 

aber 

duer  (au/erst) 

ob  wohl 

ob  wohl 

dennoch 

dengct 

(91) 

nemblich 

niogncke  2)  {nonunehjck) 

(89) 

780  denu,  nam,  euim 

(wenthe) 

weil 

will 

ob 

man  wo 

obwohl 

obschou 

Vorstehndes  Wörterverzeichnis,  welches  von  Kosegarten 
in  Höfers  Zeitschrift  für  die  Wissenschaft  der  spräche  I,  1845, 
s,  95  fif.  und  von  Jellinghaus  im  Korrespondenzblatt  des  Vereins 
für  ndd.  Sprachforschung,  1886,  XI,  s.  34  fl".^)  besprochen  wurde, 


^)  grade  hs.  wie  64S.      -)  so  ganz  deutlich. 

^)  Mit  Minssen,  Fries.  Archiv  I,  s.  171  anm.  ist  anzunehmen,  dass 
das  Wörterverzeichnis  dasselbe  ist,  welches  (v.  Wicht),  Das  ostt'riesische 
landrecht  (Aurich  1746),  vorbericht  s.  40  f.,  anm.  genannt  ist.  Nachdem 
von  Cadovius-Miiller  die  rede  war,  heisst  es  dort,  dass  auch  im  lande 
Wursten  noch  friesisch  gesprochen  würde:  'wie  wir  dann  von  denen  da- 
selbst annoch  üblichen  friesischen  Wörtern  ein  kleines  geschriebenes  voca- 
bularium  durch  die  gute  des  seel.  herrn  bürgermeisters  ANDERSON  zu 


550  BREMER 

ist  für  die  Sprachforschung  in  zwiefacher  hinsieht  von  beson- 
derni  wert.  Zeitlich,  ist  es  neben  dem  ausführlichem  Menio- 
riale  lingu«  Frisic«  des  Cadovius-Müller  das  einzige  denkmal 
für  das  bis  auf  das  wangerogische  und  satersche  gänzlich  aus- 
gestorbne neuostfriesische.  Oertlich,  stellt  es  die  mundart  der 
östlichsten  Ostfriesen  dar,  der  Wursten,  an  der  rechten  Weser- 
miindung,  zwischen  Bremerhaven  und  Cuxhaven;  wir  besitzen 
also  in  unserm  Wörterverzeichnis  einen  zeugen  für  die  für  das 
altfriesische  wichtigste  mundart,  die  Riostringer;  denn  Wursten 
ist  wol  eine  riostringiscbe  colonie  des  12.  jhdts.  (v.  Richthofen, 
Untersuchungen  über  fries.  reehtsgeseh.  II,  s.  145).  Die  Wur- 
stener  mundart  des  17.  jhdts.  ist  als  ein  unmittelbarer  nach- 
komme des  Riostringer  altfriesisch  zu  betrachten.  Etwas  ab- 
weichend dagegen,  wenn  auch  sehr  nahe  verwant,  ist  das 
wangerogische  und  die  Harlinger  mundart  des  Cadovius- 
Müller.i) 

Unser  Wörterverzeichnis  ist  auf  die  bitte  des  Dietrich  von 
Stade  von  dem  pastor  in  Wremen,  Westing,  16S8  angefertigt 
worden.     Die  nach  vollendunü;  des   ranzen   werks  geschriebne 


Hamburg  erhalten  haben'.  Dass  Anderson,  welcher  seit  1T23  bürger- 
uieister  von  Hamburg  war,  nur  der  übersender,  nicht  der  Verfasser  war, 
ist  schon  deshalb  glaublich,  weil  auf  der  Hamburger  Stadtbibliothek,  wie 
mir  auf  meine  anfrage  freundlichst  mitgeteilt  wurde,  über  ein  friesisches 
Wörterverzeichnis  Andersons  nichts  ermittelt  werden  konnte. 

1)  Cad.-M.,  s.  24f.:  'So  hat  man  einen  andern  dialectum  der  Oist- 
frisischen  spräche  in  Jever,  Wranger-,  Oestringer-,  Rüstringer-,  Westringer- 
land alsü  hier  in  Harringerland  oder  auf  Spihker-,  Langoeg  und  Bal- 
thruiii'.  —  Das  Wurstener  friesisch  starb  gegen  ausgang  der  ersten 
hiilfte  des  IS.  jhdts.  aus.  1T4(I  lebten  in  Weddewarden  noch  einige 
leute,  welche  friesisch  verstanden;  s.  Adelung- Vater,  Mithridates  II,  Berlin 
1809,  s.  24tt.  Zu  Westings  zeit  müssen  also  die  kinder  schon  angefangen 
haben  plattdeutsch  zu  sprechen.  Nur  eines  halben  Jahrhunderts  hat  es 
bedurft,  dass  das  friesisch  sprechende  land  die  plattdeutsche  spräche 
annahm.  Dass  zu  Westings  zeit  friesische  landessprache  noch  voll  und 
ganz  galt,  lehrt  die  folgende  bemerkung  Dietrichs  von  Stade,  welche  bei 
a  Seelen,  Memoria  Stadeniana,  Hamburgi  MDCCXXV,  s.  367  abgedruckt 
ist:  'Dass  die  Friesische  spräche  im  lande  Wursten  bey  den  Friesen 
noch  im  gebrauch,  solches  habe  aus  der  erfahrung,  und  hat  mir  bey 
der  Visitation  ein  Friese  selbst  gesagt,  dass  er  in  seinem  hause  mit 
frau  und  kindern  immer  Friesisch  rede.  So  berichten  auch  pastores  zu 
Imsum,  besage  protocolli  visitationis  de  a.  IGHG.  d.  24.  jul.,  dass  bey 
den  Friesen  bey  einer  leiche  eine  Friesische  abdanckung  geschehe'. 


WÜRSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS.         551 

vorrede  zu  Cadovius-Müllers  Memoriale  ist  d.  1.  jan.  1691  unter- 
zeichnet. Die  beiden  Wörterverzeichnisse  sind  also  fast  gleich- 
zeitig entstanden,  und  da  auch  die  räumliche  entfernung  lieine 
grosse  ist,  dürfte  mau  wol  a  priori  einen  Zusammenhang 
zwischen  beiden  vermuten.  Tatsächlich  muss  ein  solcher 
wenigstens  mittelbar  bestanden  haben.  Denn  beiden  Wörter- 
verzeichnissen liegt  für  die  hauptwörter  der  gleiche  deutsche 
text  zu  gründe.  In  dem  stücli  von  1  bis  508  ist  Cad.-M.  viel 
ausführlicher,  wenn  hier  auch  einige  wenige  Wörter  Westings 
bei  Cad.-M.  fehlen;  hingegen  von  509 — 637,  in  der  auf- 
zählung  von  abstracten  und  gewerken,  ist  Westing  weit  aus- 
führlicher. Bis  637  erstreckt  sich  überhaupt  nur  die  Überein- 
stimmung. Von  hier  ab  gehn  Westing  und  Cad.-M.  gänz- 
lich auseinander.  Bei  Cad.-M.  folgen  pronomina  und  ad- 
verbia,  verba,  Sprichwörter,  müntze,  maas  und  gewichte,  von 
den  fris.  heusern,  zahlen,  das  einmahlein,  lied  von  Buhske 
di  Remmer,  eigennahmen  u.  s.  w.  Bei  Westing  folgen  einige 
eigenschaftswörter  (637  —  663,  676—680),  Zahlwörter  (664 
— 675),  verba  (681—751),  pronomina  (752 — 757),  partikeln 
(758 — 784);  es  sind  nur  einzelne  abgerissne  Wörter,  ohne  den 
systematischen  Zusammenhang  wie  vorher  und  wie  bei  Cad.-M. 
überall.  Es  ist  also  zweifellos,  dass  für  die  hauptwörter  ent- 
weder beiden  ein  gleicher  deutscher  vocabularius  rerum  oder 
dass  Westings  text  Cad.-M.  vorlag.  Bemerkenswert  ist  auch, 
dass  einige  Wörter  sich  in  beiden  Überliefrungen  am  gleichen 
ort  widerholen,  z.  b.  89  f.  und  431  f,  130  f.  und  277  f.  Wie  das 
deutsche  original  aussah,  ist  nicht  auszumachen.  Westing  hat 
eine  reihe  deutscher  Wörter,  welche  grösstenteils  auch  bei 
Cad.-M.,  hier  aber  mit  Übersetzung  stehen,  unübersetzt  gelassen, 
und  man  darf  annehmen,  da  er  das  Verzeichnis  so  an  Dietrich 
von  Stade  gesant  hat,  dass  er  diese  Wörter  auch  nicht  hat 
übersetzen  können.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  Dietrich  von 
Stade  das  uns  vorliegende  verzeichuis  von  hauptwörtern  an 
Westing  geschickt  hat,  mit  der  bitte  um  Übersetzung,  und  dass 
die  von  638  ab  folgenden  Wörter  von  Westing  selbständig  hin- 
zugefügt worden  sind,  wiewol  auch  hier  einige  Übersetzungen 
fehlen.  Cad.-M.  mag  das  Verzeichnis  der  hauptwörter  gekannt 
und  selbständig  erweitert  haben.  Dass  er  Westings  arbeit 
nicht   gekannt   oder  sich  von  ihr  wenigstens  gar  nicht  hat  bc- 


552  BREMER 

einflussen  lassen,  beweist  die  verscbiedne  Übersetzung  einiger 
Wörter  wie:  40  reitf :  rij)])  W.,  req?  C.-M.');  51  pfiitze  :  putte  W., 
morast  C.-M.;  60  sode  :  sade  W.,  ayde,  iurff  C.-M.;  63  unflath 
:  miuchss  W,  suhndels  C.-M.;  67  wiese  :  7visch  W.,  mehtlaun 
C.-M.;  87  stein  :  steen  W.,  fl'mte  C.-M.;  157  vieh  :  heest  W., 
goot  C.-M.;  198  alter  man  :  ahli  mönn  W.,  ohlden  ziehl  C.-M. 
Möglieb  ist  aucb,  dass  die  anregung  zu  der  arbeit  des  C.-M. 
ebenfalls  von  Dietrich  von  Stade  ausgegangen  ist.  Fraglicb 
bleibt  nur,  wie  das  plus  von  509 — 637  bei  Westing  zu  er- 
klären ist.  Zweifellos  hätte  C.-M.,  wenn  ihm  das  gleiche  Ver- 
zeichnis vorlag,  mehr  Wörter  gegeben,  als  es  der  fall  ist.  Doch 
das  Verhältnis  der  beiden  deutschen  texte  zu  einander  ist  ja 
unwesentlich.  Wichtig  ist  für  uns  nur,  dass  wir  auf  diese  weise 
eine  sehr  grosse  zahl  von  ostfries.  Wörtern  aus  gleicher  zeit 
in  zwei  mundartlich  nur  wenig  verschiednen  tiberliefrungen 
haben,  welche  sich  gegenseitig  controlieren.  Bemerkenswert 
ist  übrigens,  dass  das  wort  hammel,  172  bei  W.,  in  der 
Auricher  Originalhandschrift  des  C.-M.  fehlt,  jedoch  in  der  neu- 
bearbeitung  der  Jeverschen  Originalhandschrift  (Kükelhan  in 
Zwitzers'  Ostfries,  monatsblatt  III,  Emden  1875,  s.  289—299) 
hinzugefügt  ist. 

Die  rechtschreibung  Westings  ist,  wie  die  des  Cad.-M., 
leider  die  im  17.  jhdt.  in  Deutschland  gebräuchliche.  Dabei 
geschieht  die  widergabe  der  fries.  laute  in  sehr  wenig  folge- 
rechter weise,  indem  derselbe  laut  einmal  so,  das  andre  mal 
anders  geschrieben  wird,  z.  b.  das  lange  i  bald  i,  bald  ie,  bald 
ihy  bald  yh.  Ich  bemerke,  dass  oa  und  aa  den  langen  oifnen 
ö-laut  bezeichnen  im  gegensatz  zum  geschlossnen  oh,  oo.  Das 
reine  ü  wird  in  der  regcl  durch  äh  bezeichnet  (auch  «A,  «). 
Auslautendes  e  nach  d  bezeichnet,  wie  bei  Cad.-M.,  vielfach 
nur  den  stimmton  des  d,  z.  b.  13  zeit :  tidde  W.,  tydeC.-'^.]  206 
blut  :  hlöde  W.;  273  brodt  :  Irr  ade  W.,  brodde,  hraude  C.-M.; 
340  rath  :  rehde  W.,  rayde  C.-M.  Dagegen  ist  ein  d  im  aus- 
laut  zwar  teilweise  als  d  zu  lesen,  z.  b.  265  tod  :  dad  W., 
doiide  C.-M.,    vielfach   aber   als    /,    z.  b.   19  monat  :  mond  W., 


*)  C.-M.  übersetzt  luissvcrstiindlich  mit  rei})  reif  =  reifen,  nicht  = 
gefrorner  tau;  letztre  bedeutnng  erfordert  der  Zusammenhang  not- 
wendigerweise. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS.  553 

mohnnt  C.-M.;  74  graben  :  ßljäd  (d.  i.  fl'jäi)  W.  dt  bezeichnet 
bald  d,  z.  b.  102  kraut  :  krudt  W.,  kruhde  C.-M.,  bald  /,  z.  b. 
246  fuss  :  fodt  W.,  faiit  C.-M.  z  bezeichnet,  wie  bei  C.-M.,  mit 
Sicherheit  nur  den  scharfen  5-laut;  ob  auch  is,  ist  zweifelhaft. 
Ueber  Westings  Verwendung  der  zeichen  ''-""••'"  vermag  ich 
zu  keiner  klarheit  zu  gelangen.  Nur  so  viel  kann  man  sagen, 
dass  das  seltnere  '  dem  '  gleichbedeutend  gebraucht  wird.  Dass 
üh  als  reines  ä  zu  lesen  ist,  war  bereits  bemerkt,  ä  bedeutet 
teils  ce,  z.  b.  32  asche  :  äscke  W.,  esk  C.-M.;  65  acker  :  acker 
W.,  ecker  C.-M.,  teils  ä,  z.  b.  74  graben  :  filjäd  W.,  teils  offnes 
ö,  z.  b.  132  lauge  :  läge  W.,  looge  C.-M.  Das  zeichen  "  kommt 
meist  kurzen  vocalen  zu,  '  langen  wie  kurzen.  Sprachliche 
schlussfolgrungen  aus  der  Schreibweise  eines  einzelnen  Wortes 
wird  man  vorsichtigerweise  nur  dann  wagen,  wenn  man  für 
dieselben  noch  eine  andre  stütze  beibringen  kann. 

Die  wichtigsten  Sprachmerkmale  der  Wurstener  mundart 
Westings  gegenüber  dem  andern  ostfries.  sind  die  folgenden: 

1.  Der  2-umlaut  des  germ.  u  ist  bei  W.  e.  70  brücke  : 
hregge,  111  rücke  :  regg.  C.-M.  schreibt  hregge^  aber  rlgg. 
Wang.  ist  hryg,  rig,  aber  saterscb  hrege^  reg.  Vgl.  Ndd.  jahrb. 
XIII,  9,  5. 

2.  Germ,  ay  erscheint  bei  W.  wie  bei  C.-M.  und  im  wang. 
als  %  in  dem  worte  21,  323  tag  :  die  W.,  dy  {y  ^  t),  di  C.-M., 
dl  wang.;  vgl.  sat.  dej.  Afries.  dei,  nur  riostr.  dl.  Aber  578 
Hegel  :  ßeiel  W.,  flayel  C.-M.;  579  wagen  :  rväjeyi  W.,  wayn 
C.-M.,  tvcein  wang.,   tvaien  sat.  =  afries.  wein,  wain. 

3.  Der  behandlung  des  Wortes  'tag'  ist  die  von  'nähen' 
zu  vergleichen.  709  neben  :  seien  W.,  zyen  (d.  i.  sien  oder  shi) 
C.-M.,  sm  wang.,  seen  sat. 

4.  Die  dem  wang.  und  C.-M.  mit  dem  nordfries.  und  der 
spräche  von  Süd,  Helgoland  und  Amrum-Föhr  gemeinsame 
w-fiirbung  des  i  nach  w  in  dem  worte  'weib'  fehlt  W.  wie  dem 
sat.  195.  384.  389.  391  weib  :  wiff  W.,  ,vm  sat,  nmff  C.-M., 
wyf  wang. 

5.  i  und  ü  werden  bei  W.  in  geschlossner  silbe  verkürzt, 
wie  sonst  nur  im  nordfries.  und  in  der  spräche  von  Sild,  Helgo- 
land und  Amrum-Föhr.  Vgl.  Ndd.  jahrb.  XIII,  9,  7.  13  zeit  : 
tidde  W.,  tyde  {y  =  i)  C.-M.,  lul  wang.,  sat.;  37.  287  wind  : 
wine  W.,    tvihnde  C.-M.,  rvm  wang.,  rvmd  sat.;    40  reiff :  ripp  W.; 


554  BREMER 

42  eiss  :  iss  W.,  yhs  C.-M.,  is  wang.;  34. 43  regen  :  rin  W.,  rieii,  rieh?! 
C.-M.,  rtn  wang.;  17G  seh  wein  :  schw'm  W.,  schrvyhn  C.-M.,  stiin 
wang.,  sat.;  187  imme  :  Imm  W.,  ihme  C.-M.,  itn  wang.;  195 
weib  :  wi/f  W.,  nnu  sat;  200  leib  : /«/T"  W.,  lief  C.-M.,  lif  svang., 
Im  sat;  230  seite:  sidd'e  W.,  side  C.-M.;  sZc?  wang.,  side  sat. 
—  68  garte  :  tun7ie  W.,  //mm  C-M.,  tun  wang.,  sat.;  162  mauss  : 
?nus  W.,  fnuhs  C.-M.,  7?itis  wang.;  178  hund  ;  hun7i  W.,  huhn 
C.-M.,  Äf«i  wang.,  ?iünd  sat.;  182  raupe  :  rupp  W.,  r?<Ä^(?  C.-M., 
rüp  wang.;  192  lauss  :  luss  W.,  lues  {ue  =  ü)  C.-M.;  219  mund  : 
7fiutt  W.;  238  bauch  :  bück  W.,  buk  sat;  251.  749  gesund  : 
SH7171  W.,  siihnd  C.-M.,  i^«  wang.,  5Ä?i<?  sat.;  360.  394.  405.  406. 
418  hauss  :  huss  W.,  hues  C.-M.,  Mis  wang.,  hüz  sat  —  Aber 
in  offner  silbe  bleibt  ^  und  ü  auch  bei  Westing,  z.  b.  21  tag 
die,    25   himmel  hiemmel,    16  sommer  sufmi?-,    169  kuh  ä-2<ä. 

6.  Die  bei  C.-M.  und  im  wang.  eingetretne  diphthongie- 
rung  von  e  und  6  ist  der  Wurstener  wie  der  saterscben  mundart 
unbekannt.  Man  vergleiche  30  rauch  :  s77ieeck  W.,  schmayck 
C.-M.,  .?w«?/Ä- wang.;  87.  88  stein  :  steen,  steh7i  W.,  stm  sat,  stain 
C.-M.,  .srtem  wang.;  204.  205  bein  :  beh7i  W.,  hen  sat,  iem  C.-M., 
h(ßi7i  wang.;  283  seh  weiss  :  schrveet  W.,  siiel  sat.,  schwell  C.-M., 
.vwöp// wang.;  306  schlaff:  sieep  W.,  .s/^  sat.,  schlalp  C.-M.,  .y/fe/ju 
wang.;  340  rath  :  7'ehdeW.,  red  ssii.,  7'ayde  C.-M.,  r<e/rfwang.; 
354  spiess  :  speet  W.,  spail  C.-M.  (plattdeutsches  lehuwort); 
359  scheide  :  schede  W.,  schayde  C.-M.,  .?a;öe/(3  wang.;  386.  496 
braut :  brchde,  bredl  W.,  bred sat.,  brayde,  brayd  C.-M.,  ir«?/«?  wang.: 
693  schlaffen  :  depe7i  W.,  slej>e7i  sat,  schluipe7i  C.-M.,  sUeipen 
wang.;  762  abend  :  eye«  W.,  aifend  C.-M.,  ^^?i;e?«  wang.  —  27 
sonne  :  söjije  W.,  ^ömäw  C.-M.;  62  sand  :  söhn  W.,  sörid  sat,  5öwä?i 
C.-M.,  ÄöWM  wang.;  64  land  :  Joh7i  W.,  Iauh7i  C.-M.,  /öw«  wang.; 
173  lamm  :  löh77i  W.,  laimi  C.-M.,  /«?<;;?  wang.;  233  haud  :  hölm 
W.,  hau7ide  C.-M.,  hau7i  wang.;  246  fuss  :  fodl  W.,  föt  sat, 
faul  C.-M.,  A5^  wang.;  374.  376.  378.  379  bruder  :  b7^ohr  W.,  hror 
sat,  Inmiver  C.-M.,  />ror  wang.;  552  schul  :  school  W.,  schaul 
C.-M.,  ;y.ro/  wang.;  559  buch  :  boock  W.,  ioA-  sat,,  Z^«?<<"/f  C.-M., 
bauk  wang.;  574  plug  :  p/o(/  W.,  ploy  sat.,  plaug  C.-M.,  ;;/a^/a- 
wang.;  692  stehen  :  stoJm  W.,  std7ide  sat.,  staunen  C.-M.,  .?/«//- 
wen  w^ang. 

7.  Afries.  ä  (>  wang.,  sat  geschlossnes  6)  ist  bei  W. 
wie   bei  C.-M.  noch  ein  offnes  d  gewesen;    daher  die  zwischen 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS.  555 

a  und  o  schwankende  Schreibung.  Man  vergleiche  52  brun  : 
saadt  W.,  soohde  C.-M. ;  60  sode  :  sade  W.;  94  bäum  :  bähm 
W.,  haani  C.-M.;  124  bohne  :  hähne  W.,  höhne  C.-M.;  132  lauge  : 
läge  W.,  looge  C.-M,;  209  ohr  :  «Ar  W.  {ehr,  die  «-umgelautete 
form,  C.-M.);  212.  213  äuge  :  odye  W.,  oog  C.-M.;  253  taub  : 
daaf  W.,  dauf  C.-M.;  265.  326.  327.  527  tod  :  dad  W.,  doude 
C.-M.;  273  brodt  :  hrrade  W.,  brodde,  brande  C.-M.;  352  büchs  : 
rolir  W.,  röhr  C.-M.;  363.  364.  651  gross  :  gröot,  groot,  grad 
W.,  graat,  grolt,  groot  C.-M.;  408  wand  :  7vag  W.,  waage  C.-M.; 
474  kleid  :  kläed  W.,  klaade  C.-M.;  531  lohn  -.loahyi  W.,  /aa/m 
C.-M.;  583  zäum  :  töhm  W.,  loohm  C.-M.;  640  roht  :  rade 
W.;  646  hoch  :  hoch  W.;  654  boss  :  hoss  W.,  Z^ay^  C.-M.;  662 
schön  :  schon  C.-M. 

Es  ist  zu  beachten,  dass  dasjenige  afrs.  ä,  welches  secun- 
där  in  den  Verbindungen  m  und  im  entstanden  ist,  bei  W.  wie 
C.-M.  stets  a  oder  ah  geschrieben  wird,  ohne  dass  eine  Schrei- 
bung mit  0  daneben  vorkäme.  Man  vergleiche  74  graben  : 
filjäd  (d.  i.  pt'jm)  W.;  126.  597  \)\q^\ -.hefahr,  hijahrV^.,  Mahr 
C.-M.;  133  thier  :  tjahrd;  168  stier  :  stjähr  W.,  stiar  C.-M.; 
185  fliege  :  ßäg  W.,  ßiage  C.-M.;  215  backe  :  fsjYick'W.]  290 
gesiebt  :  tschah  W.,  sciah  C.-M.;  318  liebe  :  liafd  W.,  liafde 
C.-M.;  351  schiessen  :  schäjäth  W.;  392.  393.  507  dienst  :  ijanst 
W.,  ihyanst,  lyahnst  C.-M.;  494  schueriem  :  rijalim  W.,  schnar- 
riehm  C.-M.;  634  dieb  :  tia/fW.;  647  tieff :  tiap  W.;  666  drey  : 
terjäh  W.,  iriah  C.-M.;  673  zehen  :  tjahn  W.,  thyahn  C.-M.; 
684  lieben  :  Ijiljäfen  (d.  i.  l'jäfen)  W.,  //«/ew  C.-M.;  724  sehen  : 
sijähn  W.,  schiaden,  schian  C.-M.;  731  fliehen  :  filjagend  W., 
fliagen  C.-M.;  736  giessen  :  ja/m  W.,  jaaten  C-M.;  757  sie  :  tja 
W.  Für  afries.  z<ä  ist  das  einzige  beisjiiel  488.  494.  604  schue  : 
schifnHt.hr  (d.  i.  sxiiür  oder  mar  mit  stimmlosem  ii)  W.,  schuar 
C.-M.  Dazu  käme  bei  C.-M.  s.  51''  noch  dualmen  tun.  Aus  dieser 
Schreibweise  ist  zu  schliessen,  dass  in  diesem  falle  noch  im 
17.  jhdt.  ein  reines  ä  gesprochen  wurde.  Erst  im  18.  jhdt.  ist 
dieser  laut  zu  einem  offenen  ö  geworden,  um  dann  im  wang. 
und  sat.  die  entwickelung  zum  geschlossenen  o  mitzumachen. 
Für  das  altostfriesische,  so  muss  man  folgern,  ist  also  eine 
zwiefache  ausspräche  des  Ti  anzunehmen.  Entweder  sprach 
man  das  U  in  den  Verbindungen  m  und  nli  als  ät  und  das  ö 
aus  germ.  a//  als  reines  «,    oder  man  sprach  crstres  als  reines 

Beiträge  zur  geschichte  der  deutschen  spräche.    XIII.  37 


55C  BREMER 

a,  letzties  als  w.  AltwestiViesiscb  sprach  man,  wie  das 
neuwestfrics.  beweist,  in  ersteini  falle  u,  in  letzterm  ein 
reines  U. 

8.  Die  vocale  der  unbetonten  endsilben  sind  bei  W.  noch 
voll  erbalten,  während  C.-M.  nur  e  kennt.  Zum  teil  nimmt 
W.  in  dieser  beziebung  einen  altern  Standpunkt  ein  als  unsere 
afries.  Überlieferung.  Beisi)iele  für  a:  24  weldt  :  wei-dfil  W., 
/rerre/t  C.-M.;  122  babcrn  :  /Je/fahr  W.,  he/J'er  C.-M.;  2G4  leben  : 
li/fan  W.,  lie/'oi  C.-M.;  305  Vergessenheit :  venjitlhän  W.,  ver- 
jetenhcide  C.-M. -^  441  zuher  :  tofdhr  W.;  ^AQ  gewissen  :  wtttänd 
W. ;  088  geben  :  gevvlm  W.,  Ji/fen  C.-M.;  702  kommen  :  komahn 
W.,  kulwieu  C.-M.;  729  graben  :  r/orwan  W.;  730  nehmen  :  7i«/««/m 
W.,  nihnien  C.-M. 

Beispiele  für  r.  36  donner  :  ionyhr  W.,  thunder  C.-M.;  45. 
48.  54  wasser  :  n-itihr,  witlir,  n-itfikr  W.,  weiter  C.-M.;  308 
wacht  :  ivickihn  W.,  waaken  C.-M.;  333  könig  :  kenihn  W.,  kön- 
ninck  C.-M.;  429  becher  :  hcttschier  W.,  hihker  C.-M.;  451  kessel : 
tsch'illlhl  W.,  tscMliel  C.-M.;  69C  spielen  :  spelin  W.,  speelen 
C.-M.;  714  schiffen  :  schapien  "W.,  scha'tpen  C.-M.;  733  fegen: 
fegin  W. 

Beispiele  für  u:  47  Weser  :  Wissuhr  W.;  130.  280  milch  : 
meUejuck,  mefejück  W.,  7nelck  C.-M.;  131.  281  hwiiex  :  huttuhr 
W.,  huhter  C.-M.;  395  wohnung  :  w'ennuhn  W.;  584.  605  sattel : 
suddö/d,  sudduhl  W.,  zaadel  C.-M.;  670  sieben  :  tsmßin  W., 
sofjgen  C.-M.;   672  neun  :  nigühn  W.,  n'mggen  C.-M. 

9.  Vor  liquida  und  nasal  scheinen  die  vocale  der  end- 
silben gedehnt  worden  zu  sein;  wenigstens  überwiegt  hier  die 
Schreibung  mit  h.  Man  vgl.  die  zuletzt  angeführten  beispiele 
und  mit  eh:  166  esel  :  esehl  W.,  eesel  C.-M.;  239  nabel  :  niggehl 
W.,  naffel  C.-M.;  423  schemel  :  schimmehl  W.;  sckamel  C.-M. 
Auch  im  auslaut  tritt  ausser  bei  e  dehnung  ein;  vgl.  die  fol- 
genden beispiele. 

10.  Eine  hervorragende  altertümlichkeit  hat  W.  auch 
darin  vor  C.-M.  voraus,  dass  er  afries.  auslautendes  a,  als  ah 
(seltner  d)  bewahrt  hat,  ebenso  afries.  -i  als  ie,  afrs.  -u  als  -uh. 
Für  die  endung   des  Infinitivs  hat  auch  C.-M.  noch  -«'):    339 

')  Vgl.  unter  16. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS.  557 

(zusainmen)kunfft  :  kömmah  W.,  kuhma  C.-M.  s.  50^;  vgl.  dazu 
in  betonter  silbe  290  gesiebt  :  fschah  W.,  sciah  C.-M.  Aber 
bei  den  n-stämmeu  kennt  C.-M.  nur  -e  oder  völligen  Schwund: 
31  kohle  :  kaläh  W.,  koll  C.-M.  (-«-stamm?);  34  bogen  :  bo(/äh 
W.,  baa//  C.-M.;  53  tropff :  druppah  W.;  160  hase  :  Mssah  W., 
hnase  C.-M.;  344  friede  :  f?raddh  W.,  fridde  C.-M.;  500  schade  : 
schädda  W.,  schade  C.-M.;  505.  556  name  :  namn,  ncmmäh  W., 
nomm  C.-M.;  581  schütten  :  schnddäh  W.,  schlidde  C.-M.;  ferner 
haben  -äh:  125  meel  :  nüla  W.,  inill  C.-M.;  348  fahne  :  ßnndh 
W.;  358  hefft  :  schi'mnah  W.;  410  thür  :  derräh  W.,  darr  C.-M.; 
416  dach  dückkdh  W.,  theck  C.-M.;  430  schale  :  scMUijah  W.; 
501  reichthum  ;  ricke  juggäh  W.;    539  betrug  :  heder  jäh  W. 

Auslautendes  afrs.  i  ist  als  ie  erhalten,  wie  wang.  als  %. 
214  nase  :  nesie  W.,  imsze  C.-M.,  nazi.  w^ang.,  nöze  sat.;  497 
erbschaflft  :  arfschöppie  W.;  571  bände  :  hcnnie  W.;  704.  712 
machen  :  mickie  W.,  maki  wang.,  makje  sat.;  710  erndten  : 
mar'te  W.,  arl  wang.,  adnje  sat. 

Wie  im  wang.  ist  auslaut.  afries.  -u  bei  W.  als  länge  er- 
halten, während  es  bei  C.-M.  wie  im  sat.  geschwunden  ist: 
370.  371.  389  söhn  :  snuh  W.,  sünü  wang.,  zuhn  C.-M.,  sün  sat. 

11.  Hinsichtlich  der  assibilierung  der  palatale  stehn  W. 
und  C.-M.  auf  gleicher  stufe:  Inlautendes  ki  >  mouill.  t'xi, 
anltd.  /fi  >  tsi  >  si,  anltd.  kj  >  mouill.  t's  >  mouill.  /,  inltd. 
99J  >  dz.  Für  inlautendes  ki  ist  das  einzige  beispiel  429 
becher  :  heltsch'ier  W.,  hihker  C.-M.,  hiker  wang:  Die  beispiele 
für  9en  anlaut  sind:  179  katze  (altwestfrs.  kalte)  :  külf  W., 
ziet  C.-M.,  kat  wang.;  198  mann  (altwestfrs.  fzerl)  :  zieh/  C.-M., 
sei  wang.,  kerel  sat.  (plattdeutsches  lehnwort);  282  käse  (alt- 
westfrs. (zijse)  :  zise  W.,  tzise  C.-M.,  siz  wang.,  sat.;  398  keller 
(altostfrs.  szelner)  :  sillern  C.-M.;  abweichend  451  kessel  (alt- 
ostfrs.  slhitel,  tsieiel,  tsetel.,  szetet)  :  tsch'Uilhl  W.  (vgl.  isch  = 
/  in  290  tschah  gesiebt),  tschittel  C.-M.,  s'itl  wang.,  seil  sat.  — 
Mouill.  /  <  kj  zeigen:  77  kirche  (altostfrs.  kerke,  sthereke, 
szereke,  tsiurike,  tsyurike,  tsiureke^  tsyureke,  tsziureke,  skiurke^ 
stiurke,  tsiurke,  tziurke,  sziurke^  ziurke,  tsurke,  tszurke,  szurke, 
d.  i.  gesprochen  t'snrike,  >  -eke,  >  -ke)  :  schirack  ^)  W.,  zierck 


')  sclii  ist  in  diesem  worte  dem  nick  erst  später  hinzugefügt  wor- 

:j7* 


558  BREMER 

C.-M.,  sink  wang.,  serke  sat.;  215  backe  (altostfrs.  keke,  sthißke, 
tziüke,  ziäke,  d.  i.  gesprochen  i's'ake)  :  isjäck'  {(sj  =  mouill. 
/  wie  iu  G70  Isiuyim  sieben)  W.,  sat.  sbke\  480  peltz  (altostfrs. 
tziusi)  :  stjust  W.,  siust  C.-M.,  susl  wang.  —  rfz  <  ggj:  459 
wiege  (altostfrs.  wigghe,  widzie,  widse)  :  ivedsc,  W.,  7vidse  C.-M., 
wklz  wang.,  tvedze  sat.;  ()85  liegen  (altostfrs.  lidzia,  lidszia, 
lidsa,  Udza,  lidsza,  ledza)  :  tjiljägen  W.,  Udseri  C.-M.,  lidz  wang. 
leze  sat.  Vgl.  Siebs,  Die  assibilirung  des  k  und  g,  Tübingen 
1886,  s.  37  f. 

12.  Das  im  wang.  noch  mitte  dieses  jhdts.  ausser  in  un- 
betonter silbe  erhaltne  germ.  0-  (Ehrentraut,  Fries,  archiv  I, 
s.  6  und  16)  ist  bei  W.  wie  bei  C.-M.  und  im  sat.  in  be- 
tonter silbe  zu  t  geworden,  in  unbetonter  zu  d.  36  donner  : 
tomjhr  W.,  thunder  C.-M.;  72  dorff :  tärpe  W.;  219  mund  :  muH 
W.;  237  daum  :  taüme'  W.,  thum  C.-M.;  264  das  :  üt  W.; 
292  finsternis  :  Ijusterniss  W.;  392.  393.  507  dienst  :  Ijanst 
W.,  thyanst,  iyahnst  C.-M.;  424  tischtuch  :  twäal  W.;  453.  665 
drey  :  trie ,  terjäh  W.,  triau,  trlah  C.-M.;  634  dieb  :  tiaff  W. 
Vgl.  wang.  O^üner,  dorp,  &ü?n,  &Jönst,  d-rm,  sat.  terp,  tüme, 
tjonst,  (r'iö.  Wenn  C.-M.  öfter  th  für  l  schreibt,  so  ist  doch 
überall  t,  und  nicht  d-  zu  lesen,  da  unsrer  nhd.  rechtschreibung 
gemäss,  th  auch  für  altes  t  geschrieben  wird,  z.  b.  68  garte 
thuen,  284  thränen  thranen.  —  Unbetont  d,  z.  b.  344  friede  : 
feradäh  W.,  frUlde  C.-M,;   359  scheide  :  schede  W.,  schayde  C.-M. 

13.  Die  Verbindungen  rn,  rl,  rd,  rt,  rs  sind  bei  W.  er- 
halten. Bei  C.-M.,  im  wang.  und  sat.  schwindet  r  in  diesem 
fall  ausser  nach  kurzem  vocal  vor  t  und  s.  Nur  rn  ist  im 
sat.  erhalten,  und  zwar  als  solches  nur  in  Ramslohe,  während 
es  sonst  zu  dn  geworden  ist.  Die  beispiele  sind  die  folgenden: 
a)  für  rn\  26  stern  :  stiem  W.,  stiarn  C.-M.,  stir  wang.,  stinie 
sat.;  58  winckell  :  heeren  W.,  heene  C.-M.,  hen  wang.;  73  thurn  : 
t hören  W.,  ^ßw  wang.;  121.  400  garsten,  körn  :  Ä-orn  W.,  kohrn 
C.-M.,  kön  wang.,  ködn  sat.;  196.  369.  375  kind  :  bahre7i  W., 
been,  hein  C.-M.,  hen  wang.,  hcdn  sat.;  211  stirn  :  siierrnW.; 
270.  761  morgen  :  maren,  tnären  W.,  meJm  C.-M.,  meti  wang., 
medn  sat.;    320  zorn  :  t hören  W.;    397  stubc  :  dornske  W.,  dorns 


den,  mit  lateinischen  buchstahcn,    indem  W.  oflenbar  unsicher  war,    wie 
er  den  laut  bezeichnen  sollte. 


WURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS.  559 

C.-M.;  701  brennen  :  harnen  W.,  han  wang.,  hadnjen  sat.  — 
b)  r/:  198  mau  :  ziehl  C.-M.,  sä  wang.,  kerel  sat.  (platt- 
deutsches lebüwort).  —  c)  rd:  55  erde  :  eJwde  W.,  eerde  C.-M., 
ird  wang.;  217  bart  :  hdrde  W.,  bähde  C.-M.,  /;ef7  waug.,  bort 
sat.  (plattdeutsches  lehnwort);  226  zitze  :  ivard  W.;  355  schwerd  : 
scliwärd  W.,  stved  wang.  und  sat.;  402  herd  :  heerd  C.-M.,  hirt 
wang.;  492  gürtel  :  gorrel  W.,  gerdel  C.-M.,  yedl  wang.,  gcdl 
sat.;  557  wort  :  ivord'e  W.,  ivoode  C.-M.,  wod  wang.  und  sat.; 
586  biert  :  hier  de  W.;  749  werden  :  rverden  W.,  tvei-n  wang., 
wedn  sat.  —  d)  rt:  95  wurtzel  :  wörtelV^\,  wiitel  C.-M.,  weil 
wang.;  231  hertz  :  hart  W. ,  hart  C.-M.,  hart  wang.  und  sat.; 
314  schmertz  :  schmart  W.,  schmert  C.-M.;  335  fürst  :  first^ 
ferst  C.-M.;  356  kurz  :  korf  W.,  kort  wang.,  küt  sat.;  596 
wirtb  :  wlrth  W.,  werth  C.-M.  (plattdeutsche  lehn  Wörter);  643 
schwartz  :  schwärt  W.,  swart  wang.,  swot,  swot  sat.  —  e,)  rs: 
17  herbst  :  hervcsl  W.,  heest  C.-M.;  240.  241  hinder  :  acrss, 
aerss  W.,  neers  C.-M.;  278  wurst  :  orst  W.,  tvuust  C.-M.;  603 
kürssner  :  korsner  W. 

14.  Id  scheint  trotz  einiger  abweichender  Schreibungen 
bei  W.  zu  /  geworden  zu  sein  wie  bei  C.-M.  Sat.  bleibt  id, 
ist  aber  wang.  zu  /  geworden.  24  weldt  :  tvernhl  W.,  werrelt 
C.-M.,  warlt  wang.;  80  gold  :  göhl  W.,  goel  C.-M.;  yol  wang.^ 
gold  sat.;  198.  199.  636  alt  :  aht,  ähl,  old  W.,  ohld  C.-M.,  dt, 
dld  sat.;  228.  229  Schulter  :  schölder  W.,  sckulder  C.-M.,  sxuler 
wang.,  syulere  sat.;  257.  303  fieber,  kälte  :  köhlde,  kohl  W., 
kohlde  C.-M.;  360  hausshaltung  :  hussholding  W.,  hueshohling 
C.-M.,  hüshölhj  wang.;  495  geld  :  geel  W.,  jilde  C.-M.,  jil  wang., 
jeld  sat;  503  ge w alt  :  ^e/i^^Me  C.-M.;  538  einfalt :  ehn/'oldig keil 
W.;    705  halten  :  holt  W.,  hol  C.-M.,  hol  wang.,  holde  sat. 

15.  Ebenso  ist  die  bei  C.-M.  grossenteils  und  im  sat.  noch 
vollständig  erhaltne  Verbindung  nd  bei  W.,  wie  im  wang.,  zu 
mi  geworden.  37.  287  wind  :  tvine  W.,  wihnde  C.-M.,  whi  wang., 
mnd  sat.;  62  sand  :  söhn  W.,  sauhn  C.-M.,  saun  wang.,  sönd 
sat.;  64  land  :  lohn  W.,  lauhn  C.-M.,  laun  wang.,  lond  sat.; 
178  hund  :  hu7in'W.,  huhn  C.-M.,  hün  wang.,  hünd  sat;  233  ff", 
band  :  höhn  W.,  haundc  C.-M.,  haun  wang.,  hönde  sat;  251 
gesundheit :  sumi  W.,  suhndheide  C.-M.;  251.  749  gesund  :  sunn 
W.,  suhnd  C.-M.,  sün  wang.,  sünd  sat;  254  blindheit  :  blinn  W., 
blindheide  C.-M.;    362.  541   freund  :  /rün,  fr  in  W.,  fr  im  wang., 


5ÖU  BRKMER 

1'ri.ijnd,  /'rlynil,  fnjnd,  fnjml  sat.;  (»92  stehen  :  mohn  W.,  stau- 
nen C.-M.,  staunen  wang.,  stönden  sat.;  762  abend  :  cven  W., 
ai/'end  C'.-M.,  a'iven  waug-.  Ebenso  ist  /nb  zu  jn/n  gewor- 
den: 173  lamm  :  löhm  W.,  taum  C.-M.,  wang.;  187  inimc  : 
iiiim  W.,  i/itne  C.-M.,  hn  waug.;  471  kämm  :  köhmm'W.,  kayhm 
C.-M.,  kaum  waug.  Im  auslaut  stellt  ausnahmsweise  nd  in  299 
kosten  :  schmeckend  W.;  34G  feiud  :  fejendt  W.;  542  feind- 
schaft :  feindschop  W.;  540  gewissen  :  wUtänd  W.;  731  fliehen  : 
/il jagend  W.,  fUagen  C.-M.  Unursprüugliches  nr/  bleibt  in  19 
mouat  :  mond  W.,  mohnnt  C.-M. 

16.  Aus  der  formenlehre  verdient  hervorgehoben  zu  wer- 
den, dass  die  Wurstener  mundart,  wie  die  llarliuger  des  C.-M. 
(Kiikellian  s.  50),  und  wie  es  nocli  heute  das  waug.  und  sat. 
tut,  nicht  nur  noch  infinitiv  und  gerundium  schied,  sondern 
auch  noch  in  diesen  formen  die  starken  und  ischwachen  Zeit- 
wörter. Die  starken  haben  die  cndung  -nhj  die  schwachen 
/weiter  klasse  -ie\  beispiele  s.  unter  10.  Das  gerundium  endigt 
hier  auf  -ih)i,  dort  auf  -ähn\  beispiele  hierfür  s.  unter  8.  Die 
Infinitive  auf  -en  GSl — 751  sind,  wie  die  des  C.-M.,  entweder 
dem  deutschen  nachgebildet  oder,  wenigstens  teilweise,  laut- 
gesetzliche gerundia  auf  -n.  Aehnlich  schreiben  die  Amringeu 
als  eudung  ihres  gerundiums  -an,  -in  und -<?>«;  letztres -^w  wird 
tatsächlich  durchweg  -n  gesprochen.  Im  waug.  sind  die  in- 
linitive  der  starken  Zeitwörter  und  der  schwachen  erster  und 
dritter  klasse  endungslos;  die  der  zweiten  schwachen  gehn  auf 
-l  aus.     Im  sat.  ist  dort  -e,  hier  -je  die  iufinitivendung. 

17.  Von  einzelheiten  hebe  ich  nur  die  lautgestalt  des 
Wortes  'sieben'  hervor.  Westing  schreibt  670  tsiägim,  d.  i, 
s'äyun  <  afries.  '■''•sißgun.  Da  eine  solche  form  afries.  nicht 
nur  nicht  belegt  ist,  sondern  auch  lautgesetzlich  nicht  denkbar 
ist,  so  kann  tsiägim  nur  eine  versehentliche  Schreibung  für 
tsingim  sein;  das  wäre  afries.  slügun.  Nun  ist  sigun  und  snigwi 
eine  ausschliesslich  weserfriesische  neubilduug  nach  7iigun,  niü- 
gun.  Emsfriesisch  heisst  es  nur  sogen.  Dazu  stimmt  soggen  bei 
C.-M.  und  sat.  sogen.  Waug.  s'üyen  stimmt  zum  riostr.,  und 
auch  diese  form  beweist,  wie  diese  ganze  übersieht  gezeigt 
hat,  die  mittelstellung,  welche,  der  geographischen  läge  des 
alten  Wangcrlands  entsprechend,  das  wangerogische  zwischen 
dem  harliugischen  und  riostringischeu  einnimmt. 


WURSTEN  ER  WÖRTERVERZEICHNIS.  561 

Dies  sind  die  hervonageii(lsten  spraeblichen  merkniale 
unsres  wüitciverzeielinisijcs.  liu  iil)rii;;cu  v«,^!.  Jelliugliaus,  IS'dd. 
korrespoüdenzblatt  IbSO,  XI,  ',i\  U". 

STRALSUND,  dcu  2.  septeniber  1887. 

OTTO  BREMER. 


Im  bremiscli-niedcrsäcbsisL'lien  wörtcibucb  wird  ein  fiic- 
siscbes  glossar  von  Friediicb  August  Reuner  genannt,  der  im 
lande  Wursten  pastor  war,  und  zwar  in  Dorum  uacb  der  einen 
(IV,  s.  1035),  in  Cappeln  uacb  der  andern  (IV,  s.  073)  angäbe. 
IV,  s.  073  wird  gesagt,  dass  er  dieses  glossar  der  bremisch- 
deutseben  gesellscbaft  geschenkt  habe;  es  muss  also,  da  band 
IV  die  Jahreszahl  1770  trägt,  vor  diesem  jähre  angefertigt 
worden  sein.  Auf  meine  aufrage  erfuhr  ich,  dass  die  stadt- 
bibliothek  in  Bremen  jetzt  die  handschrift  besitzt.  Die  Ver- 
waltung der  bibliothek  stellte  mir  die  handschrift  in  liebens- 
würdigster weise  ])ersOnlich  zur  Verfügung,  wofür  ich  auch  an 
dieser  stelle  meinen  besten  dank  ausspreche.  Die  hs.  ist  be- 
zeichnet als  Brom:  a  359.  Es  ist  ein  folioheft  von  50  selten. 
Die  hs.  scheint  vollständig  zu  sein  bis  auf  ein  am  schluss 
fehlendes  blatt.  Der  titel,  von  der  band  des  Verfassers,  lautet: 
Friederici  Augusti  Renneri  Glossarium  Frisico-Saxo- 
nicum.     accedit  specimen  Grammaticae  Frisicae. 

Weitaus  zum  grössten  teil  enthält  das  Wörterbuch  platt- 
deutsche Wörter  neurer  und  ältrer  zeit,  mit  teilweiser  quellen- 
angabe;  auch  hochdeutsche  und  altenglische  Wörter  kommen 
vor.  Demnächst  am  häufigsten  sind  altfriesische  Wörter,  meist 
mit  quellenangabe.*)  Neufries.  Wörter  enthält  das  Wörterbuch 
nur   weniij:e.     Natürlich   sind  diese   nur   als  einzelne  reste  der 


')  Unter  JJi-its  führt  Renner  die  plattdeutsche  redcnsart  au  dal  dy 
de  Drus  ludc  und  leitet  Dnis  'von  Druso  dem  roeuiischen  generul'  ab. 
Dann  fährt  er  fort:  'Wiewoll  ihm  seine  tyranney  schlecht  bekommen, 
so  dass  die  Teutschen  sangen 

sa  mey  leg  heffen  era  was  migtüjan  sterile 

an  led  ta  digtan  besaU  vel  lond  and  weitere 

äff  Fresan  and  ajf  llomcran  mit  kine  lotten  inudl. 

Theoda  Frescna  vel  crn  ende  gedt. 


562 


BREMER 


einstmals  im  lande  gesproclmeu  fVies.  spräche  anzusehn;  denn 
damals  sprach  man  nur  plattdeutsch  (s.  550  anm.).  Auf  das 
Wörterbuch  folgt  ein  sehr  liederlicher  abriss  altfries.  grammatik, 
augenscheinlich  nur  so  hingeworfen,  welcher  zeigt,  wie  wenig 
Renner  friesisch  verstand.  Zum  schluss  folgt  der  hymnus  a  solis 
ortus  cardine  in  einer  offenbar  von  Renner  selbst  angefei-tig- 
ten,   altfriesisch  sein  sollenden  Übersetzung. 

Nach  abzug  des  anderweitigen  sprachguts,  bleiben  als 
Wörter,  die  ich  sonst  als  plattdeutsch  nicht  nachweisen  kann, 
die  folgenden  übrig,  zum  teil  von  etwas  zweifelhaftem  aus- 
sehn und  schwerlich  alle  wurstfries.-plattdeutsch: 


aevibelcl ')  uineise 

alig,  cgh,  ighs  ein  stainiu  geschleclit. 

Ich  setze  hinzu  dass  ab, 

äff,  eaff,  haff  und  liefe  einerley 
und  den  liimmcl  anzudeuten 
pfleget. 

allemel')  bisweilen 

aldweers  link 

ante  der  name  von  einem  stücke 
lande  so  besaeet  wird. 

habbe^)  vater 

block  bedeutet   alles   was  niedrig. 


sa  maelt  in  icffra  skilda 

Ihen  arend  and  the  krona 

sa  sijn  vul  meijdlin  skone 

llie  kraenziin  makia, 

vcel  frougda  ande  wunna 

als  sunna  lielta  skinal 

als  steerna  by  liier  nagt 

untellik  luchlan 

sa  weren  sc  bgderbe 

die  fxigian  toyons  Rotnens  Uieode 


Daher  hat  das  bluck-land*)  bey 
Bremen  den  namen. 

belt-^)  das  beste 

heleller  vorbetter 

bloetselS')  die  kaezlein  so  an  die  nus- 
bäume  haengeu 

bosl.  hülse,  cortex'') 

hjrm  ein  gewisser  erdgrund.  Hie- 
ven hat  das  bekandte  dorff  Bram- 
sU'de,  welches  in  alten  zelten 
Bormirslede  geschrieben  den  na- 
men. 

0  t/ieode  wo  was  dyn  mitdt  sa 

klein 
cnd  sa  tlier  starke  storm 
vcel  siigla  kdlf  verslroit 
sa  weck  lliyn  mudt 
j\ys  wastera  tribiila 
off  meer  als  cene  huta 
Tili  konn  liier  Tlirus  na   Roma 

brengen 
tili  he  by  thissa  wettere  fenge. 


')  aengl.  wmelle,  nindd.  emele. 

'^)  allmcls,  allsmcts  ten  Doornkaat  Koohuau,  wang.  alldmils. 

')  '■babbe  nennen  die  bauerkinder  ihren  vater',  Bremisch-niedersächs. 
Wörterbuch,  babbe  ten  Doornkaat  Koolman ;  wang.  bab. 

^)  blokland  mit  graben  oder  wällen  eingeschlossenes  land,  ten  Doorn- 
kaat Koolman;   vgl.  block  mndd.  wb. 

^)  afrs.  und  plattdeutsch  bet  besser. 

•*)  vgl.  bloeisel  mndld.  wb. 

^)  vgl.  bostel  mndld.  wb. 


WURSTENER  W( )RTERVERZEICHNIS. 


563 


Tjebukc    ist    ein    friesischer 

weiber    nauie,    ein    ander 

name  Wühbük  .  .  .  Tibke  ist  aus 
Tjebiike  zusammen  gezogen. 

boclen,  utboelen^)  aussteuern 

bur,  bür-)  eine  hütte,  haus 

barm^)  der  fus  von  einem  deiche 

honen  han  ein  tractanient  zur 
erndte  zeit  für  die  arbeiter  da 
ein  alter  han  geschlachtet  wird 

bül^)  eine  oeffnung  im  eise  um 
wasser  daraus  zu  holen,  sonst 
auch  eine  wuke 

boerse  das  fett  an  den  gedaermen 
beym  riudvieh.  Die  jungen  ge- 
sellen durfiften  solches  nicht 
essen,  aus  beysorge,  dass  sie 
dadurch  untüchtig  zum  ehestande 
wurden. 

dweer')  wind,  windes  braut,  nordost. 

dack  der  rücke  an  einer  kuh 

dan'')  krafft,  staerke 

hese,  ese  ist  nicht  allein  die  erde 
sondern  auch  der  name  eines 
tlusses 

eivcT')  so  sehr,  so  gar. 


cldcrs  **)  anderswo. 

cltland'^)   ist   vieleicht   so  viel  als 

ellgro^)  was  auf  einer  weide  im 

herbst  vor  das  vieh  übrig 
ollen '")  aufhalten,  hindern 
eige  überhaupt  alles  was  spitzig  ist, 

als  an  den  gaersten  aehren 
faiihe   ein   stück  land   darauf  das 

vieh  weidet 
grotgan  schwangerschafFt 
gheelik^^)  gaenzlich 
grnf^-)  hass 

hurvo  das  netz  an  den   gedaermen 
he/m  ")  der  auserste  rand  an  einem 

Wassergraben 
liarkauen  wiederkäuen 
liaren   fressen   wird    vom    rindvieh 

gebrauchet 
heid/'ast'^)  bedeckung 
hespe  schinke 
kolle   ein    mit   grass    bewachsener 

kuhscharen  auf  einer  vieh  weide 
lieade,  lüde  von  oben  ist  einerley 
liafe   Francis    olim    heofe    coclum. 

Dis   wort   ist   annoch    unter    uns 

gebräuchlich,    man    saget    ivenn 


1)  nach  afrs.  bclda,  balda  ausstatten,  bildete  mau  ostfrs.-plattdeutsch 
bölen;  vgl.  bulscliat  mndd.  wb.  und  ten  Doornkaat  Koolman. 

^)  -bür  in  ostfries.  doifnamen;    vgl.  mndd.  bür  bauer,  gehäuse. 

^)  barm  ten  Doornkaat  Kooiinau;    vgl.  barm  mndd.  wb. 

')  'bin.  Bei  den  Wurstern  ein  loch  im  eise,  unser  bremisches  ivake\ 
Brcm.-nds.  Wörterbuch  VI,  12;    b'u  ten  Doornkaat  Koolman. 

^)  plattdeutsch  dwer-wind  Wirbelwind,     • 

'')  danne,  damt'  stark,  kräftig,  ten  Doornkaat  Koolman.  Plattdeutsch 
dannig  stark. 

')  afrs.  enel  übel. 

**)  eiders  ten  Doornkat  Koolman;   vgl.  afrs.  ellis,  olles  sonst. 

'■')  ostfrs.-plattdeutsch  ollanl.,  s.  mndd.  wb.;  el-grdo  ten  Doornkaat 
Koolman,   elgrodo  Brem.-nds.  wb.;    vgl.  afrs.  etf'onno  Weideland. 

'")  '■eilen  oder  illen,  aufhalten.  Bei  den  Wurstern',  Brem.-nds. 
wb.  VI,  52;   aengl.  ieldan. 

")  vgl.  awfrs.  gaelik  jähe,  plötzlich. 

1'-)  grüf  rauh,  unfreundlich,  grimmig,  ten  Doornkaat  Koolman. 

'•')  vgl.  Iiolmcndore  mndd.  wb. 

")  zu  afrs.  hcde,  Westing  hode,  wang,  luvid  haut? 


564 


BREMER 


ein  schwer  gewitier  de  liefe 
spalket. 

hase,  hacse,  ose,  isc  ist  cinerley, 
iicinlich  die  erde.  Daher  ist  die 
redcnsart  zu  erklaereii,  de  hase 
bruet^),  wenn  ein  dicker  nebcl 
des  abends  aus  der  erden  auf- 
steiget. 

hümpel'^)  ein  grosser  haute  unge- 
dreschter  fruchte 

kassen'-^)  tauften,  kassendom  wenn 
einer  durch  die  taufe  ein  elirist 
wird 

koeren*)  mit  den  dresch-flegcl  die 
spitzen  von  ausgedroschenen  ger- 
sten  abschlagen 

kinne  ein  winkcl  worinu  etwas  ge- 
leget wird 

kiddig  zierlich,  anstaendig 

kaele  schmerze"') 

kaschelik*^)  geschwind 

khiven^)  die  abgefallene  aeliren  auf- 
sauimlen 


teile  der  bart  eines  hahnes 

mallhave^)  geringe  habe  und  gut 

inansat'')  wenn  ein  aeker  ausgethan 
wird  um  die  helfl'te  von  fruchten 
zu  gewinnen 

inanarbeit^^^)  dicnste  so  gemein- 
schaftlich geschehen 

pcgel  ein  grünes  land  worauf  ein 
deich  angeleget  wird 

radde  wenn  die  baende  an  holzern 
gefaessen  schlaft*  werden 

ronkeii^^)  sich  strecken 

red '-)  consilium 

scIirickcP'-')  wenn  das  eis  nicht 
voellig  zugefroren  ist 

schars  scher,  messer 

schwollern  heisset  sich  segnen  ehe 

man   schlafen   gehet,    der 

bauer  .  .,  die  letzte  i)feiff"e  tho- 
back  ehe  er  sich  zur  ruhe  leget 
nennet  er  die  schwolter  vfeiffe, 
alius  die  mantcl  pfeiffe. 


•)  diese  reden sart  ist  plattdeutsch. 

'^)  plattdeutsch  hümpel  häufe. 

^)  ditmarsisch  kas-avend  Christabend;  karslen  taufen,  Neocorus; 
vgl.  afrs.  kerslna  taufen,    kerstendöm  Christentum. 

^)  wohl  von  körn  abgeleitet. 

s)  mndd.  kal  quäl. 

^)  plattdeutsch  kasch  munter,  frisch,  stark. 

')  plattdeutsch  klihven  klauben;  die  bedeutung  ähren  auflesen  ist 
friesisch;  s.  Stürenburg  und  ten  Doornkaat  Koolmau;  wang.  klüv  klau- 
ben, ähren  lesen. 

")  mndd.  male  massig,  wenig,  gering. 

'■*)  ^  maan-saal.  Land  zu  maan-saat  austhun  bedeutet  im  lande 
Wursten,  es  zum  halben  hokken  austhun',  Brem.-nds.  wb.  III,  12S. 

'")  ^mann-arbeit  heisst  in  einigen  gegenden,  wenn  ein  ganzes  kirch- 
spiel  oder  dorf  aufgeboten  wird  mann  für  mann,  etwas  zu  thun ',  Brem.- 
nds.  wb.  VI,  193;  vgl.  num-diiig  gemeinschaftlich,  ten  Doornkaat 
Koolman. 

")  ndld.  ronken  schnarchen. 

^^)  zweifelhaft  ob  das  afrs.  red  oder  ein  damals  noch  lebendiges 
wort,  Westing  rchde,  wang.  rcßid  rat;  vgl.  rede,  rüde  vernunftgrund,  ten 
Doornkaat  Koolman. 

'')  s.  schrikkeln  bei  ten  Doornkaat  Koolman. 


WÜRSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS.  565 

schof  tydc  liulen^)  ein   wenig  sich  und    tiUbeu    wölken   der  himmel 

erholen,  zwischen  der  arbeit  aus-  klaercr  wird 

ruhen  ulk^)  ungleich 

spinnen    wird    gesaget    wenn    das  wedemc'-')  ein  priester  haus 

lein  wand  von  vielen  gebrauch  ab-  waerendc'^')  burgschafft 

nutzet  wccrsdagc'')  soniiuertage 

Stelling  ein  schauui  damit  das  bier  wraddcls    das     feil     welches    den 

zur  gaehrung  gebracht  wird  ochsen  unter  dem  halse  haeuget 

Schicht  gespenst,   sckiclüiveise   was  wränge^)  eine  befestigung   die   im 

die  gespenste  den  menschen  vor  graben    gemacht    wird    um     das 

äugen  stellen  wasser    desto    bequemer    auszu- 

tarden-)  schreiten  schoepfen. 
iipweer-^)   wenn   nach   vielen  regen 


(v.  Wicht,)  Das  ostfiiesisehe  land-ieclit  (Anrieh  1710),  voi- 
beiicht,  .s.  40  aiini.:  Von  der  ostfrics.  spräche  'lindct  man  ver- 
schiedene spuhren  in  der  bekannten  geschieht-  und  ge- 
schlecht-erzehluug-  der  adlichen  fanülie  von  Werduni; 
unter  andern,  dass  noch  um  das  jähr  1539.  der  gottlose  Öibold, 
der  sich  dieser  ruchlosen  worte  verlauten  lassen:  3fen  mey  so 
)vH  hinpretjke^  dat  men  de  liu  in  de  snaar  haald;  die  daad  iss, 
die  bleif  tveil  daad.  d.  i.  Man  mag  so  was  hinpredigen,  dass 
man  die  leute  in  der  schnür  (im  zügel)  behalte;  wer  todt  ist, 
bleibet  wol  todt:  annoeh  in  friesischer  spräche  geprediget  habe. 
Conf.  d.  series  famil.  Werdum.  ad  ann.  1570.  pag  m.  138.' 

Werdum  liegt  nordöstlich  von  Stedesdorf  im  Harlinger- 
lande.     Die  oben,  s.  554  besprochue  diphthongierung  von  e  und 


^)  so  ten  Dornkaat  Koolman;   wang.  sxoftid  pause. 

2)  für  terden  -=  iredeni    wang.  iride  treten. 

^)  up-W(iren  besseres  wetter  werden,  sich  aufklären,  ten  Doornkaat 
Koolman. 

^)  afrs.  und  mndd.  %intik  ungleich. 

^)  afrs.  wilhume,  wethem  geweihter  platz. 

•^J  wahrscheinlich  nicht  mehr  ein  lebendiges  wort  sondern  afrs. 
tvarande,  7varende  gewähr. 

')  vgl.  nordfries.  vors,  Urs,  sildringisch  iirs,  amringisch-föhringisch 
vos,  frühling  -=  *tvurs. 

**)  ^wränge  lieisst  im  lande  Wursten  eine  Scheidewand,  die  in  einem 
graben  gemacht  wird,  um  das  obere  wasser  auf  zu  halten  und  das  untere 
desto  bequemer  auszuschöpfen',  Brem.-nds.  wb.  VI,  421.  Vgl,  mndd. 
wränge. 


566  BREMER,  VVURSTENER  WÖRTERVERZEICHNIS. 

o  ist,  wie  die  beispiele  hinprcyke,  blclf  und  weil  zeigen,  schon 
in  der  ersten  hälfte  des  10.  jbdts.  vorhanden  gewesen.  Hier- 
durch wird  die  Vermutung  nahe  gelegt,  dass  die  vereinzelten 
altostfries.  ei,  welche  besonders  in  der  Emsiger  mundart  für  e 
vorkommen,  z.  b.  in  l)reid  braut,  heil  beule,  heithe  beide,  in 
gleicher  weise  zu  erklären  sind;  vgl.  wang.  hrccid  =  sat.  hred^ 
waug.  hcciö  =  sat.  bee.  —  Ob  das  aa  in  haald  und  daad  noch 
als  ä  oder  schon  als  ö  ausgesprochen  wurde  (s.  554  f.),  ist 
nicht  auszumachen.  —  Id  ist  in  haald  erhalten  (s.  559,  14).  — 
nwj  stimmt  zum  altemsfrs.  mci^  sat.  mej^  gegenüber  altriostr.  ml, 
waug.  ml  (s.  553,  2). 

HALLE,  den  27.  märz  1888.  OTTO  BREMER. 


DIE  ^-REIME  BEI  OPITZ. 


D< 


'er  unterschied  der  altdeutschen  e-laute  hat  sich  iu  un- 
serer neuhochdeutschen  Schriftsprache  gänzlich  verwischt.  Nur 
in  den  dialekten  finden  wir  die  trennung  noch  grossenteils 
erhalten  (vgl.  Luick,  Beitr.  11,  s.  492  ff.).  Die  schlesischen 
dichter  des  17.  Jahrhunderts  reimen  keineswegs  die  verschie- 
denen e-laute  so  ununterschiedlich  wie  es  unsere  dichter  heute 
tun.  H.  Rückerti)  bemerkt  richtig,  dass  sich  der  vater  der 
deutschen  poesie  in  seinen  reimen  als  ein  achtes  schlesisches 
landeskind  offenbart.  So  verbietet  Opitz  in  seiner  'deutschen 
poeterei'  den  dichtem  bestimmte  Wörter,  welche  ein  e  in  der 
reimsilbe  haben  im  reime  zu  verbinden,  weil  das  e  in  ihnen 
verschieden  laute.  Er  sagt  (daselbst  cap.  VII):  'das  e  wird  in 
dem  Worte  ehren  wie  ein  griechisches  f  in  dem  worte  nelwen 
wie  ri  ausgesprochen:  kann  ich  also  mit  diesen  zweien  keinen 
reim  schliessen.  Item  wenn  ich  des  herrn  v.  Pybrae  epigramma 
wollte  geben: 

Zum  beten  setze  dich,  wie  iener  Grieche  lehrel, 
Denn  Gott  wil  auff  der  Hucht  nicht  angeruffen  sein: 
Er  heischet  und  begehrt  ein  starkes  hertz'  allein; 
Das  hat  man  aber  nicht,  wann  er  es  nicht  bescheret. 

liier  weil  das  e  in  lehret  wie  e,  das  in  bescheret  wie  /y  ge- 
lesen wird,  kann  ich  vor  bescheret  das  wort  verehret  setzen. 
So  schicken  sich  auch  nicht  zusammen  entgegen  und  p/legen, 
verkehren  und  hören:  weil  das  oc-)  von  uns  als  ein  f,  und  die 


')  In  seinem  aufsatze  über  'deutsche  niundarten  in  Schlesien'  Zs. 
fdph.  bd.  1,  4,  5. 

■^)  Es  sei  hier  gleich  bemerkt,  dass  das  w  stets  —  sowohl  das 
lange,  wie  auch  das  kurze  —  dem  griechischen  f,  dem  mhd.  e  gleich- 
lautet. 


568  IIKILBORN 

mittlere  silhe  in  verkehren  als  ein  /y  iieleseu  wird.'*)  Opitz 
greift  hier  einige  beispicle  aufs  geradewol  heraus.  Seine  ge- 
dichtet) sowie  die  seiner  sehüler  und  naehfolger  in  Schlesien 
liefern  das  material  zu  weiteren  Untersuchungen  auf  diesem 
gebiete. 

Die  reimsill)e  cren  lässt  bei  uns  nur  eine  ausspräche  zu. 
Kein  dichter  würde  heutzutage  bedenken  tragen  z.  b.  ehren 
und  begehren  zu  reimen.  Opitz  unterscheidet  bier.  Wir  finden 
diese  beiden  Wörter  nie  mit  einander  gereimt.  Ein  jedes  reimt 
in  seinem  kreise.  Die  grenzen  sind  streng  eingehalten.  Ehren 
findet  sich  gepaart  mit:  hören,  lehren^  inehren,  röhren,  ver- 
sehren, bethören,  zerstören.  Jiegehrcn  mit  wehren.,  zehren^  leeren, 
bescheren  und  vielen  andern.  Wenn  Rückert  (Zs.  fdph.  5,  127) 
behauptet,  dass  Opitz  unbedenklich  verheeret  :  gelehret  reimt, 
so  ist  das  unrichtig;  wenigstens  findet  sich  dieser  reim  niemals 
in  der  hier  vor  allen  andern  in  betracht  kommenden  schlesi- 
schen  ausgäbe.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  reime  ver- 
zehren  :  kehren,  dessen  Kückert  er  wähnung  tut.  Doch  nimmt 
kehren  eine  ausnahmestellung  ein,  die  wir  später  für  sich  zu 
behandeln  haben.  Opitz'  sehüler  in  Schlesien  wie  Colerus, 
Czepko,  Scherffer,  Logau,  Hoffmannswaldau  folgen  hier  ge- 
treulich seinem  beispiele.  Nur  bei  Scherflfer  findet  sich  leeren 
'leermachen'  mit  ehren  und  andern  ihm  verwanten  Wörtern  ge- 
reimt, doch  sei  gleich  hier  bemerkt,  dass  Scherffer  überhaupt 
den  reim  viel  nachlässiger  behandelt  als  die  andern  schlesi- 
schen  dichter.  Die  verben  der  ersten  kategorie  {ehren)  haben 
im  mhd.  sämmtlich  ein  ('  resp.  a'\  während  die  der  zweiten 
kategorie  ein  f,  e  oder  cb  haben  (ausgeno.iimen  kehren).  Im 
anschluss  an  ehren  mag  hier  gleich  der  reim  ehrlich  :  herrlich 
erwähnung  finden,  dessen  Logau  sich  bedient;   uns  scheint  der- 


^)  Opitz  (neudrucke  1,30)  fährt  fürt:  'so  kann  ich  auch  ist  und 
bist  wegen  des  ungleichen  lautes  gegen  einander  nicht  stellen'.  Er  ist 
reimt  Opitz  nur  auf  er  kiest,  während  er  bist  mit  tist,  vergisst,  frist  ver- 
bindet. Daraus  folgt  dass  er  tsl  mit  langem  i,  aber  bist  mit  kurzem  i 
sprach. 

2)  Dieser  arbeit  ist  die  erste  vollständigere  schlesische  ausgäbe  von 
Opitz'  gedicliten  zu  gründe  gelegt:  Martini  Opitii  Deutscher  Poeiiiatum 
erster  und  zweiter  Teil.  In  Verlegung  David  Müllers  Buchhändlers  in 
Breslaw.  MDCXXVIIII. 


DIE  A-REIME  BEI  OPITZ.  569 

selbe  unrichtig,  aber  wegen  mhd.  crlicli  —  herlich  ist  ihm  die 
berechtigung  nicht  abzustreiten. 

Auch  die  reimsilbe  Pr  kennt  zweierlei  ausspräche.  Im 
'Poetischen  staarstecher',  einer  Verteidigungsschrift  der  schle- 
sischen  poesie  aus  dem  jähre  1730,  heisst  es  (s.  45):  'kein 
Schlesier  reimt  mehr  und  hieher\  Diese  bemerkung  erweist 
sich  als  durchaus  richtig.  Auf  mehr  leimt  Opitz  nur  sehr, 
ehr',  versehr',  hoer'.  Alle  andern  ^r-reime  gehören  zu  der  an- 
dern kategorie  wie:  tneer,  schwer,  speer,  här,  quer,  wer  etc.  etc. 
Diese  scheidung  ist  sowol  bei  Opitz,  wie  bei  seinen  schillern 
ausnahnilos  durchgeführt.  Die  Wörter,  welche  im  mhd.  ein  e 
resp.  ds  in  der  reimsilbe  haben,  bilden  eine  kategorie  für 
sich,  während  das  ^,  mit  e  oder  ae  ununterschiedlich  ge- 
reimt wird. 

Bei  der  reimsilbe  elen  nehmen  2  Wörter:  seelen  und  hölm. 
(dat.  plur.)  eine  Sonderstellung  ein.  Ausser  mit  Mlen^  mit 
dem  es  3  mal  verbunden  ist,  findet  sich  seelen  nur  noch  ein- 
mal mit  dem  fremdworte  kamelen  gereimt.  Alle  übrigen  auf 
elen  ausgehenden  Wörter  wie:  fehlen^  zehlen,  stehlen,  wehlen  etc. 
reimen  unter  einander.  Schertfer  reimt  mit  seelen  auch  er- 
zählen'^ da  er  aber  mit  diesem  gebrauche  allein  dasteht,  so  ist 
wol  anzunehmen,  dass  der  reim  als  unrichtig  angesehen  wurde. 
Dasselbe  scheint  von  dem  reime  seelen  :  verhehlen  zu  gelten, 
dessen  sich  Hoflfmannswaldau  bedient.  Bei  Opitz  erscheint 
das  wort  verhehlen  überhaupt  nicht  im  reime.  Aber  bei  Logau 
und  Scherffer  findet  es  sich  ausschliesslich  mit  Wörtern  der 
andern  kategorie  wie  mit  stehlen,  fehlen,  erwählen  und  er- 
zählen gepaart.  Rechnen  wir  also  verhehlen  zur  zweiten  kate- 
gorie, so  zeigt  sich  von  neuem  dass  mhd.  e  sich  nur  mit  oe 
verbindet,  während  ^,  e  und  ae  sich  mit  einander  im  reime 
finden. 

Die  reimsilbe  ehen  (ehn)  gibt  gleichfalls  zu  zwei  streng 
getrennten  kategorieen  anlass.  Doch  sei  gleich  bemerkt,  dass 
das  wort  flehen  hier  eine  ausnähme  bildet.  Es  wird  später 
einer  besonderen  betrachtung  unterworfen  werden.  Alle  an- 
dern Wörter  auf  ehe?i  {ehn)  lassen  sich  in  2  abteilungen  trennen. 
Die  eine  umfasst  Wörter  wie  gehen,  stehen,  erhöhen,  getön,  schön 
(resp.  gehn,  stehn,  erhÖhn).  Diese  alle  reimen  nur  unter  ein- 
ander.   Auf  der  andern  seite  finden  sich  im  reime  verbunden: 


570  HEILBORN 

sehen,  geschehen,  wehen,  drehen,  saeen,  schmähen  (resp.  seh7i, 
geschehn  etc.).  Also  ist  auch  hier  das  mhd.  e  uud  oe  von  (',  e 
und  ae  getrennt. 

Auch  die  reimsilbe  eten  war  einer  doppelten  ausspräche 
unterworfen:  Die  Wörter:  poelen,  prophelen,  lampreten,  planet en, 
töten,  nöten,  erröten  reimen  nur  unter  einander.  Es  finden 
sich  niemals  mit  ihnen  verbunden:  treten,  beten,  gebeten,  statten. 
Auch  diese  Wörter  reimen  nur  miteinander.  Bei  Hoffmans- 
waldau,  Colerus  und  Scherffer  findet  sich  der  reim  treten  : 
ketten.  Dieser  reim  war  für  den  Schlesier  des  17.  Jahrhunderts 
ebenso  richtig,  wie  der  andere  treten  :  stalten.  'Der  gegensatz 
zwischen  länge  und  kürze  war  im  schlesischen  dialekt  relativ 
zart'  (RUckert).  Die  Wörter  treten,  ketten,  statten  klangen  trotz 
ihrer  orthographischen  Verschiedenheit  gleich.  Die  dichter  ver- 
suchten den  gleichen  klang  auch  dem  äuge  deutlich  zu  machen 
und  schrieben  deshalb  bald  kete7i,  bald  treten  oder  trelhen  (seltner: 
ketten  —  tretten);  vgl.  damit  mhd.  treten  —  st^te  —  k^'tene. 
Uebrigens  bestätigt  sich  auch  für  die  reimsilbe  eten  unsere  beob- 
achtung,  dass  e  und  oe  im  reime  von  ^,  c  und  ae  ferngehalten  wird. 

An  den  e/en-reim  schliesst  sich  naturgemäss  der  reim  auf 
et.  Hier  finden  wir  den  Singular  der  Wörter,  deren  plural  wir 
soeben  betrachtet,  —  poet,  komet,  magnet  —  im  reime  mit  ein- 
ander und  mit  geht,  steht,  erhöht  verbunden.  Eine  Stellung 
für  sich  nimmt  der  von  Opitz  einmal  gebrauchte  reim  geredt : 
hett'  (hätte)  ein.  Diesen  reim  hat  Opitz  zweifelsohne  nur  als 
notbehelf  gebraucht;  er  ist  nach  seinen  eignen  Worten  uner- 
laubt: 'weil  das  e  nicht  aus  der  mitten  der  Wörter  gezogen 
werden  darf  (Poeterei  cap.  VII).  Die  übrigen  Wörter  auf  et 
haben  im  mhd.  —  so  weit  sie  sich  daselbst  finden  —  ein  e 
oder  oe  in  der  reimsilbe.  Also  bestätigt  sich  auch  hier  die 
früher  gemachte  bcobachtung. 

Dasselbe  muss  von  den  reimen  auf  ert  gelten.  Zwar 
lassen  sich  die  von  Opitz  gebrauchten  reime  nicht  in  zwei  ge- 
trennte kategoricen  teilen,  aber  alle  Wörter,  deren  er  sich  be- 
dient, haben  ein  ^  oder  ('  in  der  reimsilbe,  wie:  pferd,  schwerdt, 
herd,  er  kehrt,  begehrt,  wehrt  etc.  Einen  reim  wie  mehrt  : 
pferd  oder  ehrt  :  schwerdt  meidet  er,  weil  er  das  e  nicht  mit 
e  oder  e  verbindet. 

Die   Wörter   auf  eben,   die  Opitz  im  reime  verbindet,    wie 


DIE  E-REIME  BEI  OPITZ.  57l 

heben,  gehen,  schweben,  leben  und  viele  andere  haben  sämmt- 
lichst  ein  c  oder  e  in  der  leimsilbe.  Ebenso  die  auf  erden 
wie  erden,  werden  vesp.  ein  ae  wie  ycberden,  beschwerden.  Die 
Wörter  auf  e,  welche  sich  bei  Opitz  gepaart  finden,  haben 
ausnahmlos  ein  e  oder  oe  in  der  reimsilbe,  so:  eh',  see,  schnee, 
weh,  höh\ 

Bisher  fanden  wir  stets  das  nihd.  e  und  oe  von  dem  f,  e 
und  ae  getrennt.  Drei  Wörter  nehmen  eine  ausnahmestellung 
ein:  kehren,  flehen  und  gegen. 

1.  kehren  (vertere)  mhd.  keren  müsstc,  da  es  ein  e  in 
der  reimsilbe  hat,  mit  den  Wörtern  der  kategorie,  an  deren 
spitze  wir  ehren  stellten,  reimen.  Nun  findet  sich  aber  weder 
bei  Opitz  noch  bei  einem  seiner  schüler  kehren  mit  einem  jener 
Wörter  gereimt,  es  ist  ausschliesslich  mit  Wörtern  der  andern 
kategorie  gepaart,  und  zwar  7  mal  mit  begehren,  6  mal  mit 
wehren,  5  mal  mit  nähren,  4  mal  mit  zehren.  Daneben  noch 
die  reime  kehrt  :  herd  und  kehrt  :  erd'.  Daraus  folgt  mit  not- 
wendigkeit,  dass  Opitz  in  kehren  ein  anderes  e  als  in  ehren, 
lehren  gesprochen  hat;  er  muss  dem  worte  den  e-laut  von  be- 
gehren, nähren  gegeben  haben.  Sind .  etwa  im  schlesischen 
dialekte  kehren  'wenden'  und  kehren  'fegen'  in  der  ausspräche 
zusammengefallen?  Die  dialektarbeit  von  G.  Waniek  (Zum 
vocalismus  der  schles.  mundart,  Bielitz  1880,  programm)  gibt 
darüber  keine  auskunft.') 

2.  flehen  mhd.  vlehen,  vlhi  müsste  mit  gehen,  stehen  und 
den  übrigen  Wörtern  dieser  kategorie  reimen.  Es  findet  sich 
aber  ausnahmlos  nur  mit  Wörtern  der  andern  kategorie  gereimt 
und  zwar  ist  es  einmal  mit  sehen,  einmal  mit  drehen  und  2  mal 
mit  geschehen  (z.  b.  I,  247)  verbunden.  Nach  den  bisher  ge- 
fundenen gesichtspunkten  müssten  wir  also  im  mhd.  eine  form 
wie  vlehen  (vlehen?)  voraussetzen.  Das  Grimmsche  wörterb. 
äussert  sich  über  das  zeitwort:  'die  ahd.  form  scheint  zwischen 
e  und  e  zu  schwanken,  im  mhd.  überwiegt  e\ 

3.  gege7i  (mhd.  g^gen).  Opitz  sagt  selbst  au  der  oben 
citierten  stelle:  'es  schicken  sich  nicht  zusammen  gegen  und 
pflegen\     Wir    haben   bisher   stets   gefunden,    dass   Oj)itz   das 


')  'Einige  mundarten ,  z.  b.  die  schlesische,  sprechen  das  e  in  diesem 
Worte  wie  ein  ä,  l<;ihren'  (Adelung,  (irainmat.  krit.  wb.  II,  lüTJö). 

Beiträge  zur  gesohichte  der  deutschen  spräche.     XIII.  38 


572  HEILBORN,  DIE  A'-REIME  BEI  OPITZ, 

mhtl.  f  uuuütersehiedlicb  mit  dem  ü  reimt.  Sollte  sich  für 
diesen  einen  fall  der  unterschied  zwischen  ^  und  e  erhalten 
haben?  Diese  annähme  erweist  sich  als  unmöglich,  da  Opitz 
einen  reim  wie  gegen  :  lege^i  ebenso  streng  vermeidet.  Das 
wort  gegen  {entgegen,  zugegen)  findet  sich  überhaupt  nur  3  mal 
im  reime,  und  immer  ist  es  mit  vermögen  verbunden  (z.  b. 
I,  103  und  129).  Alle  die  andern  zahlreichen  Wörter  auf  egen 
reimen  völlig  promiscue  unter  einander.  Auch  bei  Czepko 
findet  sich  nur  der  reim  gegen  :  vermögen.  Logau,  Hoffmanns- 
waldau,  Colerus  vermeiden  gegen  mit  einem  andern  worte  auf 
egen  zu  reimen.  Scherfl'er  allein  reimt  gegen  mit  pflegen  und 
]egen\  aber,  wie  schon  gesagt,  Scherffer  ist  bei  solchen  Unter- 
suchungen kaum  zu  rate  zu  ziehen,  weil  er  den  reim  sorglos 
und  nachlässig  behandelt.  Durch  das  mhd.  lässt  sich  die 
trennung  des  wortes  gegen  von  den  übrigen  Wörtern  auf  egen 
nicht  erklären:  sie  muss  auf  einer  eigentümlichkeit  des  schle- 
sischen  dialektes  beruhen. 

Sieht  man  von  den  zuletzt  betrachteten  ausnahmen  ab,  so 
zeigt  sich,  dass  Opitz  und  seine  schüler  das  e  von  dem  f  und 
e  unterscheiden,  dass  sich  aber  der  unterschied  zwischen  e  und 
e,  verwischt  hat.  Er  vergleicht  das  e  mit  dem  griechischen  h, 
die  beiden  andern  mit  ?y.  Schon  daraus,  dass  er  diesen  ver- 
gleich anstellte,  geht  hervor,  dass  er  nur  noch  zwei  e-laute 
kannte.  Uns  aber  erscheint  sein  reim  so  oft  unrein,  weil 
er  mit  den  c-lauten  das  oe  und  ae  verbindet.  Das  oe  klingt 
ihm  wie  mhd.  e  (pocterei  cap.  YII)  oder  wie  griech.  f ,  und 
das  ae  —  das  geht  aus  unsrer  Untersuchung  hervor  —  wie 
mhd.  ('  und  e  oder  griech.  ?y. 

JENA.  ERNST  HEILBORN. 


zu  DEN  DEUTSCHEN  FLAUTEN. 

Der  vorstehende  aufsatz  legt  den  schluss  nahe,    dass   im 
sehlesisehen   dialekt  zwei  lange  e-laute  unterschieden  werden: 
der   eine  ein  geschlossenes  e,  welches  dem  mhd.  e  und  (b  ent- 
spricht,   der   andere   ein   offenes   e   {ä^,    dem    mhd.  (c,    sowie 
dem  gedehnten  mhd.  e  und  e   entsprechend.    Dass  die  sehlesi- 
sehen  dichter   des   XVII.  jh.'s  nur  diese  beiden  kategorieu  im 
reime  auseinander  halten,  das  hat  allerdings  der  verf.  gezeigt. 
Es  fragt  sich   nur:    wie   verhalten   sich  dazu  die  sehlesisehen 
Volksdialekte?    Insbesondere,  in   wie  weit  ist  im  sehlesisehen 
wirklich  mhd.  e  und  e  völlig  zusammengefallen?     Die  entgegen- 
stehenden  äusserungen   hierüber   von   Weinhold-Waniek  einer- 
seits und  H.  Eückert  andererseits  führt  Luick  (Beitr.  XI,  513  f.) 
an.     Während  Weinholds   Zusammenstellungen  —  soweit  sich 
bei   seiner  anordnungsweise  ein  deutliches  bild  gewinnen  lässt 
—  für  zusammenfall   von   e  und  e  sprechen  und  Waniek  dem 
(wenigstens   für   den  ihm  bekannten  teil  Schlesiens)  zustimmt 
behauptet  H.  Eückert  (Zs.  fdph.  5, 127  ff.)  auf  das  bestimmteste^ 
dass  die   heutigen  sehlesisehen  volksmundarten  die  entsprech- 
ungen   von   mhd.  e  und  e  scharf  auseinanderhalten.    Ich  kann 
es   nicht   unternehmen,   diesen   widersprach    abschliessend  und 
für  das  ganze  gebiet  der  sehlesisehen  mundart  zu  lösen;   dazu 
bedürfte  es  einer   genauen   nachprüfung   seitens   eines   einge- 
borenen  kenners   des   dialekts.     Aber  soweit    man   sich   nach 
den    für   feinere   Untersuchungen   freilieh   mangelhaften   proben 
schlesischer  mundarten  bei  Firmenich  ein  urteil  erlauben  darf, 
scheint  doch  im  allgemeinen  der  unterschied  des  alten  c  und  /" 
zu  bestehen,  wenn  auch  in  einzelnen  mundarten  vermischun^-en 
sieh  finden. 1)  ^ 

•)   So   in   den  proben   ans  der  gegend   nm   Breslan   (Firmenich  II 
345-47)   findet  sich  a  sowoi   für  e  als  e,  ce ,    z.  b.  assa  {ezzen),    Laha 

38* 


574  BRAUNE 

Das  alte  i-  hat  im  gesammtschlesischen  die  richtung  nach 
a  hin  eingeschlagen,  also  der  ihm  von  alters  her  eigene  offene 
e-laut  hat  sich  noch  weiter  geöffnet,  ist  zum  hellen  a  gewor- 
den: in  den  proben  bei  Firmenich  erscheint  für  e  regelrecht 
und  überall,  a.  Das  umlaut-e  dagegen,  welches  ursprünglich 
geschlossenes  e  war,  hat  sich  vielleicht  auch  etwas  geöffnet, 
ist  aber  doch  sicher  —  wie  aus  den  Schreibungen  bei  Firme- 
nich zu  erschliessen  —  in  den  meisten  gegeuden  Schlesiens 
noch  als  ^-laut,  wenn  auch  als  offener,  erhalten,  so  dass  der 
unterschied  vom  alten  e  bestehen  blieb.  So  z.  b.  in  den  proben 
aus  Mittelwalde  (Firm.  II,  354  ff.),  wo  gegenüber  Larva  {leben), 
besahn  (besehen),  Water  {wele?-)^  hatfa  {helfen),  vergassa  (ver- 
yezzen)  die  formen  mit  altem  e  stehen  wie  besser^  derzühla, 
hält,  geredt^  derfährst.  Ganz  scharf  tritt  der  unterschied  her- 
vor in  den  niederschlesischen  mundarten,  wo  für  das  umlauts-e 
meist  diphthongierungen  {iä,  äi  u.  dgl.)  eingetreten  sind.  Vergl. 
z.  b.  aus  den  proben  von  Petersdorf  (Firm.  II,  294  ff.)  d'rlabi 
(erlebt),  las'n  (lesen),  salber  (selber),  zahne  (10),  dagegen  Riäde 
(rede),  d'rziähln,  Jälend  (elend),  Stiädt'ti  (d.  pl.  =  mhd.  steten), 
desgl.  mhd.  a^  in  liär  {J(cre),  spiäfste  (spätste)  etc.  Kurz,  es 
bestätigen  sich  im  wesentlichen  die  ausführungen  Rückerts  a.  a.  o. 

Wenn  wir  also  annehmen  dürfen,  dass  im  ganzen  und 
grossen  noch  der  heutige  schlesische  dialekt  das  alte  e  und 
das  umlauts-e  (resp.  auch  mhd.  a?)  von  einander  scheidet,  so 
fragen  wir  nun  weiter  nach  dem  gründe  des  reimgebrauchs 
bei  den  schlesischen  dichtem,  den  Heilborn  oben  dargelegt 
hat.  Danach  scheint  es,  als  wären  die  entsprechungen  des 
mhd.  (",  e  und  ce  schlesisch  offenes  <?,  die  entsprechungen  des 
mhd.  e,  ce  dagegen  geschlossenes.  Nun  lehren  uns  aber  be- 
züglich der  letzteren  kategorie  die  schlesischen  volksmundarten 
etwas  weiteres.  Die  entsprechungen  des  mhd.  e,  oe  sind  näm- 
lich durchgängig  im  heutigen  schlesischen  gar  keine  e-laute 
mehr,  sondern  gradezu  langes  t  Es  heisst  also  ire  (ere),  gm 
{gen),  bise  (bmse),  hiren  {hceren)  etc.  Und  dass  das  schon  im 
17.  jh.  so  war,  zeigt  einer  von  den  schlesischen  dichtem  selbst, 
A.  Gryphius  in  seiner  geliebten  Dornrose.     Dort  schreibt  Gry- 


(lehen)  =  lalzte  {lelzle),   dankt  {denket),    Gespansta  (gespenste),    Gasia 
[geste)-^   lar  (/wre)  etc. 


Zu  DEN  DEUTSCHEN  ^-LAUTEN.  575 

phius  durchgehend  i  oder  ü  für  diese  laute,  also  z.  b.  ihren, 
Ihrey  ilirUch  (mhd.  creu  etc.),  müh  oder  mih  (me),  gihn,  stihn, 
sihrc  {scrc),  zwilne  [zivenc),  schüne  oder  schine  {schäme),  büsc 
(bcese),  hüren  {hoercn)A)  Es  ist  also  der  schluss  naheliegend, 
dass  Opitz  und  die  übrigen  schlesischen  dichter  worte  mit  e, 
(c  deshalb  nicht  auf  die  mit  e,  c,  (c  reimten,  weil  ihnen  da- 
bei das  dialektische  l  im  hintergrunde  stand,  wenngleich  sie 
in  gewählter  ausspräche  wol  nicht  i,  sondern  nur  ein  sehr  ge- 
schlossenes, nach  i  hin  liegendes  e  sprachen.  Wenn  ihnen 
also  dieses  e  (=  c,  a;)  nicht  reimfähig  mit  den  andern  arten 
von  e  schien,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dass  ihnen  das  mhd. 
e  mit  dem  e  und  (c  vollständig  zusammen  gefallen  war,  son- 
dern nur,  dass  diese  beiden  kategorien  weniger  geschlossen 
waren  als  jene  c-,  a-laute.  Es  konnte  sich  im  munde  des  ge- 
wählt sprechenden  Schlesiers  im  17.  jh.  sehr  wol  das  e  (=  e, 
cü)  durch  eine  weniger  offene  ausspräche  von  dem  ganz  ofteuen 
e  (=  e)  scheiden;  so  dass  also  drei  e-stufen  vorhanden  ge- 
wesen wären,  von  denen  die  beiden  letzteren  {=.e,  (b  und 
=  c)  deshalb  im  reime  gebunden  wurden,  weil  sie  dem  e  —  ce 
gegenüber  beide  als  offene  laute  erschienen  und  weil  ihnen  in 
den  meisten  schlesischen  volksmundarten  c-artigc  laute  zur 
Seite  standen  (das  helle  a  eiubegriften). 

Für  die  eben  dargelegte  auffassuug  spricht,   dass  A.  Gry- 
phius  in  seiner  geliebten  Dornrose  den  unterschied  dieser  ^-laute 


1)  Diiss  Gryphius  dem  uihd.  iv  entsprechend  meist  ü,  dem  c  ent- 
sprechend meist  i  schreibt,  hat  gar  keine  hiutliche  bedeutung,  denn  auch 
das  ii  war  schon  damals  blosses  /:  es  ist  nur  durch  einwirkung  der 
nhd.  Orthographie  verursacht.  Ueberhaupt  ist  der  einfluss  der  Schrift- 
sprache auf  Gryphius  darstellung  der  mundart  nicht  ganz  gering:  daraus 
hauptsächlich  erklären  sich  die  vielfachen  inconsequenzen  und  Ver- 
schiedenheiten in  der  widergabe  derselben  worte,  die  Palm  s.  29  an- 
merkt (in  seiner  einzelausgabe  der  Dornrose,  Breslau  1855,  nach  deren 
Seiten  und  zeilen  ich  auch  im  folgenden  citiere).  Neben  den  durch  die 
schriftsprachliche  Orthographie  verursachten  ausweichungen  ist  es  haupt- 
sächlich die  hineinmischung  von  Wendungen  aus  etwas  höheren  lebens- 
sphaeren,  die  den  dialekt  verwirren  und  scheinbare  ausnahmen  der  laut- 
gesetze  verursachen.  So  z.  b.  wenn  neben  dem  sonst  stets  geschriebe- 
nen /  in  ihre  einmal  e  eintritt  s.  öSs,,  so  ist  dies  in  der  formel  mit  Gott 
und  ehren,  welche  auf  einen  feierlicheren  stil  hinweist.  Andere  beispiele 
gelegentlich  unten. 


576  BRAUNE 

scharf  zur  darstellimg  bringt.  Er  schreibt  nämlich  a  für  das 
mhd.  c,  während  dem  mhd.  c  und  (c  bei  ihm  die  Schreibung 
e  oder  ä  entspricht,  wobei  ä  nur  der  schriftsprachlichen  Ortho- 
graphie verdankt  wird  und  mit  e  in  denselben  worlen  häufig 
wechselt:  lautlich  sind  c  und  ä  völlig  gleichbedeutend.  Diese 
regel  ist  in  der  masse  der  bcispicle  so  deutlich  durchgeführt, 
dass  an  der  Verschiedenheit  der  beiden  laute  gar  nicht  zu 
zweifeln  ist.  Die  abweichungen  von  der  regel  sind  entweder 
in  gewissen  worten  ständig  und  beruhen  dann  auf  bestimmten 
lautübergängcn,  oder  sie  sind  nur  vereinzelt  und  rühren  dann 
von  den  schon  s.  575  anm.  gekennzeichneten  schriftsprachlichen 
einflüsscu  oder  vielleicht  gar  nur  vom  setzer  her.  Ich  belege 
die  Scheidung  der  e-laute  bei  Gryphius,  die  sich  übrigens  auch 
auf  die  kurzgebliebenen  e  erstreckt,  durch  eine  reihe  von  bei- 
spielen. 

A.  Zunächst  uihd.  e  =^  a  bei  Gryphius:  a)  vor  mehrfacher  conso- 
nanz  kurz  geblieben,  z.  b.  Harlze,  salber,  garnc,  Gald,  Walt,  A'arle^), 
8t.  verba  asscn,  müssen,  vergasscn,  ira/fen,  liallJ'en,  warffen,  starben, 
8W,  V.  larnen.  b)  Nhd.  dehnungen  salin,  gcschahn  (diese  beiden  verba 
sehr  häufig!),  zaiin  l<t;  laben  (s\v.  v.  und  subst.)-  aben,  (jahn  (geben), 
Faall  ißl),  nnhnen,  schämen,  lasen,  Wasen,  geivasl,  Lader,  Gebat  (dazu 
diuiin.  Gebatheln),  traten,  IValer,  liar  (her),  prun.  dar,  dan,  war, 
wan  etc.,  gewahren  {gewern),  hegalircn,  warden  und  —  wol  dem  muud- 
artlicheu  laute  treuer  —  rvaren  {werden),  wahrt  (adj.),  Krabse  u.  a. 

Von  dieser  durch  die  masse  häutig  widerkehrender  beispiele  ge- 
sicherten regel  des  a  =  mhd.  e  gibt  es  eine  bemerkenswerte  ausnähme. 
Vor  dem  palatalen  ch  und  g  nämlich  scheint  das  e  erhalten.  Niemals 
steht  hier  a,  sondern  meist  e  oder  ä,  also  recht,  rächt;  sprechen, 
sprachen,  brechen,  siechen,  schlackt,  Wäg  (subst.,  ebenso  adv.  wäg), 
sägen  (der  segen).  Wir  haben  es  hier  oftenbar  mit  einer  art  von  palatal- 
umlaut  zu  tun,  indem  das  eigentlich  zu  erwartende  a  durch  den  folgen- 
den palatal  afficiert  wurde.  Der  laut  war  kein  reines  e,  sondern  es 
klang  eigentlich  diphthongisch  ein  i  nach,  wie  die  teilweise  daneben 
stehenden  Schreibungen  mit  ni,  äi  beweisen,  die  dem  laute  näher  zu 
kommen  suchen.  So  findet  sich  raichl,  braichen,  Waig,  immer  Knaichl, 
knäichl. 

Von  sonstigen  ausnahmen  sind  einige  auch  schon  von  Luick  a.  a.  o. 
in  andern  dialekten  mit  iimlauts-c  nachgewiesen  worden,  so  dass  sie 
also  für  Gryphius   als   Unregelmässigkeiten   wegfallen.     Solche  sind  das 


')  Die  Schreibung  Karle  bei  Gryphius  zeigt,  dass  das  md.  kerle 
mit  e,  nicht  nach  oberd.  charl  mit  e  anzusetzen  ist  (vgl.  ags.  ceorl): 
andernfalls  würde  Gryphius  kerle  schreiben. 


zu  DEN  DEUTSCHEN  ^-LAUTEN.  577 

häutig  vurkoiniiioude  Schelme,  chis  nie  mit  a  geschriebeu  wird,  t'erucr 
gestern  und  dräschen.  Nie  mit  a  wird  Salden,  sellzem  bei  mehrmaligem 
vorkommen  gescliricbcn,  es  muss  also  hier  im  dialekt  der  andere  <?-laiit 
vorgelegen  haben.  Andere  ausnahmen  kommen  nur  ganz  vereinzelt  vor, 
sei  es  in  nur  einmal  belegten  Wörtern,  wie  Beer  IIO27,  ivälk~()y,,  hellem 
94i9,  Wärck  573^  u.a.,  oder  in  Wörtern,  die  sonst  regelrecht  mit  a  ge- 
schrieben sind.  Es  ist  nicht  zweifelhaft,  dass  hierin  der  dichter  durch 
die  Schriftsprache  beeinflusst  ist.  Sehr  deutlich  lässt  sich  das  an  einigen 
stellen  zeigen,  wo  grade  etwas  gewähltere  phrasen  auch  die  lautliche 
auomalic  zeigen.  Z.  b.  das  an  die  schule  anklingende  Buchslabiren 
lärnen  "A^u  während  sonst  stets  larnen  gilt.  Oder  lOoai  gestrafft  iver- 
deii  einfluss  der  gerichtssprache,  wie  der  Zusammenhang  deutlich  macht, 
während  der  dialekt  nicht  bloss  tvarden,  waren,  sondern  auch  gestrafft 
erforden  würde  (vgl.  sirojfcn  104,-,  Stro/fe  IDD,,). 

B.  Das  umlauts-6'  =  e,  ä  bei  Gryphius.  a)  kurz  geblieben,  z.  b. 
Vetter,  Wette,  Bette,  setzen,  letzte,  entdecken,  stecken,  Leffel,  Sch7Väntze, 
Gänse,  Länge,  Hänger,  stelin,  wein  (wollen),  hell  (3.  p.  zu  hatten),  erben, 
besser,  Gäste,  gämlich  hl^  etc.  —  b)  Durch  nhd.  dehnuug  verlängert, 
z.  b.  reden  (sehr  häufig),  wedelte,  leen  (legen),  reen  (sich  regen)  54^1, 
Flegel,  Elend,  elende,  Zähne,  schweren  (jurare),  fertig.  —  Mit  diesem 
gedehnten  e  fällt  vollständig  zusammen  die  entsprechung  des  mhd.  langen 
Umlauts  m,  z.  b.  schvecr,  drehet,  kreen  —  krete  (vom  hahn),  Härle, 
schleeffste  ("2.  p.  zu  schlafeu),  conjunctive  praet.  der  IV.  V.  ablautsrcihe 
wie  sesse,  kerne,  were  —  wäre  etc. 

Statt  des  zu  erwartenden  e,  ä  für  umlauts-6',  ic  findet  sich  bei 
Gryphius  nur  in  wenigen  worten  a.  So  stets  in  Käse  (käse),  Schaffer 
(der  Schäfer)  =  ce,  in  Pfard  und  Batlig  1%.,  {Raitlig  \)\n)  für  gedehntes 
e.  Hierin  liegt  aber  keine  besouderheit  von  Gryphius  vor,  da  in  diesen 
Worten  noch  andere  md.  mundarten  den  laut  zeigen,  der  sonst  gedehn- 
tem mhd.  e  entspricht.  So  heisst  es  in  meiner  heimatsmundart  (s.  u. 
s.  5S1  ff.)  durchaus:  käse,  safer,  ffärd,  rätig,  mit  ä  statt  des  nach  der 
etymologie  zu  erwartenden  h.  Ferner  schreibt  Gryphius  stets  Haller 
(nur  1  Häller  !)49)  für  die  bekannte  münze.  Vereinzelte  andere  fälle 
(Farckel  94i5,  Blasser  5227,  fVeessgarber,  Stadler  087.  93ü  =  Städter 
"^23.  91io,  saliger  lOSgi)  vermögen  also  auch  nicht  die  regel  wankend  zu 
macheu. 

Ist  CS  also  erwiesen,  dass  die  schlesischen  dichter  des 
17.  jh.'s  in  ihrer  heimischen  mundart  die  c  und  e  auseinander 
hielten,  so  darf  unsere  oben  ausgesprochene  Vermutung  glaub- 
haft scheinen,  dass  sie  auch  im  sprechen  der  Schriftsprache 
die  beiden  laute  trennten,  obwol  sie  dieselben  auf  einander 
reimten.  Es  müsste  denn  sein,  dass  schon  zu  jener  zeit  die 
Schriftsprache  den  verwirrenden  einfluss  auf  die  e-laute  aus- 
geübt hätte,   den  wir  heutzutage  allerdings  vielfach  bemerken. 


578  BRAUNE 

Denn  dass  es  allein  die  sclirift spräche  mit  ihrer,  für  die 
6'-laute  ungenügenden  Orthographie  ist,  welche  in  neuerer  zeit 
die  beiden  ^-laute  in  Unordnung  bringt,  geht  klärlich  daraus 
hervor,  dass  die  volksruundarten  den  unterschied  bewahren. 
Für  Ober-  und  Mitteldeutschland  hat  das  schon  Luick  a.  a.  o. 
dargetau.  Aber  auch  die  niederdeutschen  volksmundartcn, 
denen  Luick  s.  515  die  Unterscheidung  absprechen  will,  schei- 
nen sie  doch  im  grossen  und  ganzen  zu  haben.  8chon 
M.  Trautmann  hat  in  seiner  verdienstlichen  erörtcrung  über 
die  ausspräche  der  (?-lautc  (Die  sprachlaute  s.  203  ff.)  auf 
einiges  hingewiesen i),  sodann  hat  liolthausen  neuerdings 
(oben  s.  370  ff.)  weitere  nachweise  dafür  geliefert,  dass  auch 
auf  niederdeutschem  boden  die  Unterscheidung  zu  finden  ist.2) 
Es  wäre  zu  wünschen,  dass  auf  dem  weiten  gebiete  der 
niederdeutschen  spräche  recht  viele  genaue  einzelbeobachtungeu 
hierüber  angestellt  würden:  von  Wenkers  si)rachatlas  wird 
man  über  diese  frage  doch  nur  etwa  da  aufklärung  hoffen 
dürfen,  wo  einer  der  beiden  laute  ganz  aus  dem  e-bereiche 
herausgetreten  oder  etwa  diphthongiert  worden  ist,  da  im  all- 
gemeinen unsere  für  Scheidung  der  c-laute  so  unzulängliche 
Orthographie  einer  genügenden  widergabc  bei  den  nicht  sprach- 
lich geschulten  aufzeichnern  im  wege  gestanden  haben  dürfte. 
Der  eigentliche  sitz  der  Verwirrung  ist,  wie  gesagt,  die 
Schriftsprache,  welche  für  l)cide  c'-lautc  von  haus  aus  nur  das 
eine  zeichen  e  hatte;  das  daneben  auf  kommende .  zeichen  ä 
aber,  welches  geeignet  wäre  den  offenen  laut  zu  vertreten  und 
das  c  dem  geschlossenen  zu  überlassen,  wurde  verwendet,  um 
in  den  klar  liegenden  fällen  den  umlaut  des  a  zu  bezeichnen; 
also   gerade   den   laut,    dem    es   phonetisch  am  wenigsten  ge- 


^)  Dass  übrij^ens  mnd.  und  mnl.  dichter  c  auf  e  reimen,  beweist 
noch  keinesfalls  den  zusammenfall  dieser  laute,  wie  Trautmaun  nach 
J.  Grimm  u.  a.  annimmt.  AVenn  gute  mhd.  dichter  c  und  c  nicht  reimen, 
so  folgt  daraus  allerdings,  dass  sie  die  laute  schieden,  ohne  dass  nuvn 
deshalb  auch  zu  dem  umgekehrten  schluss  berechtigt  wäre:  wer  c  und 
6'  reimt,  dem  sind  sie  zusammengefallen.  Ebenso  berechtigt  ist  es  daraus 
zu  schliessen,  dass  die  guten  mhd.  dichter  genauer  reimten,  als  die 
mnd.  und  mnl.  dichter. 

2)  Vgl.  auch  Uoffmann  v.  Fallersleben  in  seiner  ausg.  des  Reineke 
Vos  (1834)  s.  XV  f. 


zu  DEN  DEUTSCHEN  ^-LAUTEN.  579 

mäss  war.i)  Und  so  kommt  es  deuu.  dass  beim  sprechen  der 
Schriftsprache  für  die  mit  ä  geschriebenen  umlaute  auch  die 
üti'eue  ausspräche  vordringt,  dass  also  die  Orthographie  Ver- 
wirrung in  die  laute  bringt.  Ich  selbst  scheide  in  meiner  indi- 
viduellen ausspräche  bei  tonlanger  silbe-)  die  mhd.  c  und  e 
genau,  wo  das  nhd.  für  beide  e  schreibt,  sj)reche  also  geschlos- 
senes c  für  undauts-e,  cb  für  mhd.  t',  z.  b.  legen  (legen)  aber 
gelcbgen^  edel  aber  Iwder,  esel  aber  hd'sen,  wcren  (wehren)  aber 
begojren,  enlbccren,  das  mir,  her  aber  lubr,  dcbr.  Wo  dagegen 
die  Schriftsprache  ä  für  umlauts-c  hat,  spreche  ich  ib  statt  des 
etymologisch  erforderlichen  c,  z.  b.  ziblen,  er  IrAgl,  fibrt.  Ebenso 
spreche  ich  das  mhd.  (c  als  e,  wo  die  Schriftsprache  c  schreibt, 
andernfalls  d'\  also  bUb-eii,  scb-en,  aber  dre-en,  n-e-cn\  die  m(br, 
gefd'rlich,  aber  /er,  sch/rcr.  So  ist  mir  denn  auch  der  unter- 
schied zwischen  praes.  und  conj.  praet.  der  IV.  V.  ablautsreihe 
verloren  gegangen:  ich  tubme,  gd'bc,  sAe,  Irwic  gelten  mir  ohne 
Jeden  unterschied  für  beide  formen,  während  eigentlich  das 
praes.  ncbme,  g<bhe  vom  conj.  praet.  ncme.,  gehe  etc.  geschieden 
sein  sollte.^) 

Es  hat  also  meine  ausspräche  —  welche  soviel  ich  weiss 
bei  dialektfreier  sprechenden  Obersachsen  weit  verbreitet  ist 
—  sich  einfach  nach  der  schrift  dahin  gemodelt,  dass  die  e 
da  zu  A  geworden  sind,  wo  die  orthographiercgel  zufällig  ä 
erfordert.  Die  kehrseite  davon  wäre  nun  eigentlich  die,  dass 
jedes  lange  c  der  schrift  geschlossen  gesprochen  werden  müsste, 
dass  wir  wie  weren,  edel  etc.,  so  auch  hegeren,  leder,  beseu  etc. 
sprächen  und  der  lautgeschichte  entgegen  eine  neue  Scheidung 
zwischen  praes.  ich  gebe  und  conj.  praet.  ich  gibbe  bekämen. 
Das  ist  denn  auch  die  orthoepische  forderung,  welche  Victor 
(Phonetik^  s,  66  11".)  für  die  ausspräche  der  langen  schriftsprach- 
lichen e,  ä  stellt.  Er  fordert  die  ausspräche  als  cc^  wo  ä  ge- 
schrieben  wird,   —   als  geschlossenes  e  tiberall  da,  wo  man  c 


1)  Die  geschichte  der  einfiihrung  und  t'estsetzung  dieses  ä  legt 
Wilmunus  dar:  Die  Orthographie  in  den  schulen  Deutschlands,  Berlin 
18S7,  s.  63  flf. 

^)  Die  kurzgebliebenen  e  und  J  scheide  ich  nicht,,  sondern  spreche 
für  beide  offenes  e,  also  ivcttcr,  essen,  hell  =  veller,  besser,  gesell. 

^)  Der  Leipziger  macht  diesen  unterschied  noch:  s.  Albrecht,  Die 
Leipziger  mundart  s.  4-,    vgl.  auch  Wilmanns,  Orthogr.  s.  76. 


580  BRAUNE 

{eh,  ec)  schreibt.  Damit  vviüdc  sicli  denu  allerdings  die  sache 
sebr  einfach  stellen,  indem  die  historisch  gewordene  Schrei- 
bung die  ursprünglich  abweichenden  laute  sich  unterwürfe. 
Ich  halte  es  nicht  für  unwahrscheinlich,  dass  dies  der  ausgang 
der  bewcgung  sein  wird.  Denn  so  gut  es  die  Schreibung  der 
Schriftsprache  fertig  gebracht  hat,  dass  wir  jetzt  die  ei  in  klein 
und  wein,  die  au  in  bäum  und  räum  völlig  gleich  sprechen'), 
obwol  keine  einzige  deutsche  mundart  die  entsprechungeu  des 
mhd.  i,  ü  und  des  ndid.  ei,  ou  hat  zusammenfallen  lassen, 
eben  so  gut  dürfte  auch  der  Schreibung  zu  liebe  schliesslich 
eine  allgemeine  geschlossene  ausspräche  aller  langen  e  durch- 
dringen und  die  offene  ausspräche  auf  die  langen  ä  beschränkt 
werden.  Noch  sind  wir  lange  nicht  so  weit.  Den  jetzigen 
zustand  schildern  Trautmaun  und  Wilmanns  wol  im  ganzen 
richtig,  und  es  werden  die  gebildeten  Mitteldeutschlands  und 
noch  mehr  Stiddeutschlands  noch  geraume  zeit  das  uhd.  lauge 
e  (eh^  ec)  je  nach  der  etymologie  offen  oder  geschlossen  sprechen. 
Aber  in  dem  doch  immer  mehr  für  die  ausspräche  massgeben- 
den norden  mit  der  reichshauptstadt  Berlin,  ist  die  tendenz 
entschieden  auf  die  von  Victor  geforderte  rcgel  gerichtet,  und 
wenn  man  das  als  norddeutsche  ausspräche  bezeichnet,  so 
wird  das  nicht  darauf  beruhen,  dass  die  entsprechenden  uicderd. 
Volksdialekte  die  Vermischung  hätten,  sondern  darauf,  dass  der 
Norddeutsche  unserer  hochdeutschen  Schriftsprache  von  haus 
aus  als  fremder  gegenübersteht  und  das  streben  hat,  dieselbe 
möglichst  nach  dem  buchstabeu  auszusprechen,,  also  —  in  un- 
serem falle  —  dem  geschriebenen  e  immer  ein  und  denselben 
laut  zu  geben. 

Es  ist  also  jene  von  Victor  als  ideal  aufgestellte  aus- 
spräche des  langen  e  ausgegangen  von  den  norddeutschen 
bildungsccntrcn,  wie  denn  auch  Trautmaan  (s.  264)  angibt,  sie 
sei  'gegenwärtig  die  herrschende  wenigstens  in  Berlin,  Stettin, 
Hamburg,  Bremen  und  andern  grossen  städten  des  nordens 
und  drohe  immer  weiter  vorzudringen'.  Es  liegt  mir  ferne 
dass  allgemeine  durchdringen  dieser  ausspräche  zu  wünschen, 
aber   das   endergebnis   der   bewegung   wird   es  doch  wol  sein. 

')  Nur  im  schwäbisch-aleiuannischeu  gebiete  scheiden  —  soviel  ich 
weiss  —  auch  die  gebildeten  noch  die  beiden  ci  in  der  ausspräche. 


zu  DEN  DEUTSCHEN  ^--L AUTEN.  581 

Da  mm  eiinual  unsere  conveutionelle  Schreibung  der  e-laute 
eine  so  mangelhafte  ist  (Wilmanns  s.  77  bezeichnet  sie  als 
'eins  der  schlimmsten  und  schwierigsten  gebiete'  unserer  Ortho- 
graphie) und  da  es  schon  wegen  der  diöerenzen  der  ausspräche 
in  den  verschiedenen  provinzen  Deutschlands  nicht  möglich 
sein  würde,  auf  phonetischer  grundlage  diese  Orthographie  zu 
reformieren,  so  erscheint  allerdings  die  reform  der  gebildeten 
ausspräche  auf  gruud  der  Orthographie  als  das  einfachere 
mittel,  einheit  und  cousequenz  herzustellen.  Es  würde  dann 
das  verwickelte  orthographische  capitel  der  i?-laute  sich  in  die 
einfache  regcl  auflösen,  dass  wir  für  den  kurzen  (stets  offen 
zu  sprechenden)  (?-laut  zwei  gleichwertige  zeichen  hätten:  e 
und  ä,  deren  letzteres  da  steht,  wo  etymologisch  klare  formen 
mit  a  daneben  liegen,  dass  dagegen  das  lange  ä  stets  offen, 
das  lange  e  {eh,  ee)  stets  geschlossen  zu  sprechen  sei. 


Ich  benutze  die  gclegenheit,  um  anhangsweise  den  obigen 
erörterungen  einige  angaben  über  die  6'-laute  in  meiner  heimats- 
mundart  folgen  zu  lassen.  Man  mag  dieselben  als  nachtrag 
betrachten  zu  Luicks  aufsatz  in  bd.  XI,  dem  ich  sie  schon  damals 
folgen  lassen  wollte,  woran  ich  nur  durch  äussere  Störungen 
gehindert  wurde.  Die  mundart  meines  heimatsortes  Gross- 
thiemig  bei  Ortrand  (K.  Pr.  kreis  Lieben werda)  gehört  zum 
obersächsischen  dialekt,  da  wo  derselbe  an  das  Oberlausitzische 
stösst  (die  grenze  der  provinz  Schlesien  ist  nur  wenige  kilo- 
meter  entfernt).  Ich  habe  die  mundart  als  kind  im  verkehr 
mit  den  landleuten  vollständig  beherrscht  und  habe  das  wesent- 
liche davon  noch  jetzt  in  sicherer  erinnerung. 

Die  Scheidung  des  mhd.  e  und  c  ist  in  der  nmudart  auf- 
gehoben bei  der  kürze:  hier  sind  beide  zu  einem  hellen  a  ge- 
worden: es  heisst  also  nicht  nur  (=  e):  hal/u^)  (helfen),  slarmm 
(sterben),  asn  (essen),  halJ  (hell),  sondern  auch  fta^v"  (besser), 
satsn  (setzen),  kalwdrd  (u.  pl.  zu  kalb).-)     Es  ist  also  das  kurz 


')  Die  sonantischen  nasalen  und  liquidae  bezeichne  ich  durch  über- 
gelegten strich. 

-)  Die  grammatische  function  des  umlauts  bleibt  dabei  doch  ge- 
wahrt, da  das  alte  kurze  a  etwas  dunkler,  nach  o  hin,  gesprochen  wird, 
ohne  doch  schon  offenes  o  zu  sein;  also  (indem  ich  diesen  «-laut  mit  a 
bezeichne):  ig.kälp,  ])\.  kal)V9r3\  praes.  satsn,  rückuml.  praet.  sälsl?. 


582  BRAUNE 

gebliebene  umlauts-f  vom  geschlossenen  zum  oti'enen  laute  fort- 
geschritten, mit  kurz  e  zusammengefallen  und  mit  diesem  zu- 
sammen noch  ofiener,  zum  hellen  a  geworden. i) 

Dagegen  ist  der  unterschied  vollständig  gewahrt  bei  den 
gedehnten  e  und  e,  und  zwar  ist  das  e  zum  hellen  a  geworden, 
also  die  länge  der  eben  besprochenen  kürze,  das  gedehnte  c 
dagegen  hat  diphthongierung  erlitten  zu  einem  (fallenden) 
diphthougen,  dessen  erster  betonter  teil  länger  gesprochenes  i, 
dessen  zweiter  teil  ein  kurz  nachschlagender  sehr  ofifener  e-iaut 
ist:  ich  will  den  diphthougen  durch  Id  bezeichnen.  Es  heisst 
also:  hhii/Ji  (leben),  aber  Meniili  (heben);  /r«^r" (wetter),  häln 
(beten),  träln^  aber  liddn,  ridde  (reden),  nddi~  pl.  zu  rät  (mit 
kurz  ä\  =  rad,  rädcr);  stäln  (stehlen),  kdld  (kehle),  aber  k/rialfi 
(quälen),  Isldln  (zählen),  widln  (wählen);  b9gdrn  (begehren), 
sdri)  (die  schere)  -),  aber  swidrn  (schwören),  fidrtx  (fertig),  fidrl 
(er  fährt);  läri3  (die  lehne),  aber  gDivienn  (gewöhnen),  hidnd 
(pl.  die  hähne);  lasn  (lesen),  häsn  (besen),  aber  i5A-r(esel); 
gdldn  (gelegen),   aber  Itdn  (legen)  etc. 

Diese  durch  sämmtlichc  vorkommende  fälle  hindurchgehende 
scharfe  Scheidung  des  gedehnten  c  vom  c  beweist  also,  dass 
auch  in  diesem  dialekt  die  qualitäten  der  6'-laute  die  von 
Franck  und  Luick  nachgewiesenen  waren.  Das  a  <  c  erklärt 
sich  nur  aus  offenem  t',  während  andererseits  die  diphthongie- 
rung id  ein  geschlossenes  c  zur  Vorstufe  hat.  Letzteres  lässt 
sich  auch  durch  die  übrigen  fiille  des  id  beweisen.  Denn  dieser 
diphthong  steht  nicht  nur  für  gedehntes  ^,  sondern  ferner  stets: 
2.  für  mhd.  a',  welches  zunächst  zu  e  geworden,  dann  diphthon- 
giert war,  z.  b.  hidrrt  (hören),  Uds3  (böse);  3.  für  mhd.  e,  z.  b. 
hiU  (schnee),  lldro  (lehre),  (ßdn  (gehen);  4.  für  mhd.  w,  welches 
also  in  unserem  dialekt  zunächst  nach  mitteldeutscher  weise 
mit  mhd.  e  zusammengefallen,  ein  geschlossenes  c  geworden 
war,  z.  b.  stvidr  (schwer),  sion  (säen),  drmi  (drehen),  spiond 
j)l.  (späne),  die  conj.  praet.  der  IV.  V.  ablautsreihe  wie  ix 
nlamd,  <jidn-d  (zum  praes.  //  ndmd  nehme,  /^  'J(^  ©cbe);    ii  hridyt^ 


')  Ausgenommen  sind  die  c  vor  nasal  Verbindungen ,  welche  als 
offenes  e  {et)  geblieben  sind,  also  wccrj]  (wenden),  brccnn  (brennen), 
fict^ij^,  pl.  zu  hänt  (bände). 

^)  Also  auf  älteres  schere  zurückgehend,  nicht  schccre,  das  shr9 
heissen  würde. 


zu  DEN  DEUTSCHEN  ABLAUTEN.  583 

(brächte),  dlditd  (dächte),  tldte  (täte).  Wir  haben  also  ein  aus 
obigen  vier  lauten  zusammengefallenes  geschlossenes  e,  welches 
gleichmässig  zu  id  diphthongiert  wurde.  Ebenso  wie  das  ge- 
schlossene e.  ist  übrigens  auch  das  geschlossene  o  (=  mhd.  b 
und  gedehntem  mhd.  6)  zu  einem  fallenden  diphthong  gewor- 
den, dessen  erster  betonter  teil  aus  langem  etwas  oftenem  ü 
besteht,  während  der  zweite  aus  dem  gleichen  kurzen  d  wie 
in  %d  gebildet  wird.  Also  z.  b,  südn,  pl.  stdnd  (söhn),  hüdtd 
(böte),  küdln  (kohlen);  grüds  (gross),  hüdne  (bohne,  dazu  dimin. 
hldndyji  böhnchen).  Dagegen  ist  das  mhd.  ä  nebst  dem  ge- 
dehnten kurzen  a,  welches  zunächst  in  Übereinstimmung  mit 
andern  md.  mund arten  zu  offenem  b  geworden  war,  zu  einem 
steigenden  diphthong  diphthongiert,  dessen  erster  schwach 
betonter  teil  aus  einem  kurzen  u  besteht,  während  der  zweite 
den  hauptsilbenton  tragende  ein  langes  dunkel  gesprochenes  Ci 
{uf)  ist.  Also  z.  b.  sluä"fn  (schlafen),  hluoFsn  (blasen;  3.  sg. 
d  hlidst)\  huä°n  (der  hahn,  pl.  hi9nd),  fucfrn  (fahren),  luä°dn 
(laden)  etc.  —  Ich  habe  diese  diphthongierungserscheinungen 
eingehender  besprochen,  weil  mir  unsere  mundartlichen  %d,  üd 
immer  als  eine  lehrreiche  parallele  zu  den  ahd.  diphthongie- 
rungen  des  geschlossenen  e,  6  zu  ia,  üo  (Notker  le,  tlo)  er- 
schienen sind.  Die  dafür  sonst  wol  zum  vergleich  gezogenen 
italienischen  ie,  uo  aus  e,  ö  {Ueto,  buono)  stimmen  nicht,  indem 
diese  steigende  diphthonge  sind  (ital.  ie,  uö)  die  ahd.  ui,  üo 
und  unsere  id,  ud  dagegen  fallende.  Da  nun  die  ital.  ie,  uö 
aus  offenem  (~,  ö  diphthongiert  sind,  so  ist  das  schon  mitbe- 
nutzt worden,  um  auch  für  die  Vorstufen  des  ahd.  ia,  uo  offene 
e,  ö  anzusetzen.  Das  ist  also  unzutreffend,  während  die  mit 
den  ahd.  genau  stimmenden  diphthongierungen  unserer  mundart, 
die  sicher  aus  geschlossenen  e,  ö  entstanden,  auch  für  das  ahd. 
das  gleiche  vermuten  lassen,  was  ja  auch  schon  aus  andern 
gründen  vorauszusetzen  ist.  Umgekehrt  ist  unser  steigender 
diphthong  uä"  aus  langem  offenem  o  (=  mhd.  a,  u)  dem  ital. 
nö  aus  off'enem  ö  parallel.  Dass  das  immer  so  sein  müsse, 
dass  off'ene  e,  o  zu  steigenden,  geschlossene  zu  fallenden  diph- 
thongen  werden  müssten,  will  ich  damit  nicht  behauptet  haben. i) 


1)  Zusammenfassend  sei  über  das  System  der   langen   vocale   und 
diphthongen  meiner  mundarf  bemerkt,   dass  dasselbe  sich  der  art  ver- 


584  BRAUNE 

Zum  scliluss  möchte  ich  in  vergleicbung  der  e-laute  meiner 
mundait  mit  denen  in  der  sehlesischen  mundart  bei  A.  Gry- 
phius  hervorbeben,  dass  bei  letzterem  auch  die  kurz  gebliebe- 
nen <■;■  und  c  als  a  und  e,  ü  getrennt  gehalten  werden,  während 
in  meiner  mundart  das  kurze  e  seine  geschlossene  qualität  auf- 
gebend mit  e  zusammengefallen  ist.  Es  wäre  nicht  unwichtig 
zu  wissen,  wie  gross  das  gebiet  ist,  auf  welchem  bei  scharfer 
trenuung  der  längen  die  kürzen  als  offenes  e  zusammenfallen. 
Das  scheint  in  Niederdeutschland  die  regel  zu  sein,  aber  in 
Mitteldeutschland  doch  nur  teilweise  vorzukommen.  —  Ein 
weiterer  unterschied  ist,  dass  im  sehlesischen  die  entsprech- 
ungen  des  mhd.  e  und  ce  nicht  zusammenfallen,  während 
meine  mundart  wie  alle  obersächsischen  für  beide  denselben 
laut  hat.  Dieser  zusammcnfall  ist  ja  schon  als  altmittel- 
deulsch    bekannt.      Es    ist    daher    bemerkenswert,    dass    das 


mild.  110  := 
«     ie  \ 


üe/ 

öu  ==-  0  (geschl.) 

öu  ] 

ei  /  ^  ß  Uj^schl.) 


schoben  hat,  dass  die  alten  langen  vocale  (nebst  dehnungen  von  kurzen) 
zu   diphthongen ,    die  alten   diphthonge   dagegen    zu  nionophthongen 
geworden  sind.     Nämlich: 
mhd.  ä,  a  ::=-  ua* 

„       o,   O  i=-  fl3 

„      G,  a;,  OL',  e  :="  in 

„      i  :=-  ai 

„     ü  ==-  au 

„     iu  :^  oy 

Eine  ausnähme  von  der  diphthongierung  bildet  allein  das  gedehnte  mhd. 
«;:=-«;  dehnungen  von  mhd.  ?,  u  vermag  ich  in  der  mundart  jetzt  nicht 
mit  Sicherheit  aufzufinden,  da  in  grossem  umfange  gegen  die  Schrift- 
sprache kürzen  geblieben  sind,  z.  b.  %//  (liegen),  rir/r  (riegel),  sij)  (sieb), 
7vise  (wiese),  mi~  srimm,  s/ifftj  (wir  schrieben,  stiegen,  sg.  i-/  srep,  .iiek), 
iiir  Ixufpi,  summ  (wir  zogen,  schoben,  sg.  iy  fsok,  sap).  —  Von  der  mo- 
nophthongicrung  ist  allein  ausgenommen  der  alte  mitteldeutsche  diphthong 
ai  (aus  äffe),  welcher  (entgegen  dem  oberd.)  im  älteren  ost-md.  vom 
diphthong  ei  streng  geschieden  ist,  wie  ich  dies  schon  in  Kuhn  und 
.Schleichers  Beitr.  8,  92  f.  dargelegt  habe.  Dieses  ai  ist  in  der  mundart 
erhalten  als  diphthong  oy,  ein  stark  gerundeter  diphthong,  dessen  an- 
fang  ein  offenes  o,  dessen  ende  ein  offenes  n  ist,  das  ich  hier  mit  y 
schreibe:  Also  z.  b.  tnoi/l  (magt),  soyn  (sagen),  froyn  (fragen),  woyn 
(der  wagen),  noyl  (nagel),  Iroijn  tragen  etc.;  der  gleiche  laut  vertritt 
mhd.  iu,  z.  b.  stoyro  (Steuer),  hoysora  (die  häuser),  o  loygat  (er  lügt). 
In  diesem  falle  also  hat  die  mundart  die  rundung  bewahrt,  eben  so  wie 
beim  kurzen  ü  (z.  b.  um  um,  büß  büffel),  während  die  entsprechungen 
des  mhd.  cp,  a,  üe  und  öu  entrundet  worden  sind. 


REINHART  FUCHS.  585 

schlesische  sich  hierin  mehr  zum  oherdeutsehen  hält.  Dass 
die  altschlesischen  quellen  e  sovvol  für  e  als  ce  schreiben,  be- 
weist für  7Aisammenfall  der  laute  nichts,  wie  schon  Riickert 
(Schles.  muudart  im  ma.  ed.  Pietsch  s.  28)  mit  recht  her- 
vorhebt. 

Im  october  1887.  W.  BRAUNE. 


REINHART  FUCHS. 

Der  neueste  herausgeber  des  Reinhart  K.  Reissenberger 
hat  s.  14  die  meines  wissens  zuerst  von  W.  Wackernagel  in 
seiner  litteraturgeschichte  aufgestellte  behauptung  widerholt, 
dass  das  ursprüngliche  gedieht  Heinrichs  den  titel  Tsengiines 
nol  geführt  habe,  während  der  Überarbeiter  den  titcl  in  Rein- 
hart fuchs  geändert  hätte.  Damit  diese  behauptung  nicht  sich 
festsetze  (vgl.  z.  b.  Reinke  ed.  Prien  s.  IX),  wollca  wir  kurz 
nachweisen,  wie  wenig  sie  begründet  ist. 

Die  in  betracht  kommende  stelle  lautet  (v.  1788  ff.): 

original  Überarbeitung 

der  ist  geheizen  Heinrich  er  ist  geheizen  Heinrich 

er  hat  diu  huoch  gclihtol  der  hat  diu  buoch  zesamene  geleit 

nmbe  Isingrtnes  not.  von  Isengrines  arbeit. 

Soll  hiernach  das  original  Isengrines  not  geheissen  haben, 
so  müsste  man  mit  demselben  rechte  schliessen,  dass  die  Über- 
arbeitung den  titel  führe  Isengrines  arheil.  Denn  letzteres  be- 
sagt ganz  dasselbe  und  ist  nur,  um  das  altertümliche  partic. 
getihtot  fortzuschaffen  (vgl.  z.  b.  v.  1697/98)  an  stelle  des  Origi- 
nals getreten.  Ein  büchertitel  liegt  aber  in  den  worten  Ishi- 
grines  not  oder  Isengrines  arbeit  an  dieser  stelle  keineswegs. 
Vielmehr  geht  der  dichter  dazu  über,  Isengrins  herbstes 
Schicksal,  seine  schindung  auf  anraten  Reinharts  zu  erzählen 
und  nimmt  dazu  einen  besonderen  anlauf  mit  den  worten 
V.  1784  ff.:  7111  vcrnemet  scltsceniu  dinc  und  vremdiu  mcere,  der 
der  Gltc]ies(rre  in  künde  gll,  si  sind  gewa'rlich,  worauf  die  obigen 
3  verse  folgen. 

Waekernagel  hat  sich  offenbar  durch  den  anklang  an  der 
Nibelunge  not  verleiten  lassen,  hierin  den  titel  des  gcdichts  zu  (in- 


58G  BRAUNE 

den.  Das  wäre  aber  uur  begreiflieb,  wenn  das  Nibelungenlied 
in  .seiner  fassung  AB  schon  vorhanden  und  ein  berühmtes  ge- 
dieht gewesen  wäre,  als  Heinrich  schrieb.  Daran  ist  aber  nicht 
zu  denken.  Beim  uraarbeiter  des  Reinhart  würde  man,  wenn 
er  heiujrines  not  eingeführt  hätte,  eher  eine  solche  reminiscenz 
für  möglich  halten  können. 

Dass  aber  das  alte  gedieht  seinen  uamen  nicht  von  Isen- 
grin  geführt  haben  kann,  ist  meines  erachtens  sicher.  Denn 
in  den  ersten  5  geschichten  (v.  11 — 384)  kommt  Isengrin  über- 
haupt noch  nicht  vor,  während  Beinhart  im  ganzen  gedieht 
die  erste  rolle  spielt.  Da  man  bei  der  ganz  mechanischen, 
nur  formell  glättenden  weise  des  umarbeiters  nicht  diesem 
die  ersten  5  erzählungen  wird  zuweisen  wollen,  so  ist  auch 
mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen,  dass  v.  1 — 10,  in 
welchen  Reinhart  fuchs  zum  beiden  des  gedichtes  erklärt  wird, 
schon  entsprechend  im  original  vorhanden  gewesen  sind,  dass 
demnach  auch  das  alte  gedieht  bereits  Reinhart  fuchs  ge- 
heissen  hat. 

Zum  überfluss  erweisen  uns  die  alten  fragmente  selbst  den 
Reinhart  noch  als  den  titelhelden,  indem  darin  alle  übrigen 
tiernamen  ausgeschrieben  werden.  Reinhart  allein  aber  durch 
R  —  dem  betreffenden  falls  flexionen  (R*"',  R'^)  angefügt  sind 
—  bezeichnet  wird.  Das  hat  schon  Jacob  Grimm  (sendschreiben 
an  K.  Lachmaun  s.  11)  richtig  gedeutet. 

Im  december  1887.  W.  BRAUNE. 


NACHl^RAG  ZU  MHD.  EIN. 
(ßeitr.  XI,  518;  XU,  393.) 

Bei  der  lectUre  der  3.  aufläge  von  R.  Hildebrands  buch 
vom  deutschen  Sprachunterrichte  (Leipzig  1887),  in  welcher 
s.  230  f.  der  demonstrative  gebrauch  des  mhd.  ein  unabhängig 
von  meinen  erörterungen  behandelt  wird,  drängte  sich  mir  der 
gedanke  auf,  dass  ich  selbst  zuerst  in  Hildebrands  Vorlesungen 
auf  jenen  gebrauch  aufmerksam  gemacht  worden  sein  dürfte, 
wahrscheinlich    mit   dem    hinweis   auf  die  bibelstelle:    Mch  bin 


NACHTRAG  ZU  MHD.  EIN.  587 

ein  guter  hiitc';  denn  an  diese  stelle  als  locus  classicus  knüpfte 
sich  mein  hcwusstsein  von  dem  Vorhandensein  des  gebrauchs 
an.  Wer  wie  ich  das  glück  gehabt  hat,  Hildebrands  fein- 
sinnigen erkläruugen  von  mhd.  dichtungen  zu  folgen,  der  weiss, 
in  wie  unzähligen  einzelheiten  da  das  genauere  Verständnis 
unserer  alten  spräche  bei  den  Zuhörern  gefördert  wird:  nicht 
aber  dürfte  jedem  nach  längeren  jähren  für  jede  einzelheit 
dieser  Ursprung  im  gcdächtnis  haften  bleiben.  So  wird  es  mir 
mit  jenem  gebrauche  des  mhd.  ein  gegangen  sein,  welchen 
zuerst  richtig  erkannt  zu  haben  ich  nun  als  ein  verdienst 
meines  hochverehrten  lehrers  R.  Hildebrand  ausdrücklich  hin- 
stellen möchte. 

Im  november  1887.  W.  BRAUNE. 


Beiträge  zur  gcscbiclite  der  deutschen  spiache.    XIII.  39 


GESCHLOSSP]NES  E  FÜR  E  VOR  ST. 

JJeitr.  XIII,  393  hat  Kaufifmaun  auf  gruncl  der  schwäbisch- 
alemannischen  ruuadaiten  die  annähme,  dass  c  vor  st  durch 
cüüsonantischen  einfiuss  zu  e,  werde,  als  nicht  statthaft  zu  er- 
weisen gesucht.  Dagegen  sind  einige  einwände  zu  erheben. 
Während  sonst,  auch  in  den  fällen  von  e  für  c  vor  i  das 
bairische  durchaus  mit  dem  schwäbischen  geht,  entspricht 
dem  Schwab,  ncsl,  welches  Kauffmann  als  gegenbeweis  anführt, 
im  bair.-öst.  nosl  und  diese  lautung  hat  anspruch  auf  ursprüng- 
lichkeit,  weil  sie  mit  mhd.  reimen  in  Übereinstimmung  ist  (vgl. 
Grimm,  Gr.  P,  139,  ferner  neste  :  geste  Rcinh.  635).  Ebenso 
hat  i'cst  (=  festuni)  im  tyrolischeu  (Schöpf,  Deutsche  mund- 
arten  III,  15)  und  nach  Frauck,  Zs.  f.  d.  a.  25,  220  auch  im 
schwäbischen  q,  und  Schmeller  belegt  (I,  849)  aus  dem  salz- 
burgischen Vestl  =  Sylvester.  In  der  alemannischen  mundart 
von  Ottenheim  (vgl.  Heimburger,  Beitr.  XIII,  218)  findet  sich 
nesdo  {n-estcn)  und  drsd^  <  dcstc  (neben  nmt  und  brccsd^ 
s.  219).  Für  n-cste,  welches,  so  viel  ich  weiss,  in  keiner  ober- 
deutschen mundart  vorkommt,  liegen  zahlreiche  mhd.  reime 
auf  e  vor;  so  allein  im  Iwein  :  beste  1721,  1791.  3901.  4065, 
:  veste  2543.  3769.  3901,  ;  geste  3317. 

Diese  fälle  lassen  nun  kaum  die  erklärung  zu,  welche 
Kauft'manu  für  giister  und  sw'ester  angewendet  hat.  Bei  ncst 
könnte  man  an  eine  einwirkung  der  pluralendung  -//•,  -tv 
denken.  Aber  sie  tritt  in  der  alten  spräche  nur  ganz  vereinzelt 
in  diesem  worte  an.  Der  erste  und  so  viel  ich  sehe  einzige 
beleg  während  der  alt-  und  mittelhochdeutschen  periode  —  er 
wurde  von  Lexer  in  seinem  Mhd.  wtb.  angezogen  —  findet 
sich  in  der  von  Joseph  Haupt,  Germ.  14,441  ff.  veröffentlichten 
alemannischen  evangelienübersersetzung,  Lucas  IX,  58.  Die 
nicderschrift  dieser  bruchstücke  stammt  aus  dem  zwölften  jähr- 


GESCHLOSSENES  A'  FÜR  E  VOR  6T.  589 

hundert.  —  Was  w'cslc  betriöt,  so  läge  die  Vermutung  nicht 
ferne,  dass  das  e  aus  der  durch  analogie  entstandenen  con- 
junctivform  wessi  (vgl.  Paul,  Mhd.  gr.  §  39  s.  17)  übertragen 
sei,  in  welcher  e  lautgesetzlich  wäre.  Aber  dann  müsste  auch 
in  nibd.  w'csse  c  vorliegen,  während  es  tatsächlich  mit  t^  reimt 
(;mc  Erec6787).i)-) 

Somit   wird   noch   an   der  annähme   consonantischen  ein- 
flusses  festzuhalten  sein. 


1)  Beitr.  XI,  5U.'5  habe  ich  auf  gruud  einiger  österr.  e  für  e  ver- 
mutet, dass  e  aus  wurzelhaftem  i  ursprünglich  geschlossen  war.  Da- 
nach würde  tvcste  nicht  streng  hierher  gehören.  Aber  es  sind  dazu,  so 
viel  ich  sehe,  keine  parallelen  in  anderen  mundartcn,  noch  beweis- 
ki'ättige  mhd.  reime  zu  finden.  Einmal  wird  allerdings  c  aus  i  ge- 
schlossen gewesen  sein;  aber  gerade  so  wie  e  (<)),  sobald  die  lautbe- 
dingungen  des  umlaut-6'  eintraten,  geschlossen  wurde  (Paul,  Beitr.  XII, 
54S  f.),  so  wird  auch  die  Weiterentwicklung  jenes  <•  zum  laut  des  c  laut- 
gesetzlich gewesen  sein,  da  ja  die  bedingungen  für  den  bestand  des 
alten  e  und  für  die  entwickUmg  des  c  aus  wurzelhaftem  i  dieselben 
waren.  In  jenen  fällen  im  österr.  dialekt  mag  durch  alte  uns  nicht  mehr 
erkennbare  analogiewirkungen  das  c  erhalten  worden  sein.  Dass  bei 
wcste  die  herkunft  des  t)  aus  /  nicht  die  Ursache  des  c  ist,  sehen  wir 
übrigens  schon  daraus,  dass  wesse,  wie  oben  gezeigt  wurde,  e  hatte. 

2)  Mhd.  esse  hat  umlauts-t-.    Vgl.  Osthoff,  oben  s.  3'.t8  f.  —  W.  B. 

WIEN,  am  7.  dczember  1887.  KARL  LUICK. 


39* 


ölJO  HÜLTHAUSEN,  NACHTRAG. 

NACHTRAG. 

1.  Ae.  mesl  hat  seinen  umlaut  wol  am  ehesten  dem  gegen- 
satz  t(fsl  zu  verdanken,  nicht  den  übrigen  'unregelmässigen' 
Superlativen,  wie  ich  Beitr.  XI,  556  angenommen  habe.  Weitere 
beispiele  für  lautliche  und  formelle  ausgleichung  von  bedeutungs- 
verwanten  oder  -gegensätzen  sind:  nnl.  leimen  'lehnen'  (statt 
'*lcnen)  nach  steunen  'stützen',  lit.  dehesis  'wölke'  (statt  '-^•nebesis) 
nach  dmvjUs  'himmel',  gr.  xh'wic,  'hüfte'  (statt  '^xkovvig,  vgl. 
lat.  clFmis;  skr.  cro  riis,  lit.  szlawüs,  anord.  /dann)  nach  yövv 
'knie',  nprov.  piboid,  pipoulo  'pappel'  nach  bedouUo  'birke' 
(Gröber  im  Arch.  f.  lat.  Lexikogr.  IV,  446),  vulgärlat.  ■''praeynis 
'schwanger'  (statt  praegnans)  nach  dem  gleichbedeutenden 
gravis  (Gröber  1.  c.  448),  afrz.  polture,  pouture  'kochtopf  nach 
dem  sinnverwanten  pature  ==  pastura  (1.  c.  452),  ae.  nujcel,  me. 
niHcliel  [d.  i.  mylsel]  'gross'  nach  lijlel  'klein',  und  umgekehrt 
got.  IcHds,  anord.  litiU  nach  mikds,  resp.  mikUl.  Wegen  weiterer 
beispiele  verweise  ich  auf  Beitr.  XI,  553  und  XIII,  367.  Es 
wäre  der  mühe  wert,  wenn  jemand  nach  diesem  gesichtspunkt 
die  verschiedensten  sprachen  und  sprachperioden  durchmustern 
und  den  gegenständ  ausführlich  erörtern  wollte,  denn  es  unter- 
liegt keinem  zweifei,  dass  dadurch  eine  menge  noch  unerklärter 
formen  ihre  einfachste  erledigung  finden  würden.  [Ich  kann 
jetzt  auf  die  hübsche  arbeit  Wheelers:  Analogy  and  the  Scope 
of  its  Application  in  Language,  Ith;ica,  N.  Y.,  1887,  verweisen, 
wo  auch  noch  weitere  beispiele  gegeben  sind.  —   15.  jan.  88.] 

i.  Beitr.  XIII,  372  z.  1 1  v.  u.  lies  -jTnu,  -jinö  statt  -^tnu, 
-ginö,  und  z.  8  v.  u.  lies  jinoz  statt  ginoz.  Es  war  übrigens 
gar  nicht  nötig,  das  wort  als  urs])rüngliches  compositum  zu 
fassen  und  darnach  die  ae.  form  hc^en  zu  erklären,  da  urags. 
'■^jlnu  ja  nach  bekannter  regel  seinen  endvocal  verlierend  zu 
*jln  werden  mussle;  vielleicht  wurde  das  pronomen  dann  erst 
mit  der  dual-form  bu  zu  einer  einheit  verschmolzen. 

LONDON,  Weihnachten  1887.  F.  HOLTHAUSEN. 


Bcrk'liligiing:  S.  Ibl  z.  15/1(),  bez.  29  lies  *polouli-s,  po-röuti-s. 


l>nick  von  Eliiliniat  Kaiia 


Viert  eljahrsclirift 

liir 

Litteraturge  schichte 

unter  Mitwirkung 

villi 

Erich  Schiiiidl  und  BernbaiMl  Supliaii 

lierauso-eo-eben 


Vnll 


Beruhard  Seutfert. 


Die  unter  dieseiii  Titel  vom  Jahre  IS88  an  eri>elieinende 
Zeitschrift  wird  vor  allem  Abhandkingen  über  neuere  deutsche 
Litteratur  enthalten. 

Sie  wird  mit  strenger  Auswahl  des  Bedeutenden  un- 
bekannte und  nicht  allzu  umfangreiche  Urkunden  und  Hilfs- 
mittel der  Litteraturforschung  veröffentlichen  und  womöglich 
zugleich  erläutern. 

Auch  kleine  Xachrichten.  kritisclie  und  exegetische 
Bemerkungen  wird  sie  bringen. 

Zusammenfassende  Berichte  über  neue  Erscheinungen 
sind  in  Aussicht  genommen. 

Die  Tierteljahrschrift  setzt  sich  keine  engen  Schranken 
der  Zeiten  und  Völker,  um  der  Entwicklung  der  heimischen 
Überlieferung  und  des  für  Deutschland  besonders  Avichtigen 
Verkehrs  der  Weltlitteratur  offen  zu  stehen.  Sie  verschliesst 
sich  aber  allem  nicht  streng  wissenschafthchen  Vergleichen 
und  Sammeln. 

Sie  sucht  philologisch -historische  Betrachtung  mit  der 
Pflege  ästhetischer  Studien  zu  vereinigen. 


In  Weimar  verlegt,  knüpft  die  Vierteljahrschrift  an 
die  dort  altvererhten  und  neubelobten  Bemühungen  an  und 
möchte,  ein  anderes  'AVeimarisches  Jahrbuch',  den  grossen 
Idealen  der  Litteraturgeschichte  im  Sinne  Herders,  Goethes, 
Schillers  dienen. 

Sie  strebt  das  'Archiv  für  Litteraturgeschichte'  zu  er- 
setzen und  will  die  selbständige  Ergänzung  der  'Zeitschrift 
für  deutsches  Alterthum  und  deutsche  Litteratur'  sein,  die, 
durch  ihre  CTOSchichte  vorwiegend  auf  die  ältere  Zeit  an- 
gewiesen, für  neuere  Litteratur  nicht  genügenden  Raum 
zur  Verfügung  hat.  Neben  ihr  und  den  'Beiträgen  zur 
Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Litteratur"  möchte 
die  Vierteljahrschrift  als  neue  Heimstätte  deutscher  Philo- 
logie stehen. 

Ein  Band  der  Vierteljahrschrift  für  Jjitteraturgeschichte 
wird  30  bis  40  Bogen  gr.  8  zählen.  Doch  sind  die  Hefte 
nicht  an  ein  bestimmtes  Mass  gebunden,  damit  die  Bei- 
träge rasch  zum  Drucke  gelangen  können.  Dem  Schlüsse 
jedes  Jahrganges  werden  genaue  Inlialtsverzeichnisse  bei- 
gegeben. 

Zuschriften  empfängt 

Prof.  Seuffert, 
Graz  (Steiermark)  Harracligasse   L 


Die  Vierteljahrschrift  für  Litteraturgeschichte  erscheint 
im  Verlage  des  Unterzeichneten.  Der  Umfang  eines  Heftes 
wird  7  bis  10  Bogen  zum  Preise  von  30  Pf.  für  den  Bogen 
betragen.  Jedes  Heft  soll  einzeln  berechnet  werden.  Der 
Subscribent  verpflichtet  sich  zur  Abnahme  eines  Jahrganges. 
Das  erste  Heft  wird  im  März  erscheinen  und  das  zweite 
Heft  bald  nachfolgen. 

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Hermann    Böhlau 
in  Weimar. 


Inlialt  von  Heft   1  und  i>. 


Jak.  Bächtold,  Hölderlin  in  der  Schweiz. 
Louis  Bobe,  Gln-istian  Wernigke. 

J.  Bolte,  Die  streitenden  Liebhaber,  eine  Gesangsposse  aus 
dem    1  7.  Jahrhundert. 

Derselbe,  Die  älteste  Fassung  des  Gaudeamus. 
Roh.  Box  berger.    Zum  zweiten  Theil  von  Goethes  Faust. 
Derselbe,  Maitre  Jacques  in  Goethes  Briefwechsel. 
Konr.  Burdach,   Zur  Geschichte  der  Faustsage. 
Derselbe,   Zu  den  Faustparalipomena. 
Th.  Distel,  Ein  Schreil)en  Gottscheds. 
Otto  Harnack,  Goethe  und  Wilhelm  von  Humboldt. 
Piud.  Henning,    Localc  und  litterarische  Beziehungen  zum 
5.  Acte  des  Faust. 

Otto  Holfniann,  Hamanns  Briefe  aus  Nicolais  Nachlass. 
Fr.  Jonas,    Zu  den  Tabulae  votivae. 
Piud.  K('igel,  Kleinigkeiten  zu  Goethe. 
Reinli.  Köhler,  Adams  erster  Schlaf. 
Wend.  von  Maltzahu,   Goethes  Prolog  zu  dem  Puppenspiel. 
Ernst  Martin,  Verse  in  antiken  Massen  zur  Zeit  von  Opitz 
Auftreten. 

Fr.  Meyer  von  Waldeck,  Der  Peter  Squenz  von  A.  Gry- 

pliius,  eine  Verspottung  des  Hans  Sachs. 
Jak.   Minor,  Christian  Thomasius. 

Derselbe,    Beiträge    zui-  Litteraturgeschiclite    des   17.  Jahr- 
hunderts. 

Aug.  Sauer,  Das  Phantom  in  Lessings  Faust. 

Derselbe,  Nachträge  zu  Bürgers  Gedichten   und  Bi'iefen. 

Erich    Schmidt,  Goethes  Proserpina. 

Derselbe,    Zu  Novalis. 

S.  Singer,  Der  Verfasser  der  Schildbürger. 

Phil.   Strauch,  Zwei  fliegende  Blätter  von  Caspar  Scheit. 

B.   Suphan,  Aus  ungedruckten  Briefen  Herders  an  Hamann. 

u.  s.  w. 


l'estc'Ilzcttcl  uinsteliciid. 


Unterzuichnetor  subscrüjirt  auf 

Expl.  der  Yierteljahrschrift  für  Littcraturgcschicht«'. 
Herausgegeben  unter  Mitwirkung  von  Erich  Schmidt 
und  Bernhard  Suphan  von  Bernhard  Seuffert. 
T.  Band.    (Verlag  von  Hermann  Böhlau  in  Weimar.) 


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3003 
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Bd.  13 


Beiträge  zur  Geschichte  der 
deutschen  Sprache  und 
Literatur 


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