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BKITIIÄGE ZUR GESCHICirrE
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HERMANN PAUL um, WILIllllJl HUAUNK.
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Xm. BAND.
HALLE »/S.
MAX NIEMEYER.
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INHALT
Seite
Der Stoff des spielmannsgedichtes Orendel. Von L. Beer ... 1
§ 1. Die drei sagen (s. 3). § 2. Charakteristiiv nnd kritik der
Müllenhoffschen theorie (s. 18). § 3. Die Milller-Uhlandsclie heim-
kehrgruppe und die totenreichtheorie (s. 35). § 4. Ausserdeutsche
analogien mit deutschen parallelen (s. 83). § 5. Ein hypothetisches
analogon (s. 99). § ß. Facit (s. 105).
Die entstehung des deutschen reimverses. I. Von E. Sievers . 121
Etymologische Studien über germanische lautverschiebung. Zweiter
artikel. Von S. Bugge .167
Der gott Bragi in den norrönen gedichten. Von demselben . . 187
Altnordisch v. Von H. Gering 202
Zu Beowulf 107 if. Von G. L. Kittredge 210
Grammatische darstellung der mundart des dorfes Ottenheim. Laut-
lehre. Von K. Heimburger 211
Zur kritik und erklärung des Winsbeken und der Winsbekin. Von
A. Leitzmann 248
Heinrich Gödings gedieht von Heinrich dem Löwen. Von P. Zim-
mermann 278
Etymologische Studien über germanische lautverschiebung. Dritter
artikel. Von S. Bugge 311
Ein neues bruchstück der niederrheinischen Tundalusdichtung. Von
F. Grimme 340
Bemerkungen zu den lausavisur der Egilssaga. Von Hjalmar Falk. 359
Miscellen. Von F. Holthausen 3(»7
Ueber uo = ö im Heliand. Von demselben 373
Graphische Varianten im Heliand. Von J. H. Galice 376
Ahd. leo, Uo, leuuo, louuuo. Von 0. Bremer 384
Zur theorie der entstehung der schwellverse. Von K. Luick . . 388
Geschlossenes e aus e vor i. Von Fr. Kauffmann 393
Etymologica l. Von H. Ost hoff 395
1. Got. ufaikan (s. 395). 2. Asche, esse (s. 396). 3. Flehen, gr.
Xaixüq, lat. lena (s. 399). 4. Fleisch, gr. kuQivöq, lat. läridum
(s. 401). 5. Fliehen, \ait. locusta, \it. lekiü (s. i\2). 6. Häher,
reiher {s. Wh). 7. i\nt. lumdugs. Vjy. ootföq, lat. /Wft^r (s. 41S).
IV INHALT.
Seite
8. Hanse, lat. Consus, cönsi/J (s. 425). ',). (Ger-)mar, s]av. (V/adi-)
mcrä, gr. {^y/_fol-)/ao(j()i:, an. nidr; mclir,meisl (ß. A',\\). 10. Oheim
(s. 447). 11. (lenu. S((/jt/n, gr. fAfä-, ?MT^nv (s. 4r)7). 12. Scha-
den, gr. aGXijih'jQ (s. 459). \'.i. Stehlen und hehlen (s. 4(iU).
14. T^vV/fc'« (s. 461). 15. Ziverch, gr. TtitaTiüSfq {9. \{\\).
Behaghels argumente für eine mittelhochdeutsche Schriftsprache.
Von Fr. Kau ff mann 4f>4
Zur altgermanischen Sprachgeschichte, (lermanisch ug aus uiv.
Von S. Bugge .•)04
Einige bemerkungen über ge- bei verben. Von P. Pietsch . . 516
Wurstener Wörterverzeichnis. Von 0. Bremer 530
Die <?-reime bei Opitz. Von E. Heilborn 567
Zu den deutschen <?-lauten. Von W. Braune 573
Keinhart Fuchs. Von demselben 585
Nachtrag zu \ü\\i\. ein. Von demselben 586
(üeschlossenes e für ii vor st. Von K. T.,uick 588
Nachtrag. Von F. Ilolthause n 590
DER STOFF DES SPIELMANNSGEDICHTES
ORENDEL.
Das (in dem zwölften jahihuudeit veifasste) spieimanns-
gedicht Orendel ist die (legendarische) Verarbeitung eines älte-
ren stotfes (nach E. H. Meyer, Zs. fda. XII, 387 ff. unter ein-
flechtung historischer tatsachen des zwölften Jahrhunderts i)).
Das ergibt sich aus folgenden er wägungen: 1. der name des
beiden ist in Urkunden zu verfolgen: zeitlich bis in das achte
Jahrhundert zurück, ethnisch bei Franken, Baiern und auf
italischem boden.2) 2. Die persönlichkeit des Orendel erscheint
als held zweier weiterer, im norden im 12/13. Jahrhundert auf-
gezeichneter sagen, welche, bei verhältnissmässig ursprüng-
lichem Charakter, unter einander wie gegen das erwähnte spiel-
mannsgedicht hinsichtlich des Inhaltes auffallend abweichen,
in einem masse, das bis zur annähme ihrer Unvereinbarkeit
geführt hat. 3. Der name des beiden erscheint angelsächsisch
bereits als appellativ, und zwar als ein appellativ von bedeut-
samer färbung.
Mit diesen Verhältnissen der Überlieferung ist der forschung
die aufgäbe gestellt, zu untersuchen: 1. besteht zwischen den
drei sagen, die sich des gleichen beiden berühmen, ein innerer
Zusammenhang: so nämlich, dass sie verschiedene abarten des
gleichen grundstoifes, oder aber verschiedene entwickelungs-
stufen desselben, oder endlich verselbständigte einzelne selten
der ältesten sagenform darstellen? 2. Wenn ein grundstoff
der drei bezeichneten sagen anzunehmen ist: ist derselbe ein
alter mythus? 3. Wenn die zweite frage zu bejahen: welche
') Eine andere ansieht begründet Berger in seiner neuen Orendel-
ausgabe.
^) MüUenhoff, Deutsche altertumsk. I, 33.
Beiträge zur geschichte der deutscheu spräche. XIII. 1
2 BEER
Stellung niniint derselbe ein in der g-esamtlieit der germanischen
niytheuniasseV 4. Bezüglich: welche Stellung innerhalb der
indogermanischen mythik i)?
Keine der vier fragen lässt sich unabhängig von der an-
deren lösen. • Denn gesetzt, den drei sageufornien liege ein
gemeinsamer mythus zu gründe, so ist das Verhältnis jeder
einzelnen zu der urgestalt erst nach der feststellung und
erörterung dieser urgestalt zu ermöglichen. Die erkenntnis
eines mythus als solchen und die deutung seines anschauungs-
gehaltes ist widerum bedingt von der Untersuchung seines Ver-
hältnisses zu der gesamten einschlägigen deutschen, und, unter
umständen, ausserdeutschen mythenmasse. Denn mehr und
mehr bricht sich seit den epochemachenden arbeiten von Kuhn,
Schwartz und Mannhardt die Überzeugung bahn, dass die deu-
tung eines mythus nicht dem nachempfindenden genie einzelner
dichternaturen oder dem Spürsinn ihrer nachtreter aufbehalten
ist sondern sich als das werk sorgfältig kritischer analogien-
sammlungen und vergleichungen darstellt, welche schliesslich
1) Unter dem namen mythik begreife ich den gesamten mythen-
bestand eines Volkes (bezügl. einer Völkergemeinschaft): im gegensatz
zu dem begriff mythologie, das ist der wissenschaftlichen Systematik
dieses mythenbestandes. Diese Scheidung erscheint heute um so an-
gebrachter, als die Wissenschaft nach missverstandenen klassischen
mustern zu der voreiligen annähme (bezüglich constiuction) eines ger-
manischen gütterhimmels geschritten ist, der sich nur nordisch (und auch
da erweislicher massen als das letzte erzeugnis einer ganz andersartigen
entwickelung), westgermanisch überhaupt nicht feststellen lässt. Der
von anderer seite vorgeschlagene name sagenkunde erscheint nicht an-
wendbar: 1. weil es sich beispielsweise in der indogermanischen mythik,
wie andrenorts ausführlicher dargetan werden soll, wahrscheinlich über-
haupt nicht um gebilde handelt, auf die der name sage in irgend einer
der bisher üblichen bedeutungen angewendet werden könnte, sondern
um die primitiven ansätze der sage, die naiv personificierten natur-
anschauungen ; 2. weil unter dem, in einer zeit unklarster wissenschaft-
licher anschaiiung eingeführten ausdruck sage beinah jeder mythologe
etwas anderes versteht. Mancher wird sich noch entsinnen, mit welcher
entrüstung Müllenhoff einen anfänger abkanzelte, der das wort sage in
einer anderen als der von ihm geprägten, keineswegs unanfechtbaren
bedeutung anwenden wollte. Bei jeder, besonders aber einer jungen
Wissenschaft handelt es sich vornemlich um eine feste, allen gemein-
same terminologie, und es ist zu empfehlen unabgenützte ausdrücke
strittigen benennungen vorzuziehn.
DER STOFF DES ORENDEL. 3
ZU einem erleuchtenden punkte führen, der die gesamte, um
ihn geschaarte iiberlieferungsmasse erhellt.
Die beantwortung der angeführten vier fragen bietet
somit nicht sowol die disposition, vielmehr den endzweck der
folgenden erörterungeu.
§ 1. Die drei sagen.
I. Die dänische sage.
Unter den nordischen Überlieferungen der Orendelsage ist
die, hinsichtlich der handschriftlichen tixierung, ältere die auf-
zeichnung in des Saxo Grammaticus Gesta Danorum III.i)
Horvendillus, der sehn des Gervendillus, war ein grosser see-
könig, das ist ein Viking, ein pirata. Damit erregte er den
eifersüchtigen hass eines anderen Viking, des königs CoUerus.
Als ihre beere zu beiden selten einer insel lagern, treffen sich
die beiden führer durch zufall, offenbar auf einer recognoscie-
rung.-) Unter ritterlichen bedinguugen wird ein Zweikampf
beredet und inmitten einer lieblichen frühlingslandschaft in
dramatisch dargestellter weise zu ende geführt. Koller fällt.
Darauf verfolgt Horvendillus noch seines feindes Schwester
Sela und tötet sie. Nachmals vermählt er sich mit einer
königstochter Gerutha. Nachmals wird er von seinem nei-
dischen bruder Fengo erschlagen, von seinem söhn Amleth
gerächt.
Die Gesta Danorum sind eine reichlich fliessende, aber
durch mancherlei üble zutaten getrübte sagenquelle. In dem
gedächtnis des dänischen mönches mischte sich ein buntes
durcheinander von sagen, das er mit möglichster Vollständig-
keit und in durchaus willkürlicher, mit eigenen poetisclien zu-
taten verbrämter darstellung und anordnuug dem leser unter-
breitete. So entstand ein historisierender roman, eine pseudo-
1) Bei Holder s. 85.
'^) Saxo berichtet: der liebliche anblick der afer hätte die beiden
führer veranlasst die insel zu betreten, der frühling^sherrliche anblick
des Waldes sie verleitet denselben zu durchstreifen. Der moderne natur-
sinn des civilisierten geistlichen und der innere drang, selbsttätig poe-
tische ausschmückungen zu den originalen vorlagen zu fügen, haben hier
deutlich das ursprüngliche übertüncht.
1*
4 BEEfe
ehrouik, zu einem guten teil auf grund : wahrscheinlich
einer umfangreichen traditionellen sagenkenntnis, nachweis-
lich einer ansehnlichen zahl verschiedenzeitiger und verschie-
denartiger, vielfach unvereinbarer lieder, die ebenso locker wie
willkürlich ineinandergearbeitet, vielfach missverstauden, viel-
fach rationalistisch ausgedeutet oder mit chronistenhafter phan-
tasie in das historische weiter ausgeführt und mit moralisie-
renden betrachtungen durchsetzt sind. Für ihre benutzung
sind folgende gesichtspunkte massgebend: 1. die lieder, aus
welchen Saxo schöpft, sind von sehr verschiedener Zuverlässig-
keit. Einige von ihnen sind unverkennbare spielmanusliederi),
motivieren auf das nachlässigste, mischen anderweitig ent-
nommene motive ein oder tragen vielleicht gar einem ver-
derbten geschmack frivole rechnung; es wird sich noch ge-
legenheit finden, ein beispiel für die letztere gattung anzu-
führen.2) Andere erweisen das gepräge eines höheren stils.
Einige sind durchaus modern empfunden und tragen ritterliche
Sitten in ein anders geartetes Zeitalter. Mit einem worte: die
lieder sind von ihren verschiedenartigen und verschiedenzeitigen
Verfassern individuell gestaltet und bereits mit accessorischen
elementen ausstaffiert worden. 2. Diese modificierten lieder
wurden von Saxo des weiteren verunstaltet, indem er sie
a) schlechtweg missverstand"'), b) einem inneren dichterischen
dränge folgend mit ausführlichen dialogen bereicherte'*), c) mit
den eigenen kindlichen motivierungen versah, d) zu einem
ganzen zusammenarbeitete, wobei er taten und menschen ziem-
lich willkürlich untereinander gemengt zu haben scheint.
Auf grund dieser beobachtung ist der kämpf des Horvendil
mit Koller nach rückwärts von der historischen anknüpfung,
nach vorwärts von der angeschweissten Amlethsage zu lösen.
') Vgl. die unten folgenden besprechungen der sagen von Hother
und Halfdan.
^) Gelegentlich der besprechung der Mitothinsage.
'■') Vgl. die analyse der Hothersage; ferner die Verschiebung des
dichterischen königstitels Gram (zu vgl. Uhland Schriften VI, 11 1 u. 112);
endlich die widerholte zweimalige erzählung der niimlichen sage, wenn
ein paar namen verändert sind: beispiele weiter unten.
*) Vgl. die langatmige anrede des Othinus an Bous a. a. o. H2 und
die analyse der Hothersage.
DER STOFF DES OKENDEL. 5
Seine eigensehaft als seekönig ist bedeutungslos bei einem be-
richterstatter, der mit Vorliebe seine beiden zu Vikingen maclft
und selbst den Hotber über Balder eiuen seesieg erfechten lässt.
Die zufällige begegnung auf der insel ist ein missverständnis
des in der nordischen Sagenwelt typischen Holmgangmotivs,
die begegnung auf der recognoscierung statlage nach beliebten
mustern, der ritterliche zweikamjjf mit dem, was darum und
daran hängt, eigentum des dichters der vorläge. Es bleibt:
1. Horvendillus ist der söhn des Gervendillus. 2. Horvendillus
besiegt und tötet den köuig Collerus. 3. Wahrscheinlich: der
kämpf findet in einem frlihling statt (darüber später). 4. Viel-
leicht: der weitere kämpf mit 8ela, b. Vielleicht: die Ver-
mählung mit Gerutha, sofern diese nicht in die Amlethsage
gehört. Von Uhlands versuch, eine beziehung zwischen ihr
und der eddischen Groa herzustellen, wird später die rede
sein. Sollte die Vermählung als dem originale zugehörig be-
trachtet werden, so würde die Wahrscheinlichkeit dafür sprechen,
dass der kämpf um den besitz der braut statt gefunden habe:
ein häufiges Holmgangsmotiv in nordischen quellen; um so
mehr, da die kriegerische eifersucht als motiv mit dem sce-
königtum steht und fällt und leicht einem missverständnis
Saxos entsprungen sein kann. Das ihm wörtlich oder inhalt-
lich gegenwärtige lied würde alsdann nichts enthalten hat)en
als den kämpf zwischen Horveudil, dem söhn Gervendils, und
Koller auf einer insel im frühling, mit einer Schlussbemerkung,
dass nachmals Horvendil und Gerutha sich vermählt hätten.
Alles dies wird andrenorts weiter erörtert werden.
II. Die norwegische sage.
Das siebzehnte capitel der Skalda knüpft an die i)äucr-
liche erzähkuig von dem kämpfe 'rii(»rs mit Hrungnir') die
norwegische Überlieferung der Orendelsage. Ein stück von
Hrungnis scldeifstein ist in Thors stirnc gedrungen und nicht
zu entfernen. Thor wendet sich an die zaubcrkuiidige Groa,
die frau Oervandils des kecken. Als ihre lieder den stein zu
lockern beginnen, will Tiior ihr den dienst mit froher botsciiuft
danken und verkündet ihr, er liabc, von norden her über die
') Der später erürtert wertlen wird.
6 BEER
Eliwagar watend, auf seinem rücken im korb ihren galten
Oervandil aus dem riesenbeini herübergetragen. Zum Wahrzeichen
führt er an, dass ein zeh jenem aus dem korb gestanden und
erfroren sei; den habe er an den himmel als einen stern ge-
worfen, welcher Oervandils zeh heisse. Bei dieser nachricht
ist Groa so erfreut, dass sie ihre lieder vergisst und der
Schleifstein stecken bleibt. Daran knüpft der erzähler die
mahnung, solche steine wegzuwerfen: dann rühre sich der
stein in Thors köpf. Diese ermahnung, die etwas dunkel ist,
nimmt, wie es scheint, auf einen volksbrauch bezug, der aber
jedenfalls nicht aus dem mythus herrührt sondern nur von dem
erzähler mit ihm in beziehung gesetzt wurde.
Die kritik und Charakteristik dieser erzählung und ihrer
quelle wird später statt haben, lieber das Verhältnis der namen
Oervandil und Orendel hat MüUenhoffi) erschöpfend gehandelt.
Die etymologie wird weiter unten zur spräche kommen.
in. Das spielmannsgedicht.
Das spielmannsgedicht Orendel ist eine complicierte er-
scheinung. Spät überliefert, gibt es der philologischen wie der
sagengeschichtlicheu kritik manches rätsei auf. Steht jene vor
einem verderbten, mehrfach interpolierten text, so muss diese
mit zahlreichen Umbildungen rechnen, die der stoff erfahren,
und mit zudichtungen, um die er bereichert wurde. Die zu-
dichtungen sind im wesentlichen: 1. vervielfältigende wider-
holungen des nämlichen abenteuers; 2. einführung von ander-
weitig beliebt gewordenen Situationen und motiven; 3. viel-
leicht: episodische einflechtung historischer beziehungen.2) Die
zweite klasse von Zusätzen ist durch analogiensammlung in
vergleichung zu den anderen erhaltenen Spielmannsdichtungen,
die dritte durch historische kritik auszumeizen; mit der ersten
gruppe muss man sehr vorsichtig umgehen; nicht allein, dass
sich schwer bestimmen lässt, welche redaction original, und
welche Vervielfältigung ist: es kann geschehen sein, dass in
dem köpfe des spielmannes zwei verschiedene fassungen der
nämlichen episode durcheinander geraten sind und, in ziemlich
') A. a. 0. 53; vgl. auch Eschmann, Zs. fda. XI, 169.
'■') Vgl. E. H. Meyer a. a. o.
DER STOFF DES ORENDEL. 7
paralleler und hinlänglich widersinniger gestalt, neben einander
ihre statte gefunden haben. Die kritik des spielmannsgedichtes,
soweit sie in diese sagenuntersuchung einschlägt, wird sich mit
der Wahrscheinlichkeit zu befassen haben, dass dem Verfasser
der vorliegenden Überlieferung verschiedene behandlungen des
Orendel Stoffes, wenn nicht als lieder, so dem Inhalte nach be-
kannt waren, die er für die herstellung der letzten ungeheuer-
lichen gestalt verwante; ein genetisches Verhältnis, das auch
für die Eudrun sehr lebhaft in erwägung zu ziehen ist.
Die vorliegenden erörterungen werden sich mit der gene-
tischen Untersuchung des spielmannsgedichtes nur insoweit be-
schäftigen, als es für die lösung der anfänglich gestellten auf-
gaben von nutzen erscheint.
Der Trierer königssohn Orendel ist heiratslustig. Das ist
die ausschlag gebende Situation, mit welcher der Oswald, der
Salman, der Rother beginnen, die in der Kudrun eine hervor-
ragende Stellung einnimmt und auch widerholt in das Nibe-
lungenlied hineinspielt.i) Gewöhnlich tritt der könig unter seine
grossen und befragt sie über die schönen der erde; aber Orendel
ist noch knabenhaft jung und hat einen regierenden vater,
den könig Oeugel; an ihn wendet er sich mit seinen wünschen.
Die antwort lautet in der regel: ich weiss eine schöne Jung-
frau, aber sie ist nicht zu gewinnen; und als begründung wird
gern angegeben: ihr vater gibt sie nicht her. Hier weicht
unser gedieht bedeutsam ab. Der könig weiss eine Jungfrau,
sie ist königin des heiligen grabes, sie ist auch zu gewinnen:
geh hin, wirb um sie und weihe dein leib und seel dem hei-
ligen grab. Also eine brautfahrt nach beliebten mustern, aber
individuell eine fahrt in das heilige land. Und so wird sie
denn auch eingeleitet: kein ritter soll zur teilnähme gezwungen
werden. Wer sich beteiligen will, der nehme — mau er
wartet, das heilige kreuz? nein, aber einen goldenen sporn
Die fahrt beginnt; es folgen zwei abcntcuer. Die Seefahrer
geraten in das klebcrmecr und kommen durch ein wunder
frei; sie werden von beiden angegrifi'en und siegen. Auf diese
') Um die beliebtheit der brauttahrten in der spieliuannspoesie zu
beurteilen, vergleiche mau die häufigkeit dieses motives in der iHÖreks-
saga. Auch bei Saxo findet sich einschlägiges.
8 BEER
bedeutungslosen episoden folgt der grosse schritt der hand-
lung: die ganze flotte versinkt im stürm, Orendel allein er-
reicht auf einer planke treibend das land.
Nackt und bloss findet ihn ein fischer, der ihm miss-
trauisch die aufnähme verweigert; auch als sich Orendel selbst
als einen gescheiterten fischer bezeichnet, schwindet sein arg-
wöhn nicht; er will erst die probe auf seine kunst machen:
Du willst ein fischer sein? wirf aus! ziehst du nicht gut, bist
du verloren. Der himmel legt sich in das mittel: das zweite
wunder geschieht: Orendel zieht eine gewaltige ladung.
Fischer Ise ist ein grosser herr; er hat eine bürg mit
sieben türmen, und achthundert fischer dienen ihm. Auf der
burgzinne empfängt ihn sein weib im kreise ihrer Jungfrauen:
wol eine typische Situation. Hier widerholt sich die gleiche
scene: die frau traut dem ankömmling nicht. Aber Ise ist
durch den fischfang gewonnen, und Orendel wird sein knecht.
Man darf die haudlung nicht fest anfassen. Das natür-
liche wäre gewesen, dass Orendel seinen stand und reisezweck
angegeben hätte; aber wo wäre dann das wunder geblieben!
und zudem wird der wunderbare fischzug folgenreich für die
ganze dichtung.
Der empfang durch die fischerkönigin ist nur eine breite
epische ausmalung der Situation. Zu dem greisen könig ge-
hört die königin. Ihr misstrauen gegen den ankömmling ist
begründet: seit unvordenklicher zeit ist kein fremder in diese
abgelegenheit gekommen: ein bemerkenswerter zug.
Diese und eine gleich folgende Situation waren trotz ihrer
nebensächliehkeit zu erörtern, weil Müllenhoff auf sie weit-
gehende Schlüsse gegründet hat.
In dem leibe eines der von Orendel mit göttlicher hülfe
gezogenen fische findet sich der graue rock Christi, der dem
legendarischen Überarbeiter des alten Stoffes (vielleicht nicht
dem letzten Überarbeiter, wie sich ergeben wird) das wichtigste
ist und nicht wider aus dem äuge schwindet. Orendel erbittet
ihn von seinem herrn; aber meister Ise tut nichts um gottes
willen, und Orendel hat kein geld. So muss er denn nackt
weiter arbeiten. Eine Interpolation erzählt freilich, das fischer-
ehepaar, in einer plötzlichen anwandelung von anstaudsgefühl,
habe auf bitten der frau dem knechte bekleidung gekauft, da-
DER STOFF DES ORENDEL. 9
mit er zu sankt Thomä Dicht nackt einhergehe i); aber gleich
darauf erfährt man, dass der junge könig noch ungebesserte
blosse erdulde, bis der himmel ihn mit geld ausstattet und der
geizige Ise, dem das himmlische angebet nicht genügt, durch
ein wunder zur herausgäbe des heiligtums gezwungen wird.
Damit ist das dritte Stadium der handlung erreicht:
Orendel hat seinen grauen rock 2), nimmt Urlaub und geht nach
Jerusalem. Unterwegs begegnet ihm noch ein abenteuer: er
wird von beiden eingekerkert, und die königin Maria muss
ihren söhn für ihren Schützling wider in bewegung setzen, wie
vormals bei dem klebermeer. In Jerusalem kommt er just zu
einem grossen turnei: die tempelherrn zeigen vor ihrer fürstin
ihre ritterlichen künste, und frau Bride, umgeben von ihren
Jungfrauen, schaut von der burgzinne zu. Es scheint aber,
dass auch heidnische könige an demselben teil nehmen; beiden
wie templer sind frau Bride Untertan, wenn auch die templer
die eigentlichen Schützer des grabes sind. Ja, es scheint, dass
es mit dem turnier eine besondere bewandnis hat: frau Bride
ist unvermählt, und die hohen taten, welche vor ihren äugen
') Aus der combination dieser lret)estat mit der Situation von
Orendels empfang bei der fischerkönigin folgerte Milllenhoft", dass dem
mythus, ähnlich der IlymiskviÖa (s. § 2) ein zug eigentümlich gewesen
sei, dass der gescheiterte Orendel von Ise mit gefährlicher feindschaft,
von seinem weibe mit schützender freundlichkeit aufgenommen worden
sei; sehr mit unrecht, einmal, weil die empfangssituation episodische
mache, das mitleid der fischerkönigin zu st. Thomä augenscheinliche
Interpolation ist; sodann weil, wenn eine der beiden darstellungen ur-
sprünglich sein soll, die erstere jedenftills für die zuverlässigere gelten
muss, der zu folge die fischerkönigin den Orendel nichts weniger als
freundlich aufnimmt.
^) Der graue rock ist undurchdringlich (v. d. Ilagen 729). Hieraus
eine unverletzlichkeit Orendels zu folgern, wäre im höchsten grade ge-
wagt. Der unverletzlichmachende rock tritt in der deutscheu sage mehr-
fach auf, aber immer so physiognomielos, dass er aus dem glauben er-
wachsen zu sein scheint, dass durch beobachtung gewisser heiligender
gebrauche ein unverletzliches gewebe herstellbar sei (vgl. Grimm, My-
thologie !t20). Das motiv der unverletzlichkeit hat überhaupt mit der
zeit immer melir an glaubwürdiger ursprünglichkeit verloren; der Achilles-
sage ist es nach Prellers nachweis (Gr. m. II, iiH'>, a. 1) accessorisch, für
die Sigfridsage zum mindesten anfechtbar, für die Baidersage ebenfalls
durchaus nicht über allen zweifei erhaben (s. u.).
10 BEER
vollbracht werden, sind ritterliche Werbungen um ihre minne;
Werbungen, die nicht unerhört bleiben, da sie dem nachmaligen
Sieger (Orendel) bereit ist ihre band zu reichen. Es ist dies
eine Situation, die ganz den höfischen anschauungen der zeit
entsprach; mau braucht nur an das waffenspiel vor Herzeloide
zu denken.
Als Orendel in seinem grauen röcklein das ritterliche
Schauspiel vor den äugen der umworbenen sich vollziehen
sieht, jammert er bitterlich, dass er in erzwungner Untätigkeit
zuzuschauen verurteilt ist. Hier hebt eine scene an, in wel-
cher durch das läppische gewand eines kindischen überarbei-
beiters ein liebenswürdiges talent schaut. Orendel findet zwei
briider beim brettspiel, zwei heidnische könige, welche für die
junge herrin sehr warme gefühle hegen. Der eine der milde
bruder, der andere der hochfahrende. Der milde stattet den
unscheinbaren graurock auf seine schmerzlichen bitten mit ross
und waflen aus, der hoffärtige, darüber erbittert, greift den
Jüngling an und muss sein leben lassen. Hier ist wirklich
eine tragische Situation vorhanden, die der Überarbeiter freilich
verzettelt. Zu bemerken ist: 1. Orendel verspricht dem bei-
den, falls er sein ross oder seine wafifen verliert, als eigen-
mann ersatz zu leisten. 2. Das ross des beiden ist ein wildes
tier, es hat ihm schon manchen knecht erschlagen; freundlich
mahnt er Orendel zur vorsieht. Orendel aber springt ohne
Steigbügel auf seinen rücken; ein kunststück, das noch mehr-
fach, und von anderen, berichtet wird. Auf beide umstände
baute Müllenhoff weitergehende Schlüsse.
In besitz von ross und waffen, stösst der junge held nie-
der, was ihm entgegentritt; aber wol lauter beiden, da er später
frau Bride versichert, er habe ihr keinen Christen erschlagen.
Die schöne königin staunt den furchtbaren kämpen an und
lässt ihn zu sich entbieten. Keiner kennt seinen namen, allen
heisst er nach seinem unscheinbaren äusseren der graurock.
Bescheidenlich lehnt er die ladung ab; er sei nur ein geringer
knecht. Die tempelherrn zürnen auf die königin ob dieser aus-
zeichnung und berufen einen feindlichen riesen, dessen Über-
windung Orendels waffenglanz nur steigert.
Nach solchen taten geht ihm die königin entgegen und
begrüsst ihn. Da wir eine legende vor uns haben, folglich
DER STOFF DES ORENDEL. H
eine göttliche fiiguug, weiss natürlich frau Bride die ankunft
ihres ihr vom himmel bestimmten gemahls voraus und ver-
mutet ihn in dem fremden; aber Orendel verschweigt seinen
namen. Wichtig ist bei dieser ersten Zusammenkunft die klage
der Bride: du erschlägst mir meine mannen, die mir das
heilige grab behüten sollen! und seine antwort: nein herrin,
ich erschlug dir keinen Christen; aber deine heidnischen knechte
tun übel an mir, ich schone sie nur um deinetwillen. i) Hier
stellt sich das obenerwähnte Verhältnis klar: Christen sind
die hüter des grabes, aber auch beiden die mannen der
Bride.
Ein zweiter heidnischer riese erscheint mit heeresmacht
und droht die Zerstörung des heiligen grabs, wenn ihm der
graue rock nicht ausgeliefert werde. Auch er wird bewältigt,
und nun geht frau Bride dem beiden zum zweiten mal ent-
gegen und redet ihn mit Worten an, die, zum teil typisch, im
gegensatz zu der begrüssung nach dem ersten riesenkampf
äusserst ursprünglich und frei von legendarischem klingen:
seid willkommen, herr graurock! wüsste ich euren namen,
würde ich euch gern anders nennen. Doch auch so sollt ihr
mein gemahl und könig sein. Nachdem ein engel die Ver-
mählung verhindert, und nach beliebten mustern das schwert
der beiden brautlager getrennt hat, ist ein dritter kämpf zu
bestehen gegen einen beiden, der aber diesmal seine heraus-
forderung in höchst charakteristischer weise begründet: er ist
nicht aus rauflust erschienen den grauen rock zu überwinden,
sondern als freier der frau Bride: sie soll sein eigen werden, der
graurock hängen; und zwar am burggraben soll er hängen, allen
bemerkbar. Die anschliessenden scenen sind dementsprechend
von durchaus individuellem gepräge. Die königin hat den
templern entboten, ihren eigenmann (d. i. Orendel) zu be-
schirmen. Aber die treulosen ritter haben ihn im stich ge-
lassen, so dass nur das persönliche eingreifen des heldenhaften
weibes den jungen könig in der höchsten not errettet. Wie
die tempelherrn die königin im kämpfe sehn, eilen sie auf das
Schlachtfeld. Aber frau Bride, auf das höchste erbittert, steht
im begriff sich wider ihre eigenen mannen zu wenden; es ist
1) Bei V. d. H. 1443 tf.
12 BEER
zu erwarten, dass sie in dem originalen gedieht nicht ganz
allein, wie es lediglich die wunderwut der legende forderte,
ihren hehlen herausgeschlagen habe, den treubrüchigen folglich
mit wenigen getreuen gegenübersteht; ein blutiger kämpf
scheint unvermeidlich: da gibt sich Orendel zu erkennen, und
die hoheit der Situation schimmert noch durch die kindereien
des Überarbeiters. Die tempelherrn beugen und unterwerfen
sich, und Orendel besteigt den tron.
Und, sollte man erwarten, herrscht fortan glücklich und
in frieden? Da erscheint der fischer Ise und fordert seinen
knecht zurück. Frau Bride kauft Orendel los, und reich be-
schenkt zieht Ise von dannen. Aber kaum ist er fort, tritt
Orendel vor die königin und kündet ihr an, dass er zu seinem
herrn zurückkehren müsse. Um dies zu verhindern, wird Ise
von neuem berufen. Er erscheint in grauem rock, sein rüder
in der band, riesisch, die brauen zwei spannen von einander
entfernt. Frau Bride macht ihn zum herzog und hüter des
heiligen grabs.
Hier sind zum ersten mal augenfällig zwei Versionen in
einander geraten. Entweder Ise kommt Orendel zu holen und
frau Bride kauft ihn los, oder Orendel fühlt sich verpflichtet
zu Ise zurückzukehren, und frau Bride lässt diesen holen, den
gemahl zu lösen; herzogswürde und der rang des grabschützers
sind nur legendarische mittel diesen zweck zu erreichen. Spä-
tere erörterungen werden wahrscheinlich machen, dass die
zweite wendung, in welcher sich auch die charakteristische und
altertümliche Schilderung Ises befindet, die ursprünglichere ist;
nur ist natürlich von der art der entschädigung abzusehen.
Hier, wo der erste grosse abschnitt in der handlung ist,
muss einen augenblick halt gemacht werden. König Orendel
unternimmt nach berühmten mustern eine brautfahrt über das
meer. Diese fahrt ist eine ostfahrt, legendarisch gleichzeitig
eine wallfahrt zum heiligen grabe. Auf dieser ostfahrt schei-
tert er im stürm und treibt an ein land, wohin seit menschen-
gedenken kein lebendes wesen gekommen ist; ein fischerkönig
von riesischer gestalt nimmt ihn als knecht an; der knecht
findet in einem fischleib einen heiligen rock, mit dem bekleidet
er seine orientfahrt fortsetzt. Er kommt nach Jerusalem ge-
rade zu einem furnier, in welchem die mannen und umwerber
DER STOFF DES ORENDEL. 13
der jungen königin ihre künste zeigen, vielleicht: um ihr herz
zu gewinnen. Eine dramatische seene folgt: ein milder heide
stattet ihn aus mit ross und waffen, aber er muss den hof-
färtigen bruder seines woltäters erschlagen. Er ist der sieger
im turnier, die königin wird auf ihn aufmerksam. Es folgt
der erste, ganz physiognomielose kämpf mit einem heidnischen
riesen, noch eingeschoben vor der ersten begegnung mit der
königin, wahrscheinlich nur eine interpolation , eine Verviel-
fältigung der folgenden. Die erste begegnung gehört der
legende an: frau Bride ist durch himmlische Offenbarung über
Orendels kommen unterrichtet; er aber gibt sich nicht zu er-
kennen. Der zweite kämpf ist abermals physiognomielos;
aber wichtig ist die zweite begegnung mit Bride durch ihr be-
kenntnis, dass sie nicht wisse, wer der fremde held sei. Trotz-
dem begehrt sie ihn zum gemahl. Der dritte kämpf ist aus-
schlaggebend: 1. der riese verlangt Bride zum w-eib und hasst
den graurock als nebenbuhler. 2. Es folgt eine äusserst wirk-
same und dramatisch durchgeführte handlung, deren inhalt ist,
dass Orendel, durch den verrat von Brides mannen in die höchste
not gebracht, durch Brides treue gerettet, sich in dem augen-
blick, wo die erbitterte Bride (mit wenigen getreuen) sich auf
die ungetreuen stürzen will, zu erkennen gibt und, sofort als
rechtmässiger herrscher anerkannt, den thron besteigt. Durch
diese zwei eigentümlichkeiten ') gibt sich der dritte kämpf als
Urbild der beiden ersten zu erkennen; aus dem zweiten ist
vielleicht das bekenntnis der Bride, dass sie den graurock
nicht kenne, und ihr begehr nach seiner band als züge des
Originals herauszuheben, die aber nicht von anfang an neben-
einander gestanden zu haben brauchen.
Sehen wir ab von typischen spielmannssituationen und
legendarischen zügen, so bleibt als ergebnis: ein held scheitert
auf einer ostfahrt, gelangt nach längerem knechtesdienst in
unscheinbarem gevvande, von niemand gekannt, zu einer um-
worbenen königin, besiegt deren ungestümen oder ungestüme
freier und besteigt als ihr gemahl den thron.
Hinzuzufügen ist, dass Orendel in die knechtschaft Ises
zurückzukehren sich verpflichtet fühlt, aber durch seine ge-
1) Die zweite wird nocli weiter unten gewürdigt werden.
14 BEER
mahlin losgekauft wird. Was an diesem zuge ursprünglich
sei, wird später erörtert werden.
Der legendarische tiberarbeiter führt die handlung weiter.
Ihm ist der graue rock Christi die hauptsache, der nach Trier
gelangen muss. Ein engel verkündet dem Orendel, dass seine
Vaterstadt in heidnischer bedrängnis schwebe; in begleitung
von frau Bride, seiner unberührten gemahlin, eilt er zum ent-
satz herbei. An dieser fortführung sind zwei umstände wesent-
lich wegen der folgerungen, die man daran geknüpft hat:
i. (2906 flf.) frau Bride übergibt die hut des heiligen grabes
zweien herzögen, ehemaligen beiden, die sich dann haben
taufen lassen. Vielleicht ist es ein interpolator, der hinzu-
bemerkt: nachmals verkauften sie das grab an die bei-
den um einen schätz. 2. Orendel und die seinen sollen
herrlich ausgestattet werden. Ise macht sich auf nach einem
Strand, an dem er apfelgraue rosse hat laufen sehen; er jagt
sie mit seiner furchtbaren ruderstange, aber es gelingt ihm
nicht, sie ohne die hülfe ihrer eigentlichen herrn zu fangen.
Das bild des riesigen, fürchterlich einherschreitenden graurocks,
der die apfelgrauen rosse am strande mit der ruderstange vor
sich herjagt, hat Müllenhoffi) mit recht hervorgehoben als ein
altes und ursprüngliches; über die Schlüsse freilich, die er
daran knüpfte, lässt sich streiten.
So ist denn der graue rock nach Trier gelangt, und hier
dürfte die legende schliessen. Sie scheint auch hier geschlos-
sen zu haben in dem text, der dem Verfasser des Strassburger
heldenbuchs^) zu obren gekommen war: 'und kam wider gen
Trier, und starb auch zu Trier, und liegt auch zu Trier'. In
der auf uns überkommenen bearbeitung hat die legende einen
fortsetzer gefunden, der sie vielleicht auch mehrfach interpo-
liert hat^); dieser letzten band war es lediglich um eine mög-
lichst reichhaltige abenteuererzählung zu tun. Ein träum be-
lehrt frau Bride, dass das heilige grab in den bänden der
beiden ist. Die Trierer beiden eilen nach Ackers, die reli-
quie zurücklassend. Von Ackers zieht frau Bride dem beer in
1) A. a. o. 41.
2) S. v. d. Hagen: der graue rock V.
3) Bei der späten handschriftlichen Überlieferung ist ein philologi-
scher beweis nicht zu führen.
DER STOFF DES ORENDEL. 15
pilgerkleidern voran i), um zu sehen, wie es in ihrem lande
steht. Ein herzog Daniel und sein bruder könig Wolffhart
nehmen sie gefangen und führen sie auf die bürg eines königs
Minolt, welcher ihre minne begehrt und den graurock hängen
will.2) Bride erklärt sich bereit sein weib zu werden, wenn
er sich taufen lasse.^) Darauf übergibt er sie einem ritter,
der sich anheischig macht, sie durch misshandlungen zu zwingen,
dass sie mit ihrer minne minder karge.4)
Orendel, durch einen pilger von dem geschicke seines
weibes benachrichtigt, macht sich mit heeresmacht auf, lagert
aber seine leute in einen hinterhalt (nach beliebten mustern)
und gelangt mit Ise in pilgertracht durch die hülfe eines treuen
christlichen torwartes in die bürg des königs Minolt. Es folgt
eine äusserst dramatische scene. Der torwart, der die beiden
nicht kennt und sie als boten gebrauchen will, um könig
Orendel das Schicksal seines weibes wissen zu lassen, erbittet
von Minolt ein freundliches geleit für seine schwestersöhne,
als welche er die fremden beiden ausgibt. Der könig, nach
bekannten mustern durch träume gewarnt, fordert ihn auf, so
lieb ihm seine huld, die fremden vor ihn zu führen. Der
könig: seid willkommen, ihr waller! wo habt ihr den grau-
rock und meister Ise gelassen? sagt mir die Wahrheit. Ise:
herr, wir kennen sie nicht, nach denen ihr fragt! Minolt (mit
einer heftigen Verwünschung, die aber unverständlich über-
liefert ist): ihr seid es selbst, nach denen ich gefragt habe!
was schafft ihr in meinem lande? Ihr müsst beide sterben.
Er lässt frau Bride bringen: wenn sie die pilger kennt, wird
sie dieselben willkommen heissen. Hört, frau Bride, sagt der
könig, begrüsset diese leute, sie hat der graurock gesant!
1) Ein beliebtes motiv; nicht allein Salman als pilger ist heranzu-
ziehen: eine ganze sippe von Volksliedern, -sagen und -märchen alten
gepräges, des inhalts, dass eine gattin in pilgertracht auszieht, ihren
in der ferne bei den Türken gefangenen gemahl zu befreien (bis nach
Siebenbürgen zu verfolgen).
2) Zu vergleichen die nämliche formel in dem dritten riesen-
kampf.
2) Eine offenbare entstellung.
*) Hier ist bekannter boden. Die gefangene Jungfrau, die nicht
ihres vergewaltigers weib werden will, ist aus der überlieferten gestalt
der Kudrun und, ähnlich, aus dem Karl Mainet 159, 38 f. bekannt.
16 BEER
Aber Bride nimmt sich zusammen: ich sah sie nie! und, da
sie fühlt, dass der könig seine feinde erkannt hat, setzt sie
schnell hinzu: wenn ich nun dein weih werden wollte, würdest
du diese männer ziehen lassen? Minolt weicht aus: und wäre
diese bürg silber und gold, sie sollte dir Untertan sein! Aber
Bride steigert: und wenn ich nun dein weib würde, und der
graurock wäre da, würdest du ihn am leben lassen? Da
bricht der könig los: so wäre mir sein tod doch erspriesslicher!
den muss er auch erleiden, das wisse gewiss! und dagegen
das hochherzige weib: so behüte mich gott, dass ich von mei-
nem ersten gemahl Hesse! Wie der graurock sieht, dass er
erkannt ist, springt er zu den waffen, reisst das schwert heraus
und ruft: könig, hier geht eine enge pforte aus, die hab ich
dir verstanden! und hilft dir nicht der teufel durch, du stirbst
von meinen bänden! Der könig flieht, Orendel, Ise, Bride, der
pförtner stürmen nach, die beiden laufen hinzu — und alle
werden gefangen.
Hier bricht in mitten eines kindischen sagengewirrs eine
grossartige dichtung durch. Die gefangenen werden natürlich
durch das zu hilfe eilende beer gerettet; ob hier eine Um-
arbeitung nach spielmännischen mustern vorliegt und Orendel
ursprünglich sofort den könig erschlägt, ist kaum zu entschei-
den; sicher aber ist, dass dem fortsetzer der legende ein selb-
ständig bestehendes und bedeutendes gedieht auf Orendel vor-
lag, dessen Inhalt war: Orendels weib wird von einem stür-
mischen freier in banden gehalten; der in pilgertracht un-
erkannt heimkehrende gatte erschlägt den buhler und befreit
sein weib.
Und zwar lag diese sagenform dem fortsetzer in zwei
Versionen vor. Das ergibt sich, indem es 1. ein Widersinn ist,
dass der könig Wolffhart die gefangene Bride einem anderen
könig überlässt, der nun seinerseits ihre minne begehrt; 2. der
pilger dem Orendel ausdrücklich berichtet (3327 ff.), dass könig
Wolffhart seine gefangene auf eine bürg geführt habe, wo er
sie zur ehe zwingen wolle; 3. sich an das erzählte abenteuer
eine scheinbare widerholung des nämlichen motivs schliesst:
als die heimkehrenden sieger nach Ackers kommen, nimmt
Bride pilgerkleider und zieht nach Jerusalem. Beim opfern
an heiliger statte wird sie von einem beiden Durian erkannt
Der STOFF DES ORENDEL. 17
und dem könig Wolffhart ausgeliefert, welcher ihre minne
verlangt. Nachdem sie ihm diese verweigert hat, trinkt der
könig einen Schlaftrunk und wird von eben jenem Durian,
den plötzlich die ehrlichkeit angekommen sein muss, erschlagen,
Durian wappnet frau Bride, sie schlägt dem pförtner das haupt
ab, stellt sich vor die geöffnete pforte und lässt Orendel ver-
melden, das grab sei gewonnen; er kommt dann sogleich (von
Ackers?!), dringt ein, und innen erhebt sich ein grosses blut-
bad. Die reine form beider Versionen von einander zu schälen,
ist nicht möglich. Das motiv, dass Bride gewappnet vor die
pforte tritt, kommt in weit ursprünglicherer und dramatiischerer
form in der ersten, freilich im übrigen nicht allzuklaren Situa-
tion vor. König Minolt ist in einen türm geflohn, die ver-
folgenden Christen sind, wie es scheint, mit ihm in demselben
eingeschlossen. Als das beer Oreudels von aussen die bürg
angreift, übernimmt Bride, die pforte des turmes zu wahren
und eine flucht Minolts zu verhüten, während die drei männer
in den burghof ausfallen, Ise dem pförtner das haupt abschlägt,
die pforte sprengt und die anhänger einlässt.
Müllenhoff hat die Wichtigkeit dieser episoden des letzten
gedichtteiles hervorgehoben, aber ihre ursprüngliche Selbständig-
keit nicht erkannt, gemäss seiner annähme, dass das lied in
seiner vorliegenden gestalt im wesentlichen die einzügige nieder-
schrift des nämlichen dichters sei, der, einen alten stofl" in eine
legende umwandelnd, einzelne alte, echte teile durch das ge-
dieht hin versprengte, welche die litterarische kritik nunmehr
wider zusammen zu lesen habe. Zu diesen verstreuten schätzen
rechnet er auch die obige handlung, behandelt sie aber in einer
durchaus willkürlichen weise, indem er als ihre quintessenz
hinstellt, dass frau Bride auf ihrer pilgerfahrt von den treu-
losen hütern des grabes gefangen genommen, ja, der zwei-
ten Version zu folge gar dem ungetreuen Statthalter von Jeru-
salem übergeben worden sei. Diese darstellung vergewaltigt
die ausdrückliche auffassung des gedichtes, nach welcher Jeru-
salem von zwei christlichen herzögen an die beiden ver-
kauft worden sei, und der gemäss Bride auf der reise nach
dem heiligen grab von den beiden, und zwar von dem
könig Minolt oder aber dem könig Wolffhart aufgegritien
wurde.
Beiträge zur gescliichte der deutschen spräche. XIII. 2
18 BEER
Ma^r man übrigens über diese versprengungstbeorie Müllen-
hofis abweicbender meinung sein: Jedenfalls wird man anzu-
erkennen haben, dass seine erörterung der Orendelsage das
bedeutsamste oder das einzig bedeutsame ist, was über diesen
stoti' geschrieben wurde; und da seine auffassung des 0er-
vandilmytbus bei manchen Wunderlichkeiten und willkürlich-
keiten einen äusserst fruchtbaren gedanken enthält, ist sie
näher in das äuge zu fassen.
§ 2. Charaliteristik und kritik der Müllenhoifschen
theorie.
MüUenhofts Orendeluntersuchung ist eine gelegenheitsarbeit:
gelegentlich einer Isolierung des der Odyssee zu gründe liegen-
den alten nostos fällt ihm ein merkwürdiger parallelismus
zwischen den Schicksalen des Ithakers und des Trierer königs-
sohns auf. Diese entdeckung verfolgt ihn auf schritt und tritt;
ihr zu liebe bemisst er nach den sieben jähren') des Kalypso-
abenteuers den griechischen winter statt auf vier auf sieben
monde; sie lässt ihn bei dem treuen torwart vor Minolts bürg
an Eumaios, bei der ankunft Orendels zu dem templerturnier
an die spiele der freier bei Odysseus ankunft denken. Die
Odyssee ist ihn» eine schiffersage, und, von dem parallelismus
befangen, zwingt er auch den Orendelstoff zu einer schiffersage
zu recht.
Odysseus ist auf einer grossen fahrt gescheitert; sieben
jähre hat er auf einer entlegenen insel weilen müssen; in an-
deren abenteuern ist diese fesselung an ein fernes gestade in
andere formen geprägt worden. Als er endlich in unkennt-
licher bettlergestalt heimkehrt, findet er sein haus von freiem
wimmelnd; er erlegt sie und tritt in seine alten rechte als ehe-
herr und landesfürst ein.
Der norwegisch-isländische Oervandill2) weilte auch in der
') Die siebenzahl , die uns auch in vielen deutschen Versionen be-
gegnen wird, ist in den seltensten füllen mythisch auszulegen; sie ist
eine jener althieratischen zahlen, welche die stehende bemessung eines,
durch andere umstände nicht begrenzten Zeitraums abgeben. Eine deu-
tung auf die sieben wintermonate ist nur in überzeugungskräftigen
fällen zulässig.
^) Die dänische fassung der sage lässt Müllenhoff als für seinen
zweck untauglich bei seite.
DER STOFF DES ORENDEL. 19
ferne, im riesenland jenseits der Elivagar: über diese hat ihn
Thor zurückgetragen, und seine heimkehr steht bevor. Wie
sie sich vollzieht, wird nicht erzählt: wie Oervandill zu den
riesen gekommen ist, ebensowenig. Aber gesagt ist: er wird
zu seinem weihe zurückkehren. Die Vorgeschichte und das
nachspiel ergänzt Müllenhoff aus dem deutschen gedieht.
Umgekehrt will er auch mit der nordischen Überlieferung
die deutsche ergänzen. Dass Orendel eine fahrt nach dem
heiligen grab unternahm, ist eine concession an den Zeit-
geschmack, dass er eine brautfahrt unternahm, eine spielmanns-
schablone. Der spielmann berichtet: er ist erst gescheitert und
dann könig und eheherr der frau Bride geworden. Der stoff
soll gelautet haben, er war erst Bridens könig und eheherr
und ist dann gescheitert. Die brautfahrt des gedichtes ist eine
heimkehr in der sage; wie Odysseus findet er ein haus voll
freiem, das er säubern muss. Mit diesem Säuberungswerk ist
die geschichte eigentlich zu ende.
Vergleicht man die nordische und die deutsche quelle,
liest in letzterer die echten bestandteile zusammen und zieht
das facit, so soll es lauten: könig Oervandill geht auf reisen.
Er gerät in das klebermeer, das nach erweislichen britischen
anschauungen das geronnene meer des Pytheas nördlich von
den Orkaden um den polarkreis ist, jenseits dessen das eis-
meer des Adam von Bremen beginnt. Jenseits dieses eismeers
wohnt nach der HymiskviÖa am ende des himmels der riese
Hymir, der dämmerer, zwischen den eisbergen in weiten hallen
wie ein fürst, umgeben von vielköpfigem, ihm gehorsamem
Volke, der täglich auf fischfaug zu gehen scheint, und dem zur
Seite eine schöne, allgoldene, weissbrauige frau freundlich sich
gegen fremde gaste bezeigt, wie es Thor und Tyr bei ihrer
fahrt nach dem kessel erfahren. Von einer anderen fahrt
Thors über die Elivagar (das ist eben das eismeer) als dieser
letzteren ist Müllenhoff nichts ])ekannt; er folgert also, dass
Thor von der fahrt zu Hymir den Oervaudil mitgebracht habe.
Und welche aualogie in der Situation! Hymir fängt fische,
Ise desgleichen; den weiten hallen des ersteren, einem bilde
getürmter eismassen, entspricht die siebentürmige bürg des
letzteren; der gegen fremde gütigen leuchtenden kebse des
nordischen riesen die frau des fischers, welche dem nackten
20 BEER
knecht später kleider kcauft.i) Wenn Orendel aus dem kleber-
meer wider freikommt, ist das willkür des diehters; nach
Miillenhoff bleibt er unerlöst. Ise, der riesische greis mit der
ruderstauge, ofl'enbart sich durch seinen namen als eisriesen
und durch . seine achthundert Untertanen als riesenkönig, wie
ja auch Hymir nach Müllenhoflf ein riesenkönig ist. Mit einem
Worte: Oervandill und Orendel sind beide im eismeer geschei-
tert; und wenn den gescheiterten Oervandil Thor heimführt,
so erinnert das Miillenhoff wider an Hermes, der die heimkehr
des Odysseus veranlasst.
So wol wird es allerdings Orendel nicht, auf eines gottes
schultern heimzukehren; hier reicht also das licht der eddi-
schen Überlieferung nicht hin, die rätsei der deutschen sage zu
erhellen. Aber diese selbst bietet zwei momente, deren Ver-
knüpfung ein Müllenhoff befriedigendes resultat ergibt. Orendel
erhält, um an dem turnier vor Bride teil zu nehmen, von einem
beiden ein wildes ross geliehen mit dem beding, falls er es
im Wettspiel verliert, mit seiner person einzustehn. Er
verliert es nicht; aber der beide nennt ihn später in eifersüch-
tigem zorn seinen knecht. Ferner: auf der fahrt nach Trier
jagt Ise an einem strande eine hin- und widerlaufende apfel-
graue rossheerde mit seiner ruderstange auf, um Orendel ein
ross zu fangen. Nimmt man hinzu, dass Orendel öfters ein
fische rkne cht genannt wird, und dass Ise erscheint seinen
knecht zu holen und Orendel sich erbietet in seine knecht-
schaft zurückzukehren, so ergibt sich: Ise hat, um Orendel
die heimkehr zu ermöglichen, eines seiner grauen rosse am
strande gefangen und ihn über das meer geführt, unter der
bedingung, dass er wider als sein knecht heimkehre.-) Das
turnei der templer bietet die Situation von Orendels heimkehr,
^) Hierüber s. 9 a. 1.
-) Nach Müllenhoö' hätte sich diese Situation gespalten, und die
bruchstüciie schienen hier und dort aufzutauchen, etwa wie schiflfstrüm-
mer auf den wellen eines meeres: hier ein liöaig, der dem Orendel ein
ross leiht, wenn er sich zur knechtschaft verpflichtet; dort Ise, der dem
Orendel ein ross fängt. Ist aber diese anschauung nicht sehr über-
zeugend, so ist es schlechthin unwahrscheinlich, dass der spielmann sich
eine so schöne, phantastische Situation hätte entgehen lassen, wie:
Orendel von Ise durch die luft auf einem wunderpferd geführt!
DER STOFF DES ORENDEL. 21
der kämpf mit den riesen ist durchweg dichterische zutat, aus-
einanderzerrung- der katastrophe; diese selbst ist erhalten in
den beiden schwungvollen Situationen der pilgerfahrt Bridens:
Bride in den bänden treuloser vasallen, Bride die pforte wah-
rend und niemand ein- noch auslassend, während Orendel
darinnen das werk der räche vollbringt: natürlich wider wie
Telemach und Odysseus; auch hier sitzt Müllenhoff sein paral-
lelismus als der schelm im nacken.
Und die deutung? Oervandill ist ein compositum, dessen
erstes element aur sich mit der bedeutung des feuchten nach-
weisen lässt; er hat einen vater Oeugel, dessen etymologie
über Ouwilo auf ouwa ^= wasserland, wasserlauf führt. Folg-
lich ist die bedeutung des ersteren namens: der auf dem
wasser umfahrende; ein rechter Odysseus-name. Sein weib
heisst eddisch Groa, und gröa heisst grünen, wachsen; folglich
ist sie ein chthonisches wesen. Da nun Bride Orendels frau
ist, so ist sie ebenfalls ein chthonisches wesen.*) Vor der
heimkehr des Oeivandil hat Thor dessen erfrorene zehe an
den himmel geworfen; folglich geht das erscheinen des sterns
Oervandilstä der heimkehr des beiden vorauf. Diese knüpfung
seines erscheinens an das erscheinen eines sternes ist ein neuer
beweis für die natur der sage als eines schiffermythus. Da
nun der Orendel des spielmannsgedichtes aus der knechtschaft
kommt und wider in die knechtschaft zurückkehren muss, so
ergibt sich: der sommerliche held ist an eine riesische, ihm
entgegengesetzte macht gebunden und ihr verhaftet, weil die
zeit seiner herrschaft, beschränkt auf die sommermonde, der
winternacht erliegt. Im sommer, wenn die see fahrbar ist,
kann er auf dem meere schweifen; im winter versinken seine
schüfe, und er verfällt der macht des eisriesen, welcher als-
dann das meer beherrscht und seine apfelgrauen rosse zahllos
am strande laufen lässt. Unholde gesellen, die winterlichen
stürme, nehmen indes besitz von des beiden reich und weib,
umbuhlen, misshandeln dieses vielleicht. Mit dem lenz aber
1) Folglich ist Penelope auch ein chthonisches wesen; obwol man
anführen dürfte, dass der name 'gewandweberin' schlechtweg ein griechi-
scher frauenname war, und dass die eigenschaft des webens für chtho-
nische gottheiten, durch nichts festgestellt, nur eine recht gewagte hy-
pothese ist.
22 BEER
kehrt er rächend zurück als rechtmässiger gatte und gebieter:
freilich, um dereinst der macht des eisriesen, welcher ihm jetzt
gewichen ist, wider zu verfallen.
Die Müllenhoffsche deutung ist ein zwittergebilde von
schiÖer- und jahreszeitenniythus. Der held muss eine sommer-
liche gottheit sein, denn der name seines weibes bedeutet das
cbthonische friihlingsgrün; aber er ist der Seefahrer xar e^o-pjv
1. um des paraUelismus, 2. um der etymologie willen. Die
Schiffer bilden sich ein ideal, das im sommer umfährt und im
winter scheitert; gleichsam eine personification ihrer erfah-
rungen. Das meer ist im sommer wirtlich, im winter unwirt-
lich; folglich beherrscht es im sommer ein gott, im winter ein
dämon. Wenn jedoch der sommergott im sommer das meer
beherrscht, im winter im eis stecken bleibt wie auf einem süss-
wasserteich, und im winter der dämon das meer beherrscht,
im sommer aber entweicht: so würde das, abgesehen von der
absurdität der anschauung, einen mythus des Inhalts ergeben:
der winterriese erobert im winter das meer und nimmt den
sommerlichen meeresgott gefangen; im sommer lässt er ihn
los, mau weiss nicht, warum, mit der gewissheit, ihn wider im
winter in die bände zu bekommen. Au einen derartigen mythus
hat selbstverständlich Müllenhofl" nie gedacht; er ist aber das
unausweichliche ergebnis seiner erklärungsversuche. Das Ise
im winter das meer beherrsche, ist eine durch seine eigenschaft
als fischer und durch die jagd auf die grauen rosse nicht ge-
nügend gestützte annähme; dass er im sommer entweiche,
widerspricht ausdrücklich dem Inhalt der sage. Dass Orendel
ein seeheros gewesen sei, kann sich auf das scheitern seiner
schiffe oder auf den scheiternden Odysseus unmöglich aus-
reicheud stützen. Es bleiben also nur zwei gründe für Müllen-
hoffs deutung: 1. eine gewagte etymologie des namens Orendel,
2. die genealogische anknüpfung an einen Oeugel.
MüUenhoffs etymologie des namens Orendel ist in der tat
nur aus seinem Vorurteil heraus verständlich. Der name Aur-
vandil soll in seinem ersten bestandteil die wurzel aur in der
bedeutung des feuchten enthalten. Wenn aber MüUenhoff selbst
das angelsächsische appellativ eärendel = leuchte heranzieht
und eingesteht, dass es, mit jener ableitung schlechthin unver-
einbar, nur mit skr. vas = glänzen zusamraenzuordnen ist, so
DER STOFF DES ORENDEL. 23
gibt es nur zwei möglichkeiten: entweder das wort aurvandil
ist von je her mit der wurzel vas gebildet gewesen, oder das
angelsächsische appellativ ist ein ewiges rätsei.
Auch der name des vaters Oeugel kann den verlorenen
posten nicht retten. 1. ist jede genealogie in der göttersage
(um die es sich ja hier handeln soll), und meist wol auch in
der heldensage, accessorisch: entweder ein compromiss concur-
rierender Wesenheiten, bezüglich uamen, oder aus dem dichte-
rischen bedürfnis entsprungen, einem individuum charakte-
ristische eitern zu geben, bezüglich: eine ehe mit charakte-
ristischen kindern zu segnen. Von vorn herein also ist der
name eines vaters ein bedenkliches kriterium für die ursprüng-
liche natur des sohnes. 2. ist es gar nicht wahrscheinlich,
dass der name Oeugel in sehr alter zeit mit Aurvandil ver-
knüpft wurde; denn der name ist eine hypochoristische kose-
form, und es wäre doch höchst eigentümlich, wenn der name
des uninteressanten vaters sich abgegrifteu hätte und der name
des viel besungenen sohnes unverändert geblieben wäre. 3. Ge-
setzt den fall, dass Müllenhoflfs etymologie des namens Oeugel
zutreffend wäre (was ja durchaus sein kann, aber keineswegs
sein muss), und dass ferner der name des vaters um seiner
bedeutung willen dem namen des sohnes nachträglich beige-
sellt worden wäre, so würde das eben nur beweisen, dass man
zu der zeit dieser genealogischen Verknüpfung unter Aurvandil
den Seefahrer verstand; und wirklich wäre eine Verschiebung
in dieser richtung nicht erstaunlich, da sich für die Verwen-
dung eines aur^) entsprechend skr. vas deutsch nur noch sehr
wenige und zweifelhafte beitrage liefern lassen.^)
^) Andere germanische gebilde dieser wurzel in der bedeutung
glänzen sind nachzuweisen: vgl. Fick I, 218: skr. vasara t'rühling, altn.
var (= vasra); lit. auszta es tagt, germ. austa, austana, austra ost,
Osten, Ostern (vgl. avotor, und skr. usas zu lat. aurora).
-) Der interessanteste ist der name der OerltoÖa: Fiölsvinnsm. 38
sitzt MenglüÖ, die sich mit ziemlicher Sicherheit als eine sonnenjungfrau
erweisen lässt, auf einem berg, umgeben von den Jungfrauen: schütz,
thursenschutz, volksschirmerin, die glänzende, die gute, die gütige; die
schöne, die heilende, OerboÖa. In diesem Zusammenhang ist eine Zu-
sammensetzung aur = feucht mit boÖi = Hut zu der bedeutung: die
feuchtflutende weit unwahrscheinlicher als die Zusammensetzung aur =
glänz und boÖi = darbieter zu Oerboöa = glanzspenderin.
24 BEER
Also etymologisch ist die theorie der schiftersage nicht zu
halten; um sie sagengeschichtlich durchzuführen, ist Müllenhoflf
in ein recht bedenkliches verfahren geraten. Er hat sich eine
sage construiert, deren anfang aus einem deutschen spielmanns-
lied, deren mitte aus der Edda, deren ende — aus der Odyssee
entnommen ward. Nach diesem Prokrustesbett hat er dann die
norwegische Überlieferung gereckt und die deutsche beschnitten.
Wenn er aus der eddischen sage entnimmt, dass der held in
der deutschen nicht auf der brautfahrt sondern auf einer rück-
kehr begriffen ist, so wird man ihm das um so eher zuge-
stehen, als sich in dem spielmaunsgedicht reste einer in dieser
richtung entscheidenden tradition nachweisen lassen. i) Wenn
er aber, nach analogie der deutschen Überlieferung, den eddi-
schen Oeivandil als in dem eismeer, d. i. den Elivagar, ge-
scheitert betrachtet und umgekehrt den deutschen Orendel in
dem, unter anderen abenteuern ganz episodisch nach beliebten
mustern eingeführten klebermeer endgültig stecken bleiben
lässt, so zerstört er durch seine willkür beidemal die an-
schauung; denn einerseits wagte sich der nordländische schifier
überhaupt schwerlich in das eismeer, und wenn er sich einmal
hineinwagte, hatte er weniger das scheitern als das einfrieren
zu befürchten; und andrerseits: wäre Orendel wirklich in dem
klebermeer endgültig stecken geblieben, so wäre er eben nicht
gescheitert, folglich nicht allein sondern mit allen gefährten
dem fischer Ise in die bände gefallen. Gerade wenn der name
Ise den eisigen bedeutet, hat für die Vermutung die Edda,
welche nichts von einem Schiffbruch weiss, sondern ihren bei-
den jenseits der eisströme in das winterland versetzt, das ur-
sprünglichere, und das deutsche lied, das ihn auf einer see-
') Heranzuziehen ist besonders die Situation von s. 13: die mannen
der Bride haben Orendel im liampf mit dem riesischen freier im stich
gelassen; die erzürnte königin steht in begrilf, (mit wenigen getreuen)
die treubrüchigen anzugreifen; die Situation ist bis zur katastrophe ge-
spannt: da gibt sich Orendel zu erkennen, und sofort ist alles beglichen,
er ist der herr, und die widerspenstigen mannen huldigen ihm. Diese
als ursprünglich erkannte entwickelung muss man sich an der stelle, wo
sie steht, notdürftig aus dem umstand erklären, dass der legendarische
held, von gott gesant, unterwürfig aufgenommen wird; streicht man die
legende, so bleibt einzig die unkenntliche rückkehr des rechtmässigen
berrschers.
DER STOFF DES ORENDEL, 25
fahrt scheitern lässt, das verschobeue. Jedenfalls aber sind
der scheiternde Orendel und der jenseits der Elivagar befind-
liche Oervandill unmittelbar nicht vereinbare Versionen.
Nicht glücklicher ist Müllenhoff mit dem unternehmen, den
ausgang der norwegischen Überlieferung durch die deutsche zu
controlieren. Der Groa, die jauchzend die künde von ihres
gatten naher heimkunft vernimmt und darüber ihre zauber-
lieder vergisst, einen oder gar eine schaar von freiem aufzu-
laden, heisst doch etwas gewaltsam mit der Überlieferung um-
springen.
Geradezu verblüffend wirkt das verfahren Müllenhofts, die
eddischen lieder untereinander in einer weise in beziehung zu
setzen, welche die ansieht zu involvieren scheint, dass diese
lieder sich untereinander zu einem ganzen ergänzen, während
wir in der tat nicht zwei eddische götterlieder haben, welche
einander inhaltlich nahe stehen wie bruchteile des nämlichen
mythus. Sämtliche eddische mythendichtungen, ob in prosa
oder in versen überliefert, sind künstlerisch individuelle Schöpf-
ungen, für den mythologen quellen zweiter band; sie repräsen-
tieren nicht allein einen späten Standpunkt der mythenent-
Wickelung, sie sind gedichte auf mythen. Ihr raaterial also
ist bereits ein verschobenes, ein in der Überlieferung durch
einander geratenes, auf dem wege des compromisses geschlich-
tetes; und weiter ist die behandlung dieses materials eine
freie, individuelle, dem bildungskreis des Sängers wie seiner
hörer entsprechende. Müllenhoft" selbst hat darauf hingewiesen '),
dass die |?ulir des nordens fahrende vom bettler bis zum ehren-
werten grundbesitzer waren; sein freund Liliencron hat für
das HarbarÖslied dargetan-), dass es vor einem vornehmen
kreis gesungen wurde; andere lieder lassen sich als vor und
für die bäuerliche bevölkerung gesungen nachweisen. Unter
solchen umständen findet man nicht leicht eine Situation in deu
liedern, die man fest anfassen dürfte; eben weil sie phantasie-,
dichterische producte sind. Der ursprüngliche mythus ist stets
concrete naturanschauung; wenn der nachtrabe mit eiserner
schwinge eine bürde zerschlägt, wenn die maruts die wolken-
M Deutsche altertumsk. V, 291.
2) Zs. fda. X, isi ff.
26 BEER
kübe melken, das kanu man sich vorstellen; aber wenn Har-
barÖ den Thor nicht über den sund lässt und der arme mann,
um in den himmel zu kommen, einen umweg über die erde
machen muss — so kann man sich drehen und wenden: mit
dieser mythischen geographie kommt man nicht ins reine.
Natürlich waren den eddischen dichtem ganze massen
von reinen naturerscheinungen bekannt; aber nicht minder
viele, in denen sich diese primitive mythengestalt schon zu
einer fabel, oder gar die fabel zu einem roman fortentwickelt
hatte, V'^iele ihrer primitiven mythen waren auch als bestand-
teile von romanen fortgewandert; während die naturanschauung
sich wandelte, blieben sie formelhaft, missverstanden, um-
gedeutet bestehen. Andere, die der dichter noch selbst ver-
stand, verwante er willkürlich zur ausschmückung seiner ge-
dieh te, oder vereinigte sie willkürlich. Mit einem worte: der
eddische dichter gestaltete nicht einzelne mythen, sondern
er wirtschaftete mit ererbtem mythischem capital.
Wenn der mythologe ihn ausnutzen will, muss er jede einzelne
anschauung aus dem gegebenen Zusammenhang herausheben
und durch sorgfältige Sammlung von analogieen, durch ver-
gleichung der einzelneu gebilde die alte anschauung zu ge-
winnen suchen, nicht ein gedieht vornehmen und schritt vor
schritt auslegen: 'Loki und Thor wollen sieden, der stuimriese
Thiazi verhindert es = der trockene, kalte nordwind macht
das frühlingsdampfen der erde unmöglich; Loki wird von
Thiazi an der stange geschleift = die temperaturdifferenz
zwischen dem eisigen bergwind und dem lauen frühlingswind
ist zu gross, als dass die berührung ohne niederschlag vor sich
gehen könnte' (Laistner, Nebelsagen 287). In ganz der näm-
lichen weise müssen die Situationen verglichen werden; und
wo sich ihre mythische ursprünglichkeit nicht schlagend fest-
stellen lässt, soll man es sich dreimal überlegen, ob hier nicht
der dichter ein eigenes zugetan hat.
Unter solchen Verhältnissen ist es nicht zu billigen, wenn
sich MüUenhoff die frage vorlegt: Thor trägt den Oervandil
über die Elivagar: wo kam er da vvol her? unter den eddi-
schen liedern spricht nur ein einziges davon, dass Thor über
die Elivagar gefahren ist: die HymiskviÖa; folglich wird er
Oervandil von Ilymir mitgebracht haben, folglich war Oervandil
DER STOFF DES ÜRENDEL. 27
bei Hymir, folglich ist Ilyniir gleich Ise. Es ist schon au und
für sich sehr fraglich, ob Thor bei seinen Ostfahrten nicht
regelmässig die Elivagar, die nach HymiskviÖa und dem, aller-
dings sehr späten, Hrafnagaldr im Osten liegen, überschritten
hat. Es soll nun, bei den wichtigen folgerungen, welche
Müllenhoft* auf seine Verknüpfung des skaldaberichtes mit
HymiskviÖa gründete, dieses gedieht einer näheren erörterung
unterzogen werden, welche, zugleich mit der beleuchtung des
eigentümlichen Verhältnisses beider Überlieferungen in dem vor-
liegenden fall, den praktischen massstab für die weitere aus-
nutzung dieser quellen unserer Untersuchung, besonders für die
ausnutzung des auf Oervandil bezüglichen skaldaberichtes ge-
währen wird.
Str. 1. Die götter nahmen einst die erjagten tiere,
zechlustig, ehe sie das gelage abhielten, beschauten
weissagend das opferblut') und die geworfenen stäbe und ent-
deckten bei Oegir die ermanglung des kesseis. 2. Das be-
nutzt Thor, ihn in not zu bringen; drohend tritt er vor den
bergbe wohner und verlangt von ihm, dass er den göttern
alsbald ein gelage rüste. 'S. Der riese erschrickt, ersinnt
aber schnelle räche: ich will es gern tun; jedoch ihr seht: ich
habe keinen kessel; den sollt ihr mir schatten. 4. Nun geht
not bei den göttern an den mann; aber Tyr weiss einen aus-
weg: östlich jenseits der Eligavar an des himmels ende wohnt
sein vater, der weise Hymir: der besitzt einen geräumigen
kessel. G. Thor und Tyr machen sich auf die fahrt. 7. In
Hymis behausung finden sie seine hunderthäuptige mutter
(die dann nicht wider in dem gedieht vorkommt) S. und
eine allgoldige, weissbrauige frau, Tys mutter, die kebse
Hymis. 9. Sie versteckt die beiden gaste unter kesseln, denn
>) Die auffassung Lünings (Edda ISS), dass die götter tiere erjagt
hätten, um opferbhit zum weissagen zu erhalten, ist eine üble auskauft,
bedingt durch das (später zu beleuchtende) Vorurteil , dass die götter
vor dem gelage bei Oegir ständen, welches das folgende lied der sauim-
lung schildert: eine mit dem Wortlaut des gedichtcs nur durch advoka-
torische winkelzüge zu vereinbarende annähme. Die götter rüsten ihr
eigenes mahl; und wenn sie zu dessen beginn aus opferblut weissagen,
so ist dies eine sehr naive, aber verstäudliche Übertragung menschlicher
gebrauche auf das himmlische gelage.
28 BEER
Hyniir ist manches mal den gasten gram. 10. Hymlr kommt
heim von der jagd wie ein wandelnder eisberg. 11. Seine
kebse fordert ihn zu gastlicher gesinnung auf: der söhn ist
gekommen, den wir erwarteten von langen wegen; mit
ihm der grosse Thor. 12, Am ende der halle ducken sie
hinter einer säule (unter kesseln) sich zu retten (so bange sind
sie vor dir). Vor Hymis blick birst die säule; 13. kessel
stiirtzen herab und zersplittern; nur einer bleibt ganz. 14. Hy-
mir ahnt nichts gutes bei Thors anblick. 15. Thor verzehrt
zwei riesenochsen zum nachtmahl, zu Hymis missvergnügen:
wir werden uns nun morgen selbst speise erjagen. 17. Der
folgende tag ist angebrochen: sie wollen fischen gehn, Thor
vermisst den köder; Hymir verweist ihn auf seine all-
schwarze riesische rinderheerde. 19. Erste stärkeprobe:
Thor holt ein stierhaupt als köder, zu Hymis steigendem miss-
vergnügen. 20. Thor will immer weiter ins meer fah-
ren, aber Hymir weigert sich (die strophe fällt in ihrer
ausgeprägten skaldischen vergleichsspielerei etwas aus dem
tone des ganzen). 21. Zweite stärkeprobe: Wettangeln: Hymir
zieht zwei walfische; Thor befestigt vor dem fischzug
die leine am Steuer: 22. Er fängt mit dem stierhaupt die
Mitgardsschlange, 23. zieht sie an den schififsrand und trifft
ihr haupt mit dem hammer, 24. worauf sie zurücksinkt.
25. Hymir ist äusserst verstimmt auf der heimkehr. 26 — 27.
Dritte stärkeprobe: Thor trägt das schiff mit allem Inhalt in
den kessel der bergwaldhalde. 28 — 32. Vierte stärke-
probe: die Zerschmetterung des kelches an Hymis haupt (auf
den hülfreichen rat der kebse). 33 — 34. Fünfte und letzte
stärkeprobe, von Hymir als solche auferlegt: Thor hebt
den kessel auf das haupt. 35. Er trägt ihn fort; als er und
Tyr sich umschauen, sehen sie sich verfolgt von Hymir und
vielhäuptiger schaar. 36. Thor setzt den kessel ab und er-
schlägt mit dem hammer die felsriesen (von Tyr ist bei
dem kämpfe keine rede). [37 — 38 sind durch irrtum oder
Willkür hineingeraten.] 39. So bringt er den kessel zu der
götterversammlung: aus ihm trinken die götter öl jede lein-
ernte.
Diese schlussstrophe enthält den kern des kesselmythus:
die götter trinken jede leinernte bei Oegir öl aus einem
DER STOFF DES ORENDEL. 29
kessel.i) Wie kommt der kessel zu Oegir? er muss ihm nach
dem ursprüDglichen mj'thus, wie ihn die letzte Strophe an-
deutet, eigentümlich zugekommen sein; da nun möglicherweise
auch ein mythus bestand, dem zu folge Thor mit vielhaup-
tigem Volke um einen kessel kämpfte, so antwortet der dichter:
den kessel hat Thor dem Oegir verschafit; wie er zu diesem
liebesdienst kommt, wird in witziger weise erzählt: die beiden
Parteien, die sich wenig wolwollen, suchen sich gegenseits in
Verlegenheit zu setzen: Oegir mit grösserem erfolg. Ganz
charakteristisch beginnt das gedieht: die götter ersehen aus
ihren weissagemitteln, dass dem Oegir ein kessel fehlt. Das
ist nicht gerade eine hohe erkenntnis; aber der dichter braucht
einen weg, in der beliebten dramatischen weise frischweg auf
sein kesselmotiv loszusteuern. Ohne kessel kann Oegir kein
mahl richten; darum verlangt Thor drohend sofortige herrich-
tung eines gelages. Oegir weiss sich zu helfen: sobald ihr
mir einen kessel verschafit habt. Was für einen kessel
bringt nun Thor? Der dichter bleibt die autwort nicht
schuldig: einen gebirgskessel (str. 27). Jenseits der Elivagar
wohnen die bergrieseu; bei denen gibt es kessel die fülle
(str. 13).
Die wirkliche bedeutung des kesselmythus ist vergessen;
man deutet ihn um. Die ausleger haben in dem kessel Oegis
das meer sehen wollen. Das müsste richtig sein, wenn der
mythus aus derjenigen zeit stammte, zu welcher Oegir meer-
dämon geworden war. Dass er vordem einen athmosphäri-
schen dämon bedeutete, erweist 1. die vergleichende mytho-
*) Es ist eines der giundgesetze der mj'thenentwickelimg, dass in
der Überlieferung von nmnd zu mund die ehemalige auffassung eines
immer widerkeluenden natuiereiguisses als ein einmaliges ereignis sich ge-
staltet. Man vergleiche bei Laistner, Nebelsagen s. 37 die sage von der
gewittermühle : im gewitter mahlt der teufel felsen; warum tut er dasV
er hatte sich einst eine kanzel errichtet; ein engel erbaute eine con-
currenzkanzel und lockte ihm seine hörer weg; zornig schuf er sich eine
mühle und übertäubte mit seinem felsenmahlen die engelsstimme, bis
gott, dessen hingmut riss, ihn wider den felsen schleuderte, an dem er
sich abdrückte. Seitdem mahlt er nur noch im gewitter. Bedeutsam für
die gesetze der sagengenesis ist die einverwebung der ganz anderweitig
entstammten teufelskanzel und bergeindrückung in den einmaligen fall
der gewittermühle.
30 BEER
logie durch ihre zuriickfühiung- des namens auf das in den
Veden Ahi genannte wesen; 2. die benennung bergiiese
(str. 2), welche, wie sich erweisen lässt, nicht, wie Uhland
glaubt, sich auf die wirklichen, sondern entsprechend dem
vedischeu glauben, auf die wolkenberge bezieht. Der eddische
dichter denkt tatsächlich bei dem namen an wirkliche berge;
und wenn dieser umstand nicht für den meerdämon passt —
die formel bleibt bestehn.
Zur ermittelung der ursprünglichen bedeutung hat man
mit mehr recht an die Volksanschauung eines brauenden ge-
witters erinnert. Wenn ferner im harz die nebel im gebirge
aus dem wald steigen, sagt der bauer: die bergmutter braut
(Kuhn, Westf. s. II, 88). Westfälisch wie holsteinisch ver-
leihen und entlehnen die unterirdischen i) gern braukessel;
hennebergisch besitzen sie einen grossen braukessel (ähnlich
bei Scharfenberg); anderenorts betonen sie, vor der erfindung
des bierbrauens gelebt zu haben (Müllenhoff, Sagen, märchen
etc. 270. 284; Kuhn a. a. o. I, 200. 201. 214). Dazu vergleiche
man die anrufung OÖins beim bierbrauen (Uhland VII, 511),
die im saale Brimir (rauscher) hier trinkenden riesen der
Völuspa und die Zusammensetzung prumketill = brausekessel
(Grimm, MythoL I, 151) neben der bekannteren }^rketill. Auch
die noch nicht genügend klargelegte sage über OÖroerir ver-
spricht licht für die erklärung des kesselmythus abzugeben,
und zu empfangen. 2) Vieles spricht für eine anschauung des
'} Ueber die eine monographie recht wünschenswert geworden ist,
seitdem Mannhardt in bedauerlicher einseitigkeit den gesamten Volks-
glauben in eine vegetationsdämonie vergraben hat, unter übergehung
eines umfangreichen, gegen diese anschauung zeugenden materials. Es
ist dies gewiss kein Vorwurf gegen den hochsinnigen, gediegenen for-
scher, dem die mythologische Wissenschaft viel anregung und noch mehr
material verdankt ^ aber eine eingehende kritik kann durch strengere
Sichtung von Volkskunde und volksmythen und durch mythengeschicht-
liche erwägungen darlegen, dass die folgerungen Mannhardts vielfach
den Sachverhalt getrübt haben. Für alle zwerggebilde ist mit wenig
ausnahmen jede ursprüngliche beziehung auf vegetative Verhältnisse zu
verneinen und eine, wenigstens ursprünglich, athraosphärische natur
anzunehmen. Der Stoff ist diesmal sehr reichlich gegeben. — Zu der
bergmutter vgl. auch Rochholz, Sagen aus dem Aargau I, nr. 117.
^) Weiteres vgl. Mannhardt, Germanische mythen 96 — 105.
DER STOPF DES ORENDEL. 31
gewitterhinimels als eines brauenden kesseis, um welchen
göttei" und dämonen kämpfen, oder, nach anderer auffassung,
um den ein grosses, jährlich widerkehrendes mahl statt findet.
Für beides lassen sich belege beibringen.
Der Oegisdrekka hat der Sammler eine prosa vorange-
setzt, in welcher er das göttermahl bei Oegir stattfinden lässt,
nachdem, 'wie vorher erzählt', der kessel beschafft worden sei.
Zu anfang von Bragarödur besucht Oegir die götter und wird
von ihnen bewirtet. Skaldsk. 33 ist Oegir bei den göttern zu
gast gewesen und lädt sie bei der heimreise ein, ihn drei
monate später zu besuchen. Daraus hat man gefolgert, das
gelage, welches Thor in HymiskviÖa fordert, sei 1. das in
Oegisdrekka geschilderte, 2. das Sk. 33 mit beziehuug auf
Bragar. versprochene. Die letztere beziehung ist ausgeschlossen
1. weil das gelage in dem momente, wo die götter ihr eigenes
mahl rüsten, auf einen plötzlichen einfall hin von Thor ge-
fordert wird; 2. weil das gedieht mit einem hinweis auf ein
periodisch widerkehreudes gelage schliesst. Damit ist auch
die erste folgerung hinfällig; der an sich bestehende mythus
eines göttermahles bei Oegir wird nun in Oegisdr. als dich-
terische Situation verwant, um ein mythologisches streitgedicht
mit möglichst reicher beibringung mythischen materials') dra-
matisch ins werk zu setzen. Auch der anfang von Bragar. ist
nur situationsmacherei, welche Skaldsk. mit Oegisdr. in will-
kürliche beziehung setzt, während in Wirklichkeit die Situation
von Oegisdr. die originalere 2), die von Bragar. die nach-
geahmte ist.
Auch in Hymiskv. ist der ehrwürdige kesselmythus nur
benutzt, um eine abenteuerfahrt des volkstündichen Thor wirk-
sam einzuleiten. Denn nur um abenteuer handelt es sich für
') Gemäss den, in der verfallzeit des heidenturas bereits vor-
herrschend gewordenen didaktischen tendenzen.
2) Alles in allem handelt es sich sowol in Oegisdr., in Hymiskv.,
wie in Bragar. um die dichterische anwendiing eines ursprünglichen
Volksglaubens, indem der mythus des periodischen kesselgelages dreimal
die künstlerische einzelsituation abzugeben hat: 1. für ein mythologi-
sierendes Streitgedicht, 2. für den rahmen einer abenteuererzählung,
3. (indirect) für den rahmen einer didaktischen, dialogisierten mythen-
auf zähhing.
32 BEER
dichter uud publikum, Thor fährt einmal wider in das riesen-
laud und misst seine stärke mit einem eisriesen in fünf stärke-
probeu. Mau liat mit recht den starken, dummen Hans des
märcheus mit Thor in beziehung gesetzt; er ist ein analoger
Charakter: plump, gutherzig, furchtbar stark und besieger aller
möglichen uijgeheuer; kurz, das heldenideal des bauern, wenn
er sich auf das fabulieren verlegt. Der sänger des Hymiskv.
singt vor dem volke; die einleitung, wie dem Thor, welcher,
esslustig, im begriff steht sich an sein mahl zu machen, plötz-
lich der gedanke kommt den Oegir in Verlegenheit zu setzen,
und wie er in seiner eigenen grübe sich fängt, ist schon ein
derber spass; mit dem antritt der reise sind wir auf märchen-
boden. Da ist die hundertköpfige riesenmutter, die gar nichts
mit der erzählung zu schaffen hat; da ist die gute riesenfrau,
welche die fremden gaste vor dem bösen eheherrn versteckt;
da sind Thor und Tyr, die sich unter kesseln verkriechen —
und wozu schliesslich der lärm? Hymir sieht schlimmer aus,
als er ist; er krümmt ihnen kein härchen. Und wie verträgt
sich die ganze burleske, nach kindergraus schmeckende scene
mit dem durchschimmernden mythischen einzelzug, dass Tyr
als erwarteter söhn heimkehrt? Es ist die märchensituation
im hause des menschenfressers, welche der dichter mit keckem
humor zur ergötzung seiner hörer verwendet.
Das hauptstück des gedichtes ist nicht die kesselholung,
welche der abenteuerlustige dichter schnell aus den äugen
lässt, sondern der fischzug. Indem wir ihn in Gylf. 48 in
einer weit besseren Überlieferung hal)en, die uns erst in den
stand setzt, die widerholten flüchtigkeiten des dichters der
kviÖa zu controlieren, ist es möglich den beweis zu führen,
dass um den fischzug als den alten kern der kviÖadichter
freischöpferisch eine abenteuermasse gruppiert hat, für welche
die kesselholung nur wider den rahmen abgibt. Das ganz
vortreff"liche, altertümliche, in sich geschlossene gedieht, wel-
ches Gylf. zu gründe liegt, hat den inhalt, dass Thor als
junger gesell zu Hymir zog, sich gegen ihn zu messen, mit
ihm auf die see fuhr, trotz Hymis protest die Mitgardsschlange
angriff" und unfehlbar erschlagen hätte, wenn Hymir nicht die
an dem schiff befestigte angelleine, von welcher der wurm
nicht loskonnte, durchschnitten hätte. Wütend erschlägt Thor
DER STOFF DES ORENDEL. 33
den riesen und watet au das laud. Damit ist die gcsehichte
zu ende. Hier erfährt mau also, warum Thor in der kvi?!»a
immer tiefer in die see rudern will und Hymir sich dagegen
sträubt (str. 20): Hymir fürchtet die Mitgardsschlanj;e, auf
welche es Thor gerade abgesehen hat; nun begreift man
ferner, warum Thor str, 18 sveinn genannt wird: als ein ganz
junger bursche hat er die fahrt unternommen; jetzt endlich
wird klar, warum die versinkende schlänge das boot, an
dessen Steuer Thor sie gebunden, nicht mit binabzieht: Hymir
hat das seil durchschnitten. Der kämpf Thors mit der schlänge
ist die pointe des liedes gewesen; die beiden geborenen feinde
mussten sich einmal begegnen. Indem die pointe in den hinter-
grund trat, wurde der fischzug im gründe gegenstandslos: ein
abenteuer wie andere.
Das ergebnis der erörterung ist: der dichter der kviÖa
bat auf grund eines vorhandenen fabel- und mythenmaterials
eine, seinem eigenen wie dem geschrnack seiner hörcr als
ganzes wie in den einzelheiten entsprechende, freie schöj)fung
compouiert. Das mythcnmaterial ist nur zu verwerten^ indem
man es isoliert; folgende umstände sind herauszuheben: 1. ein
jährlicher göttertrunk bei Oegir aus einem kessel, zur zeit der
leinernte. 2. Oegir der bergriese. 3. Tyr kehrt heim in
das riesenland, erwartet, nacb langer Wanderung.
4. Hymir besitzer einer allschwarzen riesischen rindcrheerde;
der eine stier wird in Bragar. himmelbrecher genannt. 5. Hy-
mir der eisriese. 0. Ein vielköpfiges riesenvolk jenseits der
Elivagar. 7. Thors auch anderweitig bezeugte gefrässigkeit.
8. Vielleicht: ein kamjjf Thors mit riesen um den gewitter-
kessel. Ob ein uachdruck auf die fischcrkünstc Hymis zu
legen ist, ist sehr fraglich; sie stehen ziemlich vereinzelt in
unserer kenntnis der riesenweit da und scheinen nur erfunden
zu sein, um den kämpf mit der Mitgardsscblange zu ermög-
lichen.
Hiermit ist der Standpunkt auch für die ausnutzung der
skalda bezüglich des Oervandilmythus gegeben. Ihre crzäli-
lung beginnt mit dem umstand, dass Thor zu Groa kommt um
sich einen stein aus der stirne zaubern zu lassen, und endet
damit, dass Groa ihre lieder vergisst und der stein stecken
bleibt. Das ist der rahmen, in welchem sich jedenfalls zweierlei
Beiträge zur geachichte der deutscheu spräche. XUl. 3
34 BEER
befand: 1. ein galdigedieht ähnlich Grogaldr: die hauptsache.
2. der bevicht Thors über Oervandil in gestalt einer gelegent-
lichen erwäbnung: eigentlich zur rahmenerzählung gehörig,
den rahmenschluss motivierend. Dieser bericht ergibt: 1, 0er-
vandill weilte längere zeit jenseits der Elivagar im riesenlande
und ist nunmehr auf der riickkehr begriffen. 2. Oervandill,
der gatte der Groa, die seiner riickkehr harrt, 3. Eine an-
schauung, nach der Thor den Oervandil auf dem rücken in
einem korbe trägt. 4. Ein nach Oervandil, und zwar 0er-
vandils zeh, benanntes gestirn. Die zusammenfügung dieser
Züge muss schon deshalb eine willkürliche gewesen sein, weil,
wenn Oervandil über die Elivagar getragen ist, man nicht be-
greift, wie Thor, der ihn hinübergetragen, vor ihm die götter-
weit erreichte. liei der endgültigen deutung werden die vier
elemente genauer betrachtet werden.
Das endergebnis der vorstehenden Untersuchungen ist:
1. es ist methodisch unzulässig, die Oervandilsage aus der
Hymirsage zu ergänzen. Anzuerkennen ist, dass Ise und Hy-
mir den Charakter eines eisriesen haben; alle anderen analo-
gieen sind hinfällig. 2. Es ist methodisch unzulässig, die Oer-
vandil Überlieferung aus der Orendelüberlieferung, oder diese
aus jener zu ergänzen. Anzuerkennen ist, dass die nordische
fassung mit der rückkehr des beiden das ursprüngliche be-
wahrt hat, und dass dieses ursprüngliche erst von dem legenden-
schreiber in eine brautfahrt umgewandelt wurde. Alle ande-
ren Vergewaltigungen der deutschen sage sind zu verwerfen.
Einen bedeutenden schritt hat also die erkenntnis der
deutschen sage vorwärtsgetan; ihr Inhalt war: ein held schei-
tert auf einer fahrt, weilt längere zeit bei einem eisriesen und
kehrt dann zu seinem weibe heim, das er aus den bänden
eines (oder mehrerer) freier erlöst. Und zwar kehrt er un-
kenntlich heim (in einem schlechten, grauen rock). Vielleicht
endlich hat er dem eisriesen kncchtesdienste getan und ist ge-
halten, dereinst in seine frohnde zurückzukehren.
In einer derartigen fassung ist die sage als eine in Deutsch-
land weit verbreitete zu erweisen. Das meiste material für
sie hat Wilhelm Müller in dem anhang der niedersächsischen
sagen beigebracht; allerdings verquickt mit einer theorie, von
welcher es erst zu erlösen ist, um nutzbar zu werden.
DER STOFF DES ÜRENDEL. 35
§ 3. Die Müller-Dhlaudsche lieiiukelirgriipiie unil die
toteiirelchlheorie.
Die von Müller •) beigebrachte erzählungsgruppe, die zu-
nächst aus Uhland, Schriften VIII, 419 ft". und einigen anderen,
wenig ergiebigen Sammlungen, in zweiter linie aber sehr wert-
') Schambach-Miiller, Niedersäcbsische sagen 3S9ff. Anderweitige
verweise werden bei denjenigen berichten erfolgen, welche nicht nach
Müllers Zusammenstellung widergegeben sind. — Im übrigen erhebt die
aufziihlung keinen anspruch auf lückenlosigkeit-, ein inductivc methode
hat ja nicht alle, sondern die beweiskräftigen belege beizubringen. An-
hangsweise seien hier erwähnt die anglo-normannischen sagen von könig
Hörn (roman et les aventures de Hörn, ed. Michel: besonders in Schott-
land populär) und von Pontus und Sidonie (das letztere französische
gedieht ist in Deutschland als Volksbuch verbreitet gewesen: bei Simrock
XI, 1); ferner das englische gedieht ürfeon (ed. Zielke). Schwerlich in
betracht zu ziehen ist die sage von graf Udairich bei Ekkehard (mon.
germ. II, 119, bei Uhland VIII, 397): vielmehr zusammenzustellen mit
Airaoin I, 13. 14 (zu vgl. auch Greg. Tur. 11,28; aufgenommen in Grimm,
Deutsche sagen II, nr. 430). — In letzter stunde teilt mir Berger mit,
dass er auf grund eines märchens in dem Cabinet des Fces die von
Müller und Uhland beigebrachten uiärchen und sagen fast durchweg als
aus dem orient eingewanderte von der folgenden analogieensamniluug
auszuschliessen wünscht. Dieselben bilden einen minder wichtigen teil
meiner beweisführung; da sie mir einerseits nicht durchgängig in ab-
hängigkeit von dem orientalischen, augenscheinlich buddhistischen, Vor-
bild zu stehen scheinen, andrerseits die grenze, wo das originalgerma-
nische aufhört und die angleichung an die orientalische Überlieferung
oder die directe Übernahme der letzteren beginnt, schwer zu bestimuien
ist: so führe ich mein material in unveränderter Vollständigkeit an und
überlasse es der erwägung der einsichtigen, wo sie den schnitt zu legen
gedenken. In eine mythengesehichtliche erörterung des buddhistischen
märchens (das so auffallend mit, nach unserer kenntnis der Überliefe-
rungsverhältnisse, originalen griechischen, indisch-hieratischen und ger-
manischen Überlieferungen übereinstimmt) trete ich, bei unserer fast voll-
kommenen Unkenntnis der stotVrjuellen buddhistischer legenden, nicht
ein. — Dass die aufrechterhaltung meiner sanunlung nicht unberechtigt
war, beweist auch das, erst nach abschluss dieser abhandluiig mir be-
kannt gewordene, von Laistner ns. b(» f. reproducierte Eifelmärchen von
dem Trierer, der von dem uralten auf dem bock zu seiner sich neu
vermählenden gattin heim gesant wird; eine jener Überlieferungen, bei
denen es schwer zu sagen ist, üb heimische demente an ein fremdes
wandermärchen oder fremde demente an ein heimisches mythcnmärchen
angewachsen sind. — Weitere verweise s. Bcitr. XII, i:;i (Vogt, Moringcr).
3*
36 BEER
voll aus den Gesta Danorum und den Edden zu ergänzen ist,
hat den gemeinsamen inlialt, dass ein edler herr, auf einer
fahrt, vornehndich nach dem osten, hegritfen, in der ferne die
nach rieht erhält, dass sein weih im begriHie stehe, eine neue
che einzugehen, auf wunderbare weise, fast durchweg in üblem
und unkenntlichem aufzug, im momente der hochzeit zurück-
kehrt und seine rechte geltend macht. Die sage ist sehr be-
liebt gewesen und viel gewandert, zum teil vielleicht von spiel-
leutcn verbreitet worden; wenigstens kehrt mit einer gewissen
hartnäckigkeit das in des Volksüberlieferung wenig häufige, in
der spielmännischen kunst beliebtere motiv wider, dass der
heimkehrende gatte sich vermittelst eines ringes zu er-
kennen gibt.
Ein fürst von Braunschweig, oder auch direet Heinrich
der löwe, wallfahrtet zum heiligen grabe; scheidend teilt er
mit seiner gattin einen ring. Nach einer laugen abenteuerzelt
erfährt er von einem bösen dämon, oder direet dem teufel,
dass sein weib, überzeugt von seinem tode, eine neue che ein-
zugehen im begriff steht. Der böse macht mit ihm einen pakt
auf seine seele, bei dem er aber dann zu kurz kommt, und
trägt ihn dafür durch die luft vor seine bürg. Unkenntlich,
mit langem haar wie ein wilder mann, erscheint er just beim
hochzeitsschniauss, erbittet sich einen trunk, in den er seine
ringhälfte fallen lässt, und alles nimmt ein gutes ende.
Gerbard von Holenbach (Caes. Heist.) und Wernhart von
Strättlingen (Kohlrusch, Schw^eizer sagen I, 56) wallfahren jeder
zu seinen» besonderen heiligen, nachdem sie mit ihrer gattin
den ring geteilt haben, Gerhard ihr ausdrücklich die erlaubnis
gegeben, falls er innerhalb einer bestimmten frist nicht wider-
kchre, eine neue ehe einzugehen. Beide verabsäumen die zeit;
ein dämon oder der teufel selbst, dem sie einmal gutes er-
wiesen, trägt sie rechtzeitig heim. Sicut barl)atus (Caes. lleist.),
wie ein wilder mann erscheint Gerhard bei der hochzeit seines
weibes, lässt die ringhälfte in den bechcr fallen, und alles
nimmt ein gutes ende.
Der Moringcr') des spielmannliedes (Uhland, Volksl. nr. 298)
') Die Widerlegung der theorie, dass nicht der bekannte iyriker
neinrich von Alorungen gemeint sei, sondern die entstellung eines appel-
lativ meringer = marinaro (seefahrer) vorliege, durch Vogt, Beitr. XII,
DER STOFF DES ORENDEL. 37
und ein französischer ritter (Ijei Bosquet) wallfahren in das
heilige land; jener verpflichtet sein weib sieben jähre zu
harren und verabsäumt die zeit, dieser duldet siebenjährige
knechtschaft; beide führt ein heiliger heim, just als die gattiu
zu einer neuen ehe schreitet; unerkannt erscheinen sie, dei-
Moringer als pilger; der ehering dort, die ringhälfte hier oftcn-
baren den ankummling, und alles nimmt ein gutes ende.
Grimm, Deutsche sagen II, 96 (nach dem cod. pal, 336,
fol. 259 — 67): könig Karl fährt nach Ungarn wider die beiden.
Zehn jähre soll sein weib seiner harren. Sende er seinen
goldenen ring, so solle sie der botschaft glauben. Nach
neun jähren lässt sie sich um der not des landes willen über-
reden, sich wider zu vermählen. Karl, durch einen engel be-
nachrichtigt, reitet durch gottes wunder in gestrecktem galop{)
heim und kommt am hochzeitstage an. Er lässt ihn aber ruhig
vorübergehen, dieweil er in einer w^irtschaft schmaust und
schläft; nur dingt er einen kuecht um seinen gold ring, dass
er ihn mit dem singosläuten wecke. Das tut denn der knecht,
und der kaiser, um in den dorn zu kommen, muss unter der
burgpforte durchschlüpfen und setzt sich, bis zur Unkennt-
lichkeit mit kot besudelt, auf den königsstuhl, das schwert
über knie; denn es steht im Frankenrecht geschrieben: wer
auf dem stuhl im dorne sitzt, muss könig sein. Allgemeine
Verblüffung über den fremden gast und rührende erkcnnungs-
sceue sind selbstverständlich. Offenbar ist alles verschoben;
der könig lässt nicht die hochzeit erst vorübergehn. sondern
gibt sich beim mahl durch seinen ring zu erkennen, und alles
nimmt ein gutes ende.
Uhl. VIII, 419 ff.: Hans von Bodmann aus einem geschlecht,
dem das land fahren im blute gesteckt hat, ist gegenständ ver-
schiedener Überlieferungen geworden. Er macht eine lange
oder eine siebenjährige reise an das ende der weit oder um
die weit; er lässt sogar in einer fassung sein weib versj)rechcn,
sieben jähre seiner zu harren. Nach einer version scheitert
er und kommt auf eine wüste insel, nach anderen au das ende
437 ist mir zu spät bel<annt gewurdon , um sie zu vcrwL'rtcn. Icli Itin
von der ansieht aus^a'gan^^en, dass der deutsclio spielmami durch den
marinaro einea ilioi bekannten liedea auf den viel beliebten .Moringer ge-
raten sei.
38 BEER
der weit, jedenfalls zu dem ncbcliiiäuiielieu, das ihn unter ge-
wissen bedingungen (s. Uhl. a. a. o. und Laistncr, Nebelsagen
184: hier ist eine andere sage eingewachsen) heimführt in
dem augenblick, wo sein weib sich neu vermählen will.
Ebenso geht es dem herrn von Stadion: ihn trägt eine nebel-
wolke heim. Herr Hans kommt als bettler oder pilger zum
hochzeitssehmaus, an einem trauring fehlt es nicht, und alles
nimmt ein gutes ende.
Etwas von der allgemeinen Schablone weicht ein dänisches
heldenlied (bei Grimm 213) ab. Herr Lowmann freit schön
Ingerlild und geht auf reisen. Acht jähre soll sie seiner
harren. Die zeit vergeht, der bräutigam bleibt aus. Die brü-
der zwingen die betrübte braut, herrn Jord die band zu reichen.
Doch wie es an die hochzeit geht, erscheint der bräutigam,
und mit ihm noch einmal ein gutes ende.
Zum letzten mal; denn nunmehr führen die Zeugnisse
weiter rückwärts, die tändelei hört auf, und der ernst beginnt.
Zuvor sollen noch einige märchen citiert werden, auf welche
die gruppe einfluss gewonnen zu haben scheint: Baader 405,
Kinder- und hausmärchen 92 (H, 41. III, 167), eine von Köhler
(Germania III, 199 ff.) beigebrachte märchengruppe, in welcher
mit der asiatischen wanderfabel von dem Jüngling, der eine
leiche vor Schändung beschirmt und von dem dankbaren toten
Vergünstigungen und schliesslich eine frau erhält, widerholt
das motiv verwachsen ist, dass der held von seiner verlobten
durch die ranke eines nebenbuhlers getrennt, auf eine wüste
insel ausgesetzt oder verschlagen, von dem dankbaren toten
wunderbar heimgeführt wird, rechtzeitig, zuweilen in unkennt-
licher gestalt, bei der hochzeit seiner braut mit dem neben-
buhler erscheint und sich zuweilen durch den ring ausweist.
Eine interessante gruppe stellt Müller (a. a. o. 400) zusammen,
die, in verschobener fassung, den inhalt erschliessen lässt: ein
mann verlobt sich mit einem mädchen, dient dem teufel sieben
Jahre und wird reich unter der bedingung, dass er sich in
dieser zeit nicht wäscht, nicht die haare schlichtet noch die
kleider wechselt, so dass er abscheulich entstellt heimkehrt
und sich durch den ring zu erkennen geben muss.
Auf eine besondere stelle habe ich mir die interessanteste
erzählung der Müllcrschcn Sammlung aufgespart: ein graf von
DER STOFF DES ORENDEL. 39
Calw veilässt seine gattin, wandert in sclilecliter klci-
duug') in das gebirge (die Schweiz) und tut liirteudicnstc (in
einem doife). Er kehrt heim (entlassen von den unzufriedenen
bewohnern, weil er immer den nämlichen berg abweide), er-
scheint in dem momcnt, wo seine gattin hochzeit machen will,
erbittet unerkannt einen becher, lässt seinen trauring hinein-
fallen — und zieht wider zurück in das gebirge an seine
hirtenbeschäftigung.-)
Damit scliliesse ich die erste teilgruppe, die modernen er-
zählungen, und gehe zur heldensage über. Wir haben drei,
bezüglich vier beispiele zu vermerken, alle von öaxo über-
liefert; die beiden ersten zweimal das nämliche berichtend, nur
mit veränderten namen: der held wird das eine mal mit sei-
nem echten namen Haldanus genannt, das andere mal mit
dem dichterischen königstitel Gram 3), den Saxo für den namen
hielt;" ein missverständnis, das ihm, abermals bei Haidan, noch
einmal passiert ist.
Die Halfdansage bei Saxo gehört zu den interessantesten
capiteln seiner Überlieferung. Es ist ebenso schwer bei ihr
festzustellen, wo die heldensage aufhört und die göttersage
beginnt, als inwieweit die aljenteuer dem beiden sagengeschicht-
lich zukommen, und wo Saxo anfängt anderweitige stofte an-
zuflechten. Saxo scheidet drei verschiedene persönlichkeiten:
den als einen Halfdau durch eddische parallelstellen belegten
könig Gram, söhn des Skioldus, den Haldanus Biargrammus,
der für einen söhn des Thor gegolten habe, und den Haldanus
mit der gespaltenen lippe, den söhn Borkars. Allen dreien ist
es geraeinsam, dass sie Jungfrauen von unerwünschten be-
werbern befreien. Eine originellere physiognomie hat im
gründe nur der söhn Borkars, und gerade er scheint sie aus
einem ganz fremden Sagenkreis empfangen zu haben; die Ver-
knüpfung mit der Drottasage ist jedenfalls das werk Saxos,
und auch dieser dritte Ilaldan ist, wie die folgenden erörtc-
rungen wahrscheinlich machen werden, Halfdan der alte, ein
weit und breit im norden sagenberühniter held. Eines jcden-
*) Was au der falschen stelle steht.
*) Diese überlicfcninf; steht Jcdcnt'alls ausser hoiühriiiig mit der
wanderlegende.
3) Uhl. VI, 111 11. 112.
40 BEER
iiills darf man aus Saxos beriebt ersebcu: dass des llalfdau
aiikiiiipfuug- au das Skiölduugeüg-escblecht nicht liberall durch-
gedrungen ist; wenn er als Biargramni seine feinde vernichtet,
indem er mit hülfe eines gewissen Thoro^) steinmassen von
einem felseu auf sie herabwälzt, wenn er den riesen Hartli-
beuus mit einem ungeheuren hammer erschlägt und schliesslich
direct für einen söhn des Thor gehalten wird, so zeigt sich
eine local durchgedrungene, völlig ausgebildete genealogische an-
knüpfung an Thor, und man kann wider daraus ersehen, dass
genealogieeu sagengeschichtliche resultate, nicht ausgangs-
punkte sind. Als identisch aber mit dem Skiöldungen Haidan
(genannt 'dem alten') erweist ihn Saxos bericht, er habe 'als
alter mann' den Grimmo erschlagen und die von ihm l)egehrte
köuigstochter sich vermählt.
Von Ilaldan, dem söhne des Borkar, weiss Saxo zu be-
richten'-), er habe liebe gefasst zu einer köuigstochter Gyuritha
oder Guritha, die ihm aber als dem söhne eines uuebenbürtigen
und ob einer entstellenden wunde an der lippe wenig geneigt
gewesen sei. Er aber habe erklärt, er werde die schmach
dieser abweisung mit grossen taten tilgen; sie solle ihm ihre
band frei wahren, bis sie die künde seiner widerkuuft oder
aber seines todes erhalten. So zieht er aus in kriege
und gefahren; aber während er einen hohen rühm begründet,
gibt Guritha dem werben eines anderen königs nach. Die
künde dringt zu Haidan; er verlässt eilend sein beer und er-
scheint just bei der hochzeit, von niemand erkannt. Da tritt
er vor die braut und singt eine herbe strophe auf seine hohen
taten und die unverlässlichkeit der wciber; sie gesteht ihm
in einer gegenstrophe ihre liebe: al)er ol) der ungewissheit
über sein Schicksal habe sie sich durch das drängen ihres
hauses zu der neuen ehe bestimmen lassen. Noch ehe sie ge-
endet, durchbohrt er den bräutigam und erschlägt seine trunke-
nen leute.
') Uhl. VI, 114 führt die herbeirtifung eines grossen i<riegers
Thoro, wie die folgenden erörteningcn dartiin werden, mit recht auf eine
anriifiing des gottes 'J'hor im original zurück, welche Saxo wie so
manches andere missveratand: mit um so mehr recht, als s. 73 (bei
Holder) der gott Thor selbst mit dem namen Thoro bezeichnet wird.
^) A. a. 0. 242.
DER STOFF DES ORENDEL. 41
Der spielmannsroraan, den diese daistelluug übermittelt,
würde nur wenig mit der heimkelirgrupjje zu stimmen schei-
nen, wenn nicht anderweitiges sagenmaterial, das eingehend
zu erörtern hier nicht der platz ist, auf die einmischuug einer
fremden fabel hindeutete. Nur soviel sei gesagt, dass der
charakteristische sagenzug des helden mit der gespaltenen
lippe darauf hinaus zu laufen scheint, dass die geliebte, die
er sich ersehen, ihm ihre hand nicht reichen will, bis sich die
scharte seiner lippe ausgefüllt habe, und, als es eine gewalttat
gilt, ihm zu verstehen gibt, diese tat könne wol die scharte
seiner lippe ausfüllen.') Wir sind so glücklich, die uns hier
interessierende sage bei Saxo^) in reinerer, entscheidender ge-
stalt nachzuweisen. Sie lautet: könig Gram zieht wider einen
könig zu felde; er erblickt dessen tochter, sein herz wird ent-
zündet, und ein Verlöbnis besiegelt den frieden. Von einem
grossen kriege fern gehalten, vernimmt er plötzlich, dass der
treulose vater seine braut einem anderen könige versprochen
habe. Heimlich verlässt er sein beer und erscheint iu niederer
kleiduug beim hochzeitsmahl, unerkannt an unwürdiger stelle
sich lagernd. Als sich aber die feiernden halb berauscht,
singt er ein mächtiges lied auf seine grosse und die treu-
losigkeit der weiber, erschlägt den falschen bräutigam und
die meisten seiner trunkenen genossen und reisst die braut
an sich.
In einer ganz ähnlichen Situation erscheint Ilakhui in
einem weiteren bcricht bei Saxo.'') £bbo '), ein pirata von
niederer abkunft, verlangt Sygrutha, die tochter des königs
Unguinus, und das halbe reich dazu. Dieses verlangen ist iu
den sagen bei Saxo und auch anderwärts'') ein häutiges; und
zwar ist der fordernde gern ein riesc, und die folge der for-
derung ist in allen fällen, dass tochter und reichsliälfte dem
») Vgl. die Svarfdäiasaga (angeführt auch bei Uhl. VI, 125).
^) A. a. o. Is.
3) A. a. 0. 221.
') Ebbo der pirata aoll andrcrorts der vater dca Othor, des uui-
werbera der Syritha (einer mit Sygrutha identischen porsünliclikeit: 8. u.)
gewesen sein (bei Holder 225); der nainc ist vielleicht von hier aus
übernommen, wie denn Saxo mit nameu sehr willkürlich umspringt.
•') Zu vgl. z. b. Grimm, Altdän. heldenlieder b\).
\
42 BEER
licldeu verbeisscu werden, welcher dem unwillkommeneu be-
werber das handwerk legt. In dem vorliegenden fall ist diese
einfache eutwickelung nicht gegeben. Unguinus bittet den
Haidan um hülfe, und dieser rät ihm, scheinbar sein Jawort
zu geben und die hochzeit zu rüsten. Bei dieser hochzeit er-
scheint Halclan unkenntlich in niederer tracht (aber so
hohcitsvoll, berichtet der erzähler, dass alle die grosse des
fremden anköramlings ahnen), beschimpft den Ebbo als einen
unebenbürtigen, zwingt ihn zum kämpf und erschlägt ihn.
Endlich') erfährt Gram, der söhn des Skioldus, dass der
könig Sigtrugus seine tochter Gro einem riesen verlobt habe.
Entrüstet über diese unebenbürtige ehe erscheint er in der
tracht eines wilden mannes unkenntlich und erschlägt — man
sollte meinen, den riesischen bräutigam? nein, den vater der
Jungfrau. Das miss Verständnis Saxos besteht darin, dass er
aus dem bräutigam Sigtrugus den vater gemacht hat. Aus
dem Hyndlulied str. 15 verknüpft mit Skaldsk. 64 ersehen wir,
dass Halfdan der alte die tochter Almweig (Hndll.) oder Alvig
(Sk.) eines nachmals ihm befreundeten Eymund ehelicht, nach-
dem er einen könig Sigtrygg im Zweikampf erschlagen (nach
Hyudll. mit dem Schwerte). In diesem falle ist der bericht
Saxos, abgesehen von dem bezeichneten missverständnis, der
glaubwürdigere; denn 1. ergibt sich aus ihm, dass die ehe mit
der königstochter und die erschlagung Sigtryggs in innerer be-
ziehung stehen: insofern nämlich letzterer der (riesische) um-
werber der ersteren war; 2. dass Halfdan zu diesem kämpf
in entstellender Verwilderung erschien: ein durch obige ana-
logieen als echt belegter zug; 3. dass Halfdan seinen gegner
in einer äusserst charakteristischen weise erschlug: Saxo er-
zählt, Sigtrugus sei ein mit w äffen unbesiegbarer held, aber
(nach einer Wahrsagung) mit gold zu bewältigen gewesen;
darum habe Gram an seine keule gold befestigt und mit ihm
seinen gegner erschlagen.-) Der name der befreiten und nach-
mals Halfdan vermählten Jungfrau scheint verschiedenerorts
1) A. a. o. V6.
'^) Vgl. die keule mit eisernen knoten oder die durch ausreissen
eines baumstammes improvisierte keule neben dem Hammer als waffe
des Haldanus Biargrammus, und in einer sage bei Saxo die baurakeule
als waffe des Ilaldan, söhn Borkars.
DER STOFf^ DES ORENDEL. 43
verschieden gcnauut worden zu sein, üa aber die darstclhing
des Saxo als die echtere sich herausstellt, hat auch der von
ihr beigebrachte name Gro die Vermutung der urspriinglichkeit
für sich.
Ist aber der name Gro der ursprüngliche, so ergibt sich
eine überraschende combination. Nach der an erster stelle
angeführten erzählung verlobt sich Haidan (wahrscheinlich
endgültig, zum mindesten einseitig) einer königstochter Gu-
ritha, die in seiner abwesenheit von einem anderen, ungelieb-
ten bewerber in anspruch genommen, im augenblick der hoch-
zeit von dem unkenntlich oder unerkannt zurückkehrenden
Haidan befreit wird: der afterbräutigam wird erschlagen. Bei
der besprechung von Saxos Horvendil-fassung nun nahm Uhland ')
die nachmals dem beiden anvermählte Gerutha^) als eine der
Groa der Oervandilsage wesensidentische persönlich kcit in an-
spruch, indem er den uamen über dänisch groede auf altn.
grü(5i, grüör gleich fruchtbarkeit überleitete; eine, trotz etymo-
logischer bedenken, bei Saxos nicht allzugewissenhafter wider-
gabe der ihm, wol vielfach nur nach dem gehör bekannten
namen, durchaus nicht von der band zu weisende hypothese.
Weit gewagter erscheint eine derartige ableitung des namens
Guritha, Gyuritha, wird aber durch starke wahrscheinlichkeits-
grUnde nahezu gefordert. In der lieblichen sage von Alfs
Werbung um Alvilda berichtet Saxo '), wie Alf und sein freund
Borkar*) die als viking verkleidete Alvilda überwältigen und
als weib erkennen. Alf erzeugt mit ihr Guritha, Borkar mit
ihrer freundin Gro den Harald Hyldetand. Nach Saxo 240
aber ist dieser Harald der söhn der Guritha und des Haidan,
söhn Borkars. Erwägt man nun, dass das eintreten des bluts-
brüderschaftsmotivs in der späteren deutschen sagenliteratur
»J VI, :(2.
-) Das 'nachmals' ist so nichtssaj^cnd wie iiiüglicli; im liyndlu-
lied erschlägt auch llalfdan den Sigtrygg und heiratet naclinial?; die
Almveig.
3) A. a. 0. 22'J.
*) Das freundschaftsuiotiv, das in der gesamten nordischen litoiatur
eine sehr einliussreiche Stellung einnahm und auch für die entwickelung
der Nibelungen- und der Hildensage von belang wurde, spielt auch bei
Saxo eine rolle und verdoppelt widerhult die gestalt seiner beiden : vgl.
Gram — Bessus, Ilading — Liserus, Ilotherus — Gelderus.
44 BEER
fast durchweg ein accessorisches ist, folglich eine gewisse Ver-
schiebung des sagenbestaudes bedeutet, so ist anzunehmen,
dass unter den beiden genealogieen Saxos die letztere die
vertrauenswürdigere ist, dass diese nach rückwärts auf den
neu eingetretenen freund zurückverlegt wurde, und dass dabei
an die stelle der Guritha die gleichbedeutende Gro trat.i)
Rechnet man hierzu, dass eine Gro wie eine Guritha durch
einen Halfdan in niederer, unkenntlicher gestalt einem after-
bräutigam entrissen wird, so ist zu schliessen, dass Gro und
Guritha in der Halfdansage verwechselt wurden, weil sie mehr
gemeinsames als das G und das r in ihren namen hatten.
Nach einer anderen richtung wird die zu dritt angeführte
fassung der Haldansage von Wichtigkeit. Unguinus hat eine
tochter Sygrutha, die ein, wie es scheint, riesischer bewerber
begehrt; Unguinus ruft Haldanus Biargrammus, den man für
einen söhn des Thor hält, zu hülfe, Haidan erscheint in nie-
derer tracht bei der hochzeit und erschlägt den bewerber.
Des Unguinus söhn hat eine tochter Syritha, und diese
hat einen liebeshandel mit einem Othar. Nun hat bereits
W. Müller 2) darauf aufmerksam gemacht, dass Syritha ein
beiname der Freya ist, und wenn der roman von Othar und
Syritha, wie er bei Saxo vorliegt, eine ganz unmythische, frei
und schön erfundene, menschliche llebesgeschichte bietet, so
ist doch die wähl der namen bedeutungsvoll. Sicher ist, dass
Sygrutha und Syritha der nämliche name ist 3), von Saxo aus
zwei liedern entnommen, deren heldinnen er wegen der
namensgleichheit genealogisch verknüpfte. Unguinus hat unter
diesen umständen Müller mit gutem grund für eine entstel-
lende latinisierung des Frey-namens Ingvi genommen und
daraus auf eine entstellte sagenüberlieferung geschlossen, deren
ursprünglicherer unterläge ich in folgender fassung nahezu-
kommen glaube: Ingvis Schwester Syritha wird von einem
>) Zu der Verschiebung des Borkar, des vaters von Gurithas gatten
und grossvater des Harald, zu Borkar, dem gatten der Gro und vater
des Harald, vgl. die oben vermutete Verschiebung des Ebbo, des vaters
von Syrithas bewerber, zu Ebbo, dem bewerber Sygruthas.
2) System 238. 283. 293 a. 1.
3) Vgl. in der isländischen sage von Asmund und Egil (Sagabi.
II, 611) Asmund, söhn des Othar und der Sigrid.
DER STOFF DES ORENDEL. 45
riesen begehrt; der herbeigerufene Thor erscheint in niederer
traeht und erschlägt den falschen freier.
Hiermit sind wir bei der dritten teilgruppe angelangt:
der göttersage.') I. Eine iiiytliische fabel in der gestall,
dass ein riese die hand nach Freya streckt und der
aus dem Osten heimkehrende Thor ihn erschlägt, ist
eddisch nachweislieli. Die wichtigste sagenform muss
etwas genauer betrachtet werden. Nach Gylf 42 haben die
götter eben Mitgard erschaffen und Walhall erbaut, als ein
baumeister zu ihnen kommt und sich erbietet, ihnen in drei
halbjahren eine bürg gegen die riesen zu erbauen um den
preis der Freya, der sonne und des mondes. Die äsen
sind es zufrieden, bemessen aber die zeit auf einen winter;
ist er um und fehlt ein stein, ist der lohn verfallen. Auf
Lokis rat darf der meister sein ross gebrauchen. Dieses
schleppt ungeheure lasten, der bau wächst riesenschnell; als
noch drei tage an der frist fehlen, ist schon das tor in angrifl'
genommen. Da fragen sich die götter, wer geraten hätte
Freya den riesen zu übergeben und luft und himmel so
zu verderben, dass sonne und mond hinweggenommen
und den riesen gegeben würden. Resultat: wie immer
der arge Loki. Nun muss Loki helfen; er hilft mit der be-
kannten list, dass er als stute den beugst weglockt. Der bau-
meister gerät in riesenzorn, und nun erst erkennen die götter,
dass er ein riese ist, rufen den im osten abwesenden Thor
herbei, und dieser erschlägt den riesen.
Die stelle aus Gylf: *da fragen sich die götter' bis: 'den
riesen gegeben würden' enthält eine willkürliche Umschreibung
eines Völuspaverses, den Gylf. zum schluss der darstcUung
anführt: die götter hielten rat, wer die ganze luft mit ver-
derben gemischt und Freya den riesen gegeben habe. Der
Verfasser von Gylf. kennt also die Völuspa; aber, und das ist
festzuhalten: er umschreibt sie nicht lediglich, sondern er gibt
aus seiner persönlichen sagenkenntnis die darstellung und
') Indem ich das einschlägige eddische raaterial heranziehe, dsi'f
ich mich (mit einer ^ausnähme) wol auf meine erürterungen gelegentlich
der Hymirsage hernl'en und bei minder wichtigen oder allxn complicier-
ten belegen von einer eingehenden kritik der einzelsage absehen.
46 BEER
sucht, wo seine kenntnis der sage eine abweichende ist, sich
mit Völuspa auseinanderzusetzen. Es ist also methodisch un-
zulässig-, einseitig die Vülusi)a aus Gylf, zu ergänzen; in erster
linie ist der späte und unzuverlässige bericht von Gylf. aus
der weitaus altertümlicheren Völuspa zu controlieren.
Gylf. setzt den burgbau unmittelbar nach der weltschöpfung
an, Völuspa hinter den vanenkampf; Gylf. als abzweckend
auf schütz der göttcr gegen die riesen, Völuspa als dem be-
diirfnis der äsen nach einer neuen bürg entsprechend, nachdem
die alte im vanenkampf zerstört worden war.^) Beide sind in
diesem })unkte gleich unzuverlässig; Gylf. motiviert kindisch
darauf los: wenn die götter eine bürg brauchten, war es
natürlich gegen die riesen! Völuspa schafft aus vorhandenem
mythenmaterial ein frei dichterisches, monumentales, epoche
machendes werk, eine theorie der ersten und letzten dinge,
von weltbeginn bis Weltuntergang; aber kaum ein mythus der
Völuspa ist in ursprünglichem sinne gefasst, und ferner erfolgt
die Zusammenordnung der mythen nach freier combination und
künstlerischen principien. Die Völuspa weiss: die götter
schliessen mit einem riesen einen burgbauvertrag und setzen
als pfand Freya; nach Gylfaginning wissen sie nicht, mit wem
sie abschliessen, erkennen die riesische natur des baumeisters
erst, als die wettgefahr beseitigt ist; und ferner setzen sie
ausser Freya noch sonne und mond als pfand. Indem sich
der Verfasser aber bemüht, den ihm vorliegenden Völuspavers
mit seinem bericht in das reine zu bringen, interpretiert er
einerseits in seine auflösung des verses kecklich sonne und
mond hinein und lässt sich andrerseits nicht durch den um-
stand stören, dass auch die also modificierte auflösung seinem
bericht strikt widerspricht.-) Nach Völuspa ist Thor der retter
in der not, nach Gylf. Loki durch eine list^), die der si)äten
J) Vgl. Müllenhoif, D. a. V, 99.
^) Man vergleiche die götterfrage in der Völuspa, wer die luft mit
verderben gemischt und Freya den riesen gegeben habe, mit deren Um-
schreibung in Gylf., wer geraten habe Freya den riesen zu übergeben
und die luft so zu verderben, dass sonne und mond hinweggenommen
und den riesen gegeben würden? Sonne und mond sind also hinein
interpretiert, die riesen versäumt auszumerzen.
"j Man hat aus Lokis list die geistreichsten athmosphärischen alle-
DER STUFF DES ORENDEL. 47
Oegisdrekka bekannt ist, aber darum nicht der altertümlichen
Vüluspa vorgelegen zu haben braucht; keine quelle ist so übel
geeignet einen mythischen wertmassstab abzugeben als die
offenbar ungenaue und allenthalben verdächtige Oegisdrekka.
Nach Völuspa bricht Thor mit der tötung des baumeisters den
vertrag, nach Gylf. ist der vertrag erfüllt, indem die bürg mit
sommers anbruch noch unvollendet ist. Somit ergibt sich für
Völuspa folgende fassung der sage als wahrscheinlich: wäh-
rend Thor den winter über im osten ist, schliesst ein
riese mit den göttern den wettvertrag, im verlauf eines win-
ters eine bürg fertig zu bringen; gegeneinsatz ist Freya. Den
rat gab Loki. Die götter verlieren; aber der im lenz wider-
kehrende Thor missachtet den vertrag und erschlägt den riesen.
Damit, kündet Völuspa in ihrer grossartigen weise, schuf Thor
das Vorbild für alle Vertragsbrüche und so einen grund mehr
für den Weltuntergang.
Diese gestalt der Überlieferung ist natürlich kein primi-
tiver mythus sondern ein roman, dem ein primitiver mythus,
eine naturanschauung, zu gründe liegt. Diese hier klar zu
stellen, würde zu weit führen. Soviel ist jedenfalls der dar-
stellung zu entnehmen: 1. dass die riesen, was noch mehrfach
bezeugt ist'), nach Freya strebten, sie während Thors ab-
wesenheit im osten in die bände zu bekommen suchten und
wol auch ursprünglich bekamen, bis der rückkchrende Thor
ihrer misswirtschaft ein ende machte; 2. dass diese misswirt-
schaft und Thors abwesenheit auf den winter fiel.
Weit schwieriger klar zu legen ist die parallelerzählung
von Thiazi und lÖun; schwierig besonders deshalb, weil die
natur der löun noch nicht genügend festgestellt ist. Sie
scheint sich in ihrer mythischen bedeutung sehr nahe mit
Freya zu berühren; immerhin erscheint es gewagt ihren viel
umstrittenen mythus in den bereich dieser Untersuchungen zu
ziehen, lieber die natur der Freya herrscht verhältnismässige
klarheit; gesichert jedenfalls ist ihre enge bcziehung zur frucht-
barkeit.
gorieen herausdeuten wollen, während sie kaum mehr ist als ein derlicr
spielmannswitz!
') Vgl. Prymskviöa und die weiter unten erfolgende anaijse des
Hrungnirkampfes.
48 BEER
Eine feinere wichtige parallel Überlieferung verdanken wir
dem Alvisnial: einem lehrhaften wettgediclit ganz im geschmack
der sinkenden kunst und des sinkenden heidentums, dessen
ausgedüftelte weehselredeu aber in einen wertvollen rahmen
gespannt sind, eine altraythische Situation, des Inhaltes, dass
während Thors abwesenheit im osten ein zwerghaftes wesen
Alvis sich seiner tochter verlobt habe; in dem augenblick, da
Alvis die braut abholen will, folglich die hochzeit statt finden
soll, kehrt Thor zurück — und, meint man, erschlägt ihn?
Aber wo bliebe dann die mythische haarspalterei des Ver-
fassers! nein, er lässt sich auf einen wortkampf mit ihm ein,
bis die aufsteigende sonne den zwerg in stein verv^^andelt.
Man darf sich, um die Situation zu verstehen, nicht auf
den zwerg versteifen. Riese und zwerg sind mythisch keine
gegensätze sondern differenzierungen. In der vedischen wie
der germanischen mythik lässt sich aus zahlreichen belegen
feststellen, dass sie in einander iibergehn.i) Sie sind ursprüng-
lich dämonen des winters, der finsternis, des athmosphärischen
Übels; ]>urs bedeutete für ein nordländisches ohr nicht riese
sondern säufer, iötunn nicht riese sondern fresser; der troll
steht für den Volksglauben zwischen riesen und zwerg mitten
inne, und wenn Thor an Alvis etwas thursenhaftes bemerkt,
so ist das nicht höhn sondern bitterer ernst.
Die tochter des Thor könnte uns hier leicht zu weitgehen-
den Untersuchungen verleiten. Es ist uns ein name t>ruÖr für
sie überliefert, der ein valkyrjenname ist. Eine Untersuchung
des valkyrjenmythus^ die erst noch zu führen ist, kann belege
für die ansieht beibringen, dass die valkyrjen keineswegs von
anbeginn ein monopol OÖins waren, dass sie, oder vielmehr
die athmosphärischen dämonen, aus welchen sie nachweislich
hervorgiengen, auch eine starke beziehung zu Thor hatten.
Hier wage ich mythengeschichtlich aus dem angeführten ma-
terial nur folgende Schlüsse zu ziehen: 1. Thor ist den winter
über im osten. 2. Während dessen sucht eine thursischc macht
sich einer göttlichen Jungfrau athmosphärischer natur zu be-
mächtigen, welche von Wichtigkeit für die sommerliche frucht-
') Vgl. Mannhardt, Germ, mythen 207 ff.
DER STOFF DES ORENDEL. 49
barkeit der erde ist. 3. Im frübjalir kehrt Tlior /Airlick und
vernichtet den thurs.
Diese auffassung von Alvismal findet eine bestätiguno; in
dem bruehstück eines skaldenliedes (bei Rask, Sn. E. 162;
schon von Uhland VI, 48 beigebracht), welches Hrungnir als
dieb der Thru?» bezeichnet; eine bezeichnung, welclie zugleich
die handhabe bietet für das mythische Verständnis der in eap. 17
der skalda erhaltenen spielmannsüberlieferung von llrungnis
kämpf mit Thor.')
In Snorris widergabe lässt dieselbe fünf teile unterschei-
den. Der erste berichtet, dass, während Thor im osten
weilt, um unholde zu bekämpfen, O^iinn auf Sleipnir nach
Jötunheim reitet (also auch in den osten), wo er mit Hrungnir,
einem ricsen (also einem jener, von Thor zu bekämpfenden
unholde, und zwar, wie später gesagt, deren stärkstem) einen
wettkampf um den preis seines kopfes eingeht, ob sein ross
Sleipnir oder Hrungnis ross Gullfaxi das schnellere sei.
Hrungnir, in seinem jötunenzorn und Übereifer, den siegenden
OÖin zu überholen, gerät unversehens inneriialb der asen-
mauern, hat somit die wette verloren und, da in der wette
einsatz gegen einsatz steht, seinen köpf verspielt. 2. Davon
ist jedoch keine rede; vielmehr laden die äsen in liebens-
würdigster weise ihren erbfeind zum trinkgelage. Es folgt
eine derbe, in den übermütigsten zUgen gehaltene Schilderung,
wie der riese trunken gemacht wird und sich in den ärgsten
Prahlereien ergeht, Valhall davontragen, Asgard versenken,
alle götter töten, aber Freya und Sif für sich behalten
will; augenscheinlich zum vergnügen seiner göttlichen Um-
gebung; wenigstens schenkt ihm Freya immer von neuem ein,
bis das trunkene ungetüm (wir hören wahrhaft sein lallen)
sich vermisst, den göttern all ihr öl wegzutrinken. Seines
tollen treibens endlich müde, berufen diese den Thor, der, sei-
nen hammer schwingend, sich über eines ricsen bewirtung in
Valhall sehr aufgebracht gebärdet. Der bedrohte Hrungnir,
durch den anblick seines crzfeindes oftenbar ernüchtert, beruft
sich auf Oftins frieden, den er, von ihm geladen, geniesse
1) Eine analyse der sage gab bereits Mannlianit, Germ. myth.
181 iY., wozu zu vergleichen 180. 154 IV., besonders lt;3 und 1(54.
Beiträge zur geschichte der deutscben spräche. XIII. 4
50 BEER
(wozu allevdinc;s Thors feindselige berufung- wenig passt), wirft
Thor ein ueidiugswerk vor, wenn er ihn wehrlos töte, und er-
bietet sich zu einem holmgang bei GriottunagarÖ. Eine solche
herausforderung ist Thor noch nicht vorgekommen; um so
mehr willigt er ein. 3. Thor wird begleitet von Thialfi.
Dieser zweizahl gegenüber ist auch eine zweizahl der gegner
erforderlich. Die jötune, für ihren stärksten beiden besorgt,
fertigen ihm, merkwürdiger weise künstlich, einen gefährten,
widerum merkwürdiger weise, aus lehm. Der kämpf wird mit
mehr ausführlichkeit als anschaulichkeit beschrieben. Man
stelle sich vor: Hrungnir schleudert auf den, in blitz und
donner heranfahreuden Thor seinen Schleifstein, der im flug
von Thors hammer zerschmettert wird; ein teil fährt in Thors
Stirn und wirft ihn kopfüber zur erde; zugleicb stürzt Hrungnir
vorwärts mit zerschelltem haupte und zwar so, dass sein fuss
auf Thors hals zu liegen kommt. Wer glaubt dem dichter,
dass er sich diesen Vorgang klar gemacht habe?
An diesen ausgang knüpfen sich zwei weitere episoden:
a) des riesen fuss ist eicht von Thors hals zu entfernen. Da
kommt Magni, Thors dreijähriger knabe, stösst ihn fort und
sagt: Schmach und schände, dass ich zu spät gekommen bin;
ich hätte den riesen mit der faust zu Hei gesant. Thor steht
auf, belobt ihn, er werde ein tüchtiger mann werden, und
schenkt ihn zum lohne Gullfaxi, zum ärger OÖins, der das
ross selbst gern gehabt hätte, b) Das bruchstück des Schleif-
steines ist nicht aus Thors stirn zu entfernen; und daran
schliesst sich die Groaepisode.
An diesen bericht fügt Snorri ein bruchstück aus Haust-
löng, einem, unter cyclischem gesichtspunkte verfassten ge-
dichte des skalden Thiodolf aus dem neunten Jahrhundert,
das so wenig seine quelle war wie die Völuspa für seine
widergabe der baumeistersage. In einer grossartigen gewitter-
scene kämpft Thor wider Hrungnir und fällt ihn auf den
Schild (wol skaldisch für: tötet ihn). Ein stück von des riesen
Schleifstein fliegt in Thors haupt und wird nachmals von
Oelgefjun, d. i. der tranksjjcnderin, entfernt. Das gedieht
offenbart eine von »Snorris bericht völlig abweichende Über-
lieferung; nichtsdestoweniger hat man Jene in diese hinein-
gelesen: bei Snorri will Thor seines Steines durch Groa ledig
DER STOFF DES ORENDEL. 51
werden, bei Thiodolf durch Oelgefjun; folglicli ist Oelgefjim
gleich Gioa; obgleich Oelgefjun, die trankspenderin, unaus-
weichlich ein valkyrjcniianic, Groa aber nicht allein nirgends
unter letzteren aufgezählt, auch nach ihrer sinnfälligen be-
deutung als valkyre unmöglich ist; obgleich ferner bei Thio-
dolf Thor des Steines ledig wird, also für die Groacpisode
kein rauni verbleibt; obgleich somit sich für eine vorurteils-
freie kritik der schluss ergibt, dass die ursprüngliche Über-
lieferung, nach welcher Thor seines Steines durch runeuzauber
einer göttlichen Jungfrau ledig ward^), von einem galdr-
dichter, um als rahmensituation für ein runengedicht nutzbar
zu werden, auf den gehalt der Oervandilsage hin umgeprägt
wurde.
Eine tatsache ist jedenfalls mit der Überlieferung gegeben:
dass der kämpf Thors wider Hrungnir als solcher abgeschlossen
besungen wurde. Es fragt sich nun, ob Thiodolfr einen teil
der sage besungen oder Snorri, bezüglich seine vorläge, ver-
schiedenartiges verschweisst hat.
Die Überlieferung Hnorris fordert allerlei bedenken heraus.
1. Die ersten abschnitte widersprechen sich selbst: der erste:
Thor zieht nach dem osten riesen zu bekämpfen; zu derselben
zeit reitet auch 0?)inn aus, und zwar auch er zu den riesen.
nach dem osten, und zwar schliesst sich auch an seinen
ausritt ein kämpf: ein wettkampf. Dieser wettkampf wird
widerum nicht ausgetragen, denn nachdem OÖinn gesiegt hat,
bleibt der riese am leben. Der zweite: die götter gewähren
dem riesen Oöins frieden; als sie aber seiner irunkenen spässe
überdrüssig sind, berufen sie Thor: natürlich, iim zu töten.
Auch diese wendung führt noch niciit zur entscheidung:
Hrungnir scheidet unversehrt; nur ein sjjätercr kämpf wird be-
') Eine cinfiiclie logische consequcnz der, wulirscliciiilich, mytliiscli
bedeutsamen Überlieferung von Thors Verletzung, welche für die phan-
tasie unmöglich endgültig sein konnte (um so weniger, als die auf-
fassung des also entstellten gottes weiterhin nicht selbständig belegt und
ohne mythisclies analogon xu sein scheint). Es ist überhaupt für die
sagenkritik wol zu iteachten, dass die phantasie stets die con.sccjuenziMi
der gegebenen Verhältnisse zieht: den sturaijiigcr, den sie aut der wolkoii-
jagd ein weib verl'ulgen sieht, ebenda, die erbeutete i|iifr ülur jitcrd,
auf der rückkehr wider findet.
4*
52 BEER
redet. 2. Die einzelnen teile des berichtes zeig-en die über-
mütige band eines ecbten und recbten spielmannes: a) llrungnir
siebt OÖin reiten und meint bewundernd, er babe ein gutes
pferd. OÖinn erwidert böbniseb, er verwette sein baupt, dass
Hrungnir kein so gutes babe. Hrungnir, erbost, will diese
schmacb niebt auf seinem ross Gullfaxi sitzen lassen, wirft
sieb auf dasselbe und setzt dem fliebenden OÖin naeb. Sollte
man glauben, dass ein mytbologe diese scene ernst zu nebmen
gedäcbte? b) Die scbilderung des asengelages: Hrungnis durst
und unmässigkeit, seine trunkeubeit, seine prablereien und als
deren bobepunkt, dass er den äsen all ibr öl austrinken will:
eine scene von solcb köstlich drastischem realismus, dass
man die bäuselung des ungefügen gastes von seinem ersten
becherzug bis zu seiner plötzlichen schlimmen ernüchterung
durchlebt: ein echtes spielmannsstückchen. c) Hrungnir, ob-
gleich der stärkste riese, soll einen belfer im kämpfe haben
und zwar keinen riesen, sondern einen kunstvoll belebten lehm-
koloss. Der koloss ist aber so ungefüg geraten, dass sich kein
herz für ihn findet, bis man ihn mit — einem stutenherzen
versieht: vermutlich zur bebung seiner tapferkeit. Gegenüber
dem Steinriesen mit dem steinherzen der lebmriese mit dem
stutenberzen — eine echt spielmännische erfindung. Er be-
zeigt sich auch seines berzens würdig: als er Tbor kommen
siebt, lässt er vor angst das wasser. Wer denkt da nicht an
den entdeckten Morolf, der vor angst seinen wind fahren lässt?
d) Hrungnir steht mit ungeheurem schild beschützt; der schnell-
füssige Thialfi, seinem genossen voraufeilend, äfft ihm vor, dass
Tbor ihn gesehen habe und nunmehr, unterhalb der erde ein-
berfahrend, ihn von unten ankommen werde. Der geprellte
riese wirft den schild unter die füsse und entblösst so sein
baupt dem bammer. Diese erfindung ist so naiv, dass sie
sehr gläubige gemüter voraussetzt, e) Die episode mit Hrungnis
fuss: die kraftprobe des dreijährigen Magni, seine burleske
klage, dass er zu spät komme, um dem riesen mit einem
faustscblage den garaus zu machen, Thors vaterstolz, der sich
genau so ausnimmt wie der stolz eines behäbigen landmannes
auf seinen kräftigen erstgeborenen, und OÖins ärger, dass ihm
das schöne riesenross vor der nase weggeschenkt wird, f) Die
bemerkung, dass aus den trUmmern von Hrungnis Schleifstein
DER STOFF DES ORENDEL. 53
sämtliche wetzsteiue der weit entstanden seien, ist einerseits
von einem durchaus bäurisch-burlesk praktischem Charakter
und stimmt andrerseits zu der schliesslichen ankniipfung eines
Volksbrauches, Schleifsteine wegzuwerfen, an die zu fünft er-
zählte Groa-Oervandilepisode.
Unter diesen Verhältnissen ist es geboten, anzunehmen,
dass 1. sämtliche fünf teile des Snorrischeu berichtes von
spielmännischer, und zwar der nämlichen band herrührten;
2. der hiermit gegebene grosse spielmannsgesang a) in bäuer-
lichen kreisen gesungen wurde, b) in durchaus willkürlicher
weise gestaltet und vornehmlich auf die lachlust der hörer
berechnet war, c) ähnlich den grossen deutschen spielmanns-
gedichten des zwölften Jahrhunderts und ähnlich andrerseits
der, ebenfalls in bäurischen kreisen gesungenen HymiskviÖa,
einer, augenscheinlich sehr ausgebildeten hörelust durcii Ver-
knüpfung möglichst vieler abenteuer zu genügen suchte.
Hiermit ist die oben aufgeworfene frage dahin entschie-
den, dass der skalde Thiodolfr nicht einen teil der sage be-
saug, sondern dass der in seinem lied enthaltene kern der-
selben von dem spielmann mit anderweitigen bestandteilen
versetzt wurde. Gegeben war also ursprünglich ein kämpf
Thors mit einem riesen Hruugnir. Diesen begründete der
spielmann mit einer, wie wir gleich sehen werden, selbstän-
digen oder selbständigem Vorbild nachgebildeten Überlieferung,
nach welcher OtÜinn und Hruugnir in einem wettritt auf tod
und leben nach Asgard kommen und Hrunguir unversehens
in die asenniauern hineingerät. Diesen wettritt hat der spiel-
mann mit burlesker willkür eingeleitet und mit dem holni-
gang durch ein burleskes mittelglied verbunden, das jedoch,
wie sich zeigen wird, eines ernsthaften hintergrundes nicht
entbehrt.
Wideruni ist der holmgang seinerseits von dem spielmann
burlesk ausgeschmückt worden: den skaldenstropben fehlen
sowol Thors beglciter Thialfi wie der stutenherzige Ichniriese,
womit alle oben als spielmänniscb bezeichneten clcnientc in
Wegfall kommen. Allein da Thor und Thialii eine durch allit-
teration beglaubigte zweiheit bilden, so ist eine Überlieferung
nicht ausgeschlossen, der zu folge sie auch in den kämpf mit
Hruugnir verbunden eintraten. Diese zweiheit würde dann,
54 BEEK
wie sichon oben angedeutet, den spielmann bewogen haben,
dem Thialti einen Möckurkalfi ') gegenüberzustellen, woraus
sieh denn alles weitere ergab. Dass im übrigen die zweiheit
Thor-Thialfi die Verknüpfung von donner und blitz bedeute,
hat Simrockj Haudb. 300 erraten und Weinhold, Zs. fda. VII, 16
mit gründen nahe gelegt und ist durch Mannhardts Untersuch-
ungen über den bockmythus (Germ, mythen s. 43 — 63) nahezu
bis zur gewissheit erhoben.
Die Situation, mit welcher der spielmann den holragang
einleitet: der wettritt Ocüins und Hrungnis, kann nur zu einem
einzigen ergebnis geführt haben: zu Hrungnis tod nach ver-
lorener wette. Die bedeutsame wendung der Überlieferung,
dass der übereifrig verfolgende Hrungnir unversehens, gleich-
sam im schuss, innerhalb der asenmauern gerät, gibt den
fingerzeig für die auffassung des weiteren Verlaufs: sie stellt
sich zu der Verfolgung des falken Loki durch den adler Thiazi,
der seinen flug nicht mehr aufhallen kann und innerhalb der
asenmauern gerät, wo er in, wie es scheint, verschieden über-
lieferter weise getötet wurde 2); und ferner zu dem wettflug
des adlers 0(5in und des adlers Suttung, dessen ende in der
äusserst complicierten, verwirrten und unvollständigen Über-
lieferung nicht erzählt wird. Bemerkt sei hier, dass Suttungr
der brauser und Hrungnir der rauscher (schaller: vgl. Wein-
hold, Wiener sitzungsber. 1858 s. 272 — 73) wol zu einander
passen.
Um so weniger passt diese, von Wcinhold aufgestellte
wahrscheinlichste etyniologie des namens Hrungnir zu seiner
cigenschaft als steinriesen. Als einen steinricsen hat ihn der
spielmann gefasst: darum findet der kämpf bei Griottünagar^,
der geröllgrenze, statt, hat der ricse eiu steinernes herz, ein
steinernes liaupt, einen steinernen schild und eine steinerne
waflfe, und darum ist sein feiger gefährte ein gebilde von
lehm. Es ist schon früher angedeutet worden und kann auch
1) Ea ist nicht ausgcsclilossen, dass der spielmann in dem wasser-
lassenden Mückurkalfi einen verbreiteten, auch westgermanisch belegten
ursprünglichen legenmythus verwendete, der auch zur ausschmückung
von 'l'hors GeirrüÖlahrt herhalten musste.
2) Es kann hier nicht ausgeführt werden, dass auch diese über-
li'jferung von sehr iweifelli;ifter ursprUnglichkeit ist.
DER STOFF DES ORENDEL. 55
hier nur mit hiuweis auf eine andreuorts 'zu führende nähere
begründung- wider hervorgehoben werden: dass die angebliehen
stein- und felsriesen in Wahrheit bergriesen, und diese berg-
riesen riesen nicht der erdenberge sondern der wolkenberge
waren: eine anschauung, die sich indogermanisch wie germa-
nisch genügend begründen lässt, "Wie sicli oben ergab, dass
Oegir und Hymir keine irdischen bergriesen waren, so wird
der riese Suttungr, der den himmelstrank in einem berg ver-
birgt, der vater der reifriesen genannt (vgl. Weinhold, W. s.
273), und so ist Hrungnir, der rauscher, mit seinen steinigen
attributen unvereinbar.
Aus der gesamten Überlieferung der Snorra-Edda ist somit
zunächst nur zu entnehmen: 1. vielleicht ein mythus von einem
wettritte des alten windgottes 05in und des (sturmriesen?)
Hrungnir. 2. Bestimmt: ein mythus des inhalts, dass Thor
einen Hrungnir im kämpfe erschlägt. Der aulass dieses kampfes
erhellt 1. aus der angeführten benennung Hrungnis als des
räubers der ThruÖ. 2. aus seiner drohung, Freya und Sif mit-
zunehmen: beides gottheitcn, die in den angeführten heindvehr-
sagen die rolle der bedrohten spielen; eine bemerkung, die um
so wichtiger ist, als aller Wahrscheinlichkeit nach die vielen
erzählungen von dem, stets rechtzeitig vereitelten fahnden
riesischer mächte auf göttliche Jungfrauen fortbildungeu eines
mythus sind, dem zu folge die begehrte Jungfrau in der tat
zeitweise in die bände des buhlerischen riesen liel.') 3. aus
dem umstand, dass in Thors abwesenheit im osten Valhall
von einem riesen bestürmt und, wie es scheifit, bedroht wird:
denn eine bedrohung der götter war wol die Veranlassung für
die rückkehr des 'J'hor, die der spielmann in einer tollen
trunkenheitsscene begrub.'^) Resultat der gesamten untersuchuug
ist somit die Wahrscheinlichkeit eines mythus, dem zu folge
während Thors abwesenheit im wintcrland ein winterlicher
1) Belege für letzteren bieten der diebstalil der ThriiÖ und der
lÖun, die zu erwäliuende bulilerei der Sit", der Frigg und, viellciclit, der
gattin des Tyr, endlich die ralunenerziiidung von Alvisnial.
-) Dass die letztere an ein niytliiscli gegebenes uiouient des Tlior-
glaubens anknüpfte, bat Maunliardt, Germ. myth. lol walirsciieiulich
gemacht.
56 BEER
(stürm-?) dämon auf erden und im bimmel sein wesen trieb ^),
Freya, Sif oder TbruÖ (je uacb der Überlieferung) sieb zu
eigen zu maeben suchte und scbliesslicb von dem heimkehren-
den Thor erscblagen vvurde.^)
II. Es lässt sich ferner aus der Liederedda der he-
weis für einen mythus erbringen, dass Thor im lenze
aus dem osten zuriickkehrend in niederer, übler klei-
dung erscheint, ganz geeignet, ibn unkenntlich zu machen.
Beizubringen ist für Thor persönlich allerdings nur ein einziges
gedieht; doch kann man mit der fabel sagen: eines, aber ein
löwe! Das HarbarÖslied ist eines der kecksten, willkürlichsten,
aber auch künstlerisch bedeutsamsten und an altmythiscbem
gehalt in relativ ursprünglicher gestalt reichsten gedichte der
Edda. Auf unwahrscbeiulichkeiten und Widersprüche hin darf
man es freilich nicht prüfen; es strotzt von beiden. Gleich
die Situation wäre ein kreuz für mythische hermeneutik. Thor
kommt an einen sund: wo liegt derselbe? ist er die grenze
zwischen riesen- und götterlandV nein, denn Thor kommt aus
dem osten, und später ist die rede von einem fiuss, den er im
osten gegen die riesen verteidigte. Fliesst er noch auf riesi-
schem gebietV es scheint so, denn Thor bält es für gefährlich,
an dem ort, an welchen er sich befindet, seinen namen zu
nennen: er ist dort vogelfrei. Wie aber kommt dann Obinn
an den sund? wie kommt OÖinn überhaupt dazu, den fähr-
mann zu machen? und wie kann er sich als viehhirten vor-
stellen in diesem Zusammenhang? Der dichter wollte ein
niytbisches streitgedicht gestalten, didaktischen inbalts, aber
von dramatischer form, ein grosszügiges kunstvverk; er braucht
eine wirksame Situation, und er schafft sie mit kecken strichen:
irgendwo kommt Thor auf seinem wege vom riesen- zum
götterland an einen sund, und just hier hat sich OÖinn auf-
gestellt, um ihn zu hänseln; der sund ist blosse situations-
*) Immer als einmaliges ereigiiis aus der anschauung heraus-
gehoben.
'■') Der kämpf donnerkeil gegen steinkeil sciieint, wie andrenorts
auszuführen ist, einen kämpf im (friihlings- V) gewitter, blitz gegen blitz
zu bedeuten: wideruni eine bereits indogerinaniseh belegbare natur-
anschauung: vgl. dies schlagende vedische analogon Mannhardt, Germ.
myth. Ki!}.
DER STOFF DES OKENDEL. 57
mache. Denn dass ein sund den grrossen durchwater der
himmelsströme aufhält, so dass er ihn tatsächlich nicht zu
überschreiten vermag, würde entweder bezeugen, dass der
glaube an den watenden Thor nicht, oder doch zur zeit der
entstehung des gedichtes nicht mehr gemeingültig gewesen
wäre, was nicht zu erwarten ist, da er in dem, an altertüm-
lichkeit und eigenartigkeit der mythischen eiuzelzüge nicht
hinter dem HarbarÖsliede zurückstehenden Grimnismal bezeugt
ist; oder aber er ist mit souveräner laune überschlagen. Man
muss sich überhaupt hüten, die Situation nach irgend einer
Seite hin ernst zu nehmen, etwa ein feindseliges Verhältnis
Thors und OÖius zu folgern; ein solch eingreifender mythus
müsste doch überzeugender belegt sein als durch dieses harm-
los scherzende streitgedicht. Schon Rlüllenhot!" hat es mit
recht als das charakteristische machwerk eines spielmauus
bezeichnet, gesungen, wie Liliencron bewies, in ritterlichen
kreisen: Obin kennzeichnend als das kecke, galante rittcrideal
gegenüber der im schweisse ihres angesichts bei karger kost
gegen naturgewalten ringenden bauernkraft; hier der adelige
lebensgenuss, dort der 'stinkende atem' des niederen Volkes;
hier schneidiger witz, dort tölpelhaft zuschlagende baucrn-
plumpheit.
Aber dieser gegensatz erklärt nicht alles in dem gedieht,
erklärt namentlich nicht die ganz unl)äuerliche erscheinung
des Thor. Ich scheide darum folgende, für diese erörtcrungen
beträchliche mythischen züge aus: 1. Thor kommt aus dem
Osten zurück: im l)ettlergewand (l)aarhcinig, chne hosen, schier
wie ein strolch oder rossdicb), einem landstreicher ähnlicher
denn einem gott. 2. Thor findet aus dem osten zurückkehrend
seine mutter tot oder in einem totenähnlichen zustand.')
3. Thor findet aus dem osten zurückkehrend l)ei seinem weil)e
einen buhlen. 1. Thor wird einen korb auf dem rücken dahin-
schreitend gedacht. Hierzu ist zu erinnern, dass für den ent-
wicklungsgrad eddischer niythenauffassung Thors mutter un-
zweifelhaft, Thors gattin wahrscheinlich die erde bedeutet.
>) Vgl. dass nach dem zongiiis von l'r.vmakv. I'lior einem mythus
zu folge den winter über schläft; und hierzu die eigentiimliehe phry-
gische Überlieferung, der zu folge der jahreszeitengott den winter über
schläft (Preller I, 1U7).
5S BEER
Auf eine nivtbiscbe bulilerei der Sif mit Loki scheint Oegis-
drekka anzuspielen; aber es ist scbon bemerkt, dass Oegis-
drekka ein durchaus unzuverlässiger zeuge ist, widerholt i)
controlierbare mvtlien von anderen erzählt, als sie sonst be-
richtet Averden, und namentlich die Lokimauie, die eine ge-
wisse periode der nordischen mythengestaltung beherrscht hat,
auf die äusserste spitze treibt: geschieht eine buhlerei, ist Loki
der buhler'-); und so soll er auch der buhler der Sif gewesen
sein. Das ist an sich sehr unwahrscheinlich, und man wird,
wenn nicht beide Zeugnisse auf Thor und Sif einen mythus
übertragen-*), welcher zum mindesten ebenfalls, wie sich
zeigen wird, zwischen OÖin und Frigg gespielt hat, den mythus:
'Thor findet aus dem osten zurückkehrend bei seiner gattiu
einen buhlen', nach analogie der parallelmythen zu erklären
haben, nicht nach den faseleien der Oegisdrekka.
Einen weiteren belegt) für einen mythus des Inhalts, dass
ein gott aus dem winterland in übler, entstellter, unkenntlicher
gestalt heimkehrt, bietet eine sagensippe, die von FiölsviÖmal,
Skirnismal, Svendallied 5), Grogaldr, Himiubjargarsaga^), Rindr-
sage') gebildet wird. Ohne mich auf eine eingehende analyse
dieser, eine eigene grosse Untersuchung beanspruchenden sippe
einzulassen^), scheide ich folgende selbständige, in den er-
wähnten gedichteu in einander verwachsene primitive mythen
aus: ]. Ein gott oder halbgott wirbt um eine Jungfrau, die
sich ihm nicht ergeben will und erst durch list, gewalt oder
1) Str. 17. 20. 26.
-) So in äusserst verdächtiger weise str. K) mit Tys weih (hierüber
wild weiter unten geharulelt werden) und str. 52 mit Skadi: an die letz-
tere angäbe schliesst sich das auf Sif bezügliche strophenpaar.
^) Was spätere erörterungen über die Tyrsage ebenfalls sehr un-
wahrscheinlich machen werden.
*) Ein dritter wJrd später beigebracht werden.
') Bei Grundtvig, Danm. gauil. Folkv. II, 239 ff. (übersetzt von
LUning Edda 2:i ff.).
'^) K. Maurer, Isländische volkssagen .{12.
") Besonders ausführlich bei Sa.xo a. a. o. 78.
^) Ich verwahre mich aber ausdrücklich gegen den, vielleicht nahe
liegenden verdacht, als ob ich den mit dieser sippe getriebenen nnfug
mitmachte und beispielsweise die Stiefmutter des Svendalliedes in
FiölsviÖmal hineinprakticierte.
DER STOFF DES OKENDEL. 59
drohungen bezwungen weiden nmss. 2. Eine Jungfrau wird
gefangen gebalten binter gewaltigem gitter, bebütet von beu-
lenden bunden und einem furcbtbaren wäcbter (die wabeilobc
erlaube ich mir zu übergeben; sie erfordert ein eigenes capitel);
ein gott oder balbgott erschlägt dieselben und befreit sie. 3. Ein
gott oder balbgott niuss den winter über in einem fernen
lande verweilen, fern von einer geliebten, welche seiner
harrt. 4. Die Jungfrau wird zuweilen in dieser zeit schlafend
vorgestellt (eine vielfach belegbare uud bis in den beutigen
Volksglauben zu verfolgende anschauung).') 5. In einem fall
erscheint der Jüngling (Svipdagr) in schlechter landstrcicber-
hafter tracbt, unkenntlich selbst der geliebten, bis ersieh
nennt. In der ganzen gruppe aber handelt es sich nach-
weislich um lauter Jahreszeiten mythen 2); freilich in sehr
verschobener und dichterisch individualisierter gestalt.
Man sieht also, dass die rückkchr aus dem winterland
1. keine innerlich naturnotwendige beziehung zu der buhlerei
der gattin hat (Svipdagr), 2. ohne das momcnt der bettlcrtraclit
vorkommt (Öveudal).
Nunmehr haben wir den überblick gewonnen, um mit bc-
stimmtheit erklären zu können: entweder sind in der lielden-
sage au die per.süulichkeit llalfdans des alten eine reihe Tlior-
sagen angewachsen, oder sie sind auf ihn von Saxo übertragen
worden, llaldanus, der in unkenntlicher gestalt lierl)cieilt einen
riesen zu erschlagen, welcher um eine Jungfrau, seine gegen-
wärtige oder zukünftige braut, buhlt, und ihn mit einem hammer
oder einer keule bewältigt, vollbringt eine Thorstat; der ricse,
der nur mit der vergoldeten keule erschlagen wcM-deu kann,
wird mit dem goldleucbtenden blitze dahingeratlt; Haidan, der
auf den bülfcruf des Unguinus in unkenntlicher niederer ge-
stalt erscheint uud Öygrutha aus den armen eines unwürdigen
bräutigams reisst, ist direct Thor, der aus dem osten, dem
winterland, zurückkehrend den riesischen uniwerber der Freya
erschlägt. Hier ist noch eine interessante Überlieferung zu er-
örtern. Gram (Haidan) der die Gro aus öigtrugs bänden er-
') Vgl. das oben zu dci" aclilafendon inutter Tliois bonicrkte.
^) Hier sei nur darauf verwiesen, dass Svipdagr sich soiin des
FrUhlingskalt nennt.
60 BEER
löst, heisst der soliii des Skioldus und der Avilda (bei Saxo
gleich Alf hihi). Guritha, die durch Haidan (Borkars söhn) aus
den liüuden eines unwillkommenen freiers erlöst wird, heisst
die tochter des Alf und der Alvilda. Die tochter eines Alf
namens Alfhild nun wird Forns. 1, 412 ff. von einem riesen
StarkaÖ geraubt, der vater ruft Thor zu hülfe, und dieser
erschlägt den räuber. Von dem nämlichen StarkaÖ wird
(ebenda) berichtet, dass eine ihm verlobte Jungfrau während
seiner abwesenheit Jenseits der Elivagar das weib des
riesen Hergrim (nachmals vaters eines Grim) geworden sei,
StarkaÖr aber zurückkehrend den uebenbuhler erschlagen habe.
Die anknüpfung der so gestalteten sage an den riesen und
frauenräuber StarkaÖ ist auf den ersten blick äusserst un-
wahrscheinlich; in der tat haben wir bei Saxo^) den inter-
essanten bericht, dass Haidan einen Grimmo^), welcher eine
köuigstochter Thorhilda begehrte, erschlagen und diese ge-
ehelicht habe. Nach den obigen erörterungen über Haidans
sageugeschichtliche bedeutung ist es gestattet zu schliessen,
dass ursprünglich Thor von den Elivagar zurückkehrend den
Grim oder Hergrim erschlug, so dass sich aus einer sage:
Thor erschlägt den riesen StarkaÖ, der eine Jungfrau umbuhlt?
und einer weiteren: Thor erschlägt, von den Elivagar heim-
kehrend, den riesen Grimm, der eine Jungfrau umbuhlt, eine
verwirrte überlieferrung sich bildete, nach welcher StarkaÖr sei-
nen nebenbuhler Grim erschlug.
Mit diesen ergebnissen ist ferner der Standpunkt gewonnen,
um einen weiteren sagencomplex heranzuziehen, dessen Über-
lieferung an Schwierigkeit ihresgleichen sucht und für den hier'
in bctracht kommenden Theil ihre aufklärung wesentlich dem
Scharfsinn Laistners verdankt. Die Baldrsage ist in zwei
sippen von gedichten und traditionen erlialten, deren eine in
den Edden, deren zweite in den gestis Danorum überliefert
ist. Die erstere ist ganz in den, einen grossen teil der eddi-
schen mythik beherrschenden weltuntergangscyclus eingear-
beitet; für das göttersystem, den götterhimmel der Edden ist
Baldr lediglich der junge, allgeliebic gott, dessen tod den welt-
I) A. a. o. 223.
'^) Vgl. s. 40 a. 1 i'huio für Thor.
DER STOFF DES ÜRENDEL. 61
Untergang eröffnet. Darum sind an die Schilderung dieses
welterscbütteruden ereiguisses mit liebevoller Sorgfalt künst-
lerische zutaten geknüpft worden, welche, ganz anderen an-
schauuugskreisen zugehörig, durch ihre innere grossartigkeit
die bedeutsamkeit des ereignisses hervorzuarbeiten und in
eine düstere, ahnungsschwere, abendliche gewitterbeleuchtung
zu versetzen geeignet sind.') Aber der alte Jahreszeitenmythus
schimmert durch: nachdem Baldr gestorben ist, erzeugt der
Jahreszeitengott OÖinn mit der starren, winterlichen erde einen
neuen frühling; oder aber: nachdem der frühere sommergott
dem wintergott erlegen, erscheint sein bruder, der neue früh-
ling und erschlägt den Widersacher: ein mythus, der, in un-
seren Überlieferungen mit dem ersteren verwachsen, ursprüng-
lich wol, unabhängig, dem deutschen zwillingsmytbus angehörte,
dem ihn Müllenhoff zug:eordnet hat.
Ich habe die Saxosche Überlieferung der Baldrsage als
eine sippe von liedern und traditionen bezeichnet. In der tat
tritt nirgends so grell die unvereinbarte mannigfaltigkeit der
quellen des dänischen Chronisten hervor wie in dieser partie
seiner pseudogeschichte. Als ein typisches beispiel hierfür, wie
für seine art, die ihm zu geböte stehenden vorlagen zu ver-
arbeiten, benötigt sie eine eingehende behandlung.-)
I. Hotherus ist der söhn des Schwedenkönigs Hodbroddus
und bruder des Athislus, mit dem er einem gewissen Gewarus
(einem verdienten mann: s. 52; nach s. 09 ff. einem könig, s. S2
scheint es: von Norwegen) zur erziehung übergeben wird. Nach-
dem sein vater auf einem kriegszug gegen Dänemark durch
Helgo dem Hundingtöter gefallen ist^) (s. 53), verbleibt er
allein an des Gewarus hof (die taten des Athislus werden
53 f. erzählt). II. Herangewachsen, zeichnet er sich durcii
grosse leibesstärke ') uud in allen körperlichen Übungen wie
') Eine eingehende klarlegung dieser ersten sippe wird :in aTulereui
ort erfolgen.
'^) Sie ist im wesentlichen im dritten hiuh der gesta ciitlialten (hei
Holder (j!) ft'.). Weiteres im zweiten hucli (I). II. .")'2. ;');!).
•'') Sehr bezeichnend für Saxos Verknüpfung seiner lielden mit s.igen-
berühmten geschlechtern.
*) Das muss collacteis et coaevis summa corporis firmitate prac-
stabat ((59, 11. 12) bedenten, wenngleich 7(i, ;j5 sacrani corporis firmitatem
62 BEER
schwimmen, l)Oi::enspannen, riemenkam pf aus; besonders aber
war er jeder art saitensjjieles mächtig und beherrschte mit
ihm alle guten und schlechten leidenschaften der menschen.
III. Durch diese künste entzündet, begehrte Nanna, die tochter
Gewars, nach Hothers umarmung (folgt eine sentenz über die
Ursachen der liebe). IV. Es geschah aber, dass des Othinus
söhn IJalderus Nanna im bade erblickte und in heftiger leiden-
schaft zu ihr entbrannte (denn der stärkste anreiz der begierde
ist die Schönheit). Darum beschliesst er Hother zu töten.
V. Zu der nämlichen zeit etwa verirrt sich Hother auf der
jagd im nebel und gelangt in das gemach von waldjungfrauen,
die ihn mit namen anreden und, über ihre Wesenheit befragt,
sich als valkyrjen bekennen: sie walten des kriegsschicksals,
unsichtbar den schlachten beiwohnend und unvermerkt ihren
Schützlingen zur seite stehend. Sie belehren ihn, dass
Balder seine (des Hother) milchschwester beim bade
belauschte und in liebe zu ihr entzündet sei. Sie war-
nen ihn ferner, den gegner, so hassenswürdig er sei, mit waflen
zu bekämpfen, als einen halbgott aus göttlichem samen. Nach-
dem sie also gesprochen, schwinden behausung und wald, und
auf freiem feld, unter freiem himmel findet Hother sich wider.
VI. Er berichtet Gewar sein erlebnis und hält sofort um Nanna
an. Der vater bedauert, ihm nicht, seinem herzen folgend,
sein Jawort geben zu können; aber er fürchtet Balders hass,
dessen Werbung dem nebenbuhler zuvorgekommen. Denn die
heilige unverletzlichkeit seines körpers sei jeder waffe unzu-
gänglich. Nur ein ihm verderbliches schwert gibt es: es be-
findet sich in den bänden eines waldgeistes Miming, zugleich
mit einem schätze mehrenden armring. Der Zugang aber sei
schwierig für menschen zu gewinnen: über, von entsetzlicher
kälte starrende joche führe der pfad, den er am ehesten mit
einem schnellen hirschges})anu überwinden werde. Angelangt,
habe er sein zeit, der sonne abgekehrt, so zu richten, dass es
den schatten von Mimings grotte empfange, ohne, bei wech-
selnder i) beleuchtung, den geist mit seinem ungewohnten schat-
auf die unverwundbaikeit Balders gelit. Andrenfalls würde sich Saxo
anders ausgedrückt haben.
') Dies ist die hier allein mögliche Übersetzung von mutua (obum-
bracione).
DER STOFF DES ÜRENDEL. 63
ten von dem ausgarg der höhle ('/Aivück) zu scheuchen (näm-
lich: wenn er sie verlassen will). VII. Hother befolgt den ge-
gebenen rat. Nachts hängt er im zelte seineu sorgen i) und
Vorbereitungen nach, tags versieht er sich jagend mit lebens-
mitteln. Als er einst nachts in seinen sorgen erschlafft, trifft
der schatten des geistes sein zeit-); er schleudert ihn mit der
lanze nieder, fesselt ihn und erzwingt mit schlagen die heraus-
gäbe der kleinodien (folgt eine sentenz über die liebe zum
leben). Mit anderen Worten: Hother lauert allnächtlich, ob
der geist nicht die höhle verlässt. In dem momeut, wo er
des Wartens müde wird, fällt der schatten des geistes auf sein
zeit, und er bewältigt ihn.
Saxo spricht sich zu anfang des dritten buches über die
grundsätze aus, nach denen er die geschichte Hothers er/älilt.'-^)
Er will pragmatisch verfahren, nicht die Überlieferungen wider-
geben sondern auf grund des überlieferten die dinge darstellen,
wie sie auf einander folgten und sich auseinander entwickel-
ten. Er nimmt also aus seinen quellen vorauf, was ihm für
die darstellung vorauf zu gehören scheint, und ergänzt, die
handlung schritt für schritt weiter führend, die sprünge der
Überlieferung nach eigener phantasie, die einzelnen scenen
widerum nach eigenstem dichterischem nachempfinden ausge-
staltend. Erste frage ist: von wem stammt Hother, wann
ward er geboren, wie reiht er sich in die nordischen königs-
reihen und geschichtlichen Verkettungen ein. Die nflchste
lautet: wie ward er mit Nanna bekannt? Die antwort wird
gemäss einer sehr verbreiteten ■•) nordischen sitte gegeben:
Hother wird in Gewars haus erzogen. An eine derartige er-
ziehung eines jungen edlen in befreundetem hause knüpfen
sich gern blutsbrüderschafteu; Hother findet zwar keinen bluts-
bruder, aber eine milchschwester. Indem der dichter nun den
herrlich heranwachsenden Jüngling schildert, wie er an körpcr-
') So ist curas zu übersetzen: vgl. 71,18 attoiiita curis mcntc.
'^) Trotz der verblüffenden construction: obumbrantcni tabernacuio
ist dieselbe sinnfällig notwendig anzunelmien.
^) huius terapora, si ab ctatia eins origine cepero, apliiis oxplica-
buntur. pulchrius enina i)lenius(|ue extronia annorum illius ciirricnla
perstringuntur, ubi prima silencio non damnantur, b. H. (ifi, (1 ff.
*) Vgl. Weinhold, Altnord, leben 285 f.
64 BEER
stärke und jeglicher leibestugend alle altersgennssen übertrifft,
zieht er eine eigenschaft seines liekleu heran, über die ihn ein
später benutztes spielmannslied (XIX) belehrte: Hother war
auch ein grosser spielmann.') Bei solchen eigenschaften war
es kein wunder, dass Nanna ihr herz an ihn verlor.
Diese kritik der Überlieferung Saxos ist um so berech-
tigter, als sie sich an der erzählung von Balders erwachender
liebesnot bestätigt. Zweimal wird dieselbe berichtet: einmal
pragmatisch vorausgenommen, das zweite mal innerhalb einer
ausführlich widergegebenen quelle. V ist augenscheinlich ein
in sich geschlossenes lied: Hother, auf der jagd durch nebel
irre geleitet, kommt zu der behausung von waldjungfrauen.
Sie reden ihn mit namen an. Er befragt sie erstaunt nach
ihrer Wesenheit. Sie bekennen sich als valkyrjen, belehren
ihn, dass Balder Nanna liebt, und warnen ihn, Balder zu
bekämpfen. Als sie gesprochen, zerfliesst und verschwindet,
alles, und Hother steht auf offenem feld unter freiem himmel.
Die begründung ihrer warnung vor einem kämpf mit
Balder ist allerdings von echtem gepräge mönchischer chro-
nistenerfindung. Hother ist ein schwedischer könig, Balder ein
gott; wie kann ein mensch gegen einen gott kämpfen? Mit
diesem wirrsal sucht sich Saxo in seinem ganzen bericht ver-
gebens abzufinden.
Andrerseits kann das gespräch schon ökonomisch mit der
Warnung nicht abgeschlossen haben; die warnung muss ver-
nünftig begründet worden sein. Die folgende Unterredung mit
Gewar, die mit einer naiv banalen familienscene beginnt (her-
vorgerufen durch das pragmatische bedürfnis, nunmehr die
Werbung Hothers eintreten zu lassen, und weiter unten (X) in
verstärkter kindlichkeit sich widerholend) widerholt die war-
1) Man hat in sehr unvorsichtiger weise die spielmannskünste
Hothers als eine altmythische vorstciUinig mit den sturmesraelodien des
wilden heeres zusammengestellt, ohne auch nur den geringsten anhält
für eine sturmnatur Hothers oder gar ein einherfahren in der wolken-
jagd zu haben. Mit derselben berechtigung könnte man aus Saxos be-
richt schliessen, dass Hother ein grosser Jäger war wie Ulier, ein grosser
Schwimmer wie Beowulf und 15reka, gewaltig mit dem kampfriemen wie
— nun, wenn sich kein analogon findet, so vielleicht eine geistreiche
homonymie, um auch hier die Überlieferung wort für wort auszudeuten.
DER STOFF DES ORENDEL. 65
nung, aber mit einer ursprünglicheren begrlindung: Balder ist
unverwundbar. Es gibt allerdings ein Werkzeug, ihn zu ver-
nichten; dieses aber ist in den eisregionen, den winterbergen
verborgen und schwer zu gewinnen. Hother gewinnt es in
einer stimmungsvollen mondschcinscene.
In diesem teile der Überlieferung hat die eddische sippe
das ursprünglichere. Ein gott, der allein unter seinesgleichen
unverwundbar ist, ist als solcher ein mythisches unding und
der heldensage angehörig •); in der eddischen Überlieferung
aber sehen wir dieses motiv organisch aus dem bediirfuis er-
wachsen, den götterliebling, mit dessen tod der Weltuntergang
anhebt, am leben zu erhalten. Er ist nicht unverwundbar,
aber alle dinge haben sich verpflichtet ihn nicht zu versehren;
übersehen wurde nur die mistel, und diese verdankt wol ihre
wähl dem zusammenklang mit mist nebel. Das lied, welches
Saxo vorlag, steht auf dem standjjunkt der eddischen sippe:
Balder soll sterben. Es gibt aber diesen sagenstand in einer
noch späteren, entstelleuderen weiterhildung: Balder ist unver-
wundbar, nur ein bestimmtes seh wert vermag ihn zu töten,
dieses ist nicht in sondern jenseits der eisregion'^) verborgen,
diese mit einem schnellen hirschgcspann zu überwinden, der
hüter ein Miming, in dessen bänden ausserdem noch der typische
schätze mehrende ring. Offenbar eine inhaltlich verschobene,
und ferner willkürlich ausschmückende dichtung; wie sich noch
eine zweite quelle (XIX) der dänischen sippe als eine sageu-
geschichtlich späte ergeben wird.
Die beiden abenteuer, welche Saxo an die gewinnung von
ring und schwert knüpft, sind sehr l)ezeichnend für sein ver-
fahren. Das erste (VIII) ist ein kämpf mit einem Sachsen-
könig Gelderus, der, in einer kriegslist gipfelnd, in dieser
eigentlich seinen Inhalt hat. Angeknüpft wird er durch Gel-
l
') Auch in anderer bezieluing gehört diese vorläge Saxos der
heldensage an: liother und Bahler stehen einander nicht als gJitter son-
dern als heroen gegenüber; der siegreiche held ist der von den valii3-rjen
bevorzugte; und indem nacii beliebter Schablone der sagengchalt in ein
prophetisches gespräch gekleidet wird, ergeht der siegverheisscnde nor-
nenrat an den unholden winterdäiuon.
-) Die eierschalen des jahreszcitenniytlius hat der nordische wclt-
untergangscyclus nie abzustreifen vermocht.
Beitiägo zur gcschichte der doutachon Bprnclio. XIII. 5
66 BEER
ders begierde, die berühmten kleinodicu ihrem glücklichen ge-
wiuncr zu entreissen; der abschluss ist verdiente niederlage,
Versöhnung und freundschaft. Das zweite (IX) ist die übliche
Werbung durch einen gewichtigen gönner^), die Hother für
einen llelgo von Halogaland um die tochter des stolzen Finuen-
königs übernimmt: eine, augenscheinlich übel widergegebene
Schablonenerzählung. X. Während dieser ab Wesenheit
Hothers^) erscheint Balder mit heeresmacht, um Nanna zu
verlangen. Der vater zuckt die achseln und verweist ihn an
die tochter; die tochter erteilt ihm einen regelrechten korb:
eine ehe zwischen göttern und menschen könne nicht zum
guten ausschlagen: einmal, weil der unterschied zu gross sei;
sodann, weil auf die treue der götter nicht zu bauen; sodann,
weil der unterschied zu gross sei, sodann, weil noch einmal
der unterschied zu gross sei, endlich aber, weil noch einmal
der unterschied zu gross sei. Und Balder zieht mit seinem
beere wider ab. Diese partie ist auch für den tollsten spiel-
mann zu einfältig und trägt ganz das gepräge Saxoschcr er-
findungsgabe.3) Sie ist, wie vieles andere, von der kritik der
Überlieferung einfach zu kassieren.
XI. Hother ist über Balders frechheit auf das äusserste
entrüstet und beklagt sich bitter bei Helgo (folgt eine sentenz
über die woltat freundschaftlicher herzensergiessungen). Nach
langem schwanken wird krieg beschlossen. XII. Eine See-
schlacht von göttern wider menschen: gegen Hother, Gelder
und Helgo mit ihren beeren streiten Balderus, Othinus und
Thoro mit den heiligen götterschaaren. Hother, in einem un-
durchdringlichen ge wände, wütet unter den göttern, soweit
das ein mensch unter göttern kann; Thoro aber schmettert
alles mit einer einer entsetzlichen keule nieder*), bis es Hother
gelingt, dieselbe durch abschlagen des griffs untauglich zu
machen. Dieser waöe beraubt, fliehen die götter: unglaublich,
aber wahr; es waren eben nur sogenannte götter. Balder
rettet die flucht.
>) Vgl. Weinhold 239 f.
2) Man beachte die pragmatische Verknüpfung.
8) Vgl. 76, 19—23.
■*) Er fordert die feinde auf, mit gleicher zahl wider gleiche zahl
zu kämpfen (73,30. 31): also ein Zweikampf, den aber Saxo sofort wider
fallen lässt: irgend eine erinnerung klingt in seinen ohren.
DER STOFF DES ORENDEL. 67
XII a. Die feindlichen schiffe werden zerstört, der fliehende
rest verfolgt (folgt eine scntcnz über die masslosigkcit des er-
folges). Das andenken der schlacht bewahrt die örtliche be-
zcichnung: Balders hafen. Der in der schlacht gefallene
Gelder wird feierlich begraben, Helgo und seine junge gattin
in herrlichkeit heimgeleitet. Kother heiratet nun seine geliebte
Nanna, damit nicht von neuem etwas dazwischen kommt. Er
führt seine junge gattin nach Schweden: so ruhmreich durch
seinen sieg wie Balder lächerlich durch seine niederlage.')
Die Überlieferung dieses abschnittes erklärt sich durch
Saxos Vorliebe für schlachteuschilderungen in romanhafter
breite. Ein kämpf Hothers einerseits gegen Balder, Othin und
Thor ist selbstverständlich mythisch nie überliefert worden,
vielmehr ein kämpf lediglich zwischen Hother und Balder.
Immerhin schmückt die Überlieferung diesen kämpf mit echten
Zügen; dass Thor nach einer (für sich bestehenden) jahreszeit-
lichen anschauung den winter über des hammers verlustig war,
lehrt der anfang von DrymskviÖa, und den verkürzten hammer-
stiel hat bereits Grimm (M. 150) durch eddische Überlieferung
als (an sich) mythisch belegt.^) Beide umstände sind hier, wie
die ortsbenennung: Balders hafen, ganz willkürlich herange-
zogen und ein, weiterhin (XIII. XIV) durch andere belege ge-
stützter anhält, dass Saxo alles, was sich irgend an Balders
oder Ilothers namen knüpft: lieder, traditionen, ortsbennungen,
in seine gesamterzählung einzuHechten bestrebt war.
XUI. Aber Hother musste bald den wankelmut des glückes
erfahren. Von Balder geschlagen, floh er zu Gewar. Der sieg-
reiche Balder, um seinem verdurstenden beere labung zu ver-
schaffen, wühlte den boden auf und erweckte einen quell, der
noch heute seinen namen trägt.^) Im übrigen blicl) der sieg
•) Eine für Saxos missverständnis des eigentlichen mythischen ge-
haltes seiner vorlagen sehr bezeichnende bemerk ung.
*) Vielleicht sogar eine indogermanische anschauung: vgl. Mann-
hardt, Germanische raythen K)^. Einen weiteren, sehr bedeutsamen
beleg des deutschen hammermythus bringe Wolf, Heiträge z. d. m. I, iKi bei.
■') Mit ihm erscheint auch der gütter Statthalter Fro und nimmt den
sitz zu Upsala ein, allda scheuslichc opfer empfangend : ein neuer beleg,
dass Saxo keine gelegenheit sich entgehen liisst, irgend eine ihm bekannte
locale oder sonst traditionelle mythische beziehung einzuflechtcn.
68 BEER
resultatlos, denn Nanna blieb ungewonnen, und gleich darauf
erfahren wir, dass Hotber, sieb Seelands bei ibm günstigen
politiscben umständen bemäebtigend, könig von Dänemark und,
uacb seines bruders tod ^), könig von Schweden wird. Dagegen
fühlt sich Balder von liebessehnsucht und -aufregungen so er-
schöpft, dass er nur noch auf einem Zweigespann einberfährt.
XIV. Er folgt (wann? sogleich?) dem Hotber nach Seeland,
während derselbe gerade in Schweden ist, gewinnt die herr-
schaft über Dänemark (so wankelmütig waren unsere vor-
fahren) und schlägt den herbeieilenden Hother zum zweiten
male, der sich nunmehr, nachdem er zuvor in Jütland die
Winterquartiere bezogen (hybernis peractis) und einem platz
daselbst den namen gegeben, verzweifelnd in die einöde zurück-
zieht (folgt eine sentenz über die vereinsamende Wirkung des
Schmerzes).
Diese chronologisch haarsträubende Überlieferung ist nach
jeder richtung hin verdächtig. Hother wird geschlagen; trotz-
dem bleibt ihm zeit, erst Dänemark und dann Schweden zu
gewinnen; erst während er hier weilt, folgt ihm Balder, wird
Dänenkönig und schlägt den herbeieilenden gegner. Diese
zweimalige schlacht ist für die ursprüngliche Überlieferung ein
Unding. Ein lächerliches unding ist die erotische erschöpfung
Haiders, die Saxo augenscheinlich lediglich erfand, um eine
ihm bekannte, sehr merkwürdige anschauung einzuflecbten, der
zu folge Balder auch auf einem, von zwei rossen gezogenen
wagen vorgestellt wurde; wie er nach klassischem muster die
jütischen Winterquartiere erfand, um einen, nach Hother be-
nannten platz einzuflecbten.2)
Auf diese weise erklärt sich auch die erste schlacht. An
einen Baldersbrunnen knüpfte sich der mythus, dass der gott
nach (vielleicht auch: während) einer siegreichen schlacht sei-
nen durstenden schaaren eine quelle schlug. Dass diese fas-
sung der fabel geprägt vorlag, beweist ihre widerkehr in der
Karlsage und anderen Überlieferungen.^) In allen diesen fällen
*) Der nunmehr erzählt wird.
'-') Weitere belege für einflechtung disparater elemente.
•') Karl der Grosse nach einer siegreichen schlacht. Karl V. wäh-
rend einer belagerung; ähnlich Gangolf. Oswald nach einer siegreichen
schlacht (aber zu legendarischem zweck). Vgl. Gi^pim M. 783. Laistner,
DER STOFF DES ORENDEL. 69
mag sie angewachsen sein; aber als typus ist sie hiermit er-
wiesen. Ist in unseren quellen von sonstigen kämpfen Hai-
ders keine rede, so weisen der von einem beer begleitete Hai-
der, der reitende Haider des Merseburger Spruches ebenfalls
über die grenzen unserer Überlieferung hinaus. Es ist unab-
weisbar und wurde schon von Grimm angedeutet, dass Halder
zu einer zeit, zu welcher ihn die ausbildung einer götter-
hierarchie noch nicht auf einen kleinen Wirkungskreis be-
schrcänkte, als der leuchtende gott der athniosphärischen er-
scheinungen mittelpunkt einer eigenen mythenweit, und jeden-
falls Vertreter des götterkampfes wider die dämonen war so
gut wie OÖinn und Freyr, die beide in unseren quellen von
dem specifischen dämoneubekämpfer Thor bis auf wenige an-
haltspunkte zurückgedrängt sind. Das göttersystem ist nicht
der ausgang sondern die letzte phase der mythischen ent-
wickelung, und es lässt sich nahezu schlagend beweisen, dass
die einzelnen göttev, verschicdnenorts entstanden, sich in ihrer
bedeutung sehr nahe berührten, in ihren Wirkungskreisen nahezu
deckten und erst, als sie durch die, in allen Stadien der sageu-
entwickelung so stark waltende Wanderung gemeingut grösserer
distrikte geworden, in einem natürlichen ausgleich sich in die
fuuctionen teilten und genealogisch verknüpften; wie ja auch
ursprünglich gleichbedeutende wurzeln und stamme, verschied-
nenorts entstanden und dann durch Wanderung gemeingut ge-
worden, in unwillkürlichem ausgleich auf begrenzte nuancie-
rungsgebiete eingeschränkt wurden.
In der tat verläuft, wie bemerkt, der erste kämpf völlig
resultatlos; der zweite aber hat ein sehr wichtiges rcsultat:
Hother wird vertrieben. Und somit lassen sich aus den bis-
herigen abschnitten des Saxoscben l)erichtes vier Überliefe-
rungen herausschälen: 1. Halder und llother sind nebenbublcr
um Nanna. 2. Hotlicr gewinnt eine, in den eisregionen ge-
borgene warte, mit welcher allein der unvcrsehrbare HaUlcr zu
vernichten ist, 3. Hother besiegt und vertreibt Halder. l. Hal-
der zurückkehrend besiegt und vertreibt llother. Unter diesen
Nebelsagen 199. Wolf, Heiträge I, 133. 191 (woselbst weiteres bedeut-
sames material); diese Beiträge XI, 400; ebenda 4lö weitere vtM- weise.
Schwedisch das dürstende beer bei Afzelius III, 2-l().
70 BEER
vier Überlieferungen nimmt die zweite i) eine Sonderstellung
ein: unvereinbar mit der dritten und vierten, widerstrebt sie
auch dem folgenden berieht: das seh wert Hothers und die un-
verwuudbarkeit ßalders kommen nie wider vor, und Hother
bedarf ganz anderer mittel, um Balder zu bewältigen.
XV. Hother, in der einsamkeit irrend, gelangt auf unbe-
tretenen wegen unversehens in die grotte unbekannter Jung-
frauen. Es waren dies aber die nämlichen (setzt der bericht-
erstatter hinzu-)), die ihn einst mit einem unverletzlichen
gewande ausgestattet hatten. Befragt, wie er an diese
statte komme, klagt er sein missgeschick und beschuldigt
sie des wortbruches, weil der verheissene sieg aus-
gebt ieben.^) Sie trösten ihn mit seines feindes ehemaliger
niederlage, und dass das blutbad auf beiden selten das gleiche
gewesen. Sie verheissen ihm sieg, wenn es ihm gelinge, einen
für Balder ersonnenen stärketrunk zu geniessen. XVI. Diese
verheissung erfüllt Hother mit der höchsten kampflust, obwol
es für menschen schwer wider götter zu streiten; daher ihm
manche den kämpf widerraten. Aber die begierde besiegt
seine ehrerbietuug vor der götter hoheit (wie nicht immer die
Vernunft gegenüber der tapferkeit zu ihrem rechte kommt);
vielleicht auch vertraute er auf die Unbeständigkeit der macht.
XVII. Balder erscheint mit einem Dänenheer; eine blutige
Schlacht folgt, entscheidungslos von der nacht unterbrochen.
XVIII. Während alles ruht, sehleicht Hother, von niemand ver-
merkt, auf kundschaft in das feindliche beer (folgt eine Sen-
tenz über die schlummerlose sorge) und kommt gerade dazu,
wie drei Jungfrauen, die trägerinnen des stärketrunks, Balders
lager verlassen. Er folgt ihren spuren im thauigen gras^)
bis zu ihrer behausung, (XIX) gibt sich für einen spielmann
') Die als der eddischen sippe zugehörig gekennzeichnet wurde.
'■*) easdem esse constabat.
'■') Alan bemerke, dass sie soeben als ihm unbekannt bezeichnet
wurden,
^) Man sollte also annehmen, dass sie so schnell entschweben, dass
Hother ihnen nicht folgen kann; bei dem gesammtcharakter dieser, später
zu erörternden, partie ist aber eher anzunehmen, dass sich Saxo über-
haupt nichts vernünftiges dabei gedacht hat sondern einen irgendwo
aufgelesenen poetischen zug unpassend verwertete.
DER STOFF DES ORENDEL. 71
aus und bewährt sofort seine kunst in bezaubernder weise,
während die Jungfrauen aus dem geifer dreier schlangeuweib-
chen den wundertiank brauen. Die eine in ihrer mensehen-
freundlichkeit hätte gern Hother an dieser speise anteil ge-
währt; aber die älteste wehrt den verrat an Balder, seines
feiudes kräfte zu stärken. Der spielmann leugnet Hother zu
sein; er sei nur einer seiner gefährten. Dieselben Jungfrauen
nämlich (heisst es wörtlich), beschenken ihn in ihrer gute
mit einem leuchtenden gurt und einem siegmächtigen giirtel.
XX. Als er den pfad zurückwandelt, begegnet er Balder (der
augenscheinlich soeben seinem stärketrunke nachgeht), ver-
wundet ihn tötlich in der seite und lässt ihn halbtot liegen.
Dort grosser jubel im einen, Jammer in dem anderen lager,
XXI. Balder, der seinen tod nahen fühlt, lässt sich in die, um
seiner wunden schmerz erneute schlacht tragen, um nicht im
zelte zu sterben. XXÜ. In der folgenden nacht erscheint ihm
Proserpina (Hei) und verkündet ihm, dass er am folgenden
(also zweiten) tag in ihren armen ruhen werde. Am dritten
tag stirbt er und wird feierlich begraben.
Diese letzte Überlieferungsmasse rechtfertigt die an dem
voraufgehenden geübte kritik. Hother kommt ein zweites mal
zu waldfrauen; es sind dies die nämlichen, die ihm einst ein
unverletzliches hemd verliehen und sieg zugesichert haben.
Beide züge sind der ersten begegnung (V) vollkommen fremd;
dagegen erscheint in der grossen see- und götterschhicht (XII)
Hother mit einem undurchdringlichen gewand bekleidet. Dass
l)eide züge in jener lückenhaften partie V gestanden, ist darum
fraglich, weil die Verknüpfung mit VI, dessen echte züge genau
da einsetzen, wo die echten von V aufhören (bei der warnung
vor einem kämpfe mit Balder), für Saxos vorläge das wintcr-
schwert als siegesmittel Hothers wahrscheinlicher macht wie
das gänzlich physiognomielose undurchdringliche hemd, welches
nichts ist als ein müssiges wauderrequisit, während Baldcrs
unverletzlichkeit und die walle in den cisregionen als natür-
liches crgebnis einer überschaubaren sagenentwicklung sich
darstellten. Ob Saxo eine weitere Überlieferung zu geböte
stand, der zu folge einer Unterredung llothers mit waldfrauen
jene beiden züge eigen waren; mit anderen Worten: ob die
prophetische valkyrjenbegegnung Hothers auch in anderer ge-
72 BEER
stillt gesuiigeu wurde und Saxo bekanut war, muss dahin ge-
stellt bleiben, Sicher aber ist die XV geschilderte begegnung
ein Saxoschcs mach werk. Die Jungfrauen sind Hüther un-
bekannt; nichtsdestoweniger bezichtigt er sie des wortbruchs.
Und womit verteidigen sie sich? dass Hother nicht minderen
schaden zugefügt wie erlitten habe! Farbloses Ungeschick ist
das gepräge des ganzen abschnittes gegenüber der knappen
gcschlossenheit jener vorläge. Weil in ihr des winterschwertes
gewinuung von nornen prophetisch angekündigt ward, musste
der raub des stärketrankes mit gleichem aufwand in scene ge-
setzt werden, die gespenstische nebelscene in verschlechterter
aufläge figurieren. Der ganze abschnitt XV ist unecht, um so
unechter, als natürlich die drei den stärketrank brauenden
Jungfrauen valkyrjen sind; Saxos Ungeschick somit eine val-
kyrjenscene mit einer anderen ankündigt.
AVie töricht widerum, wie stümperhaft wird die echte
valkyrjeuscene eingeleitet! Hother, auf nächtlichen Schleich-
wegen, sieht die trankjungfrauen Balders lager verlassen.
Dass diese Situation schon deswegen ganz sinnlos ist, weil
lialder seine schützeriunen später um des trankes willen auf-
sucht, kümmert Saxo nicht; ihm schwebte eine scene vor, in
der ein held nebelfrauen nachschleicht, und er flocht sie frisch-
weg ein. Der verlauf ist des anfanges wert. Hother kommt
zu den Jungfrauen um des stärketrunks willen, und er verlässt
sie, ohne ihn genossen zu haben. Der stärketrunk wird ihm
versagt, weil er Hother sei, und er gibt sich, um ihn von Hai-
ders schützerinnen zu erhalten, für einen genossen Hothers
aus. Warum überhaupt Hother als spielmann eingeführt wird:
auf dass die macht seiner kunst ihm den trank gewinne, hat
Saxo vergessen; und die schlicssliche spende der freundlichen
Jungfrauen, der kraftgürtel, verwandelt sich aus der dichteri-
schen Schilderung der vorläge: ein stärkegurt, ein leuchtender
gUrtel! für Saxos Verständnis in das geschenk zweier gürtel.
Es ist offenbar: Saxo hatte seine quelle weder verstanden
noch recht im gedächtnis. Die einleitung durch einen unent-
schiedenen kami)f ist nach der Schablone der kriegsberichte,
das nächtliche schleichen auf kundschaft vermittelt die sinn-
lose episode von den, dem lager entwaudolnden Jungfrauen.
Da nun an der sinnlosesten partie des ganzen letzten teiles,
DER STOFF DES ORENDEL. 73
dem abschnitt XV, erst recht nichts zu halten, so ergibt sich:
XV — XVIII sind lediglich machweik Saxos, in der Über-
lieferung nicht begründet. Für den ganzen abschnitt XV — XXII
lag Saxo im wesentlichen eine Überlieferung vor: llother kommt
unversehens zu der bchausung dreier valkyrjen. Er fragt, was
sie treiben; sie erklären ihm, dass sie aus Schlangengift einen
stärketrank für Balder brauen. Durch spielmannskünste ') ge-
winnt er ihnen denselben ab und einen kostbaren stärkegUrtel
dazu. Als er sie verlässt, begegnet er Balder, der sie gerade
aufsucht, und verwundet ihn tötlich.
Diese quelle Saxos ist ein spielmannslied. Die stimmungs-
volle Situation: die Jungfrauen in der grotte, unter gemurmel-
ten Zauberworten den herabträufenden geifcr von den lippen
dreier Schlangenweibchen auffangend, bezeugt, dass es ein
gutes lied war, wenn auch ein lied von wenig altertümlichem
gepräge.-) In der mythischen entwickelung tritt auf allen
stufen eine Umbildung hieratischer Überlieferung zu mensch-
lichen nutz- und hausgebräuchen ein: der amuletismus. Dinge
und ceremonieen hieratischer bedeutuug sollen die mensch-
heitsschranken erweitern: wunden und kraiikheiten heilen
und verhüten, unüberwindlichkeit und unverletzlichkeit schallen.
Diese abergläubischen'') gebrauche werden widerum in den
götterhimmcl übertragen: so gut die götter vor dem mahle aus
dem blute der (wem?) geopferten tiere weissagen (Hymiskv.),
bereiten die nornen dem bedrohten Balder einen stärkctrunk.
In der bedrohung Balders aber liegt das wichtige moment
der Überlieferung. Balder ist bedroht; daru'.n wird ihm ein
stärketrunk bereitet, der ihn unüberwindlich macht. Aber
') Hier ist die (luelle tilr Hothers sangesknnst in II aiizum'hmen.
-') Wie schon die ganz iiheifliissige liäufiing des stärketrunkes dnrcli
das Wanderrequisit des stiirkegilrtels veiimiten lässt.
') Es gibt christlichen so gut wie heidnischen aherglauben; aber-
glaube ist entartung religiöser anschauungen und ceremonien , ent-
arteter glaube. Er besteht im wesentlichen aus aniuletisnius (hand-
lungen, die unheil verliüten, bezüglich: deren Unterlassung unheil nacli
sich zieht) und schanianisnius (gespensterglauben, spuk). Der von der
Völkerpsychologie für ersteren geprägte nanie ist fetischisraus. Doch
ist dieser begritT dahin zu erweitern, «last; unter ilin alle 'wunsch-
dinge' und viele 'unmögliche handlungen', besonders der luärchen-
wetten, fallen.
74 BEER
Hotber i^ewiimt diiieli spiclnuiuuskiinste den gcnuss dieses
zaubeniiittels, und Balder erliegt. Man sieht: diese Überliefe-
rung ist 1, weit ursprünglicher als die von V — VII, 2. mit
der letzteren conciirrierend, also unvereinbar. Die eddische
sippe verkündet: Balder niuss nach einer prophezeiung ster-
ben; darum suchen ihn die götter zu schützen (denn sein tod
erötinet den Weltuntergang): alle dinge verheissen ihn nicht
zu verletzen — bis auf eines. Daraus erklärt sich V: Balder
ist unverletzlich, aber eine im winterlaud ruhende waffe wird
ihn durch Hothers band töten; und XIX: Balder ist bedroht;
die valkyrjen bereiten ihm zum schütze einen stärketrank, aber
diesen gewinnt Hother als spielmann, und Balder muss ster-
ben. V vergisst den anlass der unüberwindlichkeit, XIX führt
als mittel derselben ein amulet ein.
Auf die bedrohung Balders aber ist jedenfalls XXII zu-
rückzuführen: Hei erscheint Balder und verkündet ihm seinen
Untergang. Der tod am dritten tag ist wol nach der legenden-
schablone und stimmt nicht mit Saxos eigenem bericht des
Sachverlaufes; der zug, dass der totwunde Balder sich in die
Schlacht tragen lässt, nach einem berühmten muster. Ob die
Verwundung in der seite nicht auch mythisch sinnlos und
übernommen ist, bleibe einstweilen dahingestellt. Jedenfalls
sind XXI und XXII willkürlich und unursprünglich, und der
einzige echte zug, die todesprophezeiung Hels, wahrschein-
lich herauszunehmen und in der bezeichneten weise zu ver-
werten: als die veranlassung des trankschutzes.
Alles in allem hat die kritik der dänischen Überlieferung
folgende sagenzüge herausgeschält: 1. Hother und Balder sind
nebenbuhler um Nanna (III — V). 2. Hother besiegt und ver-
treibt Balder (XII). 3. Balder kehrt zurück und vertreibt
Hother (XIII. XIV). 4. Balder ist unverletzlich; aber ein in
der eisregiou ruhendes schwert wird ihn durch Hothers band
töten (VI). 5. Balder ist bedroht, darum bereiten ilim val-
kyrjen einen stärketrunk, der ihn unüberwindlich machen
wird: Hother aber gewinnt diesen (durch spielmannskünste)
und erschlägt Balder (XV — XXII). Von dieser Überlieferung
stehen 4. und ö. der eddischen sippe, wie dargetan, nahe: die
unverletzlichkeit wie die bedrohung führen zurück auf den
weltuntergangsmytlius. Dagen enthalten 1. — 3. eine ganz neue
DER STOFF DES ORENDEL. 75
übeilieferuDg: Hotbcr und Balder sind nebeul)ublcr um Nauua;
Ilotber vertreibt Bakler, muss aber danu selbst vor dem zu-
riickkebrendcu eutweicbeii. Diese Überlieferung stellt Saxo so
dar, als ob Hotber der begünstigte, Balder der versebmäbte
liebbaber sei; jeuer der berrliebe, rubmreicbe bcldenjUngling,
dieser der bassenswürdige (V.), scbmaebvoUe (XII a) bubler.
Der irdiscbe liebbaber stebt dem möncbe näber am herzen als
der verfluchte heidengott. Diese an sieb tendenziös gefäri)te
(XII a) darstellung weicht in einer weise von der besseren
eddischen Überlieferung ab, welche sie richtet. Der allgeliebte
lichtgott, dem sein treues weib Nanna nachstirbt, konnte
mythisch nie zu dem hässlichen nebenbuhler eines, in recht-
mässiger ehe eben jener Nanna vermählten winterdämons wer-
den. Und hier setzt Laistners geniale bemerkung (Nebels. 201)
ein: auch in der dänischen sippe war Nanna Baldcrs weib;
ein winterlicher dämon verdrängt ihn von ihrer seile, au der
nunmehr er sein buhlerwesen treibt, bis der rUckkehrende
gott der Wirtschaft ein ende macht.
Laistner kommt auf die Hothersage bei gelegenheit seiner
besprechung der Gangolf legende (196 — 204), die er in innere
beziehung zu jener zu setzen geneigt ist. In der tat werden
von Gangdlf (Wolfgang) mythisch klingende dinge berichtet'),
und er ist andrerseits ein sehr zweifelhafter heiliger; historisch 2)
weiss die legende nur von ihm, dass er, ein Burgunder, zu
Pippins Zeiten ein grosser kriegsmann vor dem herrn gewesen
sei; die ihm zugeschriebenen wunder sind teils schablonen-
haft»), teils accessorisch'*); daraus freilich zu folgern, dass
>) Er ist ein grosser Jäger (b. L. 19H): eine eigenscliaft, deren Ver-
einbarkeit mit einem heiligen leben den tlieologen Ivopf/.crljreelien ver-
ursaehte (Heiligenlexicun II, .37;!); nach einem voli<sghiuben (b. L. 2(hi)
fahrt Wolfgang zu wagen über das wasser; vgl. (ebenda) einen Gangoll-
berg als Wetterpropheten, ferner seine Verehrung zu piingsteu, den fall
seines gedenktages auf den II. oder 13. mai: den sehluss der frühlings-
zwölften, zu deren anfang der Balder geweihte Pfultag steht; den i:«.
Servatius, den 14. Bunifaziiis, beides (luellerweckonde heilige (b. L. 202);
über letzteren vgl. wichtige nachweise bei Wolf. Heitr. /-. d. m. I, l'.il. IH.i.
-) Heiligenle.xicon II, ;»7:<.
•') Die von vielen heiligen erzählte ((uelhveckung.
*) Der kesselfang, der lediglich eine combination des quellcnwun-
ders mit der untreue der frau.
76 BEER
Gangolf ein lieiduiscber gott gewesen sei, wäre gewagt, da
wol göttliche Züge auf heilige iiheitiagen wurden, kaum aber
wol ein gott zum heiligen erhoben. Die zu der Baidersage
(bei Saxo) stimmenden zUgc der legende sind: 1. eine quell-
erweckung. 2. Untreue der gattin (V). 3. Tötung des heiligen
durch den buhler, 4. und zwar durch Verwundung in der
Seite. 5. An seinem Sterbelager eugelische paradiesesprophe-
zeiung. Den letzteren zug, der nur dem dichterisch verbrei-
ternden bericht der Hroswitha eigen ist, mit Hels todesver-
kündung zusammenzustellen, ist gewagt: nicht allein, weil der
zug in Saxos lesart schwerlich an der rechten stelle steht,
sondern namentlich, weil derartige eugelsbotschaften in der
legendenschablone beliebt sind; man vergleiche ihre widerholte
an Wendung in dem spielmannsgedicht Orendel. Ebensowenig
kann die quellervveckung Gaugolfs für die gleichsetzung beider
Überlieferungen in frage kommen; abgesehen davon, dass die
quellerweckung Gangolfs einer ganz anderen sippe der quell-
sagen und -legenden') angehört, wird sie auch in dieser ge-
stalt von sehr verschiedenen heiligen berichtet (Laistn. 203.204)*,
und feiner ist es äusserst fraglich, ob die quellerweckung ßal-
ders zu seinem kämpfe mit Hother in beziehung steht. Bleibt
also für die begründnng der combination als mögliche Überein-
stimmung die buhlerei der gattin, als tatsächliche der tod
durch den buhler einerseits, die Verwundung in der seite an-
dererseits. Letzteren zug anders als durch zufall oder, in
letzter linie, gemeinsamer vorläge zu erklären, vermag ich
nicht, bevor mir die mythische bedeutung desselben dargetan
ist; jene beiden züge mögen einen mythus enthalten: ihn
für diese Sammlung zu verwerten, wage ich nicht, noch
weniger aber, ihn mit Saxos Hotherüberlieferung zusammenzu-
stellen.
Diese crörterungen haben den rahmen der Müllerschen
Sammlung bereits wesentlich überschritten; das hauptstück der-
selben und ein angelpunkt seiner theoretischen ausführungen
ist noch, um seiner eigentümlichkeit willen, in einer kleineu
gruppe für sich, getrennt von der göttergruppe, zu untersuchen.
*) Nämlich den (|uellübertragungen, gegenüber der erweckung durch
hufschlag, lanzen- (schwort-, stab-) stoss, nachgrabung.
DER STOFF DES ORENDEL. 77
Es ist von Saxo nach zwei berichten niedergeschrieben i): das
eine mal in sehr geschmacklos ausgeschmückter weise, ent-
weder auf gruud eines frivol motivierenden spielniannsliedes
oder unter zutat eigenster albernheiten; das zweite mal in un-
vollständiger, aber einfacher und vielsagender widergabe. Ein
gewisser Othinus, der in ganz Europa einer unverdienten
heiligkeit genoss, verweilte mit Vorliebe in Upsala. Ihn zu
ehren, santen die nordischen fürsten ihm seine schwer um-
goldete, mit geschnieide verzierte bildsäule nach Byzanz (offen-
bar seiner residenz), über die sich der gott nicht wenig freute.
Aber Frigga, sein böses weib, Hess aus blosser schmucksucht
die Statue des goldes (d. i. wol des geschmeidcs) berauben,
und als der erzürnte besitzer die frechen diebe hängen Hess,
gab sie sich einem diener hin, auf dass er die statue zerstören
helfe, mit deren gold sie sich nunmehr schmückte.'^) Und
solch böses volk, ruft der fromme Saxo mit mönchischer ent-
rüstung, konnten die menschen anbeten! Othinus, nicht minder
betrübt über die Zerstörung seines bildes wie über die Schän-
dung seines bettcs, wandert in die ferne. Nach seinem weg-
gehn erwirbt ein zauberer Mithotynus^) durch gaukeleien bei
den menschen göttliche Verehrung. Jene nützen ihm aber
nichts, als Othinus heimkehrt: er muss den usurpierten thron
räumen, mit ihm die ganze sippe von kleinen und grossen
Usurpatoren, die sich unterdes breit gemacht haben; Othinus
zerstreut sie gleichsam durch den siegreichen glänz
seiner gottheit.
Wilhelm Müller hat mit recht aus dieser fässung lediglich
gefolgert: 1. dass Frigg dem OÖin untreu wurde, 2. dass OÖinn
in die ferne zog und ein MeÖoÖinn an seine stelle trat, der
aber wider verschwand, als OÖinn zurückkam, und 3. dass die
') A. a. o. 25 und 81.
'^) Man beachte die zweimalige anwendung des nämlichen motivs,
an die sich noch die wendung schllesst, dass die säule mit der rede be-
gabt wurde.
^) Die Schreibung -otynus für -othinus, welche letztere sich durch
die zweite Überlieferung als die richtige ergibt, ist ein belog für die un-
genauigkeit Saxos in der widergabe der, ihm wol meist nur aus dem
gehör bekannten namen. Als eigentliche gcstalt des namens ist Me^o-
Sinn anzunehmen.
78 BEER
untreue Friggs nicht die ursaclic von 0(5ins ahwesenheit war
sondern während dieser erfolgte, das heisst, dass sie dem zwei-
ten OÖin auch als gattin angehörte.
Die zweite erzählung bericlitet, Othin, der mit den göt-
tern in ßyzanz residierte, habe durch seine unanständige Wer-
bung um Rindr sieb als götterkönig unmöglich gemacht, der-
artig dass die gJUter ihn ausgcstossen und an seine stelle
einen gewissen OUerus gewählt hätten, den sie ebenfalls
Othin US nannten. Nach längerer zeit aber hätten sie, in
mitleid mit dem, in bettlergewand sich kleidenden, ver-
triebenen gott, ihm erlaubt in die alte würde zurückzukehren;
der falsche Othinus sei entwichen.
Bemerkenswert ist, dass in dem zweiten fall der andere
0(5inn seinen platz \on rechtswegen inne hat, in beiden fällen
mit dem namen 0?Jin benannt und somit als gleichberechtigt
anerkannt wird; so dass auch darin die zweite fassung recht
behält, dass er mehr abdankt als flieht: wie denn von einer
tötung durch den heimkehrenden gatten und herrscher nirgends
eine rede ist. Bemerkenswert ist ferner, dass OÖins gegner in
der zweiten Überlieferung Ollerus, das ist Ullr heisst: also
den namen eines bündig belegten wintergottes trägt. Unter
diesen umständen ist kein zweifei, dass auch hier eine jabres-
zeitensage vorliegt, des eigenartigen Inhalts: der OÖinn, der im
Sommer herrscht, weilt im winter in fernem land und tritt
seine gesamte machtsphäre in dieser zeit einem andern OÖin
ab, welcher mit seinem weibe lebt, aber bei der rückkehr des
sommer-OÖins zu weichen hat. Sommer- und wintergott wechseln
in bester Ordnung, und so heisst ja auch Ullr der beste freund
Baldrs.
Um die byzantinische residenz OÖins recht zu beurteilen,
ist Yngls. c. 5 heranzuziehen: OÖinn hatte in Türkland grosse
besitzungeni); ferner Paul. Diak. 1,9: Wodan .... qui non
>) Nördlich vom schwarzen mcer liegt Schweden, durch Schweden
fliesst der Tanais: das land /.wischen seinen armen ist Vanaland; östlich
von ihm liegt Asaland (Asien), westlich Europa (c. 1 — 4). Ein von
nordost gen Südwesten verlaufendes gebirge trennt Schweden von an-
deren ländern, unter denen Türkland ist. OÖinn herrscht in Asaland
(das, wie bemerkt, einen teil von Schweden ausmacht), hat aber be-
sitzungen in Türkland. (Der rationalistische Verfasser verlegt gemäss
DER STOFF DES ORENDEL. 79
circa haec tempora sed longe anterius .... in Graecia fuisse
perhibetur. Bei Paulus: Wodan, der früher einmal in Griechen-
land gewesen sein soll — bei Snorri: O^inn, der eigentlich in
Schweden residierte, aber auch in 'J'ürkland sich grosser be-
sitzungeu erfreute — und dem gegenüber bei Saxo: Othinus,
der in Byzanz sass, aber zuweilen nach dem norden kam:
man kann nicht zweifeln, wer das ursprüngliche gibt. OMnn
herrscht im norden, aber zeitweise ist er fern im osten; der
Osten ist schlechtweg Byzanz, Griechenland, der Yngls. Türk-
land: und so wird aus OÖins ostfahrt eine orientfahrt.
Diesen Übergang wollen wir uns bemerken.')
Oegisdrekka, die es ja nicht allzugenau mit namen nimmt,
wirft der Frigg buhlerei mit Vili und Ve vor, und wol im an-
schluss an sie"^) erzählt Yngls. c. 2 unsere sage in folgender
gestalt: OÖinn machte öfters grosse reisen, bei denen er viele
jähre fort blieb. Während dessen walteten seine brüder Vili
und Ve des reiches; als er aber einmal gar keine miene
macht widerzukommen, geben sie das w'arten auf, teilen unter
einander das reich und eignen sich sein weib zu. Da unver-
sehens erscheint OÖinn wider und tritt in seine alten rechte.
Man hat aus dieser Überlieferung schliessen w'ollen, dass die
sage lediglich eine schlechte erfindung sei zur erklärung einer
alten dreieinigkeit OÖinn, Vili, Ve, der natürlich weib und
herrschaft gemeinsam war eben um der einheit der drei willen.
Ist eine solche auffassung nach den obigen analogieu unhalt-
bar, so steht es um die angebliche ursprünglichkeit der drei-
einigkeit nicht besser; nicht allein, dass jede dreieinigkeit bc-
seinen geographischen kenntnissen Tiirkland nach dem süden, wie er
Asaland zu Asien macht; er weiss aber doch noch, dass die alten güttor
in Schweden herrschten, und dass üciinn nur zeitweilig in Türkland, d. i.
dem osten, verweilt).
*) Dafür, dass OÖin überhaupt ustfahrten und kämpfe im osten
eigen waren, lässt sich manches anführen: besonders die Bäarmagasaga,
dann die rahmensituation von Grimnisuial, ferner Vaf}>ruÖnisnial und,
vielleicht, die einleitung des Ilrungnirkarapfes, vergl. OÖins wander-
namen.
^) Dafür spricht auch die Übereinstimmung beider (piellen in dem
bericht von des NjörÖ geschwisterehe. — Vielleicht erklärt sich die ent-
stellung der Mitoöinsage aus einer Überlieferung, der zu folge die bei-
den jahreszeitcngüttcr brüder waren wie Baldr und Ilöt^r.
80 BEER
reits (He phase der (mystischen) systematisierung repräsentiert,
ist eine dreieiiiigkeit ethischen, abstracten inhalts besonders
spät anzusetzen.
Müller hat sieh über die weit, in der OÖinn die zeit seines
fernweilens verbrachte, eine eigene anschauung gebildet: OÖinn
weilt im totenreiche. i) Alle beiden der heimkehrgruppe waren
fern im totenreiche. Gründe: 1. sie kehren in unkenntlicher
Vernachlässigung zurück, und ebenso sieht Thorkill ganz welk
aus, als er von Utgardloki zurückkommt, erscheinen tote ent-
stellt und übel gekleidet, der tod selbst und die geister nicht
besser, kehren menschen, die in geister- oder teufelsgesellschaft
waren, blass und mit entstellten zügen zurück, werden leute,
die Jahrhunderte wie stunden im geisterreich zugebracht haben,
bei dessen verlassen von niemand mehr erkannt: Alles belege,
dass die unkenntlich und verwildert heimkehrenden götter und
beiden aus dem totenreich kommen. Umgehrt kehrt ein mann,
der im paradies gewesen, ganz unkenntlich schön zurück.
2. Alle jene beiden sind in die ferne gezogen; und das toten-
reich wird gern im äussersten westen (also warum nicht auch
Osten?) auf eine insel (z. b. die britischen inseln) verlegt. Der
letztere beweisgrund verdient die Widerlegung, dass man sich
das totenreich jenseits eines Stromes 2), und darum jenseits des
kanals dachte. Die ersteren gründe sind kaum ernst zu neh-
men und widerlegen sich am besten durch gruppieruug des in
diesem capitel gewonnenen materials.
Wir fanden: I. eine reihe von beiden, die eine wallfahrt
1) Die andere hälfte seiner theorie wird Müller wol selbst nicht
mehr aufrecht erhalten. In dem methodischen irrtum, die sagenunter-
suchung mit einer Synthese des getrennten statt mit einer analyse des
aneinandergeratenen zu beginnen, hat er die Rindrsage mit der Ullrsage
verknüpft: Ot5inn ist nicht um der buhlerei mit Rindr willen vertrieben
sondern buhlt mit Rindr, weil er vertrieben ist; Rindr ist ein wesen des
totenlandes. Also Oöinn in der unterweit mit Rindr buhlend und gleich-
zeitig MitoÖinn auf der oberweit mit Frigg buhlend. Dem entsprechend
ergänzt Müller die heimkehrgruppe durch eine brautfahrtsgruppe, der
z. b. der könig Rother zugehören soll : der vertriebene könig buhlt wäh-
rend seiner abwesenheit mit einem wesen des totenreiches.
2) Aut diesen interessanten glauben, zu dem besonders Mannhardt
in den germanischen mythen wertvolle belege beigebracht hat, näher
einzugehen, muss ich mir hier leider versagen.
DER STOFF DES ORENDEL. gl
bezüglich orientfahrt oder grosse reise unteruehmeD, zu hause
nach ablauf einer bestimmten frist (widerholt sieben jähre) für
tot gelten, in dem moment, wo ihre gattin zu einer neuen Ver-
mählung schreitet, unkenntlich und in niederer tracht (von
geisterhand getragen) zurückkehren und, nachdem sie sich zu
erkennen gegeben, friedlich in ihre rechte eintreten. Der eine
dieser beiden scheint in einem spielmannsgedicht schlechtweg
marinaro, der Seefahrer, genannt worden zu sein. Dazu ge-
hört P ein märchen, dessen held in dieser zeit (7 jähre)
knechtesdienst (beim teufel) geleistet hat; P eine sage, deren
held nicht in den Orient sondern in die berge zieht, dort als
knecht heerden weidet, unvermutet, als sein weib, an seiner
heimkehr verzweifelnd, sich eben neu vermählen will, erscheint,
sich zu erkennen gibt und dann in die berge zu seinen heer-
den zurückwandert.
IL a) Halfdan verlobt sich mit einer Jungfrau, zieht in
den krieg, hört nach längerer zeit, dass seine braut im begrift"
steht einem andern vermählt zu werden, erscheint in niederer,
unkenntlich machender tracht bei der hochzeit und erschlägt
den nebenbuhler. Die braut heisst in dem einen fall Guritha,
in dem anderen trägt sie einen durchschnittsnamen. b) Half-
dan hört, dass eine Jungfrau einem riesen vermählt werden
soll, erscheint in niederer, unkenntlich machender tracht, er-
sehlägt ihn und vermählt sich mit der Jungfrau. Die Jungfrau
heisst Gro. Ergebnis: ein held hört in der ferne, dass seine
braut einem unliebsamen freier, oder gar einem riesen ver-
mählt werden soll, erscheint in niedriger, unkenntlich machen-
der tracht, in einigen fällen bei der hochzeit, und erschlägt
den nebenbuhler. Die Jungfrau heisst Gro oder Guritha, der
held steht mit Thor in enger beziehung.
ni. Thor, von der ostfahrt ende winter zurückkehrend,
oder herbeigerufen (oder der ihm wesensverwante held Half-
dan herbeigerufen), erscheint in niederer, unkenntlich machen-
der tracht bei einer hochzeit, zu der ein riese eine Jungfrau
zwingen will, und erschlägt ihn (oder findet, in uiedeicr
tracht aus dem riesenland zurückkehrend, bei seinem weib
einen buhlen).
IV. OÖinn, in niederer tracht aus dem osten zurückkehrend,
Beiträge zur gesohichte der deutsclieu spräche. Xlll. fj
82 BEER
macht den wintergott Ullr von seinem thron und seinem weih
entweichen.
V. Baidur, durch den wintergott HöÖur vertrieben und der
gattin beraubt, kehrt siegreich wider, verjagt den Usurpator
und tritt in. seine alten rechte.
VI. Svipdagr kehrt in niederer, unkenntlich machender
tracht zu der seiner harrenden geliebten.
Mau sieht, dass I, IV und V, II und III gruppenweise
einander näher stehn, während VI ihnen gegenüber steht. In
I, IV und V kehrt der rechtmässige gatte zurück, und der un-
rechtmässige entweicht. In II (III) erschlägt der rechtmässige
den unrechtmässigen. In V ist gar kein unrechtmässiger vor-
handen.
Soviel ist bereits jetzt mit voller bestimmtheit zu sagen:
in der gesammten heimkehrgruppe handelt es sich um jahres-
zeitenmythen. Thor ist im osten im wiuterland und kehrt im
lenz heim. OÖinn ist im osten im winterland und kehrt im
lenz heim. Die befreite gottheit, wenn sie Freya, ThruÖr, Sif,
Nanna, Gro oder Guritha heisst, hat eine beziehung zur som-
merlichen fruchtbarkeit. OÖins nebenbuhler Ullr ist notorischer
wintergott. Und so ist auch Oerv.andill-Orendel im winterland
und kehrt im lenz heim. Und so ist Horvendils kämpf mit
KoUr dem kalten^) jedenfalls ein holmgang um Gerutha und
ein Jahreszeitenmythus wie alle anderen.
Dieser kämpf mit Koller hat bei Saxo^) ein interessantes
Seitenstück. Skioldus und Skatus sind nebenbuhler in der
liebe um eine Alvilda. Sie fordern sich zum holmgang, und
Skioldus erschlägt den Skatus. Das klingt sehr einfach und
oft dagewesen. Aber wenn man Saxos ungenaue Schreibung
der namen in betracht zieht, so liegt die Vermutung nahe, dass
Skiölds gegner jener Skadi war, der in der Völsungasaga c. 1
als Schöpfer eines namens für grosse Schneehaufen auftritt 3),
und der auch durch die natur seiner namensschwester als ein
winterlicher dämon belegt wird. Sehr zu statten würde es
dieser hypothese kommen, wenn es uns gelänge auch den
1) Vgl. Uhland VI, 31 a. 1.
2) A. a. o. 12.
») Vgl. Beiträge III, 291.
DER STOFF DES ORRNDEL. 83
Skiöld durch aualogiensainuilung: in den kreis unserer jahres-
zeitenmythen zu ziehen.')
Ehe wir also an die endgültige dentung und sagenge-
schiehtliche klarlegung der Orendelsage und ihrer epochen
gehen, werden noch einige analogieu zusammenzutragen sein.
Zuvörderst einige wichtige ausserdeutsche.
§ 4. Ausserdeutsche analogieu mit deutsclieu
parallel eu.
Eine episode des, die eutwickluugsphase der heldensage
repräsentierenden, indischen Mahabharata-) enthält einen ronian,
der, in seiner allerdings sehr fortgebildeten gestalt, eine auf-
fallende Übereinstimmung mit der erzählung von MitoÖin be-
kundet. Indra streitet mit Vrtra ohne ihn überwinden zu
können. Für beide teile ist ein frieden nicht unwillkommen,
und die götter schliessen mit Vrtra einen vertrag, der den
letzteren gegen jede Schädigung durch seine erbfeinde sicher
stellt. Aber als sich eine allzugünstige gelegenheit bietet, kann
Indra nicht widerstehn, und indem er sein gewissen mit feiler
klügelei niederhält, erschlägt er den nebeubuhler. Die Wir-
kung wird geschildert wie sonnendurchbruch nach wetterdunkel
oder lenzeseinkehr nach winternacht. Aber Indra kann sich
seiner tat nicht freuen; von reue gepeinigt entflieht er und
birgt sich in zusammengeschrumpfter gestalt am himmelsende
in den wassern in einem lotossteugel. Wie er aber ver-
schwindet, fällt fürder kein regen, verdorren die wälder, ver-
siechen die ströme; allenthalben waltet not und elend. Die
götter, nach abhülfe begehrend, erwählen den frommen men-
schen Nahusha au Indras statt. Aber der mensch kann die
macht nicht vertragen; er wird ein übermütiger tyrann, und
die götter zittern vor ihm. Als er schliesslich seine band
nach Indras gattin ausstreckt, ersinnt ein brahmane, zu dem
die beängstigte entflicht, eine list, welche den gewalthaber zu
tiefster Versündigung verleitet. Er wird als schlänge vom
*) Als Skiülds gattin nennt Heimskrinfijla Getjon: eine Wesenheit,
deren athmosphärische natiir durch weitere uiytheu belej^t ist.
^) Uebersctzt von üoltzmann. Indische sagen I, 1 1 IV.
6*
84 BEER
binimel gestürtzt, während Indra, von den göttern gesucht, ge-
funden und entsühnt, seine alte henlichkeit wider erhält.
Ich habe die erzählung, wie sie uns erhalten, als einen
roman gekennzeichnet. Ich unterscheide dabei in der sagen-
entwickelung scharf drei phasen: den primitiven mythus, das
ist die einfache naturanschauung; die fabel, das ist die natur-
anschauung gefasst als ein motiviertes ereignis; und den roman,
das ist die phautasievolle ausgestaltung der primitiven fabel.
Wenn zum beispiel ein mythus existierte, dass ein jahres-
zeitengott periodisch in ein fernes land verschwinden muss, so
ist dies eine schlichte naturanschauung; wird dieses verschwin-
den mit einer Verschuldung motiviert, so haben wir eine fabel;
und werden die umstände und die folgen dieser Verschuldung
und dieses verschwindens ausgestaltet, so ist der roman fertig.
Wäre eine derartige genetische Unterscheidung von unseren
vergleichenden mythologen beobachtet worden, so wäre ihnen
viel arbeit — und viele Irrtümer erspart geblieben.
Von diesem Standpunkt aus ist die obige erzählung zu be-
urteilen. Sie ist, wie alle späteren sagengestaltungen der
Inder, nach dem princip der Verherrlichung des brahmanen-
tums^) zurechtgestutzt; eine dem entsprechende starke neigung
zu moralisieren hat die motivierung der handlung allenthalben
deutlich beeinflussf^); aber überall schimmern, die alten, echten
Züge durch. Die erschlagung des Vrtra ist als ein athmosphä-
*) Man vergleiche den brahmanen, der die lieilige opferflamme, den
gott Agni, als boten aussendet den Indra zu suchen: überall sucht
Agni, aber in das wasser wagt er sich als feuer nicht; der brahmane
muss ihn zuvor durch Zaubersprüche schützen. Nun durchfährt Agni
alle gewässer; widerum, als er den Indra endlich entdeckt, ist er nur
der böte und muss den brahmanen benachrichtigen. Indra ist zusammen-
geschrumpft um seiner sünden willen; aber ein erhebendes wort des
brahmanen gibt ihm seine alte grosse zurück. Der brahmane fordert Indra
auf, den Nahusha zu stürtzen, aber ein rishi ist es, der ihn als schlänge
vom himmel schleudert.
^) Vgl. v. 183 ff. die moralische rede über die heiligkeit und wol-
tätige Wirkung des feuers, 127 ff. über die bestrafung des mannes, der
einen schutzfliehenden seinen Verfolgern preis gibt; dem entsprechend
die einführung des Nahusha als eines menschlichen königs, der, auf
erden ein edler fürst, die alimacht nicht vertragen kann und zum wol-
lüstigen frevler wird, und die begründung von Indras Verbannung mit
einem Vertragsbruch.
DER STOFF DES ORENDEL. 85
rischer mythus längst dargetan; die flucht ludras offenbart
sich in unverkennbarer weise als ein Jahreszcitenmythus. Der
indische winter ist die zeit entsetzlicher dürre; die zeit, wo
Cusna, der austrockner, die macht hat, an dessen stelle auch
Vrtra genannt wird '), für welchen widerum der name des als
schlänge, drachen gefassten Ahi eintritt.2) Diese drei dänionen,
welche im gründe verschiednenorts aus verschiedenen beobach-
tungen entstandene namen des nämlichen wesens sind, halten
die wasser zurück, bis sie Indra im gcwitter erschlägt, wobei
von Vrtra-Ahi berichtet wird, dass er als schlänge zur erde
stürtzt. Auch dass sich der abwesende gott im wasser (in
einem lotosstengel) verbirgt, erinnert an ähnliche mythen.^)
Namentlich der letztere zug ist ein deutlicher wink, dass
der vorliegende mythus viel älter ist als die ausprägung der
göttergestalt Indra. Es gab einen mythus, nach welchem der
die sommerliche fruchtbarkeit gewährende gott über winter für
abwesend galt, die herrschaft einem ausdörrenden dämon
überlassend; wenn er aber im lenze heimkehrte, stürtzte der
dämon, wol von dem blitze des gottes getrollen '), als schlänge
herab; woltätige wasser strömten erlöst, die natur atmete auf
und feierte die widerkehrende schöne Jahreszeit. Nachdem
auch dieser mythus an Indra angewachsen war, lag es nahe,
sobald seine bedeutung vergessen wurde, die flucht des Indra
mit seiner eigentlich typischen tat, der erschlagung des Vrtra,
in beziehung zu setzen. Indra hatte mit ihr eine schuld auf
sich geladen; er musste entweichen. liier setzte die braiima-
nische entstellung ein, so frei gestaltend, dass alles, was ül)or
den einfachen rahmen des jahreszeitlichen fernewcilcns und
widerkehrens des hauptgottes, der dürre während seiner al)-
•) Vgl. Ludwig Rigveda 457, 10.
2) Ebenda 4^4,21.
^) Auch vediach flicht ludra, nachdem er den (schlangongestaltigen)
Ahi erschlagen, über die '.l'.i ströme (Mannh., (i. m. 2111. Indra wird
genannt der aus dem wasser geborene, desgleichen der schlangcn-
bekämpfende wesensgleiche Trita (Mannh. 2i:{. 215) und Agni der feuor-
gott. Letzterer wird auch als im wasser weilend betrachtet (Zeitschr. f.
mythol. II, 323); ebenda wahren die meereagütter (Mannh. IDT) Indras
blitzbogen.
*) Vgl. s. 69 a. 1, dass der brahmane ihn auffordert den nebcnbuhler
zu vernichten.
S6 BEER
Wesenheit und des juhcLs über seine riickkelir, des intcrregnums
eines büsewiebtes und seines Sturzes vom bimmel in scblangeu-
gestxilt') hinausgeht, als verdächtig bei seite zu schieben ist.
Namentlich das verlangen Nahushas nach Indras gemahlin hat
einen höchst romanhaften anstrich und schmeckt zu sehr nach
dichterischer ausgestaltung der Situation, um als analogen zu
anderweitigen mythen geltend gemacht zu werden.
Aber auch unter diesen einschränkungen ist das ergebnis
äusserst wertvoll und wird noch wertvoller, wenn es gelingt
einschlägige griechische analogien anzuziehen.
Miillenhotfs Scharfsinn verdanken wir die entdeckung des
auffallenden parallelismus des alten nostos der Odyssee und
der deutschen heimkehrgruppe. Allerdings weigerte sich der
entdecker, die analogie für die mytbenvergleichung nutzbar zu
machen; Orendelsage und Odyssee waren ihm schiffermythen
und die in ihnen vorausgesetzte seebefahrenheit erst in der zeit
der vollzogenen Völkerscheidung anzunehmen. Nachdem das
oben beigebrachte material für die deutsche Überlieferung mehr
und mehr die schiüersage gegen den Jahreszeitenmythus zu-
rücktreten Hess, können wir letzteres bedenken bei seite schie-
ben. Die Odyssee trägt allerdings die zUge einer schift'ersage;
aber bereits MüUenhotf betonte, dass der name des beiden erst
aus seinem geschick erwachsen, folglich der sage dieser so ge-
artete held uuursprünglich, oder schärfer gefasst: die sage
mutter des beiden, nicht der held vater der sage war. Wenn
nun der alte nostos, unangesehen die individualität des aus
ihm heraus benannten beiden, den Inhalt hat: ein heros weilt
gezwungen eine, mit hieratisch-mythischer zahl näher begrenzte
zeit fern von seinem lande und seinem weihe auf einer insel,
welche sich aus dem namen ihrer sagenhaften berrin als ein
wölken- ncbelland darstellt, und findet zurückkehrend weib und
land usurpiert von einem oder mehreren gewalthabern, so ist,
in anbetracht, dass genau die nämliche formel deutsch wie
indisch widerkeiirt, anzunehmen, dass der nostos die sagen-
hafte Verschiebung eines uralten indogermanischen mythus dar-
*) Vielleicht auch die auffinduiif^ Indms durch das hin- und wider-
fahrende himmelsfeucr: eine anschauung, welche im kreise der gewitter-
iiiythen interessante parallelen linden dürfte.
DER STOFF DES ORENÜEL. 87
stellt: sofern dieser mythus in anderweitigen gcstal-
tungen sich als griechisch erweisen lässt.
Zunächst ist der Hyperboreerniythus') in das augc zu
fassen. 1. Nach der delischen Version, die Herodot überliefert
hat, kamen zwei hyperboreische Jungfrauen nach Delos, um
der Eileithyia den dauktribut für die schnelle geburt der Leto
zu bringen: weizengarben, die eine o})fergabe umschlossen.
Mit ihnen schickten die Hypeiborecr der Sicherheit halber fünf
bürger als begleiter, die nunmehr (in Delos), IltQcphghc, ge-
nannt, sehr verehrt würden. Nachdem aber die entsanten nicht
heimkehrten, fürchteten die llyj)eiboreer, dass es Jedes mal so
geschehen würde, und brachten ihie garbengabcn nur bis an
die grenze des nächsten Stammes, von wo aus sie von stamm
zu stamm weiter befördert wurden, bis sie in Delos eintrafen.
Auch von zwei anderen hyi)erboreischeu Jungfrauen wird eine
ähnliche fahrt berichtet. Endlich kommt Leto selbst von den
Hyperboreern nach Delos um zu gebären, i. Die delphische
sage (enthalten besonders in einem Päan des Alkäos bei liime-
rios)-) berichtet: als Apoll (in Delos) geboren war, cutsaute
ihn Zeus, geschmückt mit goldener mitra und lyra, auf einem
schwanenwagcu, in Delphi den Hellenen das recht zu verkün-
den. Er aber lenkte sein schwanengespann zu den Hyper-
boreern. Als die Delphier dies vernehmen, rufen sie den
gott durch einen päan, von Jünglingen um einen drei-
fuss gesungen, von den Hyperboreern zu ihnen zu
kommen. Apoll, nachdem er ein Jahr den Hyperboreern ge-
weissagt, hält es für an der zeit, dass der delphische dreifuss
töne, und erscheint, von seinen schwanen gezogen, in sonmicrs-
mitte unter dem sang der nachtigallen, schwalben, cicadcn und
dem aufrauschen des kastalischeu (juclls und des lidchwogcn-
den Kephissos. '^. llekatäos von Abdcra verlegte die llyi)er-
boreer auf eine inscl im norden Jenseits des Keltenlaudes.
4. Für Claudian ist A|)(»ll der alljälirlich von den Hyperboreern
zur frühlingszeit widcrkelncnde gott.
Mannhardt, der in verdienstvoller weise antike culte dmcli
') Das m!iteri:il in guter übcrsiclit zusiimmengestellt von Wdcker,
Griechische güttcrlehre 11, iil'J IV.
2) A. a. 0. 359.
SS BEER
aiialogie beutiger volksbräuehe aufzuhellen suchte, bat end-
gültig dargetan'), dass hinter dem delischen Hyperboreer-
mythus sieb ein alter ackercult verbirgt: die periodische dar-
briuguug einer ländlichen opfergabe an dem heiligtum des
truchtbarkeit spendenden Apoll. Im anschluss an andere ge-
lehrte vertritt er die ansieht, dass aus dem namen der, viel-
leicht nordländiscben, Überbringer des opfers jitQ(ftQhg gleich
v.TEQffFQetQ und vielleicht makedonisch vjrsQßeQiTcu-) der sagen-
name eines, im norden angenommenen Volkes, der Hyperboreer,
entstanden sei. Diese annähme, wenn sie auch nicht allge-
mein geteilt ist, hat viel für sich; der boden vorsichtiger folge-
rung wird aber verlassen, wenn Maunhardt, im anschluss an
Ottfried Müller, der, wie alle schöpferischeu naturen, seine
epoche machenden priueipieu in der praxis zu straff spannte,
auch die delphische Überlieferung aus dem ackercult heraus-
wachsen lässt, indem er annimmt, dass ihr ein historisches,
völlig unverbürgtes factum zu gründe liege, etwa des inhalts,
dass thessalische Griechen festtheoiien nach Delos eutsant
hätten. Denn wenn es richtig geschlossen ist, dass die garben-
gabe der delischen sage keine einmalige sondern eine cyklische
war, so ist es auch erlaubt, ja geboten zu schliessen, dass
jener päan der delphischen Jünglinge, der den gott von den
Hyperboreern herbeirief, ein regelmässig widerkehreuder ge-
wesen sein muss. Nun ist es zwar belegbar, dass aus einem
unverstandnen cult eine fabel erwuchs, schwerlich aber, dass
aus einer missverständlichen fabel ein cult. Der name der
Hyperboreer konnte eindringen; tatsächlich aber bleibt bestehn,
dass die Delphier jährlich in einem festlichen päan den gott
in das land riefen.
Der päan bei Himerios setzt die ankunft des Apoll in
Delphi auf mitte sommer. Röscher 3) hat die ungenauigkeit
dieser angäbe schlagend erwiesen. ApoUon erscheint in Delphi
mitte frühjahr (etwa im april): 1. weil der sommer für schäd-
lich galt, für die zeit des tötenden Apoll, der frühling für die
zeit der lust und wolfahrt, 2. weil bei des Apoll ankunft
') A. W. F. 232 flF.
2) Vgl. Rhein, mus. XVII, 341.
3) Apollon und Mars 33 ff.
DER STOFF DES ORENDEL. 89
quellen und fliisse schwellen, 3. die schwane mit ihm erschei-
nen, die uachtigallen und schwalben ihren gesang anstimmen,
4. und dies ist ausschlaggebend: bei seiner ankunft der drei-
fuss tönt, dass ist: die pythia weissagt, was ursprünglich nur
einmal, und am siebenten tage des friibliugsmondes Bysios
geschah. Dem entsprechend wurde auch Apoll als im
lenz geboren gedacht: eben am siebenten Bysios; und eben
darum weissagte an diesem tage die Pythia. i)
Um den beweis vollzumachen, verweist Koscher-) auf die
angäbe des Hesiod Erga 526, dass die sonne (und Apoll ist
nachweislich in erster linie Sonnengott) im wintcr verschwinde
und bei den Aethiopen weile; so auch auf die sitte der iftroi
xhjTixoi, mit denen Apoll im friihjahr eingeladen wurde, wäh-
rend ihm bei winters eintritt geradezu mit eutlassungsgesängen
({'itroi ajioTct^jiTixoi) das geleite gegeben wuide. Auch stellen
des Theognis und des Dion. Perieg. ergeben, dass Apolls
widerkehr im friihling festlich begangen wurde. Derartige
feiern geschahen ausser in Delphi und Delos nachweislich in
Milet, Megara, Böotien.
Wenn also eine sage entstand, dass Apoll, in Delos ge-
boren, von da zu den Hyperboreern und von da nach Delphi
zog, so sind an ihr drei elcmente schöpferisch gewesen: 1. die
sage von seiner delischen geburt; 2. die sage von dem wunder-
baren Jüngling, der, von schwanen gezogen, licht bringend, aus
einem unbekannten land im frühling kommt und in dieses land
im herbste heimkehrt; 3. der name des Hyperboreerlandes für
die angebliche heimat des gottes.
Nach dem Volksglauben 3) war Ai)oll unmittelbar nach
seiner" geburt von feindseligen dämonischen gewalten, drachen
oder riesen, gefährdet. Nach sieben übereinstimmenden, durch
bild werke noch weiterhin als j)opulär belegten Zeugnissen er-
legte er unmittel l)ar nach seiner geburt, noch auf dem nuittcr-
') "Wenn die delische geburtsfeier des Apoll getrennt von dem
früblingsfeste der cpiphanien aui siebeuten tage des attischen Thar-
gelion, also zu Sommeranfang gefeiert wurde, so weist Koscher (a. a. o.
37) darauf hin, dass allem anschein nach beide feste ursprünglich zu-
sammenfielen und erst bei einer widererneuerung getrennt wurden.
2) A. a. o. 31.
=•) A. a. 0. 39/40.
90 BEER
an»), oder nach delphischer traditioii doch als knabe, einen
drachen, der ihn vernichten wollte.') Koscher deutet diesen
kämpf des sommergottes unmittelbar nach der geburt auf die
mit seinem erscheinen zusammenfallende Überwältigung des
winters; uml der Germane wird unwillkürlich an Vali erinnert,
der den wintergott HöÖr kaum geboren erschlägt; ursprüng-
lich, das ist vor der cyklischen Verknüpfung, wahrscheinlich
ohne bezug auf die ermordung Baldrs, nur als sieg des jung
erstandenen lenzgottes über den winter.^) Immerhin kommen
wir hier über die Vermutung nicht hinaus. Von Wichtigkeit
aber wird uns der mythus, insofern er in Delphi dramatisch
dargestellt wurde. Ein knabe erschlug das ungetüm, musste
aber dann als betleckt Hiehn und entsühnt werden. Aus diesem
cult soll sich die sage entwickelt haben, dass Apoll acht jähre
lang als knecht die stuten des Admet oder die rinder des
Laomedon gehütet habe. Grund des zweiten teils des ceremo-
niellen Spieles sei gewesen, dass Apoll als Katharsios sich auch
selbst von seiner bluttat habe entsühnen müssen.
Es muss nun jedem überlassen bleiben, sich mit der Wahr-
scheinlichkeit dieser hypothese abzufinden; eine mindestens
nicht geringere Wahrscheinlichkeit jedoch wird für eine weitere
theorie zu beanspruchen sein: nachdem dargetan ist, dass ein
altgriechischer mythus (für sein alter spricht sein auftreten in
durchweg verschobener gestalt) den Apoll als im sommer an-
wesend, im winter fern weilend betrachtete; nachdem die Wahr-
scheinlichkeit hervorgehoben wurde, dass Apoll der drachen-
töter den über den winter triumphierenden neugeborenen früh-
lingsgott darstelle, ist, bei der sofort in einem weiteren cultus
zu belegenden neigung der Griechen, anfang und ende des
cyklisch aufgefassten Jahresverlaufs in einer einzigen zusammen-
hängenden culthandlung darzustellen, anzunehmen, dass die
drachentötung als winterbesiegung, das entweichen im herbst
1) Vgl. eine entsprechende indische Überlieferung Mannh., G. m. 233.
'^) Ich mache ausdiücklich darauf aufmerksam, dass, die richtigkeit
der Roscherschen hypothese vorausgesetzt, von Apoll zwei jahreszeiten-
mythen in schwang waren: 1. dass er, im winter abwesend, im lenz
heimkehre, 2. dass er, im lenz geboren, den winterdämon erschlage. Eine
ganz ähnliche doppelüberlieferung wird uns auf deutschem boden als
Wahrscheinlichkeit begegnen.
DER STOFF DES ORENDEL. 91
und die widerkehr im lenze in einer liandlung zusaninien-
gefasst, und später durch missverständnis das entweichen auf
befleckung- und die widerkehr auf eutsühnuug gegründet wurde;
denn Apoll ist erst später ein Katharsios geworden. In dieser
gestalt würde der cultus eine interessante ähnlichkeit mit der
indischen sage haben, in der auch dämouentötung, Üucht und
widerkehr einen cyklus bilden, der fälschlich durch das be-
fleckungs- und entsühnungsmoment motiviert wird.
Unter diesem gesichtspunkt wird Otfried Müllers') hinweis
von belang, dass Ädfir^rog ein häufiger beiname des gottes der
unterweit ist und dem entsprechend Apoll wol eigentlich nicht
dem frommen Admet von Pherä die stuten weidete.'^)
Der letzte ausserdeutsche mythus, dem wir in diesen er-
örterungen einige aufmerksamkeit zu schenken haben, ist der
des Adonis. Er ist uns um so wichtiger, als er, ursprünglich
semitisch, sich als ein drittes neben die indische und die
griechische parallele stellt. Das einschlägige materiaP) ist
folgendes: 1. das Alexandrinische fest (nach den Adoniazuseu
des Theokrit): auf einem prachtpolster ruht der junge Adonis
neben Aphrodite gebettet. Eine Sängerin singt ein üppiges
festlied, welches, beginnend mit der Schilderung, wie nach
Jahresfrist die Hören den Adonis von dem Achcron zurück-
geführt haben, mit der aufforderung schliesst: jetzt möge die
göttin des geliebten sich erfreuen; in der frülie werde man
ihn unter grossem geleite zum meere tragen, unter ekstatischen
schmerzensgebärden und rufen: komm, theurer Adonis, einzig
bevorzugter hier wie am Acheron, sei uns günstig jetzt und
im kommenden jähre ! Freundlich k a m s t d u ; sei uns freund-
lich, wenn du wider kehrst! Die Sängerin weiss mehr, als
sie kündet. — Also zwei feste an zwei tagen: eines der freude,
1) Dorier I, 320.
2) Diese bemerkung würde von grüssler Wichtigkeit, wenn Preller
(I, 107) mit recht einen kleinasiatisch-griechischen Zeusmythius und -cultus
annalim, dem zufolge Zeus als im tVühling geboren, iui winter gestorben
betrachtet und gefeiert wurde. In eigeutiimlicher parallele stünden zu
einem derartigen mythus die nordischen Überlieferungen über Freys,
OSins, Baldrs tod, über die W.Müller, System 267, Simrock, Handbuch
366, Uhland VII, 70 gehandelt haben.
^) Zusammengestellt von Engels, Kypros D, 537 ff.
92 BEER
eiues der klage. Charakteristisch ist, dass das liebespaar auf
dem lager umg-eben ist von fruchten des Jahres, lauben, salben,
vögeln. Auch Adonisgärtchen wurden angelegt, indem in ge-
wisse gefässe weizen und gerste oder fenchel und auch lattich
gepflanzt wurden; die rituelle Verwendung und bedeutung der
letzteren kann hier nicht erörtert werden.^) 2. Auch die my-
sterieufeier von Byblos (Lukian, Syr. gött. c. 6 ff.) betont zwei
tage: am ersten schlug man sich unter leidenschaftlichen klagen
mit fausten und opferte dem Adonis als einem toten, am fol-
genden verkündete man seine auferstehung. 3. Kyrill (z. Jesaias
c. 18) bemerkt: die Griechen trauern und jammern mit Aphro-
dite um den tod des Adonis; sobald er aber aus der unter-
weit zurückkehrt, sagen sie: er ist gefunden! und beglück-
wünschen sich und jubeln in ausgelassener freude. — Das fest
scheint mitsommer statt gefunden zu haben. 4. Nach der einen
sagenform liebt Aphrodite den Adonis und übergibt ihn der
Persephone zur pflege, die ihn nunmehr ihrerseits lieb gewinnt
und nicht mehr entlassen will. Zeus, als Schiedsrichter an-
gerufen, entscheidet, dass Adonis einen teil des Jahres bei
Aphrodite, den anderen bei Persephone verweile. 5. Nach der
anderen Überlieferung liebt und raubt ihn Aphrodite. Von
einem eher auf der jagd getötet, steigt er in die unterweit,
wo er bei der ihn liebenden Persephone weilt, darf aber im
lenz zu Aphrodite zurückkehren und bis zum herbste mit
ihr leben.
Die griechische sage hat den semitischen mythus jedenfalls
sehr stark fortgebildet, wie schon aus der Verwandlung des
phönizischen gottes (für einen solchen zeugt der name Adon =
herr) in das liebreizende kind der blutschande erhellt. Klar
aber tritt aus allen gestaltungen hervor: 1. Ein gott, der im
Winter fern weilt, im lenz widerkehrt (der griechische sterb-
liche Jüngling weilt natürlich in der unterweit; dies ist auch
das einzige, was die liebe der Persephone bedeutet, während
Aphrodite als eine mit der befruchtung in beziehung stehende
gottheit erweislich ist), 2. dass dieser gott eine innige beziehung
zu der chthonischen fruchtbarkeit hat (vgl. die Adonisgärtchen).
') Vgl. hierüber Mannhardt, A. W. F. 279/80, dessen folgerungen
ich mich allerdings nicht durchweg anschliesse.
DER STOFF DES ORENDEL. 93
Unter deu aiulereu griechisclieu mytben ist wabrscheiulich
der von den Dioskuren ähnlicher natur; der von Köre kommt
erst sehr in zweiter linie in betracht.
Das ergebnis unserer ausserdeutschen analogiensammluug
ist also: I. ein indiscbes analogon: ein jabreszeitengott, der im
Sommer zugegen, im winter abwesend ist und einem Usurpator
platz macht, den er dann im lenze heimkehrend vertreibt oder
vernichtet. II. Drei griechiscbe analoga: 1. Apoll weilt über
winter in einem unbekannten lande, aus dem er im lenze von
schwanen gezogen heimkehrt. 2. Apoll über winter in hirten-
frohnde: vielleicbt in der unterweit; das angegebene zeitmass
hat wol katharsische bedeutung. 3. Ein held (Odysseus), ur-
sprünglich ein gott, weilt eine hieratisch bemessene zeit in
einem nebellande, kehrt unkenntlich als bettler heim und er-
löst sein weib und reich von gewalthabern. 1. a) Anzu-
merken ist, dass Apoll als im lenze geboren betrachtet wird.
III. Ein phönizisches analogon: der gott Adon im winter
fern, im lenze widei kehrend zu seiner sehnsüchtig harrenden
gattin.')
Zu II ist eine ganz merkwürdige deutsche parallele an-
zuführen. Unter den rätseln der deutschen sagenforschung,
welche Älüller mit seiner synthetischen methode mehr verwirrt
als gelöst hat, gehört die sage vom schwanenritter. Eine be-
trächtliche anzahl von Überlieferungen berichtet von einem
herrlichen Jüngling, der, aus einem unbekannten lande, von
schwanen gezogen, erscheinend, einer bedrängten frau beisteht,
ihr gatte wird, längere zeit bei ihr verweilt u'id dann in sein
Wunderland heimkehren muss. In zwei Überlieferungen, bei
Wolfram und im Lohengrin, ist der bedränger ein ungestümer
freier. Die motivierung der heimkehr des beiden fliesst der
') Zur stütze diese belege sei noch auf den paphlagunisclien mytlius
verwiesen, dass der jabreszeitengott im winter gebunden und cingesi)ent
und im sommer befreit sei (vgl. Pieller I, 1(>7); wozu als bedeutsame
deutsche parallelen anzuführen sind: 1. die worte der carm. bur. : serato
ver carcere exit (vgl. Grimm, Mythol. III, 75). 2. OÖins gefangcnschaft
bei GeirröS (verwendet in der offenbar verworrenen rahmencrzählung
von Grimnismal, welche die verschiedensten überlielerungen ctimbiniert;
dass ein derartiger mythus erzählt wurde, zeigt die Übertragung der ge-
fangcnschaft auf Loki im achtzehnten capitel der Skalda; vielleicht auch
die sage von Thorsteinn Büarmagn).
94 BEKR
Überlieferung aus der eigeuen Unkenntnis: sie weiss nicht, von
wannen der lield kam; ein heiliges geheiranis waltet darüber,
und wehe, wer es zu lüften versucht! Sein weib kann der
neugierde nicht widerstehn; sie fragt trotz seiner warnung —
und er zieht, von seinem schwane geholt, von dannen.')
Der schwan als Zugvogel kehrt im lenze zurück und
scheidet im herbst; der schwan ist erweislich als das bild der
sommerwolke und scheint vielleicht belegbar zu sein als bild
der sonne. Ein interessanter umstand erhöht den mythischen
Zauber der Überlieferung: in mehreren Versionen erscheint der
held in dem schwaueunachen schlummernd auf einem schilde.
Der Schild ist eddisch und anderwärts erweislich als bild der
sonne. Aber mehr als dies: wir haben zwei sagen, die ein-
ander fast gleich lauten: nach dem Beowulf erschien Skyld,
der söhn des Skeaf, auf einem kahn als kind, man wusste
nicht, woher, und als er als greis verschied, setzte man ihn
auf den nämlichen kahn, und er entschwand, man wusste nicht,
wohin. Nähere umstände über seine ankunft erhellen nicht;
da aber der als sein vater genannte Skeaf seinen namen daher
hat, dass er in gleicher weise schlummerd auf einem getreide-
schaub landete, so wird sich der name Skyld auf seine an-
kunft schlummernd auf einem schild beziehn. Diejenigen un-
serer mythologen, die bei ihren forschungen mit dem genealo-
gischen element anfangen statt mit ihm aufzuhören, haben
kurz entschlossen erklärt, dass das Beowulfslied sich habe eine
Verwirrung zu schulden kommen lassen und kecklich den
mythus von Skeaf auf seinen söhn übertragen habe; da aber
die Skiöldunge nicht nach Skeaf sondern nach Skyld benannt
wurden und in der tat die genealogische ankuüpfung an Skeaf
nicht einmal durchgedrungen, zum beispiel eddisch schlechtweg
durchbrochen ist-), so ist anzunehmen, dass die Vaterschaft
des Skeaf eine accessorische und wol gerade durch den um-
stand veranlasste ist, dass von beiden beiden eine ganz ähn-
liche sage erzählt wurde.^)
*) Eö kann nicht entschieden genug darauf hingewiesen werden,
dass die sagen aus sich heraus organisch weiter wachsen, und dass die
Volksphantasie ganz logisch aus den prämissen die folgerungen zieht.
'■') In der jüngeren Edda ist Skiöld der söhn OÖins.
") Die sage von Skeaf ist übrigens zuerst bei Ethelwerd (gestorben
DER STOFF DES ORENDEL. 95
Die aDgelsfiehsisehcn geneal(>g:ieu machen es walirsohein-
lich, dass Skeaf wie Ökyld urspriiriglieh götter wareu, und
zwar von einer Frey älinliclien, das lieisst: in befruchtender
weise wirkenden natur. Die mythische bedeutung des namens
Skeäf ist schlechtweg unaufgekhirt, wenn auch aus mancherlei
beobachtungen eine dereinstige aufklärung zu erhotlcu ist. So-
viel lässt sich aber aus der einreihung der drei beispiele in
unsere Sammlung schliessen: in allen drei fällen liegt ein
Jahreszeitenmythus vor, dass ein sommerlicher gott im wiuter
fern weilt und im lenze widerkehrt; in der schwauensage zu
einem sehnlich harrenden oder gar von einem freier bedräng-
ten weihe. Und zwar wird in der ursprünglichen mythenform
Skyld nicht auf dem schilde in dem nachen sondern auf dem
Schilde als nachen, und desgleichen Skeaf auf dem schaube
als fahrzeug erschienen sein; der schild als sonne ist wie ge-
sagt erweislich, und in dem sinne eines sonnenwesens fühle
ich mich angeregt meinerseits den Skiöld zu verstehn.
Aus dieser mytheiimasse heraus erhellen sich auch die
rätselworte des angelsächsischen liedes zu der rune Ing'): Ing
war zuerst unter den üstdänen; später ging er ostwärts
über die flut. Die widerkehr verschweigt das lied, wie die
sagen von Skeaf, Skyld und dem Schwanenritter: die sage
kennt in der regel nur einmalige ereignisse. Vielleicht er-
hellt sich auch in dieser weise die berüchtigte Überlieferung
des Tacilus c. HI: Ulixes sei auf seiner berühmten Irrfahrt
auch nach Deutschland gekommen, habe Asciburg (kann heissen:
Schiffsstätte) gegründet und sogar einen altar mit seinem vater
gemeinsam gehabt: wenn nur die ganze nachricht nicht von
vornherein durch das quidam opinantur in die lult gehoben
würde, das ebenso auf unzu\erlässige gewährsmänucr wie zwie-
spältige uachiichten gehen kann.
10!)0) überliefert (vgl. Griiuiu, iMythoI. III, 391): bei dem coaipilatoiischen
Charakter der angelsäclisiächen gencalogien ist somit kein grund vor-
handen, ihnen zu liebe dieser späten nachricht den vorziig vor dem be-
richt des Beowulf zu gelien. Sehr zu bemerken ist, dass bei Ethelwerd
Skeaf nicht auf einer garbe ruht (wenigstens weiss E. nichts von einer
solchen zu berichten) sondern armis circumdatus erscheint wie der Skyld
des Beowulfliedes.
') Grimm, Ucber deutsche runen 2;n.
96 BEER
Dem Ingvi-Frey schliesst sich billig sein 'vater' NjörÖr
an, der wol auch einmal eine sonderexistenz ohne familien-
belastung geführt hat und jedenfalls sehr verschiednenorts vater
des Frey und gatte der Skadi geworden ist; wenn es auch
vielleicht an stimmen nicht fehlen wird, welche auf grund einer
späten eddischen compromiss-nachricht darauf schwören, dass
Freyr der söhn der Skadi sei.^)
Die einschlägige sage von Skadi und NjörÖ hat in einem
in sich geschlossenen gedieht dem Verfasser von Gylfaginning
vorgelegen; wahrscheinlich einem der beliebten Streitgedichte,
welches die wirksame Situation der unglücklichen ehe der bei-
den ungleichen gatten zu einem schalkhaften, allerliebsten klei-
nen roman ausnutzte. Man darf unter solchen umständen
natürlich nicht an die lustigen verse das bleigewicht tief-
sinniger mythendeutungen hängen; doch lässt sich etwa ersehen,
dass der arme NjörÖr in dem ehelichen streit den kürzeren
zog und, seinerseits die Verabredung einhaltend, neun monde
des Jahres (neun nachte, sagte das lied) in den winterlichen
bergen frieren musste, welche Skadi nicht wider verliess. Denn
der augenscheinliche grundgehalt der altmythischen Situation
ist ein periodisches langes verweilen des befruchtenden vanen
in dem winterland.
Und somit zeichnet sich auch dieser mythus durch eine
eigentümlichkeit aus, welche einem teil der mythen des Para-
graphen eine inhaltsschwere bedeutung gibt: Apollon kommt
aus seinem heimatlichen Wunderland und kehrt in dasselbe
zurück. Adonis ist der unterweit verhaftet: er kommt aus ihr,
aber er kehrt in sie zurück. Der schwanenritter erscheint aus
einer wunderheimat und kehrt in sie zurück, Skeaf und Skyld
kommen aus unbekannter ferne und kehren in sie zurück.
NjörÖr kommt aus den winterbergen, muss aber in sie zu Skadi
zurück kehren. Und so erinnere ich an Orendel, der aus Ises
knechtesdienst zu frau Bride kommt, aber zu Ise zurückzu-
^) Vgl. dagegen die, allerdings vielleicht aus Oegisdr. stammende
nachlicht der Yngls. c. 4, dass NjörSr als vaue seine Schwester zur frau
und mit ihr Frey und Freya zu kindern gehabt habe, dass aber diese
geschwisterehe bei den äsen (kann heissen : bei den Völkern und zeiten,
unter und zu welchen das asensystem herrschte) nicht erlaubt und an-
erkannt gewesen sei.
DER STOFF DES ORENDEL. 97
kehren hat. Und an den giafen von Calw, der seine berge
und heerden verlässt, um seine gattin vor einer zweiten ehe
zu wahren, aber wider in seine berge und zu seinen heerden
zurückkehrt.
Und noch eine fernere eigentiimlichkeit: Apollon erscheint
im lenze neugeboren. Skeaf, Skyld erscheinen neugeboren,
ebenso Vali. Hierzu aber halte man vorläufig die eigentüm-
liche anschauung, dass Thor den Oervandil in einem korb auf
dem rücken über die Elivagar trägt: eine zehe lugt aus dem
korb und erfriert. Ist dies das bild eines erwachsenen mannes?
oder eines kindes?!
An das periodische scheiden und widererscheinen deut-
scher und ausserdeutscher götter und beiden ist noch eine
interessante Überlieferung anzureihen. Bei der analyse der
Hymiskvib'a haben wir als ein mythisches einzelgebilde die
nachricht herausgehoben, Tyr kehre heim in das riesenland,
von langer Wanderung, erwartet von seiner mutter und deren
riesischem gemahl, oder von seinem vater und dessen kebse.
Die frage, in welchem Verhältnis Tyr zu seiner riesischeu ver-
wantschaft steht, ist eine äusserst heikele; es ist aber mit
einiger Sicherheit aus der rede der kebse: sei freundlich, dein
söhn ist heimgekommen — auf ein directes kindesverhältnis
Tys zu einem riesen (der natürlich ursprünglich nicht gerade
Hynür geheissen haben muss, wenn auch der dämmerer als
vater des Sonnengottes für allegorische gemüter etwas sehr
überzeugendes haben mag) zu schliessen. Daraus allerdings
eine entstammung der götter von den riesen zu folgern, wie
es Weinliold und andere getan, ist unmöglich geworden, nach-
dem die Untersuchungen Kuhns und besonders Mannhardts (in
den von Kuhn so hart verurteilten, aber bei viel jugendlicher
flüchtigkeit und methodischer unfertigkeit epoche machenden
germanischen mythen) den nachweis geführt haben: 1. dass
die germanische götterweit eine zweigentwickelung eines indo-
germanischen mythenstammes ist, 2. dass dieser mythenstamm
bereits den kämpf der götter und dämonen zu energischstem
ausdruck brachte. Nur ist fest zu halten, dass jener, den un-
getrennten Indogermauen gemeinsame mythenstock aus demen-
ten bestand, die im wesentlichen die entwickelungsstufe un-
differenzierter naturanschauungen einnahmen, vielleicht liier
Beiträge zur geschichte der deutsehen spraelio. XI H. 7
98 BEER
und dort die ersten primitiven motivansätze zur fabelbildung
aufwiesen, loeal gewiss vielfach in dem Übergang zu compli-
cierteren gebilden begriffen waren: nur dass letztere gebilde
schwerlieh bereits über grössere gebiete Verbreitung gefunden
hatten. Dieses Verhältnis ergibt sich aus den erfolgen und
misserfolgen der vergleichenden mythenforschung, die jeden
enttäuschen mussten, der sich auf ein gemeingut ganzer romane
reehnung gemacht hatte, so dass gar mancher über der ent-
täuschung das kind mit dem bade ausschüttete. Eine summe
primitiver mythen aber ist als gemeinsames ureigentum be-
reits nachgewiesen worden und wird noch fernerhin nach-
gewiesen werden.
Von diesem Standpunkt aus gesehen, und in anbetracht der
beigebrachten analogien erscheint der mythus, dass Tyr nach
langen Wanderungen in das heimatliche riesenland, das Ost-
land (in den osten verlegt ja HymiskviÖa die Elivagar) heim-
kommt, als der periodische Jahreszeitenmythus von dem Sonnen-
gott, der, im winterlaod heimisch, allsommerlich über der erde
erscheint und allwinterlich in die kalten regionen zurück-
kehren muss.
Und im anschluss an diese erwägungen wage ich eine
weitere combination. In einem viel umstrittenen passus der
Germania leiten sich nach Tacitus die Germanen ab von einem
Mannus, dem söhne eines Tuisko oder Tuisto (beides gleich
gut überliefert), der widerum als ein söhn der erde gelten soll.
Müllenhofif bevorzugt mit Lachmann die lesart Tuisto und
deutet den so bezeichneten gott auf den zweifachen, das ist:
den himmel und erde umspannenden: eine deutung, so geist-
reich, dass sie das gepräge der Unmöglichkeit auf der stirne
trägt: es wäre wol das einzige (wenigstens alt überlieferte)
beispiel eines nach einer mathematischen abstraction benann-
ten gottes.i) Die andere, von Müllenhofif zurückgestellte lesart
hat man auf ein ursprüngliches Tivisko zurückgeführt, mit
1) Ein gott als träger des von Lachmann und Müllenhofif angenom-
menen Inhaltes hätte vielleicht 'der umfassende' oder 'der allmächtige'
geheissen; obwol auch solchen namen kein hohes alter wahrscheinlich
ist. Die von anders denkenden Wissenschaftlern geltend gemachten be-
nennungcn wie 'söhn der kraft' bedeuten nichts als: 'der kraftvolle',
sind also durchaus conoreten Inhalts.
DER STOFF DES ORENDEL. 99
mehr recht, als Miillenhoff zugesteht, da die Veränderung der
Überlieferung eines Tiuisko in Tuisko durch verlust des ersten
i eine paläographisch unwesentliche ist. Ist diese lesart richtig,
so ist zwar Tivisko söhn der erde, aber Mannus nicht söhn
des Tivisko, so wenig wie Sigmundr söhn des Völsung ist,
sondern Mannus ist selbst Tivisko (abkömmling des Tiu), wie
sein abkömmling, mennisko, der mensch, ist. Ist aber Mannus
Tivisko und söhn der erde, somit die erde gattin des Tiu, so
ist es gestattet die Überlieferung der Oegisdrekka heranzuziehen,
die Str. 40 der gattin des Tyr buhlerei vorwirft: nach dem von
Oegisdr. beliebten verfahren natürlich mit Loki, der hier so
wenig in betracht kommen wird wie für die buhlerei der Sif.
Erlaubt man sich die combination beider nachrichten, so er-
gäbe sich ein mythus, dem zu folge Tyr, mit der erde ver-
mählt, ihr zeitweise fern weilte, indes ein buhler sich ihr zu-
gesellte. Eine Vermählung des lichten himmelsgottes mit der
erde ist ein mythisch allenthalben zu belegendes factum; die
winterliche buhlerei eines chthonischen wesens ein in dieser
erörterung für die germanische mythik mehrfach belegter zug.
Es würde dann von Tyr genau wie von Orendel erzählt wer-
den: 1, dass während seiner winterlichen abwesenheit ein
winterlicher däraon sein weib umbuhlte; 2. dass er die zeit
seiner winterlichen abwesenheit im winterland verbracht habe.
Die scheinbare Unvereinbarkeit dieser beiden züge wird später
erörtert werden.
Wenn es gestattet ist, noch eine fast übe/kühue hypothese
aufzustellen, so wäre es möglich, dass auch Lokis behauptung
von Skadis buhlerei eines berechtigten hintergrundes nicht ent-
behrte: insofern hier die buhlerei des männlichen Skadi
(über dessen kämpf mit Skiöld oben gehandelt ist) irrtümlich
auf seine namens- und wesensschwester übertragen wäre.
§ 5. Ein hypothetisches aiialogoii.
In der folgenden erörterung wage ich weit weniger sicher
aufzutreten. Das gebiet ist ein strittiges, die methode un-
sicher. Der erste anblick meines analogons zeigt allerdings
eine verblüffende Übereinstimmung mit Mahabharata und Mi-
to(^inmythus; eine ausgezeichnet geschickte, wenn auch metho-
100 BEER
disch uicht unanfechtbare arbeit Varnhagens •) in Benfeys bah-
nen scheint diese ganz über den häufen zu werfen — und
wideruni bei einer eingehenden kritik dieser, auf den ersten
blick durchaus überzeugenden auseinandersetzung bleibt von
der hypothese genug übrig, um sie, mit aller vorsieht, als
hypothese aufrecht zu erhalten.
Es handelt sich um die sage von Salomon und Asch-
medai, deren inhalt kurz gefasst lautet: Salomon vpird durch
list von Aschmedai seines zauberrings beraubt (vermöge dessen
er die dämonen beherrscht) und muss unkenntlich als bettler
wandern, während Aschmedai in Salomons gestalt herrscht und
seinen weibern naht. Durch seine eigene niedrigkeit entlarvt
er sich, wird des ringes beraubt, Salomon wird zurückgeholt,
und Aschmedai entflieht. Man sieht: die ähnlichkeit ist über-
raschend, zug für zug.
Da erscheinen Benfey und Varnhagen: afflant, et omnia
dissipantur. Eine märchenfamilie wird vorgeführt: einfachstes
beispiel: ein greiser könig fährt in eines Jünglings körper,
flugs fährt ein zauberer in den seinen, tötet den Jüngling und
ist nun seinerseits könig. Fortgeschrittnere form: ein könig
fährt in einen bettler- oder tierkörper, flugs fährt ein anderer
in den seinen, und der könig muss wandern, während der an-
dere könig ist; der falsche könig sucht aber der königin zu
nahen, diese schöpft verdacht, der echte wird entdeckt, der
falsche bewogen, zum beweis seiner kunst in einen papagei
oder esel zu schlüpfen, worauf der echte könig seine alte
hülle wider in besitz nimmt: und der betrüger ist betrogen.
An stelle des überschlüpfens aus einem körper in den an-
deren soll nun der gestaltenwechsel getreten sein. Salomon-
sage-): in talmudischen Überlieferungen (also in den ersten
sechs Jahrhunderten n. Chr.). 1. Die nach Varnhagen ursprüng-
lichste form: jerusal. Tal. (c. 350 n. Chr.): gott heisst Salomon
seinen thron verlassen, ein engel nimmt diesen ein in des
königs gestalt, Salomon wandert von schule zu schule: ich,
») Ein indisches märchen (auch E. H, Meyer, Gandharven und Ken-
tauren 151 ist von ihm überzeugt).
'^) An Salomon angewachsen in folge einer stelle des pseudosalomo-
nischen, c. 500;40(t V. Chr. fallenden predigers Salomon: ich, prediger,
war könig in Israel!
DER STOFF DES ORENDEL. DU
prediger, war könig in Israel. Die leute glauben iliui nicht
und schlagen ihn. 2. (Die quelle ist leider nicht näher an-
gegeben): Salomon versündigt sich; gott heisst den dänioneu-
fürsten Aschmedai den könig des ringes berauben und in sei-
ner gestalt herrschen. Salomon, durch einen Sturmwind vom
thron geschleudert, irrt umher: ich, prediger u. s. w. Während
dessen macht Aschmedai die reihe von Salomons trauen durch;
bei der letzten, der er zur zeit ihrer unreinlichkeit naht, wird
seine niedrigkeit entdeckt, Salomon wird zurückgeholt, Asch-
medai des rings beraubt, Salomon erhält seine alte gestalt
wider und herrscht fürder. 3. Babil. Talm. (mitte des sechsten
Jahrhunderts n. Chr.): Salomon spricht zu dem gefesselten
Aschmedai verächtliche worte; dieser erbietet sich, seine macht
zu erweisen, wenn ihm Salomon die kette abnehme und seinen
ring übergebe. Sobald dies geschehen, verschlingt und speit
er den Salomon weit in die ferne und herrscht in des königs
gestalt; Salomon wandert und spricht die üblichen worte. Hier-
durch und durch Aschmedais niedrigkeit kommt der betrug an
den tag; man gibt Salomon einen (!) ring (mit heiligen zeichen)
und eine kette, und wie ihn Aschmedai konmien sieht, entläuft
er, 4. Eine weitere fassung aus der Kabbala ist verschoben;
wichtig nur, dass in ihr widerum Salomon um seiner sünden
willen leidet. 5. Verwant: Buch Daniel (c. 167 v. Chr.): Nebu-
kadnezar berühmt sich seiner macht vor gott; zur strafe wird
ihm sein reich genommen, er von den menschen ausgestosseu,
und muss sieben Jahre bei dem wilde des feldes hausen und
gras fressen, in entstellter, verwilderter gestrvlt. Nach sieben
Jahren suchen den gedemütigten seine rate und setzen ihn
wider ein in seine herrlichkeit.
Diese l)elegkctte klingt äusserst überzeugend. Ich war
nach der ersten lecture ganz niedergeschlagen und bereit
mich zu ergeben. Al)er nach und nach stiegen mir einige
zweifei auf, und sie gestatte ich mich hier zunächst nieder-
zulegen.
Die älteste indische version, des Inhalts, dass der greise
könig in den Jüngling schlüpft, der zauberer in den köuigsleil),
den Jüngling erschlägt und fürder selbst herrscht — wird von
Vikramäditya erzählt, der im ersten Jaiirliundert vor Christus
regierte, ein liebling nachmals der indischen sage. Da nach
102 BEER
Benfeyi) von ihm nachweislich sagen auf Salomou übertragen
wurden, so soll nach Varnhagen von dieser fassung aus der
übertritt in die jüdische Überlieferung erfolgt sein. Dem ent-
sprechend hält Varnhagen für die älteste jüdische sagenform
die im vierten Jahrhundert n. Chr. aufgezeichnete Überlieferung,
nach welcher gott den Salomon um seiner Sünden willen ent-
thronte und einen engel an seiner statt und in seiner gestalt
zum herrscher über die Juden setzte, während Salomon im
elend irrte und die worte des 'predigers' sprach ohne glauben
zu finden. Vergleicht man die beiden erzählungen, so ist die
discrepanz dieser fassungen offenbar so gross, dass gerade sie
zu combinieren niemandem beigekommen wäre. Ausserdem
aber ist die jüdische fassung keine ursprüngliche sondern eine
abgeleitete: 1. weil der engel wider einem irdischen könig
platz machen musste, 2. v/eil eine ältere, aus dem zweiten
Jahrhundert v. Chr. stammende Überlieferung bereits eine pa-
rallele bietet, der zu folge ein könig (Nebukadnezar), um seiner
Sünden willen von gott entthront, nach busse im elend wider
eingesetzt wurde. Hatte aber die älteste Salomonversion eine
derartige gestalt, so hatte sie mit der ältesten indischen version
nichts zu schaffen.
Die verschobene indische Überlieferung wurde nicht vor
dem vierten Jahrhundert n. Chr. aufgezeichnet. Sie stimmt
mit der späteren jüdischen Salomonrelation in verblüffender
weise überein; weit weniger verblüffend schon mit der des
vierten Jahrhunderts, in welcher keine rede von einem weibe
Salomons ist. Diese Übereinstimmung durch sagenwanderung
zu erklären, existiert kein überzeugender historischer grund,
da von Vikramaditya, der notorisch sagen an Salomon abge-
geben hat, eine so geartete fabel nicht erzählt wird. Es
bleibt nur die allgemeine motivierung, dass tatsächlich sagen-
übergänge von Indern auf Juden vorgekommen seien. Ein
derartiger Übergang wäre vor dem zweiten Jahrhundert v. Chr.
nur dergestalt anzunehmen, dass die nachmals an Vikrama-
ditya geknüpfte einfache Überlieferung das kind einer älteren,
complicierteren sagenform darstelle, bezüglich: dass bereits vor
der Vikramadityaversion eine compliciertere behandlung des
*) Pantscbatantra 1, 129.
DER STOFF DES ORENDEL. lO;^
nämlichen Stoffes bestandeu hätte. Eine derartige iu der lul't
stehende combiuation ist von vornherein als unwissenschaftlich
zu verwerfen. Folglich müsste die sage n. Chr. übergewaudcrt
und wol auch entstanden sein. Nun tritt zwar die ent-
sprechende jüdische Salomonsage erst in aufzeichnungen n. Chr.
auf, aber ihre abstammung von der indischen wäre erst als-
dann anzunehmen, wenn sie innerhalb der jüdischen sagen-
tradition isoliert dastände, ohne einen fühler jenseits des be-
ginnes unserer Zeitrechnung zu strecken. Dies ist nicht der
fall. Das charakteristische der talmudischen Salomonsage
(mit ausnähme einer Überlieferung des sechsten Jahrhunderts)
ist, dass Salomon zur strafe für seine sünden gestürtzt und
nach seiner demütigung wider erhöht wird. In dieser fassung
aber ist eine jüdische königslegende an den könig Nebukad-
nezar geknüpft, und die wichtigen züge dieser, in dem zweiten
Jahrhundert v. Chr. aufgezeichneten sage lauten, dass Nebu-
kadnezar 1. wegen seiner sünden von gott entthront w'urde,
2. sieben jähre entstellt im elend weilen musste, 3. nach ab-
laufe dieser bussezeit und seiner demütigung wider eingesetzt
wurde. Die anknüpfung einer derartigen erzühluug an Salomon
lag nahe in folge der, wie es scheint, populär gewordenen
Worte des pseudosalomonischen 'j)redigers': ich, prediger, war
könig in Israel; aus denen leicht gefolgert werden konnte,
dass Salomon wirklich einmal nicht mehr könig war; zumal
der zoru gottes über Salomons sünden und die drohung seiner
entthronung der biblischen Überlieferung entsprach.') So er-
klärt sich auch, dass der büssende Salomon wandern muss
und immer jene worte spricht; es bedarf dazu gar nicht erst
einer indischen Überlieferung. Endlich erklärt sich vielleicht
aus der biblischen Überlieferung, nach der gott dem Salomon
einen Widersacher erweckte*), die ausfüUung des Interregnums
während der busse durch einen engel in Salomons gestalt —
wenn nicht ein derartiger remplacant schon der ursprünglichen
fabel eigen war und nur im Buch Daniel verschwiegen bliel).
Erst an seine stelle trat dann (auch nach Varnhagena ansieht)
der faunische-) Aschmedai, der aus einem ganz unabhängig
») Vgl. Vogt, Salman IL.
*) üeber den durchaus faunischen charaktcr des jüdischen Asch-
medai vgl. Grünbaum i. d. Zeitscln-. d. d. morgl. gesellsch. XXM, '2Jl'.
104 BEER
um Salomon entwickelten sagencomplex entnommen wurde, um
der erzählung noch den letzten Stempel aufzudrücken; denn
die faunische biunst nach der menstruierenden frau und die
begierde nach Salomons mutter hat keine ähnlichkeit mit dem
begehren des indischen Usurpators nach der gattin des ent-
thronten königs. Das wesentliche ist gerade die in Aschmedais
brunst verräterisch hervorbrechende unreinliche natur des
faunischen dämons; dass in der indischen legende wie der
jüdischen sage der Usurpator die band nach der königin streckt,
ist ebenso zu erklären wie die einführung von Indras gattin
in die sage von Nahusha: das weib darf dem roman nicht
fehlen. In der talmudischen, von Varnhagen als ursprüng-
lichste angenommenen Überlieferung ist, wie bemerkt, von einer
königin noch keine rede.
Somit ergibt sich: 1. eine alte, jüdische tradition, schon
im zweiten Jahrhundert v. Chr. nachweislich, der zu folge ein
könig wegen seines hochmuts von gott entthront im elend
leben muss (nach der ältest erhaltenen Überlieferung die alt-
hieratische zahl von sieben jähren), bis er, gedemütigt, wider
zu der alten herrlichkeit erhoben wird. 2. Diese sage wird
an Salomon geknüpft: vielleicht in anschluss an die citierten
Worte des pseudosalomonischen 'predigers'; die zeit des Inter-
regnums wird jetzt (oder war von vorn herein) mit einem, in
des königs gestalt regierenden engel ausgefüllt. 3. An dessen
stelle tritt der aus den dämonenkämpfen Salomons über-
nommene Aschmedai, 4. dessen (schon in jenen kämpfen zu
tage tretende) faunische natur die gestaltung der lösung be-
herrscht.
Mit Vogt (a. a. o.) anzunehmen, dass die ganze legende
aus den Worten des 'predigers' und einigen bibelstellen heraus-
gewachsen sei, hindert der umstand, dass sie in ältester, ein-
fachster gestalt nicht an die person Salomons geknüpft ist. Die
Überlieferung in der unter 1. mitgeteilten fassung als eine
legende, eine priestererfindung anzunehmen, hindert der um-
stand, dass sie in zug um zug entsprechender, und zwar viel-
fach in die heldensage übergetretener form indisch (Nahusha),
griechisch (Apoll bei Admet), deutsch (MitoÖinn) und, in ander-
weitiger, aber ganz entsprechender Verschiebung, phönizisch,
also semitisch erhalten ist: ein gott oder halbgott muss wegen
I
DER STOFF DES ORENDEL. 105
einer Verschuldung (semitisch : periodisch in folge seines Schick-
sals) verschwinden, darf aber nach seiner eutsiihnung (semi-
tisch: seiner zeit, nämlich im lenze) widerkehren. Verschul-
dung und sühne sind übereinstimmend als motiv zugewachsen.
Da man nun darauf aufmerksam geworden ist, dass in dem
jüdischen glauben und cult altheidnische demente mitUber-
kommen sind, so scheint auch hier als eine königssage erzählt
zu werden, was einst von einer gottheit berichtet wurde.
Natürlich braucht diese keine jüdische, wol aber eine semi-
tische gewesen zu sein.i)
§ 6. Facit.
Hiermit ist der in betracht kommende stoff, soweit er
fruchtbar ist, erledigt, und das facit der Untersuchung kann
gezogen werden. Die hypothesc des letzten paragraphen soll
dabei ausser acht gelassen werden.
Wir haben herangezogen: 1. eine gruppe von deutschen
und romanischen erzählungen, denen zu folge ein mann von
rang eine wallfahrt in den Orient, oder eine wallfahrt, oder
einen zug gegen die beiden, oder endlich eine reise um oder
bis an das ende der weit unternimmt, lange ausbleibt (in
den meisten fällen über eine verabredete zeit hinaus, die widcr-
holt auf sieben jähre bemessen ist), im falle der Weltreise
auf einer wüsten insel scheitert, von einem dämon oder
engel oder heiligen erfährt, dass sein weib im begrift" stehe
eine neue ehe zu schliessen, durch die lüfte zurückgeführt just
bei der hochzeit entstellt, meist bettelhaft, stets un-
kenntlich erscheint, sich (durch einen ring) zu erkennen gibt
und in seine alten rechte eintritt. In einem ausländischen gedieht
(wol spielmannslied) scheint er schlechtweg marinaro, der
Seefahrer, geheissen zu haben. In einem raärchen vollbringt er
die zeit in des teufeis dienst. In einer sage ist er (der graf
von Calw) nicht über meer sondern in die berge gezogen,
wo er heerden geweidet hat, zu denen er, nachdem er
sein weib in der weise der Schablone an der eiugehung einer
') Vielleicht klingt eine ähnliche erinnerung in der rabbinischen
tradition nach, dass Elias dereinst widerkehren und den bösen Samuel
töten werde (Eisenmenger II, 690. S51, vgl. Grimm, Mythol. 145).
106 BEER
ueueu ehe verhinderte, zurückkehrt. Auch hier fehlt die ent-
stellte kleidung nicht, steht aber am unrechten ort.
2. Ein held (Halfdan) hört in der ferne, dass seine (gegen-
wärtige oder nachmalige) braut im begriff" steht eines anderen
(in charakteristischen fällen eines riesen) weib zu werden, er-
scheint in niederer tracht (meist im momente der hoch zeit)
und erschlägt ihn. Die Jungfrau heisst in charakteristischen
fällen Gro oder Guritha, was wesensidentisch erscheint und
eine beziehung zur chthonischen fruchtbarkeit offenbart. Die
Persönlichkeit des beiden ist eine derartige, dass Thorsagen
entweder an ihn angewachsen oder auf ihn übertragen er-
scheinen.
3. Thor, in niederer tracht aus dem osten kommend, findet
bei seinem weib einen buhlen.
4. Thor, aus dem osten, dem winterland, mit winters ende
zurückkehrend (in der Haldanüberlieferung bei Saxo in nie-
derer, unkenntlich machender tracht) erschlägt einen riesen,
der anspruch auf eine göttliche, für die befruchtung der erde
belangreiche Jungfrau erhebt.
5. OÖinn, aus der ferne in niederer tracht im lenze zu-
rückkehrend, treibt einen nebenbuhler aus der herrschaft und
von seinem weibe.
6. Baidur, von HöÖur vertrieben und seiner gattin be-
raubt, verjagt heimkehrend den Usurpator und tritt in seine
alten rechte.
7. Svipdagr kehrt im lenz aus der ferne in niedrer,
unkenntlich machender tracht zu der seiner harrenden ge-
liebten.
8. Der schwanenritter kommt aus fremdem land, von
einem schwan gezogen, befreit eine Jungfrau von ihren be-
drängern und kehrt zurück (vgl. die rückkehr des grafen von
Calw unter 1.).
9. Skeaf und Skyld erscheinen aus fernem land und ent-
schwinden in dasselbe.
10. NjörÖr weilt periodisch neun wintermonde bei Skadi
in den bergen (vgl. den grafen von Calw) im winterland und
drei sommermonde über der erde.
11. 12. Ing zieht gen osten über die flut. Tyr kehrt von
langer Wanderung heim in das winterland, in die berge (vgl.
1
DER STOFF DES ORENDEL. 107
NjöiÖ und den grafen von Calw). Vielleicht auch: während
Tys abwesenheit ist die erde, seine g-attin, umbuhlt.
13. Skeaf, Skyld, Vali erscheinen als kinder.
14. Skioldus erschlägt den Skatus ina kämpf um eine
Jungfrau.
Dazu an ausserdeutschen parallelen:
A. Indisch: während der abwesenheit des sommergottes
herrscht ein dörrender dämon; jener kehrt zurück und er-
schlägt ihn.
B. Griechisch: 1. Apoll kommt und scheidet, von schwa-
nen gezogen, in sein heimatliches Wunderland.
2. Apoll weidet in der ferne eine frist die stutenheerden
des Admet.
3. Odysseus (ursprünglich ein andersnamiger gott), aus
der ferne, einem nebelland, nach langer abwesenheit (hieratisch
sieben jähren) unkenntlich in bettlertracht heimkehrend, erlöst
sein land und sein weib von vergewaltigeru.
C. Semitisch: Adon (Adonis) weilt im winter fern (als
mensch: in der unterweit), im sommer bei Aphrodite, die vou
belang für die (irdische) befruchtung erscheint.
Hierzu gesellen sich drei recensionen der Orendelsage:
A. Die dänische: Horvendil erschlägt könig Koller (den kalten)
im kämpf um Gerutha (der name ist wesensidentisch mit Gro
und Guritha), die er nachmals heiratet. B. Die norwegische:
1. Aurvandill kehrt aus dem rieseuland, dem winterland jen-
seits der Elivagar, zu seiner harrenden gattin Groa zurück.
2. Aurvandill wird von Thor auf dem rücken in einem korb
über die Elivagar getragen. 3. Ein gestirn heisst Aurvandils
zeh. C. Die deutsche: 1. Orendel scheitert auf einer orient-
fahrt, tut bei einem riesischen fischer Ise auf einer, seit nien-
schengedenken unbetretenen insel knechtesdienst und kommt
von da in schlechter tracht (einem grauen rock) zu einer frau
Bride, erschlägt einen (oder mehrere) gewalttätigen freier und
besteigt, von allen, sobald er sich zu erkennen gibt, aner-
kannt, unbestritten als Bridens gemahl den thron des reiches.
2. Orendel findet, in pilgertracht heimkehrend, sein weib Bride
in den bänden eines gewalttätigen freiers und erschlägt diesen.
3. Orendel, der knechtesdienste bei Ise getan hat, ist, von ihm
108 BEER
entlassen, verpflichtet zu ihm zurückzukehren. 4. Eine Vor-
stellung, nach welcher Ise graue rosse mit seiner ruder-
stange jagt.
Alle diese sagen sind heimkehrsagen. Thor, OÖinn, Tyr,
Baldr, NjörÖr, Ing, Svipdagr, Skeaf, Skiöld, der schwanenritter,
alles götter athmosphärischer, die fruchtbarkeit fördernder Vor-
gänge, kehren heim: Thor, OÖinn, Ing aus dem osten; Tyr,
NjörÖr, Svipdagr aus dem winterland, dem riesenland, das als
im Osten gelegen aufgefasst wurde; Skeaf, Skyld und der
schwanenritter aus einem ungenannten land. Thor, OÖinn,
Svipdagr erscheinen in niederer, entstellter gestalt. KjörÖr
wird von keinem weihe im götterland erwartet; Svipdagr kehrt
heim zu einer sehnend oder in Schlummer harrenden geliebten;
OÖinn, Baldr (Tyr?) finden bei ihrer gemahlin einen buhlen-
den gewalthaber, der vor ihnen entweicht. Thor findet bei
seinem weibe (wie es scheint, der erde) oder einer anderen,
für die chthonische fruchtbarkeit belangreichen göttin einen
buhlerischen riesen (wol als gewalthaber), den er erschlägt.
Der schwanenritter befreit eine bedrängte Jungfrau, sein nach-
maliges weib, indem er den bedränger erschlägt. Die ein-
schlägigen sagen von Ing, Tyr, Skeaf, Skyld (Skiöld) sind un-
vollständig überliefert. Doch erscheinen Skeaf und Skyld,
ähnlich Vali, als kinder, und Skiöld erschlägt in einer fassung
im kämpf um eine geliebte den Skadi. Endlich ist bei Tyr,
NjörÖ, Skeaf, Skyld und dem schwanenritter die (periodische)
rückkehr in das winter- oder Wunderland bezeugt, bei Thor so
gut wie bezeugt, und ist bei Svipdag nur von der ankunft
aus, bei Ing und Tyr nur von der rückkunft in das winter-
land die rede.
Aus dieser Zusammenfassung der göttersage und ihrer ver-
gleichung mit den ausserdeutschen parallelen ist zu schliessen:
1. Es gab einen indogermanischen Jahreszeitenmythus, dem zu
folge eine gottheit im winter fern weilte, mit dem sommer zu-
rückkehrte. Diesem mythus ist die rückkehr zu einer gattin
nicht unbedingt wesenseigen (vgl. NjörÖ, Hyperboreermythus,
Dioskuren). 2. Der mythus hat unter umständen die gestalt
angenommen, dass der zurückkehrende gott von einer gattin
oder braut erharrt wurde (vgl. Svipdag, Svendal). 3. Diese
mythengestaltung präzisierte sich weiter dahin, dass die gattin
DER STOFF DES ORENDEL. 109
oder braut von einem, das reich inne habenden gewaltbaber
buhlerisch bedrängt wurde, oder aber, dass der rückkehrende
gott eine, von einer derartigen persönlichkeit bedrängte Jung-
frau befreite. Der bedränger entwich (MitoÖinn) oder wurde
getötet. 4. Das weibliche wesen stellt sich nur in einem i)
fall mit bestimmtheit als die erde dar; Aphrodite, die vanin Freya,
ThruÖr sind nur als athmosphärische Spenderinnen von irdi-
scher und anderer fruchtbarkeit zu erweisen, Frigg durch den
Volksglauben in ähnlicher richtung zu belegen. 5. Der be-
dränger ist in den controlierbaren fällen (Ullr, HöÖr, Skadi, die
riesen) ein winterlicher dämon. G. In allen deutschen götter-
sagen ist nur von einem nebenbuhler oder vergewaltiger die
rede. 7. In deutschen wie griechischen und semitischen sagen
wurde das kommen und scheiden des sommergottes periodisch
aufgefasst, und erklärt: bei Thor durch widerholte abenteuer-
züge gegen die winterdämonen, bei NjörÖ durch Vermählung
mit einer, im winterland wohnenden göttin, bei Tyr, Skeaf,
Skyld und dem schwanenritter wie bei Apoll als die heim-
kehr in ein heimatland. In den anderen fällen ist die moti-
vierung verwischt. 8. Ueber das land selbst scheint nirgends
volle klarheit oder Übereinstimmung geherrscht zu haben; man
wusste nur, dass der sommer entschwand, aber nicht, wohin
er entschwand. Die Inder Hessen, wie es scheint, den feuer-
gott in die Sphäre seines Ursprungs, das wasser, zurückkehren.
Die Griechen malten sich ein Wunderland oder auch ein fernes
nebelland aus oder Hessen, scheint es, den gott in die unter-
weit hinabsteigen. Die Deutschen stellten sich im eisigen nor-
den oder Osten ein winterland vor, von wo der gott erschien,
und in das er kehren musste. 9. Aus diesem letzten grund
erscheint der deutsche gott bei seiner rtickkehr in übler tracht.
Die natur ist im winter bettelarm, greis, entstellt; die naive
gedankenassociation betrachtete den jahreszeitengott den winter
über in gleicher gestalt. Eine derartige anschauung ist für
den Marsglauben und in weiterem umfange über deutsches
und slawisches gebiet von Usener^) und Mannhardt^) dargetan
1) Wenn man von Tyr absieht.
2) Rheinisches museum XXX, 1S2 ff.
•') In den Korndiimonen und beiden bänden der Wald-feldkulte an
verschiedenen stellen.
110 BEER
Indem aber beide solch eine anschauungsweise unabhängig von
den vorbesprochnen mythenreihen nachgewiesen haben, ergibt sich
die berechtigung anzunehmen, dass die auffassung des jahres-
zeitengottes im winter als eines bettelhaften, entstellten greises^)
ursprünglich . absolut nichts zu tun hatte mit dem mythus von
dem zurückkehrenden gott, und dass somit auch hier
wider disparate, den verschiedensten erfahrungen
entsprungene anschauungen aneinander gewach-
sen sind.
Wenn somit für Orendel bezeugt wird, dass er in un-
scheinbarem grauem rock unkenntlich zurückkehrte, so lässt
diese sagengestaltung für Oervandil und Horvendil, von denen
solches nicht bezeugt ist, keine Schlüsse zu. Wenn Groa als
die frau des Oervandil bezeugt wird, so folgt daraus nicht,
dass die nachricht Saxos von der Vermählung des Horvendil
mit Gerutha nach dem sieg über Koller eine Verschiebung
sei 2), würde auch nicht daraus folgen, dass frau Bride die ge-
mahlin des Orendel gewesen sei, wenn sich nicht 1. in der
katastrophe vor den toren von Jerusalem Orendel selbst als
den einheimischen könig zu erkennen gäbe und anerkannt
würde, und 2. die accessorische fortsetzung der legendenfassung
augenscheinlich ein unabhängiges gedieht auf die rückkehr
Orendels zu seiner gattin gekannt und benutzt hätte. Wenn
endlich Horvendil mit Koller und Orendel mit dem vergewal-
tiger oder um Werber seines weibes zu kämpfen hat, so folgt
daraus nicht, dass auch Oervandill bei Groa einen nebenbuhler
gefunden hätte; im gegenteil wird eine derartige folgerung
durch die überkommene norwegische fassung auf das bündigste
widerlegt.
1) Vielleicht heranzuziehen ist Saxo 248 : Ot5ins erscheinen hispido
amiculo, wozu sich manches andere zu stellen scheint: vgl. Grimm,
Mythol. 121, III, 56. Vgl. auch Preller I, 107: argivisch ein kahl-
köpfiger Zeus.
^) Nicht allein sichert das analogen des kampfes des Skioldus wider
Skatus die berechtigung der dänischen wendung: auch in der gesamten
Halfdangruppe und in den meisten Thorsagen ist die rede von einer
vereitelten hochzeit, nicht dem buhlen um ein vermähltes weib. Die
Stellung des weiblichen wesens zu dem befreier ist zudem in der Thor-
sage eine derartig wechselnde, dass eine abweichende Überlieferung
innerhalb des nämlichen Sagenkreises gar nicht auffallen kann.
DER STOFF DES ORENÜEL. Hl
Demselben princip entsprechend, darf keine willkür die
tatsacbe aus der weit sehaflfen, dass der norwegischen Groa,
deren chthonische natur etymologische Wahrscheinlichkeit hat,
in der deutschen Überlieferung eine Bride gegenübersteht,
welche eine derartige ausdeutung nicht zulässt. Nachdem die
erörterung der Halfdansage ergeben hat, dass analoge erzäh-
lungen von der befreiung einer Gro (oder gleichbedeutenden
Guritha) an einen anderweitigen beiden geknüpft worden sind,
ist umgekehrt unerlaubt von vorn herein zu urteilen, dass der
name Bride lediglich durch Verdrängung einer, deutsch zudem
wol kaum erweislichen Gro in die deutsche Orendelsage ein-
gang gefunden habe. Der name Bride, das ist die glänzende,
ist ein durchaus für die gattin des glänz wandlers geeigneter;
zudem haben sich fast sämtliche Jungfrauen der göttersage
nicht als chthonische sondern als athmosphärische wesen, wenn
auch von sommerlicher bedeutung, erwiesen; so dass kein
grund vorhanden ist, dem Oervandil ein für alle mal und für
alle Versionen eine chthonische gemahlin aufzubürden. Endlich
aber hat sich ergeben, dass der name der gattin in dem heim-
kehrmythus durchaus in zweiter linie steht.
Dass die beispiele der Halfdangruppe und') der MüUer-
Uhlandschen Sammlungen eine teils spielmännische teils tradi-
tionelle fortentwickelung des alten göttermythus zur heldensage
und abenteuererzählung bieten, wird niemand verkennen. Der
abschied des beiden in der Halfdansage wird deren Charakter
gemäss mit einem kriegszug motiviert; weit eigentümlicher ist
die begründung der Sammlungen. Der held ist entweder in
den Orient gezogen, das ist: er hat eine wallfahrt in das
heidenland gemacht; oder er ist auf einer wallfahrt oder gegen
die beiden aus; oder endlich er ist einfach über meer gezogen,
ein mariuaro, ein landfahrer. Die letztere begründung ist
eine abgeblasste allgemeinheit, die zweite und dritte differen-
zierungen der ersten, Ist aber eine Orient fahrt das charak-
teristische motiv der beiden und könige, das sie so lange fern
hält und erst in entstellter tracht, man weiss nicht wie, just
zur hochzeit ihrer gattin mit einem ncbenbuhler heimkehren
lässt, so stellt sich diese motivierung zu überraschend mit der
1) Wenigstens teilweise.
112 BEER
0 st fahrt der deutschen götter in das winterland, besonders
OÖins orientfahrt, und ihrer heimkehr in entstellter traeht zu-
sammen, um eine combinierung beider momente allzukühn er-
scheinen zu lassen. Ist aber eine derartige combination ge-
stattet, so ist es auch die annähme, dass Orendel tatsächlich
von einer ostfahrt zu seinem weibe entstellt zurückkehrt,
ähnlich dem Oervandil der norwegischen Überlieferung, und
dass sich so die zur brautfahrt gestempelte orientfahrt des
beiden erklärt; so dass an die ostfahrt Orendels die orient-
fahrt, an die widerkehr nach langer ab Wesenheit und den
kämpf mit dem nebenbuhler die brautfahrt und an die
schlechte traeht des widerkehrenden der graue rock sich an-
schloss.
Wenn diese auffassung richtig ist, so ist Orendel ursprüng-
lich gegen osten in das eisland gezogen, was mit der norwegi-
schen Überlieferung übereinstimmen würde. Aus dieser mythi-
schen entwickelungsphase stammt der name Ise; schwerlich
aber seine eigenschaft als fischer. Nur in der Hymirsage ist
ein des fischens gewohnter riese überliefert, und zwar, auf dass
sein fischfang die Situation für Thors kämpf mit der Mitgard-
schlange abgäbe. Desgleichen bedarf der legendenschreiber
eines fischers um, jedenfalls in nachahmung beliebter muster,
die auffindung von Christi rock in einem fischbauche zu er-
möglichen. Die ursprüngliche natur Ises, der als eisriese für
einen fischer so ungeeignet wie möglich erscheint, ist in jener
von Müllenhoffs Scharfsinn entdeckten episode des spielmanns-
gedichtes enthalten, in welcher Ise graue rosse jagend dar-
gestellt wird. MüUenhoff hat seiner schififersage zu liebe die
rosse als meereswogen aufgefasst. In dieser bedeutung sind
sie deutsch nicht zu belegen; selbst die albstiere, von Grimm
und anderen als wasserwesen gefasst, lassen sich, im Zusam-
menhang mit der gesamten deutschen Volksanschauung von
gespenstischen rossen und rindern, durchweg als nebel- oder
Wolkenerscheinungen 1) dartuen. Man darf eine Volksanschauung
nie vereinzeln; die geheimnisse der Volkskunde sind nur durch
Sammlung aller erreichbaren analogien zu lösen. In der ge-
^) Nebel und wölke sind für die volksphantasie nichts verschieden-
artiges.
DER STOFF DES ORENDEL. 113
stalt der vom winde gejagten wölke erscheinen die rosse der
wilden jagd, erseheinen sie eddisch als die rosse des Thrym;
die eddisch mehrfach belegten rinderheerden der riesen sind
regelmässig als wölken, und besonders stürm wölken, aufzu-
weisen, und der riese als viehhirt ist eine eddisch mehrfach
auftretende mythengestalt.
Aus diesen gründen folgere ich, dass der graugewandige
Ise graue rosse jagend eine wolkenvorstellung ist; und wenn
er sie mit der ruderstange jagt, so ist nicht allein der fähr-
mann, der ein viehhirt ist, im HarbarÖslied belegt und der
riesische fährmann in der Edda häufig zu finden, sondern
auch der fährmannglauben mit um so mehr recht auf eine
wolkenvorstellung ausgedeutet worden, als für den vanen-
glauben die wölke als fahrzeug durch Alvismal str. 19 direct
belegt ist. An den fährmann Ise mag sich dann der fischer
leicht angeschlossen haben.
Ist es solcher gestalt wahrscheinlich, dass die grauen rosse
dem graugewandigen riesen als wolkenheerde zugestanden
haben, so wird, wenn Orendel in der tat von Uranfang als
dem Ise dienstbar gegolten haben sollte, seine dienstbarkeit
die eines hirten gewesen sein; ähnlich wie in dem schlagend-
sten analogon zu der deutschen Orendelüberlieferung der so-
genannte graf von Calw in die berge (das ist das winterland:
zu vergleichen Njörbr und Tyr) zieht um hirtendienste zu
übernehmen; wozu der hirtendienst des Apoll eine eigentüm-
liche parallele bilden würde. Dass Ises graurosse die wogen
bedeutet hätten, ist schon deshalb sehr unwahrscheinlich, weil
in diesem falle Ise nicht der riese der winterregion gewesen
wäre, bei dem Orendel zu weilen hatte, sondern der winter-
liche beherrscher des meeres und der weit überhaupt: folglich
nach analogie der gesamten göttergruppe der nebenbuhler,
nicht der brodherr des Orendel.
Denn in der gesamten heimkehrgruppe durch alle gött-
lichen und menschlichen gestaltungen hindurch ist nur von
einem nebenbuhler die rede.i) Der parallelismus der Odyssee
^) Wenn Berger, wie er mir sagt, an allen drei riesenkämpfen der
Orendelüberlieferung festhält und für sie ursprüngliche züge beizubringen
weiss, so gesteht er mir doch zu, dass sie augenscheinlich die dich-
Beitriige zur gesrhichto der dcutselien sjjraclie. Xill. y
114 BEER
hat Mtillenhoff bewogen, seiner kritik von Oiendels rückkehr
die turniersituation zu gründe zu legen, die sich als eine
durchaus spielmännisch schablonenhafte offenbarte, und eine
andere, in drei fassungen aneinander gereihte Situation von
Orendels kämpf mit dem riesischen freier seines vveibes für
unursprünglich zu erklär'in, die in ihrer dritten fassung nicht
allein als charakteristisch und original, sondern auch als ein
schlagender beweis für Müllenhoflfs hypothese dargetan wurde,
dass Orendel als der rechtmässige herrscher und gatte Bridens
unerkannt heimgekehrt ist und sich nur zu nennen braucht,
um unbestritten in seine rechte einzutreten. Eine Situation,
die um so gewisser echt ist, als sie mit dem, von dem weiter-
dichter der legende zweifelsohne benutzten, schönen spielmanns-
lied zwei wesentliche züge gemein hat: einmal den zug, dass
Orendel seinen mächtigen feind mit Bridens hülfe überwältigt,
sodann aber gerade, dass dieser feind als alleiniger neben-
buhler, wenn auch mit heeresmacht, dem heimkehrenden könig
gegenübersteht. So darf mit bestimmtheit gesagt werden, dass
auch für die Orendelüberlieferung von einer mehrheit von
freiem keine rede ist; und es muss sehr dahingestellt bleiben,
ob die mehrheit der freier der Odyssee ein mythisch wesent-
licher zug, nicht eine ausgeburt sagengeschichtlicher, bezüglich
dichterischer entwickelung ist.
Die hiermit gewonnene auffassung, dass der held der
deutschen Orendelsage einerseits aus dem winterlaud heim-
kehre, andrerseits einen winterlichen nebenbuhler bei seinem
weibe finde, scheint auf zwei Schwierigkeiten zu stossen. Die
erste ist, dass der winterdämon gleichsam eine doppelrolle zu
spielen scheint: hier als beherrscher des Winterlandes und
verknechter Orendels, dort als vergewaltiger seines reiches und
nebenbuhler bei seiner gattin. Aber wenn es nicht gestattet
ist, aus der einen Überlieferung züge in die andere hinüberzu-
nehmen, welche in dieser nicht zu verspüren sind: so ist es
umgekehrt methodisch zulässig, einen zwei Überlieferungen ge-
meinsamen zug nach der charakteristischeren version zu be-
terische Verdreifachung des ursprünglich einmaligen kampfes aus grün-
den künstlerischer Steigerung darstellen. Die turniersituation hält auch
er für einem vorbild nachgebildet, wenn .auch bereits der vorläge an-
gehürig.
DER STOFF DES ORENDEL. 115
urteilen; wenn es sich also als wahrscheinlich ergab, dass auch
dem deutschen Orendel ein einziger nebenbuhler entgegentrat,
so ist es um so berechtigter den dänischen namen dieses neben-
buhlers Koller, den kalten, für die deutsche Überlieferung
fruchtbar zu machen, als die gesamte göttergruppe den winter-
lichen Charakter des unliebsamen bewerbers unverkennbar zu
tage treten Hess, Und ferner ergibt eine kritik der nordischen
Versionen den bemerkenswerten umstand, dass die norwegische
Überlieferung überhaupt nur von dem winterland weiss und die
dänische widerum nur den nebenbuhler erwähnt: das bedeutet:
nur in der deutschen Überlieferung beide züge vereinigt er-
scheinen.i)
Die zweite Schwierigkeit, Ises land als eine eisregion und
den beiden der sage als einen sommerlichen glanzwandler auf-
zufassen, besteht in der ausdrücklichen Überlieferung des deut-
schen liedes, dass Orendel durch einen Schiffbruch in Iscs
knechtschaft geraten sei. Auch dieser einwurf ist durch frühere
erörterungen -) vorweggenommen worden: der name des glanz-
wandlers musste sich in folge des aussterbens einer deutschen
Wurzel aur = glänzen mit einer gewissen notwendigkeit
in den flulenwandler verschieben; und diesen lange in der ferne
festgehaltenen und in bettelhaftem aufzug widerkehrenden fiuten-
wandler in einen schifi'brüchig verschlagenen seehelden sich
wandeln zu sehn, kann in jenen Zeiten nicht verwundern,
welche, dem abenteuer zugeneigt, den Orient bereits lebhaft im
äuge hatten, als er noch nicht das heilige grab bedeutete, son-
dern das byzantinische reich. Aus letzterem umstand erklärt
sich wol, dass die Orendelsage, abweiciiend von anderen deut-
sehen Überlieferungen analogen Inhalts, ihren beiden nicht
') Diese beobachtung erhält willkommene bestütigiiiig (luroh den
Volksglauben. Die forschungen Grimms (M) und MannhanUs (Bk) haben
klar gelegt, dass der volksbrauch des sommer-winterkampfes und der des
sommereinznges (letzterer bemerkenswerter weise gern verknüpft mit
dem winteraustragen) im wesentlichen geschieden auf verschiedenen ge-
bieten auftreten. — Zu der jahreszeitlichen auffassung des aus- und ein-
zuges vgl. das dichterwort der carm. bur.: redit ab exilio vor conia
rutilante, und: aestas in exiiium iani peregrinatur; zu der jahreszeit-
lichen kampfauffassung die nordischen opfer til sigrs (Grimm, M} th.
35, III, 75).
2) S. 23.
S*
116 BEER
durch eine wallfahrt in das heilige land seinem weihe ent-
führte: so nämlich, dass die spielleute der kreuzzugsepoche
hereits den im osten gescheiterten helden vorfanden und,
ob sie schon den osten in das heilige land verschoben, des
schifi'bruchs ftirder nicht zu entraten wagten.
Hiermit ist die kritik der deutschen Überlieferung ge-
schlossen. Sie liess einen schicksalsvollen lebenslauf erkennen:
der mythus von dem im winterlichen osten weilenden lichtgott
und seiner bettelhafteu rückkehr im frühling zu seinem, von
einem winterlichen dämon umbuhlten weibe gestaltete sich im
munde abenteuerlustiger sänger zu dem roman eines im fernen
osten schiffbrüchigen, nach langer knechtschaft in armseligstem
zustand widerkehrenden seehelden; spielleute der kreuzzugs-
epoche stempelten das scheitern im osten, das auch für frühere
Zeiten einen geographischen inhalt hatte, zu einem scheitern
auf der fahrt in das gelobte land, und ein kecker reimschmied
stellte die Überlieferung auf den köpf und machte aus der
rückkehr von der orientfahrt die typische brautfahrt in den
Orient und aus den kämpfen des heimkehrenden königs mit
dem buhlerischen Usurpator seines thrones und weibes die bei
seinen hörern beliebte abenteuerreise eines heiratslustigen
fürstensohnes.
Die norwegische und die dänische Überlieferung der Orendel-
sage haben miteinander äusserlich nichts gemeinsam als den
namen des helden und einen wenigstens übereinstimmenden
namen seiner geliebten; so dass erst durch das mittelglied des
deutschen gedichtes ihre innere Zusammengehörigkeit klar ge-
legt wird. Die dänische Überlieferung enthält nur den kämpf
mit dem nebenbuhler, die norwegische nur die rückkehr aus
dem Winterland; jene hat sich in einen holmgang aus eifer-
sucht verwandelt, diese trägt ein durchaus mythisches gewand.
Um den Zusammenhang noch mehr zu verdunkeln, hat sich in
die norwegische Überlieferung eine andere Aurvandilsage ein-
geschlichen, die mit der typischen heimkehrsage der nordischen
mythik nichts gemein hat als die anschauung, dass der jahres-
zeitengott im lenze seinen einzug in die weit hält.
Man betrachte die Überlieferung: Thor hat soeben im
osten, im riesenland, einen grossen holmgang mit Hrungnir
bestanden. Heimgekehrt berichtet er der Groa, dass er ihren
DER 8T0FF DES OKENDEL. 117
gatten Oervaudil aus dem liesenland über die Elivagar ge-
tragen habe, und dass derselbe demnäcliBt zurückkehren
werde. Man fragt sich: wann hat Thor den Oervandil über
die Elivagar getragen? nach dem kämpfe mit Hrungnir? aber
warum ist dann Oervandill noch nicht erschienen? oder vor
dem kämpfe? aber dann fragt man mit um so mehr recht,
wie es kommt, dass Thor seine rückkehr zu dem götterheim
vollzogen hat und Oervandill, der sich doch schon diesseits
des trennenden stroms befinden soll, noch nicht zu seiner gattin
heimgelangt ist? Schon dieser innere Widerspruch beleuchtet
die unZuverlässigkeit der mitteilung. Thor hat Oervandil über
die Elivagar getragen; das ist durch sie bezeugt; Oervandill
kehrt heim als der gatte der Groa; daran ist nicht mehr zu
zweifeln. Aber dass diese tatsachen einander unentbehrlich
seien oder überhaupt nur zusammengehörten — das ist keines-
wegs bewiesen.
Und nun betrachte man die art, wie Thor den Oervandil
über die Elivagar trägt. In einem korb (mais), der unabhängig
von unserer sage im HarbarÖslied als requisit Thors erscheint,
soll Oervandill so gelegen haben, dass der taschenmesserartig
zusammengeklappte körper ganz in ihm verschwand; nur den
fuss schiebt er einmal eine zehe breit heraus: und sofort er-
friert die zehe. Diese Vorstellung ist ist für den Oervandil
als den aus dem wiutcrland zurückkehrenden gatten der Groa
durchaus ungeheuerlich: 1. weil es in der gesamten mythik
wol aller Völker ein unicum wäre, dass ein in mannesgestalt
gedachter gott eines anderen bedurfte um aus dem dämonen-
gebiet in das götterreich zu gelangen; 2. weil in sämtlichen,
deutschen wie ausserdeutschen, parallelen göttersagen der
Jahreszeitengott die Wanderung in und aus dem winterland
ohne fremde hülfe bewerkstelligt; 3. weil man sich unwill-
kürlich fragt, wie wol der gott in das riesenland hinüber-
gelangt sei, da er, um wider herüber zu kommen, der schul-
tern Thors bedurfte; 4. weil sich die ganze anschauung dieser
schnürbündel-beförderung nur mit einer gewaltanstrengung in
die auffassung einränken lässt, dass der vollausgestaltete, an
körpergrösse Thor ebenbürtige gott auf dem rücken des don-
nerers in einem korb zusammengekauert den weg über die
Elivagar gemacht hätte. Aus allen diesen erwägungen schliesse
118 BEER
ich, (lass mit der anschauuug von Oervaudils, des gattcn der
Gioa, lückkehr aus dem riesenlande zu seinem liairenden
wcib, der grünenden erde, eine weitere anscliauung verwachsen
ist, der zu folge der im winterlande geborene frühling in der
befruchtenden gewitterwolke auf den schultern des Thor seine
einkehr in die weit hält, und berufe mich darauf, dass diese
anschauung des im lenze neugeborenen jahreszeitengottes nicht
allein deutsch zu belegen ist, sondern in der griechischen
Apollonsage gleichfalls sich neben dem heimkehrmythus un-
abhängig entwickelt hat. Die episode von dem erfrorenen zeh
bin ich dann geneigt für eine hübsche erfindung zu halten,
um eine dritte anschauung: die benennung eines, vielleicht im
lenze erscheinenden sternes mit Oervandils namen, zu der
anderweitigen Überlieferung in beziehung zu setzen; aus einer
derartigen, anklang findenden episode würde sich dann leicht
die wunderliche, als ursprünglich kaum denkbare benennung
eines sternes nach der zehe eines gottes erklären.
Es ist noch eine andere lösung möglich. Oervandill trägt
in seinem namen eine beziehung zu dem himmlischen feuer.
Nun lehrt eine eingehende Untersuchung der deutschen wie,
es scheint, der vedischen und, vielleicht, auch der griechischen
niythik, dass in der volksanschauung sonnenfeuer und blitzfeuer
unzertrennlich sind, fortwährend vermischt, nahezu als das
nämliche betrachtet werden. Es ist dies ja im gründe gar
nicht anders zu erwarten, da die naive naturanschauung die
stets verketteten und auseinander scheinbar entspringenden
Wechsel von wetternacht und sonnengefunkel als eine einheit,
als das wirken der nämlichen gottheit empfinden musste. Da
es sich nun nachweisen lässt, dass Loki und Thor in ihrer
festgeprägteu zweieinigkeit die einheit von donner und blitz
bedeuten 1), so ist die möglichkeit vorhanden, dass eine ähnliche
') Genau wie Thor und Thialfi; ebenso ist die biutsfreundschaft
von OÖln und Loki zu erklären: die Verknüpfung von stürm- und ge-
wittererscheinungen; ebenso auch die vielbesprochenen eddischon drei-
einigkeiten, welche man ganz richtig auf wasser, luft und feuer aus-
deutete, aber abstract naturphilosophisch als Verkörperung der drei
demente auffasste, statt concret als die schöpferische dreilieit von blitz,
Sturm und regen in der befruchtenden gewitterwolke.
DER SrOFF DES ORENDEL. 1 1>I
Vorstellung;' den Thor in seineni wolkeukorb die liininielsfeuci-
gottheit, in der wölke den blitz tragen Hess.')
Mit dieser controverse ist die sagengeschichtliche kritik
sämtlicher Überlieferungen und im wesentlichen unsere Unter-
suchung beendet. Der verlauf derselben war, dass in dem
ersten paragrapben die Charakteristik der Überlieferungen er-
folgte, in dem zweiten die widergabe und controlierung der
Müllenhoftschen kritik, in dem dritten bis fünften die an-
bahnung einer selbständigen sagengeschichtlichen erörterung
vermittelst der Sammlung, auoidnung und vergleichung eines
reichhaltigen deutschen und ausserdeutschen analogicnmatcrials,
auf dessen grundlage in dem letzten paragraphen die end-
gültige kritik der Oreudelsage und ihrer versciiiedenen Ver-
sionen vorgenommen werden durfte. Indem wir das ergebnis
unserer Untersuchung zusammenfassen, beantworten wir zu-
gleich die vier Vorfragen der einleitung, wenn auch in um-
gekehrter reihenfolge:
Dem indogermanischen urvolke war gleich semitischen
Stämmen eine naturanschauung eigentümlich, der zu folge der
sommergott im winter als abwesend und im frühling als zu-
rückkehrend gedacht wurde. Dieser primitive mythus hat
griechisch eine mehrfache, deutsch eine vielfache ausprägung
erhalten und ist in beiden Völkern als eine heimkehrsage in
die heldensage, deutsch auch in das märchcn übergetreten.
Eine Sondergestaltung hat der deutsche mythus in der sage
von Aurvandil, das ist: dem glanzwandler, erfahren. DicscU>c
') Zu der ganzen Vorstellung des Thor, der den Oorvaiidil ;mt den
schultern über die Elivagur trägt, kaiiu ich mich nicht enthalten zwei
unautgeklärte paralleliiberlieterungen wenigstens anzuführen: die deutsche
der Wielandsagc, derzut'olge Wate seinen söhn Wieland auf den schul-
tern durch den sund trägt (merkwürdig hesunders durch die, wie es
scheint, sturmriesenartige natur des vaters und die alfeuhalte schnüede-
fertigkeit des sohnes); und die griechische der Orionsage, welche man
allzuschnell mit der ausdeutung auf Vorgänge des Sternenhimmels abzu-
tun gedachte: Orion, riesisch vorgestellt, ein ungestilui stürmender jäger,
wölken und wogen türmend und wirbelnd, wird auch vorget^tellt den
schmiedegenossen des Hephäst Kcdalion (das ist fenerbrand) auf den
schultern (gen Sonnenaufgang) tragend. Der Vollständigkeit halber sei
auch die Christophoroslegende erwähnt, obwol aus ihr für unseren fall
nichts zu lernen ist.
120 BEER, DER STOFF DE« ORENDEL.
ist iu drei, getrennt und unabhängig- von einander entstandenen
und entwickelten fassuugeu überliefert. Die norwegische fas-
sung gibt dem mythus von dem heimkehrenden lenzesgott die
Wendung, dass er aus dem winterlaud zu der ergrünenden
erde als seiner gattin kommt (was in der Überlieferung mit
einer disparateu anderweitigen naturanschauung zusammen-
geriet); die dänische fassung gibt dem mythus die wendung,
dass der heimkehrende lenzesgott den winterdämon erschlägt
und die von ihm um buhlte Jungfrau (ein chthonisches wesen)
sich vermählt; die deutsche fassung vereinigt beide, im gründe
unvereinbaren Wendungen, indem sie den lenzesgott aus der
gcfaugenschaft des wiuterdämons zurückkehrend den seine
gattin (kein chthonisches wesen) umbuhlenden winterdämon
erschlagen lässt, und fügt noch zwei weitere anschauungen
hinzu: 1. dass der lenzesgott verhaftet ist, sich dereinst widerum
iu die gefangenschaft des winters zu begeben; 2. dass der
Jahreszeitengott im winter ein bettelhaftes gewand genommen
hat, so dass der heimkehrende lenzesgott seinem weibe un-
kenntlich vor die äugen tritt. Das Verhältnis der drei Über-
lieferungen ist mithin dahin zu bestimmen, dass alle drei, auf
liedern beruhend, den nämlichen mythus in auseinandergehen-
den entvvickelungen darstellen, das ist: drei selbständige ab-
artungen des nämlichen mythus bieten, die dänische und die
norwegische abartung sich am weitesten von einander entfernen,
die deutsche zwischen beiden in der mitte steht, die dänische
verhältnismässig einfach überliefert, die norwegische mit ander-
weitigen Überlieferungen versetzt ist, die deutsche eine reihe
von entwickelungen bis zur spielmännischen brautfahrts-,
kreuzzugs- und reliquienlegende durchlaufen hat; mit einem
werte: dass die drei Überlieferungen drei abarten des nämlichen
mythus auf verschiedenen cntwickelungtstufen und mehr oder
minder in verquickung mit fremden dementen darstellen.
LEIPZIG. L. BEER.
DIE ent8Tp:hijng des deutschen
REDIVEU8E8.
I.
Ijachmauns theorie des deutschen rciniverscs ist von der
anschauuug getiairen, dass dieser vers sich auf einer reihe
von worttönen aufbaut, welche in gewisser weise zusammen-
treten. Er redet wol gelegentlich von 'füssen', aber ich kann
nicht finden, dass seine verslehre wesentlich dadurch beein-
flusst wäre. So sagt er zwar z. b. gleich zu eingang der
ersten abhandlung über althochdeutsche betonung und vers-
kunst (Kl. sehr. I, 358): 'Hingegen der deutsche vers, beson-
ders der ältere, bis gegen das sechzehnte jahrlunulert wo die
romanische form überwiegt, hat eine bestimmte zahl fdsse',
aber er qualificiert dies sofort wider dahin 'das iieisst hebungen
die in höher betonten silbcu bestchn als je die nachfolgende
Senkung: und die Senkungen vor und zwischen den hebungen
dürfen auch ganz fehlen'. Das verdienst dieser anschauung
gegenüber das rhythmische princip der gliederung des vcrscs
in füsse betont zu haben, gebührt in erster linie Kiegcr.
Aber seine ausführungen über nihil, verskunst (in Plönnies'
Kudrun, 1853, 241—303; für den in rede stehenden punkt
kommen besonders s. 260 ff. in betracht) sind von seinen nach-
folgern überhaupt lange nicht nach gebühr gewürdigt worden.
Bei einer auffassung wie der Lachmanns mu.sste die Unter-
suchung der rhythmischen einzelformen des reimverses in den
hintergrund treten. Die angesetzte grundform (x)-'-(x) -
(x) ' (x) ' k<»»Dte zwar durch synkope der Senkung und durch
auflösung betonter wie unbetonter silben (wie ich gleich für
silbenverschleifung sagen will) variiert werden, und diese
Variationen konnten an den vcrscliicdcnstcn stellen des vcrses
1-22 SIE VERS
eintreten, oft auch im mehreren stellen des verses zugleich.
Aber man scheint sich kaum je bewusst und im zusammen-
hange die frage vorgelegt zu haben, in welcher weise die so
entstandenen unterfornien typisch von einander verschieden
sind, und welche Innern zusammenhänge zwischen den einzel-
nen Variationen bestehen. Erst allmählich hat sich die auf-
merksamkeit auf einzelne solche punkte gelenkt. Vorange-
gangen ist Bartsch mit der aufdeckung der 'cretici' in der
Schlusszeile des Nibelungenliedes, d. h. der neigung zur Syn-
kope der zweiten Senkung im vierhebigen stumpfen verse
(Untersuchungen über das Nibelungenlied, 1865, s. 142 ff.), einer
neigung welche später R. Becker, Der altheimische minnesang,
1882, s. 50 ff., für die älteste lyrik, neuestens Seemüller für
den sog. Seifried Helbling (einleitung zur ausgäbe, 1886,
s. XL VIII f.) bestätigt fand, und die sich, wie unten gezeigt
werden soll, durch die ganze ältere reiradichtung durchzieht
und zu ihren besonderen charakteristicis gehört. Bei Becker
a. a. 0. finden sich dann noch weitere beobachtungen ähnlicher
art über verse mit anderer hebungszahl.
Als einen weiteren wesentlichen fortschritt der theorie über
Lachmann hinaus betrachte ich es, dass man angefangen hat
den dipodischen bau des deutschen reimverses gebührend zu
l)etonen. Hier ist Grein vorangegangen, indem er in seiner
bearbeitung von Vilmars Deutscher verskunst (1870) § 17 f.
zunächst für Otfrid auf die Scheidung von haupt- und
nebenhebungen drang. Sieben jähre nach ihm hat dann
0. Schmeckebier in seiner dissertation Zur verskunst Otfrieds
(Kiel 1877) s. 3 — 7 dasselbe gelehrt, ohne Grein zu nennen,
also wol ohne kenntnis von ihm zu haben. Neuestens ist denn
endlich das Schlagwort 'dipodie' auch für die ältere deutsche
metrik in die Öffentlichkeit eingeführt durch R. M. Meyer in
seinen verdienstlichen, leider nur wenig anschaulich geschrie-
benen Grundlagen des mhd. strophenbaus (Strassburg 1886 =
Quellen und forschungen LVIIl).i) Aber an einer alle diese
') Nur geht Meyer wider zu weit, wenn er schliesslich die kata-
lektische trochaeische dipodie als einziges grundmass des deutschen
verses (resp. satzea überhaupt) hinstellt. Es erklärt sich dies daraus,
dass auch er noch das alte scheni;i ' vier hebungen stumi)f' für die
einzige grundforui des deutschen reimverses hält, obwol es eigentlich
DIE ENTSTEHl NG DES DEUTSCHEN KEIMVERSES. 12;:
eiuzelueii ausätze ziisamnicufassendeu uucl weiteifübieudeu gc-
sammttheorie des deutsehen reimverses fehlt es doch immer
noch, und nameutlieh ist das Verhältnis des reimverses zum
alliterationsvers noch immer ein ungelöstes rätsei trotz einer
menge von einzel versuchen, Übereinstimmungen und Verschie-
denheiten in diesem oder jenem punkte nachzuweisen. Zu
einer solchen theorie miJchten die nachfolgenden ausflihrungeu
einen beitrag liefern. Ich sage ausdrücklich beitrag, da ich
durchaus nicht den anspruch auf abschliessende darstellung
erhebe. Doch hotte ich immerhin, dass man dem folgenden
System, das ich im anschluss an meine metrischen arbeiten
auf dem gebiet der alliterationsdichtung in den letzten jähren
mehrfach durchgeprüft habe, die anerkennung nicht versagen
wird, dass es von einem richtigen historischen gesichtspunkt
ausgeht und eine reihe von erscheiuungen in einen ungezwunge-
nen Zusammenhang bringt, die bisher sich einer erklärung ent-
zogen. Ich werde mich bemühen, das was ich vorzuljringen
habe, mit fernhaltung alles nicht streng notwendigen beiwerkes
80 schlicht wie möglich darzustellen, auch ohne einzelpoleniik,
80 weit dies angeht: denn diese würde nur dazu dienen das
gesammtbild zu verwirren. Ebenso ist es mir im augenblick
unmöglich, überall im einzelnen festzustellen, wem das erste
Urheberrecht au den gedankcn gebührt, die ich hier verwerte.
Als mein eigentum möchte ich also nur die Zusammen-
fassung derselben in der bestimmten richtung in der ich sie
vortrage, in anspruch nehmen.
Ich beginne mit ein paar erörterungen allgemeinerer uatiir.
denen man iiiren elementaren cliarakter zu gute halten möge.
Gerade dieser ist, wenn ich nicht irre, daran schuld, dass die
betrettenden tatsaciien in der praxis unserer zünftigen altdeut-
schen metriker nicht zu ihrem rechte gekommen sind. Eigent-
lich neues habe ich bei diesen vorerwägungen wol gar nicht
vorzubringen; namentlich berühre ich mich sehr oft mit
den in vieler beziehung tretflichen auseinandersetzungcn von
E. Stolte, Metrische Studien über das deutsche \<dkslicd, Crctcld
schwer erfindlich ist, wie man (iaraiif gekommen ist, ^cra<le (lieses
Schema xur t^rundlaf^e aller iihri^^en zu machen, da doch /.. lt. lici Otfrid
ca. '.)()",„ aller versc klingend ausgehen, <l. h. ganz anderen rhythmischen
Charakter haben.
124 SIEVERS
1883, und deu daran angeknöpften bemerkungen von Paul
im Lit.-ßlatt 1884, 460 fi", auf die ich ein für allemal ver-
weise.
1. Der unterschied zwischen der messung nach dipo-
dieu und der nach einzelfüssen (monopodien) besteht,
in der deutschen metrik wenigstens, im wesentlichen darin,
dass in der dipodie ein fuss dem andern untergeordnet ist,
d. h, schwächeren ton hat. Dieser unterschied ist auch prak-
tisch von grosser bedeutung. So viel coordinierte versteile
(resp. rhythmische einheiten), so viele höchstbetonte silben oder
Wörter kann ein vers enthalten. Während ein vierfüssiger
vers vier gleichwertige icten enthalten darf, kann ein vers aus
zwei dipodien deren nur zwei haben : die icten der unterge-
ordneten füsse (nebenfüsse) müssen auf Wörter oder silben
von schwächerem ton fallen (vgl. Vilmar-Grein § 17). Hieraus
folgt, dass die kunstdichtung, insofern sie auf Steigerung des
gedankeninhaltes der einzelzeile ausgeht, zur entwicklung der
fussmessuug hindrängt: je grösser die anzahl starker, gleich-
wertiger icten, um so grösser ist auch die anzahl gewichtiger
Wörter, die sich in einem verse unterbringen lassen. Ein stück
wie die von Meyer a. a. o. 50 aus einem andern gründe her-
vorgehobenen Zeilen Gottfrieds (Tristan 60 ff.)
ir süeze sür, ir liebez leit,
ir herzeliep, ir senede not,
ir liebez leben, ir leiden tot,
ir lieben tot, ir leidez leben
mit den vier gleichtönenden icten zum ausdruck der doppelten
antithese in jeder verszeile, würde man in einem weniger
kunstraässigen werke wol vergeblich suchen. So lange der
reimvers als volksmässige dichtungsform besteht, ist die volks-
tümliche dichtung dem dipodischen bau getreu geblieben, bis
auf den heutigen tag. Aber auch die kunstdichtung benutzt
den unterschied dipodischer und monopodischer messung mit
mehr oder weniger vollem bewustsein oder doch mehr oder
weniger sicherem empfinden. Goethe ist auch hier der uner-
reichte meister.i) Als typisches beispiel für ausgeprägte fuss-
messung will ich nur etwa anführen
1) Einige treffende ausführungen über Goethes rhythmik siehe bei
Stolte 8. 4S ff. Interessant ist besonders auch der s. öl wider abgedruckte
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIM VERSES. 125
kennst' du das | länd wo | die ci- | tronen I blü'hn,
im II dunkeln \ läub die | guido- | rängen | glii'hu,
ein II sänfter | wind vom | bläuen | himmel | weht,
die II myrte | still und | hoch der | lörbeer | steht?
11. s. w. Hier sind alle icten ein wenig, aber gleichmässig, ge-
dämpft, der ganze rhythmus getragen. Ictus auf schwacher
silbe kommt nur einmal vor, auf dem worte die der ersten
zeile. Selbst die natürliche dipodische betonungsabstufung
von compositis wird dem monopodischen rhythmus zu liebe
verändert: goldorängen mit zwei vollen tönen, weil beide teile
gleiches (malerisches) gewicht haben: wie absurd wäre hier
göldorangen\ Hierneben halte man z. b. als beleg für dipodi-
schen gang eine Strophe wie
sah ein | knäb ein || rö'slein | stehn,
rü'slein | auf der || höiden,
war so I jung und || morgen- | sclm n,
lief er | schnell es || näh zu j sehn,
säh's mit | vielen || freuden.
Ebenso schön zeigt sich der gegensatz zwischen dipodie und
monopodie auch im dramatischen vers, am aller lehrreichsten
und kunstvollsten vielleicht im Faust. Fausts mouolog Habe
nun ach jihilosophie beginnt dipodisch. Aber mit dem Wechsel
der Stimmung wechselt auch der rhythmus. 0 sähst du voller
mondenschem bis in deinem tau gesund mich baden zeigt fuss-
messung, mit Weh\ steck ich in dem kerker noch beginnen
dann abermals dipodien, dann mit Ifa! welche ivonne ßesst in
diesem blick wider monopodien, und so fort. Aehnlich sind
auch die reden des schülers durch monopodischen bau charak-
terisiert, während Mephisto sich ihm gegenüber, wie überhauj)t
brief an Kaiser, bei dem es sich in letzter Instanz übrigens doch wol
um rhythmenwechsel, |d. h. bindung steigender und fallender fiisse oder
dipodien in verschiedener anordnung handeln wird. — Auch was Zarncke,
Ueber den fünffiissigen jambus s. 90 f. über den wirkungsvollen Wechsel
von fünffUsslern und vierfüsslern in Goethes gedieht Ilmenau ausführt,
berührt sich nahe mit der hier autgestellten Unterscheidung. Die fiinf-
füssigen Jamben lassen wegen der ungeraden zahl ihrer füsse keine
dipodische gliederung zu, sind also hier wie überall nionopodisch ge-
baut. In den vierfüsslern aber brechen sogleich die dipodien durch,
und gerade auf diesem Wechsel beruht zum grossen teile die schöne
contrastwirkung der beiden verschiedenen versgattungen.
12ß SIKVERS
meist, der dipodie bedient. Auch im dialog: zwischen Faust
und Wagner zeigt sich ein ähnlicher gegensatz. Wagner redet
strict monopodisch, und dabei ist denn der gegensatz zwischen
dem schweren rhythmus und dem dürftigen inhalt seiner reden
von lebensvollster Wirkung'); Fausts reden neigen dagegen auch
in dieser scene mehr zur dipodie hin.
Durch dieses 'mehr' ist zugleich eine einschränkung an-
gedeutet, die man bei dieser ganzen frage zu machen hat.
Scharf ausgeprägt ist eigentlich nur die dipodische messung
der volkstümlichen dichtung, und aus leicht ersichtlichen grün-
den. Die regel, dass je zwei nachbarfüsse eine höhere einheit
l)ilden müssen, in welcher der eine fuss dominiert, ist ja leicht
durchzuführen. Und diese einfache regel bestimmt allein schon
den rhythmischen Charakter des verses. Es verschlägt nichts,
wenn nun die einzelnen dipodien unter einander abermals ab-
gestuft sind; im gegenteil, das wird sogar gewöhnlich der fall
sein, und es trägt auch nur zum wollaut des verses bei. Diese
abstufung der dipodien unter einander gehört aber nicht in
das gebiet der rhythmik als solcher, sie hängt vielmehr von
dem gedaukeninhalt und -gewicht der einzelnen dipodien
ab. Für sie lässt sich also keine allgemeine regel geben:
jeder einzelfall hat seine besondere form, die dem inhalt an-
gemessen ist. Innerhalb der dipodie aber muss eine ab-
stufung stattfinden; das ist ein wirkliches rhythmisches gesetz
oder princip. Wir können also sagen, dass innerhalb der
dipodie die beiden füsse rhythmisch gebunden sind, die dipo-
dien unter einander sind principiell gleichwertig, ihre abstufung
hängt von der freien willkür des dichters ab.
Ueberträgt man dies auf den 'monopodischen' vers, so er-
gibt sich das resultat, dass in diesem die einzelnen füsse
principiell gleichwertig sind, aber doch auch wider der freien
abstufung nach dem willen des dichters unterliegen. Ja, eine
gewisse abstufung muss stattfinden, damit der vers nicht zu
einem eintönigen geklapper werde. Diese abstufung aber lässt
sich, eben weil es sich abermals um einzelfälle handelt, wider
nicht unter bestimmte allgemeine sätze bringen. Sollte man
') Wie ganz anders ergänzen sich rhythmus nnd inhalt z. I). in
Fausts monoixxlischem monolog in walil und höhle!
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 127
nuu darauf gestützt deu unterschied der beiden weisen niclit
rein negativ dadurch ausdrücken, dass man zwischen dipo-
discher und adipodischer niessung schiede? Nützlich wird
es immerhin sein, sich das negative unterscheid uugsmoment
stets gegenwärtig zu halten. Aber viel wäre doch mit dieser
bloss negativen terminologie nicht gewonnen. Es liegt doch
auch ein positiver unterschied vor, eben dass im 'adipodischen'
verse die einfachsten rhythmischen elemente, die füsse, prin-
cipiell gleichw' ertig sind, und sich nur nach einzel-
bedürfnissen abstufen, im dipodischen verse aber sich
je paarweise gruppieren und innerhalb jeder gruppc
principiell ungleichwertig sind. Dieser unterschied be-
dingt eine ganz verschiedene Vortragsweise. Der Vortrag des
adipodischen verses ist an sich ruhiger und getragener; einzelne
besonders starke sinnesaccente werden unter umständen wol
deutlich scharf hervorgehoben, aber das weniger bedeutsame
wird wider in sich mehr nivelliert. Und das sollte man, meine
ich, doch auch positiv im namen ausdrücken. Ich möchte also
doch bei den oben vorgeschlagenen namen dipodisch und
monopodisch, oder vielleicht einfacher j)odisch, stehen
bleiben. Innerhalb der 'podischen' verse könnte man dann
wider zwischen freierer und strengerer durchfiihrung des niono-
jiodischeu princips unterscheiden, je nachdem der einzclvers
weniger oder mehr auch tatsächlich gleichwertiger füsse ent-
hält. Der letztere piinkt al)er hängt widerum von dem In-
halt, der Stimmung, überhaupt dem Charakter des einzelnen
verses oder gedichtes ab.
Parallelen zu dem was hier über deutschen \ersbau ge-
sagt ist, sind in den kunstliteraturen der anderen germanischen
Völker leiciit und sattsam zu finden. Der fünffiissige Jambus
wird z. 1). bei den Engländern nicht anders gemessen als bei
uns, d. h. monopodisch: aber die volkstündichen liedchen in
vierhebigen versen, die Shakespeare z. b. einzulegen liebt, sind
wider meist dipodisch gei)aut im anschluss an die allgemein
gültige art des Volksliedes.
2. Wir besitzen jetzt zwei grundverschiedene vortrairs
weisen die ich als die rec^tierende') und die takt icrcnde
') Stolte, welclicr iil)t'r dcMi iiiitor.scliicil dicsor licitlcn vortra;:»-
weisen auch beroits cino roilu? trolVcndcr htuuorkunfjen tfilit (olinc jotlocli
128 SIEVERS
bezeichnen will. Die erstere herrscht beim kunstmässigen
Sprech Vortrag, d. h. in der recitation und declamation. Sie
bringt vorzugsweise den mit dem versrbythraus sich ver-
schlingenden natürlichen satzrhythmus zum ausdruck. Bei
dieser Vortragsweise zeigen alle nicht absolut fremdartigen verse
einen regelinässigen Wechsel von hebung und Senkung,
Die Senkungen sind in der regel einsilbig, oft aber auch zwei-
silbig (im daktylischen und anapästischen vers, auch im sog.
knittelvers und gelegentlich sonst), selten länger, z. b. dreisilbig
im Blücherliede:
was II blasen die trom- | peten ? hu- | sären her- | aus.
Dagegen kennt diese Vortragsweise keine synkope der
senkungi), und, was damit im Zusammenhang steht, keine
icten auf silben die in prosa stets unbetont sind, d. h.
die nicht auch in der prosa einen wenn auch noch so
schwachen rhythmischen nebenton haben.
Dem gegenüber herrscht die taktierende Vortragsweise
allgemein im gesang; ausserhalb derselben finden wir sie auch
wie es scheint auf das vorkommen des streng taktierenden Vortrags
ausserhalb des gesanges aufmerksam geworden zu sein), zieht hierfür
den ausdruck declamatorisch vor. Ich möchte doch das neutralere
recitierend für zweckdienlicher halten, namentlich mit rücksicht auf
seine Verwendbarkeit auch für die ältere dichtung, die eine eigentliche
declamation schwerlich gekannt haben wird. [Erst nach der nieder-
schrift des vorstehenden geht mir Useners Altgriechischer versbau, Bonn
1SS7, zu. Hier weist üsener nachdrücklich auch auf das volks- und
kinderlied als erkenntnisquelle für altdeutsche metrik hin, z. b. 'Unser
alter deutscher versbau ist noch heute in den liedern des volkes und
der kinder lebendig. Trotzdem dass mehr als zwei Jahrhunderte mit
erfolg daran gearbeitet haben unserer dichtung eine neue metrik zu
schaffen, halten unsere kinder, ohne es gelehrt werden, die verse ihrer
lieder und reime in deren alter wertung unerschütterlich fest. Wir
müssen uns herablassen bei ihnen in die schule zu gehn ', s. 63. In der
folgenden Untersuchung stützt sich Usener dann vielfach gerade auf
kindersprüche. Seine weiteren vergleichend metrischen folgerungen ver-
mag ich freilich nicht zu teilen, da ich den reimvers nicht für so ur-
sprünglich halten kann, als man es gemeinhin tut]
') Abgesehen natürlich von den nachbildungen antiker metra mit
zusammenstoss zweier icten, wie etwa Choriamben [spindel \ hold dem
gespinsl \ gäbe der blau- \ ä'ugigen Pal- \ las du) oder hinkversen {der
cliü- I liäm- I be scheint, ein vers \ für ktinst- \ richler) u. dgl., die
übrigens ohne taktierung kaum noch für verse gelten können.
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 129
im gesprochenen kindeilied und ähnlich gebauten volkstüm-
lichen Sprüchen. Hier wird die taktmässige gliederung der
rhythmischen reihen in den Vordergrund gestellt, gegenüber
dem natürlichen rhythnius des gesprochenen (als prosa reci-
tierten) satzes. Diese Vortragsweise besitzt sowol synkope
der Senkung als icten auf silben die in der prosa nie
einen nebenton haben (z. b. den endsilben zweisilbiger
Wörter). Doch besteht zwischen dem gesang und dem taktie-
renden Sprechvortrag jetzt in der regel der unterschied, dass
im gesang die synkope an bestimmte stellen des verses ge-
bunden ist und also in den correspondierenden verszeilen stets
an gleicher stelle erscheint; im gesprochenen kinderlied dagegen
ist sie im princip frei.
Beim gesang von liederu iambischer oder trochäischer
form kann die 'synkope' natürlich nicht eintreten. Dagegen
ist regelmässige 'synkope' sehr üblich beim gesang von versen,
die bei recitierendem Vortrag mehrsilbige Senkung haben,
also insbesondere bei sog. daktylischen versen. Wir reci-
tieren z. b.
hier || sind wir ver- | sammelt zu | liü'hlichem | tun,
drum II brü'derchen | ergu bi- | bamus,
aber wir singen mit 'synkope' und prosawidrigem ictus auf
unbetonten silben, indem wir jeden sprcclitakt durch einschie-
bung eines secundüren ictus in zwei hälftcn zerlegen:
hier || sind | wir ver- 1| sam- | mclt zu || frii'h- | llciiem || tun,
drum II brü'- | dcrehen || er- | gö bi- 1| bii- 1| müs,
u. s. w. in den correspondierenden Zeilen der strophe. IJci echt
volkstümlichen niclodien finden wir aber auch öfter eine freiere
behaudlung der synkoj)e, so z. b. in den bereits von Stoltc s. 7
hervorgehobenen liedern
o II Strass- j bürg o || Strilss- | bi'irg du || wunder- | scho ne || sfädt
da- II rinnen | liegt be- 1| gra- \ bön so || niäiini- | eher sid- j] dat
oder
wir II hat- | ten ge- 1| bau- | et ein || statt- | llciies 1| iiäus
und II (hin auf , g6tt ver- | trau- 1 et trotz || wrttcr stürm und || gräus.
Noch freier als hier, wo doch immer noch eine gewisse
regelung stattfindet, ist die behaudlung der synkope wie ge-
sagt im kinderlied. Hier jdlcgt synkope gcw("d)nlich einzu-
treten am Schlüsse von versen die den nihtl. versen mit drei
Beiträge zur gesohiclite der dentsclicu spräche. XII 1. 9
130 SIE VERS
hebunyeii und klingendem scliluss entsprechen. Das schluss-
wort erhält dann zwei icten. Daneben gibt es aber auch verse
mit zweisilbigem schlusswort, das nur einen ictus trägt. Diese
Zeilen haben dann den Charakter der mhd. vierhebigen verse
mit stumpfem ausgang und auflösung der letzten hebung. Als
beispiel kann dienen
backe 1 backe || ki'i- | chen,
der II bä'cker | hat ge- 1| rii- | fen :
wer will | schö ne 1| kuchen 1 bücken,
der muss | hüben 1| sieben | suchen
u. s. w. Ausserordentliche mannigfaltigkeit zeigt ein weit-
verbreiteter Spruch, den ich in der von Winteler, Kerenzer
mundart 192, mitgeteilten form gebe, weil ich diese von Win-
teler selbst habe recitieren hören und ihren rhythmus sicher
kenne*):
ri'ta I ri ta || rö'ss- | li,
z Wab- I stüt 8S II älö'ss- | li,
z Wesa I sütt OS || nünna- | hüs,
da II lüego- | trf junk- || fräu9 | dru s:
dl II äi I sbinnt || sf- | da ,
di II ünndar | gölld- 1| wf - | da
dl II drit I sbinnt || häbar- | kstrüu^):
phü'ep mar | göp mis || stetsseli | an.
Aehnliche beispiele sind leicht zu finden, auch bei den übrigen
verwanten Völkern. Eine reiche ausbeute für das Studium
volkstümlicher rhythmischer formen bieten namentlich die eng-
lischen nursery rhymes. Ich will abermals nur ein beispiel
fiir dipodischen bau mit synkope der Senkung hersetzen:
göosy I göosy || gän- | d6r,
where | dö you || wün- | der?
üp I stüirs and || down- | stüirs
and II in the | lüdy's || cham- | ber.
where I | föund an || old | man
who II w6uld'nt | süy his || pray'rs:
1 II töok him | by the || left | leg
and II fli'ing him | d6wn the || stairs.
') Ich vereinfache nur die Orthographie etwas, well es ja hier auf
eine genaue lransscrii)tion der mundartlichen laute nicht ankommt.
2) Für diese beiden zeilen kenne ich durch mündliche mitteilung
von Winteler noch die etwas abweichend gebauton Varianten:
di II tsweit i sübak || chri'- | da
di 11 drit | .^niitzat || habar- | kstrüu.
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 131
3. Was hier als metrischer oder rhythmischer fuss
oder takt bezeichnet ist, braucht nicht ohne weiteres mit dem
übereinzustimmen, was die praxis der musiker als musika-
lischen takt durch taktstriche abzutrennen pHegt; vielmehr
ist das nur verhältnismässig selten der fall. Sehr oft werden
zwei rhythmische takte zu einem musikalischen takt zusammen-
gezogen, d. h. der sog. musikalische dreiviertel- oder Sechs-
achteltakt setzt sich meist aus zwei rhythmisch selbständigen
dreiachteltakten zusammen, der musikalische Viervierteltakt
aus zwei zweiviertel- oder vierachteltakten. Auch der musi-
kalische zweivierteltakt enthält oft zwei rhythmisch selbständige
hälften. Ja oft geht die rhythmische teilung noch weiter. j\Ian
vergleiche z. b.:
musikalisch;
wir I hatten ge- | bauet ein | stattliches | haus = 4 x ' 4^)
rhythmisch:
wir II hat- | ten ge- |1 bau- | et ein || statt- | liches || htlus = S x -jt
oder:
musikalisch:
was I blasen die trompeten hu- | saren heraus = 2 x Vi
rhythmisch:
was II blasen | die trom- || pe- | ten hu- || sa- | ren lier- 1| aus = S x -,8
oder :
musikalisch:
wenn | ich einmal der | herrgott wiir mein | erstes wäre | das
= 4 X - ,
r hy thmisch:
wenn || ich ein- | mal der || herrgott | wii r mein || erstes | wä're | das
= 8 X V»
oder:
musikalisch:
ich I weiss nicht was soll es be- j deuten dass | ich so traurig |
bin = 4 X "^/s
rh y tli misch:
ich II weiss nicht was | soll es be- || dei'i- | tön dass || ich so | traurig
II bin = 8 X «/«.
Unsere musikalische notierung bezeichnet und zählt also, wie
man sieht, niciit immer nur wirklich einfache takte, sondern
sehr gewöhnlich auch dii)odicn.-)
*) Ich rechne hier stets volle musikalische takte, <1. h. über den
angegebenen versschliiss hinaus jedesmal bis zum nächsten taktstricli.
'^) Vgl. hierzu namentlich wider Stolte und Taul a. a. o.
9*
1 32 SIEVERS
4. Ich kehre nach dieser absch weifung- zu den oben unter
2. gegebenen beispielen zurück. Dass in ihnen das was ich
bisher 'synkope der Senkung' genannt habe, beim taktieren-
den Vortrag nicht absoluten wegfall der Senkung, sondern deh-
nung der hebung auf die dauer des ganzen fusses be-
deutet, darf ich wol als allgemein zugegeben betrachten. Ebenso
auch, dass der umgekehrte fall, die erweiterung des eigentlich
zweisilbigen fusses auf drei oder vier sllben, bei welchem man
im ahd. und mhd. von silbenverschleifung zu reden pflegt,
hier deutlich auf dem princip der auflösung beruht. Doch
besteht hier ein unterschied zwischen dem gesungenen und
dem taktierend gesprochenen vers. Im gesang wird auch bei
'auflösung der Senkung' (d. h. im dreisilbigen fuss mit
lauger hebung) der auf die Senkung allein entfallende zeitteil
gespalten, beim taktierenden sprechen aber die hebung etwas
verkürzt, so dass also die gesamratheit des fusses etwas gleich-
miissiger auf die drei silben verteilt wird. So ist in dem drei-
silbigen soetsceli oben s. 130 die Stammsilbe merklich kürzer
als wenn man etwa die zweisilbige (aber hier nicht dem dia-
lekt entsprechende) form .scetsU einsetzen wollte. Eher darf
man von einer reinen auflösung der hebung auch im tak-
tierend gesprochenen vers reden. Beide arten der auflösung
linden wir gut veranschaulicht in einem andern spruch, den
ich ebenfalls Winteler a. a. o. entnehme:
Ulli I fö gseli II singad | W ||
bis am I sünutig || y/a- | bo d, ||
älli I bU'ebfcli || hcUgm-mi j gera: |
ach wie | bin-i au || phV- | go t! (
Hier haben wir auflösung der hebung in fögcüii, heidm-mi und
hin-i au, auflösung der Senkung in bücbcclL Am schluss von
z. 1 wird s(f über den ganzen fuss ausgehalten, in 2 und 4
treten pausen zur füllung ein; charakteristisch ist der ausgang
(/er9 in 3, das, als erst secundär aus einsilbigem (fusslangem)
(/em entstanden, nur eine hebung trägt.^)
') Anmerkungsweise will ich doch hervorheben, dasa bei dem un-
kiinstlerischen Vortrag durch kindesniund der dipodische rhythinus leicht
gestört und durch eine nicht Hinngcniässc monopodische taktierung er-
setzt wird. Namentlich geschieht dies oft hei trochäischen versen
welche eigentlich steigende dipodien enthalten. So werden z. b. meist
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. i;j:i
llieinach erlicbt sich nuu die frage, welche Stellung
der altdeutsche reimvers in bezug auf rhythmische
gliederung wie auf Vortragsweise einnimmt. Die ant-
wort ist durchaus leicht und einfach zu geben. Ich beginne
mit dem zweiten punkt.
Wir wissen dass Otfrids vers für den gesang bestimmt
war, und dieser gesang kann bei der Stellung des werkes von
dem kirchengesang der zeit ])rincipiell nicht wesentlich ver-
schieden gedacht werden. Er war also taktierend. Ferner
zeigt nur der moderne taktierende Vortrag alle die eigenheiten
noch, welche wir im ahd. und mhd. reimvers finden, d. h. vor-
nehmlich die Synkope der Senkung und icten auf silben die
in der prosa stets unbetont sind, in zweiter linie auch die
auflösungen. Da nun keinerlei nötigung vorliegt, zwischen
die altdeutsche und die moderne taktierende Vortragsweise
eine kluft zu legen, so wird man annehmen dürfen, dass unser
taktierender Vortrag (der ja längst nicht mehr allgemein gilt)
ein Überbleibsel des altdeutschen taktierenden Vortrags ist,
welcher wahrscheinlich einmal die gesammte dichtuug be-
hcrrschte.i)
Bei Otfrid finden wir noch keine sichere spur von dem
iiionopudiscli rociticrt struwwelpeterversc wie ob der Philipi> heute slill
\\ wvl bei lisclie sitzen tvill u. dgl.; bei iainbischein typus bleibt eher die
dipodiseiic inessunf^ erhalten: l'aulinchen 7vur allein zu /it'ius, \\ die
eitern ivüren beide aus u. a. w. Es versteht sich über wol vuu sell>st,
dass solche ausnahmen die oben aufgestellte beliauptung von dem ilipn-
dischen charakter unserer volkstümlichen dichtung nicht stören.
') Auch dies ist bereits deutlich von Stolte ausgesprochen; vgl.
namentlich s. 41; 'Man hat von der neueren dictitung gesagt, sie sei
darum so viel einförmiger als die alte, weil sie nur einerlei hebung
kenne, während jene über liochtonige und mitteltunige licbungcn ver-
füge. Das ist nicht riclitig; mitteltonige unti schwaciitonige hebungen
hat auch die neuere poesie, ihre eigentümlichkeit ist nur, dass sie zwei
hebungen nicht zusammentreten lässt, sondern stets eine Senkung zwischen
sie schiebt. Reicher ist der rhythmus der älteren poesie allerdings, aber
wegen der mannigfaltigeren (luantitätsverhältnisse, wie sie auch in den
vorhin besclirielienen gcradtaktigen liedcrn auftreten. Aber gerade
dieser reichere rhythmus mus.ste, um aufgefasst zu werden, eine Vor-
tragsweise nötig machen, die der scansion sich nähernd, immer noch
etwas sangartiges an sich hat und nicht den reichen tonwechsel ge-
stattet, den die deklamation unserer gedichte geradezu fordert.'
134 SIEVERS
rec'itiercudeu Vortrag. Wie seine reime zeigen, tragen die end-
silbeu zweisilbiger Wörter der form ly ^^^ versschluss stets
noch einen ictus^ also wurde auch am versschluss noch taktiert.
Im gesang ist die taktierende Vortragsweise natürlich stets bei-
behalten worden. Aber bei den gedichten, welche nicht ge-
sungen, sondern gesagt wurden, wird sich bald in einem punkte
ein Übergang zur recitierenden Vortragsweise bemerklich ge-
macht haben. Der schlussictus zweisilbiger Wörter von der
form 1 X ^^Ji'd unterdrückt, und damit entsteht der im eigent-
lichen sinne als 'klingend' bezeichnete ausgang des mittel-
hochdeutschen verses. Wann das im einzelnen eingetreten ist,
lässt sich freilich wol nicht bestimmen. Im volksepos wird die
alte weise länger gedauert haben als bei den höfischen dich-
tem. Im Innern auch des gesagten verses aber ist die taktie-
rung sicher überall da unversehrt beibehalten worden, wo sich
Synkope der Senkung findet. •)
') Dies gilt auch für einen grossen teil der späteren verse die man
gewöhnlich als silbenzählende bezeichnet. Gegen diese auffassung hat
bereits mit recht Goedeke protestiert (Gedichte von G. R. Weckherlin,
Leipzig IS73, XVIII flf., Dichtungen des Hans Sachs, P, Leipzig 1883,
XVI f.). Goedeke hat auch bereits auf das wichtige argument auf-
merksam gemacht, dass in diesen gedichten nie mehr als zwei unbetonte
oder zwei betonte silben unmittelbar auf einander folgen. Der vers von
Hans Sachsens spruchgedichten und dramen ist z. b. einfach noch der
alte reim vers, nur dass -x ^t" versschlusse hier, als in reinen sprech-
versen, als eintaktig gerechnet wird. Der einzige wesentliche unter-
schied von der alten metrik der sonst noch in betracht kommt, ist dass
Synkope der Senkung einerseits, zweisilbige Senkung und fehlen oder
stehen des auftakts, auch Wechsel zwischen ein- und zweisilbigem auf-
takt andererseits, mit rücksicht auf die geforderte gleiche silbenzahl
aller verse in einen inneren Zusammenhang gebracht sind, während sie
früher von einander unabhängig waren. Fällt durch synkope der Senkung
eine zählbare silbe aus, so muss durch eine in gleicher zeile eintretende
zweisilbige Senkung (auflösung der Senkung) oder durch einen zwei-
silbigen auftakt ersatz geschafft werden; fehlt der normaler weise ein-
silbige auftakt, so tritt ebenfalls zum ersatz auflösung einer (der ersten)
Senkung ein. Man brauclit nur einmal den versuch mit lautem lesen
nach diesen regeln zu machen, um zu erkennen, welch trelfliclier rhyth-
miker Hans Sachs noch gewesen ist. Ks steht eben bei ihm wie bei an-
dern dichtem seiner zeit so, dass sie unbewusst natürliches rhythmisches
gefühl und rhythmischen schwang von haus aus mitbrachten, gestützt
auf die gute alte tradition, dass aber ihre theoretische aufmerksamkeit
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 135
Ueber die dipodisclic j;licdcruiiy- des altdeutscbeu reiiii-
verses wird weiter uuten ausführlicher gehandelt werdeu. Ich
übergehe daher diesen punkt einstweilen, und versuche zu-
nächst die beantwortung der frage: wie alt ist die taktie-
rende Vortragsweise des deutschen verses?
Ich glaube man kann hier mit einer sichern negative be-
ginnen: Der germanische alliterationsvers in den wech-
selnden gestalten die ich in meinen früheren abhandlungeu
nachgewiesen habe, kann nicht taktierend in unserm
sinne gewesen sein. Ich vermag mir wenigstens keinen
modus vorzustellen, nach dem etwa ein Bx- I x- "'•* einem
D L I J-^x oder E llx I — unter einen hut gebracht werden
könnte, oder etwa ein C x-^ I v^x "^^^ einem A mit vielsilbiger
Senkung, wie — XXXXX I — X> ^^^ ^^ch z. b. im ags. nicht
selten ist und mit jenen kürzesten formen von B und C ver-
eint in den gleichen gedichten vorkommt. Man käme bei dem
versuch ein nordisches oder ags, gedieht taktierend vorzutragen
zu Ungeheuerlichkeiten der dehnung auf der einen und kür-
zungen auf der andern scitc, und beim Heliand gar hört die
möglichkeit ganz auf. Ich bekenne mich also in dieser frage
ganz zu der auffassung von Vetter (Muspilli 41 f.), der den
alliterationsvers als einfaches taktloses rccitativ oder molodram
mit harfenaccorden auf den hebungcn deliniert. Womit natür-
lich die annähme nicht ausgeschlossen ist, dass das gesammt-
zeitmass für <len Vortrag der einzelnen zeilcn ein annähernd
gleiches gewesen sein möge, so dass die grössere silbenzahl
eines verses zu einem durchgehends besciilounigten, die ge-
ringere silbenzahl zu einem durchgehends langsameren tnnpo
führte.»)
(eben deswefijen vielleicht) sicli nur mit' dinge richtete, die uns als nebon-
aächlich erscheinen niiisacn. Aehnlich stellen ja auch z. b. die nordi-
schen theoretiker ihren veranlassen f,'egenüber. Heber alle niöf^lichen
details skaldischer techuik haben sie register gelührt, über die rhyth
mischen formen der dichtung, die bei den skalden mit absoluter
Sicherheit und strenge gehandhabt werden, haben sie un.s kein worl
verraten.
') [Man vergleiche hierzu wider, was Usener, Altgriech. versbau I IT i.
über den Vortrag des altgriecliiaehen verses sagt: 'Das alte saitenin.stru-
uient der Griechen wurde nicht gestriciien wie die altt'ranzösische vicllc
und die serbische giislc, sondern geschlagen. Der Honieriache aüugcr
136 SIEVERS
Dass ein solclier melodramatischer Vortrag, wie ihn Vetter
anuimmt, als singen bezeichnet werden könne, wird niemand
leugnen. Dem worte 'singen' an sich kann man es doch nicht
ansehen, welche art musikalischen Vortrags es von haus aus
bezeichnet hat. Man kann auch nicht behaupten, dass es eine
bestimmte, in specie unsern heutigen gewohnheiten entsprechende,
Vortragsart habe bezeichnen müssen. Ja, denkt man an das
got. ussiggrvan 'vorlesen' (und schliesslich schlechthin 'lesen'),
so wird man leicht zu der Vermutung geführt, dass siggwan
ursprünglich eine jede gehobenere, feierlichere Vortragsart im
gegensatz zur gewöhnlichen rede bedeutet haben möge. Es
ist aber zwecklos, hierüber weiter zu speculieren, da man doch
zu keinem sichern resultate gelangt.
Ich bin also der ansieht, dass der Vortrag des epischen
alliterationsverses seinem wesen nach mit unserer
recitierenden Vortragsweise zusammengestellt werden
müsse. Ob daneben für andere dichtungsarten etwa ein
taktierter vers bestanden hat, können wir nicht wissen. Wahr-
scheinlich ist es nicht. Es genügt aber auch für unsere zwecke
vollkommen, zu constatieren, dass dem gegensatz von
epischer alliterationszeile und reimzeile zugleich ein
gegensatz von recitierender und taktierender Vor-
tragsweise zur Seite steht. Wir haben danach einen bruch
mit der alten tradition nach zwei selten hin, den man wol mit
einem fremden vorbild erklären kann, wie man das bisher
getan hat. Aber auf der andern seite hängt der reimvers
hat seine laute scliwerlich anders gehandhabt als um die versschlüsse
und vielleicht einzelne hebungen zu markieren; auch wenn er ihr eine
dem vers silbe für silbe folgende melodie entlockt hätte, würde seine
bcgleitung nicht vermocht haben die tondauer der einzelnen versailben
zu regeln und zu bestimmen. Der geschlagene ton hat keine dauer;
der rhythmus einer so vorgetragenen melodie liegt in der wechselnden
dauer der intervalle zwischen den einzelnen angeschlagenen tönen, und
die gebietende rolle füllt letzlich dem gesprochenen oder gesungenen
Worte, dem sprachlichen oder melodischen rhythmus zu. Die feste
regelung des musikalischen faktes kam wol erst mit den dauertönen
der blasinstrumente, wurde wenigstens erst durch sie zu einer unab-
weisbaren pliicht der musikalischen künstler.' Treffender kann man die
Sachlage bezüglich auch der ältesten gormanischen dlchtung nicht aus-
drücken].
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCUEN REIMVERSES. 137
wider mit dem alliterationsvcrs in eigentümlicbkeiten derteclmik
zusammmen, die keinem denkbaren fremden muster nach-
geahmt sein können: dem zusammenstoss zweier ieteu, der
auflösung und der auftaktbildung (ßeitr. X, 216 ff"). Also ist
der reimvers nicht etwas toto genere neues, sondern nur eine
prineipielle Umbildung eines älteren masses: die neuerung be-
steht — abgesehen von der ersetzung der alliteration durch
den endreim — eben in dem Übergang von der freiereu
recitation zur taktierung.
Der alliterationsvers ist, wie ich gezeigt habe, zweifüssig,
die reimzeile viertaktig oder vierfüssig: das compliciertcrc
System ist an die stelle des einfacheren getreten. Auffallend
ist dabei der rasche sieg des neuen über das alte. Es müs.sen
mächtige factoren vorhanden gewesen sein, die diesen raschen
Umschwung der dinge begünstigten. Was lüsst sich über solche
factoren vermuten?
Bereits in der alliterationsdichtung selbst waren elcmeutc
vorhanden, welche die Umbildung des zweigliedrigen vcrses zu
einem viergliedrigeu nahe legten oder begünstigten. Wenn
einmal für die anzahl der versglieder oder füsse die anzahl
stärker betonter silbeu massgel)eud ist, die in einem \erse
stehen, so musste fast unwillkürlich ein A mit nebeutoncn in
den Senkungen den eindruck der mehrglicdrigkeit machen.
Namentlich gilt das von versen mit zwei nebentönen, wie
hreöslheord blödreuw etc., Beitr, X, 2S0; aber auch solche wie
feäsceaft funclcn ib. 27G, oder Grendles ^äfücrw/'/ ib. 278 legen
einer vierteilung nahe: unwillkürlich sucht m«u den rhytiimus
der beiden füsse gleich zu machen, betont also beim lesen fast
wider willen feäsceaft fluiden und Grendles güöcnvft u. dgl.
Auch die D und E mit ihren drei tonsilben in jedem vers
(_!- I Llx "i^d -1 — X I — "• s. w.) sind ganz dazu angetan, das
rein zweigliedrige System der iil)rigen versarten zu stören.
Aber alle diese versarten zusammengenommen sind doch kaum
häufig genug, um allein den anstoss /u der neuordnung ge-
geben zu haben. Als ergänzung, Ja ich glaube direct als
mächtigster factor, haben die vicrtaktigen mclodicn des
kirchlichlichcn hy muengesanges eiiigcgrillen, den man
ja auch sonst zur erklärung des Systemwechsels herbeizuziehen
pflegt. Aber nicht die form des verses hat der hymnengesang
138 SIEVERS
geliefert — denu der deut!;icbe reiniveis ist nicht eine iani-
bisehe oder trochäisclie dipodie — sondern man hat versucht
und gelernt die alten verse nach den neuen melodien zu singen
und wo es nötig war diesen melodien anzupassen.
So gelange ich zu dem einfachen schlusssatz: Der
deutsche reimvers ist das resultat eines compro-
misses zwischen dem fiinftypensystem der allitera-
tionszeile und neuen, durch den kirchengesang ein-
geführten viertaktigen melodien. Die Umbildung des
alten verses geschah im anschluss an einzelvorbilder
welche bereits die alliterationszeile darbot, zunächst
dadurch dass man in den gleichfüssigen typen A, B, C
in jeden fuss eine nebenhebung einschob, in den un-
gleichmässigen typen D und E aber die alte neben-
tonsilbe wie die eigentliche senkungssilbe zu neben-
hebungen machte. Nachdem einmal auf diese weise das
alte gefüge gelockert war und ein neues rhythmusgefühl sich
ausgebildet hatte, traten dann als nachzügler der grossen be-
wegung noch vereinzelte Verschiebungen auf, welche zu vers-
formen führen die nicht direct aus dem fünftypensystem ab-
geleitet werden können.
Ich habe mir der einfachheit wegen wider erlaubt, dieses
resultat meiner Untersuchungen dogmatisch vorauszustellen,
statt es sich erst aus einer masse verwirrender details ergeben
zu lassen. Der beweis der richtigkeit ergibt sich ja auch bei
dieser anordnung leicht, wenn es gelingt, alle wesentlichen tat-
sacheu des neuen metrischen Systems ohne zwang aus den
aufgestellten Voraussetzungen zu erklären. Die beweisführung
wird sich dabei in erster linie auf den versbau Otfrids zu
erstrecken haben.
Ehe ich auf einzelheiten eingehe, sei es mir gestattet an
einen praktischen beispiel zu zeigen, wie sich die Umsetzung
des alten Systems in das neue im Zusammenhang ausnimmt.
Ich wähle dazu einen abschnitt aus einem capitel das man
notwendig zu den ältesten stücken des evangelienbuches rech-
nen muss'), dem capitel 1,5. Man kann dieses capitel,
^) Lachmanii, KI. sehr. I, 450. Warum Erdmann s. LXII gerade
dieses capitel von seiner ältesten schiebt ausschliesst, ist mir nicht klar.
— Auch I, 7 eignet sich gut zu einem musterstiick.
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN KEIMVERSES.
i:j9
wie viele andere absebüitte in den älteren partien des werkes,
fast ganz beliebig- nacb dem fiinftypeusystcm oder
uaeb dem scbema der reimzeile lesen: ja oft gibt die
erstere Vortragsweise viel bessere verse als die
zweite, und das ist der beste beweis, dass Otfrids vers nicbt
nur mit dem fünftypensystem auf gleicber basis ruht, sondern
sich wirklieh direet aus diesem entwickelt und allmälilicli
erst zu grösserer freibeit in der neuen bewegung durchge-
rungen bat.
Der eingang des capitels (mit ausschluss der ersten strophe,
die im baue nicht so aitertündicb ist wie das folgende und
vielleicht erst bei der einfüguug des capitels in seinen jetzigen
Zusammenhang [vgl. Erdmauu LXll] ihre entstebung gefunden
hat) zeigt nach dem fünftypensystem gerechnet folgende ge-
stalt'):
:i
tlio (luaiu bütü fona gute,
XX^X 1 xx-x
B
üiigil ir liimile,
- X X 1 ^_X X
A
4
bläht er therera uiKjrolti
-xxxx 1 ^xx
A
diuri äruiiti.
-If-x^
D
5
floug er sünnun päd,
XX- 1 X-
B
sterrono sträza,
-XX 1 -X
A
6
iiiicga uu61kono
^x 1 -^x
D
zi theru itis frono.
XX-^X 1 -X
C
7
z| ediles fröuun,
v^.XX 1 -X
A
sulljim sancta Alüriun:
-XXX 1 -X
A*
8
tliie fördüron hi bäine
X 1 -XXX 1 -X
aA
uuarun chüninga alle.
xx^-x 1 -X
C
',)
giang er iu thia palinza,
-XXX 1 ^xx
A
fand sia drurenta,
XX- 1 -X
C
10
mit sälteru iu henti,
X 1 -XX 1 -'-X
aA
theu säug sj iiuz in ciiti,
X 1 -XX 1 -X
aA
II
iiuaheio duaclio
-XX 1 -X
A
uuerk iiiiirkento.
- 1 X
D
') Ich iiatie daliei, um die ty\nin dciitliclior liorvoififti ii zu lassen,
auflüsungcn als solche durch untergeset/.tes gckenuzeiclmct. Für
die Zählung der silben ist zu beachten, dass ich üheiall elisJDn ange-
nommen habe, auch \vu sie in den hss. nicht vorgeschrieben ist.
140
SIEVERS
VI
diuiero j,^a,i-iio
-XX 1 -X
A
thaz deda siii io tifcrno.
X 1 ^X 1 -X
aA
13
tho sprach er örlicho iibar dl,
XXX- 1 XXX
-
B*
so man zi fröuuun scal,
XXX- ! X-
B
14
80 böto scal io güater
X 1 ^xxx 1 -
K
aA
zi drühtines muater:
X 1 -XX 1 -X
aA
15
'heil, magad zieri,
- 1 ^x-x
D
thiarna so scöni,
-XX 1 -X
A
16
ällero uuibo
-XX 1 -X
A
gote ZL'izosto!
^X i --X
D
17
ni brütti thih müates,
X 1 -XX 1 -X
aA
noh thines jinluzzea
XXX- 1 -X
C
18
farauua ni uuenti:
^XXX 1 -X
A
i'ol bistu gutes ensti.
XXX^X 1 -X
c*
19
forosagon süngun
^X^X 1 -X
A2
fon tliir Silligun:
XX- ! -X
C
20
uiiaruu so allo iiuörolti
-XXX 1 ^xx
A
zi thir zeigonti.
XX- 1 -X
C
21
giuima thiu uuiza.
-XX 1 -X
A
magad scinenta.
-X 1 --X
D
22
muater thiu diura
-XX 1 -X
A
scalt thu uuesan eina:
-XXX i -X
A
23
thu scalt heran uinan
-XXX 1 -X
A
alauualtendau
-X 1 X
D
24
erdun ioh himiles
-XX 1 ^xx
A
int alles liphaftes,
XXX- 1 -X
C
25
scepheri nu6rolti
-XX 1 ^_xx
A
(theist min arunti)
XX- 1 -X
C
2fi
fätere giburanan
^xxx 1 ^xx
A
cbanthiuigan.
' 1 ' '
D
27
gut gibit imo uuiha
X 1 ^xxx I -
X
aA*
ioh eia filu liolia
X 1 -XXX 1 -
X
aA
2H
(drof ni zuivolo tliu tliöa)
XX- 1 XXX-
B*
Davides sez thcs küninges.
X ! -x-x 1 4
XXaA*
2!)
er richisot githiuto
X 1 -XXX 1 -
X
aA
küning therero liuto:
^XXXX 1 -X
A
:}()
thaz steit in götes henti
XXX^X 1 -X
C
ana theheinig cnti:
-XXXX 1 -X
A
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES.
111
31
ällera uuörolti
-XX 1 ^XX
A
ist er üb gebenti,
XX- 1 ^xx
c
32
thuz er ouh inspi'rre
-XXX 1 -X
A
himilrichi manne.'
-x-x-x
A
Gegen den strengen gebrauch des ags. alliterationsverses
Verstössen unter diesen 60 halbzeilen folgende acht: 7''. 2S''. 32=*
= A mit stark nebentonigen silben in der Senkung {santa, sez,
-richi); aber derartiges findet sich auch im Heliand, und 32^'
könnte ein correctes erweitertes E sein, -l-x I — x; ferner
13*. 28* = B mit dreisilbiger zweiter Senkung, die aber auch
im Heliand vorkommt, Beitr. XII, 323 f.; endlich 18'\ 27-\ 28* mit
fol, got, drof in der eingangsenkung von B, C, während sie
als erste nomina der zeile einen ictus tragen müssten. Schliess-
lich ist auch noch hervorzuheben, dass auftakte vor A häufiger
erscheinen als im ags., aber nicht häufiger als im Heliand,
und dass sie massvoller sind als dort, d. h. hier das mass von
einer silbe nicht überschreiten. Auf alle fälle wird durch diese
abweichungen von den strengeren regeln des ags. Versbaues —
und dieselben finden zum guten teil noch ihre erkläruug als
berechtigte licenzen durch die parallelen im Heliand — der
rhythmische charakter der fünf typen nicht erheblicli ge-
stört. Dagegen sind als taktierverse unbedingt schlecht und
schleppend >)
flüug er 1 siiu- 1| nun j päd 5^
80 man zi | fröuu- 1| im | sc4l 13b
und, wenn nicht uuolköno zu lesen ist (vgl. uuolkou dat. jil.
1, 15, 38) auch
uut'ga I uuul- 1 kö- I nü (i»-')
Ferner sind anstössig die reime oder eigentlich uichtreime
(jölc : Itimile 3 (wo (lote mit verschlcifung zu lesen ist) und
päd : slrdza 5. Ausserdem ist noch zu beachten, wie uamcnt-
') Es wird weiter unten gezeigt werden, dass und warum die fol-
genden verse so und niclit anders zu scandieren sind als ich bier
angebe.
■■*) Schwerfällig sind alle D-verse des stiioks, I''. 1 1 '■. ir>n. h;|'. 21 '•.
23''. 20'', mit ihren vier aneinanderstossendon hebungen. Durch die anl-
lösungen der ersten oder zweiten hebung, welche hie und da aurtrcfcn.
wird diese Schwerfälligkeit nur wenig gemild<>rt.
142 SIE VERS
lieb zu eiugaug des capitels die neigung zur alliterationsbildung
an vielen stellen durchbricht (Lachmann, Kl. sehr. I, 456).
Dass Otfrids ictenzeichen, deren es normaler weise höch-
stens zwei sind, die den alten hebungen der alliterationszeile
entsprechenden haupthebungen des neuen verses bezeichnen
sollen, ist vermutungsweise schon oft ausg;esprochen worden.
Schwerlich aber wird man dabei eine so völlige Überein-
stimmung mit den alten typen erwartet haben wie sie jetzt
zu tage tritt. Bereits an unserem kleinen bruchstück lassen
sich die hauptregeln für Otfrids ictenbezeichnung ablesen: In
versen des typus A bekommt die erste und dritte
hebung den accent, in versen des typus ß die zweite
und vierte, in versen des typus C und D dagegen die
zweite hebung allein. E ist in der probe nicht vertreten,
ebenso einige andere formen des entwickelten reim verses, auf
die ich erst später eingehe, um hier noch einiges allgemeinere
anreihen zu können.
Wie ist die verschiedene behandlung der typen A und B
einerseits und C und D andererseits zu erklären? Bereits
Lachmann hat (Kl. sehr. I, 458 anm.) constatiert, dass Otfrid
es vermeidet, zwei nachbarhebungen zu accentuieren.
Als rein willkürliche abneigung gegen das nahe zusammen-
stehen zweier accentzeichen wird man dem dichter dies nicht
auslegen können. Vielmehr meine ich dass er durch diese
regel ein recht gutes rhythmisches gefühl bekundet. Nur
gleich gewichtige hebungen werden von ihm gleich-
zeitig accentuiert. Solche gleich gewichtige hebungen haben
wir vor allem in den typen A und B mit gleichlaufendem
rhythmus in beiden füssen (A = doppelt fallend, B = doppelt
steigend). Für C lässt sich dagegen aus dem umstand, dass
die zweite hebung auch im alliterationsvers kurz sein (form
X— jv^^x)? ^Iso hinter dem sonstigen mass der normalen
hebungen zurückbleiben darf, der schluss ziehen, dass in diesem
typus die erste hebung dominierte, d. h. dass dieser typus auch
im alliterationsvers nur eine haupthebung im vollsten sinne
des Wortes besass. Bei der erweiterung zum viertaktigen
reimvers blieb dies Verhältnis bestehen : die zweite dipodie tritt
etwas hinter der ersten zurück (vgl. oben 126), und Otfrid
war daher ganz im rechte, wenn er in solchen versen nur
DIE ENrSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIM VERSES. 143
einen ictus bezeichnete. Für D ist diese erkläiunj^' nicht ohne
weiteres anwendbar. Denn wenn im alten D eine hebung
hätte dominieren sollen, so wäre dies sicherlich die erste ge-
wesen, die für sich allein einem dreigliedrigen fuss gegenüber-
steht, L gegen -i^x t^der -x-> und doch lässt sie Otfrid un-
bezeichnet. Auf der andern seite ist aber zu beachten, dass
ein vers von der form, LL — x niit gleichmässig absteigendem
rhythmus ziemlich unerträglich ist, und dass er vor allem die
teilung in zwei parallele hälften (dipodien) nicht zulässt, welche
die weitaus häufigsten typen A, B und C nicht nur gestatten,
sondern im alten reimvers tatsächlich stets besitzen und welche
hier geradezu als eines der hervorstechendsten kennzeichen be-
trachtet werden muss. Wenn nun Otfrid im D-vers die erste
hebung unbezeichnet Hess, so denke ich geschah das deswegen,
weil er sie schwächer gesprochen haben wollte. Dadurch er-
hielt dann die erste vershälfte steigenden, die zweite fallenden
rhythmus, und in der mitte war so eine gelegenheit zu einem
rhythmischen einschnitt gegeben. Das der dipodischen teilung
widerstrebende D wird eben so weit umgemodelt, als not-
wendig ist um diese teilung zu gestatten. Jedenfalls enthält
aber Otfrids accentuierung bereits einen hinweis auf die Ver-
mischung der typen C und D, deren verlauf uns unten noch
näher beschäftigen wird.
Für die weitere entwicklung des reimverses ist dann noch
ein gesichtspunkt von massgebender bedeutung. Es gilt die
beantwortung der frage: welche geltung hat eine silbcn-
gruppe der form ^x ^.n den verschiedenen stellen des
vers es? Unsere herkömmliche theorie betrachtet diese grup|)c
als auflösung von _!_ (resj). sieht darin einen fall von sill)en-
verschleifung) in zwei fällen: einmal am versschluss (im vcr-
schleiften stumpfen reim), sodann im innern des verses wenn
sie in einem dreisilbigen fuss erscheint. Sonst unterscheidet
die theorie nicht zweisilbige füsse der form ^y^ und solche
der form Ly^. Diese praxis ist aber schwerlich zu recht-
fertigen. AVenn der reimvers aus dem alliterationsvers ab-
geleitet ist und aus diesem das ganze priucip der auflösung
mit herüber gebracht hat, so folgt, dass überall da wo im
alliterationsvers v!. X ^1^ auflösung gilt (und das ist ja meistens
der fall), auch im reimvers die gleiche geltung angenommen
144 SIEVERS
werden muss, d. h. dass v^x i'^ ^^^ haupthebungen des
reimverses (welche den alten bebungeu des alliterationsverses
entsprechen) ursprünglich stets als auflösung zu gelten
hat. Diese auffassung wird, abgesehen von ihrer allgemeinen
Wahrscheinlichkeit noch durch verschiedene einzelgründe ge-
stützt. Als wichtigstes argument tritt uns dabei die tatsache
entgegen, dass Otfrid im grossen und ganzen wenigstens verse
von der form _!_ x ^ x — x so behandelt wie verse von der form
_lx — -x> d- 1^- ibnen nur einen accent gibt, mithin sie zu C
stellt, während verse von der gestalt 1 x - x — x ^^ allgemei-
nen zwei accente empfangen und so dem typus A zur seite
treten.i) Eine andere frage ist, ob dasselbe nun auch für die
neuen nebenhebungen gelten müsse? Diese frage ist zu ver-
neinen, schon mit rücksicht auf den bau des alliterationsverses.
Die quantität der senkungssilbeu ist dort durchaus gleichgültig,
und wx zählt dort ebensogut für zwei volle silben als _x;
nur bei sehr silbenreichen Senkungen wird sich zur erleich-
terung des rhythmus öfter die neigung einstellen, silbengruppen
von der form ^x zu verschleifen, d. h. in beschleunigtem
tempo zu nehmen. Der umstand dass im reimvers je zwei
silben einen nebenton bekommen, die im alliterationsvers un-
betont waren, braucht an diesen Verhältnissen nichts zu än-
dern; wir dürfen in den nebenfüssen sowol v^ x (zweisilbig) als
eventuell ^ x x (dreisilbig mit verschleifung) erwarten. Für
die Schlusshebung von versen mit 'klingendem ausgang' ge-
nügt ja w ohne weiteres, wie jeder zugesteht. Auch darf man
daran erinnern, dass im alliterationsvers der nebenictus in D
eine einfache kürze treffen darf, ja dass beim ictenzusammen-
stoss selbst in A und C eine Verkürzung der nachfolgenden
haupthebung, _!-J. | ^x und x— I ^x statthaben kann. Vor
allem ist aber aus dem reimvers selbst ein wichtiges argument
für die entscheidung dieser frage zu gewinnen.
Synkope der Senkung nach der haupthebung der
dipodie ist im reimvers eine der gewöhnlichsten erscheinungen;
man denke z. b. nur an alle die klingenden ausgänge. Sie
') Es versteht sich dies natürlich nur niiter der Voraussetzung dass
die verglichenen verse ungefähr gleich gebaut sind in bezug auf das
natürliche gewichtsverhältnis der einzelnen Wörter.
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 145
ist an dieser stelle durchaus am platze und von guter Wirkung,
insofern durch die mit dem ausfall der Senkung- verbundene
dehnung der hebung das gewicht derselben, also im falle sie
eine haupthebung ist, das gewicht eines der nachdrücklichsten
Wörter des verses, gesteigert wird. Durch das fehlen der
Senkung nach einer nebeuhebung aber wird der rhythmus ge-
stört, denn es ist unnatürlich, etwas nebensächliches in dieser
weise hervorzuheben, namentlich auf kosten des wesentlicheren.
Die Synkope der Senkung nach einer nebenhebung wird daher
im ganzen vermieden. Sobald aber die gruppe ^x statt L
ins spiel kommt, ändern sich die Zahlenverhältnisse sofort. Wo
die gruppe wx 1 x i^iit einer haupthebung beginnt, haben wir
nach dem was oben erörtert wurde, ebenfalls synkope der
Senkung anzunehmen; die gruppe ist dann der gruppe L \ x
gleich zu achten. Der fall ist recht häufig, aber doch lange
nicht so häufig wie synkope nach einsilbiger langer hebung,
weil ja doch einsilbige hebung die regel und auflösung die
ausnähme ist. Dagegen finden wir zahllose male die gruppe
v^x I -> ^- b- dieselbe silbenfolge nur mit anderer Verteilung
von haupt- und nebenton, während -\ — zu den grössten
Seltenheiten gehört. Also
L I ^ sehr gewöhnlich
v^X I ^ seltener
- I L sehr selten
v^x I — durchaus gewöhnlich.
Die natürlichste erklärung für dies Verhältnis liegt aber doch
in der annähme, dass man in ^x 1— keine synkope der
Senkung empfunden, mithin ^ x ^üi" einen vollen fuss gerechnet
hat. Ich stelle hiernach den satz auf: Die gruppe ^x ^^'^
einer haupthebung hat im reimvers ursprünglich stets
als auflösung von L zu gelten, mag der fuss in dem
sie steht zweisilbig oder mehrsilbig sein (im ersteren
fall haben wir dann synkope der Senkung); die gruppe ^x
mit einer nebenhebung gilt dagegen als voller zwei-
teiliger fuss; nur im falle dreisilbigen fusses, vl/xxi
ist auch hier auflösung (verschleifung) anzunehmen.
Man wende hiergegen nicht ein, dass diese theoretische
Unterscheidung keinen praktischen wert habe: auch wo l^y^
als auflösung von L mit synkope betrachtet werde, vertrete
es einen vollen fuss, das 1 sei nicht die gewöhnliche hebungs-
Beiträge zur geschichte der deutächeu spräche. XIII. 10
146 SIEVERS
länge, sondern eine überdehnte länge von der dauer des vollen
fusses. Das ist ganz richtig auf dem papier, aber für den
lebendigen Vortrag besteht doch ein unterschied. Die haupt-
hebungen sind die eigentlichen marksteine des rhythmus, sie
setzen auch beim taktierenden Sprechvortrag scharf taktmässig
ein, während das zwischenliegende oder ausserhalb liegende
eher eine gelinde Verwischung der taktgrenzen gestattet. In
einer gruppe wie ^w | ^, also etwa lebete^ ist keine der bei-
den ersten silben dehnungsfähig, beide zusammen geben nur
das mass einer gewöhnlichen länge; folglich ist hier die auf
die Senkung entfallende more beim Vortrag durch eine pause
[ij) zu markieren. Im Vortrag gestaltet sich also die gruppe
^^ I v^ genauer gesagt zu ^^{p) \ ^. Hat dagegen die gruppe
die gestalt v^_ I ^, etwa wie in lebende, so ist die anwendung
der pause nicht notwendig, da hier die mittelsilbe dehnbar ist
{leben-n- \ de). Im nebenfuss dagegen wird die durch die
gruppe wx nicht absorbierte zeit anders untergebracht, auf
minimale pausen [p) verteilt, die sich zwischen die einzelnen
Silben einschieben und eventuell dem vorausgehenden fusse
zu gute kommen. "Wir haben also folgenden contrast im
Vortrag:
1^1^ mit haupthebung = || ^l | ^
^x I - » nebenhebung = | 7. .l^x? II -
Für den kunstmässigen gesang fällt allerdings dieser
unterschied fort. Wo correspondierende füsse wie^xundv^x
auf die gleichen notenfolgen gesungen werden, sei es J J
oder I i* (oder wie die taktform sonst sein mag), müssen die
natürlichen quantitätsunterschiede der spräche verwischt werden.
Aber auf den rhythmischen bau der verse hat dies musikalische
dement erst nach langer kunstübung eingewirkt. Erst in
der klassischen lyrik des mittelalters, w^elche synkope der
Senkung nicht mehr kennt, ist der unterschied der messung
von v^x und wx verloren gegangen. Bis dahin hat, trotz
allem was man über das notwendige zusammengehen von
wort und weise gesagt hat oder sagen mag, die alte natür-
liche rythmierung gegolten, welche ein überwiegen des sprach-
lichen rhythmus über das rein musikalische zur voraus-
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 147
setzuDii: hat, während sich später das Verhältnis dieser beiden
factoren uniiiehrt.')
Durch diese vorläufigen erörterungen hof^e ich eine hin-
längliche hasis für die erläuterung gewisser tatsachen der alt-
deutschen reimmetrik gelegt zu haben, zu deren darlegung ich
mich nun wende. Dabei sind zwei punkte in erster linie ins
äuge zu fassen: Otfrids metrische acceute und deren be-
deutung für die erkenntnis des rhythmischen baues des verses,
und die art wie im reimvers die alten typen det neuen
melodien angepasst und zu diesem bebuf im einzelnen um-
geformt worden sind.
1. Otfrids metrische accente.
lieber Otfrids metrische accente liegt schon eine umfäng-
liche Specialliteratur vor. Die grundlagen hat auch hier be-
reits Lachmann festgestellt: 'Wie die alte weise der alliteration
im styl Otfrids spuren zurückgelassen hat, so regiert ihr
inneres gesetz auch noch seinen versbau; fast in jedem halb-
verse hat er zwei höher betonte Wörter. Wenn die hand-
schriften drei accente setzen, ist es meist nur versehen. . . .
In der regel bezeichnen die Schreiber in jeder vershälfte zwei
Wörter oder eins mit dem accent, und es ist immer der selte-
nere fall, dass, der regel alliterierender verse zuwider, die
zweite vershälfte zwei, und die erste nur einen accent be-
kommt' heisst es Kl. sehr. I, 457 f., und dazu in der anmerkuug
8. 458: 'Auch ist wol nur im schreiben und nicht im lesen die
betonung zweier auf einander folgender vershebungen vermieden
') Für den nord- und mitteldeutschen leser mögen diese ausfiihrungen
weniger überzeugend sein. Die spräche Nord- und Mitteldeutschlands
hat die sicher einst überall geltende Silbentrennung durcli schart" mar-
kierte druckgrenzen (Phonetik^ ij 2(i. 2'.t) grosscnteils aufgegeben und
besitzt daher wenig genug von einem scharf und reinlich quantitierenden
rhythmus. Dem Süddeutschen und Schweizer aher, namentlich dem letz-
teren, werden diese dinge, denke ich, sofort klar werden, wenn er den
rhythmischen Verhältnissen seiner volksmundart auch nur einige auf-
merksamkeit schenkt und nicht zufällig gerade jedes rhythmischen ge-
fühles bar ist.
lü*
148 SiEVERS
worden, wobei dann die Schreiber der beiden haupthandschriften
sich oft auf entgegengesetzte weise helfen.' Ausführlich haben
dann über die frage gehandelt P. Piper, Beitr. VIII, 225 — 244,
und N. So bei, Die accente in Otfrids Evangelienbuch, Strass-
burg 1882 . (Quellen und forschungen XL VIII): beide ohne
kenntnis der eben citierten äusserungen Lachmanns, was doch
einigerraassen wunder nehmen muss. Diese arbeiten, nament-
lich die von Sobel, bringen im einzelnen manches richtige:
aber die hauptsache haben sie doch verfehlt. Das geht daraus
hervor, dass sie eine menge von accentuierungen als fehler
oder ausnahmen betrachten, welche sich geradezu als typisch
für Otfrids System herausstellen werden (vgl. namentlich
unten nr. 10).
Das haupthindernis für eine richtigere auffassung dieses
Systems seitens der beiden letztgenannten forscher sehe ich
darin, dass sie zu sehr in dem wahn befangen waren, Otfrid
wolle wesentlich rhetorische accente durchführen, d. h. die
natürliche tonabstufung des prosasatzes sei für ihn mass-
gebend gewesen. Das ist aber nur zum teil richtig. Otfrids
accentsystem ist wie seine ganze metrik das resultat
eines compromisses zwischen sprachlichem und metri-
schem, und im zweifelsfall hat dabei das metrische,
nicht das sprachliche, den ausschlag gegeben '), wie
bereits oben s. 142 f. angedeutet worden ist. Dies nachzuweisen
soll die aufgäbe der folgenden Zusammenstellungen sein, bei
denen ich im allgemeinen nur die ersten 12 capitel des ersten
buches heranziehe, um nicht nutzlos material zu häufen. Nicht
unbemerkt will ich dabei laeseu, dass man absolut glatte
resultate nach der läge der dinge nicht erwarten kann, aus
dem einfachen gründe, der jedem leser Otfrids bekannt ist,
dass die handschriften so massenhaft in der setzung der
accente von einander abweichen. Trotzdem glaube ich, dass
1) Eine dunkle ahnung hiervon findet sich vielleicht bei Piper, der
von einer 'rhythmischen gewichtsausgleichung' redet, ohne dass man
jedoch darüber klarheit bekommt, was derselbe damit hat sagen wollen.
Richtige beobachtungen von tatsachen die hierher fallen hat auch Sobel
s. 19 f. (über Wörter von molossischer form und über die accentuierung
von versen die mit einer Stammsilbe schliessen, der in dritter hebung
kein höher betontes wort vorausgeht).
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIM VERSES. 149
mein System der überlieferuDg erbcblicb näber komuit, weDiji,er
fehler imd ausnahmen ansetzen muss als irgend eines der bis-
her aufgestellten.
Ich beginne mit der besprechung der beiden typen A und
B mit gleichen icteuabstäuden, d. b. derjenigen typen in wel-
chen zwischen den beiden haupthebungen eine nebenbebung
steht, oder anders ausgedrückt, in denen jeder baui)tbebung
eine nebenbebung folgt (A) oder vorausgebt (B). Durch diese
ictenstellung zerfällt der vers in zwei gleichwertige dipodien,
deren jede der regel nach einen acceut erhält. Doch steht im
zweiten halbvers, wie bereits Lachmanu sah, verhältnismässig
häufig nur ein accent, an der stelle des alten hauptstabes, also
auf der ersten haupthebung.
1. Verse des typus A.
1. Normaler weise bekommen verse des typus A den
accent auf der ersten und dritten hebung:
vuas liuto filu in flize I, 1, 1».
So accentuieren VP übereinstimmend in den ersten zwölf capiteln 70,
21, 24, 41, 29, 11, 10, 9, 15, 15, 36 und 12 mal, in summa 292 mal im
ersten halbvers; im zweiten halbvers 51, 17, 14, 19, IS, 2, 10, 8, 6, 4,
14, 6 mal, in summa 169 mal.
2. Zu diesen versen kommt sodann eine nicht unbe-
trächtliche anzahl von versen mit auflösung der dritten
hebung 1), wie
zit ioh thiu r6gula I, 1, 42».
Die belege für den ersten halbvers sind I, 1, 51. f)0. 89. 91. 111. 126.
2, 7. 37. 3, 5. 7. 26. 29. 32. 35. 40. 49. 4, 1. 13. 22. 34. 45. 53. 58. 59.
62. 63. 68. 85. 5,4. 9. 24. 25. 26. 48. 54. 56. 62. 71. 6, 6. 13. 7, 11. 16.
21. 24. 8, 1. 22. 9, 1. 4. 14. 22. 27. 31. 10, 1. 8. 27. 11, S. 25. 32. 33. 36.
42. 45. 57. 12, 12. 15. 16. 19. 30. 33; für den zweiten halbvers I, 1, 17.
42. 51. 89. 118. 126. 2, 7. 37. 39. 3, 10. 25. 40. 49. 4, 40. 40.2) 03. 65.
68. 73. 83. 85. 5,3. 28. 70. 8,22. 9,7. 9. 14. 22. 27. 36. 42. 12, 12. 15.
19. 20. 30; zusammen 69 resp. 37 belege.
3. Zum typus A gehören ferner eine reihe von versen,
die auf ein einsilbiges wort ausgehen, das aber im ton hinter
*) Auflösung im innern des verscs bleibt hier ausser acht.
-) Die lesung von V di'clanne ist natürlich dem dreltannc von P
vorzuziehen.
150 SIEVERS
dem Worte zurücksteht welches die dritte hebung bildet. Solche
verse vergleichen sich dem typus A2 der alliterationsdichtung
mit nebenton im zweiten fuss; man kann sie danach etwa als
A" bezeichnen. Beispiele sind für den ersten halbvers:
■ ni si drühtin thaz thin uuillo ist I, 2, 52
ther engil imo züasprah I, 4, 26
i'ize stuant ther Hut thar I, 4, 71
uuanana ist iz fro min I, 5, 35
tho screib er tlieiz ther liut sah I, 9, 26
ih scal thir sagen kind min I, 10, 19
zi theru steti füart er I, 11, 26
ih scäl iu sagen imbot I, 12, 9.
Hierzu mit auflösung der dritten hebung:
irf irrit uuerde bälo sin I, 2, 32
thaz ih ouh nu gisito thaz I, 2, 49
so uuito soso uuörolt ist I, 3, 42
zi hiun er mo quenun las I, 4, 3
theru spracha er bilemit uuas I, 4, 76
uuas si after thiu mit iru sar I, 7, 23
gihörta iz filu manag friunt I, 9, 3.
Ebenso im zweiten halbvers:
öugtun iro uuisduam I, 1, 5
bi thiu förahten sie se nöh so I, 1, 84
ni quem er innan müat min I, 2, 29
thu drühtin rihti uuört min 1, 2, 32
ich hera in uuorolt zi uns quam I, 3, 43
so moht es sin ein halb iar I, 5, 1 (Erdm.)
giangi innan hüs min I, 6, 10
ioh aller ouh ther läntliut I, 9, 3
ioh lertun ouh thar sang zua I, 12, 25
theist sconi gotes äntfang I, 12, 29,
und mit auflösung der dritten hebung:
thaz ih thanne iamer löbo thih I, 2, 48
uuio selbo er hera in uuörolt quam 1, 3, 3
so thär in lante situ uuas I, 4, 3
thaz thüz gisehes älauuar I, 4, 66
si ni mohta inberan sin I, 8, 3
so uuarun se alle samant thar I, 9, 6
iohannes scal ther namo sin I, 9, 16
süs scal io ther uämo sin I, 9, 18.
Die gesammtzahl der in VP übereinstimmend auf erster
und dritter hebung accentuierten A-verse beträgt daher 376
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 151
für den ersten, 224 für den zweiten halbvers. Diesen stehen
eine nicht unbeträchtliche anzahl von abweichenden accentuie-
rungen entgegen.
4. Verhältnismässig selten ist die Verschiebung des
ersten accentes um eine stelle ohne dass der typus dadurch
geändert wird:
ioh sie iz ouh irfullen I, 1, 110» F, iöh sie P
thaz si uns allo uuörolti I, 7, 26 F, thaz si P
er quad thes ni thähti I, 8, 21 F, er quäd P
ther ünsih irlösta I, 10, 4 F, th6r unsih P
und im zweiten halbvers:
thaz thu iz harto haltes I, 2, 27 V^ thaz thü P
ther unsih giheilti I, 3, 38 F, ther ünsih P
uuant iz uuas filu. scöni I, 4, 24 F, uiiant iz P.
Im letzteren verse ist die accentuierung von P direct falsch.
Sonst können diese verse noch den normal accentuierten bei-
gezählt werden.
5. Häufig ist dagegen der fall dass nur ein accent in
A-versen gesetzt wird. In der regel aber weichen die beiden
hss. hier von einander ab, wie die folgenden belege ergeben.
a) Der erste accent fehlt in P: erster halbvers I, 1, 39. 53. 90
92. 108. 2, 3. Ifi. 5, 39; bei nebenton (und auflüsung) 1,2,1. 5,65;
zweiter halbvers I, 1, 32. 00. 67. 91. 4, 5. 5, 37. 8, 11. 12, bei neben-
ton I, 1,86. 2, 17. 19 (10 : 11).
b) Der erste accent fehlt in F und ist in I' ergänzt: erster
halbvers: 1,3,4. 4,4. 10,1. 12, 8 (Erdmann), mit nebenton 1,6,3;
zweiter halbvers: I, 3, 2 1 . 5,65. 12,7; mit nebenton I, 9, 15 (5:4).
c) Der zweite accent fehlt in P: erster halbvers I, 1, 79. 4, 7.
5,16.31.42.46. 7,8. 11,27.12,22; zweiter halb vers: I, 1, 1 1. 110.
2, 50. 4, 1. 5, 30. 32. 42. 44. 47. 64. 72. 6, 11. 16. 17. 7, 8. 13. 8, 15. 16. 19.
9. 33. 39. 40. 10, 1. 2. 7. 14. 15. 22. 11, 2. 16. 22. 24. 26. 28. 29. 44. 54.
61; mit nebenton und auflösung I, 12, 21 (9 : 39).
d) Der zweite accent fehlt in F und ist in P ergänzt: erster
halbvers 1,1,64. 2,18.25.54. 5,18. 8,20. 9,39. 11,16, zweiter
halbvers I, 1, 37. 46. 70. 72. 73. 75. 78. 80. 104. 112. 114. 125. 2, 6.
8. 18. 26. 44. 46. 47. 3, 33. 3(). 4, 18. 21. 51. 5, 14. 9, 37. 11, 50
(8 : 27).
e) Der zweite accent fehlt übereinstimmend in FP: erster halb-
vers 1,7,18. 11,28; zweiter halbvers: 1,4,44.48. 5,34. 6,13.
8,26. 9,11.30. 11,15.18.35.62. 12,34(2:12).
f) Der erste accent fehlt in P, der zweite in F l, l, 39"'.
152 SIEVERS
Die hier hervortretenden zahleuverhältnisse führen zu fol-
genden Schlüssen. Üas fehlen des ersten accents kann nicht
auf ein bestimmtes princip oder eine bestimmte neigung zu-
rückgeführt werden, vielmehr handelt es sich um nachlässig-
keiten der Schreiber. V mit neun fehlem steht hierin höher
als P mit 21 fehlem. Anders beim zweiten acccnt. Hier
macht sich sofort ein erheblicher unterschied zwischen erster
und zweiter vershälfte bemerklicii, auch gehen nicht gerade
selten beide hss. in der Unterdrückung des zweiten accentes
zusammen, und das kann nicht ohne bewuste absieht sich so
gefügt haben. Für den zweiten halbvers wird man eine
neigung zugeben müssen, nur die erste hebung, den alten
hauptstab, zu bezeichnen, eine neigung die sich freilich mit
dem hauptprincip der setzung von dopi)elaccenten in A-versen
kreuzt. Ueberdies stellen sich die Schreiber von V und P
dieser neigung gegenüber verschieden. In V fehlt der zweite
accent verhältnismässig häufig in cap. 1 und 2, von da ab nur
spärlich: das grundprincip wird also allmählich strenger durch-
geführt. In P finden wir das umgekehrte Verhältnis. In
cap. 1 — 4 haben wir nur 4 auslassungen, von da ab wächst
die zahl rasch an, hier tritt also die kreuzende neigung gegen-
über dem grundprincip erst allmählich stärker hervor.
Die übrigen nicht zahlreichen Schwankungen in A-versen
werden erst später behandelt werden, da es sich zum teil dabei
um Verschiebung der typen handelt.
2. Verse des typus B.
1. Diese verse setzen sich aus zwei steigenden dipodien
zusammen, erhalten also normaler weise zwei accente, auf der
zweiten und vierten hebung, z. b.
iz ist ;il thuruh not I, 1, 7»
selb so helphantes bein I, 1, U)^>.
Die übrigen belege für übereinstimmende accentuierung von VF sind
für den ersten halbvers I, 1, U5. 2S. 48. 57. iJ'J. 113. 2, 1. 12. 17.
10. 24. 29. 3:j. 5G. 3, 9. 17. 37 (auflüsung der Schlusshebung). 43. 48.
4,57.80. 5, 3 (auflüsung der sclilusshebung). 13. 28. 37. 70. 0,10. 8,6.
9. 24. 9, 16. 18. 38. 11, 7. 19. 52. 12, 7. 29, für den zweiten halbvers
I, 1, 48. 87. 2, 9. 55. 3, 14. 15. 17. 4, 1 1. 8, 7. 9. 9, 1 (39 : 12).
2. Auch hier fehlt oft wider einer der beiden accente,
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. 15^
und zwar geben hier VP viel öfter zusamrueo, als beim tebleu
eines accentes in A-verseu:
a) Der zweite accent l'ehlt in FP: erster halbvers I, 2, 14.
5,5. 8,27. 9,0; z vv ei ter halb ver s: 1,1,52. ;{, 1». 12. 50. 1,20.7»;.
5, 13. 35. 8, 2. 24. 9, 7. 26. 11, 12. 19. 12, 9 (4 : 15).
b) Der zweite acceut fehlt in P: erster halbvers I, 5, 41.
9,32; zweiter halbvers I, 1,99. 3,47. 4,09. 5, 3(>. 41. 55. 0,12.
7,23. 9,25.38. 10,19. 11,52.59. 12,8.27.31 (2:10).
c) Der zweite accent fehlt in V, ist aber in P ergänzt: erster
halbvers I, 1, 30. 2,2.40. 4,06.5,38.9,15. 11,59; zwei ter lial b -
vers: I, 1, 113. 2, 12. 21. 40. 52. 4, 27. 47. 80. 0, 3 (7 : 9).
d) Der erste accent fehlt in P I, 2, 23». 55-mV). 2, 49'> (in V
steht nur der erste), er fehlt in VP übereinstimmend I, 1, 05i>
auf io.
Das resultat aus diesen belegen stimmt gut zu dem obeu
bei A gewonnenen. Der erste ictus ist der wichtigste, der
accent fehlt ihm gewiss nur durch verseilen. Der zweite accent
kann eher ausgelassen werden, und wird es gern im zweiten
hall)vers (15 mal in VP, 16 mal in P, 9 mal in V). Die
neigung, den zweiten accent unabhängig von der vorläge weg-
zulassen, setzt bei P wider erst etwa mit cap. ö ein, während
sie ])ei \' gerade wider zu anfang am stärksten ist.
Weitere Unregelmässigkeiten s. unten.
3. Verse des typus C.
1. Diese verse bekommen auch im ersten liall»vcrs regel-
mässig nur einen accent, auf der zweiten hebung, also z, b.
ouh selbuii l)iiah frono I, 1, 29» *"
sie sint fastmuate I, 1, 73"
flizun guallicho I, l,'i^
thio iro chüanheiti I, 1, 4''.
So sind noch gebaut und übereinstinmiend in l'P accentuiert im ersten
halbvers I, 1, 70. 95. 2,4.5. 3,1.41. 4,2.25.31.65.72.77.79. 5,34.
30.40.53. 7, 2. 3. 5 (?). 7. 22. 9,24.29.30. 10,20. 11,30.47. 12,34; im
zweiten halbvers 1, 1,49.81.85.108.115. 2,3.5. 3,24.29.41.44.
4, 8. 13. 14. 15. 17. 22. 52. 55. 58. 00. 02. 04. 74. 77. 7s. 79. 81. 5, 9. 17. 20.
24. 25. 36. 45. 48. 50. 03. 66. 0, 0. 9. 7, 2. 7. 11. 20. 8, S. 9, 10. 28.
10, 3. 5. 8. Kl. 11. 1.-!. 10. 24. II, I. Kl. 21. 3 1. 41. 13. 10. 12, 2. IS
(31 : 67).
Variationen dieser grundform des typus entstehen duicli
2. Auflösung der dritten hebung, wie
154 SIEVERS
ih uueiz iz göt uuorahta I, 1, SO''
ist er üb gebenti I, 5, 31^.
So noch im ersten lialbvers I, 4, 40. 7, 15, im zweiten I, 8, 1. 10, 6. 21.
11,45 (3 : 5).
3. Auflösung der zweiten hebung, wie
iz ist füll feizit I, 1, (iT»
in managemo agaleize I, 1, Ib.
So noch im ersten halbvers I, 1, 107. 119. 4, 38. 48. 67. 5, 30. 7, 14. 8, 19.
9,12. 10,1. 11,15.54, im zweiten halbvers I, 1, 15. 26. 58. 62. G3, 105.
123. 2,13. 3,4.35. 5,6.8.18.33.49. 6,18. 7,5.8.17.23.28. 9,13.
10,20. 11, 3 (?). 55. 12, 5 (13 : 27).
4. Auflösung der zweiten und dritten hebung zugleich:
so scribent götes thegana I, 1, 46 a
sie sint filu redie I, 1, 75»
thar man thaz fihu nerita I, 11, 57 ^
nist qucna berenti I, 5, 62 '\
5. Verkürzung der dritten bebung:
in mir ärmeru I, 7, 10'^
firliaz er itale I, 7, 18''
mit allen sdlidon I, 7, 24,
mit auflösung
iu filu mänegero I, 4, 49.
6. Gleicbzeitige accentuierung der zweiten und
dritten hebung (d. b. derjenigen hebuugen welche den alten
icten von C im alliterationsvers entsprechen) in VP ist selten:
ist st' dal sinaz I, 5, 47»
in uns iügund mänaga I, 5, 53 ^
thaz siu zi hüge häbeta 1, 7, 1 ^.
Häufiger ist diese accentuierung nur durch eine handschrift
vertreten:
Durch F: erster halbvers I, 1, 7S; zweiter lialbvers 1,3,7.
6,4.7. 9,8.21.23. 11,6; durch I': ers ter h alb vers 1, 1, 59. 4,50.
6, IG. 17. 7, 10. 8, 10. 25. 11, 51. 12, 11; zweiter halbvers I, 1, 2. 28.
77. 2, 34. 3, 19. 26. 4, 29. 54. 61. 5, 40. 7, 26.
7. Gleichzeitige accentuierung der ersten und zweiten
hebung in VP begegnet nur zweimal:
thkz si uns büran scolti I, 3, 38 -i
thi er uns ist iihenti I, 10, 18^.
In F allein: erster halbvers I, 1, 117. 5, 67. 12, 3; zweiter halb-
vers I, 1, 53. 64. 66. 4,7. 7,21. 11,1; in y allein: erster halbvers
1,1,40.45. 2,43. 3,22.33, 9,10. 11,17; z we ite r halb ve r 8 I, 2, 35.
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REliMVERSES. 155
4, 57. 5, l'J. ü, 2. Falsch steht der erste aceent in P auf einer silbe
die notwendig in eine Senkung fallen inusa I, 3, Ib". 4, 2s ». 8, 5".
11, 18a. 9, 31i>.
4. Verse des typus D.
1. Zu diesem typus fi:eliüren diejenigen verse mit nur
einem accent auf der zweiten hebung, in welchen dieser
hebung ein wort vorausgebt, das in der alliterationsdicbtuug
notwendig den ictus und die alliteration auf sieb ziehen milsste.
Sowol die normale form .L ] 11 x ^Is die erweiterte form
Ix 1 —Ix begegnet; ebenso die üblichen auflüsungeu und die
Verkürzung der nebentonsilbe (diese beiden falle sind unten
durch Sterne angedeutet). Auftakt ist überall gestattet. Bei-
spiele:
thie hühun ältfatera I, 3, 25»*
thie uuarun ui'trzelun I, 3, 271**
ioh reht minnonti I, 4, S*
selbdrühtine I, 4, 46«
thie ungilöubige I, 4, 43»
mit lidin lichamen I, 7, 4»
kristes 16b sungi I, 1, IKii»
gibot füllentaz I, 4, ß^.
So gehen noch im ersten halbvers I, 4, 42 (elision). 73*. 5, (>*. 50
52*. 7, 4*. 9, 3G*, im zweiten I, 1, 34*. 3, 2. 5 (elision). 28*. 32*. 34*
37*. 46. 4, 1 (elision). 9*. 10. 16*. 20. 23*. 34*. 3S*. 41. 42*. 45. 50. 67*
5,4 (elision). 11. 16*. 21*. 23*. 26*. 56*. 59*. 60*. 68 (elision). 71. 7,6*
9*. 9,29. 34. 10, 4*(Erdm.). 27*. 2K. 11,20*. 27.* 3U*. 32*. 3S'^. 12, I
3. 10. 22. 23*. 28*. 33*(13 : 53).
2. Gleichzeitige accentuierung der beiden alten hebungen
in VP ist widerum sehr selten:
thera sprächa uiornenti I, 4, 83*
thiu züht uuas uuälisenti I, 9, 40»
thie utmüatige 1, 7, Uli».
Vereinzelt findet sie sich in V I, 10, 16» {ün/ura/ilcnti) , 12, 2(i-' (kiiiii
inuuiboranaz); 3, 4Sb {iohannes ihegan siiicr), b, U^^ ((/u(t;s siin frono),
und in P 1,4,32 sik uiiörolt mcndcnli, 4,37'' in dbuh irrentcs, 9,2*'
lliaz kind t/10 heran scolia, II, 56'" gibriafte in himilrichc (elision).
3. Eine andere accentuierung von versen dieses typus
wird in unserem absciiuitt nirgends durch beide haiidschriftcn
gewährleistet. An abwcichiingcn einzcliuM- iiandschriftcii sind
aufzuführen heil nmjad ziert I, f), 15» 1', zirri V, l/irm ijotes
drütbölono 4, 59'' P, -botono V.
156 SIEVERS
5. Verse des typus E.
Dieser typus tritt nus leicht beg'reiflichen gründen hinter
den andern ganz zurück. Das einfache _!_JLx | — ergäbe im
taktvers LLl \ L, also delinung einer unbetonten silbe auf
volle taktlänge unmittelbar vor einer hebung, was im Zu-
sammenhang mit dem übrigen schweren gang des verses un-
erträglich wäre. Nur die durch cinschiebung von senkungs-
silben erweiterten formen von E können im reimvers einen
boden finden, und scheinen ihn wirklich gefunden zu haben,
da tatsächlich verse vorkommen welche die erste und vierte
hebung betonen. Es gehören hierher aus unserem abschnitte:
las ih iü in üla- | uuar I, 1, 87
zellent sie una fihi | främ I, 3, 3
thie I uuega rilit er imo iibar- | -al I, 3, 50
ünbera uuäs thiu | quena I, 4, 9
fliuhit er in then | sc I, 5, 5
niuuiböran habet thiz ] Itlnt I, 12, 13
ni 1 läz thir innan thiiia | brüst I, 12, 27.
Alle diese beispiele gehören dem ersten halbvers an. Ohne
zweifei falsch accentuiert ist in VP ih sägen thir in uuar min
I, 8, 3, denn uuar hat notwendig den stärkeren ton, der vers
gehört also sicher zum typus A" (vgl. oben s. 149 f.).
6. Verse des typus _L x - X -^ X ^ C-'^'')-
Die vorstehenden listen umfassen etwas über 900 verse,
die in VP übereinstimmend acccentuiert sind und sich nach
den früher gegebenen gesichtspunkten ohne weiteres aus den
alten typen ableiten lassen. Im einzelnen findet dabei folgen-
des Verhältnis zwischen typen und accentzahlen statt:
Zwei accente:
598 (i. u. 3. bebung)
51 (2. u. 4. „ )
5 (lod.2.u.3. „ )
3 (1. u. 2. „ )
7 (1. u. 4. „ )
Neben diesen formen bestehen aber noch zwei andere, die
sich mit keinem der alten typen ganz decken. Ich stelle unter
diesen neuen typen voran die verse der form I-x-X — X--
Ein accent:
A 14 (1. hebung)
B 21 I
C 154 U2. hebung)
D 66)
E —
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIM VERSES. ir,7
Dieser typus ist ohne zwcifel nur eii'je umbildunj: des alten A,
entstanden durch erweiterung des sehlussfusses '-x zu — x'-'
statt zu -L^. Diese erweiterung setzt aber wideruni vorgängige
einführung der taktierung voraus. Durch diese') traten im
innern des verses zahlreiche parallelen von -^ und -Ix^
auf, wie etwa in den versen
bürg nist thes uucnk6 I, 11,3
in büachon man gimeinti I, 1, 4,
und diese freiheit des nebeneinander ward dann auch auf den
versschluss übertragen, jedoch nicht gerade häufi;:'. Die belege
unseres Stückes sind im ersten halbvers
uuas imo iz harto i'ingimah I, 8, 2
gihügit thaz er her iz liaz I, 10, 12
sagen ih in güate man I, 12, 17
thö quam unz er zin tho sprah I, 12, 21
biscof ther sih uuachorot I, 12, 31,
im zweiten halbvers
zi thiu einen uucsan üngimah I, 1, 'ü.
Man kann diese modification von A etwa durch A"" bezeichnen.
7. Verse des typus JLx-x-'-' (^'')-
Schwieriger zu beurteilen als die A"" sind die verse der
oben angegebenen form. Ich stelle zunächst wider die durch
übereinstimmende accentuierung von VP gesicherten beispiele
voraus. Im ersten halbvers
sie thaz in scrip gicleiptin I, 1,2
ist iz prösun slihti I, 1, 19
ni man in iro gizungi I, 1, llO (auflüsung)
thaz uuir Kriste sungun I, 1, 12")
ouh in ;il gizungi I, 2, 42
sinero eregrehti I, 4, 17 (elision)
iz uuas imo üngimuati I, 8, 1 1 (do.)
ich theiz gidougno uuurti I, b, 18,
und im zweiten halbvers
bithiu ist thaz ander racha 1, 1, .')(i
sin alexanderes slahtu I, 1, 88
in thia züngun niina I, 2, 4
ioh nah ginäda tliinu I, 2, 30
zi sinemo ältgilare I, 11, II (olisiitn)
ther iro lob irsinge I, 11, 47.
•) Näheres hierüber folgt unten im zweiten abschnitt.
158 SIEVERS
Diese verse haben das scliema von A, aber die accent-
stellung- von C. Sind sie nun aus A oder aus C abgeleitet?
Im ersteren falle miisste man eine Verschiebung des icten-
gewichtes in der ersten dipodie annehmen, im zweiten falle
eine Umbildung des mittelstüekes LI. von C in .^x— n^'Ch
dem eben • angeführten muster. Für die erstere annähme
spricht wo], dass dieser typus verhältnismässig häufig doch
auch mit zwei accenten versehen wird, wie A. Durch beide
handschriften ist doppelaccent überliefert in
odo metres kk'iini I, 1, 20»
uns sind kind zi beranne I, 4, 51 a
er nam göuma libes I, 8, 15».
Dazu kommen an doppelaccenten in einzelnen handschriften
noch in V 1,1, 9G''. 4,12''. 11,14'', in P I, 1, 9^ 11, 50^
1,102''. 103''. 2,45'' und J)ei sonst schwankender accentuierung
noch in V I, 1, 17''. 2,28'', in P I, l,30^ 10G^ 9,7». 10,26=*.
Auch ohne die zuletzt aufgeführten haben wir drei sichere
(und 8 halbsichere) beispiele für doppelaccent, während ein-
facher accent 14 mal durch VP belegt ist; bei C dagegen fan-
den sich oben s. 154 nr. 6 auch nur drei sichere (und 28 halb-
sichere) belege für doppelaccent gegen ca. 150 verse mit ein-
fachem accent.
Ich halte daher auch diesen tyjius für eine Umbildung des
alten A und bezeichne ihn, um seine annäherung an C auszu-
drücken, mit A''.
Eine Vereinigung der eigentümlichkeiten von A*" und A''
zeigt der ganz isolierte vers
tliaz then thio buah nirsmiihetin I, 1,9'>.
Sein Schema ist x I -x 1 -X I -X I -•
Der procentsatz der neuen typen A"" und A'' ist wie man
sieht noch kein sehr bedeutender: 6 A"" und 25 A*" gegen über
600 reguläre A und 150 reguläre C.
8. Schwankungen zwischen verschiedenen typen.
Im allgemeinen heben sich die verschiedenen typen auch
im reimvers deutlich von einander ab. Aber da wo ein vers
eine reihe von Wörtern enthält deren accentstärke nicht sehr
verschieden ist, kann man öfters schwanken, welchem typus
ein vers zuzurechnen und wie er demnach zu accentuieren ist.
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIM VERSES. 159
Auch Otfrid selbst hat bisweilen recht wunderliche accentuie-
lungen, bei denen er mehr auf das äusserliche versschema, als
auf die natürliche betonung gesehen hat. So wenn er nach C
accentuiert drulliut sinan l, 7, 19'', thes goles hüten uiiorlo
\, 12,6'' statt nach A drütUut sinayi und thei< (jöles boten uuörlo,
oder nach A zi uns nht er liorn heiles I, 10, ö"^, alle dayafristi
I, 10, 18*, wo nur C (D) zi uns riht er hörn heiles, alle dwja-
fristi am platze gewesen wäre.') Namentlich aber zeigt sich
öfter ein schwanken zwischen verschiedenen tyi)en bei der
vergleichung der abweichenden accentuierungen von V und P.
a) V accentuiert nach A'", P nach A:
thaz ih drühtin thanne = th;iz ih dnihtin thännc I, 2, IT)-!
ioh theih thir hiar nu ziaro =: ioh tli(''ih tliir hiar nu ziaro I, 2, 41 «■
suntar rehto in uuarn =^ si'intar rehfo in uiiaru I, 2, Ki»
thu hilfis io mit krcfti = thii iiilpliis io mit krrfti I, 2, M-^
uuio luegih uuizzan thanne = uuio mag ih uuizan thänne I, 4, 55a
ioh thia höhun uiiirdi = iöh thia hohun uuirdi I, 8, 14»
thaz er fon thir nirstriche ■= thaz er fon thir nirstriche I, 12, 28"
und mit doppelaccent auf A'':
theist mannes last zi libe = theist raannes liKst zi übe I, 1, 17'j
thar hör er io zi guate = thar iiör er io zi güate I, 1, 121'»
ginada thin theiz thihe = ginäda thin theiz tliihe 1, 2, 28'»
thar uuarun io giiiänte = thar uuänin io gin.inte I, 11, iu;''.
b) Umgekehrt accentuiert Y nach A und V nach A'^:
nist iz bi unsen fri'htin = nist iz bansen frelitin I, 1, Os»
thie f61 sin gaates unillen = thie fol sin gaatos nuillcii K 12, 21''
und mit doppelaccent in A":
:ina theheiniga akust = ana thelieiniga ;il<nst I, 1, .to
ana sin girati = ana sin girati I, 1, 10(i=»
sie qaamun al zisamaue = si qaaman ;ll zisämane I, '.I, T"
i'insc faazi oah rihte =: unse fiiazi ouh rihte I, 10, 2(i-\
c) V accentuiert nach C, P nach A:
ther sie zimo holeta = thor sie zimo höicta I, 1, US-"»
sar thuzar thera raenigi = sar tha üzar thera menigi I, 2, 39"
ubar tiiin lioabit = übar thin hoal)it 1,0, 14''.
d) Umgekehrt accentuiert V nach A, aber P nach C:
thes uigun sie io nüzzi = thes eigan sie io naz/.i I, 1, DT«
ioh ianier freaae in liliti = ioli iani(M' fn'uuo in riliti 1,2,41"
dri'ihtin quenian anolta = dialitin (|iit'inan aaolta I, 1 1, .'in" (Krdni.)
') Einiges nähere liierza s. imiümi anler nr. 1<».
160 SIEVERS
scult tlm uiiesan (''ina = scalt thu uiiesan eina I, 5, 22''
er sili Ion iru irfirti = er sih ton im irfirti I, 8, 18''
ni ör sih iru nähti = ni er sih iru nahti I, 8, 21''
uuio er then nauion unolti = uuio er then nanion nnolti I, 9, 24''
in sine uuega rehte = in sine uuega rehte I, 10, 24''
uuaz thaz fers singe = uuaz thaz fers singe I, 12, 26'».
e) A wechselt mit D:
heil uuih d6hter V = heil uuih dohter P I, 0, 5''
sin mi'iater magad scöniu V = sin müater magad sconu P 1, 12, IG''
f) A wechselt mit E:
so blidta sih ingegin thir F = so blidta sih ingegin thir P
I, (i, 12».
g) B wechselt mit E; die Vorliebe für das letztere ist
dabei auf seite von P:
in thina zungun uuirken düam F = in thina zungun uuirken
düam P I, \, 44a
bifora lazu ih iz al V = biföra lazu ih iz al P I, 1, 52*
iohanues drühtines drut V = iobilnnes drnhtines drüt P I, 7, 27 a
ist harto kündera thir V = ist härto kundera thir P I, 2, 24''
in uuorolti er ni gisah F = in uuörolti er ni gisah P 1, 9, 32''.
h) B wechselt mit A"" mit nebenton am schluss:
nam thes huares thana uuan V = nam thes hüares thana uuan
P 1, 8, C''.
Ich halte diese accentuierung in P übrigens für ein blosses
versehen: der accent ist dem Schreiber auf das an von thana
statt auf das von uua7i geraten.
9. Reste.
Nach erledigung aller bisher besprochenen verse bleibt
noch eine reihe von accentuierungen übrig, die sich mit den
aufgestellten normen nicht verträgt. Es handelt sich dabei
aber fast ausschliesslich um eigentümlicnkeiten die nur in
einer handschrift auftreten und dadurch bereits den verdacht
erwecken, dass sie lediglicii fehlerhaft sind.
Ein reiner fehler ist sicherlich das fehlen des accents auf
io in dem B-vers ioh uuarun io thes r/iuuön VP I, 1, 65'';
der phonetische accent auf id gab den anlass zum übersehen.
Die meisten andern auffälligen accentuierungen werden
ihren entstehungsgrund in einem schwanken zwischen verschie-
denen möglichkeiten der accentsetzung haben. Namentlich
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIMVERSES. IGl
reebne ich dahin die grosse masse der dreifachen accente.
Wir finden ja sehr oft in den handschriften einen dritten
accent ausradiert an stellen die bei einer gewissen accentuie-
rung wol einen accent hätten bekommen dürfen. So z. b.
I, 1, 5. Hier hat P zunächst die drei accente von V iharäna
dälun sie ouh thaz düam heriibergenommen, dann aber den
ersten getilgt, doch offenbar weil es ihn für falsch hielt. Der
vers kann aber an sich auf doppelte weise accentuiert wer-
den, als B auf dälun und düam^ oder als E auf iharäna und
düam. P hat sich für B entschieden. Ob aber V zuerst nach
E accentuiert hat und dann nachträglich zu B übergegangen
ist oder umgekehrt, kann man nicht wissen. Aber auf alle
fälle ist nach der umcorrectur der überzählig gewordene accent
nicht getilgt worden. Ganz ähnlich liegen die dinge noch
1, 1, 5^ 2, 21^ 48^ 3, 10^ 8, 7^ 9, 9^ ll\ l, 144'\ 2, 2^ 25'^
10, 12^ 11,7''. Darunter hat V im ganzen 5 mal den drei-
fachen accent, und P 8 mal. So kann man sich denn nicht
wundern, wenn vereinzelt auch ein uncorrigierter fehler in
beiden hss. erscheint: zi nüzze grebit man ouh thär I, 1, 09%
thaz herza wieist (hu ßu häz I, 2, 23''; auch hier handelt es
sich wider um ein schwanken zwischen B und E, Ferner
haben wir einseitig drei accente in V oder P beim schwanken
zwischen A und A^" I, 1, 93=». 5, 20^ 11, S^ 1, 100''. 111^ beim
schwanken von A und C 1,6,8% und 1,2,9='. 5, 1^ 12,25».
2, 14"' beim schwanken zwischen A mit nebenton am schluss
und E.
An andern stellen ist die mischung nur halb vor sich ge-
gangen, man hat ein stück der verworfenenen accentuierung
stehen lassen. So schreil)t z. b. V Iher sün sin fäter uuari
1, 3, 16'', d. h. zur hälfte A {sün — niiäri), zur hälfte C resp.
D {fäler allein); P hat sich für C entschieden (accentuiert auf
2. und 3. hebung, vgl. oben s. 154,6; vielleicht verdanken wir
den immerhin ungew^öhnlichen accent auf uuäri dem umstände
dass dem Schreiber doch auch der typus A vorschwebte). Wenn
ferner V 4, 29* schreibt ältquena (hinu, aber P ä/iquena Ihinu,
letzteres also typus A annimmt, so hat V offenbar erst zu A
angesetzt, dann aber sich für C entschieden (vgl. drntliut sinan
oben 8. 159) und vergessen den accent auf äli- zu tilgen.
I, 1, 43 hat V nach typus A mal ihn thes uuola drähton, P
Beitrüge zur scscliichte der deutschen spräche. XllT. 1 1
162 SIEVERS
aber mal thü thcs nuöla drahion^ will .also C, h.it aber den
ersten accent von A noch belassen (ähnlich bei V I, 1, 103*.
100% wo P reines A hat, und I, 1, 104% wo P drei accente
setzt; die bezeichuung schwankt zwischen A und A'").
Selbst der vierfache accent von V I, 2, 33''
thu druhtin eino es alles bist
lässt sich wol aus einer mischung von B (welches P wählt)
und A^ (oben s. ir-Of.) erklären.
Kein fehlerhaft endlich sind zwei accente von V auf
senkungssilbeu I, 5, 60^ 11,58''; sie fehlen in P; ferner si
uuort shiaz V I, 5, 66% wo P correctes C hat. Gegen sinn
und Schema verstösst auch der accent von P auf ellu I, 2, 56 '\
Zuletzt bleibt dann noch der vers nu ist sin gibnrd'mot {ihes)
1, 5, 61 mit seiner schwankenden Überlieferung.
10. Das Verhältnis der accente zu wort- und
satzton.
Es ist oben s. 142. 148. 159 f. widerholt darauf hingewiesen
W'Orden , dass als oberstes princip für die setzung der accente
Otfrids nicht ein rhetorisches, sondern ein rhythmisches anzu-
nehmen sei. Die richtigkeit dieser behauptung folgt insbe-
sondere daraus, dass Otfrid den natürlichen wort- und
satzton systematisch vernachlässigt, wo er mit dem
gewollten rhythmischen Schema in widerstreit gerät.
Tatsachen die unter diesen gesichtspunkt fallen, sind teils
bereits von Lachmann, Kl. sehr. I, 378 f., teils neuerdings von
Piper, Otfrid 157 ff., Beitr. VIII, 226 ff. und von Sobel 16—25
beobachtet und zu erklären versucht worden. Ich will zu
den ausführungen dieser drei forscher nur noch einiges in
kürze hinzufügen, um zu zeigen, wie einfach sich wider alles
auffällige der accentuierung bei annähme des flinftypensystems
erklärt.
1. Längere composita nehmen mit ihren beiden tönen
in der regel zwei hebungen in anspruch, und in der regel
wird denn auch das erste glied mit dem accent versehen. Doch
finden sich namentlich zwei charakteristische ausnahmen:
a) Composita deren zweites glied auf — -x oder eine auf-
lösung davon ausgeht, fallen am versschluss notwendig unter
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN REIM VERSES. 103
den typus D und erhalten somit nur 6inen accent, und zwar
auf dem zweiten gliede (oben s. 155):
selbdrühtine I, 4, 6 (vgl. I, 5, 71. V, 15, 2. H. 2h. 100)
thie imgilöubige I, 4, 43. 15, 4:i
fuazfiillonti I, 5, 10
alauuiiltendan I, 5, 23
ebanöuuigan I, 5, 2f)
unforahtenti I, 10, Kii)
so unrödihafto II, 11, (5
ungiscuuanlicho II, 12, 44
mit selbsteinonne III, 23, 32
in liimilgüallichi V, 4, 53
themo uuizodspi'ntare V, 8, 36
thie drutmennisgon V, 11, 35
ioh uuoroltimstati V, 14, 9.
Nach demselben prineip ist auch in V ganz richtig aecentuiert
sie M'abeitotun V, 13, 5, und ärabeito/im in P ist sicher keine
Verbesserung im sinne Otfrids.
Ausnahmsweise linden sich doppelaccente: thie öfmüali{/e
I, 7, 16 Vi^, und in fihuuuiai^i III, 4, 3 P gegen /ihuuuiari V.
b) Tieften coraposita der form Ix---- ^^^^r einer auf-
lösung davon auf die beiden hebungen der ersten dipodie eines
B-verses, so erhalten sie, weil diese dipodie steigend i.st, den
accent auf dem zweiten gliede:
ungikSnot ni bileip S. 2()
uuiht ungidiines ni bilüib U. 30
unforliolan ist iz thar I, 15, 42
thiu hellip6rta ubar thaz III, 12, 35
untarthio iiiias er in I, 22, 57 (üntarthioh /')
iz ungidäu ni hileip II, 2, 0 (üngidan P)'
in hiniilriche ouh thaz ist uu:ir IV, 9, 2s (hiniilriche P).
Seltener findet sich diese art der accentuierung, wenn das com-
positum die form 1.1 .. . oder 1^- • • • ^'^t-
umm(';zzigaz ser V, 23, 93
baldlicho so imo zam IV, 35, 1
gimuatfägota er tho in II, 14, 113 (gimriaffagota /')
thie uuohiuuilligun man III, 10, 17.
Allerdings, so streng durchgeführt ist diese regcl nicht, wie
die vorhergehende, da in allen diesen versen auch typus E
angenommen werden kann und von P, wie man sieht, an
') Der accent auf un- in V ist jünger, Sobcl s. 25 anm.
164 SIEVERS
einigen stellen auch wirklieh angenommen worden ist. Dass
aber die acceutuierung hier wirklich nur nach dem gewollten
versschema geregelt worden ist, zeigt die vergleichung der
accentuieruug derselben oder ähnlicher Wörter in anderen
verstypen, z. b. er imihtes i'mgidmi ni liaz V, 4, 45, wo iimjidan
auf die zweite und dritte hebung eines B-verses, oder nah ün-
gidan hilibe I, 24, 10, wo es auf die erste und zweite hebung
eines A-verses fällt; oder ähnlich ioJi thih iz ünfarholan ist
V, '25, 55, ioh näh ünfarholan düan II, 7, 20, {thelz) ünforholan
uuari II, 3, 6. IV, 34, 7, ther Ihir so müalfagola III, 20, 72
u. dergl.
c) Hierher gehört auch das bereits von Sobel s. 22 richtig
hervorgehobene Verhältnis der acceutuierung von ümbikirg, üm-
hizirg einer- und umbiring andererseits. Die beiden ersten
stehen, zusammen 3 mal, im eingang von A-versen und accen-
tuieren also das erste glied, das letztere 7 mal am Schlüsse
von B, einmal am Schlüsse von E und hat also den accent
auf dem zweiten bestandteil. Dagegen handelt es sich bei
dem willkürlichen Wechsel zwischen nlauuar und alauuär offen-
bar um ein wirkliches schwanken in der betonung. Auch noch
mhd. finden wir älwär (z. b. daz ist alwär Nib. 138. 1106. 1142.
1387. 1734 Bartsch) neben alwär {er machet kurze vröude alwär
Parz. 1, 20, der sprach 'fimi muoter sagt alwär 163, 15).
d) Andere Verschiebungen des accentes auf den schwächer
betonten teil eines compositums finden sich nur selten. Her-
vorzuheben sind noch einige verse die statt nach C nach A
accentuiert sind:
alle (lagafristi I, 10, IS
ioh then adalerbon IV, (j, 8
thdr in alathräti V, 4, 33.
Dazu vgl. auch die mischung von A und A'^ in er ingiang ün-
gimerrit V, 12, 26 in P, wo V nach A*' er ingiang üngimerrit
accentuiert. Das wunderliche C ürutliut sinan I, 7, 19 ist be-
reits s. 158 erwähnt worden.
2. Dass die belege für die hier besprochenen Verschie-
bungen des worttones nicht zahlreicher sind, darf nicht wunder
nehmen. Eine eigentliche nötigung dazu liegt doch nur bei
den compositis auf - — x vor, und deren gibt es nicht allzu-
viele. Alle übrigen Hessen sich, wenn nicht im einen typus,
DIE ENTSTEHUNG DES DEUTSCHEN KEIMVERSES. 165
so doch im andern ohne Verschiebung ihres natürlichen acccnts
unterbringen. Viel reichlicher sind dagegen die beispiele für
Vernachlässigung des natürlichen satzaceentes. Sie
sind so häufig dass ich wol auf die Vorführung des gesaniniten
materiales verzichten kann. Dasselbe ist ja auch bereits zum
guten teile von Piper und Sobel a. a. o. gesammelt, wenn auch
von andern gesichtspunkten aus betrachtet. Man darf hier
kühnlich die regel aufstellen, dass alle accente die dem natür-
lichen satzton zuwider laufen, lediglich dem rhythmischen
Schema des verses angepasst sind. Voran steht die ganze
masse der D-verse, die nicht ein compositum von der form
l(x) — — X enthalten (diese sind oben unter 1, a besprochen),
da alle D in der accentuieruug wie C behandelt werden (ol)en
s. 155). Ausserdem konmien namentlich noch oft verse in be-
tracht, welche ihrer form nach zwischen A und C schwanken
könnten und oft im widerstreit mit der natürlichen betonung
dem einen oder andern dieser beiden typen zugewiesen werden.
Einige beispiele zur Illustration sind oben s. 15S gegeben.
In der fortsetzung dieser Studien gedenke ich die Um-
bildung der alten typen bei Otfrid im einzelnen darzulegen
und die weiteren Schicksale derselben in der deutschen dich-
tung zu verfolgen.
[Nachschrift. Während des druckes vorstehenden auf-
satzes geht mir durch Wilmanns' gute das dritte hcft seiner
'Beiträge zur geschichte der älteren deutschen litteratur: Üer
altdeutsche reimvers' (Bonn 1887) zu. Die resultate dieser
Schrift decken sich, obwol Wilmanns' Untersuchung von ganz
anderen gesichtspunkten ausgieng, vielfach mit dem hier vor-
getragenen, und erledigen zugleich einen teil der fragen die
ich in der oben angekündigten fortsetzung meiner Unter-
suchungen abzuhandeln gedachte. Als wichtigste Überein-
stimmung hebe ich hier nur hervor den nacbweis meiner fünf
typen der alliterationszcile im Olfiidischen reimvers und die
beurteilung des Verhältnisses von OtlVids vcrsacccntcn zu diesen
fünf typen. Entbeiircn unter diesen umständen meine etwas
verspätet erscheinenden ausfülirungen vielfach des rcizes der
neuheit, so wird doch dem leser wie den Verfassern der beiden
arbeiten die Übereinstimmung der resultate holVeutlich eine will-
kommene bürgschaft für die richtigkeit des neu betretenen
weges sein.
166 SIEVERS, ENTSTEHUNG D. DEUTSCHEN REIMVERSES.
Mit bezieliuüg auf Wilmanns s. 7 erlaube ich mir beizu-
fügen, dass ich meine ansichten über entsteh ung und bau des
altdeutschen reimverses erstmals im Wintersemester 1884/85 in
uuce vorgetragen habe. Die Sammlung und orduuug des oben
verarbeiteten materials aus Otfrid war in den lierbstferien 1885
vollendet. Die definitive ausarbeitung unterblieb dann zu gunsten
anderer arbeiten bis zum februar dieses Jahres. 22. mai 1887.]
TÜBINGEN, 28. februar 1887. E. SIE VERS.
ETYMOLOGISCHE STUDIEN
UEBER
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG.
ZWEITER ARTIKEL.
23. Mhd. gül m., pl. giule, eber, männliches tier über-
haupt; hengst, später: gaul. Mud. (jTd m. pferd, gaul. Aclt.
nnl. guile, guil, stute die noch nicht trächtig gewesen ist.
Aus deno niederdeutschen entlehnt sind schwed. dial. gut,
kiü, gule ra. altes ])ferd. gida, kula alte stute. Das k hat sich
in Zusammensetzungen nach einer teuuis entwickelt: hastkulcr,
kampkula, skotkula.
Verwant mit mhd. gTil, eber, scheint mir lit. kuUy's (stamm
kuilji-) der zahme eber, lett. kuilis, apreuss. vocal). cuylis, das
nach Fick, Vgl. wtb. II, 721 zu der wurzel Aw-, hauen, gehört.
Hiernach ist vielleicht für mhd. gTil eine vorgerm. dreisilbige
form, etwa *küdH-s vorauszusetzen. Im Vit.^kuify's kann das
Suffix -ja (-ji) speciell litauische entwickelung sein wie in lit.
szirszlys *wespe', apreuss. sirsUis neben kslav. strüstln, nnl.
horzel, hd. horsse/, harlitz. Mit der von mir für mhd. gTtl
vorausgesetzte vorgerm. form '■'"küBli-s, worin die wur/.elform
kn- vor einem vocale erscheint, vergleiche man alid. /weisilbigcs
fTd>\ woraus mhd. vuu-, feuer.
24. hakki, Ixikke masc. (gen. altn. hnkku) iil)C'rhan])t im
nordischen. Daneben im neudänischen das synonyme hanke.
hakki muss also auf eine urgerm. staiiimlorm hankan- zurück-
geführt werden. Die grundl)cdeutung des Wortes scheint mir
») Fortsetzung zu Beitr. XII, .H9<t-4:<0.
168 BUGGE
'feste erhöh uDg', 'fester gruud' zu sein. Hiernach verbinde
ich hakki mit gr. ji^YJWfii, lat. pango.
Die gruudbcdeutuug ist am deutlichsten in der altertüm-
lichsten muudart des nordischen festlandes, der von Dalarne
in Schweden, erhalten, wo häkke 'fester grund (fast mark)' be-
zeichnet. In anderen schwedischen mundarten bezeichnet das
wort 'fussboden', auch den platz am hause wo man das brenn-
holz haut. Diese anwendungen erklären sich leicht aus der
grundbedeutung 'fester grund'. In der mundart der dänischen
insel ßornholm bezeichnet hakka 'berg; was von der felsen-
masse der insel emporragt'. Hier hat also das wort wesent-
lich dieselbe bedeutung wie das zu jii'iyvvia gehörige gr. jiäyoq
'feste bergspitze, felseuspitze, iiberh. felsen, berg, hiigel'. Auch
im neunorw. kann hakke 'fester grund' bezeichnen, z. b. käste
i hakken, zur erde werfen. Allein die gewöhnlichste bedeutung
des Wortes sowol in den alten als in den neueren nordischen
sprachen und mundarten ist 'anhöbe (die gegen das tiefer
liegende einen abhang bildet)'. In der älteren spräche wird
es besonders häufig vom ufer angewendet. Ich führe diese be-
deutung auf die auffassung 'fester erhöhter grund' zurück.
Sowol im altisl. als im neunorw. kann hakki^ hakke den rücken
eines schneidenden Werkzeuges bezeichnen; diese bedeutung
hat sich aus der von 'anhöbe' entwickelt. Der rücken eines
messers wird auch hak genannt; allein die grundbedeutung von
hak ist eine ganz andere als die von hakki, wie die Wörter
auch formell ganz verschieden sind. Siehe meine behandlung
von hak im folgenden. Endlich ist hakki 'eine dichte wolken-
masse (am horizonte)'. Diese ist durch hakki als etwas festes
und zugleich erhöhtes, etwas zusammengeballtes bezeichnet.
Im neudän. wird hanke neben hakke in verwanter, allein nicht
identischer anwendung gebiaucht. Dem Ursprung nach ist
hanke nebenform zu hakke\ dän. {sky-)hanke bezeichnet dasselbe
wie altisl. norw. hakke, dichte wolkenmasse. Altn. hakkastokkar,
unterläge worauf ein schitf gebaut wird, dän. hankestokke. Im
älteren dän. findet sich hank oder hakk (aus hanke, hakke) für
'tori manus', was sich aus 'feste erhöhung' erklärt; auch für
den 'umbo' eines Schildes.
Das mittelengl. ha7ike, hank 'ufer, hügel' ist aus dem nor-
dischen entleimt.
GERMANISCHE LAUTVERSCÜIEBÜNG. 169
Der stanini von bakki ist bankan-. Ich setze einen vor-
german. stamm *pango7i- voraus, der mit lat. pangu, gr. .Tt'/yi'vfii,
jcayog verwant ist. Durch dasselbe suffix ist lat. compago ge-
bildet. Wie das litauische nom. sg. akmfi , gen. pl. nkmeniii,
dat. pl. ukmenum flectiert, so dürfen wir vermuten, dass die
betonung bei der flexion der n-stümme im vorgermanischen
wechselte. Ich setze voraus, dass der vorgerm, stamm *pangon-
iu einigen casus als '-^pangdn-, mit dem hauptton auf der
dritten silbe, erschien. Aus *pa7ig9)i' entstand lautgesetzlich
germ. '^bmikdn-.
25. Ahd. &anc//, \i\. benchi scamnum, fulcrum; udid. baue,
pl. benke ra. und f., nlid. bank L Asächs. (bank) dat. pl. bcn-
kiun; nnl. ba7ik f.; afries. bonk, benk m.; ags. benc f; eng.
beuch; schwed. dän. bänk] altnorw. bekkr m., gen. bckks, bekkjnr,
n. pl. bekkir. Die germ. grundform ist banki-s.
Im nördlichen Deutschland nennt man eine massige wolken-
schicht am horizonte 'eine bank\ Eine solche wolkeumasse
heisst in Dänemark banke [skybanke], in iSchweden b<nik, in
norweg. mundartcn bakkc, im altisl. bakki {illvitirisbakki). Ich
lasse unentschieden, ob das deutsche bank diese anwcndung
durch den eiufluss des dän. banke erhalten hat, was mir nicht
wahrscheinlich ist. Jedenfalls ersieht man hieraus, wie leicht
die anwendung des nord. bakki, banke sich mit der anwenduug
von bank^ altn. bekkr verbinden lässt. Dass altn. bakki und
bekkr unter sich nahe verwant sind, scheint mir noch deut-
licher aus dem folgenden hervorzugehen: in der schwed. mund-
art Gotlands sagt man soU gar i bänk 'die soune geht in wöl-
ken unter' (Rietz 7r>a), wo bänk, bank, das von bakke formell
bestimmt getrennt ist, eine massige wolkenschicht am hori-
zonte, wie altisl. bakki, norw. dial. bakke, bezciclniet. (Jotl.
daggbänk ist nobel, der sich von seichtem l)odcn erliei)t (Kietz
82 a), während man in Norwegen skoddcbakke 'uebelmasse am
horizonte' hört. In Jädcren (im sUdwestl. Norwegen) be-
zeichnet nach Koss sowol Jmkkc als henk eine t()rfs('lii('ht von
der breite eines spatciis. Nhd. Ixuik ist aucli. wie niil. hank,
franz. banc, eine crhöhung im wasser, /,. b. san<llmnk\ dies wol
zunächst nach dem engl, hank, das aus dem dän. banke ent-
lehnt ist. Moth gibt an, dass Ixi-nk im älteren dän. sandbaiik
bedeutet. Im ags. hnbanci 'spoiida' erselieinf /»moi als neben-
170 BUÜGE
form zu benc 'bank'; vgl. Kluge, Stammbild, nachtrage. Das
finu. lehnwort patikko 'ofeubank' scheint formell nicht dem
deutsch, bank, altn. bckkr, sondern dem altn. bakki zu ent-
sprechen; vgl. fiun. 7naio = got. fnapa, ahd. jnado, finn. mako
= ahd. mago.^)
Da ich altn. bakki aus einem vorgerm. stamme *pangon-
erklärt habe, führe ich germ. banki-s 'bank' auf ein vorgerm.
*pangi-s zurück, und als die grundbedeutung dieses Wortes
nehme ich 'feste oder fest zusammengefügte erhöhung' an.
Grimm hat bereits im Dwtb. hank zu niiyw^n , lat. pango ge-
stellt. Wir dürfen voraussetzen, dass vorgerm. ^pangi-s in
einigen casus den hauptton auf der dritten silbe trug, z. b.
gen. pl. ^pangmni\ vgl. lit. aUis^ loc. sg. akyje^ gen. pl. akiii ,
ind. agni-Sj gen. pl. agninam, gen. dual, agnyos. Aus dem
vorgerm. gen. pl. *pangiiom entstand lautgesetzlich germ. *ban-
kilö'n. Dazu dass anlautendes b in diesem worte alleinherr-
schend geworden ist, hat gewiss der umstand beigetragen, dass
dasselbe seit uralter zeit das zweite glied mehrerer composita
bildete; vgl. ahd. dmierhjKinch, ags. ealuhenc, meodubenc, afries.
biarbenk, breidbenk, altn. brüt)bekkr u. s. w. In mehreren solchen
compositis ist das b von bank lautgesetzlich nach dem Verner-
schen gesetze entstanden. In den compositis altn. bekkpili,
ags. hencpel u. ähnl. kann der hauptton ursprünglich auf dem
zweiten gliede, also weder auf der ersten noch auf der zwei-
ten silbe des Wortes gelegen haben; dann ist auch hier das b
lautgesetzlich aus vorgerm. p entstanden. Mit germ. banki-s f.
und m., vorgerm. "^pangi-s vergleiche ich zunächst die lat. for-
mationen compUges und propages, die jedoch die wurzel in
einer verschiedenen form aufzeigen. In betretf des stamm-
auslautes verhält sich got. haurds, stamm hordi-., ebenso zum
lat. crates. Wie im germ an. neben banki-, altn. bekkr, der
stamm bankan-, altn. bakki, besteht, so im lat. compago, com-
paginis neben compages, propagu neben propages. Für die be-
deutung von bank ist auch gr. jiriypa 'gerüst, gestell' zu be-
achten.
Neugael. beince, beinge f., bench, und neucymr. mainc f.,
bench, sind lehnwörter.
1) Professur Job. Storm erinnert mich an span. /)0?/c* 'bank vor dem
hause' = ital. poggio, lat. podium 'anhöhe'.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 171
Dass das n, welches im lat. pango dem prüsensstamme
eigentümlich ist, als element der germ. nominalstümme 1>ankan-
und hanki- erscheint, hat viele analogien.
26. Altsächs. heki, bach; ndl. }>eek] mnl. heke\ fries. bilze
(aus *hike, '^'beke)\ ahd. hah, pah, pl. pechi\ mhd. und nhd.
bach. Diese formen setzen '''haki-s voraus, vgl. die formen
Theutpacis, Theothacis, Deopacis (worin s lateinische flexions-
endung ist) in drei lat. Urkunden a. 718 der trad. Wizenburg.
Dagegen zeigt altn. hckkr gedehntes k\ ob die lautforni des
engl, beck aus nordischem einfluss zu erklären ist, entscheide
ich nicht. Nach Kluge (Beitr. IX, 171) ist altn. bekkr aus
*bakki-s und dies wider aus *bak-ni-s entstanden; nach Möller
(Kuhns z. XXIV, 507) dagegen aus *bak"i-s\ Franck (Etyni.
Woord.) setzt dafür einen stamm bakjo- voraus. Ich vermute,
dass der stamm baki- in gewissen casus vor einem vocale die
form bakj-, bcckj- annahm. Vor/ w'urde das k gedehnt: ba'kkj-,
so entstand altn. bekkr. Da Noreen s. 82 diese dehnung des
k vor j nach einem kurzen vocale nicht bespricht, bemerJie ich
darüber folgendes.
Im altschwedischen sind die formen pcckkia, vcekkia,
rwkkia, lykkia (= aisl. pekja, vekja, rekja, lykja), asikkia aus
*üsckja u. ähnl. mit kk regelmässig. Auch im adän. ist die
gemination des k vor j regelmässig. In anorw. handschriften
kommt dieselbe sehr häufig (wenn auch nicht regelmässig)
vor. So z. b. pcekkio Spec. reg. ed. Brenner 1(57, 27; al or-
seckiu Norg. g. L. I, 198. II, 44; nekkia N. gl. L,. 1, 339; pekkin
Dipl. Norv. I nr. 477. Im aisl. ist die gemination (die deh-
nung) des k vor / durch den einfluss verwantcr formen regel-
mässig verdrängt worden. Allein dass die gemination auch
im aisl. eingetreten war, zeigt das subst. lykkj'a, das von lüka
abgeleitet ist. Ferner der frcmdname Grikkir, gen. ihikkja,
Griechen. Audi beachte mau reime wie vekjaiidi {yckkj-) :
snekkju DjöÖölfr Arnörssou Har. s. harMr. cap. lo;i, ;{; sektu :
ckkils Fustbr. s. 107 ed. Gisl.
Die urgernianisc'iic form scheint mir also baki-s. Anders
Kauffmaun, Beitr. XII, ')\i). Das wort ist in vielen norddeut-
schen und mitteldeutsclicu mundarten wie im uiedcrl. seit alter
zeit fem., anderswo masc; so immer im uurdischen.
172 BUGüE
Die ueueren etymologischen deutungen von hach genügen
mir uicht.i) ]\Iau hat längst, nach meiner Vermutung richtig,
mit hach gr. jr/////, dor. jiayä verglichen; allein das lautver-
hältnis des germanischen Wortes zum griechischen hat man
nicht erklärt. Das germ. Haki-s war nach meiner Vermutung
oxytoniert. Dies ba/d-s entstand aus einem vorgerm. mit dor.
jtäya nahe verwanten Substantive "^pägi-x. Wie zum lit. aliis
'äuge' der instr. pl. akimis und der gen. pl. akiu gehören, so
vermute ich im vorgerm. die flexion nom. sg. ^pUgi-s, gen. pl.
*pägiiom, dat. pl. ^päghnös. In den beiden letzteren formen
musste vorgerm. p, weil der hauptton auf der dritten silbe
lag, lautgesetzlicb zu germ. b verschoben werden. Wie ich
hier das Verhältnis zwischen dem ä von jtaya und dem ä von
back aus ursprünglichem Wechsel der betonung erkläre, so
hat J. Schmidt das Verhältnis z. b. des got. /ön zum apreuss.
panno, panu-staclan erklärt (Kuhns z. XXVI, 16).
In fast zahllosen zusammengesetzten Ortsnamen der ver-
schiedenen germanischen länder bildet 'bach' das zweite glied.
Daraus darf gefolgert werden, dass b in zahlreichen compo-
sitis nach dem Vernerschen gesetz aus vorgerm. /; entstanden
ist. Auch beachte man, dass das anlautende h in mehreren
compositis, deren erstes glied von 'bach' gebildet wird, laut-
gesetzlich aus vorgerm. p entstanden sein kann. Der Orts-
name Dachfeld z. b. kann (vom f abgesehen) lautgesetzlich
aus einer vorgerm. form '^pagipclto-m entstanden sein. So
haben verschiedene momente zugleich dazu gewirkt, dass das
b bei diesem wortstamme über ein ursprünglich daneben ge-
wiss vorhandenes / den sieg davon getragen hat.
L. Havet (Mcmoires d. 1. Soc. de Ling. VI, 117) verbindet
nriyti mit jrrjjvvfii] jirjyt/ ist ihm 'ce qui perce le sol ä la
fa^on d'un pieu qu'on flehe'. Formell ist hiergegen niciits ein-
zuwenden. Allein dass man die (juelle eines liusses als etwas,
') Grimm leitet bach von backen ab, wie lorrens von lorrere,
brunnen von brennen, sot von sieden, welle von wallen. Allein backen
ist nie mit sieden, wallen (vom wasser) synonym. Fick vergleicht lit.
berjli, laufen; allein dies weicht sowol der form als dem sinne nach
wesentlich ab; ind. bhäjali 'sich begeben zu' liegt begrifflich noch
ferner. Kern stellt bach zum ind. /;/<a/y- 'brechen', wie ags. ft?-öc 'bach'
zu brechen.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 173
das in die erde befestigt, hiiieinjrestosscn wird, liczeichneu
sollte, scheint mir unnatürlich. Eine verschiedene etyiudlo-
gische deutung ist mir wahrscheinlich; allein auf dem gegen-
wärtigen punkt der Untersuchung halte ich dieselbe zurück. In
betreff der bedeutung verhält sich hach, altn. hekkr zu gr. jt;/-///
fast ganz wie ags. hurne 'torrens, rivus' zu hörn, altn. brunnr
'quelle', j^ff/t] bezeichnet namentlich die quelle eines davon
entspringenden flusses; in dem altnorw. ausdrucke slammer
hceldher i hwkkinojii cen i aanne (Dipl. Norv. III nr. 752) hat
hekkr fast dieselbe bedeutung.
27. Mhd. bün, büne, stark, fem., latte, brett; erhühung
des fussbodens durch bretter; decke eines gemaches. Nhd.
bahne. Mnd. bo''ne, bonc, m. und f., jede l)retterne erhöhung;
nnd. buhn\ nnl. beim. Das wort ist im ahd. nicht nachge-
wiesen; es kommt weder im ags. noch ursprünglich im nordi-
schen vor. Norweg. dial. bijne (mit offenem, urspr. kurzem y)
n. Scheibe, ])latte, brett z. b. eines blasebalgs, scheint aus dem
deutschen worte entlehnt.
Mhd. hun würde in got. form *bunja, von einem stamme
'^bicnfö-, lauten. Ich vergleiche bi'üme, mhd. bün mit ind. pallniit
f. pfad, weg, bahn.
Für die bedeutung beachte man das mit dem ind. pathyä
nahe verwante lat. pons. Dies bezeichnet nicht nlir brücke,
sondern auch was aus brettern zusammengeschlagen ist oder
bretterne erhöhung. Das tabulatum navis kann lat. puns, ndid,
bün heisseu. Die tabulata (juibus turres instruuntur werden
lat. pontes genannt, wie man mhd. sagt: der turn wart :>reii/er
bünen höher gemacht. Ital. kann po7ite gerüst der bauleute
bezeichnen.
Ind. pathyä (mit circumflcctiertem yä) ist aus pnlhy<i ent-
standen. Für mhd. bün setze ich eine vorgerm. grundforn»
*puntiia voraus. Wenn ich eine dreisilbige form mit //. nicht
eine zweisilbige mit /. voraussetzen muss, lässt sich dies wol
dadurch rechtfertigen, dass punt- als eine lange Bill)e aufgc-
fasst wurde. Ueberhaupt finden sich in den indogcrni. s|)rachen
oft neben formen, die eine mit /, die andere mit //; vgl. I'.rug-
mann, Grundriss s. 112 — 114.
Vorgerm, '''puntila wurde urgerm. '''•tiKndija . Daraus ent-
stand, wol nach dem eintreten der spccicii gerni. l)ct<Miung,
174 BÜGGE
'*bündjo] vgl. got. nlpj'is für '^nifjjjis = ksl. netiß , zend.
naptiya-s. '"^bunüjö wurde zu '*bunjö, mhd. i'ww, wie got. sunja
aus *sundjö = ind. ^a/yä nach der erklärung Kluges ent-
standen ist.
28. Mhd. bati und ba7ie, stark, fem. und masc, freier,
zum gehen, fahren geebneter räum, weg, bahn, nhd. bah7i f.
Mnl. bane, f. betretener und gangbarer weg, Schlachtfeld; nnl.
baan f. Das wort erscheint nicht im ahd., got., ags., altn.
Grimm (Dwb. IT, 208) und Lexcr vermuten mit recht verwant-
schaft zwischen bahn und bühne. Mit nhd. ban vergleiche ich
\wi\.. pänthas , pfad, weg, bahn, zQni\. panta-, Si^ers. pat htm {slgc.),
gr. jr«TOc, lat. po7is, ksl. pqti weg, aprcuss. pintis, weg, Strasse.
Mnl. bane ist wie jicaoc, betretener weg; mnl. biiten Manen
rollen, den rechten weg verlassen, wie ind. sthäpayet palhi,
auf den rechten weg bringen. Das mhd. wort ist masc. und
fem.; das entsprechende wort ist im ind., gr., lat., ksl. masc,
allein zd. und in russ, mundarten masc. und fem.
Die flexion des deutscheu wortes ist von der singularen
nominativform ban, wie mhd. zene (neben zende) von zan, aus-
gegangen, ban ist aus vorgerm. '^pont, wie zan aus *lan, vor-
germ. ''^-dont, entstanden. In ban aus *pont ist wie im lat. pons,
ksl. pqtt der vocal der starken Stammform fest geworden. In
betrefl* des consonantischen stammauslautes stimmt dagegen
ban aus */>ow/ mit der ind. schwachen Stammform jmth- in
palhäs u. s. w. überein. Dies ist nicht auffallender als dass
der vocal der schwachen Stammform im gr. jrdrog fest gewor-
den ist. Das b des mhd. ban vertritt ursprüngliches p, das in
entsprechenden Wörtern der verwanten sprachen erhalten ist.
Das b kann aus vorgerm. p lautgesetzlich in den folgenden
Stellungen entstanden sein. Erstens in casusformen und ab-
leitungen, die den hauptton auf der dritten silbe oder dem
wortende näher trugen. Dies ist der fall im ind. pathinam.
Johannes Schmidt vermutet (Kuhns zs. XXVII, 372), dass einst
'■■'•pathibiäs, *pathibhiam betont wurde; als die ursprüngliche
starke Stammform betrachtet er pönthöi-. Zweitens konnte
das german. b sich bei diesem worte lautgesetzlich entwickeln,
wo dasselbe das erste glied eines auf dem zweiten gliede be-
tonten compositum bildete, wie im ind. pathikrt-, den weg be-
reitend. Drittens kann das germ. b im zweiten gliede eines
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 175
compositum nach einem unbetonten vocale lautgesetzlich ent-
standen sein. Die form des mhd. hau, aus ^pont vom voigerm.
stamme '^ponl-, weist also durch das h und den consonantischen
auslaut des Stammes einerseits und durch das an (aus on) ander-
seits auf eine frühere stammabstufende flexion hin.
29. Ahd. hasa, schwach, fem., mhd. nhd. base. Ahd. be-
zeichnet das wort 'schwester des vaters', später dialektisch
jeden entfernteren verwantschaftsgrad. Grimm (Dwb. 1,1147)
sag-t: 'in hasa . . . muss falar . . . stecken' und er fragt, ob
'die Verengung' nur ein hypokorismus ist 'oder rührt das s in
basa noch von suesiar her, basa = [schwed. dän,] fasler'i^
Ich sehe in basa ein wort, das ursprünglich der kinder-
sprache oder einer nachahmung derselben gehörte. Ein com-
positum für 'schwester des vaters' würde urgerm. '^•fadursirestcr
lauten, einst wol vor gewissen consonanten ^•fapursrvesö. Wir
dürfen hier die betonung des zweiten gliedes wie in gr. injTQO-
jcäxwQ, ind. pi(rbandhü-s, blutsverwauter väterlicher seite, vor-
aussetzen. Urgerm. *fafmrsivesd mit dem hauptton auf der
dritten silbe sollte nach der von mir aufgestellten regel laut-
gesetzlich zu 'Hadiirzfvesö oder (mit herstellung des .9 nach
dem Stammworte) ^hadm^swesö fortschreiten.
Nun beachte man: 'zu den eigennamenartigen Substantiven
gehören vor allen dingen auch die verwantschaftswürtci' (Ost-
hofl', Morph, unt. IV, 62 anm.). Von verwantschaftswörtcrn,
wie von eigennamen werden koseformen gebildet, in denen
die form des Stammwortes nach der art der kindersprache
verkürzt oder verstümmelt ist. Ich erinnere an .tcc = jtaTfjg,
(la, auch ftaia, ahd. fjiuoj'a, ndl. ttwei (muhme) neben fir/r/jQ]
lit. brölis bruder, (zemaitisch) sejh schwester. Siehe Fick in
Curtius, Stud. IX, 197; Bezzeuberger in Altpreuss. monatsschr.
bd. XV s. 282— 2S8. So ist schwed. gubbe (greis) aus gudfadcr
(gevatter), gimma (alte frau) aus (judmoder (gevatterin) ent-
standen. In einer altertümlichen muudart Norwegens (Sätcrs-
dal) wird für broir (bruder) als koseform hoa gesagt. In der
friesischen Wangeroger mundart heisst vaterbruder vepp (Höfers
zeitschr. I, 109).
Stark in seinen 'Kosenamen' belegt die folgenden Ver-
kürzungen zusammengesetzter namen: Cannabas = Can7iabaudes
(3. Jahrb.). Saba = Sabarelhus (7. j.). Feimus = Fehmriis (9.j.).
17G BUGGE
Adalho = Adelhero (12. j.). Gepa = Gerpirga (11. j.). Thiemo
= Thietmarus (11. j.). üumpo = Cumpolt d. h. Guntholt (12. j.).
Z^'&o = Über (US d. Ii. Hugiberl (1101). Tammo = Tankmarus
(10. Jahrb.).
Mit diesen und ähnlichen kosenamen vergleiche ich ahd.
basa, das ich als eine namenartige koseform deute, welche die
kinderspracho von '*badurswesn, schwester des vaters, ge-
bildet bat. Das nid. und nd. gleichbedeutende rvasc, bei Grafif
111,215 nnasa ist gewiss dasselbe wort; ich vermag aber den
grund des lautwechsels nicht sicher nachzuweisen. Ist zuerst
in compositis, wie *grölbasa, die form tvasa entstanden? Vgl.
mhd. negrver = nägber^ nabeger. Oder in Verbindungen wie
'*lioba basa'?
V.
Im vorhergehenden habe ich die auffassung begründet,
dass mehrere mit g, b, d anlautende präpositionen und prä-
fixe, die als solche allgemein aufgefasst werden, {ga-, bed, du)
in proklitischer Stellung aus vorgerm. formen mit anlautendem
k, p, l entstanden sind. Im folgenden werde ich den nach-
weis versuchen, dass nicht wenige germanische Wörter, die an-
scheinend simplicia sind, ihrem Ursprung nach präfixe ent-
halten, welche in urgerni. zeit dieselbe lautänderung erlitten
haben. Ich nenne zuerst ein nomen und leite die etymo-
logische behandlung desselben mit einer jetzt wol allgemein
anerkannten tatsache ein. Bereits in der indogerm. Ursprache
konnten die präpositionen in nominalcompositionen unbetont
erscheinen und dabei einen anlautenden vocal verlieren, z. b.
deutsch, nest, lat. rüdus, ind. nidä-s aus *nizdö-s von fvi und
sed- sitzen. Siehe u. a. J. Schmidt, Kuhns z. XXVI, 22 — 24.
30. Got. badi (stamm badja-) n. bett (xXividiov, xQaß-
ßarog). Ags. bedd, bed n. Fries, asächs. bed n. Mnl. bet,
bedde, nnl. bed n. Ahd. beti, betti n., mhd. bei, bette; nhd.
bell. Altn. bet)r dagegen masc, eigentlich unterläge, worauf
man im bette ruht, auf der bank sitzt, polster (Fritzner). Aus
dem urnord. oder got. entlehnt ^wm. palja^ est päd i gen. padja
'pulvinar longius, culcita inferior in lectibus, pulvillus refertus
helciis et cphippiis equinis subjici solitus' (Thomsen: Den
gotiske sprogklasses indflydelse paa den finske s. 144). Ein
1
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 177
deminutiv von beör scheint altsohwcd. ha-dhil oder in si)äterer
form badhul m. nest, siebe Tamni Arkiv f. nord. lilol. II, 346.
Franck (Etym. wdb. d. ndl. taal) stellt badi ansprechend
zu lat. fodio, gr. ßöd^goj. u. s. w., was 'J'amni durch badhul
stützt. Allein dies passt nicht recht zur bedcutung des altu.
und des in uralter zeit entlehnten finnischen Wortes. In diesen
tritt, wie mir scheint, die gruudbedeutung 'unterläge' deutlich
hervor.
Nach meiner Vermutung ist gcrm. hadja- 'unterläge', got.
badi, altn. bet5r aus einem vorgerm. ''■pod/iilö-m oder '■'•podhllö-s
entstanden. Ich vergleiche damit lit. padis gen. padzio m.,
gewöhnlich im plur., Untergestell, kslav. pozdü (aus ^podin)
cavum navis. Das Stammwort dieses lit.-sl. wortes ist lit.
pädas sohle, grund, ksl. podu boden, das von lit. pa-, ksl. po-
'unter' und de- 'legen' gebildet ist. Mit \\\. padas sind mehrere
composita, die von de- 'legen' abgeleitet sind, analog; z. b.
indas 'gefäss (in das man etwas legt)'.
Für die anwendung von '''•podhilö- im altu. hci^r als
'polster' vergleiche man ind. upadhana-m 'kisscn, polster',
upadhayin- 'unterlegend (als kissen)' von upa -j- dhä- 'etwas
sich unterlegen, sich auf etwas legen'. Für die anwendung
des aschwed. bccdhil 'nest' beachte mau lett. padet 'ein ei ins
nest zum brüten legen'.
Das vorgerm. '*i)odhil<'>-m war suffixbetont, wie viele dun-ii
das Suffix -10 gebildete nomina im germanischen, z. b. got.
andeis 'ende', altn. Jüogi 'Verspottung', ahd. hcri 'beere'. Dass
die Zusammensetzung mit dem präfixc po- 'unter' nicht gegen
Suffixbetonung spricht, zeigt ind. upadhi-s, upadha. Gegen die
angenommene vorgerm. grundform '■''•jiodhilö-m lässt sich ein-
wenden, dass es bei kurzer silbe vielmehr '■'^•podhlö-m heissen
müsste. Allein die betrefiende regel ist in den indog. sprachen
vielfach gestört worden: ^^v. dor. öinyMrini gegen ind. -ralya-,
yed. f/äviija- neben (jüvya- u. ähnl. (Brugmann, Grundriss s. IM).
Hier könnte '^podhiw-tn aus '-^podhalö-m [dhd- gekürzte wurzel)
entstanden sein. Nach dem eintreten der speciell gcrmaniscluMi
betonung wurde urgerm. '"badlm-n zu '•'•bä.dja. Man hat freilicli
vermutet, dass lit. pa-, sl. po- vorn einen vocal verloren hat;
vgl. Pott, Präpositionen (1S59) s. OOf), Osthon; Morjjh. IV, :M1.
Wenn man diesen vocal unbestimmt bisst und durch x bc
Beiträge zur gestüichte der deutsclieii »praclie. Xlll. 12
178 ßUGGE
zeiclinet, könnte man für got. badi 'bcft, unterläge' ein vor-
ijerni. *xpodhlö-7n vermuten; mir ist das oben vermutete
'•'■podlüw-m wahrscheinlicher.
81. Timotb. I, 5, 4 {h dt t/c ;c^/(>« rtxva ■/] hxyora Ix^i,
ftarff^artTo^öctr jTQ(oror rov uhor oixov tvösßtlr) wird svOs-
l^ir (kindlich frommen, ehrfurchtvollen sinn gegen jmd. be-
weisen, colere, pie traetare) im got. durch das den accus,
regierende harnsnjan widergegeben. Dies ist bisher nicht ge-
nügend erklärt. Die änderung Ilofmanns b(irniskj(ni (Germ.
VIII, 2) ist geistreich, allein wenig überzeugend.
Ich vermute ein zusammengesetztes ba-rusnjan] ^rusnjan
scheint mir von einem sul)stantivstamme *rusni- wie faiknjan
von laikni- abgeleitet. Wie ana-bnsni- von bindan abgeleitet
ist (vgl. Kluge, Stammbild. § 147), so kann i-Tisni- von *rmdan
= ags. )-codan, altn. rjöHa, iQfvihtr abgeleitet sein. Zu *rm-
da7i gehört got. ga-riuds öti^vog, ehrbar. Gr. osftvog ist mit
etoeßelv, das durch barusnjun übertragen wird, verwant. Dies
bestätigt meine Vermutung, dass barusnjan zu ''^'i-indan gehört.
Für die bedeutuugseutwickelung vgl. man zugleich gr. aiötof/ai
'sich schämen', allein auch 'in ehren halten' {aiösöaai fitXa-
d^Qov II. IX, 640).
Das bu- von ba-rusnjan entspricht nach meiner Vermutung
dem lit. />«-, wodurch das damit zusammengesetzte verbum zu
einem 'resultativen' gemacht wird, z. b. darijli 'machen', pa-
daryli 'fertig machen'. Das piäfix jia- kommt oft in inchoa-
tiven vor, z. b. pabundu 'erwachen'. Ich hebe hervor, dass
mehrere composita, die pa- enthalten, zu farbenadjectiven ge-
hören: pamäynüju 'blau werden', pajMüju 'schwarz werden',
paballinu 'weiss machen'.
Vorgerm. *po- ist in barusnjan regelrecht zu ba- ver-
schoben, weil der hauptton hier bei der freien betonung weder
auf der ersten noch auf der zweiten silbe lag. Im got. badi
habe ich ba- = lit. pa- 'unter' gesucht.
Auch sonst lässt es sich in den germanischen sprachen
nachweisen, dass präfixe, die einst häufig angewendet wurden,
nur in einzelnen Wertformen erhalten geblieben sind, in welchen
sie z. t. nicht mehr als präfixe gefühlt werden. So hat das
nordische (ja- als lebendiges, productives präfix aufgegeben
und davon nur wenige spuren {gllkr, i^wr7^r, granni, goivar
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 179
u. 8. w.) eilialteii. Dies steht mit der s))eeiell ^'einianisolien
betouuii^' in verbind img-. Wie got. ha- nur in vereinzelten
spuren erhalten ist, so auch andere gotische präfixe: fri-sahls,
ih-daJjn, sv\-kun]>s. Noch andere altgcrnianische Wörter ent-
halten nach meiner Vermutung dies präfix ha-.
32. Ahd. bouhhan, mhd. houchen, asächs. bökan , ags.
beacen n. Signum, portentum; africs. beken (zunächst aus
'*bmikm); awestfries. (Möller, Kuhns z. XXIV, i'Mi) l>akcn\ mal.
buken n. Seezeichen. Wie das nl. wort ist auch altisl. häkn
aus dem fries. entlehnt; aus einer form bükn ist ebenfalls
neudän. bavn, mittcldän. batren, bagn, haken entstanden (vgl,
neudän. savne aus sakna, lav aus lügr).
Wie germ. ^bmikn n. 'zeichen' ist zeichen n. gebildet, ahd.
zeihhan, asächs. lekan, ndl. teeken, afries. icken^ ags. iäcn, eng.
token\ dagegen got. iaikns fem., stamm laikni-. Im altisl.
scheint nicht nur täkn n., sondern auch teikn n. lelmwort,
Aelter im nordischen ist das femininum jarleyn, jartcln,
wahrzeichuen; Lei?)arv. 6 \)\\(\ci frer/nar — jnrle<jnir eine aMal-
bending, 2(.) dagegen hreinn — jttrieinir. Die lautform des
zweiten gliedes erklärt sich daraus, dass dassell)e nebentonig
war: '*-teignli nom. sg. wurde hier -le(jn, -'■-lei'jnili nom. pl.
dagegen nach meiner Vermutung -/e/mr. Später wurde y«;7W^;j
durch comproniiss restituiert, auch jarleikn durch einflnss von
Icikn geschrieben. Wie ^bankii ist ferner gebildet ahd. /ei/i/ian
n. dolus, mild, reichen 'trug, arglist, bosheit', asächs. fcknn,
ags. fncc)i\ im aisl. fcikn 'immanitas' lässt sich das geschlecht
nicht l)cstimmen. Ahd. zeihhau hängt irgendwie mit zeigön
'zeigen', feihhan irgendwie mit got. {bi- oder ga-) faihön 'be-
trügen' zusammen. Kluge (Heitr. L\, ISl) setzt vorgerm. for-
men '*döigno-, döigni- und ])öi;/)io- voraus. In näherer Überein-
stimmung mit Möller (Beitr. VII, 401) vermute ich vielmehr
vorgerm. ^doikdnö-m, *doik9iti-s und '•^poikanö-m, urgerm. '-'-Idi-
g9nä-n, '■''■laigoni-s und '*faig^na-n (/' durch den einlluss ver-
wanter formen erhalten oder restituiert). Die suflixe -na und
ni finden sich auch sonst betont. Aus den genannten formen
entwickelten sich '''■Idiggnn-n, /tiiggni-s und f'iiggnn-n, endlich
taikn, faikn. Dass aus den von mir voraussgcsetzten Urformen
vielmehr '■''■(aikkn-. *fnikki'i- sich hätten entwickeln müssen,
scheint mir nicht erwiesen. Für den Übergang von '^laiginin-
180 BUGGE
in taikna- führe ich altu. Siklingr an. Sigarr, pa<5an eru Sik-
lingar, pat var citt Siggeirs, er var mägr Vglsungs, ok cbtt
Sigars, er heng<5i Haghari^ Snorra Edda ed. AM. I, 522. Dies
ist z. t. eine späte und ungeschickte combiuation (Miillenhofif),
allein der Zusammenhang von Siklingr mit namen auf An-
scheint mir sicher. Siklingr ist wol jedenfalls aus '"Sigglingr
entstanden; dies wol entweder aus *Siggeirlingr oder aus
'^Sigilingr.
Ich kehre zu *haukn, ahd. hanhhan 'zeichen' zurück. Wie
ahd. zeihhan 'zeichen' mit zeigön 'zeigen' verwant ist, so
scheint mir '^-buukn, ahd. hanhhan mit got. augjan 'zeigen',
ahd. ovgen, asächs. ögian verwant. ''"haukn ist nach meiner
Vermutung aus urgerm, '*ba-ai(gdnän entstanden. Man wende
nicht ein, dass es vielmehr *ha-auginan heissen müsste, denn
im got. findet sich als ableitung von sökjan sökns neben dem
gewiss jüngeren sökeins. Für die anwendung des präfixes ha-
rn '■^•Jni-augdnä-n , ahd. bauhhan vgl. lit. parödyti 'zeigen'. Für
die elision in hauhi aus '^-ha-augdna vgl. ahd. fravili aus */rö-
avili. An das präfix hi- denke ich bei baukn nicht, weil die
elision des / für das gemeingermanische unbeweisbar scheint.
33. Im vorhergehenden ist nachgewiesen worden, dass die
praefixformeu ga- und du- lautgesetzlich da entstanden sind,
wo der hauptton bei der freien betonung auf der dritten silbe
oder dem wortende näher zu lag, und dass dieselben durch
association verallgemeinert worden sind. Man wird es daher
natürlich finden, dass das b des präfixes ba-, welches laut-
gesetzlich in derselben lautstellung wie das g von ga- und
das d von du- entstanden ist, ebenfalls durch association ver-
allgemeinert wurde. Diese beobachtung gibt uns den Schlüssel
zur etymologischen deutung nicht weniger german. Wörter.
Ahd. blödi, mhd. bloede, gebrechlich, schwach, zart, zag-
haft, nhd. blöde\ asächs. blötil zaghaft, ags. bleatS schwach,
zaghaft, altn. blauer zaghaft, feige, weiblichen geschlechts. Im
got. muss das adj. Hlaups (stamm hlavpi-) gelautet haben;
davon got. blaupjan aufheben, abschaffen. Das germ. adj.
Hlaupi-s ist, wie Kluge, Stamnibibi. § 233 erkannt hat, durch
das participiale suffix -pi gebildet, welches am öftesten an
vocalisch auslautende wurzeln tritt; vgl. z. b. germ. '*nw-pi-s
I
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. ISI
,müde', '*au-pi-s 'öde'. Nabe vcrwaut ist das indisclic sui'fix
-/y«, welches in einigen gerundiv^en nach einem souantcu er-
scheint: crütya-s, stiitya-s u. ni. Weder das gerni. noch das
ind. Suffix trug den haupttou. Das germ. suffix -/»/ verhält
sich zum ind. -tya wie das germ. -/ im got. andanems u. s. w.
zum ind. gerundivsuffixe -ya.
Germ. Hlaupi-s setzt ein vorgerm. *po/du/i-s oder '''puläu-
ÜH-s voraus. Das Stammwort desselben entspricht dem lit.
pa-Uäuju 'aufhören (etwas zu tun)'. Für die bedeutungs-
entwickelung beachte mau namentlich das verwante gr. Xvco
lösen, entkräften, abmatten {l\:<jt yvla tötete, o;} [ibj XhXvrca
deine kraft ist gebrochen); auch: aufheben, abschaften.
Wir haben schon mehrfach gesehen, dass ein vocal be-
reits im gemeingerm. zwischen einem anlautenden verschluss-
laute und n, l oder /-, wie hier in blaup/s aus vorgerm. ■'^po-
Iduti-s, ausgedrängt ist: ags. hnitu, nord. ipiil — gr. xovidkg\
ahd. grans, altn. hraiii — gr. xoQonuj^] ags. cran — cymr.
gar au, gr. ytQuvo^ u. m. Dass das o (germ. a) in blaupis
nach b ausgedrängt ist, während es in bainsnjan blieb, hat
wahrscheinlich in früheren verschiedenen betonungsverhült-
nissen seinen grund. Neben barusnjun bestand vielleicht einst
ein auf der ersten silbe betontes abstractes substantivum Dies
sollte lautgesetzlich '■•'färusniz lauten; das betonte fa- kann die
erhaltuug des a in barus)ijan bewirkt haben. Jedenfalls kom-
men bei dem prätixe ga- ähnliche vocaldifferenzeu vor; ags.
ylö/' neben gcnöh, yonöh.
34:. Wie ahd. bludi, mhd. blwdc ist iihd. hnnli, mhd.
brcede 'gebrechlich, schwach' gebildet. Germ. "%•««/>/->• ist aus
vorgerm. '■^•po-räuti-s oder '^•po-räulili-s entstanden. Das Stamm-
wort entsj)richt dem lit. pa-rduju. Lit. räuju bezeichnet 'rau-
fen', 'eine pflanze mit der wurzel aus der erde ziehen'; paro-
n'iau ist bei Ncsselmann belegt. Vgl. ksl. ryjn ryli graben;
rüv(^ rüvaCi evellere; lat. nui {diruo zerstören u. s. w.).
35. Got. bleips mitleidig; altn. b/itir mild, sanft, freund-
lich, angenehm; ags. blibe froh, freundlich, sauft; asäclis. b/ii/ii,
ahd. b/idi, mhd. bilde froh, heiter, freundlich. Dies germ.
*b/tpi-s ist, wenn man von der verschiedenen stufe des wurzel-
vocales absieht, wie '■^'■blaupi-s gebildet. Ich setze ein vorgerm.
'*polcili-s oder '■'''poUiliiJ-s voraus, dessen Stammwort dem lit.
182 BUGGE
pal'eju MiiDg-iessen, vergiessen' entspricht, vou teju, /t;7« 'giessen'.
Vgl. feiner ksl. lejq, lijati 'giessen'; iud. liyate + vi 'zer-
gehen, sich auflösen, schmelzen'; y/-, tv- 'freilassen, losmachen',
med. 'sich auflösen'. Die grundbedeutung- von '■^•bltpi-s ist
nach meiner Vermutung 'der leicht aufgelöst werden kann',
davon: mild.
3G. Got. halwa-wesei f. bosheit; habvjan plagen. Ahd.
halo, gen. balawes m., malitia, pernicies, pestis; mhd. hal- in
compositis, bös; hale m. böses, unrecht. Asächs. halu n. ver-
derben, übel. Afries. halu- in compp. Ags. healu n., gen.
healwes, verderben, übel. Altn. hol n., dat. holvi, verderben, übel.
Gewöhnlich vergleicht man kslav. holt 'krank', dessen
Ursprung dunkel geblieben ist. Allein der stammauslaut des
slav. Wortes ist verschieden. Auch stimmen die bedeutungen
unter einander wenig überein, denn der grundbegriff des
german. Wortes ist deutlich 'verderben'. Dem sinne nach noch
ferner steht gr. (pavXog 'leicht, gering, wertlos', das aus '•^•rpXav-
/Log (vgl. (plavQog) entstanden scheint. Auch das von Fick
verglichene lat. fallo genügt nicht.
Der germ. stamm halwa- ist mit gr. oloog 'verderblich'
synonym; 6Xo(:Qy6Q 'verderbliches tuend' hat in dem altisl.
namen Odins ßolverkr (wie jioXmQyog in dem riesennamen
Fjolverkr) ein (jedoch nicht vollständiges) ebenbild. oXoög,
für '-^-oXo/ög, gehört zu öXXi\ui, für oXvvfii.
Hiernach vermute ich ein vorgerm. '*pol'o>vö-s 'verderblich',
das von einem dem gr. (XJt6XXv[ii cutsprechenden verbum, wie
oXoög von oXXvpi, gebildet war. Vorgerm. *poldwö- wurde
germ. Haldtvä-, halwa-. J. Schmidt (Kuhns z. XXVI, 23 f.)
hat mit recht angenommen, dass ind. dpa, gr. ajio schon in
der Ursprache proklitisch sein a verlieren konnte; vgl. ahd.
fo-na, asächs. fa-n.
37. Ags. bröga m. schrecken oder ein wesen das schrecken
erregt; hregean, bregan (aus ^btyjgjan), erschrecken. Ahd.
findet sich der wortstamm besonders bei Tatian: hruogo terror,
hruoglluu terrueruut, u. s. w.; auch gl. Ker. prokendi terrendus
(Graff 111, 37^)). Im schweizerischen erhalten: hrögen terrere,
hröögg popanz u. s. w., s, Grimm, Dwb. 11, 396.
Grimm hat bereits liierl)ei an got. ögja:n erschrecken, altn.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 183
0(jja erinnert, ^brögjan fasse ich etymologisch als '*fra-ögjan^
hröga als '"^-fra-öija auf, vgl. ags. öga schrecken.
Die Vereinigung der präpositionen mit verbalformeu unter
einen hauptaccent ist, wie dies namentlich Kluge (Kuhns /s.
XXVI, 79) hervorgehoben hat'), in gewissen Stellungen schon
urgermanisch. Im altindischen sind die verbalpartikeln überall
proklitisch, wo das verbum betont ist, also namentlich in
einem abhängigen satzgliede; dies Verhältnis scheint überhaupt
indogermanisch gewesen zu sein. Mehrere germ. verba sind
als uralte, verdunkelte composita erkannt, die als solche in
der historischen zeit nicht aufgefasst wurden, weil die laut-
form des präfixes geändert war: z. b. asächs. Wgian, ahd.
zotigen, mhd. zöugen 'zeigen', d. h. ''^•at-augjan\ zagen, ahd.
zagen, d. h. *at-agan (Kluge). Diesen gesellt sich Hrögjan,
d. h. *fra-ögjan an.
Für den begrifflichen Zusammenhang mit ogjan hebe ich
den folgenden ags. satz hervor: ne bib he breged mit aTnigum
ögan. Für die composition mit />-«- = gr. jtqo-^ iud. [)ra-
vergleiche ich z. b. ind. pra-trasati sich aus angst flüchten,
pra-trUsayati verjagen, verscheuchen, pra-trUsä-s das beben,
zittern; lat. proterreo durch schrecken fortscheuchen; deutsch
verscheuchen.
Das altindische betont die causativa -äyali {dhäräyali),
dagegen die denominativa -yäti [devayäti, göpäyäti u. s. w.).
Im griech. findet sich dieser unterschied nicht wider; die be-
tonung der abgeleiteten verba ist dort gleichartig: alxico, oiai-
devco u. s. w. Ich nehme an, dass die betonung der causativa
auch im vorgerm. und im urgerm. zugleich die der übrigen ab-
geleiteten verba war, und dass also der vocal, welcher un-
mittelbar vor dem ableitenden -ie- stand, in allen abgeleiteten
verben betont war. Das causativum brögjan, praes. indic.
3. sg. *brögJp setzt nach meiner Vermutung ein vorgerm.
'"^proUgheleti voraus. Das subst. ags. oga hatte ursprünglich
gewiss, wie z. b. hereloga, den haupttou auf dem suftixe.
Hiernach vermute ich für bröga einen vorgerm. stamm '*pro-
äghön-, wie z. b. gr. kjtaQijycöv oxytonon ist. In den germ.
^) Vgl. J. Schmidt, Kuhns zs. XXVI, 22 ff.; Behaghel, Germania
XXIII, 284.
184 BUGGE
Sprachen kommt for- als tonlose form von /;•</- vor, z, b. got.
frakuaps, ags. fracoti neben unforcU(5 (Kluge). Nach meiner
Vermutung ist der vocal von pro-^ fra- in bröga ganz ge-
schwunden, weil der hauptton hier nicht auf der unmittelbar
folgenden, sondern auf der nächst folgenden silbe ruhte. Allein
der vocal schwand hier erst, nachdem die germanische laut-
verschiebung eingetreten war.
38. Got. '-^brups, acc. hrup Schwiegertochter, hrupfaps
bräutigam. Altn. brübr, acc. dat. bril(5i, braut. Ags. brtfd
braut. Asächs. b?'üd. Ahd. brUt, prüf, dat. brUfi; mhd. brüt,
braut, die junge frau, die neuvermählte. Die gemeingerm. form
ist '*brUdi-s.
Das wort ist in der bedeutung 'Schwiegertochter' ins
romanische übergegangen: fr. bru, altfr. bruy , ladin. h'iilt.
Schon in lat. glossaren aus dem 9. jahrh, wird bruta durch
nurus erklärt. Diese anwendung des wortes im got. und im
roman. spricht dafür, dass es ursprünglich die frau bezeichnet,
welche als braut in das haus des gatten und des Schwieger-
vaters heimgeführt wird. Grimm, Dwb. II, 33 bemerkt: 'ver-
kehrt wäre, diesem reinen, edlen wort unzüchtige bedeutung
unterzulegen'. Die entgegengesetzte gruppierung der anwen-
dungen des wortes bei Fritzner wird durch mhd. hriuien (coire,
futuere, stuprare), mnd. brü~den nicht als mit der historischeu
entwickelung übereinstimmend erwiesen, denn auch bei dem
von Hildebrand treö'lich erläuterten hd. geheien hat sich die
unzüchtige anwendung aus einer älteren reinen entwickelt.
Im indogerm. heisst wedh- (das im ind. vah- mit negh-
zusammenfiel) besonders 'die braut heimführen', und die neu-
vermählte frau, welche als Schwiegertochter in das haus des
Schwiegervaters heimgeführt wird, hat man durch ableitungen
von wedh- bezeichnet: ind. vah-, (eine frau) heiraten, U-vah-
(die braut) zuführen, ud-vah- (die junge frau aus dem vater-
hause) wegführen, heiraten, pari-vah- den hochzeitzug oder die
braut führen (vom Vaterhaus in das des gatten), heimführen,
vi-vah- (die braut) wegführen, vadhU-s f. (die heimzuführende
oder die heimgeführte) braut'), junge ehefrau, Schwiegertochter.
Zend. vademnö der heimführende, vadatjeUi führt heim, vadhrya-
•) Anders Kern, Rev. Celt. II, 15S.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 185
üubilis. Lit. wedk westi (eine ehefrau) heimführen, heiraten;
parsiwesti mit sich heimführen; parwedi?imkas brautführer, par-
iveslmvcs heimführungsschmauss; wedlys, wedys bräutigam. Ksl.
ved((. vesti führen, aruss. auch vom heimführen der braut. Ir.
fedaim führen; cyrnw grvaudd, corn. guhit, bret. gouhez Schwieger-
tochter.
Bopp und Grimm haben bereits in braut eine Zusammen-
setzung gesehen, in der eine ableitung von wedh- 'heimführen'
steckt, allein mit unrecht verbinden sie das germanische wort
mit mA. 2)raudhä. Ich vermute ebenfalls, dass in dem hr- von
brUdis ein präfix steckt; es lässt sich aber kaum entscheiden,
welches von verschiedenen präfixeu, die ursprünglich die con-
sonanten p und ;■ enthielten. Nach dem lit. parsiwesti '(die
braut) mit sich heimführen' nehme ich in der urform von
brUdis ein präfix par- an, allein formell ist eine composition
mit pro-j got. fra- für braut möglich.
Also brUdi-s 'braut' nach meiner Vermutung aus vorgerm.
*parUd/n-s, eigentlich 'die heimgeführte' oder 'die heimzu-
führende'. Der vocal schwand vor r, weil der hauptton auf
einer nicht unmittelbar folgenden silbe lag. Das wort ist gebildet
wie ind. vlci-s f. welle, lit. rfidis f. rost. Dasselbe suffix wird auch
sonst zur bildung von Wörtern, die weibliche personen bezeich-
nen, angewendet; z. b. got. qeus, stamm qeni-, ehefrau. In
vorgerm. '■^par-Tidhi-s ist üdh- (aus '■^•uddh-) schwache form von
wedh-. Dasselbe Verhältnis erscheint bei den folgenden Wör-
tern, Zend. duzh-Ukhta- schlechte rede : gr. ftjcog; ind. ühati
: mÄ-; ind. cu'na-?n leere : griech. xsPiög] ind. cUsä-s : cväsiti;
lett. Idipel rauchen, dampfen : lit. kivepcli duften, u. m.
39. Altn. bak n. rücken, hiuterseite; ags. bccc, eng. back\
fries. bek-^ asächs. bak\ ahd. bah. Die bisherigen etymologischen
deutungen dieses wortes haben zu keinem sicheren resultate
geführt. Nach meiner Vermutung ist bak aus einem vorgerm.
*ai)ük- zu erklären. Ind. ist äpänc-, nom. sg. n. äpäk, 'rück-
wärts gelegen, hinten liegend', dpüka- 'abseits oder hinten
liegend, entfernt'. Wenn man ind. apUk aus apa + ak und ak
aus ursprünglichem *nk erl^lärt, wird dadurch das « der vor-
ausgesetzten vorgerm. form '^•apUk- nicht gestützt. Dagegen
berufe ich mich für das ä des vorgerm. *apäk- auf ksl. opako,
opaky, opace 'retrorsum', bulg. oi)ak 'die unrechte seite' und
1S6 BUGGE
daneben mit abgefallenem o ksl. pucc 'contra', j>ak!/ 'iterum'
jMiklüsicb, Et. wb. 224.') Vg-J. das britannische räc (coram,
prae, ante) Zeuss, Gr. Celt.^ 677 ff., welches Ebel (Kuhns
Beitr. 1, 311) mit ind. präk verbindet.
Die germ. form hak hat sich nach meiner Vermutung aus
'''•ajxlk- entwickelt, wo dieser consouantische stamm ohne den
hauptton zu tragen als erstes glied eines compositum vor
einem stimmhaften consonanten vorkam. Z. b. vor einem bh
des zweiten gliedes wurde vorgerm. *apäk' zunächst vorgerm.
'-^■apag ' . Wo das suffix des zweiten gliedes den hauptton trug,
fiel das anlautende a von apUk- ab und das p wurde im ger-
manischen zu b verschoben. Vor einem consonanten wurde
das ä in der protonischen Stellung gekürzt.
Die an Wendung des wortes als erstes glied eines compo-
situm vor stimmhaften consonanten kam gewiss nicht selten
vor. Von den folgenden compositis können mehrere alt sein.
Altn. bakbit, bakhorinn, bakboröi, bakbyrör, bakmall, bakrauf,
bakvana, bakverkr u. m.; aschwed. bakbinda, bakväpi, bakvegg^
afries. lieklamcllie, bekward. Für die erklärung des k von bak
ist ferner hervorzuheben, dass vorgerm. '^-apäk als nom.-acc.
sg. n. im zusammenhange des satzes vor stimmhaften conso-
nanten zu *u2)äg, wie wir vermuten dürfen, übergieng. Vgl.
über den Wechsel von tenuis und media Osthoff', Morph, u.
IV, 328; Kluge, Beitr. IX, 180 ff.
Auch andere momente als die bereits genannten haben wol
zur entwickelung des anlautenden b von bak mitgewirkt. Vom
indischen stamme äpUka- sind die oxytonierten casusformen
apäka und apäkat gebildet, welche als adverbia 'abseits, fern'
angewendet werden. Hiernach vermute ich, dass oxytonierte
casusformen von einem vorgerm. stamme apako- zur entwicke-
lung des germ. b von })ak mitgewirkt haben, wie auch dazu,
dass germ. hak als «-stamm fiectiert wird. Dies finde ich um
so wahrscheinlicher, als viele germ. ausdrücke, die dem sinne
nach adverbiell sind, casusformen von bak in Verbindung mit
Präpositionen enthalten. Die Verbindung altn. ä hak, ags. on
b(ßc kann wol so alt sein, dass hier einst das auslautende a
') Fick, Vf?l. wb. II, 00.5 fasst das anlautende o von opako ala ein
präfix = oh^, um.
DER GOTT BRAGI. 187
von *ana mit dem anhiuteiuleu a von apäko- zusammenstoss.
Das entsprechende war wol bei altn. af baki, ä baki, fries.
tobeke u. m. der fall. Solche Verbindungen haben also nach
meiner Vermutung dazu beigetragen, dass das anlautende a
von apäk- apäko- abfiel.
Die hier gegebene etymologische erklärung von bak, die
bereits von Pott, Präpos. 471 u. a. angedeutet ist, finde ich
dadurch bestätigt, dass das anlautende a auch in ksl. pace
contra, potius, paky iterum, u. ra. (Mikl., Et. wb. 224) abge-
fallen ist. ^'ervvant scheint feiner lit. pakaVa rücken, worin
das anlautende a abgefallen und das U vor k gekürzt ist.
Beides setzt eine grundform voraus, worin weder die erste
noch die zweite silbe von apäk- den hauptton trug.
CHRISTIANIA. S. BUGGE.
DP:R GOTT BRAGI IN DEN NORRÖNEN
GEDICHTEN.
Beitr. XII, 383—392 hat E. Mogk die Vermutung be-
gründet, dass der gott Bragi seinem Ursprung nach der zum
gotte der skaldenpoesie erhobene norwegische dichter Bragi
Boddason sei. Diese Vermutung, welche mir scharfsinnig und
bemerkenswert vorkommt, werde ich hier nicht von allen
Seiten prüfen.') Allein die beweisführung Mogks nötigt mich,
Bragis auftreten in den norrönen gedichten zu besprechen.
Zunächst wende ich mich mit Mogk zu der Lokaseuna,
welche dafür, dass Bragi der gemahl der lÖunn war, bisher
als hauptquelle galt. Mogk bemerkt s. 38G: 'in der ÖnE.
[wird] l>ragi der gemahl der Ij'un genannt; diese ist aner-
kanutermasseu eine altnordische gotthcit, so dass ihr gemahl
auch eine sein müsste'. Wenn der ausdruck 'altnordische
gottheit' eine gottheit meint, die sich nicht nur bei dem
norwegisch-isländischen stamme, sondern auch bei den Schwe-
den und Dänen fand, muss ich bemerken, dass ich kein
Zeugnis dafür kenne, dass I^iunn eine schwedische oder dänische
') Sie wurde mir sclion vor uielireren jähren von einem coliegen
mitgeteilt: ieh habe dieselbe in meinen 'Studien über d. entstehanj^: der
nord. götter- und heldensagen' (München IS82) s. 247 :inm. berührt.
188 BÜGGE
g:üttin wäre. Mogk begründet s. 384 die uuffassung, dass der
gott Bragi auch bei den Norwegern nie ins volk gedrungen
i!>t. Ich kenne nichts, was dafür spräche, dass lÖunn mehr
ins volk gedrungen wäre. Weiter wird s. 386 bemerkt: 'Ausser
der Snorra Edda erfahren wir dies [Bragi sei Ij-'uns gemahlj
nur noch im eingange der Lokasenna; so oft in der nordischen
literatur auch l]mn auftritt, nirgends findet sich eine anspie-
lung, dass sie Bragis gemahlin sei'. l(5unn tritt in der nor-
rönen literatur nicht oft auf; wenn wir von der prosa der
SnE., den nafnapulur und der Siomundar Edda absehen, nur
(wenn ich mich recht erinnere) in zwei erzeugnissen dieser
literatur. Erstens in der Haustlong str. 2, 9 — 11, wo lÖunn
nicht als die gemahlin Bragis bezeiclinet wird. Zweitens in
der Grettis saga (Kopeuh. 1859) s. 154, wo in einem verse
Draga kvänar als änigmatischer ausdruck für i^unnar, gen.
von i(5a-n, vorkommt. Hier ist also lÖunn als die gemahlin
Bragis bezeichnet; freilich ist dieser vers so spät, dass der-
selbe hier nichts beweist.
Mogk meint, erst Snorri habe durch falsches Verständnis
von Lokas. IG Bragi zum gemahl der löunn gemacht. 'Eine
ganze reihe stellen aus den Eddaliedern hat Snorri missver-
standen ....'; '[wir] haben ... hierin zu den vielen einen
neuen beweis, dass ihm nur zu oft das Verständnis für die
Eddalieder abgieng'. Snorri hat nach Mogk Lokas. 10 so auf-
gefasst, dass er eine 'unmögliche construction' voraussetzte.
Mogk leitet seine behandlung von Lokas, str. 16 mit den
folgenden Worten ein: 'wie mit so vielen schwierigen stellen
der Edda hat sich auch mit ihr die kritik schnell abgefunden'.
Alle, die sich mit der kritik der Eddalieder beschäftigt haben,
werden gewiss erkennen, dass diese worte leider nur zu wahr
sind. An den, der diese worte niederschreibt, muss man frei-
lich die forderung stellen, sich mit den von ihm besonders be-
handelten stellen nicht 'schnell abzufinden'. Prüfen wir also
zuerst die neue von Mogk vorgeschlagene lesung und erklärung.
Lokas. 16 lautet:
Bio ek, Brage, barna sitjar diiga
ok allra uskmaga,
at Loka kveöera lastastofom
JEgeä hollo 1.
{lausaslofoui bei Mogk ist wol schreib- oder druckfehler).
DER GOTT BRAGI. 189
Gegen 'die landläufige interpretation' dieser stelle bringt
Mogk vier eiuweuduugen vor, von denen die vierte seine eigene
änderung motivieren soll.
*4. Ist die construction unmöglich; duga, mag es persön-
lich oder unpersönlich aufgefasst werden, erlieischt den dativ,
ein accusativ findet sich nirgends. Die letztere erwägung
nötigt uns, unsere Zuflucht zur emendation zu nehmen; der
fehler kann nur in duga liegen.'
Dies ist bei Mogk gedruckt zu lesen. Man traut kaum
seinen äugen. Niemand hat ja Lokas. 16 sifjar als von duga
abhängig aufgefasst; weder Liining und Vigfüsson, die als Ver-
treter der von Mogk bekämpften 'landläufigen interpretation'
genannt sind, noch Snorri noch meines wissens sonst jemand
anders. Von einer construction des verbums duga mit dem
einen oder dem anderen casus kann ja hier gar nicht die
rede sein.
Mogk bemerkt: 'der fehler kann nur in duga liegen und
für dieses möchte ich dylja = 'verbergen' lesen. Dann heisst
unsere stelle: 'Ich bitte dich, Bragi, deine verwantschaft mit
den menschen und allen menschenkindern zu verbergen, dass
du nicht in iEgis halle schmähreden auf Loki sprichst'. Hier
also, bei dem fröhlichen gelage der götter, soll Bragi nicht
tun, was unter den menschen sitte ist, bei gelagen, wenn man
trunken ist, sich gegenseitig zu schmähen'. Diese worte Mogks
enthalten, so weit ich davon urteilen kann, wie dieselben
8. 387 gedruckt sind, weder druckfehler noch Schreibfehler.')
Gegen die lesung und erklärung Mogks könnte man vielleicht
erstens einwenden: dann miisste es Bib ek J^ik, Bragi'. heissen.
Zweitens: es ist nicht erwiesen, dass sifjar e'mhvers mit 'ver-
wantschaft mit jemanden' völlig gleichbedeutend sei. Allein
hierauf lege ich wenig gewicht. Grösseres gewicht lege ich
auf die folgenden eiuwendungen. Wie kann Bragi seinen an-
geblichen menschlichen ursjtrung dadurch verraten, dass er
den Loki sciimäht, da doch in dcniscll)cn gcdichte z. b, 6(^inn
') Dagegen betrachte irli cinlierjer s. rts? z. h als .soliroih- Oder
druckfehler, altisl. hcisst das wint einlirrjar. Ferner betrachte idi
ebenso s. 387 z. 15 (nach 'unseren kinderu') ykkarra; 'unseren' (gen.
dual.) heisst altisl. okkarra.
190 BUGGE
gegen Loki das ärgste schmähwort ausspricht? 'vast . . .
kona ok hef'ir pü . . \born of] bor it.' Ferner: Mogk übersetzt:
'mit den menschen und allen menschenkindern'. In welcher
spräche drückt man sich so aus? Wie kann der, welcher in
der 'landläufigen interpretatiou' 'eine nichtssagende tautologie'
findet, einen solchen ausdruck dulden? Ferner: &örwa 'kinder'
bedeutet nicht 'menschen', denn nicht alle menschen sind ja
kinder. Ferner: öshnaga bedeutet nicht 'menschenkindern';
die bedeutung dieses wortes werde ich im folgenden besprechen.
Und endlich noch eins. Die erwägung, dass 'die construction'
bei der 'landläufigen iuterpretation' 'unmöglich' sei, hat Mogk
'genötigt', seine zAiflucht zur 'emendation' zu nehmen. Sehen
wir also, ob die construction bei seiner 'emendation' mög-
lich ist. Dii^ ek, Bragel harna sifjar dylja. 'Ich bitte dich,
Bragi, deine verwantschaft mit den menschen . . . zu ver-
bergen'. Mogk bezeichnet selbst sifjM' als accus.') Jedes
glossar, jede syntax kann lehren, dass 'deine verwantschaft
verbergen' im altisl. nicht sifjar (accus.) dylja heissen kann.
Altisl. sagte man dylja einhveni einliveis 'celare aliquem ali-
quid', selten dylja einhverju. Wahrlich! Snorri Sturluson hat
sieh an dem, der ihm die annähme einer unmöglichen con-
struction in seiner isländischen muttersprache vorwarf, hinläng-
lich gerächt!
Halten wir uns also au die lesung der handschr. Dih ek
Bragel harna sifjar duga. Von hi(5 ist natürlich hiei-, wie es
alle früher verstanden haben, ein accus, c. inf. abhängig; das
subject dieses ist der accus, sifjar, das verbum duga, d. h.
'valere', also hier ungefähr s. v. a. einfluss üben, sifjar be-
zeichnet am öftesten aftinitas (verwantschaft durch heirat) als
ein Verhältnis betrachtet, das heilige, unkränkbare pflichten
auferlegt. Ich sehe hiernach gar nicht ein, wie eine andere
iuterpretation als die 'landläufige' sprachlich möglich ist: 'ich
beschwöre dich, Bragi! bei den kindern .... Loki nicht zu
schmähen'. Wenn ein weib diese worte spricht, liegt nichts
näher als 'die kinder' von ihren und Bragis gemeinsamen
kindern zu verstehen. Es scheint mir klar, dass Bragi durch
^) Ein appellativ sif kommt im sinj^. nicht vor; Ilyndl. 43 ist
Sif name.
DER GOTT BRAGI. 191
diese worte der IfJunn als ihr gemahl bezeichnet ist. Allein
von den hindern des Bragi und der löunn ist, wie Mogk ein-
wendet, sonst nichts bekannt. Ist es denn eine kühne an-
nähme, dass der dichter der Lokasenna, wenn er Bragi als
den gemahl der l(5unn kannte, sich die Voraussetzung erlaubte,
dass diese Verbindung nicht unfruchtbar war?
Schwieriger ist der ausdruck ok nlh-a öskmaga^ und ich
vermag denselben nicht sicher zu erklären, öskmogr bedeutet
'adoptivsohn' (erkorener söhn); vgl. gerpe ser at oscmege
Elue. Annaler f. nord. Oldk. 1858 s. 79, wie gjöra scr hann at
öskasyni Fas. II, 242. Am ehesten sind allra öskmaga als
'aller adoptivsöhne' Bragis zu verstehen. Sind die mensch-
lichen dichter, welche nach dem tode in Valholl wohnten, die
adoptivsöhne Bragis? Nach dieser erklärung bezeichnet s'ifjar
in dem ausdrucke sifjar öskmaga ein von der blutverwantschaft
verschiedenes, jedoch analoges, inniges Verhältnis, das heilige
pflichten auferlegt; vgl. das christliche giSsi/jar. Sveinbjürn
Egilsson versteht dagegen öskmaga hier absolut von den ein-
herjar, die öskasynlr Valfotirs waren (SnE. I, 84 = II, 265),
wie öskmcer Oddr. 16 valkyrja bezeichnet.
Nach Lokas. 15 behandelt Mogk Lokas. 13, worin Loki
dem Bragi feigheit vorwirft; 'von allen die hier sind', sagt
Loki, 'scheust du am meisten kämpf und geschoss'. Mogk
bemerkt: 'Das ist nun wider ein Vorwurf, der doch keiner
gottheit gemacht werden konnte; das kann nur auf rein
menschliche Verhältnisse gehen'. Wie kann Loki denn den
göttinnen hurerei vorwerfen? Oder einem gotte, dass dieser
hahnrei geworden sei ohne dafür busse zu erhalten? Geht dies
vielleicht weniger auf rein menschliche Verhältnisse? Oder
wie kann Loki gar einem gotte vorwerfen, dass er riesentöch-
tern als hiandirog gedient habe? Ist dies etwa leichter als
feigheit mit der göttlichen würde vereinbar? Mogk meint,
dass Loki dem Bragi feigheit vorwirft, weil es dem dichter
der Lokasenna vorschwebte, dass Bragi Boddason durch eine
dräpa sein leben befreit hatte. Wird jemand dies wahrschein-
lich finden? Ich fasse die sache vielmehr so auf. In den
Umgebungen des Verfassers der Lokasenna kannte man den
Bragi als dichtergott: dagegen wusste man von Bragi keine
heldentat, keine teilnähme an kriegen zu erzählen; sein mut.
192 BUGGE
seine tapferkeit wurde in dem gJittermythus nicht hervor-
gehoben. Anders verhielt es sich mit OÖinn, T}r, Freyr u. m.
Hierdurch ist es motiviert, dass der dichter der Lokasenna
den Loki dem Bragi vor allen andern göttern feigheit vor-
werfen lässt.
In der folgenden strophe nennt Loki den Bragi hekk-
skrautobr. Mogk erklärt dies 'der die bank schmückt, säubert':
'Loki nennt also Bragi einen diener'; 'es war seine pflicht,
dafür zu sorgen, dass die bänke zum empfang [der gaste] be-
reit waren'. Das wäre eine sonderbare Verherrlichung eines
'dichterheros', dass man ihn zu einem diener der götter machte,
welcher für die Säuberung der bänke zu sorgen hätte. Wollte
man einen irdischen dichter dadurch verherrlichen, dass man
ihn unter die götter versetzte, musste man ihn natürlich viel-
mehr als dichter die götter oder die einherjar erheitern oder
begeistern lassen.
Gewöhnlich versteht man lekkskrautotir als 'zier der bank',
'der der bank zur zierde gereicht'. Nach der Wortbildung be-
zeichnet das wort eigentlich den 'der die bank schmückt';
wodurch? ist in dem worte selbst nicht ausgedrückt. Allein
die Wortbildung kann die deutung 'der durch seine person die
bank schmückt' natürlich nicht hindern, wenn der Zusammen-
hang darauf führt. Mogk bemerkt: 'Ein solches lob [schmuck,
zierde der bank] passt doch wahrhaftig schlecht in den mund
des aufgebrachten Loki, selbst wenn es auch nur ironisch ge-
braucht wäre'. Dies leugne ich entschieden. Sonst wird eine
braut, ein weib als 'schmuck der bank' oder 'schmuck des
Saales' gepriesen. In Landn. III, 1 (Isl. s. I, 172) wird ein
weib Porhjorg hekkjarhöt erwähnt. In einem norwegischen
rätselliede wird gefragt: Hot w de som pnjr i salar? 'Was
ist es, das in sälen schmückt?' und die antwort lautet: hruri
(c de som' pryr i salar 'die braut schmückt in sälen', siehe
Landstad, Norske Folkeviser s. 370 f. (jedermann versteht,
dass sie durch ihre eigene person schmückt, obgleich dies
sprachlich nicht ausgedrückt ist), skraut bezieht sich besonders
auf prächtige kleider, und skraut o<^r kann nicht den 'der säu-
bert' bezeichnen, wie es Mogk neben 'der schmückt' übersetzt.
Bragi hat dem Loki gesagt: 'War ich draussen mit dir zu-
sammen, würde ich deinen köpf abhauen'. Loki antwortet:»
DER GOTT BRAGI. 193
'Du bist tapfer, da du in dem (fiiedheiligeu) saale sitzest
{snjallr est i sesse), allein du kämpfest nicht, Brage hekk-
skrautot>r 'du baukschmücker' d. h. der du prächtig- gekleidet
wie ein vveib immer auf ]der bank sitzest. Dies passt nach
meiner ansieht trefflich in den mund des mehr boshaften als
aufgebrachten Loki.
Bei den gelagen der alten sassen die vornehmeren, wie
man weiss, injiar, die weniger vornehmen ülar. Wie kann es
denn sein, dass Bragi, wenn er ein dieuer ist, der für die
Säuberung der bänke zu sorgen hat, in der Versammlung der
götter innar sitr (Lok. 11)? Mogk erklärt uns dies nicht.
Nach Mogk fasst der dichter der Lokasenna den Bragi als
'einen zu den göttern versetzten dichterheros' auf. Davon ist
in dem gedieh te, wie ich gezeigt habe, nicht eine spur. Da-
gegen drückt es der dichter durch das kleine, von Mogk nicht
erwähnte wort äss (öss) deutlich aus, dass er Bragi als einen
gott auf fasst; Lok. 11: sd einn äss, es innai^ sitr, Drage, hekkjom
ä, vgl. 19: ceser tveii\
Ich gehe zu den Grimnismäl 44 über. Hier wird von
Bragi gesagt, dass er ezir skalda d. h. der trefflichste der
skalden sei. Hier argumentiert Mogk so: in derselben strophc
ist es u. a. gesagt, dass OÖinn der trefflichste der äsen sei.
Wie nun OÖinn ein äss ist, muss Bragi, der hier als der treff-
lichste der skalden bezeichnet ist, selbst ein skalde sein. Folg-
lich kann er nicht der gott der skalden sein.
Diese folgerung ist sonderbar. Ist denn Apollo, der gott
der Sänger, nicht selbst ein sänger? Dagegen beweist Grim.
44, dass Bragi, der hier unter lauter mythischen dingen ge-
nannt, nach der auffassung des dichters dieser Strophe ein
skalde der mythischen weit war, wie dies auch Mogk ein-
räumt. Sogar die götterweit hatte also, nach der Vorstellung
des dichters, keinen anderen skalden, der ein so trefl lieber
skalde war wie Bragi.
Mogk bemerkt ferner: 'Wenn schliesslich in dem runen-
liede der Sigrdrifa (Sigrdrifum. 16) gesagt wird, dass runen
eingegraben seien auf der zunge Bragis, so liegt darin doch
nur, dass sich Bragi durch liederweisheit ausgezeichnet habe
.... Dann aber ist eher der dichter als der gott darunter zu
verstehen.' Hier begegnen wir wider der sonderbaren vor-
Beiträge zur scsoliiclite der doutaolicn siiraclic. Xlli. |3
194 BUGGE
Stellung, dass der gott der dichter selbst nicht dichter sein
könne. Neben Brage sind Sigrdr. 15 — 17 namen der götter-
weit genannt: Ärvakr, Alsvibr, Rogner, Sleipner, Gungner; nur
Gra7ie ist ein name der heroischen sage. Sigrdr, 16 {ä Braga
tungo) beweist also nicht allein, dass Bragi nach der Vor-
stellung des Verfassers der trefflichste dichter war, sondern be-
weist zugleich, dass Bragi nach der Vorstellung des Ver-
fassers der mythischen weit (wahrscheinlich der götterweit)
angehörte.
Hiernach wende ich mich zu den Eirlksmal. Auch hier
wird Bragi nach Mogk als derjenige bezeichnet, der die pflicht
hat dafür zu sorgen, dass die bänke in Valholl zum empfang
der gaste bereit sind. Diese auffassung, welche ich im vor-
hergehenden charakterisiert habe, soll bei den Eirlksmal 'not-
wendig' sein, weil sich OÖinn an Bragi mit der frage wendet,
warum es dröhnt, als ob tausend menschen kommen. Es
scheint mir unnötig, die nichtigkeit dieser begriindung nachzu-
weisen. Wenn Mogk sagt, 'auch Bragi konnte [wie Sigmund
und Sinfjötli] nur als heimgegangener mensch vom dichter auf-
gefasst sein', hat er, so weit ich sehe, keinen einzigen grund
für diese, wie mir scheint, grundlose behauptung angeführt.
Nach Vigfusson (Corp. I, 260) wendet sich OÖinn in den
Eiriksmäl gar nicht an Bragi; im Corp. ist vielmehr ge-
schrieben;
Bragi Hvat l^rym es l?ar, sem jjüsund bifisk — ?
q. [d. h. kvaÖ]
'Bragi Woden's Counsellor now wakes . . . and calls out: What
is that thunderiug — ?' Diese ansprechende auffassung ist
mir der folgenden gründe wegen wenig sicher: 1. Die hand-
schriftliche Überlieferung (z. b. in cod. AM. 301, 4to) ist: Hvat
prymr par Brage. 2. Brage gehört mit zum versa und bildet
mit hifisk alliteration. Freilich gehört Häkonarm. 16 kvah
Brage mit zum verse, allein in den Eiriksm. hätte dies keine
analogie.
Aus den Eiriksmäl ist nur dies zu folgern: Bragi war
nach der Vorstellung des dichters ein weiser {enn horske Brage!
pött vel hvat viler) bevvohner der Valholl, wo er neben OÖinn
seinen räum hatte. In den Hnkonarmäl tritt Bragi, wie Mogk
selbst einräumt, deutlich als ein in Valholl wohnender gott auf.
DER GOTT BRAGI. 195
Ich führe wider die worte Mogks an: 'Unter den dich-
tungen der skalden sind zwei stellen bei Egil für die ge-
schichte des Bragimythos von bedeutiiug; in beiden steht ßragi
offenbar für 6|?in. Die erste (Hofu|?Iausn v. 21, Egilss. s. 151)
spielt an auf den mythos von 0)^in und Mimir, die andere
(Sonatorrek v. 3, Egs. s. 197) auf die erlangung des dichter-
metes. Was Brynjülfsson aus der letzten stelle herauslesen
will (Antiq. Tidskr. 1855/57 s. 148 ff.), vermag ich nicht zu
unterschreiben; die worte können nichts anderes bedeuten, als
was die übrigen Interpreten in ihnen finden.'
Nach den werten Mogks sollte man glauben, dass die
Interpreten mit ausnähme ßrynjulfssons unter sich über die
letzte stelle einig wären. Allein bei Sveinbjörn Egilsson Lex.
poet. unter nökkvers werden mindestens fünf verschiedene Inter-
pretationen mitgeteilt. Vigfusson (Corp. I, 277. 545. 549), der
die worte für gänzlich corrupt hält, deutet noch andere auf-
fassungen an. Mogk sagt auf einer und derselben seite, dass
Bragi hier 'offenbar für 0}?in' stehe, und dass 'die worte . . .
nichts anderes bedeuten [können] als was die . . . Interpreten
[mit ausnähme BrynjulfssonsJ in ihnen finden'. Allein nirgends
ausser bei Mogk finde ich die auffassung, dass Bragi hier für
ÖÖinn stehe! Auch nicht in der Reykjavikausgabe der Egils
saga, welche Mogk citiert! Dieser Widerspruch lässt, soweit
ich sehe, nur eine erklärung zu, nämlich die, dass Mogk sich
mit dieser schwierigen stelle, wie mit anderen, 'schnell ab-
gefunden' und hier keine Interpretation in bezug auf die ein-
zelnen worte des gedichts gründlich durchdacht hat. Der
dichter sagt im anfang seines gedichts: es ist mir jetzt, da ich
kummervoll bin, schwer zu dichten.
2, Esat auöl^eystr (Jjviat ekke veldr
hofoglegr) ör hyggjosta^'
t'aguafuudr Friggjar ui^ja
cirborenn or Jotonheimom.
3. Lastalauss es lifuaöe
a 'nockvers' nokkva Brage').
Jotons hals under I^Jöta
naongs niör fyr naustduroiu.
') Braga bei Mogk s. 3!)n anm. ist wol schreil)fehler oder druck-
fehler.
13*
196 BUGGE
Ich habe die folg-enden von anderen vorg-eschlagenen än-
deiuugen aufgenommen. 2, 1 auöpcystr statt a7id peist. 2, 5.
Die Überlieferung gibt nach Vigfusson fagna fundr, nach an-
deren pagna fundr. 2, 0. FrUjgjar, änderung von Vigf. statt
prkjg'ia. 3, 6." pjöla] überliefert flola. 3, 7. näongs {noongs)\
überliefert nains.
Die stelle scheint nicht klar; jedoch scheint so viel klar, dass
Bragi hier nicht für OÖinn steht. 3,5 — 8 gehören nach meiner
auffassung nicht, wie Brynjulfsson annimmt, mit zum mythus
vom dichtermete. Ich verstehe diese zeilen mit anderen viel-
mehr so: 'das meer braust vor dem grabhügel meines vaters
(worin die leiche meines sohnes gelegt ist)'. Von den einzel-
nen w^orten der vorausgehenden zeilen ist das schwierigste
nockvers. Die deutung 'des zwerges', welche auch Brynjulfsson
annimmt, hat keine sprachliche stütze. Ich vermute notlvers,
d. h. notl-vers.
Ein analoger ausdruck ist Arinbj. dr. 22: 6r legvers Igngom
knerre d. h. aus dem hause oder der halle (wo jemand nachts
gelegen hat). Korm. str. 60 wird das bett hyrketels stafna
gnot5 (von gnot) schiff) genannt. Wegen der präpos. ü (nicht /)
deute ich ä nällvers nokkva als 'in dem bette' oder, wie man
früher im deutschen sagte 'an dem bette', nicht als 'in dem
hause'. Allein von der deutung dieses ausdrucks ist die auf-
fassung der ganzen stelle nicht abhängig. Der dichterraet
wird von Egil so bezeichnet: 'der mit freude begrüsste fund
der äsen, welcher in uralter zeit aus der riesenweit getragen
wurde, als der fehllose Bragi im bette lebendig w^urde'. Auch
Strophe 19 fängt mit einem abhängigen satze an, der zu einem
hauptsatze der vorausgehenden Strophe gehört, lifna ist hier
wie in afkvamii pal er af okkr lifnnr angewendet. Die er-
zeugung Bragis ist also hier mit der erlangung des dichter-
metes in Verbindung gesetzt. Dies lässt sich, soweit ich sehe
nicht anders verstehen, als wie es Brynjulfsson verstanden
hat: Der dichtergott Bragi ist der söhn OÖins mit
Gunnlo?), die den dichtermet hütete; bei ihr ruhte 0(5inn,
als er den met erlangte. Mogk sagt dagegen s. 386: 'um
1200, also in rein christlicher zeit, [wurde] von den skalden
Bragi als söhn Öj^ins aufgefasst . . ., ein früherer termiu lässt
sich weder finden noch er.schlicssen.
I
DER GOTT BRAGI. 197
Die Schlussstrophe der HofuÖlausu fängt so au:
Njöte bauga
Sern Brage auga!
'Der König möge sieh seiner schätze erfreuen, wie Bragi seines
auges'. 'Der könig möge glücklich und freudig seine schätze
besitzen wie Bragi sein äuge'. Man nimmt gewöhnlich an,
dass Bragi hier für OÖinn stehe, da dieser einäugig war, weil
er das andere äuge dem Mimir verpfändet hatte. Mogk er-
klärt (s. 391) diese Substitution so: 'der dichter muss Bragi für
einen namen 0]nns . . . angesehen haben . . . 0}>in sowol als
Bragi waren Egil als höhere wesen der dichtkunst bekannt;
von letzterem wusste er nicht mehr, als den blossen namen,
kein landläufiger niythos . . . existierte von ihm; was wunder,
wenn er in diesem falle in dem namen des gottes Bragi nur
einen andern namen für 0|>in fand, und auf diesen übertrug
was dem OJ^in gehörte?'
Dies Hesse sich hören, wenn Sonatorr. 3 nicht wäre. Denn
hier steht, selbst wenn meine deutung nicht die richtige sein
sollte, Bragi kaum für Obinn; hier zeigt Egill, dass er, wie
alle anderen dichter, die den Bragi nennen, diesen als einen
von 0(5inn verschiedenen gott betrachtet und dass er von
ihm einen besonderen mythus kennt. Dies macht die auf-
fassung Mogks in HofuÖl, 21 unstatthaft. Allein auch ich
finde es kaum denkbar, dass hier der eine gott schlechthin für
den andern gesetzt sei, und die änderung Brunn für Bragi be-
friedigt nicht.
'Der könig möge sich des besitzes seiner schätze erfreuen
wie Bragi des besitzes seines auges.' Ich vermag den siun
dieser werte nicht zu bestimmen. Die deutung, welche ich im
folgenden gebe, scheint mir selbst bedenklich, und ich möchte
dieselbe gern durch eine mehr einleuchtende ersetzt sehen.
Vielleicht ist in den angeführten werten ein gegensatz, worin
der dichtergott zu OÖiun steht, angedeutet. Der dichtergott
Bragi, der söhn Oc^ins und der GuuuloÖ, besitzt als der, wel-
cher von äsen und von riesen zugleich stammt, liederweisheit
auch über die urweltlichen dinge, welche nur die riesen
kennen; er hat darum nicht wie OÖinn sein augc einem riesen
verpfänden müssen: Brage nijtr auga 'Bragi ist glücklich im
besitz seines auges'. Allein der ausdruck ist so kurz und
198 BUGGE
unbestimmt, dass diese deutung eine unsichere bypothese blei-
ben muss.')
Fassen wir das wichtigste von dem, was uns die norrö-
neu gedichte über Bragi lehren, hier zusammen:
1. Nirgends findet sich weder in der Lokasenna noch
sonst in norrönen gedichteu die geringste spur davon, dass
der norwegische dichter Bragi Boddason unter die götter
versetzt sei und dass der dichtergott Bragi mit ihm iden-
tisch sei.
2. Der Verfasser der Lokasenna stellt sich Bragi als einen
gott {(iss) vor. Als solcher tritt er auch in den Häkonarmäl
auf. In den andern gcdichten, in welchen der mythische
Bragi genannt ist, spricht alles für, nichts gegen dieselbe Vor-
stellung.
3. In dem gedichte Sonatorrek, das von Egill Skalla-
grlmsson um 975 gedichtet ist, wird Bragi als der söhn OÖins
und der hier nicht genannten GunnloÖ bezeichnet; OÖinn er-
zeugte ihn, als er den dichtermet in der riesenweit erlaugte.
4. Bragi wird in der Lokasenna als der gemahl der
I(5unn bezeichnet.
5. In der Lokasenna werden dem Bragi viele adoptiv-
sölme beigelegt; diese waren wahrscheinlich die menschlichen
dichter, welche nach dem tode in ValhoU wohnten.
6. Bragi ist in ValhoU dem OÖlnn untergeordnet, wie
dies aus den Eiriksm. und den Häkouarm. hervorgeht. Nach
1) Da die HntuÖlausn nach der auffordening Arinbjnrn's sjedichtet
wurde und da dieser den Egill darauf hinwies, dass Bragi Boddason
sein leben durch eine drapa rettete (Egils s. kap. 63 Reyk ausg. s. 146),
habe ich die möglichkeit erwogen, ob Brage in HofuÖl. 21 Bragi Bod-
dason sein kann. Der ausdruck 'wie Bragi sich seines auges erfreute'
müsste in diesem falle bedeuten 'wie Bragi Boddason dadurch glück-
lich war, dass er sein äuge d. h. sein leben behielt'. Vgl. kap. 64
(s. 152), wo es heisst, dass könig Eirikr: svarthrimom let sjönom ....
Egel fagna 'er Hess Egill sich der schwarzbraunen äugen erfreuen' d. h.
er Hess Egill das leben behalten. Allein gegen diese deutung, welche
mir ganz unwahrscheinlich vorkommt, spricht erstens die singularform
auga\ zweitens der umstand, dass sein Brage auga dann mit den fol-
genden ausdrücken nicht analog wäre: vagna väru eSa vite tarn (so
Wisen für vaara . . . laai-a) 'wie der delphin sich des meeres oder der
rabe sich des kampfes erfreut'. Denn diese ausdrücke bezeichnen Ver-
hältnisse, die immer fest und iiaturnotwendig gewesen sind.
DER GOTT BRAGI. 199
den Eiiiksm. hat er seinen räum neben OÖinn, der mit ihm
ein gespräch hält. Nach den Huiionarm. wird Bragi mit Her-
moÖr von OÖinn beauftragt dem kommenden könige entgegen
zu gehen; Bragi ist dabei der Wortführer und ladet Häkon
ein. In der Lokasenna redet Bragi zuerst den eintretenden
Loki an; jener gott sitzt hier in der Versammlung der götter
prächtig gekleidet auf einem ansehnlichen platz. Der dichter
der str. 44 der Grimnismäl und der dichter des runenab-
schnittes der Sigrdrifumiil kenneu Bragi, den bewoliner der
götterweit, als den trefflichsten aller skalden; auch der dichter
der Eiriksmül stellt sich ihn als weise und vielwissend vor,
wenn er auch in betreö' hierauf dem OÖinn nachsteht.
7. Der dichter der Lokasenna hatte keinen mythus er-
zählen hören, worin der dichtergott als kämpfer auftrat, und
Hess darum den Loki dem Bragi feigheit vorwerfen.
8. Im gedichte Sonatorrek steht der name Bragi nicht
für OÖinn, wahrscheinlich auch nicht in HofuÖlausn.
9. Es hat sich uns ergeben, dass das meiste und wich-
tigste von dem, was Snorri über den dichtergott Bragi mit-
teilt, durch heidnische verse bestätigt wird.
Eine Untersuchung über den Bragi-mythus kann von dem
appellativum hragr masc, gedieht, dichtkunst nicht absehen.
Mogk weist auf seine behandlung dieses Wortes im Lit. centralbl.
1886 nr. 22 hin, damit wir lernen, 'welche bewantnis es mit
diesem worte hat'. Im kreise der skalden erhielt nach Mogk
in folge der stammesverwantschaft mit dem namen des Bragi
'das subst. hi-agr, das ursprünglich nur princeps bedeutet, die
bedeutung dichtkunst, die nie volkstümlich geworden ist'.
Ich vermisse analogien dafür, dass die bedeutung 'dicht-
kunst' aus der personenbezeichnung hragr 'princeps' 'der treff-
lichste mensch' durch den eiufluss des personennamens Bragi
entwickelt wäre. Eine solche bedeutungsentwickelung scheint
mir sonderbar, bragr bedeutete 'ursprünglich' (d. h. in der
altnorwegischen volkstümlichen spräche) nicht nur, wie Mogk
meint, 'der trefflichste' sondern auch 'ratio agendi', 'art des
betragens', 'manier'. In dieser bedeutung ist es mit bragti
synonym; auch etymologisch ist bragr gewiss mit hragti ver-
want. In der bedeutung 'ratio agendi' erscheint hragr im
Sendibitr der Jürunn skaldma;r (Heimskr. Har. s, h;'uf. kap. 39,
200 BUGGE
Fnis. IV, 12, Corp. II, 322): en logbes sfjnesk svarlle'är reijne
sjä hragr. Dass diese bedeutung volkstümlich war, wird durch
die anwenduug des wortes in der neiiisl. und neunorweg. Volks-
sprache bewiesen. Im neuisl. wird hragur 'habit of life' in
vielen Verbindungen angewendet, z. b. sveitar hragur 'country
life', hönda hragur 'yeonian life', siehe Vigfusson Üict. In
mehreren inneren landschaften und küstengegenden des südwest-
lichen Norwegens bedeutet hrag masc. 'art des betragens, be-
schaffeuheit' (skik, forfatning). Wie nun hättr 'art und weise',
'art der einrichtung', 'bescbaffenheit' die specielle bedeutung
'versart', 'metrum' annimmt, so hat sich aus hragr 'ratio
agendi' das speciellere hragr 'dichtkunst' entwickelt. Die
gruppierung der bedeutungen bei Egilsson und Vigfusson
deutet es an, dass diese die sache ebenso aufgefasst haben.
hragr 'dichtkunst, gedieht' erscheint auch in gedichten, die in
einfachen versmassen und in einfachem stil abgefasst sind
(Hyndl. 5; Merl. 11,21); das compositum hragarlaun ist in der
prosaischen sagasprache gewöhnlich. Im neuisl. bezeichnet
hragur namentlich 'melody or metre' (Vigf).
Der uame des dichtergottes Bragi kann von hragr 'dicht-
kunst, gedieht' nicht getrennt werden. Da nun hragr 'dicht-
kunst, gedieht' nicht vom namen des norwegischen dichters
Bragi Boddason gebildet ist, kann Bragi als name des dichter-
gottes, wie es scheint, auch nicht vom namen des Bragi
Boddason stammen. Dagegen scheint Bragi als name des
dichtergottes eine ableitung von hragr 'dichtkunst, gedieht' zu
sein; wenigstens muss dies appellativum bei der bildung des
namens des dichtergottes mitgewirkt haben.i)
1) Galfrid von Monmouth III, 19 nennt vor der zeit Julius Caesars
einen britischen künig Blcgahred {Blegijwryd Brut. Tys., Blagabred
Henry of Hunt.): 'Hie omnes cantores quos praBcedens setas habuerat et
in modulis et in omnibus musicis instrumentis excedebat, ita ut deus
joculatorum diceretur'. Dies scheint eine erfindung Galfrids oder
aus der zeit Galfrids (dem anfang des 12. Jahrhunderts). Der könig
Howel setzte um 940 Blegywryd, archdiacon von Llandaff, einen manu
von grüsster gelehrsamkeit und gesetzkunde, an der spitze seiner ge-
setzgebungscommission; vgl. Walter, Das alte Wales s. 360 f., San-Marte,
Ausg. von Galfrid s. 250. Wenn dieser Blegywryd das vorbild der
sagenfigur Blegabrcd deus jocidalorum ist, kann mit diesem letzteren
der altnorwegisch-isländische dichtergott Bragi natürlich nichts zu tun
DER GOTT BRA.GI. 201
Ich bin mit Vigfusson Corp. II, 465 und mit Mogk darin
völlig einverstanden, dass Bragi weder ein altgermaniselier noch
ein volkstümlicher nordischer dichtergott war. Er ist vielmehr
von norrönen dichtem der vikingaold zuerst gebildet. Jedoch
habe ich in diesem aufsatze nicht eigentlich den Ursprung des
Bragi-mythus behandeln wollen, denn dieser wird am besten
in Verbindung mit dem Ursprung der lÖunn-mythus behandelt.
Zur geschichte der lÖunn-mythus werde ich vielleicht später
einen beitrag mitteilen.
Auch habe ich die bemerkenswerte hypothese, wonach der
dichtergott Bragi seinem Ursprung nach der norwegische
dichter Bragi Boddason sein soll, hier weder entschieden ab-
weisen noch von allen selten prüfen wollen. Eine solche
prüfung müsste auf die dem Bragi Boddason beigelegten ge-
dichte eingehen. Vorläufig möge das folgende als eine unbe-
wiesene behauptung hier stehen: Die ansieht, dass die dem
Bragi Boddason beigelegten verse der ersten hälfte des 9. Jahr-
hunderts angehören, ist mit der entwickelungsgeschichte der
norwegisch-isländischen spräche, poesie und mythologie un-
vereinbar. Diese verse sind vielmehr in dem 10. jahrh. verfasst.
haben. Man möchte jedoch von prof. Khys in Oxford oder von anderen
celtologen über diesen Blegabrcd deus jocidaloru?u nähere auskunft
wünschen.
CHRISTIANIA, im märz 1S87. SOPHUS BUGGE.
ALTNORDISCH V.
Wilhelm Braune bat in diesen Beiträgen (XII, 216 ff.)
gegen meine bedenken, die ersetzung des bisher üblichen
gotischen V durch w betreffend, gute gründe ins feld geführt,
deren gewicht ich anerkenne. Zu einer erwiderung* würde
somit keine veranlassung vorgelegen haben, wenn es Braune
nicht gefallen hätte, mir über das altnordische v eine belehrung
angedeihen zu lassen, die ich als zutreffend nicht bezeich-
nen kann.
Zwar dass die altn. spräche das urgermauische u schon
früh zum Spiranten umgewandelt hat, ist mir ebenso gut be-
kannt wie Braune (und es hätte einer dabin gehenden be-
lehrung nicht bedurft), was ihm aber entgangen zu sein scheint,
ist der umstand, dass noch in literarischer zeit das v ganz
sicher halbvocal war, und dass es daher nicht dem tatbestande
entspricht, wenn man dem iv der runeninschriften gegenüber
von einem 'literaturnordischen' v redet. Es findet sich näm-
lich in den Eddaliedern eine ganze anzahl von stellen, in
denen v mit vocal alliteriert. Schon Jon Olafsen hat in
seinem l)ckannten buche 'Om Nordens gamle Digtekonst' (Kiübh.
1786) s, 30 auf diese tatsache aufmerksam gemacht, ebenso
yveinbjörn Egilsson (Lex. poet. 839'^), und auch Karl Hilde-
brand hat gelegentlich in einer anmerkung (Zachers zs., er-
gänzungsband s. Iü9, anm. 1) mehrere belege zusammengestellt.
Da aber noch neuerdings Erik l^rate (Fornnord. metrik § 21,
anm. 1) das vorkommen dieser alliteration in der norwegisch-
isländischen poesie schlankweg leugnet, so scheint es nicht un-
nötig, auf die frage noch einmal zurückzukommen.
Die beweisenden stellen ') sind folgende:
1) Ich eitlere nach Hildebrand, gebe aber den text in den dem
alter der lieder entsprechenden spracbformen.
GERING, ALTNORDISCH F. 2U3
1. I^rymskvif^a 2S-'-^
Svaf Yt«tr Freyja ätta nüttoui.')
2. H(}vam9l 221 2
Vesall raa)?r ok illa skape
hl.tr at hvivetua.
3. Hövamöl 116'
illan manu lättu aldrege
öliopp at l'er yita.-)
4. H^vamol 1305 »^
varan bi}? ek Y\k veia ok eige ofvaran.
5. Hövamöl 181-
sa einü reit es vi):'a latar.
Der uacbdruck der auf einu liegt, lässt nicht daran zweifeln,
dass das wort am reime teil nimmt. Ebenso ist es
6. Lokasenna 54^ ^
einn ek Yeit, svät vita )>ykkjüiuk
hör ok af HlüiTi)^a.
7. Baldrs draumar (Vegtamskvi}>a) 13' 2
estat Vegtainr sem ek hugj^a.
Der name, auf dem der nachdruck liegt, muss un-
bedingt an der alliteration teilnehmen; vgl. den ganz gleich
gebauten vers 13''- '':
estat volva ne vis kona.
Warum Bugge z. st. es für einen 'misslichen ausweg' er-
klärt, /■ in J'efftamr als vocal zu lesen, weiss ich nicht, da er
doch an anderen stellen die vocalische Qualität des v an-
erkennt.
8. Fäfnesraöl 38^
]>i mynde fear }^ess es Fafner re)'
einvalde vesa.
Man kann zweifeln, ol) das v in -vahle oder das in vesa
den zweiten reimstab bildet; dass aber ein- das erste reimwort
sein muss, ist sicher.
1) Dazu bemerkt mir B. Symons, dass man hiernach notwendiger
weise auch trk. 26^- " vcelr und atta als rcimwürter autfassen müsse.
-) Bugge z. st. zweifelt, ob öliopp und at oder uhopp und vila
reimwörter sind: natürlich ist nur das letztere möglich.
204 GERING
9. Goprünarkvil^a II, 19' 2
Valdarr Donom mej' laiizleite.
Die folgenden drei belege sind weniger beweiskräftig:
10. Hovamol 120'^ 6
.vin l^iDom ves )ni aldrege.
Man könnte hier ves für den zweiten reimstab halten; mit
riicksicht auf 116*^ (s. 0.) glaube ich aber, dass vin und aldrege
alliterieren.
11. Helgakvip'a Hundingsbana 1,5'^
andvanr öto ek veit nokkot.
Hier wäre es möglich, dass oto und ek die reimwörter
sein sollten (also im zweiten halbvers typus A, nicht typus C).
12. Hc'irbar|>slju|? 133
at TJeta ogor^) minn.
Ich führe diesen vers unter den zweifelhaften auf, weil
die Strophe, der er angehört, dem Schema des gewöhnlichen
lj6}>ahättr sich nicht fügt und möglicherweise z. 2 und 3
metrisch zusammengehören.
Zu einer besonderen kategorie gehören die nun folgenden
stellen (13—17):
13. Lokasenna 2^
mange^) es ]?er i ür)^e vinr.
14. Lokasenna 10'
Ristu )?a, Vi]'arr, ok lat ulfs fobor
sitja sumble at.
15. Lokasenna 36^
vi|> systor l^inne gaztu slikau luog
ok esa j^ö öuo verr.
IG. Härbarl^sljöl^» 24^ fi
0'}>cun a jarla J'u'a i viil falla.
17. Oddrünargrätr lo^ 1
bana baj? bann öskuiey verj^a skyklo.
iMan hat die beweiskraft dieser stellen angezweifelt, weil
1) Die lichtige deutung dieses Wortes (membrum virile) dürfte durch
Hj. Falk (Arkiv HI, 341) gefunden sein.
2) Dies Wort mit Jessen (Zachers zs. III, 27) durch enge zu ersetzen,
liegt gar kein grund vor.
ALTNORDISCH V. 205
möglicherweise in der zeit, der die betr. lieder angehören, das
anlautende v vor o und u noch nicht abgefallen war. Ich
glaube an diese möglichkeit nicht, will sie aber einmal gelten
lassen — nur um zu zeigen, dass sich auch unter dieser an-
nähme, wenn auch auf indirectem wege, mit positiver Sicher-
heit der beweis dafür erbringen lässt, dass sowol in der Loka-
senna wie in den Härbar}>slj6)? und dem Oddrünargrutr das v
noch halbvocal gewesen ist. Denn wenn wir das anlautende
V nicht bloss in den oben angeführten stellen, sondern — wie
dies doch consequenter weise geschehen muss — überall, wo es
ehemals vorhanden war, wider einsetzen, so ergeben sich sofort
neue belege für die alliteration von v mit vocal:
Lokasenna 9^
luantu \>a,t, Yopenn, es vit. i jirdaga
blendom blöj^e sainan.
Lokasenna 16^
Bi)? ek, Brage, bania sifjar duga
ok allra vöskinaga.
Lokasenna 22 1
l'ege jn'i, Vol^enn, ]ni kiinncr aldrege
deila vig me]> verom.
Lokasenna 41 '
Ynlf stik liggja ;ir6se fyrer.
Lokasenna 58^ ^
en }?a j'orer j>i'i etke es ]m skalt vi)' viilf um vega.
Härbarl^sljöp 93 i
ok til alls öj'les: ek eiu Yoj'ena sonr.
Oddninargratr H" '«
ok |>at vor]>a alls fyrst of kva)'.
Oddiünargrätr 7^ *^
sviit, hün ctke kva)' vor)' et l'yrra.
Oddrünargrätr 21''^
kvol'osk okkr hafa vorj'et baij'e.
Oddrünargrutr 21 ' ^
ok voj'Iega Atla sog)'o.
Oddrünargrutr 2C)3- 4
en i voruigar)' anuan log)»©.
206 GERING
Ocklrimargrätr 30 » ^
opt vundrumk put hvi epter mak.
Wenn wir die lieder der Edda in ihrer ursprünglichsten
gestalt besässen, so würden die beispiele sieher noch bei w^ei-
tem zahlreicher sein. Denn es kann keinem zweifei unter-
liegen, dass manche verse, in denen v mit vocal alliterierte, in
späterer zeit, als v schon spirant geworden war, geändert wor-
den sind, um den fehlenden Stabreim herzustellen. Diese er-
kenntnis ist für die textkritik von bedeutuug, da die ent-
deckung einer neuen fehlerquelle zugleich neue mittel an die
band gibt, verderbte stellen zu heilen.
Sklrnesmol 24^
vigs ötraul^er at ykkr vega til>e
ist metrisch unmöglich (Sievers, Beitr. VI, 355), Die von Nied-
ner (Zs. fda. XXX, 136) versuchte besserung:
vigs ötrauj?er at vegel»
würde zwar die metrische Unebenheit beseitigen, trifft aber
doch kaum das richtige, da sie die entsteh ung der corruptel
nicht erklärt. Ich vermute, dass die worte vigs ötrauper eine
Interpolation sind, die eben deshalb vorgenommen wurde, weil
dem verse die alliteration zu fehlen schien. Streicht man sie,
so erhält man (nach der durch das metrum geforderten Um-
stellung der beiden letzten worte) einen vollkommen correcten
vers — vorausgesetzt dass das v, als die Skirnesmol entstan-
den, als halbvocal noch mit vocal alliterieren konnte:
at ykkr tif'e vega.
Eine zweite stelle, die vermutlich hierher gehört, ist Ham-
]?esm()l 276
verr en vil'friBge hvottomk at diser.
Die alliteration von v : hv kann Bugge (Aarb. 1869, s. 256 f.)
nur durch einen zweifelhaften beleg aus der Hervararsaga und
durch analoge fälle im ags. und alts. stützen. Ich glaube,
dass auch hier ein änderer, der lieber einen unreinen reim
haben wollte als gar keinen, seine spur zurückgelassen hat.
Wenn wir hvotlomk in ottomk emendieren, so ist alles in Ord-
nung (vgl. Fäfnesmöl 284-5: aße mino attak vip orms megen).
Drei weitere belege verdanke ich gütigen mitteilungen
ALTNORDISCH V. 207
von B. SynioDP. Grinmesmol 393 jgt der ausdriick variia vipar
bisher eine crux der ausleger gewesen. Es ist aber, im hin-
blick auf Volospö 41 2, höchst wahrscheinlich, dass varna
durch j'arn oder vielmehr durch die ältere form isam zu er-
setzen ist:
SkoU heiter ulfr es fylgr ena skirlci)?a gote
til isaniTi]?ar.
Hovam()l 124^6 liest Symons:
j'rimr orj^om senna skalat vip» verra mann;
die handschr. hat skalattu per, was als eine interpolation an-
zusehen ist, vorgenommen um einen reimstab auf prhnr zu
gewinnen.
Endlich vermutet Symons, dass Hyndloljoj? 11 « und 16*
yjßiga und Ynglingar an stelle eines ursprünglichen Vglsunga
bez. Volsungar getreten sind; es wäre also an den beiden
stellen zu lesen:
hvat's 0)?]inga, hvat's Volsunga;
)^a)?an Öl^lingar, )?aj?an Volsungar.
Der beweis, dass mindestens in einem teile der Eddalieder
V noch nicht als Spirant angesehen werden darf, wäre damit
wol erbracht, und da unter diesen liedern auch der Oddriinar-
grätr sich befindet, der doch sicherlich der jüngsten schiebt
der Sammlung angehört, so wird die behauptung nicht zu
kühn erscheinen, dass das v in der ganzen Liederedda
noch als halbvocal zu gelten hat. Wollte man das princip
der streng-phonetischen lautbezeichnung durchführen, so müsste
man also nicht bloss in den runeninschriften, sondern auch in
der Edda nicht v, sondern w schreiben — was wir aber
schwerlich tun werden, um nicht mit dem gebrauche der hand-
schriften, die nur in seltenen fällen des Zeichens w sich be-
dienen, in Widerspruch zu kommen. Ich hatte auf diese tat-
sache hingewiesen, um das bisher übliche v als bezeichnung
des halbvocals für das gotische zu verteidigen, und wenn
Braune darauf hiu geglaubt hat, mich eines 'wunderlichen
fehlschlusses' zeihen zu dürfen, so wird aus den vorstehenden
erörterungen sich ergeben haben, dass dieser fehlschluss kein
fehlschluss gewesen ist.
Dass zur zeit der älteren skaldenpoesie das v ebenfalls
208 GERING
uocb halbvocal gewesen ist, ist selbstverständlich, obwol be-
weisende Stabreime äusserst selten sind. Ich habe nur drei
belege gefunden:
Egill Ökalbigrimsson, Hofof-'lausn 5"- ^ (um 975)
Yollr of ]7rum}7e,
en und of glum]?e.')
Steinarr Onundarson, in der Kormakssaga, vlsa 38''- ^
(10. jabrh.)
vitta fullan, 1'6'k enn life.
Viglundr Dorgrimsson, in der Viglundarsaga^) 83 '^ -o
(10. Jahrb.)
enn's :i or|> at minnask,
Yesom nu hraiister, Trauste!^)
Gerade bei den ältesten skalden (Brage, Djoj^'olfr or Hvine,
Dorbjoru hornklofe, Guthormr sindre u. a.) mangeln belege
gänzlich, während v : v oder voeal : vocal bei ihnen sehr häufig
alliterieren. Hieraus einen einwand gegen meine ergebnisse
herzuleiten, wäre natürlich durchaus verkehrt, denn auch in
der ganzen angelsächsischen poesie*), in den resten der alt-
1) Es ist dies die einzige stelle, die von Wisen (Carraina norroena
s. 173) angeführt wird, nnd doch stellt er für die gesamte altnord.
poesie die regel auf: Semivocales j et v vocaliiim ritu . . . alliterationem
efficiunt. Auch H. Sweet lehrt (Icelandic primer s. 4) ohne jede ein-
schränkung: v had the sound of Erglish 7V. So allgemein ausgesprochen
sind diese regeln natürlich nicht richtig.
'-) Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass die Viglundarsaga wol mit
recht für ein product des ausgehenden 14. Jahrhunderts gehalten wird
und dass die existenz eines historischen Viglundr mindestens zweifel-
haft ist. Vgl. GuÖbr. Vigfussons erörterungen in seiner ausgäbe s. V f.
^) Aus dem gebiete des ostnordischen würde hierher noch ein vers
der Karlewi-inschrift gehören, wenn die seit Rafn (Inscriptlon runique
du Piree, Kbh. 185(1, p. 177 sq.) gangbare lesung richtig wäre:
Vandils jarmungrundar
Tirgrandari landi.
Aber nach den Untersuchungen von Sven Söderberg (Antiqv. tidskr. for
Sverige IX, 2) steht auf dem runensteine nicht 'vantils', sondern 'untils'.
*) In den ags. dichtungen finde ich nur einen vers, der zweifei er-
wecken könnte. Exod. fiö
ymbwicijean werodes bearhtme
kann die erste halbzeile nur dem typus D angehören (-1 j .^xx)? der
nach den von Sievers aus dem Beowulf abstrahierten regeln im ersten
fusse notwendigerweise den ersten reimstab haben muss. Es liegt aber
nahe, ymb7Vici;:,ean in ymbewicip;eau zu ändern, wodurch der halbvers
dem typus A 3 zufallen würde.
ALTNORDISCH V. 209
hochdeutschen stabreimdichtung-, im Heliand, in den poetischen
formein der altfriesischen gesetze wird man vergebens nach
belegen für die alliteration von ?v mit vocal suchen, und doch
geht die allgemeine annähme dahin, dass in den genannten
sprachen das tr ein halbvocal gewesen ist. Auch im altnordi-
schen hat, um das resultat meiner Untersuchungen noch einmal
zu präcisieren, das urgermanische u noch im 10. jahrh. seine
ursprüngliche qualität besessen; im 12. jahrh. aber war der
Übergang in die spirans bereits vollendet, da schon in den
ältesten uns erhalteneu isländischen handschrifteu v (u) nicht
selten zur bezeichuuug des tönenden / verwant wird (J. Hoftbry,
Arkiv f. nord. fil. II, 3 anm.).
HALLE, Ostern 1887. HUGO GERING.
Die vorstehende erörterung Gerings, deren resultaten ich
vollkommen zustimme, kann ich mich umsomehr freuen ver-
ursacht zu haben, als selbst die ditferenz, die der verf. zwischen
uns noch findet, nur eine scheinbare ist. Sie beruht auf ver-
schiedener auffassung des ausdrucks 'literaturnordisch'. Er
versteht darunter auch die nordische spräche, in welcher im
10. jh. die Eddalieder gesungen wurden, während ich nur die-
jenige sprachform meinte, in welcher seit dem 12. jh. eine
literatur im buchstäblichen sinne entstand. Die ursprüng-
liche form der Eddalieder fällt also für mich in eine vor-
literarische zeit: erst durch ihre aufzeichnung wurden sie
in die literatur aufgenommen. Wollte man versuchen, die
lieder 'strengphonetisch' (s. 207) in die spräche des 10. jh.'s
zurückzuschreiben — ein versuch der doch nur als lehrreiche
Übung, nicht aber für ausgaben der Edda billigung bean-
spruchen dürfte — , so würde meines erachtens allerdings nicht
.\as 'literaturnordische' v, sondern in Übereinstimmung mit der
runentransscription das w anzuwenden sein, wenn man nicht
etwa noch lieber ii brauchen wollte. Aber auch Gering fasst
ja nach seinem vortrage auf der Dessauer philologenversamm-
lung (vgl. Zs. fdph. 17, 118) für eine neue ausgäbe der Edda
nur die sprachgestalt des ausgehenden 12. jh.'s insauge. Und
dass für diese die Schreibung v ebenso dem (spirantischen)
laute wie der autorität der hss. gemäss ist, darüber herrscht
ja völliges einverständnis.
W. BRAUNE.
Beiträgo zur geachichte der deutschen spräche. XIII. 14
210 KITTREDGE, ZU BEOWULF 101
ZU BEOWULF 107 ff.
Zu den von Bugge, Beitr. XII, 82 citierten stellen möchte
ich folgendes nachtragen:
Das waldungeheuer, von dem die ritter den weg zu der
w^underbaren quelle erfahren, heisst im mittelenglischen Ywaine
and Gawain (v. 559, Ritson I, 24) the karl of Kaymes kyn.
In der afranz. vorläge des meng, gedichtes (Crestiens Chev. au
Lyon 286 ff.) steht nichts von Cain.
In Kyng Alisaunder (v. 1932—35, Weber I, 83—84) heisst
einer der vasallen von Darius
of Sab the duk Mauryn;
He was of Kaymes kunrede;
His man non kouthe speke no grede,
Bote al so houndes grenne and berke.
Cain kommt im roman von Baudouin de Sebourc wenigstens
viermal als teufelsname vor:
Ont ore le deable Quayns et Belgibns
Fait c'un chavetiers est tels maistres devenus! (XllI, 565 — C,
ausg. I, 373.)
Prendons en gre la mort, franc noble palasiin,
Et s'aions, ens el coer, de Dieu le sanc divin
Qu'il respandi pour nous oster de mains Kayn. (XIV, 385—87,
ausg. n, 12.)
Ol- me rens au deable Lucifer et Kayn,
Ebron et Beigebus et au fei Noradin. (XXIV, 317—18, ausg. II, 350.)
Le Bastard raporterent Lucifer et Noiron,
Kains et Bugibus et tout lor compaignon. (XIX, 931^2, ausg. II, 211.)
In der zweiten der letztangefiihrteu stellen scheint Kayn =
Satan.
TÜBINGEN, 18. mai 1887.
GEORGE LYMAN KITTREDGE.
. GRAMMATISCHE DARSTELLUNG
DKR
MUNDART DES DORFES OTTENHEIM.
LAUTLEHRE.
Einleitung.
Mein heimatsdovf Oltenheim, dessen mundart gegenständ
der folgenden davstellung sein soll, liegt im amtsbezirke Lahr
auf dem rechten Rheinufer, etwa 4 stunden südlich von Strass-
burg, also im nordwestlichen teile des alemannischen Sprach-
gebiets. Lautlich steht die mundart von Ottenheim und den
nördlich davon unmittelbar am Rhein gelegenen Ortschaften
auf gleichem Standpunkt wie die um Strassburg gesprochenen
elsässischen dialekte, denen sie näher steht, als denjenigen
mundarten, welche in den dem Rhein entfernter liegenden be-
nachbarten badischen gebieten gesprochen werden.
Als charakteristisch in dieser beziehung hebe ich beson-
ders hervor die entwicklung des mittelhochdeutschen ou und
ei, die behandlung des inlautenden g und die ausstossung des
unbetonten e in formen wie rel {er redet), gret {geredet)^ so-
wie die erhaltung der vorsilbe ge- im part. j)raet. Der haupt-
unterschied von den linksrheinischen mundarten beruht auf
Verschiedenheit der modulation.
Was die graphische widergabe der mundart angeht, so
habe ich mich soviel als möglich auch sonst üblicher zeichen
bedient und, wo es angezeigt erschien, den lautwert derselben
besonders angegeben.
Vocallänge habe ich stets ausdrücklich durch das zeichen
" hervorgehoben. Wo dies läugezeichen fehlt, ist allemal kürze
zu lesen.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XIII. 15
212 HEIMBURGER
Lautstaiid der nuindart.
A. Vocale.
§ 1. Die Ottenheimer mundart besitzt folgende einfachen
vocale:
i h y y, ? f> ? ^} fi^ (f^> <^ <^> 0 0, n ü, ü u, d\
dazu die diphthonge:
ei ei, ^i fi, wi, ai äi, oi öi\ ud, yd-,
endlich die triphthonge ndi und ydi.
§ 2. i i bezeichnet ein geschlossenes i, etwa gleich dem
nhd. langen i, z. b. in biefen, oder dem i in französ. critique.
Es entspricht in betonter silbe einem mhd. langen t, nhd. ei
oder mhd. lu, nhd. eii, in unbetonter Stellung auch einem mhd.
kurzen i oder e.
§ 3. Deutlich vom vorigen unterschieden ist der durch
y y bezeichnete offene /-laut, etwa gleich dem i in gehirge,
ich; dieses y y entspricht etymologisch einem mhd. kurzen /
oder ü.
§ 4. e e bezeichnet einen geschlossenen e-laut, etwa
gleich dem e in rede, französ. cain-e, und entspricht dem durch
Umlaut aus german. a entstandenen mhd. e, mhd. e oder mhd.
ö und oe, in gewissen fällen auch mhd. t; (s. u. § 26).
§ 5. ^ f bezeichnet einen offenen e-laut, der aber doch
nicht ganz so offen ist, wie das französische e oder das « der
nhd. Schriftsprache nach der süddeutschen ausspräche. Es steht
statt des durch e bezeichneten lautes, gleichviel welcher her-
kunft derselbe auch sein mag, vor r.
§ 6. (8 d'. bezeichnet einen laut der zwischen a und e steht,
und zwar dem a bedeutend näher als dem e\ es lautet un-
gefähr gleich dem nhd. a nach der schwäbischen ausspräche.
Etymologisch ist es gleich nhd. offenem e (ä), mhd. ü, d. h.
altem e, unter gewissen bedingungen (s. u. §§ 28. 30^32) auch
gleich mhd. umlauts-^?. Auch ist es zuweilen an stelle des e
als umlaut von a eingetreten.
w entspricht auch einem mhd. a\
§ 7. a ä bezeichnet einen dumpfen «-laut, etwa gleich
dem englischen a in saw, es entspricht dem mhd. kurzen a.
In einzelnen fällen ist es auch bleich mhd. ih doch sind das
MUNDART VON OTTENHEIM. 213
keine volkstümlichen Wörter, sondern aus der nlid. gemein-
spraelie heriibergenommene lehnwörter.
§ 8. 0 0 entspricht etymologisch mhd. o und ö; o auch
mhd. ä.
§ 9. u ti bezeichnet einen offenen ?<-laut und entspricht
dem mhd. kurzen u.
§ 10. ü ?r lautet gleich dem u in französ. cuUure. Ety-
mologisch ist es gleich mhd. ä, nhd. au\ in einigen vereinzelten
fällen entspricht es auch einem u der nhd. Schriftsprache, ebenso
auch dem u oder ou in französischen lehn Wörtern.
§ 11. Von diphthongen kommen ei, ai und oi sowol mit
kurzem als mit langem ersten bestandteil vor. In letzterem
falle sind sie immer entstanden aus vocal -f g oder w.
cet, welches immer aus e -{- g oder y entstanden ist, kommt
daher auch nur mit langem erstem bestandteil vor.
§ 12, ei hat als ersten bestandteil ein durchaus ge-
schlossenes e, dem französ. 6 gleichlautend. Etymologisch ent-
spricht es dem mhd. ^ in bestimmter Stellung. Auch braucht
der Ottenheimer diesen diphtliong für das aus mhd. i ent-
standene nhd. ei, wenn er die Schriftsprache spricht.
§ 13. ^i, welches aus mhd. ei entstanden ist, hat als
ersten bestandteil das oben (§ 5) beschriebene f. Gedehnt er-
scheint dieser erste bestandteil nur in dem worte n{i {nein).
§ 14, ai lautet nicht etwa gleich dem in der nhd. Schrift-
sprache neben ei üblichen diphthongen ai, sondern hat zum
ersten bestandteil das der mundart eigene dumpfe a. Es ent-
spricht etymologisch in der regel dem mhd. ou, daneben auch
mhd. a -\- g oder rv.
§ 15. oi entspricht etymologisch dem mhd. ü (u) in be-
stimmter Stellung. Auch wird es von den Ottenheimeru, wenn
sie sich der Schriftsprache bedienen, für das aus mhd. ü ent-
standene au gebraucht; ebenso für das aus 6 entstandene au
der Judensprache {koisr = koscher, Moisili = Moses, soida =
schote, schaute).
§ 16. Der aus mhd. uo entstandene diphthong ud hat als
ersten bestandteil einen sonst in der mundart nicht vor-
kommenden laut, der zwischen o und u liegt, doch auch etwas
nach ö hinneigt. Wenn ich nicht irre, ist es der in der
15*
214 HEIMBURGER
Sievers'schen vocaltabelle (Grundziige der phonetik p. 77) als
()i {oh midmixed) bezeichnete laut.
Der aus mlid. ie entstandene diphthong yd hat als ersten
bestaudteil einen offenen /-laut.
Der zweite bestandteil ist in beiden diphthongen der
gleiche; er lautet wie das e in gahe.
§ 17. Die triphthonge iidi und ydi sind entstanden durch
zusammentreffen von uo oder yd mit folgendem g oder j: hfludi
{pflüg) — (n^y^i (f^fieg) — blydit (blüht).
B. Consonanten.
§ 18. Folgendes sind die consonanten der mundart:
1. tonlos
a) explosivlaute
lal)iale: b, p,
dentale: d, /,
gutturale: g^ k\
b) reibelaute:
f, s, s, ch, h;
2. tönend
liquiden: /, r,
nasale: tn, n, ?),
halbvocale: w, j,
reibelaut: ^.
§ 19. Die verschlusslaute b, d, y einerseits und p, t, k
andererseits unterscheiden sich in der mundart nicht etwa wie
bei der in Norddeutschland üblichen ausspräche des nhd. als
tönend und tonlos: sie sind sämmtliche tonlos; auch nicht
durch grössere oder geringere cnergie der artikulation. Der
einzige unterschied beruht darauf, dass p, t, k aspiriert ge-
sprochen werden, b, d, g ohne aspiration. Der anlaut in Wör-
tern wie: kalt, kiend, kimdd ist durchaus derselbe wie derjenige
in: kaldo {gehalten), kcenk {gclienk), kungd (part. praet. zu
hinken)] der nnlaut von pak ist in nichts verschieden von dem
von paldd {behalten), der von tärok gleich dem von dluhd {die
hasen), te/im {daheim). Die muten der mundart zerfallen also
nicht in mediae und tenues, auch nicht in lenes und fortes,
sondern bloss in aspiratae und non aspiratae.
MUNDART VON OTTENHEIM. 215
§ 20. s, welches etymologisch mhd, s und z (ss und zz)
entspricht, ist stets tonlos.
Die beiden f des mhd., das aus urgerm. / und das aus
urgerm. p entstandene, sind vollständig zusammengefallen. Die
ausspräche des ch ist die auch in der nhd. gemeinsprache
übliche: guttural (velar) nach den dunkeln vocalen ce, a, o, u,
ud und y9; palatal nach den hellen vocalen i, y, e und ü.
Hierin weicht also unsere mundart von der grossen mehrzabl
der alemannischen Schwestermundarten ab.
§ 21. r ist zuugen-r und wird durch ein vibrieren der
Zungenspitze gegen die alveolen der oberzähne hervorgebracht.
Nur bei hervorbringung der lautgruppe sr ist die die Vibration
gehemmt, daher der r-laut stark reduciert.')
Der gutturale nasal ö wird, wie auch in der gemein-
sprache, statt des dentalen n gesprochen vor den gutturalen
verschlusslauten g und k innerhalb des wortes und im leben-
digen redezusammenhang (cf. dankbar, w Kolmar). Ausserdem
findet er sich selbständig an stelle von älterem ng. Nur in
letzterem falle ist er in der folgenden darstellung besonders
bezeichnet; sonst gebe ich ihn, dem brauche der Schriftsprache
folgend, durch n wider, ng bedeutet stets n -f g, nicht etwa
blos n.
Die liquiden /, /• und der nasal m (nicht aber w!) werden
in unbetonter silbe auch sonantisch gebraucht: liandl, grcsr
{grösser), gy-n-7ns {gieb es ihm).
7v und j sind reine halbvocale und durchaus von keinem
geräusch begleitet; w ist bilabial.
Die tönende spirans ^ scheint ziemlich jungen Ursprungs
zu sein und ist sehr wenig verbreitet; sie findet sich nur iu
den drei Wörtern e^l {iget), re^l {riegel) und sdreil {striegcl,
pferdekamm).
§ 22. Doppelconsonanz kommt in der mundart nicht vor.
Allerdings wird ein auf kurzen vocal folgender consonant,
gleichviel ob er auf mhd. einfache oder doppelconsonanz zu-
rückgeht, mit grösserer energie artikuliert als einer, der auf
langen vocal folgt. Auch hat am Schlüsse der ersten silbe
von Wörtern wie 7vedi {fvelte), fadr {vater\ rdbd {rappen), degd
1) Cf. Wiuteler, Ker. mundart, p. 40.
216 HEIMBURGER
{decken) die mimdhölile schon die artikulationsstellung eines
d, b, ff eingenommen. Doch ist eine Verdopplung oder auch
nur dehnung des consonanten, wie in einigen südbadischen
und schweizerischen mundarten, wo zwischen bildung und
lösung des verschlusses eine deutliche pause entsteht, nicht
wahrnehmbar.
Historische entwicklung der laute.
Bei der darstellung der historischen entwicklung der numd-
art gehe ich von dem mhd. lautstande aus, mir für den ein-
zelnen fall, wo es angezeigt erscheinen sollte, das zurück-
greifen auf eine ältere sprachperiode vorbehaltend.
A. Vocale.
§ 23. Mhd. a erscheint als a oder «i): ap (ab)', arvr {aber)\
agr {acker)\ ädl {adel)\ acht] nast (ast); sdäl {stahl)] bärfuds
{barfuss)] ran (schlank) < mhd. ran, nicht ran, wie Lexer an-
setzt; dieses hätte *rdn ergeben müssen; räsd {furere) < rasen
(nicht räsen^)\ äl {ahie). In unbetonter Stellung ist a zu 9 ge-
schwächt in dl^in {allein), zu e in des {das).
§ 24. Mhd. ä ist zu o, selten zu o geworden: önd {abend)]
blöi {plage)] blöi {blau); gbwd {ein hochzeitsgeschenk machen),
göp {hochzeitsgeschenk) < gäbe] gröi {grau)] löi {lau)] jo {Ja)]
blödr {blase) < bläter; omfis {ameise); möld {malen)] sömd
{same)] söt {saat)] blösd {blasen); jojndrd {jammern)] grbm {kram)]
tiöchbr {nachbar)] not {nahe)] sböt {spät); swop, swöwe {Schwabe,
Schwaben); ?n6s {die mass); glbfdr {klafter); fisrglör {das weisse
im ei); lögl {fässchen); blomrdd {brombeeren)] hvröi {heirat)]
kablön {kaplan)] Bor ich {Baruch); mönt {mond)] möndt {monat).
Entgegen dieser regel entspricht einem mhd. ä ein ä {a)
der mundart in: äs {aas)] gräf (neben fast ausgestorbenem,
nur noch von alten leuteu gebrauchtem grbf); dät {tat)] gnät
{gnade)] sdräl {strahl)] mäs {das mass) neben dem volkstüm-
licheren mces < mhd. tni^z,; gwäl {quäl); frdacht und frdächt]
grydnsban {grünspan)] bäbst] grät {gradus)] jnyrdgl {mirakel)]
gwädf] sbtjnät {spinal)] soldät] sbydäl {spital): alles das sind
') lieber die quantitätsverändcrungen der vocale wird unten im zii-
sanimenhauge gehandelt.
MUNDART VON OTTENHEIM. 217
der Schriftsprache entnommene lehn Wörter, wie zum teil das
dauebenstehen der erbwörtlichen form (cf. gräf, mäs) beweist.
Für mägsömd und mäsöl (mohn) ist wol nicht, wie es gewöhn-
lich geschieht, ein rahd. ??iägesäme, mägesät, sondern vielmehr
magesäme, magesät anzusetzen; darauf weisen auch fränkische
dialekte hin.
Das ä in hän {haben) erklärt sich vielleicht durch an-
lehnung an die formen desselben verbums mit kurzem a.
Unter dem einflusse der unbetontheit ist das aus ä ent-
standene ö zu Ä {ii) geworden in wü^ wu {wo).
§ 25. Mhd. (e erscheint als ce und ^: rcedl {retiig); sdrcel
(kämm); l(sr {leer)\ her {scheere)\ r(cs {salzig) < mhd. rwze;
kwp {dicht schliessend) < mhd. ^gehcehe; scbli {verstorben) <
scelec] srvcer {schwer)] mcejd {mähen)\ drcejd {drehen)] b(cj9
{bähen).
Hierher gehört wol auch (e?7it {öhmd) < mhd. ämät mit
allerdings rätselhaftem umlaut. Da mhd. ä in der mundart
zu ö geworden ist, so erscheint dieses ce als umlaut zu o:
dxbl deminutiv zu ddb9 {pfote) mhd. täpe\ mcendi {montag) zu
mdnt\ rcedsl zu rdd9 {raten)] grcemr {krämer) zu grdm\ sceß
{schä/chen), swfr zu söf {schaf).
Hierher gehört auch sbcen fem. {der span): mhd. spän
musste *sbÖ7i ergeben; dieses findet sich nur noch in dem ge-
wannnamen sbönheldsl {Spanholz)] sonst ist es verdrängt durch
die neubildung sbwn, welches sich zu sbon verhält wie die
die thräne zu mhd. der trahen.
In vielen fällen aber ist an stelle dieses w ein e, der ge-
wöhnliche umlaut von o, getreten: seml deminut, zu soms
{same)] hvebl deminut, zu swop {Schwabe)] sbedr comparativ
zu sböt {spät).
§ 26. Mhd. e ist zu ce oder w geworden: rwcht {recht)-
rcejd < regen] sceis < segense; hcclfe < helfen] socch {pßug-
messer) < s'ech] swcer < swiiher] gcewl < gebel\ brobgld <
bregelen] brcem < breme] nwmd < n'emen\ sojmd (neben samd.,
schäfnen) < scheinen: hierfür wird allerdings gewöhnlich sche-
?nen augesetzt, vgl. aber Schade, Ad. wb., zu diesem worte;
h(ßrt {herd und her de)] gmn < geben] sAn < sehen] frdccrwe
{perire) aber frdi^rwd {per der e)] kicbs-wip < kebese] grcebs <
218 HEIMBURGER
krebez] s/vd'r {geschwür) < swer; hccrds < herze] rcechd{harke)\
drick (kot) < mhd. drec (nicht drec, wie gewöhnlich angesetzt
wird); /'cej'p < vegen (nicht vegen!).
In einer anzahl von Wörtern aber entspricht einem mhd. e
ein e der mundart; es sind dies folgende: 7veld {wollen) < mhd.
wellen; welr {jvelc}ier)\ heim, — aber Wylhcelm {Wilhelm)] selm\
felsd {f eisen)] belds {pelz)] ledi < l'edec] gest^ gesdrt < gester]
srvesdr < siv'ester\ rvesdd {rvesten)] dr'esd < dreschen] lesd <
leschen; desdd < deste] scsdr < sehst er, s'ester] segs < sechs,
segst {der sechste) — aber scechdse (16) und scechdsik (60);
lep < lerve] wfr^), rvem, rvend {tver, wem, wen)] cendwedr {ent-
weder)] ewd < ebene, aber ncewd {neben), nd^wdds {beiseite);
^'i^V/ <C regele] dscdl < z'edel, zetel; ebr, ebs < etewer, — 7vaz.
Zum teil sind diese fälle identisch mit den von Luick in sei-
nem aufsatze: 'Die qualität des mhd. e nach den lebenden
dialekten' (ßeitr. XI, 492 ff.) angeführten. Diese erscheinung
war also wol über das ganze oberdeutsche gebiet verbreitet.
Was die erklärung dieser ausnahmen betrifft, so ist zunächst
hervorzuheben, dass das ii nicht in allen fällen über jeden
zweifei erhaben ist. So setzt Luick (a. a. o. p. 495) für das
bisher allgemein angenommene tvellen mit bestimmtheit wellen
an. Ebenso nimmt er für schelm schelm, für welcher welcher
als möglich an, letzteres mit Zugrundelegung eines vorhoch-
deutscheu '"^hvaleiks, welches analog dem entsprechenden demon-
strativpronomen swalelks gebildet wäre. Gegen diese annähme
spricht allerdings die form scelr {je)ier), welche man als eine
analogische Umformung von *soler < solher eben nach dem
entsprechenden relativen pronomen welher zu erklären pflegt,
und welche, wenn diese erklärung richtig ist, voraussetzt, dass
einmal eine form *w(elr < weler < welher bestanden habe.
Für die übrigen fälle eine lautliche erklärung aufzustellen,
erscheint als um so bedenklicher als zum teil formen mit dem
regelmässigen (c neben solchen mit e stehen.
Vielleicht möchte man geneigt sein, einen lautlichen Über-
gang des fc in e (etwa durch die mittelstufe Ö) unter einfluss
eines folgenden l oder s anzunehmen. Solcher annähme wider-
sprechen aber wider formen wie: hfcl < hei, wwl {reissigbündel)
*) Wegen des ^ statt c siebe unten § 29,
MUNDART VON OTTENHEIM. 219
< 7veUe, scelrvr {selber), scelde (schelten), n(est {nesl), bncsdd
< bresten.
Am plausibelsten scheint der Übergang von offenem e zu
geschlossenem in felsd ahd. felis, belds ahd. pelliz, rvelr ahd.
huclih unter einwirkung des i der zweiten silbe und der durch
dasselbe hervorgerufenen mouillierung des /.
§ 27. Einem mhd. e (umlauts-e) entspricht regelmässig e
oder c": hek {baecker)\ t^eld {schroten)] sedsd {setzen); ebfl {äpfel)\
scbfd {schöpfen)] lefl {l'öjfel)\ dseld {zähleii)\ ret (rede); sie' gl
{schlaget)] rejd {regen, yh)] lejo {legen)] nedsd {netzen); dsledst
{zuletzt); kedsd (schleppen).
Wo noch enger Zusammenhang mit unumgelauteten formen
desselben Stammes bestand, ist dieses e zuweilen durch cc ver-
drängt worden, wie in der nhd. gemeinsprache durch ä: (vrml
(kleiner arm); hcech (buche)] jcejr (Jäger)] ivcddr zu wald]
nccmd neben namd (die namen); hcesi (häsin) etc.
Doch hat sich das e weit besser behauptet als in der ge-
meinsprache, wie folgende beispiele, die sich leicht vermehren
Hessen, beweisen: eldr (comparativ zu alt)] kelwr (plural zu
kalp)] redr (plural zu das rad)] bledr (plur. zu blat)] gn-ifld
(quälen)] gledi (glätte)] döddgrctvr (totengräber); 5/«ß^/r (compar.
zu schmal)] grefdd (plural zu kraft); grefdik (kräftig); negl
{nägel)] sivejdri (schwägerin); s^rfr^) (comparat. zu scharf),
ser/i {die schärfe)] p-tnr (comparat. zu arm); er ml (der ärmet)]
p'jr (ärger)] (>rjdrd (ärgern).
§ 28. e vor nasal -\- consonanz oder vor doppelnasal
wird zu ce\ ccnl {ente)] cent (ende)] ivcvndd {,r enden); blwndd
(blenden)] cen (eng); mnl (enget)] wngl (enkel)] dtciüd (dengeln);
ha'ost (hengst)] a)ndrli (engerling); soingd (senkeii); sicngd
(schenkeii)] frrccnge (verrenken)] mcens (mensch)] kicnsdrli <
kenst erlin; frommt (fremd)] shimbd (hängesack) zu slampen] hwtn
(hemd)] brwne {brennen)] dam (denn); rccnd (rennen)] fJwnd
(flennen)] srvcemd (schwemmen)] sdocmd (stemmen)] hrmns <
hre?nse.
§ 29. e vor r erscheint als ^ oder e: ip-wd (erben)] frdp'7vd
(verderben tr); merds (tnärz); crjdi'd {ärgern)] hp-f (hart)] bp^si
(der barsch)] sbp-d (sperren); f(ri (fertig)] tvfrd {wehren).
^) Wegen des ^ statt c siehe § 29.
220 HEIMBUKGER
Dieses lautgesetz muss veihältnisnuissig jungen cUitums
sein, da sämmtlicbe e der mundart, welcher herkunft sie auch
sein mögen, ihm unterliegen.
§ 30, Vor cht entspricht dem mhd. e ein cc der mundart
(cf. Paul, Mhd. gr. § 43 a): n(Fcht (gestern nacht)] gsl&cht <
gesiechte; glcbchdr < gelechter e\ drcßchdr {irichter) < (rechter,
wenn hier nicht vielmehr trechter anzusetzen ist.
Aber hecht aus mhd. hechet.
§ 31. Ferner erscheint cc statt e iu einer anzahl Wörter,
welche in mhd. doppelformen mit a und e aufweisen: ö?ä- mhd.
asche, esche\ cerbs mhd. arweiz, erweiz\ ocrwdt mhd. areheit^
erebeit; gcedr (gitter) mhd. gater, geter; drd'chdr mhd. trachter,
trechter, tr'ichter\ gsceft mhd. geschaft, geschefte\ gcerrvd {ger-
ben) mhd. gar wen, geriveu] f(crmd mhd. farwen (?), ferrven\ hcclr
md. haller, heller] hcechl mhd. hachel, hechel; kctnr [dachrinne)
mhd. kanel, kenel, kener \ loile mhd. lallen^ lellen\ mcer^k mhd.
market, merket; scel (säge) mhd. sage, sege; sa^ds (femin.) mhd.
schale, schele; rvces9 (waschen) mhd. waschen, weschen — aber
wes {die wüsche); — wcels mhd. walsch, welsch.
§ 32. Endlich erscheint ce statt e als fortsetzung von mhd.
c in: icr < eher (ähre) : ccrn (ernte) < erne; fcedsd < vetze;
Iceds (verkehrt) < letze; grceds (tragkorb) < kretze; kcedsr
< ketzer; gwcedsd < quetzen, quetschen; rccdse < retschen;
sdcelds < stelze, dazu sdyldsfuds {stelz fuss); sncebf < snepfe;
hicek < snecke; rcechnd < rechenen; mcerd < merhe; mccsr
< mezzer; woifds < we/^<?; c?ö?/f < ^e//^r französ. tailloir; vgl.
hierzu Luick a. a. o. p. 501.
Auch hier steht die quaiität des e nicht in allen fällen
fest. So setzt für snecke Müller wol mit recht snecke an;
ebenso dürfte für snepfe ein snepfe zu supponieren sein. Dass
auch stelze altes e hat, darauf weist der Wechsel mit kurzem
i hin, wie er in sdyldsfuds zu tage tritt.
Unter den übrigen angeführten fällen sind zunächst solche
wie cer < eher, wrn < erne, rcechnd < rechenen auszuscheiden,
bei welchen unter einfiuss des h und r der unilaut erst spät
eintrat und daher nicht über die stufe des ce hinauskam. —
Ferner scheint es auf den ersten l)lick nicht ganz zufällig zu
sein, dass gerade vor tz so oft ce statt (^ erscheint. Doch ver-
MUNDART VON OTTENHEIM. 221
bieten fülle wie 7if'ds9 {netzen), ncds {netz), jnedsd {schlachten)
u. a. die annähme, dass dieses tz den Übergang bewirkt habe.
§ 33. Wo verbalformen mit e und e in transitiver und
intransitiver bedeutung neben einander bestanden, sind teils
beide formen erhalten: fräp-nd {perdere) < verderben und
frdcerwd {perire) < verderben] sdegd < stecken und sdcegd <
stecken] — teils ist die eine form von der andern verdrängt
worden: scele für mhd. schellen und schellen] gneld {knallen)
für mhd. knellen und knellen; smeldsd für mhd. smelzen und
smelzen. In A'i^o» = mhd. leschen und leschen hat vielleicht
lautlicher zusammenfall stattgefunden (cf. § 26).
§ 34. Mhd. e erscheint als e oder e (vor r als ^ oder f),
in einigen wenigen ftillen als m ohne ersichtlichen grund: Le
(uame eines teiles des dorfes) < mhd. le] gle < klc] sdfn
[stehen)] gfn {gehen); nach analogie dieser beiden ist wol auch
len {lassen) gebildet; le^na < lehnen] endr {eher)] dse {zehn)
mhd. z'ehen, zen, dr dsft {decimus), aber ds(Bnd3 {zehjite, ab-
gäbe); dse (masc. die zehe) mhd. zehe, ziihe, zS] dswen {zwei
masc); bedi {beide masc); heljd {heiligenbild, dann überhaupt
kleines hild), Ucljddswl {Heilig enz eil, name eines dorfs), daneben
das vermutlich nicht erbwörtliche h(^ilik {heilig)] kcnr und kt^r
{keiner); weni {?venig) neben cc rvev {ein wenig); frfrd {verehren,
schenken)] Itfro {lehren)] fnmfrd {vermehren); gere {schoss,
ßscherspiess)] hej < hcrre, daneben hccr^got {hergott) der form
hcrre entsprechend; — swKr < sweher, stver] dswd'l < twe-
hele, twele] hra'dsl {brezel) ahd. brezitelUi] ba^rd (eine art
fischernetz) mhd. bere, lat. pera.
§ 35. Rlhd. / ist zu y oder ij (d. h. otteucm /) geworden: dy»;
dyk] kys {kies)] rys] tnyldai {mehltau)] rvyt {gerte) < wide] ryu
{facilis und annulus)] gtryst (part. praet. zu wissen)] syml
{semmel); jyrd {gähren)] byr {birne)] swyjr.nuddr {Schwieger-
mutter); ymds {imbiss)] sij <. si {sie); snyt] gsnydd {geschnitten);
sydr {seil) < sider.
Die lautgruppe iget wird zu c^l: e^l {iget); re^l {riegel)
und sdregl {striegel). Fremdwort \?iCsigl {das sieget).
In unbetonter Stellung wurde mhd. i zu geschlossenem /:
hfyrsi {p/irsich)] rsi {essig); hiini {honig); wydsdli {wüstling)]
mcendi {montag)] si {sie) unbetonte form neben dem betonten
sy; i neben ych.
222 HEIMBURGER
Statt eines zu erwartenden y findet sich i als Vertreter
von mhd. i in fil (viel)] nigs (nichts)] hegirik (begierig)] digr
(tigcr)] swiböjd (schjvihbogen).
fil und nigs sind wol ursprünglich als unbetonte neben-
formen zu. den hocbtonigen */?// und '*mjgs entstanden und
haben dann diese ganz verdrängt. Die drei übrigen angeführ-
ten Wörter sind aus der Schriftsprache eingedrungene fremd-
wörter.
§ 36. Mhd. % erscheint als geschlossenes i oder v. bdgrifd
(hegreifen)] rifd (pruina)] rido (reiten)] sdrid^ (streiten)] hdwisd
(beweisen)] sisd (cacare); bris (preis); sdrichd (streichen)] Rm
(Rhein)] disl und dislt (deichsei)] licht (leicht)] licht (leiche);
snidd (schneiden)] riwd (reiben)] ds^rifl (zw ei fei)] rid (reien, rist)]
örfi (ohrfeige)] dswi (zweig)] gl (geige)] sdie (steigen).
§ 37. Zuweilen aber ist mhd. i auch zu ('/ geworden. Ich
führe die hierhergehörigen fälle vollzählig an: blei] drei, aber
dridse (dreizehn) und drisik (dreissig)] frei, gddeid < gedihen
keid, frheid] < ge-, verhien; sei < st (sim)] gswei < geswihe]
sneid < snien] gwei < gewige] rvei < wihe (vogel)] wei, wei9
< wihe, wihen, aber wiwasr (7veihwasser) und nnnächt (weih-
nacht)] weidr < wier, aber in Ortsnamen: Hügswir, Nundwir etc.;
glcid < klien] sreid < schrien; frdseid < verzihen] slei < slie]
— die ablcitungssilbe -ei < < in Wörtern wie sriwdrci (schrei-
berei), sreidrei etc.; Mei (Maria) und dazu das deminut.: M<yUi,
bei Winteler, Ker. mundart, p. 179 Mili; feilüdd (veilchen) <
viel] heil < hiel] feil < file] gseit < geschide.
Man sieht, in allen diesen fällen, mit alleiniger ausnähme
der beiden letzten, steht das t im auslaut oder vor einem
vocal oder ist von einem solchen nur durch h getrennt (das
g in gewige bezeichnet doch wol nur den übergangslaut). Es
dürfte also wol folgendes lautgesetz gewirkt haben:
Wo i unmittelbar vor einem vocal zu stehen kam, d. i.
in den fiexionsformen mit vocalisch anlautender endung und
im auslaut vor vocalischem anlaut des folgenden wortes wurde
es zu (li; sonst blieb es l.
Nun bildeten sich zunächst doppelformen mit (ü und l.
Dann trat ausgleichung ein, und zwar in den weitaus meisten
fällen zu gunsten von ei, nur in wenig fällen (rid < rlhe und
sld < sihen) zu gunsten von L
MUNDART VON OTTENHEIM. 223
Was fril und {/srit anbelangt, so ist ersteres als hand-
werksausdruck jedenfalls der genieinspiacbe entlehnt. Bedenk-
lich scheint mir eine solche annähme allerdings für ein so
volkstümliches wort wie (isrit. Doch vermag ich eine befriedi-
gendere erklärung nicht zu geben.
§ 38. y statt zu erwartendes ^ erscheint in syn {sein, esse),
gsyn oder ysif {gewesen); liyrCcht < hmechl; fynl < fint. In
syn und gsyn {syn) liegt vielleicht anlehnung an die 1. 3. plur.
ind. praes. syn < sind vor. In fynl und hyn'chl dürfte durch
den folgenden nasal + consonant der Übergang des geschlos-
senen lautes in den offenen bewirkt worden sein. Es wäre
dies ganz analog dem iu § 28 behandclteu Übergang des ge-
schlossenen e-lautes in den offenen.
Höchst merkwürdig ist das wort g^iPr mhd. gtr. Dass es
nicht lautgesetzlich aus gh- entwickelt sein kann, liegt auf der
band. Aber auch eine fremdwörtliche entlehnung aus der
Schriftsprache scheint ausgeschlossen zu sein, da für ein aus
mhd. i entstandenes nhd. ei die mundart stets ri, nie ei hat.
§ 39. Einem mhd. o, u entspricht im allgemeinen auch
ein o, u der mundart: ogs < ochse; ofe < oven\ ort und ort
< ort; soJif {schup/ien) < schöpfe; wolf; hol < böte; glöw? <
klobe; gsddl9 < gestohlen; gold; got; drösdl {drossel); doblt <
d(nib/e; himt; südld {sudeln); bnist; dsiw {zunge); blut {bloss,
nackt); gdbvnd^ {gebunden); nun {non7ie); sim {sonne); sün {söhn);
gruno {geronnen); gund {gönnen); bsundrs {besonders); sust
{sonst); srundo < schrimden; rordnml; drnds {troi:); sianr
{sonimer); ghviuiio {geschrvonimen).
Wo ndid. schwanken zwischen o und u herrseht, ist in der
mundart fast immer u durchgedrungen: dundsrd = ndul. don-
ren, dunren; huni mhd. honec, hiinec; dudr mhd. toi er, tut er;
drng? mhd. trocken, trucken; Ink {locker); hug? {hocken); knmd
mhd. komen, kumen, (juHmen; kubl mhd. koppel, kuppet.
0 ist verallgemeinert in solo mhd. soln, suln; dsobd =
zupfen (?).
An stelle von mhd. o ist n getreten in: gmimd {genommen);
bulsdr; hiihf < hopfe; uul {trolle). Ferner ist n aus o ent-
standen in den französischen lebnwörtcrn: kufr {ko/fer); fnrm
{form); knndrby>V'0 {gehorchen, contrihuer); sych drumbydr!> {se
trompei').
224 IIEIMBURGER
Unter eiiifluss der proklise ist o zu u geworden iu
fun {von).
An stelle von mlid. 21 ist 0 getreten in /row mhd. frimi.
Schon alt ist das u in ich mir, du nmrs, (cr murt {ich
werde, du wirst, er ivird).
Das ü statt u in ü^rall, iCrgrosfadi\ iCrgrbsl {urgrossmuller),
gnüsd < kmtssen {slossen), gnühd = mbd. kmibbe {knollen im
holz, heule), dü^dlsak, diCsl {beläubimg), kabdcls {kapulzc), kabüt,
nifdl {iiudel), büdl {pudel)^ hiübd {schnupfen), frdilse {vertuschen),
hfiis9 {pfuschen) deutet auf fremd wörtlichen Ursprung hin.
§ 40. Mhd. ö ist 0 geblieben: nowl {nobel)] mor {multer-
sckweiti)] 6r; dsd9rD {oslern)\ rot] hoch] sdosd] bön {bohne).
Unter einiluss der uubctontheit ist 0 zu ii geworden in
SU, sun {schon).
§ 41. Mhd. ü ist zu ü oder ?r geworden: üs < üz] süfd
< süfen] bi^üt < brüt] brücho < brüchen, rüs < rüsch] lüsdord
{lauschen) < Ifistern; lü^rs < lüren] sifr < sür] hi'Crd {kauern)
< hüren; siCfr {sauber); brifsd {brausen)] snitfe {schnaufen)]
bri'fn {braun)] ri'f {rauh) < rüch, rühes] gli'Civd {klauben).
Dieselbe entwicklung hat französ. ou mitgemacht iu giujük
{knkuk) und düsmä adj. und adv. {sachte., matt) < doucement]
franzüs. u in mimdiC'r {anzug) < inonture. Wol unter eiufiuss
der unbetontheit und dadurch hervorgerufener Verkürzung ist
ü zu u (statt ü) geworden in nur, numd < mhd. nur, *nür-?ne {?);
uf geht auf die form uf nicht nf zurück. Lehnwörter aus der
gemeinsprache sind doisik {tausend) und goil {gaul)] ferner
ai3rogs {auerochs) und aidrhän. Es ist nun allerdings auffällig,
dass das aus mhd. ü entstandene nhd. au sich in den zwei
zuletzt erwähnten Wörtern nicht, wie sonst immer (cf. § 15),
als oi, sondern als ai rcflectieit; wir scheinen demnach in dem-
selben falle zu sein, wie oben (§38) mit dem vvorte g{'i9r.
Doch liegen hier die Verhältnisse günstiger. Mhd. ü und
mhd. ou sind in der nhd. Schriftsprache nicht bloss wie mhd. i
und mild, ei in der Schreibung, sondern auch in der ausspräche
zusammengefallen. Der Ottenheimcr konnte also wol, wenn
er der nlid. Schriftsprache ein wort cutlehnte, das er auch in
erl)wörtlichcr form besass, von seinen) spracligefühle angeleitet
werden, welchen der beiden laute, die er für das au der
Schriftsprache zu gebrauchen gewohnt war, er im einzelnen
MUNDART VON OTTENIIEIM. 225
falle einzusetzen habe. Bei Wörtern al)er, welche der niundart
vollständig abgiengeu — und das war mit der bezeichnung
der beiden fremden tiere zweifellos der fall — fehlte ihm jedes
kriterium. So konnte es kommen, dass er einmal aucli für
das aus u entstandene au den lautcomplex einsetzte, der ihm
für das aus ou entstandene geläufig war.
- § 42. An stelle von mhd. uw oder iuw erseheint oi in
folgenden Wörtern: boiJ {hauen) < bütven; broid < brüireu]
drol9 < trÜTven] soi < sü, gen. siuwe; koi9 < khüveyv^ gnoi?
< kniwven\ roid < rhuven\ gsrol9 (gescln-ien) < geschriuwen.
Auch füi" sbou^ (speien) ist wol ein etymon '^spiiuren oder
*spüwen neben dem gewöhnlichen sphven anzusetzen.
Aus hüv kann dieses oi nicht lautgesetzlich entwickelt
sein, da dieses, wie unten gezeigt werden soll, vielmehr ci er-
gab. Es ist also für die Wörter mit iiirv die unumgelautete
form zu gründe zu legen und das lautgesetz so zu fassen: nw
(vor vocal) wird zu oi.
Man beachte den parallelismus dieser entwickelung mit
derjenigen von «'""' zu ei.
% \\^. Mhd. Ö wird zu r oder e: öl < el\ eh < '*öh, oh\
etrr < '*öher, ober] weif plural zu wo//"; egsl {kleiner oehse) etc.
Wie 0 und u, so wechseln auch deren umlaute, so dass
nun mitunter ein e der mundart einem mhd. ü gcgeniiborstoht:
shreiJs^ < '■-.ytrolzen, sj)7-üf:e)r, ken9 < können, künnen.
Vor r wird dies aus mhd. ö entstandene e zu e: derf
{dorl)\ der9 {dörren): drrp {dürfen)] n-erdr plur. zu fror/.
§ 41. Mhd. rt' wurde zu r": hbfl < hUrdey blifsli < Hlirz-
iirhe zu h/az] Jiechr coniparativ zu hdch\ nfdi {nötig).
Vor ;• tritt für (f f ein: nfri demin. zu rör.
§ 4r). Mild, ü wurde zu y oder ij: kyni (neben fVcmdwört-
liehem kenik) < ki'mec\ myn'ch < tnibienh; kynhäs {kaninchen)
< kün/in\ dsip>.d9 < zünden] In/lds9 < hülzen {hölzern)]
b.idgrfdik {bedürftig); bijrdslo {purzeln)] hyl < hühel\ nif/l
{tnülile)] hfpi {Speicher) < Inhic.
Auffallender weise cntsj)richt einem mhd. spibii ein g.iblrP
(statt *gsbijr9) der mundart. wie wenn eine form '^spiuren zu
gründe läge.
§ 46. Mhd. iu wurde zu / oder v. sifdsd < siiifzen] dids
< t tut seh] suids.^ <^ sniuzeu] liil {heule, haute)] ridl {pflugreute)
226 HEIMBURGER
< r Intel] hll < h'mlc\ grids < kriuze; si9 < schiurven\ siri
(säure)'i diwi {taubemreibchen); drhvl {(raube) < Iriubel] il <
hüe] Michiii deniiiiut. zu slücJ>e.
iuw vor vocal ist ri geworden: drei < trimve\ nei <
nhüve\ g^bei < gebiutve\ eldr < m?rer; eich (unbetont ich) <
ii/ch abd. i'uH'ih berubt vielleicbt auf anlebnung an ei9r. Fremd-
wort ist dei/1 < 1 121 fei.
Dieses ei stebt im umlautsverbältnis zu dem aus fw ent-
standenen oi (of. § 42). Docb ist der wecbsel meist durch aus-
gleicb beseitigt. Erbaltcn ist er nur in soi {schrDcin) — seili
(demin.) und boi9 {bauen) — g^bei {gebäudc).
Der offene /-laut statt des gescblossenen findet sich in
frynt < vriunt, wol wegen des folgenden nas. -f cons. (cf.
§ 38 und § 28).
§ 47. Mbd. ei erscheint als ^i: ^'ich {eiche)\ ^il {eid)-^ p9
{eige)i); r^in\ k^isr; leip {laib); sd^in [stein)] b^in\ gfis {ziege);
^id9\ sr^i; leitnd {lehni)\ mpdl < rneif maget\ sfU {er sagt)]
mit eigentünilicber debnung: nei < 7icin. Statt ei erscheint c
in he (kein), kenr {keine?'), unbetont kp\
§ 48. Mhd. ou ist zu ui geworden: ai {augc); ai {auch)]
glaitv3 {glauben)] laifd {laufen)] draim {träum)] raiu) {rahm,
sahne) < rouni] dui {tan)] sdrai {sfroh) < sirou] rai {roh) <
rou] lai {lauge)] aigsl (nionat augiist)] drai? < dromven {drohen)]
gnai {genau) < noinvc.
§49. Mhd. öu ist zu (•/ geworden, also mit mbd. ei zu-
sammengefallen: hei {heu) < hiJu, neben der unumgelauteten
form hai < hou] frpf < fröudc] gfi < göu] reich? < rauchen
zu rouch] sdreifd {abstreifen) < *s(röufen, siroufen] snrik
{schnauze), hie^igd {schnü/feln, naschen) < ''••snöukc{n): dass hier
öu nicht ei zu gründe liegt, beweisen solche alem. dialekte, in
denen mhd. öu und ei nicht zusammengefallen sind; drpju plur.
zu draim < Iroum] bddi^iwd {betäuben).
§ 50. Mhd. ie erscheint als yd: lydcht {licht)] lydjd {lügen)]
stjdch {siech, nur als scbimjjfwort gebräuchlich); gryoi {krieg)]
gryds {kirsche) < kriesc] dydnd {dienen)] dyap {dieb)] hyJ {liier),
hyasik {hiesig)] nyd] nyomd {niemand)] ydmd {jemand), yonds
{irgendwo) — aber jeds {jetzt), jedr] frlydrd [verlieren)] -ydrd
in verben wie rdgydrd {regieren), bahry9r9 {/M)'bieren).
babir < papier ist natiirl. fremdwort.
MUNDART VON OTIENHEIM. 227
§ 51. Mild. HO erscheint als ud: ulnmds? (almosen); miiddr
(jnutter)] mudll {mulde); rudr {ruhr)\ kud {kuh)] ruds {russ und
Russe); sbwldd {spulicht)\ lu3ör {luder)\ ?-udt (rute); b/Iu9i {p/hq/)-,
7'udi {ruhe) < riio/ve; fn9s] hludm\ su9che {siichen)\ gnud {genug)'^
budi (bug); bud {bube).
§ 52. Mhd. üe ist ya geworden, also mit mhd. ie zusammen-
gefallen: hly9j9 < blüejen] hy?d9 < Mieten] grydsd < grüezen\
byds9 < büezen; rydfd < rüefen\ mydt < müede\ 7ny9i <
müej'e; rydrvik < *f'üeivec, j'uowec {ruhig); dydn < '*lüen,
tuon\ myan {müssen) < *fnüen, müezen; nydchdr {nüchtern) <
nüechler.
Quantitätsveründerungen der vocale.
VocalkUrzung.
§ 53. Yoealkiirzung hatte im allgemeinen statt vor mehr-
facher cousonanz; fynl {feind) < fint\ frynt < fr'mnl\ el'f
{elf) < einlif] dswansik < zive'mzec (mit unerklärtem Übergang
des ei zu a); dislt oder disl {deichsei).
Nicht wesentlich davon verschieden ist der fall, wo ein-
fache coneoiianz die silbe schliesst; daher swop (Sckwabe), aber
plur. sfvdn'9.
§ 54. Gewisse consonanten und consonantenverbindungen
aber bewirken bloss Verkürzung eines vorhergehenden i, i), in,
nicht aber eines andern langen vocals; es sind dies folgende:
1. Jit {cht), ft und 67: licht {leicht); hicht {beichte)] ficht
{feucht)] aber docht < tächt] brbcht < lirächl] sifds? < sinf-
zen] — aber glöfdr < kläfter: fük < füst] lüsddrd < lüstern]
dsisdi < zistttg] — aber ro.sY {la grille)] drost {trost)] ösdars
{ostern).
2. z und :;: hrids {Schiveiz)] grids < kriuze] snidsd <
sniuzen; sbidsld < spiiizen; aber /leds^ {ßözen)] — üs < fiz,]
sdrüs < striiz,; smis9 < s?mz,en] sisd < schiz,e?i; ßsi < vliz,ec\
— aber gros < gröz,] rces < r(ez,e] reso < r(ez,en] sdros <
slräz,e] mos < mäz,e.
mifsd {mausern) < müz,en beruht wol auf \olksctymo-
logischer anlehnung an mifs {maus) und das davon al)geleitete
w/r.s-p {naschen, stehlen).
Mhd. ä erscheint vor z, verkürzt in los {ich las.<;e) < Id^e
Beiträge zur geschichte der deutschen sprnche. Xlll. l(j
228 HEBIBURGER
und ablas {ahlass)\ hier liegt wol aiialogic nach denjenigen
formen des veibunis Zossen vor, in welchen lautgesetzlich Ver-
kürzung des ä eintrat, weil auf das ? noch ein consonant un-
mittelbar folgte.
3. /■ = urgerman. p: hßfd {pfeifen)\ grifd {greif eii)\ slifd
{schleifen)] sdif {steif)] hüf9 {hmifen)\ süfd {saufen)] rifü> {pruiwi)\
aber sbf {schaf)] slöfd {schlafen)] — sii^fl {schau fei)] miffd
{schiaufen), weil hier altes / vorliegt.
4. ch = ahd. hh = got. germ. k: slichd < slkhen; kicho
{keuchen) < kichen] dich < lieh] wicho < wichen] rieh <
7Hch] licht {leiche); buch {bauch) < buch] büchd < buchen]
düchd < tüchen] aber sbröch < spräche.
5. seit', rüs < rüsch] rüs9 < rüschen.
6. t: üdr < üter {euter); lüt < lüt] hüf < hüt; grüt <
krüt] lüdr < lüter\ bidl < biulel] ridl < riutel] didd < diule^i]
hit < Ä/w/e; W27 < tvit] sdrit < ^^n/; h^idd < sehnten] rid?
< n/e«; aber i/oc?/- {blase) < bläter; ödm < tJ/^/n; rfö/ < /o/;
560^ < späte] söt < 5«/; /*erfr < Peter.
Ebenso findet vor p Verkürzung des ü statt in rüp {raupe).
Andere beispiele mit p sind mir nicht zur band.
Ob auch k solche Verkürzung eines vorhergehenden langen
i, ü, iu bewirkt hätte, lässt sich nicht entscheiden, da es nur
nach mhd. ä vorkommt in den beiden Wörtern hög9 {haken)
und snök {schnake).
§ 55. Wol durch einwirkung des in den nom. herüber-
genommenen -en, resp. n des casus obliqui ist Verkürzung ein-
getreten in bwre {ßschernetz) < mhd. bere. Wenig ist zu iveni
geworden wol unter analogischer einwirkung der form wen.
Vocaldehnung.
§ 50. Vocaldehnung ist im allgemeinen eingetreten vor
einfacher consonanz d. h. in offener silbe: ew9 < üben] gräp,
grervr {grab, grober)] odlr < adelar] dädl {tadel)] wcei {weg)]
aber d7va;k < enwüc] säjd {sagen)] nägl] male {mahlen)] dyle
masc. {diele)] färd {fahren), dazu fifri {fertig)] byr {birne)]
bcesd < biiseme] häfd < hafen\ sijfr {schiefer)] sdyfl {stiefel)]
güf {Stecknadel).
hef {hefe) geht nicht auf heve, sondern auf hejfe zurück.
MUNDART VON OTTENHEIM. 229
hof plur. ht'f {ho/', höfe) beruht auf veiallgenieiucruno: der
quantität des uom. siug., wo / silbescbliesseud war, mitbiu
dehuung verbinderte. Die nbd. gemeinspraebe bat im gegeii-
teil die quantität der tiectierten casus verallgemeinert und die
quantität der unfleetierten form nur in isolierten formen wie
Iloffmann^ Osthoff etc. bewabrt.
In ungJdsyfr (lüKjeziefer) ist die kürze wol unter einfiuss
der tiectierten formen mit s_vnko])c des e wider hergestellt
worden.
In la'hkudchd < lehekuochen muss das e ausgefallen sein,
ebe dehnuug eintrat,
Silbeschliessendes r hat debnung nicht verbindert: thr {er)\
7nyr (mir und w/r); dd'r {der)\ )vfr\ fdr\ aber fyr {für) und
dessen composita fyrsl {für sich d. i. vorwärts) und fyrfuds
{vorderer teil des fusses): das simplex ist unter proklise kurz
geblieben, und die composita haben sieb nach ihm gericiitet.
Auch vor silbebeschliessendem / scheint debnung statt-
gefunden zu haben; darauf hin weisen formen wie H'älst
{ffallslatt, gewannname); wdlfys {ivallßsch)] 7väiros\ ytrräl
{üheraU).
Vor rr scheint debnung eingetreten zu sein in: fryro {ver-
irren): dies beruht wol auf angleicbung an formen, in denen
lautgesetzlich debnung eintreten musste, wie z. b. in den tiec-
tierten formen des part. praet.
Höland {Holland) beruht auf anlehnung an hol {hohl)] fl
(so heisst die eile in alem. und fränk. dialekten) gebt auf eine
form ele zurück; dagegen rldixyo aus einböge.
§ 57. Eine scheinbare ausnähme von der an die spitze
des vorigen § gestellten regel machen viele Wörter mit ein-
fachem h, welche debnung nicht eintreten lassen: grop, groivr,
grotri {groh)\ sdup plur. sduive {stuhe)] hnvd {hebe)i); syw9
{siehe)})] on-9 {oben)] gatrl {gäbet}] gauvl {giebel)] ncetrl [nebel):
yivl {ilbel); bynl {bibel)] grytiid {grübelii)] hon'l {hohel)] gneivl-
bärt {knebelbar t)] dsywl {ztviebel)] dsawl9 < zabelen {zappeln);
harrr {hafer)] awr {aber); dsnwr {zubcr)] ywr {über)] ir/rr
{eber)] überhaupt die meisten Wörter auf -bei und -ber.
grop, growi und sdup sdun-9 erklären sich wol als Verall-
gemeinerung der quantität der untlectiertcn form, indem bei
Stube das e abtiel, bevor die dehuung eintrat.
IG*
230 HEIMBURGER
Die übrigen l)eispiele finden ihre erklärung darin, dass
ursprünglich doppelfornien mit kürze und länge entstanden, je
uaehdem die endungen -en, -ei, -er ihr vocalisches elemeut be-
wahrten oder nicht (cf. Paul, Beitr. IX, 114ft".), und dass diese
doppelheit dann durch ausgleichung beseitigt wurde.
Von Wörtern mit g haben kürze bewahrt diejenigen auf
-igel: rgl (ige/), rogl {rlegel), sdre^l {strieget). Alle anderen
haben ihren voeal gedehnt.
Ferner ist kürze erhalten in injdr {wieder) und odr {oder).
§ 58. Die Wörter mit m oder n haben zwar teilweise
dehnung erfahren: an {an)] fand masc. {/"ahne); hf/n (hin); yn9
{Ihnen); da-ne (dat. plur. zu der)\ gräm, grditnd etc. In den
meisten fällen ist al)er kürze erhalten: hami {hammel); kamr;
bra-m {bremse); namd {name)\ nceind {nelnnen)] kemd {schämen)]
lam {lahm)] dsam {zahm)] hyml {hhnmel)] ym {Umi)] frem {wem)]
ram fem. {der rahmen), trams {einrahmen); ivend {jven): hier
kann die kürze auch auf angleichung an den dat. wan be-
ruhen; fiwii {honig)] kyni {könig) neben fremdwörtlichem kenik]
sbanis {spanisch).
§ 59. Vor t ist last durchweg kürze erhalten: bad9
{nützen) < mhd. baten] bot < böte] frbodd {verboten)] jwdd
{jaeten)] drwdd {treten)] bwdd {beten); gnwd3 {kneten); fadr
{vater); kudl {darni)] grot {kröte).
Eine ausnähme machen bloss: glmdsro {klettern)] snädoro
{schnattern)] Öddnd {Ottenheim)] — g^iödJ {knoten) kann auf
die nebenform mit d mhd. knode, ahd. chnodo zurückgehen.
§ 60. Sehr auffallend ist die dehnung in folgenden fällen:
scek < mhd. schecke] drosdl {drossel) < mhd. drostel; grd'ds
< mhd. kretze, wobei auch die Vertretung des mhd. e durch
ce unerklärt bleibt; was < waz] sa'nfsl {brennessel) < mhd.
nez,2,el: hier liegt vielleicht rein lautliehe analogie nal esl
{asinus) vor.
§ Ol. Dehnung hat auch stattgefunden vor m {mm) <
mhd. mb: ymds < mhd. imfnz; ytn {hiene) = mhd. ymbe; grüm
{krumm) < mhd. krump, aber grumholds {wagncr)] kämd {kämm
eines vogels) < kambe. Dagegen ist kürze erhalten in: dum
= mhd. tump] dsymrman, dsymdrd < mhd. zimber-] um ==
mhd. umbe] sdum. Es müssen also wol doppelformen bestan-
MUNDART VON OTTENHEIM. 231
deu luibcu: dump — düiMs, griunp — yrümas, welche durch
ausgleich nach verschiedener richtung beseitigt wurden.
um erklärt sich als eutwickelung unter proklisc.
Bei dsynidro^ dsijmrman kunimt die entwickluug der silbe
-er (r) in betracht (cf. § 57).
§ 62. Dehnung ist ferner eingetreten vor der lautgruppe
ht (chf): rd'cht {recht); njchde (richten)] gnjcht {gericht, ge-
richtet); ffijcht; sucht] sijchdr {schüchtern)] yslächt; gslcccht
{geschlecht)] nacht; wacht; rvächdl {wachtet)] acht] f(echd9 {fech-
ten)] sldicht {schlecht); sccchdsi {sechzehn), sd'chdsik] gsycht
{geschichte)] gwycht] dochdr {lochter); mccht {möchte); dsücht
{zucht)] frücht {getreide); füchdld {fuchteln) etc. Dagegen ist
dehnung unterblieben in: hecht < hechet; jacht {Jagd) und in
deu fremdwörtern: bracht {pracht), hra'chdik] pacht und cccht
{echt) neben cccht. Man vergleiche hierzu § 54, 1.
§ 63. Besonders zu betrachten sind nun noch die r-ver-
bindungen.
a) Beispiele mit rt {rd).
Dehnung hat stattgehabt in: swdrt {schwarte)] ärt] hart]
gdrd9 {garten)] kärt {karte)] mdrdr] ward? {warten)] tvdrls {ohr-
feige)] Luidhdrt {bergname)] gfrf (gerte)] hd'rt {herd und hcrde)\
ird'rdi (n-erktag)] wd'rt (wert)] hyrt (hirfe)] yrdo {irden)] ort
neben häufigerem ort] gürt, gyrdd {gürten)] hurt {hürde)] tdrt
(torte).
Diesen stehen mit erhaltener kürze gegenüber: Mardln
neben Mdrdi {Martin)] hrrt {hart)] drrt {dort)] mrrdl {mörtel)]
-hart als zweiter teil von eigennamen wie: Alba'rt, Robart]
Bardd {Uertha), Dccrtold] wart] fordl {vorteil)] mort] bordo {hor-
ten)] gehurt] fürt {fort)] wurt {er wird).
b) Beispiele mit rz.
Dehnung weisen auf: hdrds, wdrdsl {warte)] krrdsjgrdt
{kerzengerade)] sniyrds9 {schmerzen)] hyrdsl {hürzel)] hyrdsl»
{purzeln)] sdyrdsd {stürzen)] wnrdsl] furds, fürdsO] kürds neben
kurds.
Dagegen ist kürze erhalten in: sn-ards] hards {herz)]
snifcrds {schmerz, trotz s?nyrds9!)] sbyrds (eigenname); Kyrdsl
{A'ürzell, namc eines dorfcs, welches aber von seinen eigenen
bewohuorn hyrdsl gesprochen wird).
232 HEIMBURGER
c) Beispiele mit rs (rs).
Gedehnt erscheiueu: a;\v; farss mase. {die ferse)] fcers
{vers)\ Urs {Ursuld)\ — kürze haben bewahrt: bars {groh)\
b^rsi {der barsch)] mars\ mors] lujrs.
d) Beispiele mit rst.
Dehnung- liegt vor in: gcbrsl {g erste)] fijrst {dachfirsl)]
bf/rsds {bürsten)^ bijrsl] dürsl] wnrsl] bürsl {bursche)] Hürsllach
(gewauuname); Jlyrsdr (eigeuname). Kürze haben bloss: f^rsdr
{förster) und fijrst {fürst) bewahrt, welche aber wol beide als
fremdwörter zu betrachten sind.
Man sieht: unter a) b) und c) finden sich sowol bei-
spiele für dehuung als solche für erhaltung der kürze.
Es ist also auch hier eine doppelte entwickelung anzu-
nehmen, indem die flectierten formen den vocal dehnten, die
unfiectierten kürze beibehielten, eine doppelheit, die später
durch Stammausgleichung wider beseitigt wurde. —
Bemerkenswert ist, dass die isolierten formen d^rt {dort)
und fürt {fort) übereinstimmend kürze bewahrt haben. — Wo
noch schwanken herrscht (z. b.: kurds — kürds), ist dies
schwerlich auf erhaltung der alten doppelheit zurückzuführen,
sondern eher dem einfiuss der schule zuzuschreiben. Es zieht
auch durchweg die ältere generation die länge, die j üngere die
kürze vor.
Ob auch in den unter d) angeführten fällen ursprünglich
doppelentwickelung bestand und nur zufällig durch stamm-
ausgleichung nach derselben richtung durchweg zu guusten
der länge beseitigt wurde, mag dahingestellt bleiben; doch
macht die analogie der übrigen fälle es wahrscheinlich.
§ 64. Von Wörtern mit /•/ haben dehnung erfahren: Karl]
frl {erle); fori {fahre)] — dagegen haben kürze bewahrt: kccrl
{kerl); Kyrl {Quirin). Hier scheint also in der unfiectierten
form länge eingetreten zu sein mit entwickelung eines svara-
bhaktivocals zwischen ;• und /, während in den flectierten
formen beides unterblieb.
§ 65. Vor rg ist länge entstanden in äri {arg); überall
sonst liegt kürze vor: ^rjr {der ärger und comparat. zu arg)]
burjr {hürger). Hier ist also die alte doppelentwicklung noch
erkennbar in äri — pyr.
MUNDART VON OTTENHEIM. 233
Id allen andern fällen ist sie zu guusten der formen mit
erhaltener kürze getilgt worden.
§ 66. Vor den anderen /--Verbindungen ist durchweg kürze
erhalten: Ba'r'p {Barbara)] rr-'p {erbe), ip'tr9 (erben); dor'f\ sarY,
spYf, myr^p (fnürbe); far^p, ftcnvd {färben)] sdwriid {sterben)]
dc^rfd {dürfen); (cru-Jl {arbeit)] nucr'k {markt)] b^dsyr'k {bezirk)]
sdor'k {storch)] arm, p'mr] sdurm] fcern {voriges Jahr)] körn]
dorn] karb9 {karpfen)] ar'ch (arche)] kyj-'ch {kirche)] hiar'chlJ
{schnarchen)] hor'chd {horchen). Sogar Verkürzung liegt vor
in Ip-'ch {lerche).
Svarabhakti.
§ 67. Gewisse ;-- und /-Verbindungen haben entwickelung
eines vocals aus dem Sonorlaute r oder / hervorgebracht. So
tritt zwischen Ich, ly, Ik] rch, ry, rk ein parasitisches / auf:
kcl'ch] myl'ch {milch)] dol'ch] mwl'yd {melkeii)] baPyd {balken)]
foPk {volk)] fal'k; sal'k {Schalk, nur als eigenname gebräuch-
lich); fvccl'k {welk)] — dur'ch] bfp'*ch {pferch)] dstvar'ch {quer);
kyr'ch] or'gl {orgel)] bar^k {verschnittenes männliches schn-ein)]
mcer'k {?narkt)] /vcer^k {werk); sdor'k {storch); dswcer'k {zwerg).
Wo rg im auslaut stand, ist nach entwickelung des para-
sitischen i das g weggefallen: äri {arg)] bceri (bcry).
Als svarabhakti-/ ist wol auch anzusehen das i in mansch und
myn'ch {manch), rl entwickelt nach langem vocal svarabhakti,
indem / silbebildend wird, nach kurzem nicht: Karl] erl —
aber ka^rl] Kyrl (cf. § 64).
Zwischen // und rp entwickelt sich ein parasitisches d:
el'f] dsweVf] far^ji {färbe); tnijr^p {mürbe); el)enso in sanfft
{senf).
Doch ist dieses d lange nicht so deutlich wahrnehmbar,
wie das oben erwähnte parasitische /.
Alle diese svarabhakti-erscheinungcu sind übrigens unter
dem einfluss der schule im verschwinden begriffen.
B. Consonanten.
Explosivlaute.
§ 68. Mhd. b erscheint im anlaut als b: bäbst] bachJ
{backen)] bwri {berg)] bedi {beide)] byndJ] bot {böte)] bio {bube)]
bludt {blut)] buds<) {putzen) < mhd. butzen] byrdsl3 {purzeln)
234 HEIMBURGER
= mild, burzeln^ burzen] — nur das b der vorsilbe be- ist mit
einem die Stammsilbe anlautenden h zu p versclimolzen (cf.
§ 19): pakld {behallen); pcelfe {hehelfen)\ umpolfd {imbe1iolfen)\
pylfVi {behülfUch).
Auslautendes oder in den auslaut tretendes b erscheint
als p: kalp\ hap {habe)] (jrusp {grübe)] sip {scheibe). Abfall
eines in den auslaut tretenden b liegt vor in bud {hübe) und
7'ä {herab) < -abe.
Vielleicht erklärt sich das so, dass man formen wie
*buep — budwd, ap — '^-äwd neben einander hatte; dass das
w dann auf analogischem wege auch in die erstgenannten
formen eindrang und dann, als im auslaut, abfiel. Aehnlich
erklärt sich auch gy statt '^gyp {ich gebe).
Inlautend ist b zwischen zwei vocalen oder nach /_, r vor
vocal zu TV geworden: öjvd {abend)] otvd {oben); hcwd {heben)]
gluwd {klauben)] glaiwd {glauben)] gawl {gäbet)] gcewl {giebel)\
gnowlaich < knobelauch] budivd plur. zu bud {bube)] sdurve
plur. zu sdup {stube)] dsawld < zabeln {zappehi)\ balwydrd {bar-
bieren)] sahvd {salben)] halrvr {halber)] kdrvr plur. zu kalp]
dcebvd {graben) < tülben] hawr {hafer)] mrivdt {arbeit)] frdcerwd
{perire)] frdi^rwd {perdere)\ swrwd {scherbe)] Bcerrvl deminut.
zu ßcerp {Barbara). Einem mhd. traben entspricht drabd ^ als
ob '^'trappen zu gründe läge.
mb ist (lautgesetzlich wul nur im inlaut) zu m geworden:
eimr < eimber] dsymr < zimber] Muni] dum] ymds < imbiz;
ym < imbc] blomrdJ < brämberc mit auffälliger Verkürzung
des vorhergehenden vocals.
§ 69. Mhd.j9 erscheint vor consonanten stets als b^ daher
natürlich auch pf als bf: bfol {pfal)] bfund] bfrdsri {pate) mhd.
pfetter < patrinus] bfluoi {p/lug)] syrbfd < schür pfeu] sdubfl
{stoppet)] sdabfl {treppe) < stapfei] bris {preis)] b^cesd {pressen)]
blöi {plage)] blads {platz).
Ebenso erscheint inlautendes p oder pp vor vocalen stets
als b: rabd plur. zu rap {rappe)] jobd < joppe\ lumbd plural
zu lump] grymbl {gerümpel)] symbl\ kabcbl {kapelle)] kabidl
{kapitel)] babi'r] bäbdg^i {papegei)] babl {pappet).
Anlautend vor vocalen entspricht einem mhd. p bald />,
bald p\ bclds {pelz)] bulfr {pulver)] babir] babl] barddis {para-
dies)] bandofl {pantoffel)] bcech {pech); bahnst {pinsel)] Baris
MÜNDART VON OTTENHEIM. 235
(Paris); badrö'n {palrone)\ basd {passen)] host nebeu post\ büß
[pu/fen)] bumbJ [pimpen); Böl {Pole)\ büdl {piidel)\ — dagegen:
Pedr {Peter); pedr (eine art jacke); pedrli {pelersUie)\ pcersöu]
pitr {pimis); pak] piwt {punki)\ palmsundi {palmsonntag)\ pwrld
{perlen)] pcensiomjdrd {pensionieren).
Worauf die Verschiedenheit der behandlung- dieser Wörter,
die ja alle fremdwörter sind, beruht, ist nicht ersichtlich.
Statt eines pf der nhd. Schriftsprache erscheint ein b
{<C pp) in hiübd {schnupfen)] karbd {karpfeii) nihd. karpfc und
karpe] dsobd {zupfen)] sdubd {stopfen)^ der ahd. nebenform
stoppon regelrecht entsprechend.
Andererseits erscheint mit bewahrung der echt hd. form
bf, wo die nhd. gemeiusprache ndd. einfluss erfahren hat, in:
bfybfis {der pips)] sdmmbfl {der Stempel); sdubß {stoppel)] grybf
{grippe); sobf {schuppen).
Auslautendes oder in den auslaut getretenes p crscliciut
als p: rap {rappe)] rüp {raupe)] kap] lump.
§ 70. Mhd. g ersclieint anlautend als g: gan {gang)] gen;
gel] gudt] gyft; gulds] gros] glyk {glück). — Das g der Vor-
silbe ge- ist nach ausstossung des e mit einem die Stammsilbe
anlautenden h oder k zu k verschmolzen: kalt {gehalt); kebl
{gehoben)] kcenk {gehenk); kungd {gehinkt); kaift {gekauft)] ka^nt
{gekannt)] kumd {geko?n?nen). Auffallenderweise erscheint J für
anlautendes g in Jybs {gips).
Inlautend vor vocalen ist g (ausgenommen die Verbindung
7ig) zu j {i) geworden: sd;j9 {sägen)] ep {eggen) < egen] ds(fi9
{zeigen)] fid {eigen)] gräjd {kragen)] fröjd < fragen] lüp masc.
{lüge)] iy9jd {lügen); wurp {würgen)] morjd {le matin), aber
morn {demain)] folp {folgen)] galjd {galgen); mrdsjr {metzger)]
sieis (sense) < sögense] — mit vorhergehendem i (nicht y) der
mundart ist dieses j zu i verschmolzen: dsid {zeuge) < ziuge,
aber frswyp {verschwiegen).
Vor der silbe -el (/) ist g in der regel erhalten: kegl] lögl
< läget] sbydgl {spiegel)] btvr'gl dcmin. zu ba-ri {berg)] gur'gl]
or'gl; wägt {wiege).
Dagegen ist es zu g geworden in den Wörtern auf -iget:
?Z^> '>'?P und sdregl. Eine abweichende eutwickcluug scheint
auch der lautgrup])e -w/el zuzukommen; wenigstens haben be-
nachbarte dialckte für das cinziffc hier iu betracht kommende
236 HEIMBURGER
wort kugel die form koU (mit silbebildeudem /). Die Otten-
heimer muudart selbst hat allerdings kiCgl, welches sich aber
auch schon durch das ü an stelle von mhd. u als fremdwort
erweist. Fremdwort ist jedenfalls auch sbar'chl {spargel).
Vor consonaut ist inlautend <j erhalten: fogt < vogt\ gs-
hredigt {gepredigt) \ Hügswir {Hugsrveier). Formen wie jäit {er
jagf)\ nfif {regt), sdtf (steigt) gehen entweder auf Jaget, reget
zurück oder sie beruhen auf analogie nach anderen verbal-
formen.
Auffallend ist tnäk {tnagd).
Die Verhältnisse des auslautenden (resp. in den auslaut
tretenden) g erscheinen durch analogische einwirkung verwirrt.
Lautgesetzlich scheint mir zu sein, dass auslautendes g nach
vocalen abfiel: slä {schlag und ich schlage)] drä {ich trage)-,
da {tag), aber däjdnächdl {tag- u. nachthlume)\ dswi {zweig)\ gl
{geige)] flu {fl^^o)\ dsü {zug); dsfi {zeige); ai {äuge); lu9 (luge);
gnud {genug). — Vielfach ist aber das aus g entstandene j
der flectierten formen auch in den nom, eingedrungen: häi
{hag)\ gläi {klage); hfUidi {pßig); budi {hug); gru9i {krug);
grydi {krieg und ki-üge)\ dröi {trog); blol {plage); woi {wage);
ci {egge); frcei {weg).
g ist als k erhalten in deik {tfig).
n erscheint an stelle von auslautendem g in: inän {ich
mag). Von einer lautlichen entwickelung kann da natürlich
keine rede sein. Das n ist auf analogischem wege (s. u. §81)
zunächst in den ausdruck /nä-ti-i {mag ich) eingedrungen, dann
als zum stamme gehörig betrachtet und auf die übrigen for-
men übertragen worden, so dass es jetzt heisst: i man, du
7näns, (er man {ich mag, du magst, er mag).
Nach r ist auslautendes g abgefallen mit hinterlassung
eines svarabhakti-/: ari {arg); bceri {berg); sor>. {sorge); byri
{bürge); J^ri {Georg).
Nach / ist es als k erhalten: bal'k {balg), ng ist sowol
in- als auslautend zum gutturalen nasal n geworden: anl
{a,ngel); cen {eng); syne {singeii); ryn {facilis und annulus); dsua;
dyn {ding).
§ 71. Es erübrigt nun noch eine bemerkung über das
Suffix -ig, mit welchem -lieh zusammengefallen ist. Im aus-
laut wurden diese beiden suffixe zu /: kyjii {könig)\ himi
MUNDART VON OTIENHEIM. 237
(honiff)] dsidi {zeit ig, reif); f(}ri {fertig)] sivli {verstorben);
weni {/renig); seli {sehr) < sölich; n-i^'idli {hurtig); frili {freilich).
In den flectlerten formen mit consonantischer eudung-
musste das g eibalten bleiben: s kijnigs {des königs).
Von da aus drang das g dann aueb in die andern llee-
tierten formen ein, so dass es jetzt beisst: ce dsidigr ebfl {ein
reifer apfel), wundrligi li( {wunder/iche leute).
Endlieb wurde dieses g dann aucb auf die unflectierte
form übertragen, wo es, als im auslaut stebend, zu k wurde,
so dass nun eine form auf -ik neben die lautgesetzlicbe auf
-i trat oder aucb diese ganz verdrängte: lifdik neben ledi
{ledig); Iwwik {lebendig); gijnsdik neben gynsdi {günstig); nagik
{nackt); nidik {zornig); wy3dik {tritt end); rydwik {ruhig); wundrUk
neben wundrti; grceslik {grässlich); manyJrlik (ordentlich, von
guten jnanieren).
Vollständig durcbgedrungeu ist -ik in den zebuerzablen:
dswansik, drisik etc.
An diese adjective auf -ig bat sieb äri {arg) angescblossen,
daber die flectierteu formen lauten: ärigr, drigi, drigs; aber
der comparativ lautgesetzlicb: <^'rjr.
§ 72. Mbd. k erscbeint anlautend vor vocalen als k: kalp;
kcelr {keller); kynt (kind); k^ip < keibe (scbimpfwort); körn;
ki'Cm {kautn); dagegen baben g die französiscben lebnwörtcr
gäwaldrl [kavallerie), gdwal {kavallerist), gügük {kuckuck). Vor
/, /•, n ist anlautendes k zu g geworden; ebenso erscbeint qu
als gw. gliCrve {klauben); gluddrd < klütern; ghfin < klein;
gmtcht < kni'cht; gnobf; gryQsd {kirschen); grids {kreuz); grüm
< krump; gwcel {quelle); grvamdl {quintche?i, gewidü).
Inlautend k und ck erscbeint als g: högd = haken; agr <
acker; hagd < hacken; angd < anke; angr < anker; dryngd
{trinken); dungl {dunkel); sungd {schinken); wagd < wackc;
hal'gd {balken); wmVgd {welken); m^r'gd {merken); dyr'gis
{türkisch).
Auslautendes oder in den auslaut tretendes k ist als k
erbalten: ka^k {keck); flyk {flügge); kal*k {kalk); mcerik {markt);
Byr'k {Türke); sdor'k {storch); bank masc. {die bank); drank;
dank; rvynk; — in zwei fällen ist auslautendes nk durcb u ver-
treten: ran {rank), daneben ein plur. ra^nk; sau {ausschank,
büßet); vielleicbt liegen liier nebenformen mit ng zu gründe.
238 HEIMBÜRGER
§ 73. Mild, d crsclieiut auch iu der mundart durchweg
als d\ uur wo es iu den auslaut trat, ist es zu / geworden:
ret (rede)] grdi {gerade) etc.
Auffälligerweise ist inlautendes d in allen formen des
verbums wwrd {werden) geschwunden.
Anlautendes d ist — wol unter satzphonetischen einfliissen
— getilgt worden bei der conjunction as {das).
Auslautendes d ist geschwunden in hal {bald)] hmn {hemd),
aber plur. ha'mdr] öivd {ahend)\ syn {sind); mäk {tnagd); un
{und), welche form übrigens auch schon ahd. belegbar ist (cf.
Braune, Ahd. gr. § 126 a. 4); Dydn'l {Diehold). Durch assimi-
lation au den folgenden labial ist d zu h geworden in mumhfl
{mundvoll) und ha?nhß {handvoll).
§74. Mhd. / oder tt ist überall, ausser wo es im aus-
länd steht, zu d geworden, also vollständig mit mhd. d zu-
sammengefallen: da {lag)] dal {lal}] draim {träum)] drei {treu
und drei)] dcelwd < tölben] frdbrd < verloren] ridd < rlten]
rcdd < retten] ödm < atem] fadr < vater] grefdik {kräftig)]
{kräftig)] kads {katze).
Nur in fremdwörtern findet sich t anlautend vor vocalen:
Idrok und tarök] sogar tirccgdr {director).
Geschwunden ist mhd. t (zum teil durch assimilation) in:
grügärdd {krautgarten)] ma'r^k {markt)] hasdr {bastard)] ga^l
{gell, nicht tvar'i)] 7iigs {tiichts)] frdlydchd {lichten)] fcchd {fürch-
ten)] brccdsl {brezel) < hrezitella: im benachbarten Elsass heisst
es brcedsdaU.
Ferner in ys {er ist) und allen 2. sing.: glaibs {glaubst)]
tv^is {du weist)] duds {tust)] fynds {findest)] los {du lässt)] sdos
{du stossest)] muds {du jnusst). In den letzten fällen war der
grund des Schwundes wol der, dass das sprachbewusstsein die
lautcomplexe glaihsdü'^ {glaubst du), w^'isdü'^ {weisst du) folgender-
massen trennte: glaibs — di'f, w^is — dif und sich so eine
endung der 2. sg. 5 statt st construierte: also gerade das gegen-
teil von jener analogiebildung, durch welche die endung st für
ursprüngliches s zu stände kam.
In vielen fällen ist ein anscheinend unbegründetes t (d)
angetreten: andrst {anders)] gesdrt {gestern)] na^st {närrisch)]
not {nahe)] soiu'ft {senf)] bürsl {bursche)] gansrt {gänser ich)]
MUNDART VON OTTENHEIM. 239
licht (leiche); dsilt (zeile); disit rieben dlsl {deichsei): unsdli
(unschliU); andrialp: blomrdd {hrombeeren); ncewdds {beiseite')]
frdl^idd {verleiden): frdlydchd {licht eii)\ frdlaifd {entlaufen),
aber sych frlaifd {irre gehen): frdlend {entlehnen)] frduuwld
{entbehren)] frdsld {scheu fverdoi, von pferdeu).
In den angeführten verbalcompositis mit ver- halte ich
das t {d) entschieden für den Überrest der vorsilbe ent {frdlaifo
< ver-ent-loufen) , eine erklärung, die schon Winteler (Ker.
mundart p. 48) aufstellt. Die von Winteler als eljenfalls mög-
lich angedeutete erklärung, das t sei 'bloss ein phonetisches
einschiebsei ' d. h. doch wol lautgesetzlicher übergangslaut
zwischen r und / scheint mir unzulässig, da zahlreiche bei-
spiele widersprechen, U efse > wccfds, lefse > Icefds ist wol
lautgesetzlich. Abweichend von der nhd. Schriftsprache neh-
men ein solches / nicht an: cern {ernte); ays {axt); ij9md
{jemand).
Reibelaute.
§ TT). 2, und s sind vollständig in der tonlosen spirans s
zusammengefallen, s in den lautgruppen sJ, sm, sw, rs ist wie
in der nhd. gemeinsprache zu .v geworden; ebenso das s in
sp {sb) und st, und zwar an-, in- und auslautend: slä < slac,
srvwr] smuds] llüghvlr {I/ugsweier)] Almdswlr {Almannsrreier)]
Urs (Ursula); bp-si {der barsch)] fcersd masc. {ferse)] fyrsi
{vorwärts); hyndrsi {rückwärts); sbyl {spiel); hasbl {haspel);
Kasbr {h'aspar); esp {espe)] Ilarmrsbach (üussname); Ilymlslxich
(eigenname); blösbaVk {b/asehaly); sdfin; nas' {ast); dr ledst
{der letzte)] öbst < obez] — aber feizet wird zu f^ist (nicht
f^'ist); ferner ist in allen 3. sg. ausser ;/,v (/.s7) das .s- als solches
erhalten geblieben: sdöst {stösst); lost {lässt); tv(^'ist {er weiss);
lyst {er liest) etc.
^A- ist zu sf/ geworden in dem fremd wort: dysgdrydro {dis-
kurrieren).
Eine ausnähme von der icgel rs > rs macht das fremd-
wort fd'rs {vers). Wol durch assimilation an das die nächst-
folgende silbc anlautende ,s- ist .v zu .v geworden in srrsanf
{sergeant).
Da durch die zweite lautverschiebung vielfach dop])el-
formmen mit zz und z entstanden, hat zuweilen die mundart
•240 HEIM BURG ER
ein s, wo die nlul. Schriftsprache z hat und umgekehrt: rvpis9
{der tveizen) — suds {der schuss).
§ 76. Mhd. / (= germ. ]>) und v (= germ. f) sind voll-
ständig zusammengefallen in dem tonlosen reibelaut /'. Ein hf
steht an stelle eines mhd. v in hße^gl {ßegel). Uebereinstim-
mend mit dem mhd. steht einem / der nhd, Schriftsprache ein
hf gegenüber in hflix^ {/laum) < pluma. Entsprechend dem
alten Wechsel zwischen h und f hat die mundart ein / gegen-
über einem 1) der gemeinsprache in six^fr {sauhei-), umgekehrt
ein aus b entstandenes ?v gegenüber einem / der Schriftsprache
in hawr {Jiafer).
§ 77. Mhd. ch ist im allgemeinen erhalten geblieben. Vor
s ist es, wie in der nhd. gemeinsprache, zum verschlusslaut
geworden: ogs (ochse); fugs {fuchs); wagsd {ivachseii)\ mit aus-
stossung des ^lautes in: jiCgsd {jauchzeii) < jiichezen\ nigs
{nichts). Wo Wechsel zwischen ch und h bestand, hat die
mundart oft ausgleichung in anderer richtung eintreten lassen
als die gemeinsprache: für {furche)] dtir und dur'ch; he ehr
{höher)] sych {sieh als ausruf der Verwunderung), aber sy
(imperativ zu sehen).
Liquiden.
§ 78. Mhd. / ist als solches erhalten.
Es ist in r übergegangen in dem fremdwort grysdydr
{klystier).
Geschwunden ist es unter einfluss der unbetontheit in as
{a/s, quam), durch assimilation in ?vyl {willsl) < wilt\ sot <
solle] wot < wolle (cf. dagegen gcel < güU., hal < balde § 73
und § 74).
Das l in mydld {die miltc) beruht natürlich auf augleichung
an das adj. mitlel.
§ 79. Mhd. r ist im allgemeinen r geblieben. Geschwun-
den ist es in ftfcho {fürchten), nccst {närrisch)] gasdik {garstig)]
masydrd {marschieren); dr fedrst {der vorderste)] auslautend
nach langem vocal in 7ntf {mehr), r ist zu / geworden in
blomrdd {brombeeren)] hahvydr.^ {barbieren)] kylp plur. kybvd <
kirchwihe, aber kyr'ch {kirche). Schon mhd. ist bekanntlich
auslautend nach langem vocal das r geschwunden oder er-
halten, je nachdem das folgende wort consonantisch oder
A
MUNDART VON OTTENHEIM. 241
vocalisch anlautete, so dass vielfach doppelformen entstanden.
Die mundait hat nun, im gegensatz zur Schriftsprache, die
form ohne r verallgemeinert in htjd {hier). Analogisch wider-
hergestellt ist das r in drgfjd {dagegen); drbi {dabei)] drfün
{davon); drdsu9 {dazu). Dagegen steht die form ohne r, wo
lautgesetzlich die form mit r stehen sollte, in hunda {hier
unten)] hoivd {hier oben); hüs {hier aussen); hyn-d {hier üben)]
hyn {hier innen)] dundd {da unten)] dowd {da oben)] düs;
dyn] dyrvd.
Der alte Wechsel zwischen r und s zeigt sich noch in
frydrd {frieren) — fryesl {das frieren, krankheit).
Der reduction des r nach s wurde schon oben (§21) ge-
dacht.
Nasale.
§80, Mhd. ^71 ist im allgemeinen geblieben: man; ncemd
{nehmen)] arm; ödm. Zu n geworden und dann abgefallen ist
es in bcese < besetne] budsd < buosem. Suffixvertauschuug liegt
wol vor in brosl < broseme.
Im auslaut der betonten silbe ist w geschwunden in b/Tü'^
{flaum) < pflüme] aber bßum {p/laume).
§ 81. Mhd. n ist im anlaut stets geblieben. Inlautend ist
es geschwunden in betonter silbe in fufdse {fünfzehn), fufdsik
{fünfzig) — aber ftjnf {fünf), hanf] (•iftcldik {einfältig) —
aber ^inscbcht {einzeht)] — in unbetonter silbe in duds^f
{dutzend). —
Es ist zu )} geworden in wansl {nanst); unsdli {tmschlitt)]
gsbd'nst {gespenst)] aber kiinst, brunst; ferner in: banrt {bann-
rvart, feldhüter).
Durch assimilation ist es zu m geworden in: eim < eineme]
hambß Qiandvoll)] mumß {mundvoll), ngn wurde zu w«, dieses
zu »: scejiesl < seng-nezzel {brennnessel); ebenso in latein.
fremdwörtern gn < mi {Mamms, eigenname) < «: rccnydre
{herrschen, von kränkelten). Auslautendes n in betonter silbe
ist abgefallen in ei {ein)] ni {hinein)] ww {mein) in attributiver
Verwendung, in praedicativer dagegen wim; ds(f {zehn), fufdsf
etc., nfi {nein)] su {schon) neben sun; ke [kein); gsy neben
gsyti; dagegen ist es erhalten in ran {schlank); grydn {grün)]
gfn [gehen)] iln-du9ch {teintuch)] Hn-s^'il; tnn {n-ein)] Rhi; an
242 HEIMBUR(iKR
[an); fun {von)\ xd^'/n; dswfn (zwei) etc. Es scheint mir hier
folgendes lautgesetz zu gelten: auslautendes n blieb erbalten,
wenn das folgende wort mit einem vocal oder einem dentalen
consonanten antieng; vor anderen consonanten fiel es ab.
Naturgemäss bildeten sich dann von den meisten Wörtern
doppelformen, von welchen im laufe der zeit in der regel die
eine über die andere den sieg davon trug, während nur in
wenig filllen beide sich erhielten. Zu / ist n geworden in
drygid {(rock?ien) < trückenen und Ktjrl {(Juiriri).
Das unbestimmte pronomen man lautet mr\ doch liegt hier
schwerlich eine lautliche entwickelung vor.
Häufig findet sich in der mundart ein auf analogie be-
ruhendes, sog. 'biatustilgendes' n (cf Paul, Principien der
si)rachgeschichte, - p. 97): bi-n-m {bei ihm), hl-n-ich {bei euch);
dsud-n-m {zu ihm)] wyd-n-i {wie ich)] ?trl)-n-i {tro ich)] gtj-n-fns
{gib es ihfn); hierher gehiht auch das mittelst der aleitungs-
silbe -ig gebildete adjectiv sMük {solch) zu so.
Fest geworden ist das n in mä-n-i {mag ich) (cf. § 70).
Falsch abgeteilt hat man in (cn ust {ein ast), so dass jetzt das
wort lautet: dr nast {der ast).
§ 82. Mhd. w ist anlautend erhalten.
Inlautend vor vocal ist es mit vorhergehendem ü zu oi,
mit vorhergehendem iu zu ei verschmolzen, nach anderen
vocalen und r als w erhalten: boid {bauen)] droi9 (jfvmen)] koi9
[kauen)] nei {neu) < niu?re; ci<)r < iuwer; — e?t>ik] len-d
{löiven)] rydnik {ruhig)\ sluerwr {sperber)] narwd {narben)] fcerwd
{färben)] gcerwd {gerben). Swalrve, swalwen > stvalm, swalme
beruht wol auf veralllgemeinerung des cas. obl. mit Verschmel-
zung des m -\- n zu m.
Inlautend vor consonant ist 7v zu b geworden: oirbs {crhse)]
fwrbt {er färbt)] geerbt {gegerbt).
Wo w in den auslaut trat, wurde es nach mhd. ä und uo
zu i (wol durch die mittelstufe u hindurch): blbi {blau)] groi
{grau)] gldi {klaue)] löi {lau); rudi {ruhe).
Zu p ist es geworden in nar^p {narbe)] far^p {färbe)]
myr'i) {mürbe)] goir'p {ich gerbe)] ferner erscheint für aus-
lautendes 7r ein ]) in: Icp {lötve); wydcp {rvilwe).
Ob das p in lep lautgesetzlich ist, mag dahin gestellt
bleiben; möglich wäre auch, dass das w nach e abfiel und
MUNDART VON OT'I ENIIEIM. 243
(las f) aiialogiseli antrat, iiuleni man zu dem plur. hf^tvd eioen
sing. Ifp bildete, wie mau zum pluial rcbrv^ {reben) einen sing.
rcep, zum plur. gowd {gaben) einen sing, göp hatte. Wydi'p ist
wahrscheinlich iVemdwort; es wird auch nur im amtlichen stil
augewendet; das Nolkstiimliche wort ist wijdfral. tw ist durch
assimilation zu // geworden in ehr < eterver, ebs < etewaz.
Als iU)ergangslaut hat sich //• entwickelt in Uuvls {Luise)
und Eddwurt {Eduard).
Anmerkung. Es sei hier bemerkt, dass zwar nicht in der
Ottenheimer, aber in einigen benachbarten mundarten aucli ein Miiatus-
tilgendes' tv (analog dem oben behandelten 'hiatus- tilgenden' ») vor-
kommt; es heisst da: sj)-jv-icli {sehe ich):, gc-iv-ich (gehe ich). Muster
war vielleicht: ich ha {habe) — haw-ich\ ich gij (gebe) — ggw-ich. Dass
in sg-iv-ich noch ein Überrest des alten w des verb. sehen erhalten sein
sollte, ist wol nicht anzunehmen.
§ 83. Mhd. j ist stets geblieben, auch da, wo es im nhd.
ausgefallen ist: iuejd {bähen); drd'jd {drehen); n&jd {nähen);
gnvjd {krähen); brydjd {brühen); mydi {fnühe); frydi {frühe).
§84. Die aftVicata z ist in der mundart durchweg als <?a-
erhalten.
Iz und Is sind zusammengefallen, ebenso nz und ns\
zwischen / und s ist ein leiser iibergangslaut d hörbar;
zwischen n und s nicht: hohls {holz); sdolds {slolz); halds
{htils); - gans {ganz m\A gans); Frans {Franz), cht ist durch
die mittelstufe chs zu gs geworden in jugsd <.ßichezen.
Unbetonte silben.
Es erübrigt noch eine besj)recliung der eiitwickclung un-
betonter Silben, soweit sie nicht im vorhergehenden gelegent-
lich berührt wurde.
1. Vortonsilben.
§ 85. liier kommen hauj)tsächlich die praefixe vor-, ge-,
und he- in betracht.
ver- ist durchweg zu fr geworden, ge- ist vor dentalen
und labialen explosivlauten als gd- erhalten: gdbodd {geboten);
gapa'k {gepäck)\ gdpalda part. i)]-aet. zu paldo {hehallen); gd-
dangD {gedanke); giidan.^ igedangen); g.^danst {getanzt); g9dsclt
{gezählt).
Mit stammanlautendein k und // verschmilzt es zu /,, mit
Beiträge zur geachiolite der deutschen Hpraclie. Xlil. 17
244 HEIMBURGER
g zu g\ kumd {<jekommen)\ kaldd {gehaläe)i)\ kel {gehabt); grc'^s
< (gekröse), glifbi {geklaubt), weil k vor r oder / zu g wird;
gau9 {gegangen); — vor allen anderen lauten wird es zu g:
galdrt {gealtert); gfnndd {gefunden); gjäit [gejagt); glcejd {ge-
legen); gmach {gemach, langsani); gyicem {genehm); grut {ge-
rade); gsa73 {gesang); grvund {geivonneii)\ be- ist als hd erhalten
vor allen explosivlauten und vor w, vielleicht auch vor /: bd-
boid {bebauen); bddegd {bedecken); bddrächdo {betrachten); ho-
dsäl9 {bezahlen); bdgcbra {begehren); bdgrviVm {bequem); hdkceno
{bekennen); bdrväro {bewahren).
Beispiele für /' sind: lidfgndd {Jjefinden) und bdfivld {be-
fehlen); doch sind dies keine recht volkstümlichen Wörter.
Beispiele für be- vor anlautendem p fehlen. —
Mit stammanlautendem h verschmilzt be- nach ausstossung
des e zu p: paldd {behalten); pyddd {behüten).
Vor allen anderen lauten wird be- zu Ir. lAld {beeilen);
bjort {bejahrt); blandrd {sehnsüchtig warten); hmi^isddrd {be-
meislern); bnedigd {henöthigen); trrychdd {/jerichten); bsa^digo
{beschädigen); bsbrcechd {besprechen); bsorj9 {besorgen); bsdeld
{bestellen).
Die Partikel zu (mhd. ze und zuo) verliert als adverbium
oder Vorsilbe in unbetonter Stellung* stets ihr vocalisches
Clement: dsäri {zu arg); dsbal {zu bald); dsfedrst {zu vor der st);
dsmöl {zumal., auf einmal); dscbmd {zusammen); dsruk {zurück);
dsdsärt {zu zaf^t).
Als Präposition hat das wort eine eigentümliche differen-
zierung erfahren: es lautet ds vor Ortsnamen, wo wir in der
gemeinsprache die präposition in gebrauchen, sonst überall
dsu9; ds Lör (in Lahr), ds Frcibur^k {in Freiburg); ds Bäsl;
ds Kudbach {in Kuhbach); ds (tddnd {in Ottenheim); vor s wird
das s von ds natürlich durch assimilation getilgt: d slrosbur'k
{i7i Strassburg); — dsudin fadr {zum vater); dsud d9 kxjndr {zu
den kindern); dsud mijr {zu mir).
Von andern unbetonten Vorsilben seien angeführt: 9l^in
{allein); 9nandr {einander); dw(ck < enw'ec; nach analogie von
dwwk scheint dso neben so gebildet zu sein; rä {heralj); nuf
{hinauf) etc.
MUNDART VON OTTENIIEIM. 245
2. Nachtoiisilbeii.
a) Paenultima.
§ SO. Hinsiclitlicli der unbetonten paenultima steht die
niundart im allgemeinen auf dem stand})unkt der nlid. gemein-
sprache: knoheloiich > gnotvlaich, nhd. knoblauch; segense >
sceis nhd. sense; 0d9nd = Oitenheim; dddrd = eltern\ eldari
= ältere', chaydrd = *zacke7'n, pflügen (neubildung nach dsagr
färd '■zu acker fahren^); ^rj9rd {ärgern)^ eine abweichende be-
handlung erfäiirt die mlid. endung -elen nhd. ein: sie verliert
das erste e, bewahrt dagegen die endsilbe als 9: wcegsld =
)rechseln\ südld {sudeln)] mcdl9 {wedeln)] — feiner tindet sich
fortfall der paenultima gegenüber erhaltung derselben in der
nhd. Schriftsprache in rvonji- {weniger)] umgekehrt y/rdrik, hu-
n9rik = nhd. übrig, hungrig. Die endsilbe -e/, welche, wie
eben gezeigt, durch antritt einer flexionsendung ihr vocalisches
Clement verliert (cf. sMld^ ivcdld^ kugtd)^ bewahrt dasselbe
nach antritt der Verkleinerungssilbe -// (mhd. Im) als /; kigili
{kleine kugel)] eb/ili (kleiner apfet)] mpdili, deminut. zu ineidl
{mädchen): sifili {kleine schaufei).
b) Ultima.
§ 87. In der rcduction der ultima ist die niundart, wie
alle ihre oberdeutschen schwestermundarten, weiter gegangen als
die iilid. Schriftsprache.
Auslautendes e ist stets geschwunden, wo die Schrift-
sprache bald Schwund, bald erhaltung des e aufweist: bhom
{blume)] bled {blöde)] bcen < benne {wagenkorb)] cU {ahle)] smyf
{schmiede) < smilte] dir < tiure] Vir < llrc {leier)] h^r <
herre] ai < uuge: glaip {ich glaube)] sä {ich sage)] heim plur.
zu baim {laum). Scheinbare ausnahmen von dieser rcgel sind:
dijl9 inasc. (diele)] g(rd (schoss] fischerspiess)] gumbd < mhd.
gumpe] bbjd < mhd. böge] händ (hahn am fass)] kämd (kämm
eines vogels); Idm^ (keim)] mudsd masc. {Jacke) < mhd. mutze,
mutze] fungd < mhd. vunke] wambe masc. < mhd. diu tvampe:
meid {maibaum), aber 7nn (monat mai)] rifd (pruina)] irag.t
(grosser kicsel) < mhd. iracke] wcgd {weck)] sbmd < säme
(sameii)] wgdchd (dacht)] ^iso (geschwür) < mhd. ei: u. v. a.
Hier liegt überall analogische annähme der cndung o = mhd.
246 HEIMBURGER
nlid. -en vor. Mlul. -i ist als i erbalteu: gysdi (ffü/e); s-fni
{schönheit); brhii (bräune); siri {säure)\ gledi [glätte); keldi
(kälte); lyoivi (liehe) etc. Aüalogiseh übertragen ist dieses i
auf mödi (mode); slimnhi (schlempe).
Ebenfalls als / erhalten ist mbd. iu; also noni. sing. fem.
und nom. plur. der adjective und Zahlwörter: sfnl (schöne);
giiddi (gute); elddri (ältere), aber elddrd (elieni); sywdnl (sieben);
dseni (zehn); clfi (elf).
Die endungen -el und -er sind zu / und r geworden: ehfl
(dp fei); kifgl (kugel); siTfJ (schau fei); fadr (vaier); muddr
(mnlter); fynr (finger).
en und ebenso m in Stoffbezeichnungen ist zu d geworden:
7väjd (tragen); dfifrydd (zufrieden); kmnd (kommen); gnmnd (ge-
rvonnen); hyldsa (hölzern); yrdd (irden).
Die deniinutiv-endung -lin ist in der regel zu l geworden:
kchfl (köpfchefi); byDwl (hüblein); kyndl (kindlein); hernl (hörn-
chen); moinl (männchen); wtwl {weihcheyi) etc. In dreisilbigen
Wörtern aber, wo -Im den nebenton trug, ist es als -li er-
halten: kigili (kleine kugel); cemli (engelein); stfiU (kleine
schaufei); kcensdrli (kleiner schrank) < mhd. kenstetiin; by9-
frili demin, zu bydwl (büblein); wiwUi (kleines rveiblein). Da-
gegen hachsdceldsl (kleine bachstelze), höchdsidl (kleine hockzeit),
weil hier der nebenton nicht auf der endung liegt.
In Wörtern, welche auf vocal oder / endigen, ist -lin eben-
falls als -li erhalten, wobei das / natürlich mit stammaus-
lautendem / verschmilzt: kydli (kleine kuh); seili deminutiv zu
soi [sau); rfli (kleines reh); sdydli demin. zu sdudl (stuhl);
rvili (weilchen); fri^ili (kleine frau).
Die feminin-endung mhd. -inne und -%n, nhd. in ist als i
erhalten: jydi {Jüdin); biri (bäurin); wyrdi (wirtiJi); mylori
{/null er in).
Die endungen -ing und -7mg erscheinen ebenfalls als ?:
a'ndfii (engerling); bfyfrli (pfiff erling); sylli (Schilling, münze);
fydrli (vierling); wydsdli (mistling), hrydli (schreier, zu hrydl9,
hrüllen); horni (hornwig); fvedi < tvet lange; — aber Difalynd
(Dinglingen.! Ortsname), weil hier ein nebenton auf -ing liegt.
In unvolkstümlichen Wörtern ist auch die endung -ung als
solche erhalten.
Die ahd. endung -noii, welche mhd. als üete, ät etc. er-
MÜNDART VON UTTENHEIM. 247
scheint, lautet iu unserer nuindart <)l: hi^iuictt {lieimat)\ arnidt
(armut); nup-mdt {wertnut).
Der nhd. endung- bar entspricht br: wachhr {wachsani)\
nochbr {nachbar). -sam ist sm geworden: hifilsm\ bysm {bisam).
Die endung- -heit ist dt geworden in gwöndl {(/cwo/mheit);
ebenso arebeit > ccrwdt. Daneben viele nicht recht volkstüm-
liche Wörter mit erhaltenem -heit.
Die endung -heim in ortsnamen ist d geworden: Üddnd
{Ottenhei?n)] Misdnd {Meissenheim)\ Dundnd {DundenJieim) etc.
Weitere Verkürzungen unbetonter silben finden sich in:
7iymi < '*nimme {nicht mehr); mini {noch nicht); fasnt {fast-
nachl); hyn^cht < hinehte; kylp plur. kyiwd {kirchweih)] hwndsi
{handschuh); sundi, tnä'ndi, dsisdi etc. (namen der Wochentage);
wolfl {wohlfeil)] folds {vollends)] kyrbs {kürhis).
° Nicht soweit wie die gemeinsprache ist die mundart in
der Verkürzung gegangen in: hfyb/is {der pips).
Endlich sei noch bemerkt, dass in der 3. sing, praes. und
im schwachen part. praet. der verba mit stammauslautendem
d oder t, wo die nhd. Schriftsprache das unbetonte e analogisch
widerhergestellt hat, die mundart die lautgesetzlicheu verkürzten
formen aufweist: ret {er redet)] grct {geredet)] fynt {er findet);
bydt {er bietet)] bcet {er betet)] liit {lautet)] gliit {gelautet).
[Nachtrag. Zu § 37 und § 42 vgl. man den aufsatz von
Kräuter, Zs. fda. 21, 258 ff.: 'die schweizerisch -elsässischen
ei, öy, ou für alte i, rf, u\ auf welchen ich erst während des
druckes dieser abhaudlung aufmerksam gemacht wurde.]
FREIBURG. KARL HEIMBURGEK.
ZUR
KRITIK UND ERKLÄRUNG DES WINSBEKEN
UND DER WINSBEKIN.
Die fülgeuden Studien beschäftigen sich mit zwei lehr-
gedichten des mittelalteis, von denen das eine wegen seiner
poetischen Schönheit, die im einzelnen zu erörtern hier nicht
der platz ist, und seiner culturgeschichtlichen Wichtigkeit für
die erkenutnis der grundsätze ritterlicher moral in der blüte-
zeit des höfischen lebens unser volles Interesse in anspruch
nimmt und das andre, wenn auch an innerem poetischen werte
mit Jenem ersten nicht von ferne vergleichbar, doch auch
wegen seiner nahen formellen wie inhaltlichen verwantschaft
mit ihm der beachtung und Untersuchung wert scheint: Wins-
beke und Winsbekin. Zu einer neuen constituierung des textes
beider gedickte, die ich demnächst zu veranstalten gedenke,
sollen die betrachtuugen der folgenden capitel gewissermassen
den weg bahnen, indem sie einige Vorfragen der kritik und
erklärung behandeln. Nicht wertlos wird es erscheinen, dass
ich diesen Untersuchungen zuerst eine coUation einer von Haupt
für seine ausgäbe beider gedichte (Leipzig 1845) noch nicht
benutzten, wenn auch verhältnismässig jungen handschrift
vorausschicke.
1. Strophen des Winsbeken und der Winsbekin in
der Kolmarer handschrift.
Zu den handschriften, welche Haupt zu seider kritischen
herstellung des textes benutzte, kommt noch die Kolmarer
liederhaudschrift, nach mannigfachen Schicksalen jetzt im besitz
der königlich bayrischen hof- und Staatsbibliothek zu München
als deren cod. germ. 4997. Ueber die handschrift im allgemei-
nen hat Bartsch in der eiuleitung zu seiner ausgäbe der
LEITZMANN, ZU WINSBEKE UND WINSBEKIN. 249
meisterlieder (Stuttgart 1S62) gebandelt, woselbst sieb aueb
ein genaues iubaltsverzeiclinis derselben befindet. In dieser
bandscbrift nun (icb nenne sie im folgenden, da Haujjt den
bucbstaben K scbon an die Basler bandscbrift vergeben bat, k)
finden sieb an verschiedenen stellen Strophen des Winsbeken
und der Winsbekin, darunter manche doppelt und nicht ohne
discrepanzen. Bartsch hat in der erwähnten einleitung die
abweichenden lesarten dieser Strophen teils unvollständig, teils
nicht mit voller genauigkeit, teils endlich gar nicht angegeben
(vgl. Meisterl. s. 75. 82). Für das folgende Variantenverzeichnis,
in dem alle abweichuugen vom Hauptschen texte sich linden,
soweit sie nicht rein orthographischer oder dialektischer natur
sind, stand mir eine vollständige genaue abschrift der Strophen
zur Verfügung, die berr dr. H. Schnorr v. Carolsfeld in München
selbst für mich anzufertigen die freundlichkeit hatte, wofür ich
ihm auch an dieser stelle meinen herzlichen dank sage.
Blatt 728 a. Überschrift: in der grüss wijse dez lugenlha/f'tcn
schrijbers. Es folgen 48 strophen des Winsbeken. Varianten:
1 , 3 den tvoll er. \ sprach ijm nujn kinl du. ö alle arge lisl.
0 alz du selber. 8 myn lieber son daz isl. D ein andrer (oder
atiderr? ein bäkchen bedeutet in der bandscbrift bald er, bald
re). Zu dieser strophe eine melodie. — 2, 1 tnytinc ijnncclichen.
2 kan dirs. 4 du siehst \ gockel. 5 regen. 0 jungst sin. 8 stvlnde.
y vnd wer ich noch vil dienen. 10 daz ist. — 3,2 brendct.
3 dir auch also. 4 von tag zu tag von jar zu jar. 5 sinne
vor. 0 rieht diu leben vor hin so. 7 din sele. 8 nie; ist diu.
0 dann also. 10 vor. — 4, 3 ander leben. - 5 vil me wann.
6 tviltü nü heuffen. 8 vor. 10 daz dir vers Iahen icht werd. —
5, 1 fdle. 2 hercz vnd stjnne bedenken. 3 7ver hat. 9 in dinen.
10 lass. — (3,2 nujn sin. 4 hrijig es\ grüben. 5 dirr gen-in.
7 got soltü billich ern an ijn. 8 rvercke krimp. 9 den warten.
10 deji 7verckcn\ ald. — 7,2 trügen den paffen. 4 ich. 'o fürr.
6 sin mit dräufven holt. 10 lichnam. — 8, 1 dir füg\ byderb
N'ip. 2 7iach gotics lob. 3 han. 4 also stee. 6 dar gn. 7 /raz
/riltü wunne haben me. 8 beschicht in drem (mit spiritus asper
über dem //•) pflet. 9 im samen. — 9, 1 synniclichen trag.
3 diu tügent\ sag. 4 waz. 5 lass nit verhergen dich. 9 nerren
zwschen] tragen. 10 vnd daz ist iudas heübt geschieht. — 10,1
wer. 2 in »nit. 3 wer. 4 mit schäm vber den. 5 der gute.
250 LEITZMANN
7 fraircn allen ivole. 8 vud ist ir lieyneri ereu fnj. 0 do by.
10 ;///(/ ielilt; nonc. — 11,4 von Sünden. 0 ein /riinnenbernder.
ü vo)i dem. 7 czüchle noch der schäm. 9 einer sijn. — 12, 1 ein
nunnenberndcs. 3 em freüd der weite züuersichl. 4 /riss man.
5 hcyt. 7 l'oUicUch vnd breyl. ') beschü/f. 10 Hess vor enget.
— 13, 1 kansl nit yen^issen. 4 daz du yn gist din liebe zii.
5 vnd daz dir gute. 10 tnyn ge (rosten din. — 14,3 tass dir.
5 oder tatig. 7 ane tvang. 8 mit wirdefteit betagt. 9 dryack
da: eylcr. 10 dir leyl verjagt. — 15, 1 sag dir. 6 reyner
nnhe. 10 als ein wint. — 16,2 dii yn ir tobes czil. 3 vnd dien.
4 dester. G gegeben. 9 komet zu Ion. 10 wot ym der dar an
tigen sott. — 17,5 dir nit verhil. G der n-ette. 9 der vmb. —
18, 1 la^t\ leben. 3 so merck waz er dir freude git. 4 batde
folgen (am rande nachgetragen). 5 gramer vch. 7 in daz.
9 dir noch den selben. 10 ytn hercz und müt. — 19,3 gelrerv
dar zu kirn vnde siecht. 4 ist. 5 vor. 9 willü yn dann. 10
Vit bass. — 20, 3 erdenck. 4 vergalt. 5 doch swent ir myn
recht (ds der nalt. 7 mijn hat vil mangen. 8 verwegen. 10 fraw
selde\ dez segens. — 21, 1 gein. 2 senck vil schone. 3 pecht
(sie) als er sy. 4 tass an din ernst mit diner meyster schafft.
5 baz vnd ye bass\ dyne kr äfft. G zun. 8 oder. 9 güttes
rilters. 10 vff der säst. — 22,4 enweiss. 5 rechtem. 6 detn.
7 wunne me. 8 der giiten. 9 so ein. — 23, 2 vernym eben
tvaz ich lere dich. 4 aldarnach er. 5 rech] zu vil nit sprich.
6 mere zu. 7 von dem. 8 ö'/e orew. 9 smeicheleren. — 24, 2
vz deme anger. 3 677. G gezomet sie rechte dinen zorn. 10
verdienet. — 25, 2 danne eins. 4 munde hyn. 1 0 c?<^ lebest. —
26, 1 nit (über der zeile) wer zu blicke füge entnymet. 3 ge-
riben. 5 daz lieht gewählt daz ist. 6 daz hindan lilhtet cleydet
wol. 9 alsüs wolle dr legen sich. 10 dar vnder. — 27, 2
swellet. 3 düt auch. 4 sonder qüal. 5 seiden flüssig. 6 e^-
wenne. 7 yow ej/»je zwm andern alz. 9 w<Y sanffte] yme.
10 .s/ne. — 28,2 <?en wiften. 3 kiesent. 4 A-orw fehlt. 5 rfdr
/5^ hochgeborn. 7 erkorn fehlt. 8 c?gr ö//e 2^7 </er erm gert.
9 /ur rf«r */cÄ hell sonder. 10 vnrf ÄMre böser da ist dan
fernt. — 29, 1 ^o/. 2 a/6'o rfaz er yt lige obe. 3 benympt ez\
synne. 5 ^ü^ ist. G /iefter 2*^ danne '^ weme. 8 wew. 9. 10
(/^r verzihet sich der beider ee danne er auch daz eine ferlür.
— 30, 1 dine. 4 gehem\ daz ist. 8 wurff. 9 forhle. — 31, 1
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 251
fvnz. 'i zil aller. 4 würt diu lop diu wir de. 0 daz fehlt; der
argen hosen. 9 die in kranckem gemiUe. 10 sie von arl sint
geslachal. — ;>'2, 1 der fogel der ee danne zu rechter zyt.
2 syme. 3 seiher \ git /ilUcht. 4 zu cyme. 5 der rede. G des
an daz. 8 müslü lehen an eren lan. 9 dir fehlt. 10 du hellest
nie. — 33, 1 hahe. 2 daz la. 3 ner ye gerne. 9- dez\ alz.
10 einen dregen. — 34,5 wer. 8 sit dz die rede zn-eyget sich.
— 35, l wer\ selber. 2 getrilwez. 3 ferlüret] rede. 4 eyme\
dogendenden (s^ic). 5 wer] redet. 6 dz maus nil für gut enhal.
7 verlüret sitien wi/leti. 8 wz froüdes frünt. 9 er wil als selber
sturen. 10 rechte als in eine hach. — 36, 1 alle fehlt. 2 zil
der. 4 in deme. ö din drosl 7nyn drosl eine an mich konmi.
— 37, 3 syge. 0 ist fehlt. 7 deme] solUche. 9 ^«^^; oder
frome. 10 <fo A'«« er küme kamen von. — 39, 1 wort, b wider
nytd noch hass. 0 gegen\ hochgemut. — 40, 1 ho/j'arl. 1 ymc
süsse. 5 fehlt. 7 zür\ dort der bitter. 8 wer fünden in den
schänden wirf, vnd fert. 9 deme\ syme. — -41? 1 lange zit.
2 wer] hoffart. 3 im fehlt. 4 rfaz <?« verfellet. 6 ;TÄ/e fehlt.
7. 8 umgestellt. 8 Ä?er. — 42, 1 willü\ guol fehlt. 3 jungen
mannen. 5 ^-o/. 7 streben. 9 löuffel] wise. 10 kalzen. — 44, 1
//a?i i7/(!. 7 wanne ez ist grosse misset ad. 8 rför zu] fründez.
9 schlüss. 10 rf«i zünge. — 45, 1 beyde. 2 *g/t'M yo/. 3 jver.
5 wer. 7 m der. 8 //er a'o verlüret. — 50, 1 wer. 3 wanne
er hat schänden ane gesiget. 4 fehlt. 5 krüch er loch. ü. 7
umgestellt. 6 rft;.y /«a/< /67/ j/e ?nit willen gert. 8 worzelen.
9 eywe. 10 yow/. — 52, 1 zrvey ding eren. 5 daz edel gestein.
0 alz dünt war. 9 war. 10 schrencket hin. — 53,2 ge-
stercket mit. 5 wer. 7 yme. 8 verdienet. 10 rfot A/aw. —
55, 2 //• Strosse ir steige ger du nit. 4 wie gul geferte. 5 dich
ez ist. 6 wo. 7 yy(>/T. 10 befriden. — 56, 1 enwil\ me.
3 sin alles. 4 rechten allen dryn. 5 6?e//«t'. 9 dusent yiement
lere von.
Blatt 732 a. Überschrift: X\ liedcr in dem selben done.
Es folgen 15 Strophen des Winsbekeu. Varianten: 65, 1 din
hohen. 2. dinen. 4 des manc zweimal. 6 steten rüwen. 7 von
schulden. 8 daz ; myn lip gesondct. 9 ein phant. — 66, 1 here.
2 /'ervallen. 8 dogende. 9 schecher. 10 fehlt. — 67, 1 wi/u/art.
2 ywrf. 6 nü] der alter. 7 m sitie stricke mich. 10 rfe« mir.
— 68, 1 noch trostel mich gedinge wol. 2 daz] endnlich für
252 LEITZMANN
uar. o dien ich' 4 am Ion. Ü dwjemercker. 7 wircken. 10
m\jn Ion. — 09, 1 vnd. 2 vnd. 3 obe. 7 die rechter rüwe ye
helffe hat. — 70, 2 gebürl eins laycs. 4 würt. 5 da hat din
/rorheit nie gewalt. 7 daz ich ein teyl nie engalt. 10 grosser
schulde. — .71, 1 alle. 2 kein. 3 von oben abe biz iiff den
grünt. 4 • sigc. 5 dine. 0 verliunst. 8 2M büssen. 9 a'/ää/;
mynem. — 72, 2 mir nach. 3 /« wj/cä hie also lange, ö //^a'*.
7 rf//<c. 9. 10 umgestellt, 'd welle lebe. — 73,3 stärckem rüwen.
5 rf^r fehlt. 9 sie. 10 rfm fehlt. — 74,3 nmtnmen. 10 her-
barmhertzikeii. — 75, 2 f//^ nydert hoher t wen sie wil. 3 na-
bächodonisor. 4 /^e//^. 5 ho/farl. 9 ^/^m rfme/i z,orn den ich
verdient. 10 da her han do vor mich bewar. ■ — 76, 1 gesagen.
2 biss her. 4 swarem. 5 wcre ir. 0 wie; sonden enteylt.
7 /<'0?i(?/ in ir. 8 bekliebcn. 10 /a«/ /cÄ «?i; geschrieben. —
77, 2 /-tfc/i/ «/*• 6'/n sonder. 5 way /i<?nrf^ orf^r fiiss. 6 geregen'
dich fehlt. 8 yo?i hymel. — 78, 6 mich scre. 10 e/' dinen willen.
— SO, 3 lass ich. 4 vnd. 5 bi^iwet vnd. 7 /<«/< ^a. 9 eingeborn
son. 10 ziehen wollen.
Blatt SOO a. überschritt: rftv gelriuvcn muter lere in der
grnss wyse dcz tugoilhafflen schrybers. Es folgen 8 Strophen
der Winsbekiu. Varianten: 1, 2 zu ir] schon. 3 die ic. 4 ge-
heitiget'^ der liebe. 5 erst. 7 wyser lere. 8 ist des. 9 soln;
hohe fehlt; loben drum. — Vor 2: die locht er. 2, 1 volg\ liebe.
2 /o/y^M in so best ich, 4 seh tnit äugen. 5 6v';t lugend. 6 //•//
m sinen. 7 Ä-e/6 rfer erc«. 8 vnd'^ soln ir kint. Statt 9. 10:
eren vnd sie sie lern die in gehorsam sint. — 4, 1 nu rat lieb.
4 wall. 5 wil sin fro vnd fry. 0 Herwegen. 7 hoff'art vnd
eren auch der zwey. 9 welch fraw.^ knmpt. 10 sich dez ver-
slichtet. — 5, 2 vnd dar vnder in. 3 tvirl. 4 crancz von rosen
eben. 5 den ergern soll mit züchten geben. 6 lass in din
hercze schäm vnd mass. 7 hil/f aller vnzucht wyder sieben (sie).
8 so nvicht vermyden siele pin. 10 wo böse. — 6, 1 mass daz.
2 die fehlt; geben. 3 let sie gol leb in diner. 4 diner. 5 du
mach yn eren. 6 nu rat du liebe muter myn. 7 solicher ding
bin ich nit ivys. 8 wo.z wilder. 9 wie vnde wo ich mydcn sol.
10 mache nit. — 7,2 ho/f gewysel. 3 wo ein. 4 lar sie die
äuge fliehen hien. 5 also sie hab. 6 gesche. 7 ir lop mit
krancken gwin. 8 merclwr; vns gesicht. 9 zwing dine. 10 das
7iit ich kint vnd bittens dich. — 8, 1 muter dir sy vor war ge-
zu WINSbEKE UND WIN6BEKIN. 253
sagt. 2 nie dein ich hab. 3 die fratv mir nijinmcr ivul helutgt.
4 welch, ü her hebet recht alz. G vnd auch dar vnder lachent
vil. 7 die prysenl nit den yren gral. 8 ouch fehlt; vnfrauUch
müt. U) irr gebort vil dicke. — 9, 1 ivysc. 2 sint din.
3 werck. 5 nesl vogel. (3 der gijt den andern sich zu spil.
7 vnd wirt sin federn gm verzogen. 8 ein vss /lug der ist nit
zu loben. 9 kint dir mag auch also geschehen. 10 halt du dich
in der eren cloben.
Blatt 803 a. Überschrift: in der grüss ?vgse des sünes
aniwurt vff des vatters lere die er vor vnd nach hat getane dem
sone. Es folgen 11 Strophen des Winsbeken. Varianten: 57, 1
vetterlich. 5 die alte. 6 n-ol gemessen hohe. 7 die bitt ich sie
mich gutes man. 9 fnir dort wolle (getilgt: darob). 10 richc
darumbe (getilgt: müsse). — .")8, 1 ach vatler ich bin noch ein
kint. 2 doch sehen ich daz die weite birt. 3 ein gogel werck
ir freude sint. 4 recht alz ein kol verbrynnen wirt. 5 ein mist
ir trost ein vngenyst. 6 let\ frund in swercr hab. 7 ynnoi.
10 hab. — 59, 1 vater fehlt; ein alter; müde. 2 hab. 3 wer ie.
4 nahe leyten\ stab. 5 sich vatter da gruwet mir ab. 7 volgct
ZH dem grab. 9 wysheit ist vernichl. 10 selbes. — 00, 1 eim
wysen; schöne fehlt; zympl. 2 schon daz; tuo fehlt. 3 nympt.
4 da worde sust vil licht vermitten. 5 tvol alt. 0 er nit be-
kennet. 8 der toren. 9 lob. 10 biss ans ende. — 01,1 rr-
laub; ich zeln. 2 gein dir entsliessen gar. 3 es\ by mir ver-
heln. 4 vor. 5 leg. 0 selber. 7 in siner. 8 hab sol\ zeln.
9 vor. 10 hymel rieh. — 62, 1 die red. 2 reyncr. 3 frauw.
4 so vil von gotte. 7 vmb dich. 8 gelebt. 9 geben. — 6, 1
leb; hab. 3 nieman alt. (> cnruch dich. Im übrigen wie oben.
— 7, 1 sytt. 3 selber mit. 5 furebas. Im übrigen wie oben.
— 63, 1 7vas. 2 gein dysen. 3 si)it. 4 sund. 5 sag. 0 keuff'en.
9 wirt. 10 williclich gegeben. — Hierauf eine stroi)lic, die allen
andern handschriften fehlt:
Nu sag an luynii ich frage dich
wie stet diu hiilV vnd diu gewalt
sie sint verdorben duneket mich
vnd sint auch nit alz ee gestait
sie jehent du seist ein teil zu bald,
nu schäm dich durch die reine wyp.
daz vnverswendet stet der walt
254 LEITZMANN
diu schappel dir vncbeu stat
daz hat gemacht ein nuwer walt
daz gut weyss got nu vor uch gat.
Bartsch hat diese str()i)he (Meisterl. s. 82) in correctem mhd.
hergestellt, gibt jedoch in zciic 0 statt wall site, offenbar con-
jectur. — 64, 1 süss; umsten wangen. 3 lul uch. 4 volgent.
6 dann. 8 ez ist nil gar ein kindes spil. 9 tver\ arbeit. 10
gölte dienen wil.
Blatt 803 d. Überschrift: ein ander lere dez vatters; In
der grüss nnjse. Es folgen 27 Strophen des Winsbeken. Varian-
ten: 22,2 zu ho/f. 5 irag. 7 selde. — 23 ganz wie oben.
— 24, 3 vnenvege)L. Sonst wie oben. — 25, 4 zu gehel. Sonst
wie oben. — 20. 27 ganz wie oben. — 28,4 körn. 10 da
feidt. Sonst wie oben, — 29, 2 daz es. Sonst wie oben. —
30 ganz wie oben. — 31,4 din wurde. 10 geslahl. Sonstwie
oben. — 32, 2 neslen. 9 hesser dir. Sonst wie oben. — 33, 8
gar fehlt. Sonst wie oben. — 34 wie oben. — 35, 3 gar guter.
4 dogenden. Sonst wie oben. — 36. 37 ganz wie oben. —
39,5 tveder. Sonst wie oben. — 40 ganz wie oben. — 41,4
ein spil. Sonst wie oben. — 42, 3 jungen manne. Sonst wie
oben. — 44, 6 so nü. Sonst wie oben. — 45. 50 ganz wie
oben. — 52, 6 also. Sonst wie oben. — 53 ganz wie oben. —
55,10 gefryden. Sonst wie oben. — 56,9 von dryji. Sonst
wie oben.
Blatt 806 b. Überschrift: item Äf lieder aber in dem
selben done. Es folgen 15 Strophen des Winsbeken. Varian-
ten: 65,4 des mane. Sonst wie oben. — 66,3 fryen. Sonst
wie oben. — 67,9 nem. Sonst wie oben. — 68,6 dagewercker.
Sonst wie oben. — 69 ganz wie oben. — 70, 5 7ne geslalt.
7 des ich. Sonst wie oben. — 71 ganz wie oben. — 72, 2
noch. 10 dan. Sonst wie oben. — 73. 74 ganz wie oben. —
l^)^'-\ nabüchodonosor. Sonst wie oben. — li5,A swaren. H) deme.
Sonst wie oben. — 77, 6 ich dich. 8 vo7i himel fehlt. Sonst
wie oben. — 78,3 an rüwen. 10 vnd in din. Sonst wie oben.
— 80 ganz wie oben.
Den dialekt des Schreibers der Kolmarer handschrift, der
auch dichter war (vgl. Meisterl. s. 186), im Zusammenhang zu
unterKiichen würde eine dankbare aufgäbe sein. Was unsre
Strophen anbelangt, so ist hier der dialekt kein reiner: es sind
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 255
eine menge von formen aus der ostfränkischen vorläge in einen
andern fränkischen dialekt, jedenfalls den rheinfränkischen,
umgesetzt, aber auch sehr viele unverändert stehen geblieben.
Die kleine 7Aisammenstellung, die ich hier gebe, macht auf
Vollständigkeit keinen anspruch, sondern enthält nur das eigen-
artigste der lautlichen Verhältnisse. Eine vollständige Unter-
suchung würde auch alle kleinen eigenheiteu der Orthographie
in ihr bereich zu ziehen haben.
Voealismus. Statt ä erscheint häufig 6: one 1,5. Wkin
7, G. 8,9. Tvörheil 17,5. 70,5. worhaft 5G, 8. ivor 52, (i. nahe
3U, 5. 56,5. noch 34,6. 42,7. ro^ 35, 2. woj^ 31, 1. 41, 6.
45, 3. 56, 2. 7vöt/e 42, 4. ströze 55, 2. spute 68, 7. slofen
42,10. verslöfen ^%,'^^. stol 10,6.
Statt II erscheint häufig o vor einfachem nasal oder nasal
+ eonsonant: so7i. vrome 37, 9. gehonden 53, 3. tronder 74, 2.
Tvondern 76, 2. vonden 40, 8. 73, 9. sonde 66, 2. 69, 4. 70, 3.
71,7. 73,5. 74,7. 76,3. 77,4. sonden 6.5,8. A-ow</^r 69, 3. 71,().
77.2. Ferner steht o in 7vorzelen 50,8 und häufig m jogent,
togent.
Consonantismus. Hier interessiert vor allem der stand
der lautverschiebung. Folgende formen weichen vom normalen
mhd. Staude ab. Labiale: pafj'e 6, 6. 7,2. — plegen 20, 10. 24, l.
50,1, — hris 18,9.
Dentale: dag 68,6, — dal 45,7. — gidikeit 29,5, — diuvel
40.3, — dohen 29,7. — dogenl 22,3. 28, 3. 5. 9. 30, 6. 31,8.
35, 4. 50, 1. 65, 10. 66, 8. 69, (i. 71,5. — dopelspil 20, 9. — dore
5,7. 37, 1. — döt 53,6. — draege 33, 10. — dragen 22,5. 23,6.
33.1. 39,5. — dranc 14,2. — dreien 44,10, 59,3, 67,5. —
driegen 26,9. — drinitäl 65, 1. — driuwe 7,6. 8,8. 16,7. 39,3.
— drost 36,6. — dump 6,10. 17,8, 32,4, — diion 23,8. 27,3.
30, 6. 36, 3. 8. 39, 2. 52, 6. 74, 6. 9. 77, 1 (doch misse/äd 30, 7,
34, 4. 44, 7. 65, 3. geladen 80, 2). — düsent 56, 9. — z)ring
Wkin 7, 9.
Häufig ist vor ein anlautendes e ein /i getreten : herbarmen
und verwante worte 10,4.5.6. 74, 10. — herkennen 11,8. 17,9.
19.2, — her hohl 36,5. — henveln 61,10. — her /rinden 63,7.
— herwegen Wkin 4, 6. — herzogen 8, 9. — herheben 8, 5,
Verwechselungen vou do und da, diu und die sind häufig.
25G LEITZMANN
Es erübrigt noch auf die frage nach dem Verfasser unsres
gediehtes einzugehen, da uns hier unsre baudschrift auf den
ersten blick sehr merkwürdiges bietet. Die handschriften mit
ausnähme von C geben alle das gedieht ohne verfassernamen,
B sogar ganz ohne Überschrift: C gibt von Winsbach. Dass
dies der name des dichters ist oder vielmehr zunächst nur,
dass der Sammler oder Schreiber von C einen Winsbach für
den dichter hielt, als den dichter wusste oder in seiner vor-
läge angegeben fand, unterliegt keinem zweifei. Wenn wir
auch sonst von einem solchen dichter nichts weiter wussten,
so war es doch nichts weniger als kühn in dem Windesbecke
einer stelle des Renners denselben mann zu sehen. Die stelle
lautet (MSH 4, 872. Gottfr. v. Neif. V. Haupt):
gitikeit, luoiler unde unkiusche,
mnotwille unde unzemlich tiusche
liabent mangen hern also besezzen,
(laz sie der wise gar hfint vergezzen,
in der hie vor edele herren sungen,
von Boteuloube und von Morungen,
von Linburc und von Windesbecke,
von Nife, Wildön und Brunecke.
Meiner Überzeugung nach würde diese erwähnung bei Hugo
von Triraberg allein beweisen, dass es einen dichter des
namens gegeben habe, den auch die handschrift C für unser
gedieht angibt, wenn auch weitere urkundliche Zeugnisse für
das geschlecht sich nicht fänden (Haupt vorn XII. Zs. fda.
15, 261). Der einzige, der an dem Winsbeken als dichter
zweifelte, war Goedeke (Grundr.i 1, 42), gegen den jedoch
Pfeiffer Haupts deductionen in schütz nahm (Germ 2, 501).
Nach unsrer Kolmarer handschrift nun wäre das gedieht in
der grussweise des tugendhaften schreil)ers abgefasst. Ist auf
diese angäbe liin der Schreiber als Verfasser anzunehmen?
Denn zunächst niuss festgehalten werden, dass, wenn wirklich
die Winsbekenstrophe eine weise des Schreibers gewesen wäre,
wovon anderweitig nichts bekannt ist, der Schreiber darum
noch nicht notwendig der Verfasser zu sein braucht. Bartsch
(Meisterl. s. 158) und Goedeke (Grundr.^ 1, 162) scheinen ge-
neigt ihn dafür zu halten, Bartsch mehr zurückhaltend und
zweifelnd, Goedeke oftener und bestimmter. Ueber den tugend-
haften Schreiber ist zu vergleichen MSH 4, 46;j; J.Grimm und
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. ^bl
Haupt, Zs. fda. 6, 186; Funkhänel, Zeitschr. f. tiiring. gesell.
2,195; Laehniauii, Kleiu. sehr. 1, 316. Ganz abgesehen davon,
dass der Schreiber durch seine beteiligung am Wartburgkriege
etwas in ein mystisches dunkel gehüllt ist, findet sich auch in
seinen sonst erhaltenen gedichten (MSH 2, 148), von denen
y. d. Hagen 4, 467 eine schöne Charakteristik gibt, nichts, was
entfernt an die art des Winsbeken erinnerte: einzig das streit-
gedicht zwischen Keie und Gawein könnte man heranziehen,
das ihm vielleicht nicht einmal gehört. Die minnelieder des
Schreibers sprechen eine idyllische, zuweilen elegische natur
aus, versenken sich in die empfindung, lassen jedoch kaum
eine recht greifbare Individualität erkennen: von den hohen
ethischen gedanken und dem plastischen, gedrungenen, zuw^eilen
an Wolfram erinnernden stil des Winsbcken finden wir hier
nichts. AVas Goedeke noch als argument für seine annähme
aufführt, man müsse der Überschrift in k glauben schenken,
da Jüngere handschriften oft aus den besten quellen geschöpft
hätten, müsste doch für unsern speciellen fall erst noch mehr
gestützt und wahrscheinlich gemacht werden, ehe es uns be-
wegen könnte einem werke einen durch zwei ältere Zeugnisse
gestützten verfassernamen zu nehmen, um auf ein jüngeres hin
eine der vagen gestalten des Wartburgkrieges dafür einzu-
setzen. Was den namen Winsbekin betrifft, so hat, glaube
ich, Hauj)t allen frühereu fabeleien und märchenhaften hypo-
theseu gegenüber das richtige getroflen, indem er ihn (vorr.
XII) für willkürlich und ungeschickt gesetzt und aus der ab-
sieht hervorgegangen erklärte dem ersten geaichte sein gegen-
stück auch in der Überschrift gleichzurücken.
11. Das handschriftenverhältnis beim Winsbcken.
Die handschriften, in denen das gedieht des Winsbcken
uns überliefert ist, sind folgende: die Weingarter liederhand-
schrift ß, die Pariser liederhandschrift 0, die Hcrliner Xibe-
lungenhandschrift I, die Kolmarer liederhandschrift k, eine
Gothaer handschrift g, eine Basler K und eine Wiener w (in
letzteren beiden nur fragmente). Es wird nun im folgenden
unsre aufgäbe sein die princii)ien für die textkritik zu ge-
winnen und das verfahren von Haupt bei seiner herstellung
eines gereinigten textes einer nachprüfuug zu unterziehen.
258 LEIiZMANN
Hau])t selbst hat. ebenso wenig- wie Laehinann es geliebt
über seine ansieht vom handschriftenverhältnis mhd. gedichte
und seinen daraus etwa gewonnenen kritischen principien in
der einleituug in ausführlicher weise recheuschaft zu geben.
So findet sich in betrelV unsres gedichtes nur folgender kurze
und ziemlich unbestimmte satz (vorrede VII) 'von diesen hand-
schriften ist B weder die älteste noch die sorgfältigste zu
nennen; sie mag etwas jünger sein als I und vor einzelnen
versehen haben sich die Schreiber von C und I besser gehütet:
dennoch musste ich sie meiner ausgäbe zu gründe legen, da
die andern handschriften zwar hier und da richtigeres geben,
was mir hoffentlich nirgends entgangen ist, aber im ganzen
die Überlieferung, der jene folgt, willkürlich verändern.' Ob
diese sätze begründet sind, werden wir im folgenden zu unter-
suchen haben.
Ein kriterium für die bestimmung der verwantschaft zweier
handschriften ist bei unserm gedichte ähnlich wie bei den
minnesängern, die in vielen von einander abweichenden hand-
schriften überliefert sind, die anzahl und anordnung der
Strophen, über die ich im nächsten abschnitt handeln werde.
Zeigen sich in diesem punkte bei der natur unsres gedichtes
wol gänzlich unbeabsichtigt sich einstellende beziehungen der
art, dass sie auf eine nähere verwantschaft zweier handschriften
unter einander hindeuten, so kann man mit ziemlicher Sicher-
heit, falls die vergleichung der lesarten nicht unmittelbar da-
gegenspricht, Zusammenhang oder Unabhängigkeit danach fest-
steilen. Absehen muss man bei einer solchen Untersuchung
natürlich von den fällen, wo sich das fehlen einer oder meh-
rerer Strophen aus äusserlichkeiten und füichtigkeiten, wie z. b.
das so häufige überspringen auf gleiche worte in einer späte-
ren Strophe erklärt oder auch sonst der verdacht der unecht-
heit erhoben werden kann. Nach eliminierung solcher fälle
jedoch wird sich ein in gewissem grade gesichertes resultat
ergeben, in wie weit die erhaltenen handschriften oder ihre
vorlagen mit einander zusammenhängen oder nicht. Ich sage,
ein in gewissem grade gesichertes resultat, denn mit exacter
gewissheit kann in fragen der textkritik sehr oft nicht nach
der einen oder andern seite hin entschieden werden: und auch
in unserm "-edichte gibt es dergleichen fälle genug.
zu WINSBEKK UND WINSBEKIN. 259
Die stropheuordnung und -anzabl nun ist, wie aus der
tabellarisclicu übersieht des nächsten capitels mit leichtigkeit
ersehen werden kann, bei jeder handschrift eine andre: wir
haben, da die fragmentarischen handschriften K und w Avenig
in betracht kommen, weil sie eben wegen ihres fragmenta-
rischen zustandes nicht mit Sicherheit beurteilt und rangiert
werden können, fünf verschiedene gestaltungen der Überliefe-
rung vor uns. Eine vergleichung der lesarten, die ich ange-
stellt habe, führte zu demselben resultate. Es finden sich an
keiner stelle zwischen zwei handschriften Übereinstimmungen
der art und des umfangs, dass sie beide, weil auf eine ge-
meinsame vorläge zurückgehend, bei fragen nach kritischer
herstellung des textes nur eine stimme haben könnten. Ueberall
sehen wir eine wechselnd-e mannigfaltigkeit der Überein-
stimmungen und abweichungen. Man kann schon bei flüch-
tiger durchmusterung nicht übersehen, dass zuweilen Überein-
stimmungen zwischen handschriften sich finden, die auf den
ersten blick eine nahe verwantschaft zu erweisen scheinen ^
doch sind solche congruenzen einesteils sehr selten, andern-
teils immer local auf einen sehr kleinen räum beschränkt;
zudem stehen sie auch dann noch an orten, wo kurz vorher
und nachher die beiden so eng verwant scheinenden Über-
lieferungen wider auseinandergehen und uns so jene Überein-
stimmungen als zufällig erscheinen lassen. Ich will zum be-
weise dieser behau ptung eine dieser stellen hier anführen und
zwar diejenige, die mir am meisten auffiel: sie alle einzeln zu
besprechen würde keinen wert für uusre Untersuchungen haben,
da sich solche Übereinstimmungen, wie ich glaube, einzig durch
annähme einer unbestimmten anzahl von mittelgliedern würden
erklären lassen, die wir zwischen einer hypothesierten einzigen
vorläge und den erhaltenen handschriften anzusetzen hätten,
und eben bei ihrer ganz problematischen natur weit mehr dazu
angetan sind unser urteil zu trüben und auf abwege zu leiten
als es zu fördern. Es würden ausserdem doch, sellist wenn
wir jene erwähnten mittelglieder statuierten, die erhaltenen
Überlieferungen bei ihrer sonstigen Verschiedenheit als von ein-
ander unabhängig zu gelten haben. Die Übereinstimmung
findet sich in B und k in Strophe 50. Beide haben zeile 3
dem und also mit der mäze tviyct der übrigen gegenüber u-an
Beiträge zur geschiclite der deutschen siiraclie. Xlll. ic
260 LEirZMANN
{wanne k) er {hat k) schänden angesigt (ane geslget k) und
lassen darauf die 4. zeile aus; darauf haben beide als 7. zeile
eine allen andern fehlende: des han ich ie mit willen hegert
{gert k). Die congruenzen sind frappant und doch dürfen wir
darauf keinerlei Schlüsse gründen: denn grade an dieser stelle
weichen stropbenordnung und -anzahl beider handschriften am
meisten von einander ab, ohne dass sich äussere gründe dafür
auffinden Hessen, und auch die lesarten der nächststehenden
in beiden überlieferten Strophen stimmen gerade in charakte-
ristischen dingen nicht mehr zusammen. So hat vielmehr k
mehrere lesarten mit C und I gemein und gerade an für B
charakteristischen Varianten wie 52, 7 das fehlende niht, 53, 2
giiekeit, 45, 9 fuogen nimmt es keinen teil.
Wir haben also kein recht irgend zwei der handschriften
zu einer gruppe zu verbinden. Wären sie nun alle von gleicher
absoluter vorzüglichkeit und Zuverlässigkeit, so würde sich als
oberstes und einziges textkritisches princip einfach der satz
ergeben, dass wir die echte lesart immer auf der seite der
majorität zu suchen hätten. Da diese bedingung aber kaum
je und auch im vorliegenden falle nicht statt hat, so bleibt
uns im folgenden noch die frage zu beantworten, in wie weit
wir aus der beschaffenheit der einzelnen handschriftlichen Über-
lieferungen an sich betrachtet textkritische principien gewinnen
können. Wir betrachten zu dem zwecke die einzelnen hand-
schriften im hinblick auf ihren wert und den absoluten grad
ihrer Zuverlässigkeit.
Von den fragmentarischen handschriften K und w können
wir im folgenden absehen, w hat in seinen 6 erhaltenen
Strophen vier sinnentstellende fehler: 2, 7 suwercUche = sinnec-
liche BClKgk; 2,8 funden = swinde{n) BIKk; 6,3 meinen =
niernan BCIgk; 6, 5 schaden = saelden BClgk. Ueber K ist nichts
besondres zu bemerken: es zeigt hinneigung zu den lesarten
von I, zuweilen auch von B, es bleiben also noch B, C, I, g, k
übrig. Diese fünf handschriften zerfallen in zwei gruppen:
eine bessere, die von BCI, und eine schlechtere, die von gk
gebildet wird; die handschriften der ersten gruppe sind älter,
die der zweiten jünger.
In der ersten gruppe ist B bei weitem die unzuverlässigste
und schlechteste: sie verdient, wie ich im folgenden zu zeigen
zu WINSßEKE UND WINSBEKIN. 2GI
gedcDke, die ehre als grimdlage des herzustellenden textes zu
dienen, die Haupt ihr erwiesen hat, durchaus nicht. Ich gebe
im folgenden zunächst eine Übersicht der hauptsächlichsten
offenbaren entstellungen und fehler in B. 7, 5 fürhas = ferre
haz Clg. 9, 6 so kusche = so ze huse Igk. 9, 9 frünt ==
tragen{t) Clgk {fnwient, was Haupt hier aus der lesart von 13
durch conjectur gemacht hat, wird schw^erlich richtig sein,
denn im classischen mhd. steht nach einem imperativ gewöhn-
lich der conjunctiv; vgl. Paul, Mhd. gramm.2 358). 12,10 de7'
er = daz er Clgk. 13,3 er dir selben = ez dir saelde Clgk.
16,7 dienen = dienet Clgk. 17,3 rehter = r///er Clgk. 17,7
spil = zil Clgk. 2ü, 10 tegenes = siges Clg (k hat segens,
eine lesart, die otfenbar mit der von ß zusammenhängt; Haupt
schreibt degenes: ich glaube, dass siges das echte ist, da der
ganze Zusammenhang des Vergleichs ein wort verlangt, das
sowol auf den kämpf wie auf das Würfelspiel sich bezieht;
zudem wäre das wort degen an sich auffällig). 23, 9 tvechselc-
reyi = velschelaeren CI. 24, 5 schüsch = schiuz Clgk. 26, 1
siver ze blaiche an sich nimt = swer ze blicke fuoge entniml
Igk. 28, 8 mag == baz CIKg (die sonst häufige Zusammen-
stellung von tnäc und vriunt kann diese lesart nicht stützen;
zu dem ist nicht einzusehen, wie der fnäc überhaupt in den
Zusammenhang des gedankeus hineinpasst; offenbar hat Haupt
an der construction mit vilr nach dem comparativ anstoss ge-
nommen; dafür verweise ich auf Paul, Princ.-^ 138, ausserdem
macht mich herr professor Paul auf eine stelle in der tleut-
schen grammatik des Laurentius Albertus aufmerksam, wo
bogen M 6'^ als regelmässige construction angeführt wird: er
ist gel er t er für vielen andern). 29, 10 verber = verlür Igk.
32, 8 leben = ligen Clg. 35, 3 ervraischet = verliuset Clgk.
35, 6 verhat = vervat Ig. 36, 7 MI = dol Clgk. 38, 3. 6
Sitten = snitte Clg. 40,5 mos mur = sur C. 41,7 vermisset
= übermisset Clgk. 43, 6 guot an = gar ane Clg. 44, 4 gat
= slat Clgk. 44, 5 gerne gerat = gerne hete rat Clgk. 45, 9
fuogen = fuoren Clk. 46, 8 und uzgevangen = mmzgevangen I.
51, 10 rihtet = richet CI. 52, 10 da krenket hin = da schrenket
hin Igk. 53, 2 gitekeit = gestricket Clk. 54, 7 e = ie CI. 56, 4
reden = raeten Clk. 77, 1 iemmer tuon = got ich tuon I, ich
tuon C. — Dazu stellen sich folgende auslassungen, bei denen
18*
262 LEITZMANN
uicht selten der sinn des satzes in sein gegenteil umgekehrt
erscheint. 3, 9 also vil. 18, 9 ouch. 37, 10 er. 38, 8 diu.
39, 5 nit noch. 48, 10 daz. 49, 8 die. 50, 4 die ganze zeile.
52, 7 niht. 57, 3 vil 57, 8 hie. 57, 9 er. 60, 9 lohe. Ferner
eine reihe von Umstellungen: 7,9. 29,6. 36,5. 44,2. 57,8. 57,9.
60, 4. 62, 9. Die meisten der aufgeführten Varianten kennzeich-
nen sich auf den ersten blick als mehr oder weniger grobe
eutstellungen: keine handschrift unsrer ersten gruppe zeigt
deren so viele. Wir können sogar unter diesen umständen
gar nicht wissen, ob nicht auch andre abweichende lesarten
von B, denen mau es so auf den ersten blick nicht ansieht,
eutstellungen in sich bergen.
Ganz anders gestaltet sich das resultat, wenn wir die les-
arten von C durch])riifen. Auch hier stossen wir auf viele
augenscheinlich ueue lesungen: doch sind es meistenteils nicht
eutstellungen des echten, sondern bewusst vorgenommene cor-
recturen des textes, die die tendenz haben das gedieht zu
glätten und teilweise zu modernisieren. Ich führe auch hier-
von die wichtigsten auf. 2, 7 entstan =^ verstau BIgk. 2, 8 git
= wigt BIgk; ninden = S7vinde BIk. 4, 7 hie halt = behalt
BIgk (trotz des dem hie correspondierenden dort in zeile 9
glaube ich nicht, dass C das richtige bietet), 4,9 hehaben =
vahen BIgk. 4, 10 verhahe = versiahe BIgk. 5, 1 sint = ist
BIgk. 8, 1 hie füge = {ge)füge BIgk. 9, 2 nuwes vingerlin =
minneving erlin BIgk. 9, 4 dast zenge = ze wit ist BIgk. 9, 6
niht" ze huse = so ze huse Igk. 9, 10 wise = ahte Big, 15,2
des = eines BIgk. 15,8 bestrichen = bestricket BIgk. 18,5
beschach = geschach BIgk. 1 8, 9 eren vil = pris BIgk. 20, 8
muoste == muoz BIgk, 21,10 brüst = tjost BIgk. 22, 1 zie-
ren = kleiden BIgk. 24, 2 niht = iht BIgk. 28, 5 stver =
der BIgk. 29, 3 herze = sin Bk, tugend Ig. 29, 5 daz ist =
ist BIgk. 29, 6 dem = srvem BIgk. 29, 8 den = n^en BIgk.
31,1 wissest = merke ^l^k. 31,3 ellü = ze a//er BIgk. 31,9
den kranken also =^ die kranckgemuofen BIgk. 31, 10 als im
— ist = als in — si Big. 32, 9 für ere = verre BIgk. 33, 7
und ouch verswigen = und unverswigen BIk. 33, 9 an muote
= daz muotes BIgk. 34, 7 ze selten = ze saelden BIgk. 35, 6
enpfat = vervat Ig. 37, 2 tore = narre BIgk. 38, 6 der ==
srver Ig. 39, 7 bis = den BIgk. 40, 8 snile = schulden Big.
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 263
40,9 rouch = nun BIgk. 41,6 einer = sincr Bli^k. 42,4 in
gelichcj- ^ gelichcr Blgk. 43, 9, 10 bat C deu gauzcn ge-
dankcn verändert. 44, 1 ganc ^ solt gan Blgk. 44, 3 schände
= schaden Blgk. 44, 5 hete gerne = gerne hele Ig. 44, 9
besluss — den ^ sliuss — dinen Blgk. 45, 4 eigen = huobe
Blgk. 45, 9 valschen = swachen Blgk. 46, 7 von = m Big.
47, 3 ungerihlig = ungcreisic B. 47, 9 //u7 c/x'w = /« ere«
Big. 48, 6 ivislcn = wizzen Big. 48, 8 Äöie omcä »iocV* =
hette noch Big. 50,8 wesen = wurzelen Blgk. 51, 1 /</<*■ /««w
^ husere BI. 51,2 gz-ew = tagenden BI. 51,7 ^m^ = /i'^r-
</e«/ BI. 51,9 diu = <//.ym BI. 52,2 in = den Blgk. 52,6
geweriu = ;i"örm Blgk. 52, 9 genennet = geheissen Blgk. 52, 10
Schüssel hin = schrenket hin Igk. 53, 1 hant = em bant BIk.
53, 5 f/er = swer Blk. 53, 6 finde = /zwc?«?^ BIk. 53, 9 helfe
= Ä6'//e BIk. 53, 10 die not = klam BIk. 54, 8 /a'^ = yvirt
BI. 55, 7 /;• = diu BIk. 59, 2 n//// n«/< ;= </m mit Ik. 59, 3
w^ = gat Ik. 60, 4 tvirl = wurde BIk. 60, 6 erkoinet =
bedenket BI. 62, 6 c2<ö = wacV« BIk. 63, 4 vreude = sünde
BIk. 63, 6 der sache = dem sacke BIk. 64, 5 gerne = //Ä/e
BIk. 64, 8 Ja ist ez niht = ez ist niht BIk. 66, 8 yo/i miner
schulde = i««rf rf/ne tugent Bk. 67, 3 er^/ bedahl = iibcrdaht
Ik. 67,4 (/o = d«2 Ik. 69,8 ^/aye'w = klagen Ik. 71,9 aw
=^ in Ik. 72,5 geschehen ^ ge/resen Ik. 72,9 ä« = m Ik.
75, 6 wildes gie = wilde lief Ik. 75, 8 leider = kleider Ik.
80, 6 enzien = vcrzihe Ik. 80, 8 /«^e/ = fürbas Ik.
Bei weitem die beste uud zAiverlässigste überlieferimg liegt
uns meiner Überzeugung nacb in I vor, der dritten bandsclirif't
unsrer ersten gruppe. 8ie hat fast keine sinnentstellenden
fehler und nur selten auslassungen. Ihr wert ist von Ihiupt
bei seiner textherstellung sicher unterschätzt.
lieber die handschrifteu der zweiten gruppe brauche ich
nur weniges zu bemerken. Sie sind sich beide ihrem werte
nach so ziemlich gleich: eutstellungen, willkürliche änderungen,
grössere uud kleinere auslassungen linden sich in g wie k in
grosser anzahl. Ich brauche sie, da auf sie meistenteils kein
wert zu legen ist, hier nicht alle aufzuführen: sie lassen sich
aus dem abdruck von g in Beneckes Beiträgen oder Haupts
Variantenverzeichnis sowie den angaben meines ersten capitels
leicht ersehen. Dazu kommt, dass in g, worüber später zu
264 LEITZMANN
biuidelu seiu wird, die echte stropbenorduung vollstäudig über
den baufeu geworfen ist.
Gemäss diesen zusammeni>telluugen und beobacbtuugen
über die absolute zuverlässiglicit der einzelnen uns vorliegen-
den bandscbril'teu wird in dem widerstreit der lesarten in
jedem einzelnen falle zu entscbeiden sein. Die grundlage bat
im allgemeinen 1 zu bilden: da die lesungen dieser bandscbrift
selten allein stehen, haben sie durch die Übereinstimmung noch
grössere gewähr der echtheit. Stimmt C zu I gegen B, so ist
die lesart beider unbedingt in den text aufzunehmen, gleich-
viel ob, was meistens jedoch der fall ist, die handschrifteu
der zweiten gruppe beide oder einzeln bestätigend hinzu-
kommen. Stimmt B zu I gegen C, so hat, wie wir sahen, in
den weitaus meisten fällen C die modernisierende neuerung.
Natürlich können von diesen allgemeinen sätzen unter um-
ständen auch ausnahmen stattlindeu, deren behandlung sich
dann aus dem jedesmaligen Verhältnis der texte zu einander
zu ergeben hat. Eine Überlieferung von g und k wird nur in
den seltensten fällen der Übereinstimmung zweier oder aller
drei der ersten gruppe gegenüber als echt in den text aufzu-
nehmen sein. Liegt allgemeine Verschiedenheit der lesarten
vor, so kann natürlich auch auf der seite von g oder k das
richtige sein.
III. Die echtheit der Strophen beim Winsbeken.
Ich gebe zunächst im folgenden zur bequemeren Orientie-
rung eine tabellarische Übersicht der Strophenentsprechung. Die
erste columne gibt Haupts Zählung.
B
C
1
K
g
k
w
1
1
1
1
1
1
1
2
2
2
2
1
2
2
2
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3
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4
4
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45(21)
266
LEITZMANN
B
C
I K
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53
50
53
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54
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54
55
55
52
55
47 (26)
56
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53
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48 (27)
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71
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14
79
67
80
75
78
15
In der vuricde zu seiner iiusgabe {a. VIII) hatte Haupt
die veniiutuni; :iu%Cf^tellt, dass das ursj)riini;,licbe gediclit des
Winsbeken mit stiopbe 56 abscbliesse und alles spätere zusatz
eines andern dicbtcrs sei, 'IVornni, aber albern'. Diese an-
nähme fand allgemeine Zustimmung' oder doch keinen wider-
s|)rucb. .Sie stützt sich vor allem auf zwei argumeute, ein
äusseres und ein inneres. Eines teils nämlich ist der schluss
der Winsbekin, wo auch in den letzten stropheu drei regeln
als besonders vor allen andern wichtig hervorgehoben werden,
der 56. strophe des Wiusbeken nachgebildet, woraus hervor-
geht, dass der dichter der Winsbekin keinen andern schluss
des gedichtes vor sich hatte als eben die strophe 56. Zweitens
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 267
lehrt eiue priifuDg des gesanimtgedicbts, dass durch alles, was
von Strophe 57 an folgt, der Inhalt der ersten 50 strophen
eigentlich vollkommen zu niehte gemacht wird. j\Ian mag die
nähere ausführuug dieses argumeuts in Haupts vorrede nach-
lesen. Derselbe schreibt die fortsetzuug einem geistlichen zu,
der als asket das weltleben und die auf vorzugsweise mensch-
licher basis ruhende moral des ritterlichen lebens hasste und
des vaters ermalmungen durch die entgegnung des mönchisch
gesinnten sohnes überbieten wollte. Gegen diese argumente
nun und gegen Haupts hypothese im allgemeinen ist neuer-
dings Wilken aufgetreten in seinem aufsatz 'zum Wiusbeken'
Germ. 17, 410. Mit seinen deductionen haben wir uns jetzt
auseinanderzusetzen.
Wilken hält Haupts hypothese nicht für richtig. Gegen
Haupts erstes argument, das aus dem Schlüsse der Winsbekin
geschöpft war, bringt er nichts bei: denn auf den einwuri",
dass die drei rate beim Winsbekcn in einer, bei der Wins-
bekin in drei strophen abgehandelt werden, will er selbst
keinen wert legen (s. 414). Er bemerkt an derselben stelle
ganz richtig, dass die nachahmung eine ganz frei gestaltende,
keine directe oder sclavische ist: doch, will das nichts besagen,
wenn nur überhaupt, wie ausser allem zweifei steht, zugegeben
werden muss, dass eine nachahmung vorliegt; ob dieselbe frei
oder nicht frei ist, '-.ommt wenig in betracht. Dagegen pole-
misiert Wilken (s. 415) energischer gegen das aesthetische
argument, meiner Überzeugung nach mit ebenso wenig erfolg.
Er führt zunächst eine reihe von stellen aii, die sich leicht
vermehren Hessen, wo sich ein 'sittlich-religiöser hintergrund'
der lehre des vaters erkennen lasse, ja er seh li esst aus dem
gebot der liochschätzung der geistlichkeit (stroplie C. 7) und
der furcht vor dem verdienten kirchenbann (stroi)he 53) sogar
darauf, dass der ritterliche dichter in den geistlichen stand
übergetreten sei, kommt also schliesslich zu demselben resultate
wie V. d. Hagen, der den schliiss für baare historische Wahr-
heit hielt. Wilken nennt die lehre des vaters an den erwähn-
ten stellen ein 'fechten' für jene besprochenen dinge: schwer-
lich mit recht; denn die stellen unterscheiden sich in nichts
von dem gewöhnlichen ruhigen und gemessenen gange der er-
mahnung und nichts deutet im entferntesten auf etwaige gegner
268 LEITZMANN
liiu, gegcu die ciu klerikaler fanatikcr jene dinge zu verfech-
ten sich vorgenommen hätte. Es sind vielmehr anschauuugeu
ausigcsprochcu, für die ein feciitcn gar nicht von nötcn war,
die dem ganzen mittelalter gemein und vertraut waren. Und
wer die häufigen moralisch-ieligiöseu einleitungeu mhd. ge-
dichte kennt, dem wird es nicht eigentümlich und individuell,
sondern vielmehr selbstverständlich erscheinen, wenn ein didak-
tisches gedieht auf einen 'sittlich-religiösen hintergrund' auf-
gezogen ist. Man lese über die religiöse gruudstimmung
unsres gedichtes, die gleichweit von starrem dogmatismus wie
von hierarchischem fanatismus al)steht, die schöne Charakte-
risierung bei Gervinus nach (Gesch. d. deutsch, dicht.'' 2, 3).
Die anführung andrer asketischer Jünglinge und Jungfrauen
aus der nüid. literatur, wie des Josaphat in Rudolfs Barlaam
und der tochter des meiers im armen Heinrich, oder gar des
euripideischeu Ion (s. 115 auni. 3) kann für unser gedieht
uiciits beweisen; ebensowenig schliesslich die hcranziehung des
modernen 'Weltschmerzes' oder Verweisungen auf Georges
j)sychologie. Gervinus hat vorzüglich die trotz des unver-
meidlichen vorwiegens ritterlicher bestrebungen doch im gründe
auf echtester humanität ruhende und weit ab von specula-
tionen oder metajjliysischen grübclcicn auf das praktische
leben und seine ans])rüclie gerichtete moral unsres Winsbeken
gezeichuet. Haupts hypothese sowie seine argumentation wer-
den durch das, was Wilken dagegen vorgebracht hat, nicht
im mindesten erschüttert.
Wenn wir also auch hier an Haujjts hypothese festzu-
halten genötigt sind, so liudet sich doch in dem, was Wilkcu
gestützt auf eine randbemerkung in ß an ihre stelle setzen
wollte, viel brauchbares, was jedoch auch dann vollständig
seinen wert behält, wenn wir nicht mit Wilken die letzten
conse<iuenzen ziehen, sondern bei Haupts annähme bleiben.
Wilken macht darauf aufmerksam, dass man vielleicht einer
bemerkung, die in B am rande der 64. strophe steht' bedeu-
tung beimessen müsse: sie lautet des valer lere ze sincm sun
hat ende hie. Nach strophe 04 ist ein gewisser abschluss des
Sinnes stark füldbar. Wilken nun will an dieser stelle den
schluss des alten Winsbeken sehen und stützt sich dabei auf
zwei gründe: die 'concinnität der diction', die sich in den
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 269
cuustaut iiüi aufaugc jeder strojjlic widcibültcn lunedeii suti
und va(er zeigt, uacli stroplie Gl jedoch auf hört, und das
vorkommen sprichwörtlicher wenduugeu bis zu derselben
Strophe. Was dann von Strophe 6ö an folgt, soll s})ätcrcr Zu-
satz sein. "Wilkeu ist also mit Haupt darin einig, dass er
zwei verschiedene teile von verschiedenen Verfassern annehmen
zu müssen glaubt, nur setzt er den trennungstrich an eine
andre stelle. Die beobacbtungen sind gut und richtig; doch
sie beweisen nicht, was sie beweisen sollen: denn man
braucht darum nicht anzunehmen, dass strophe 1 — Gl von
einem und demselben dichter geschrieben sind; vielmehr lassen
sie sich ebenso gut mit llaui)ts annähme vereinigen. Auch
was dann von der \Vinsl)ekin gesagt wird, dass ihre dia-
logische form wol durch den ausatz des dialogs zwisclien
vater und söhn (strophe 57 — Gl) als Vorbild entstanden sei,
beweist nicht die eiuheitlichkeit der Gl Strophen, da wir ihr,
wie wir früher sahen, anderweitig misstraueu müssen. Ja
selbst \venn man Wilkeu hierin recht gäbe und llaujjts erstes
argument fallen Hesse, was ich jedoch keineswegs befürworten
möchte, so würde zwar als erwiesen zu gelten haben, dass
der dichter der Winsbekin von seinem vorbilde die Strophen
1 — ö4 vor sich hatte; doch würde man dann immernoch das
aesthetische argument aufrechthalten können und müssen und
es würde die zufügung von stroi)hc 57 — G4 nur in etwas
frühere zeit hinaufrücken.
Nach erwägung des für und wider glaube ich, dass wir
einesteils bei Haupts li_v[)(»tlicsc stehen bleiben müssen, dass
von Strophe 57 an nicht mehr derselbe dichter spricht, andern-
teils jedoch den zusatz zu ihr zu machen haben, dass von
Strophe G5 au ein dritter das wort ergreift.
Wir betrachten nun die Verschiedenheiten der strophen-
zahl in den einzelnen texten und beginnen mit den zwei fort-
setzungen des alten gedichts. Wir müssen hier die echtheit
der Strophen, wenn äussere anhaltspuncte mangeln, möglichst
nach densell)en ])riucipieu beurteilen wie oben die echtheit der
lesarten. Für strophe 57 — Gl stimmen die Überlieferungen im
allgemeinen üi)erein, nur dass B strophe 5U auslässt und k
hinter G3 eine neue bietet, die allen andern abgeht. Die
5y. Strophe wird, weil in Clk bezeugt, wol als echt zu gelten
270 LEITZMANN
haben: class sie iu B l'elilt, weiss ich uicht zu erkläreu. Was
die neue strophe in k betrifft, die oben im ersten capitel von
mir miti,^ctcilt ist, so ist Bartsch nicht abgeneig"t sie für echt
zu halten (Kolm. meistcrl. s. S2), Ist sie echt, so steht sie
jedenfalls hier an falscher stelle. Auch kann sie kaum in der
uns überlieferten gestalt echt sein: das walt in zeile 9 ist eine
entstellung, wofür Bartsch sUe conjiciert hat; ebenso auffällig
ist das iucli der 10. zeile dem sonstigen dir gegenüber. In
den kritisch hergestellten text dürfte sie jedenfalls uicht auf-
genommen werden.
In Strophe 68 — 80 gehen die Überlieferungen weit aus-
einander. Zu beachten ist, dass dieser ganzen sündenklage
die beziehungeu auf die bestimmte person ganz abgehen mit
einziger ausnähme von strophe 80. Schon Haupt hatte (vor-
rede VIII) eine von diesen Strophen, 'die matt widerholende
und schwach bezeugte GS,' für späteren zusatz erklärt. Wilken
hat dies danu (s. 113) zu beweisen versucht, indem er in ihr
gegenüber der 'mit poetischer, übrigens wol gelungener frei-
heit' das biblische gleichnis umwandelnden strophe 67 etwas
'gewaltsames und unnötig wider engeren anschluss an die
biblische darstellung erstrebendes' sieht. Man kann dies wol
gelten lassen. Wenn auch zu dem schwacheu zeugnis von C
jetzt noch k getreten ist, bin ich doch geneigt die strophe für
sj)äter eingeschoben zu halten und sie auf rechnung der über-
arbeitenden tendcnz von C zu schreiben. Es widerholen sich
iu 68 einige Wendungen der 67: lun 67,10. 68,4.8; versläfen
67,8. 68,9; büweu ijl/l, 68,3. Eine siciiere entscheidung lässt
sich jedoch nicht tretfen. In C fehlt ferner strophe 76, welche
auf autorität von Ik hin wol als echt zu gelten hat. In B
fehlen die Strophen 66 — 76 und 80; die 79. ist allein durch
B bezeugt. Wilken hat vermutet, dass die in B überlieferten
Strophen den Ursprung und den kern der Weiterbildung für
das ganze bcichtgedicht gebildet hätten, au den sich dann
immer mehr und mehr neue Strophen angeschlossen hätten.
Klare einsieht in die entstehungsgeschichte dieser ganzen
schlussstrophcu ist uicht zu gewinnen: ich wäre der sonstigen
Zuverlässigkeit der handschriften nach geneigt die fast voll-
ständig übereinstimmende stro])lienzahl in CI, wozu noch k
kommt, für das echte zu halten und in B auslassung anzu-
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 271
nehmen. Dann würde die allein in B stehende TU. strophe als
unecht auszuscheiden sein. Vielleicht ist folgende beobachtung:
dazu angetan dies noch wahrscheinlicher zu machen: im ganzen
beichtgedicht spricht eine erste person singularis ich, nur hier
in Strophe 79 heisst es immer nir. Dazu kommt, dass die
Strophe ganz aus dem Zusammenhang herausfällt. Eine sichere
entscheidung nach der einen oder andern seite wage ich nicht
ZU geben. Klar scheint mir nur, dass wir es hier, indem wir
der randbemerkung von B glauben schenken und Wilkens be-
obachtungen mit in rechnung ziehen, mit einem neuen, von
dem dichter der Strophen 57 — 64 verschiedeneu, also dem
dritten dichter zu tun haben.
Werfen wir nun noch einen blick auf die Verschiedenheiten
der strophenüberlieferung in dem alten gedichte (strophe 1 — 5(3).
Alle Strophen des Hauptschen textes in seiner reihenfolge haben
nur BI. Auch k folgt dieser reihenfolge, hat jedoch aus-
lassungen: es fehlen in k 38, wo vielleicht der gleiche anfang
von 38 und 39 du solt ein überspringen des Schreibers ver-
anlasst hat, 43, 46 — 49, 51 und 54, welche sämmtlich durch
die Übereinstimmung von BCI gesichert sind. — In C fiudeu
sich abweichungen von der bisher besprochetien anordnuug.
26 und 27 fehlen, sind aber durch BIk gesichert. Auf 25 folgt
44: hier wird eine willkürliche Umstellung vorliegen: die Zu-
sammenstellung hat ihren grund darin, dass in beiden Strophen
von der zunge die rede ist, die man im zäum halten soll.
Zwischen 28 und 29 ist 31 eingeschoben, wofür ich keinen
grund anzugeben weiss. Es fehlt ferner 30, was jedoch durch
BIgk vollständig gesichert ist. — Eine ganz ungeordnete und
principlose folge der strophen liegt endlich in g vor. Zu-
weilen scheinen verbindende Stichwörter die reihenfolge zu er-
klären: so erscheint in 3 und 38 diu sele dort, in 50 und 32
das gleichnis vom vogel, in 26 und 31 merke, was vielleicht
für die zusammenrückung massgebend gewesen ist. Die Ord-
nung von g kann unmöglich die echte sein. Was in g aus-
gelassen ist, wird durch Übereinstimmung andrer Überlieferungen
als echt bezeugt. Am schluss erscheint die handschrift lücken-
haft. Drei neue strophen, die g hinter 8, 19 und 4:5 hat
dürfen wir, glaube ich, ebenso wenig wie Haupt als echt in
den tcxt aufnehmen, obwol sie teilweise nicht ohne gcschick
gemacht sind.
272 LEITZMANN
IV, Das handschriftenverhältnis uud die echtheit
der Strophen bei der Winsbekin.
Dass die Winsbekin eine nachabmung des Winsbeken ist
und nicht von demselben dichter herrührt, ist allgemein aner-
kannt. Schon der ganze stil und die verhältnismässige ge-
dankenarmut zeigen dies: doch finden sich auch berührungen
mit dem Winsbeken, tibereinstimmende Wendungen und aus-
drücke, von denen mau kaum annehmen kann, dass derselbe
dichter sie widerholt und so gewissermassen sich selbst aus-
geschrieben habe. Schon Haupt hat (Vorrede s. XIII) auf
einiges derart hingewiesen, wie besonders auf die widerholung
des gleichnisses vom vogel (Wkin 9,5; vgl. Wke 32,1. 50,9)
und die helekäppel (Wkin 17,5; vgl. Wke 26,5). Ich füge
noch einige parallelen hinzu: duz ich in sehe mit vorhten an
Wkin 2, 4 = und siht in nihi mit vorhten an Wke 5,4; daz
ich den wzsen rvol behage Wkin 12, 5, daz wir den wisen wol
behagen 44, 4 = daz si den nisen wol behage Wke 25, G ; durch
dich vers wendet tvirt der walt Wkin 13, 10 = swende also den
walt Wke 20,5; ein wiser man hie vor so sprach Wkin 16,5
= ez sprach hie vor ein wiser man Wke 5,5; du muost diu
ivange üz ougen baden Wkin 17, 10 = üz ougen miioste er
wangen baden Wke 64, 1; an siner werdekeit verzage Wkin
22, 10 = ist ez an werdekeit verzaget Wke 14,8; und mache
sich den werdest wert Wkin 25, 10 = si machet dich den wer-
den wert Wke 22,6; der wil ze hüse unere laden Wkin 29,10
= den soltü so ze hüse laden Wke 9, 6; und grüezen da wir
grüezen suln Wkin 44, 9 = und grüeze den du grüezen soll
Wke 39, 9. Auf andres komme ich an andrer stelle zurück.
In allen erhaltenen handschriften steht die Winsbekin mit
dem Winsbeken zusammen: ausgenommen sind nur die frag-
mentarischen Überlieferungen K und w. Das gedieht findet
sich also in B, C, I, g und k: allerdings steht auch in k nur
der anfang und in I fehlt der schluss. Während wir nun beim
Winsl)eken keinerlei handschriftenverwantschaft zu statuieren
vermochten, zeigt sich hier nach lesarten und Strophenordnung
die engste Verbindung zwischen C und g: beide Überlieferungen
dürfen bei textkritiscben fragen nur als eine gelten. Dem
gegenüber stehen auf der andern seile ß und I, die jedoch
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 273
keinesvvei>"s so nahe bcriili rangen unter einander zeigen als C
und g. k lässt bei seiner fragmentarischen Überlieferung sich
nicht sicher zai dem einen oder andern paar stellen: in den
erhaltenen Strophen steht es gewissermassen mitten inne, aller-
dings mit einer neigung nach Cg hin, die sich namentlich in
der Strophenzahl zeigt; sicheres über ihre Stellung ist aus den
acht Strophen, die sie nur bietet, nicht zu gewinnen.
Die absolute Zuverlässigkeit der einzelnen handschriften
ist ungefähr dieselbe wie beim Winsbeken. B zeigt auch hier
eine ganze reihe augensciieinlicher entstellungen , wovon ich
die hauptsächlichsten hier anführe. 8, 6 doch = ouch Clk.
8, 7 enbutvet ^= priset Clgk (Haupt hat die lesart von B in
den text aufgenommen, ich glaube schwerlich mit recht). 9, 4
sin wisen morten = diu wisen worl Clgk (I rvercJi). 13, 1 vil
== rvis 1. 16,2 da von rvil = da wil I. 21,7 zuo deheime =
ze heilte CI. 23, 8 in herze sniden = in diu herze smiden Clg.
29, 4 halde = walde Clg. 33, 5 ir = ein Clg. 34, 5 doch =
ouch Clg. 36, 6 (jewern = gern CI (auch hier hat Haupt die
lesart von B, die auch g hat, in den text aufgenommen).
Ebenso finden sich wider auslassungen; so fehlt: 2,7 seiher.
20, 3 nip. 26, 1 dir. 33, 7 iverden. 36, 7 sich. 40, 3 etlich.
I gibt auch hier wider den verhältnismässig besten und rein-
gehaltensten text. Die modernisierende Überarbeitung, die wir
für den Winsbeken bei C beobachteten, ist hier und überein-
stimmend in g noch weiter getrieben. Wenn ich alle die
augenscheinlichen ueuerungen hier aufführen wollte, niüsste ich
fast das ganze gediciit ausschreiben, denn es ist ein ganz
andres geworden. Eine kritische ausgäbe würde am besten
beide texte nach oder parallel neben einander bringen, das
alte gedieht aus BI und die Überarbeitung aus Cg.
Zur leichteren Übersicht der Strophenentsprechungen diene
folgende tabclle, in der die erste columne wider Haupts Zäh-
lung gibt.
1
B
1
C
1
I
1
2
•i
t
1
2
1
2
1
2
4
1
2
3
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5
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274
LEITZMANN
B
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5
4
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7
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6
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9
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12
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8
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9
9
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9
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1()
11
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22
10
21
14
17
23
17
22
15
18
24
18
23
Ui
19
25
19
24
17
20
20
20
25
18
21
27
21
2G
19
22
28
22
27
20
23
29
23
28
21
24
30
24
29
22
25
31
25
30
23
20
32
20
31
24
27
33
32
28
34
27
33
25
29
35
28
34
20
30
30
29
35
27
31
37
30
30
28
32
38
31
37
29
33
39
32
38
30
34
33
39
31
35
34
40
32
30
35
41
33
37
30
42
34
38
37
43
35
39
38
44
30
45
37
I ^il)t den vollständigsten text, nur dass der schluss feldt.
Die zwei stroplien, die I vor dem an fang des gediclits hat,
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 275
können, wenn sie überhaupt echt sind, jedenfalls nicht an
dieser stelle vor dem epischen eiugang stehen. Die 3. Strophe,
die nur in I überliefert ist, hat nichts austössiges. B zeigt
viele auslassuugen von Strophen, deren echtheit jedoch durch
Clgk resp. Clg vollständig gesichert ist. Einen erklärungs-
grund für die auslassungen weiss ich hier ebenso wenig an-
zugeben wie oben bei der fortsetzung des Winsbeken: nur
scheint mir klar, dass das fehlen von 32 durch den gleichen
anfang diu huote in 31 und 32 und dadurch veranlasstes über-
springen des Schreibers hervorgerufen ist. Die Überlieferung
in Cgk ist ganz einheitlich: denn in g fehlt die 31. strophe
nur durch denselben zufall wie in ß die 32. Die Umstellung
von 14 zwischen 9 und lü ist neueruug (vielleicht durch das
zweimalige die sinne veranlasst?). Die Strophen 13, 15 und
16 sind durch BI als echt gesichert: ihre auslassung könnte
aus dem gleichen schlusswort shi in 12 und 16 erklärt werden.
44 und 45, die auch in Cg fehlen, sind zwar nur durch B be-
zeugt, aber inhaltlich notwendig.
V. Winsbeke und Wigalois.
Anhangsweise bespreche ich noch eine beziehuug, die man
zwischen dem Winsbeken und Wirnt von Grafenbergs Wigalois
hat sehen wollen. Der erste, der dies tat, war Pfeifier. In
seiner ausgäbe des Wigalois sagt er (vorrede s. XVII): 'aus
einigen stellen glaube ich schliessen zu dürfen, der Winsbeke,
Wirnts landsmann, habe den Wigalois gekannt; ja mir scheint
sogar, als ob dessen gedichte die väterlichen lehren zu gründe
lägen, die Gawein am Schlüsse seinem söhne gibt. Jedenfalls
herrscht zwischen beiden eine merkwürdige Übereinstimmung,
die nicht wol bloss zufällig sein kann.' Leider hat er diese
stellen nicht näher angegeben, so dass man diese 'merkwür-
digen Übereinstimmungen' nicht controlieren kann. Die von
Haupt in den anmerkungen zu 42, 9 und 69, 7 citierten kann
er nicht meinen, denn sie enthalten nichts beweiskräftiges.
Auch ein nochmaliges durchlesen des Wigalois hat mich
keine einzige stelle derart finden lassen. Pfeiffer stützt
sich also vor allem auf die ermahnuug des Gawein an
seinen söhn Wigalois am Schlüsse des gedichts. Die verse
lauten (293, 17):
Beitrüge zur geachichte der deutscheu spräche. XIll. jg
276
LEITZMANN
got hat sin wunder
und sine gnade an in getrm,
ir sult im wesen undertan
und minnet in herzeliche.
der sinne sit ir riche,
des guotes und der eren:
daz sult ir allez keren,
swa ir muget, nach sinera gebot,
swer herzenliche minnet got,
der ist behalten hie und dort,
sun, nü merket disiu wort
und behaltet diu ane missefa.t:
daz ist mines herzen rat.
Sit bescheiden an allen dingen
und lät niht verdringen
die jugent iuwer sinne.
der iuch mit triuwen minne,
an den sult ir iuch lazen
und boeses schimphes mazen.
vernemet armer Hute klage
und büezet ir kumber alle tage.
Sit gewizzen unde guot.
den vinden traget höhen muot,
den vriunden sit geselleclich
und mute: so werdet ir lobes rieh.
bietet den gesten ere
nach iuwer gewizzen lere.
Sit dem gehülfec unde guot,
der iuwern willen gerne tuot:
disem rate volget nach.
lät iuwern zorn niht wesen gäch.
traget schäm ob allen iuwern siten.
Ich finde in dieser ganzen stelle nicht eine einzige Wen-
dung, die mit dem Winsbeken so übereinstimmte, dass wir eine
benutzung des einen durch den andern annehmen müssten.
Welcher dann übrigens der benutzende und welcher der be-
nutzte sein winde, ist auch nicht ohne weiteres klar: Pfeiffer
nimmt, ich sehe nicht ein warum, priorität des Wigalois an.
Ich glaube, dass Pfeifter durch die allgemeine Übereinstimmung
des motivs und vielleicht nicht zum wenigsten durch die nach-
barschaft der städte Winsbach und Gräfenberg, auf die er in
der anmerkung zu der oben citierten stelle hinweist, auf seine
hypothese geführt wurde, die übrigens mit aller schuldigen
reserve und eben nur als Vermutung gegeben ist.
Nicht mit derselben vorsieht sind die späteren literarhisto-
riker vorgegangen, bei denen sogar die hypothese als bewiesene
Wahrheit figuriert und zur chronologischen bestimmung ver-
wertet wird. So gibt Wackcrnagel (P, 346 anm. 13) ganz
definitiv vom Winsbeken an: 'nach Wirnts Wigalois'. Bei
Gervinus (■•1,574) heisst es: 'wo er (Wirnt) den Gawein seinem
söhne gute lehren erteilen lässt, redet er .... in den ansichten
und in einzelnen ausdrücken, die in den lehren des Winsbeke
.... widerkehren'; was ferner von Gervinus behauptet wird,
dass in der stelle Wig. 77, 9 über das verliegen sich anklänge
an den Winsbeke fänden, kann ich ebenso wenig zugeben. Auch
Goedeke sieht 'auffallende übereinstimmun";' und 'nahe be-
zu WINSBEKE UND WINSBEKIN. 977
rührung' (Grundr. P, Uli. 162); äliDlich Koberstein (l^, 266
anni. 26).
Ich glaube, dass wir bei vorurteilsfreier betraebtuiig dieser
bypothese nicbt beistimmen können und dass sie vor allem in
den literaturgescbicbten nicbt als bewiesene sacbe vorgetragen
werden darf. Soll ich eine Vermutung äussern, so will es mir
scheinen, als ob so wol für Wirnt als für den Winsbeken das
Vorbild dieser ritterlichen ermahuung die classisclie Verwendung
dieses motivs bei Wolfram gewesen sei, der rat des Gurnemanz
an Parzival. Dass der Winsbeke gerade diese })artie des Par-
zival gekannt hat, dafür gedenke ich an andrer stelle noch
belege beizubringen.
FREIBURG, 18. februar 1887.
ALBERT LEITZMANN.
19*
HEINRICH GÖDINGS GEDICHT VON HEINRICH
DEM LÖWEN.
Das sogenannnte volksgedicht von Heinrich dem löwen,
das mit den vvorten beginnt:
Man sagt von starcken beiden,
sie sein zn preysen hoch;
Darunib so mus ich melden
von einem herren auch u. s. w.
ist bis in die neueste zeit in einzeldrucken im volke verbreitet
worden, ohne dass sich über den Verfasser und die entstehungs-
zeit des werkes bis jetzt sicheres hatte feststellen lassen. Man
begnügte sich fast allgemein, dasselbe als eine arbeit des lü.
oder 17. Jahrhunderts zu bezeichnen, und auch Gödeke meint
noch in der zweiten aufläge seines Grundrisses zur geschichte
der deutschen dichtung b. II, s. 321, dass 'die geschichte Hein-
richs des löwen ihrer form nach vielleicht erst dem 17. Jahr-
hundert' angehöre. Neu aufgefundene urkundliche Zeugnisse
liefern uns jetzt über dichter und entstehungszeit jenes werkes
l)estimmte nachrichten: wir können seine abfassung mit Sicher-
heit in das jähr 1585 setzen und dem maier Heinrich Göding
in Dresden zuschreiben.
Als herzog Heinrich Julius, söhn des regierenden herzogs
Julius zu Braunschweig und Lüneburg, mit der prinzessin
Dorothea, tochter des kurfUrsten August von Sachsen, am
20. September 1585 sein beilager feiern wollte, sollten zur er-
höhung dieses festes in Wolfenbüttel allerlei ritterspiele, wie
ringrennen, Ijalgenstechen und fussturnier, abgehalten werden,
zu welchen ausschreiben nacli den verschiedensten selten er-
ZIMMERMANN, GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 279
gingea. Bei dieser gelegenheit beabsichtigte der junge herzog
selbst in zwei kostbaren aufzügen /ai erscheinen, nämlich den
triumph Heinrichs des löwen und den jagdaufzug der Diana
darzustellen. Unter den akten des herzoglichen landeshaupt-
archives zu Wolfeubiittel, welche sich auf diese festlichkeiten
beziehen, hat für uns zunächst wol die erklärung jeuer 'iu-
ventionen' einiges Interesse, da sie oüenbar von dem fiirsten
selbst herrührt, der sich ja als dichter einer anzahl von deut-
schen Schauspielen wie als begründer der ersten stehenden
deutschen biihne in der geschichte des deutscheu dramas und
theaters einen nicht unrühmlichen platz errungen hat. Charak-
teristisch für die zeit ist besonders die moralische deutung,
welche hier sowol die heimische wie die antike sage in einer
für uns überraschenden weise finden. So wird der sieg, den
der herzog Heinrich mit hilfe des löwen über den drachen
davonträgt, in folgender weise ausgelegt.
Interpretatio, M. G. F. imdt Hern Invention, nhemblichen des
Tiiumpfs llenrici Leonis.
Obwol S. F. G. sich zu erinnern wissen, das dieser Triumpf
undt ganze Ilistoria Hertzog Heinrichs des Lewen von dem gemeinem
Man also erdichtet, undt ein Fabehvergk ist, dennoch dieweil es von
den lieben Altten nicht arg gemeiuet, undt aucli seine sonderliche
bedeutung hat, haben S. F. G. dem gantzen hochlöblichem Haus Braun-
schweigk zue ehren, alss welches von Ilochgedachtem Hertzog Hein-
richen dem Lewen endtsprossen ist, sich belieben') lassen in diesen
Triumph autf zu zihen. Es haben aber altte vorstendige leuttc
Junge Fürsten undt Regenten hirnit underweisen wollen, In was
grosse gefaiir, Sorg undt Angst, in annhemurg des Regiments sie
tretten, undt wie sie in demselbigen von allerlei Sünde Laster auch
bösen 'iirannen undt Underthanen helVtig angefochtten werden, Undt
mit denselbigen in teglichen Kanpf liegen müssen, welches alles der
streit Heinrici Leonis mit denn Greiften undt Drachen bezeuget undt
zu erkennen giebt, undt das es unmüglich ist, das Sie allein aus
sich selbst solchen Gewalttigen Feinden wiederstantt thuu können.
Derwegen Ihnen auch hoch von nöten das Sie sich der Tugendt
Manheit undt getreuer Lcut bcHeissigcn, damit Sie durch derselbigen
zuthueuilt solchen schrecklichen Feinden nicht allein wiederstehen,
besondern dieselbigen auch überwinden undt einen freien Triumpf
von Ihrer Überwindung . führen undt haltten mügeu, welches alles
durch das tugendtriche Manhaftte undt getreue Thir den Leuen, so
' 'bleiben' handschrift.
280 ZIMMERMANN
Hertzog Heinrichen wieder den (_J reiften undt Traclicn treulich Bei-
stant gethan, bezeichnet undt angedeutet wirt.
In iilmlicher weise wird auch der aufzug der Diana ge-
deutet.
luterpretatio der Inventiun von der Göttin Dianae Ufzug.
Mit dieser Inveution wil S. F. G. zu vorstehen geben, das auch
(Jrosse Hern undt Fürsten in Ihrem Mühseligen beschwerlichen Arabt
Erliche undt Tugenthaft'te Recreationes undt erleuchterung haben
müssen, wie mau den In den Historien Messet, Sonderlich von dem
Cyro undt andern mehr, wie sie sich mit Jagen, Ritter Spiel u.
Musiciren undt anderm hinwieder von vielen nohten und sorgen
Recreiret undt ermuntert, welches alles die Giittin Diana sambt
Ihren Nimphis undt underhabenden wilden Leutten andeutet. Es sol
aber von grossen Hern bei diesen kurtzweilen die bescheidenheit ge-
haltten werden, das dadurch die Regierung undt notwendige Ehren-
geschetften nicht verabsäumet, und Sie denselbigen in that also nach-
hengen, das Sie aller Tugendt undt Vernunft't vorgessen undt da-
rüber fast gahr zu wilden Leutten und Thieren werden, welches uns
in dem Acteone dem Jeger, so wegen seines vielen überflüssigen
Jagens ghar in einen Hirs (wie die Poeten fabuliren) verwandelt
undt verflucht, ohne Zweifel furgchalten wirdet.
Auch über die Veranstaltung der aufzüge sind wir näher
unterrichtet. Der triumphzug Heinrichs des löwen wurde durch
zwei herolde erütünet; ihnen folgten vier 'personen so Trachen-
heubtter vndt Greiilenklauen tragen', dann sechs 'welsche Musi-
kanten', ein geschmückter 'Spiessjunge' einen schild tragend,
der als wappen das weisse ross zeigte, und zuletzt der herzog
selbst auf dem triunij)hwagen, hinter welchem vier geschmückte
hengste geführt wurden. In ähnlicher weise war in jenem jagd-
zuge der herzog als Diana von musikanten, wilden männern,
nymphcu, dem Aktäon u. s. w. umgeben.
Diese darstellung Heinrichs des löwen von selten des her-
zogs Heinrich Julius, von welchem sich die künde natürlich
auch an dem Wohnorte der braut, in Dresden, verbreitete, ist
ollenbar die veranlassung gewesen, dass sich von hier aus am
13. September 1585 ein maier Heinrich Göding an den vater
des bräutigams, herzog Julius, mit einem schreiben wante, das
sich zwischen den oben erwähnten akten erhalten hat. Er er-
bietet sich in diesem ein von ihm gefertigtes gedieht, das die
wunderbaren Schicksale Heinrichs des löwen behandelt, zu ehren
der nahe bevorstehenden hochzeit mit kupfern zu schmücken.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 281
Ein exemplar des druckes jenes gedichtes, das er dem biiefc
beigelegt hatte, liegt ebenfalls noch in jenen akten. Das Schrift-
stück selbst lautet folgcndermassen :
Durchlauchtigster Hocligeborner Fürst, gnedigster Fürst vnnd
Herr. Ewer fürstliche Gnadenn seinn Meine vnnterthenige willige
Diennste inn trewen befornn. Gnedigster fürst unnd Herr, Nach dem
ich Offter gehörtt vonn der schönenn Historienn, so Ewer fürstliche
gnadenn forfahrenu allss cinn kunner vnnd tewer heltt sol ihnn grosser
gefahr geleistet habbenn, auch die warzeichenn, so zw braunschweigk
ihnn Duhme noch gesehen werden, auss weissenn vnnd weill, gnä-
diger fürst vnnd herr, fihl geschichte vnnd dattenn beschriebenn wer-
denn, welches denn hohenn Pottentattenn Nachkommen rumlich, vnnd
ess nicht auss der acht kommen möchte, wie mann dann vonn ann-
dern kunnen heldenn schöne geschieht vnnd tattenn lissett, alss vonn
dem Amadis auss Frannckreich vnnd anndern fihl mehr, wie Ewer
fürstliche gnadenn gnedigst wissen tragenn, auch der Chvrfurst zw
Sachssenn meinn gnedigster Herr solches und andere mer mitt Fleiss
lassenn mahlen,') wie zw ersehenn. Dcrwegenn Ewer fürstliche gna-
denn vnnd dissenn löplichenn fürstlichenn stam zw ehrenn ich diss
gedieht inn euU gemacht-), vnnd op mir solchess geschichte fast
auss gefallenn vnnd aller dinnge nicht recht in der eulle geordnett,
so woUenn doch ewer fürstliche gnaden gnedigst vonn mir diesses
gerinngess kleinness wergk in gnadenn aufnemen, vnnd nach der
selben gnedigenn meinung, da einn Manngel darinne gefundenn,
durch anndere verstenudige besserun lassenn, denn ess jha schade
wehre, dass solche schöne historie sol gar vnntergeheuii vnnd enutt-
lich vergessenn werdenn. Vnnd weil, gnediger fiirst vnnd Herr, tihl
schönner historienn gemahlett vnnd ihnn kopfer gestochen werdenn,
') An des briefsehreibers berühmtes werk 'Ausszug der Eltisten vnd
fiirnembsten Historien des vralten streitbarn vnd berufteneu Volcks der
Sachssen | Insonderheit aber des Keyserlichen K(iniglichen Chur- vnd
Fürstlichen Stammes der Gros vnd Herzogen zu Sachssen . . .' (Dressdeu
ir>y7 u. ITiüs) darf man hier schwerlich denken, da er mit dieser arbeit,
wie Andresen (Der deutsche Peintre Graveur) s. 75 berichtet, 'nachdem
er sehr viele werke für das ehurhaus Sachsen in langer zeit ausgeführt,
in seinem alter sich noch ein gedächtnis habe stiften wollen'. Will man
die Worte auf Göding selbst beziehen, so könnte man eher an die bild-
nisse sächsischer fürsten in der gewehrgallerie zu Dresden denken (mit-
teilungen des kgl. sächs. Vereins für ertorschung und erhaltung der vater-
ländischen altertümer, .i. heft, Dresden 1S4(), s. 4:»); vielleicht beziehen sie
sich auch auf uns ganz unbekannte werke.
-) Vergleiche den letzten vers des gedichts nach dem ursprüng-
lichen drucke:
Von wegen der Geschichten hab ich dis Lied gedieht.
In eyle thet ichs machen, hets sonst besser gericht.
Dem Fürsten Stamm zu Ehren u. s. w.
282 ZIMMERMANN
iinmieru pottentattenn zw ehren vuud gedeclitnuss, binu ich oilfter
willennss gewessenti, zw ehrenn denn braunschweigischenn vnnd line-
burgischen furstlichenn staui solches zw elirenn auch aufs kopfer zw
bringenu, abber biss daher nicht weilligk gewesscnn. Mich auch ver-
ursacht ilisse historie Inveutsion vnnd Triumpf) Ewer fürstliche
Gnadcnn üel geliptenn sohnn Herzog Henrich Julliuss zw ehrenn auf
diss beilager willich vnnd vnndorthenig zw ordnenn, vnnd binn ferner
Ewer fürstliche gnaden vnnderthenig nach meinenn Vermögenn iun
mehren zw dienenn ganncz willigk vnnd thun ewer fürstliche gna-
dcnn saiupt der selbenn fiel geliptenn geniahl sampt der jungenn
herschaft vnd frewlleinn in schucz dess hochsteun bevehlen.
Dattum Dresdenn denn i;{ September Anno 85
Ewer fürstliche gnaden
unntertheniger vnnd
gehorsammer
Henrich götting
Mahller.
Auf der rückseite des ))riefes ist von der band des herzog-
liehen Sekretärs das Präsentatum mit: 'Wolffenbüttel 23 7bri8
Ao 85' vermerkt worden. Ferner: 'Heinrich Gotting Mahler
zu Dresden habe den Triuniphum llenriei Leonis gemahlen'^,
schicke Illustrissimo ein Exemplar, wils in Kupfiler stechen
lassen'. Der entwarf einer antwort ist leider nicht erhalten;
auch jede darauf zielende andeutung fehlt. Wir können daher
nicht mit bestimnitheit sagen, ob herzog Julius auf den ver-
schlag eingegangen ist oder nicht. Da sich jedoch keine künde
von einer solchen bildergeschmiickten ausgäbe des gedichtes
erhalten hat, so ist es wahrscheinlich, dass der fürst von des
maiers anerbieten keinen gebrauch gemacht hat.
Das kann uns nicht wunder nehmen. Julius war ein spar-
samer haushaltcr, dessen nüchterner sinn mehr auf praktische
ziele als auf die förderung der kunst gerichtet war, welcher
im gegensatz zu ihm sein söhn Heinrich Julius eine verständ-
nisvolle, freigebige pflege zuwante. Möglich, dass bei Julius
auch politische Überzeugungen mitwirkten. Er war keineswegs
ein Verehrer der j)olitik seines grossen ahnen. Streng kaiser-
lich gesinnt erblickte er vielmehr in dem bestreben Heinrichs
der reichsgewalt sich gleichzustellen einen offenbaren verrat,
') Vgl. dieselben ausdrücke s. 279. Man sieht hieraus, dass dem dich-
ter die geplanten Veranstaltungen in Wolfenbüttel wolbekannt waren.
^) So wol fälschlich statt 'gedichtet' geschrieben.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 283
der seinem hause zum grössten nachteile ausgeschlagen sei.
In seinem testanicntc vom 29. juni 1052 stellt er daher seinen
söhnen 'zu steter warnung und absehen' das Schicksal ihres
ahnherrn warnend vor äugen.')
Die Vermählung eines braunschvveigischen herzogs mit einer
kursächsischen prinzessin war für Goding in doppelter hinsieht
eine willkommene veranlassung seine dienstfertigkeit zu be-
zeugen. Nach beiden selten hatte er natürliche beziehungen:
seiner gehurt nach gehörte er den braunschweigischen, seiner
dienstlichen Stellung nach den sächsischen landen an. In der
geschichte der deutschen kunst ist der name H. Gödings längst
ein bekannter.-) Die form des namens ist sowol bei ihm selbst
als auch bei seinen Zeitgenossen eine verschiedene gewesen;
es begegnet neben Göding auch Götting, Gödig, Godeg u. a.'*)
Da aber in der kunstgeschiclite der name Göding sich immer mehr
einzubürgern scheint, so habe ich mich, um Verwechselungen
zu vermeiden, dieser bezeichnung hier ebenfalls anschliessen zu
müssen geglaubt, obwol die Unterschrift des obigen briefes für
die form Götting spräche.
') Vgl. Rehtmeier's braunscliw.-liineb. chronik (Braunschweig, 1722)
8. 1038.
^) Vgl. über Göding sowie über seine geniiihle und kupferstiche
Ch. Schuchardt in R. Naumanns Archiv f. d. zeichn. kiinste (Lpzg. 185.5)
b. I. 94 — 101. — Julius Hübner im Archiv f. d. sächs. geschichte, hg. von
W. Wachsmuth und K. v. V^'eber, b. II, s. 184. — G. K. Nagler, Die Mono-
grammisten b. III (München, 1803) 8.337 — 339. — ^J. D. Passavant, Le
I'eintre Graveur b. IV (Leipsic, 1M>3) s. 232— 23'). - Andreas Andresen,
Der deutsche I'eintre-Graveur oder die deutschen maier als kupt'erstecher,
b. 1 (Leipzig, 1864) 8. 71—98. — C. Clausa in der Allgeui. deutschen bio-
graphie, b. IX, 8. 319. Eine eingehende arbeit über Gödings kunsttätig-
keit auf grund archivalischer tbrschungen steht von herrn Dr. Berling in
Dresden zu erwarten. Dieselbe wird im Neuen archiv für sächsische
geschichte, jahrg. 1S87, heft 3 u. 4 erscheinen.
^) Auf dem titel seines werkes: 'Ausszug der Eltisten und liir-
nembsten Historien des Volcks der Sachssen etc.' wird als des Ver-
fassers 'Heinrich (iodegen von Braunschweig' gedacht, während die
unterschritt der widniung lautet: 'Dreszden den .'>. May Jm l.")',)7. Jahr
E. F. G, Unterthenigster Gehorsamer Heinrich Göding von Braunschweig'.
Auf dem titel des zweiten teiles des werkes begegnen wir ebenfalls
wider der form 'Godegen' (nach freundlicher benachrichtigung des herrn
bibliothekars Dr. Schnorr v. Carolsfeld in Dresden).
284 ZIMMERMANN
Heinrich Göding ist, da er am 28. april iOOG iu einem
alter von 75 Jahren in Dresden verstorben ist'), zu ende des
Jahres 1530 oder zu anfang des folgenden in Braunschweig ge-
boren. Um das jähr 1557 kam er nach Dresden und hier hat
er als hofmaler im dienste der kurfürsten August, Christian I.
und Christian II. eine rege Wirksamkeit entfaltet. Er wird
ein freund des Jüngern Lucas Cranach genannt. Neben der
maierei betrieb er auch den kupferstich. Iu beiden zeigt er
sich nach den urteilen der kunstkenner 'als ein technisch ge-
wanter künstler, der sich jedoch nicht über die maniriertc und
handwerksniässige kunstweise seiner zeit erhob '.2)
Dass der Verfasser jenes gedichts mit diesem maier eine
person ist, muss schon nach dem oben mitgeteilten briefe als
ausgemacht gelten. Eine weitere bestätigung erhalteu wir aus
dem titelblatte des druckes, der jenem schreiben beilag. Das-
selbe lautet:
Eine schöne alte Ilistori | von einem Fürsten vnd Herrn, Herrn |
Hertzogen zu Braunschweig vnd Lüue- 1 burgk: In gesangs weis ge-
richtet, I Im 15S5. Jahr, i H. G.
Die buchstaben H. G., welche den dichter andeuten sollen, ent-
sprechen ganz dem monogramme des maiers Göding, welches
ebenfalls ein H. G., H. G. B. (d. i. Heinr. Göding Brunsvicensis)
oder ähnliches enthält.-') Für seine braunschweigische ab-
stammung sprechen unverkennbar auch die worte des letzten
verses seiner dichtung, iu denen er sagt, dass er dieselbe dem
fürstenstamme und seinem 'vaterlande' zu ehren angefertigt
habe.
Der druck des gedichts besteht aus 1() blättern in quart
mit den Signaturen Aü — Du. Die beiden letzten blätter sind
leer, doch ist die Vorderseite des vorletzten blattes mit recht
geschmackvollen Ornamenten angefüllt, in denen wir vielleicht
l)roben der kunstfertigkeit des dichters selbst zu erkennen haben.
Die verse sind fortlaufend wie prosa gedruckt; jedes reimwort
ist durch einen dahinter gesetzten strich bezeichnet. Die ein-
') Michaelis Inscriptiones der grabmonumente aus der kirche und
vom kirchhofc der frauenkirche iu Dresden, 1714, s. 07 (nach einer mit-
teilung des herrn Berling).
'^) Vgl. C. Clauss in der Allgem. deutschen biographie b. X, s. 319.
•'') Vgl. Nagler a. a. o. s. oTi ff.; Andreaen a. a. u. s. 71, Du, 'J4 u. s. w.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 285
zelnen Strophen sind abgesetzt. Auf jeder seite stehen vier
Strophen, das ganze gedieht enthält deren 104. Ueber drueker
und druckort des buehes, die in demselben nicht genannt wer-
den, habe ich nichts in erfahrung bringen können. Die aus-
gäbe ist, wenn nicht ein unicum, so doch jedenfalls sehr selten.
Sie ist in der betreibenden literatur meines wissens bis jetzt
niemals erwähnt worden: in keiner der vielen bibliotheken, bei
welchen ich mich nach ihr erkundigt habe, war sie vorhanden.
Das werk ist in dem sogenannten Hildebrandstone gedich-
tet, in dem Ja die meisten volkstümlichen dichtungen der zeit
verfasst worden sind. Die darstellung des dichters ist gewant,
seine spräche leicht und fliessend. Dass er den echten Volks-
ton richtig zu treffen verstand, bezeugt das lange, ununter-
brochene leben, das sein gedieht bis in unser Jahrhundert
hinein in der volksliteratur geführt hat. Eine weitere bedeu-
tung des gedichts besteht darin, dass es uns einen alten schon
öfter behandelten sagenstoft" in neuer und zwar derjenigen
fassung überliefert, welche für die folgenden Jahrhunderte die
massgebende geblieben ist. Mit den früheren verwanten dich-
tungen'), wie der Michael AVyssenheres-), hat Gödings werk
aucli das gemein, dass der name des beiden nirgends genannt
wird. Er heisst im titel ganz allgemein nur herzog zu Braun-
schweig und Lüneburg, im texte des gedichts fast durchgehend
mir der herr.^) Denn die Vermutung Bartschs '), dass die letzte
') Vgl. über diese im allgeiueinen die einleitung Bartschs zu seiner
ausf^abe des Herzogs Ernst (Wien, 1S69), über die sage den aufsatz
W. Müllers 'Die falirt in den osten ' in Sehanibaehs und Müllers Nieder-
sächsischen sagen und märchen ((löttingon, l'^">5), s. I5M) tV. Schon bald
nacli seinem tode hatten sich lied und sage der gestalt Heinrichs des
löwen bemächtigt. Vgl. Germania, hg. von Bartsch; neue reihe, XIX.
(XXXI.) Jahrg., s. 151 ff.
') Vgl. den abdruck in Massmanns Denkmälern deutscher spräche
und literatur (München, lb2S) s. 12H— IHT.
^) So Strophe 1-. 5^». 6^. {)*. ll^. \l\ 12-. W. IM-. 14'. lö*. I(V^. lt>«.
17^. 18'. r.l- und so fort. Daneben wird er dann alier auch 'der Landes-
herr' S8', 'der fromme Landesherr' 'X-. (15-, 'der Herr zu Braunschwoig'
95^ 'ein llerre von Braunschweig hochgeborn' .H(i-', 'der hochgeborne
Fürst' 3', 'der werde Mann' !<{•'. 2;t', 'der ttiewrc Held' Li', 'Hertzog' 7P,
'Hertzog von Braunschweig' .')9^ und ähnlich genannt.
*) Vgl. Herzog Ernst, hg. V.K.Bartsch (Wien, isr.'.i) s. CXXI, anm. 2.
286 ZIMMERMANN
Strophe, welche den uameu Heinrichs nennt, von einem erneuerer
herrühre, bestätigt sich in der tat. Zwar hat die änderung*
nicht .Sinirock gemacht, wie Bartsch mutmasst, sondern schon
ein früherer bearbeiter, der überhaupt die letzten beiden Strophen
vollständig umgestaltet hat.^)
Welchen quellen Göding bei seinem werke gefolgt sei,
entzieht sich unserer näheren beurteilung. Auf die abweich-
ungen seiner darstellung von der Michael Wyssenheres hat
schon Bartsch aufmerksam gemacht 2) und dabei mit recht her-
vorgehoben, dass man für dieses gedieht eine andere quelle
annehmen müsse. Ich halte die annähme mündlicher Über-
lieferungen bei Göding für vollkommen ausreichend. Dass da-
mals die sage von dem löweuherzoge in Braunschweig noch
vollkommen im schwänge war, beweist u. a. das oben mit-
geteilte zeugniss des herzogs Heinrich Julius. Es ist selbst-
verständlich, dass dieselbe unserm dichter als geborenem Braun-
schweiger ebenfalls wol vertraut war. Viele denkzeichen in
der Stadt und vor allem im alten Blasiusdome erinnerten zu
der zeit in noch grösserer anzahl als jetzt an die wunderbaren
abenteuer des herzogs im fernen morgenlande und an den
löwen, den treuen gefährten des fürsten.-^) Der dichter führt
sell)st deren an: den löweustcin auf dem burg})latze, den man
noch heute als das Wahrzeichen der stadt und ihres weifischen
fürstenhauses betrachtet (str. 101''), das grabmal des herzogs
im dome (str. 99* und 102'), die geierkralle, welche noch zu
Kehtmeiers zeit (1707) über dem grabe Heinrichs von dem
gewölbe der kirche herabhing (st. 19^ und 102').*) Dass diese
erinnerungen und die keuntiiiss braunschweigischer örtlichkeiten
>) Vgl. den abdriick derselben s. 289.
^) A. a. 0. s. CXXII.
•'') Vgl. den schönen aufsatz L. C. Bethraanns die gründung Braun-
schweigs und der dorn Heinrichs des löwen in Westermanns nionats-
heften aug. 1861 s. 525 ff., insbesondere s. 550 ff.
* Vgl. Kehtmeyer der Stadt Braunschweig kirchen-historie. I. teil.
(Braunschweig, 1707) s. 103. Später wurde die klaue dort entfernt und
in der Sakristei der kirche verwahrt, wie ebenfalls Rehtmeyer a. a. o. in
dem 1720 erschienenen V. t. Suppl. 8.3(1 berichtet. Die sog. geierkralle
ist übrigens nicht, wie man nach Bethmanns angäbe a. a. o. s. 558 an-
nehmen könnte, verloren gegangen, sondern wird noch jetzt in dem dome
gezeigt.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 287
wie des üieisberges, den er auftallender weise in 'Geyersberg'
verbochdeutscbt (str. 37-',43^) dem dicbter vollkommen geläufig
blieben, kann uns bei seiner abstammung nicbt wunder nebmen.
Es bestärkt uns dies in der annabme, dass er uns die sage
von Heinrieb dem löwen im wesentlicben in der form über-
liefert bat, in weleber sie damals im munde des Volkes leben-
dig war.
Als älteste form unseres gediebts bat man in neuerer zeit
eine handscbrift angeseben, die sieb in der herzoglicben biblio-
tbek zu Wolfenbüttel befindet (207,5 Extr. 4" bl. 27— 34).i Es
ist dies aber ganz offenbar nur eine abscbrift unseres druckes,
die nach dem cbarakter der sebrift zu urteilen in der zweiten
bälfte des 17. jabrbunderts gemacbt wurde. Dass dieselbe in
Braunscbweig angefertigt sei, dafür spricbt die beibebaltung
der richtigen, noch jetzt gebräuchlichen namensform 'Giersberg'
statt der im druck befindlichen 'Geyersberg' (str. 37^ und 43-').
Der titel hat den zusatz 'Hiurick de Lauwe gebeten', aber,
wie schon Pröble nach einer mitteilung dr. Milchsacks angibt-,
von einer jüngeren band hinzugefügt. Die abscbrift scheint
zwar nach dem originaldrucke selbst gemacht zu sein, ist aber
im ganzen ziemlich flüchtig augefertigt. Es finden sich in ihr
nicht wenige abweichungen, die meistens auf einsetzung jüngerer
wortformen, wie 'ihnen' für 'ihn' {eis), 'haben' für Mian' (ha-
bere) 'vollbracht' für 'verbracht' (str. 40*) u. a., z. f. aber auch
auf Schreibfehler und missverständnisse des abschreibers hin-
auslaufen. Die strophenzalil ist die alte geblieben (101), ob-
wohl nur 103 gezählt werden; denn unter- 40 stehen zwei
Strophen.
' So H. Pröhle in der 2. aufl. seiner deutschen sagen (Berlin, 1S7!I)
s. 290. Die handsclirit't wird in v. Praun's Bibliotheca Brunsvico-Lune-
burgensis (Wolfenb. 1744) 8. 61 sti-. 2:i2 und in A. U. Erath's Conspectus
historiae Biunsvico-Lunehurgicae (Braunschweig, 1745) s. 51 str. 1727 als
in der Wolfenbilttler bibliothck liefindiich angeführt. E. .1. Koch sagte
in der 2. auH. seines compendiuuis der deutschen literaturgeschichfe
(Berlin, 17!I5) b. I s. i:)4, dass sie dort nicht auf/.ulinden gewesen sei. Es
erleidet keinen zweit'el, dass unter jener haudschril't die von Traun,
Erath u. s. w. erwähnte zu verstehen sei. Ausser jenem gedieht enthält
die handschrift noch sehr verschiedenartige dinge, die in sehr verscliie-
denen zeiten geschrieben sind.
'^ Prühle a. a. o. s. 2'.)().
288 ZIMMERMANN
Wiclerboluugeu wird der druck nicht wenige gehabt haben.
Aber es liegt in dem Schicksale aller derartigen dichtuugen,
die auf schlechtes löschpapier gedruckt, von den niederen Volks-
schichten auf Jahrmärkten und Strassen gekauft, von den ge-
liildeten kreisen aber Jahrhunderte lang vornehm missachtet
wurden, dass die meisten drucke fast durchgehends kein langes
leben gefristet haben werden. Sie wurden in den bibliotheken
verschmäht, und so finden wir denn auch jetzt in ihnen, wie
mich reichliche anfragen gelehrt haben, derartige drucke ver-
hältnissigmässig nur äusserst selten.
Der erste druck, der mir nach der ausgäbe von 1585 be-
gegnet ist, stammt aus dem jähre 1727; er befindet sich in
der königlichen bibliothek zu Berlin, in welche er aus der von
Meusebachschen büchersammluug gekommen ist. Der titel lautet
folgendermassen:
Wahrhafftige | Beschreibung | Von dem grossen Helden | und
Hertzogen ÜEINRICII dem Löwen, und seiner wunderbaren höchst-!
gefährlichen Reise. | [Holzschnitt darstellend einen mann in kniehosen
und langem rocke, daneben einen löwen mit erhobenen vordertatzen,
im hintergrunde eine bürg] | Auf Begehren vieler Liebhaber itzo
wie- der aufs neue aufgelegt. (3) | Braunschweig und Leipzig. 1727.
20 bl. in 8". sign. A2— C3.
Auf der rückseite des titelblattes und auf der folgenden
Seite steht eine kurze, sehr lückenhafte Übersicht der braun-
schweigischen herzöge von Heinrich dem löwen bis auf Anton
Ulrich. Auf s. 4 und 5 folgt eine 'Vorrede. An den günstigen
Leser', s. 7 — 16 eine prosaische erzählung des lebens und der
taten Heinrichs des löwen. Auf s. 16 beginnt auch noch der
abdruck des gedichts, der bis s. 36 reicht. Den schluss des
buches nehmen zwei erzählungen von treuen löwen aus Di-
dacus Apolephtes Lusitanus' historischen erquickstunden und
Caspar Titius' theologischem exempelbuche ein.
Dass diese Zusammenstellung des buches wirklich aus der
auf dem titel angegebenen zeit stammt (1727), geht aus der
erwähnung des löwendenkmals auf dem burgplatze zu Braun-
schweig hervor. Es wird gesagt, dass dieses 'nur noch vor
wenig Jahren in etwas erhöhet, auch der pfeiler gäntzlich reno-
viret und abgeputzet worden.' Da einige selten vorher der im
j. 1704 erfolgte tod herzog liudolf Augusts angeführt wird, so
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 289
kann es sich nur um die restauratiou des denkmals im j. 1721
handeln, von welcher Rehtmeier in seiner braunschweig'-lüne-
burgischen chronik s. 1585 spricht.
Ob dem herausgeber bei seiner arbeit das gedieht in dem
ursprünglichen drucke vorgelegen hat oder ob wir in der Über-
lieferung Zwischenglieder anzunehmen haben, lässt sich, da uns
letztere vorläufig fehlen, mit Sicherheit nicht feststellen. Manche
Veränderungen sind in dem gedichte vorgenommen. Wir finden
ältere wortformen mit jüngeren vertauscht, wie 'greif mit
'griff' (str. 17-), 'schneit' mit 'schnit' (str. 17-'), 'steig' mit
'stieg' (str. 19'), 'schrei' mit 'schrie' (str. 234), sodann un-
gebräuchlich gewordene ausdrücke durch neuere ersetzt, wie
'Wirtschaft' durch 'beilager' und 'hochzeit' (str. 33^. 40i 7S^
89='. 93'. 94'), 'hört' durch 'schiff" (str. 28=') u. s. w. Aus dem
'drachen' ist ein 'lindwurm' (str. 20 ff.), aus dem 'greif ein
'vogel greife' (str. 16^), aus dem 'haus' ein 'schloss' (str. GO'),
aus dem 'wirth aussm nobiskrug' oder dem 'nobiswirth' der
'teufel' oder 'satan' (str. 322 uq(J 441) geworden; für 'das orth'
ist 'der orth' gesagt (str. 38') u. s.w. Mitunter greift eines
solchen unbekannteren Wortes willen die Veränderung weiter.
So ist z. b. 'er war ein Degen hart' in 'er war von edler Art'
(str. 2'), 'nach der Burgk war jhm gach' in 'nach der Burg
war sein gang' (str. 48=') verwandelt. Oft liegen auch ofienbare
flüchtigkeitsfehler und missverstäudnisse zu gründe, wie str. 12^,
wo die Worte: 'ich thue solchs nicht meim Herrn' zu 'ich thue
solchs nicht, mein Herr' umgestaltet sind. Ganz umgearbeitet
sind die beiden letzten strophen, welche in dieser ausgäbe folgen-
dermassen lauten:
Ach GOtt du wollest behüten diss hohe Fürsten-IIauss,
In aller Rej^enten Zeiten theileu den Seegen aus.
Auch gniidiglich bewahre für Pest, Krieg, Raub und Brandt
Und gnädiglichen mehre die Nahrung in dem Land.
Zum stetigen Andencken dieser wunderbaren Geschieht
Und auch zu ewigen Ehren des Herren Hertzog Heinrich
Und seinen getreuen LJiwen ist dieses gantze Gedicht
Dem Fiirstl. Stamm zu Ehren in Braunschweig aufgericht.
Die zahl der Strophen ist die alte geblieben. .Sic sind im
drucke abgesetzt; doch sind innerhalb derselben die verse fort-
laufend wie prosa gedruckt. Der text wird durch drei kunst-
290 ZIMMERMANN
lose holzschnitte unterbrochen, von denen zwei ganz gleich sind.
Diese stellen ein schiff auf dem meere dar, der dritte die über-
fnhruug' des loweu nach Braunschweig.
Die heimat dieses bearbeiters haben wir höchst wahr-
scheinlich in Braunschweig zu suchen. Abgesehen davon dass
er in seiner einleitung eine ziemliche bekanntschaft mit der
braunschweigischen geschichte zeigt, verrät er auch in dem
gedichte selbst volle Vertrautheit mit der stadt Braunschweig.
Denn ganz richtig schreibt er str. 37'^ und 43^ statt der hoch-
deutschen form ^geyersberg' die noch heute übliche nieder-
deutsche ^giersberg', und ebenso setzt er str. 48^ statt der all-
gemeinen bezeichnung des 'hauses' des herzogs den namen
'mosthauss' ein, mit welchem damals das mdsftüs, der alte saal-
bau Heinrichs des löwen, bezeichnet wurde, der nach langer
Verwahrlosung in unseren tagen zu neuem glänze ersteht. Den
vcrs (str. 102^): 'Ein Greiff'enklaw thut hangen vber dieses
Fürsten Grab' verwandelt er in 'Eine Greiffen-Klaue auch
hanget zu Braunschweig in den Duhm ', offenbar weil er weiss,
dass die klaue, die noch 1707 über dem grabe des fürsten
hing, inzwischen dort entfernt und in der Sakristei der kirche
untergebracht war.i Auch der schluss des Werkes s})richt für
die braunschweigische heimat des bearbeiters, da er hier
(str. 104) von der ursprünglichen fassung stark abweichend
sagt, es sei 'dieses gantze Gedicht dem Fürstl. Stamm zu
Ehren in Braunschweig aufgericht.' Bei Göding findet sich ein
derartiger hinweis nicht; wir haben daher in diesen Worten
wol eine änderung zu sehen, die durch persönliche Verhält-
nisse des herausgebers selbst veranlasst ist.
Die ausgäbe von 1727 ist im 18. und 19. Jahrhundert ^vider-
holt nachgedruckt worden; sie ist die allgemein verbreitete
form der sog. Jahrmarktsausgabe geblieben. Ich kann vier
verschiedene drucke der art nachweisen, deren titel folgender-
massen lauten.
1. Walnhafte Beschreibung | von dem grossen | Helden und
Herzogen | HEINRICH ] dein Löwen, | und seiner | wunderbaren
hüchstgefälirlichen Reise. | [holzsclinitt, darstellend vorn 6 krieger zu
pferde und zu fuss, dahinter ein zeltlagcr und drei grosse heerhauten] |
Vgl. die anmerkung 1 auf b. 2SG.
ÖEDICIIT VON HICINRICII DEM LOEWEN! ^^l'
Auf Begehren vieler Liebhaber aufs neue aufgelegt. | Bi-aunschweig
und Leipzig. (3'.
2u bi. in S». Sig. A.— C3. Seitenzahlen fehlen.
2. Wahrhafte Beschreibung ] von dem grossen | Helden und
Herzogen | Heinrich | dem Löwen, | und seiner | wunderbaren höchst-
gefährlichen Reise. | [holzschnitt wie der in no. 1] | Auf Begehren
vieler Liebhaber aufs neue aufgelegt. | Braunschweig und Leipzig, (rj.
20 bl. in S". Sign. A.j— C3. Seitenzahlen 4—40.
3. Beschreibung | von dem grossen | Helden und Herzogen |
Heinrich dem Löwen, | und | Seiner wunderbaren hüchstgefährlichen |
Reise. | [holzschnitt wie der in no. 1] | Ganz neu gedruckt. 3.
20 bl. in S". Sign. A2— C3. Seitenzahlen 4— 40.
4. Beschreibung | von dem grossen | Helden und Herzogen |
'Heinrich dem Löwen, , und seiner wunderbaren und hüchstgefähr-
lichen I Reise. | [holzschnitt, welcher vorn einen reiter mit gezoge-
nem Schwerte, dahinter 2 abteilungen fussvolk mit je 2 fahnen und
an der linken seite die ecke eines grossen gebäudes zeigt.] | Ganz
neu gedruckt. 3.
16 bl. in S". Sign. A,.~B.,. Seitenzahlen 6—32.
Die drei ersten drucke befinden sich im besitze der kgl.
bibliotliek zu Berlin, der vierte in dem des Verfassers. Gewiss
würde sich ihre zahl noch sehr vermehren lassen, wenn ihre
erhaltuu^ durch die Ungunst der Verhältnisse nicht so stark
beeinträchtigt wäre.
Alle vier drucke weichen darin von ihrer vorläge ab, dass
sie die drei teile der einleitung umgestellt haben. Sie bringen
zuerst die 'Vorrede an den günstigen Leser', dann die Über-
sicht über die braunschw. herzöge und darauf die prosaische
erzählung von Heinrichs leben und taten. Es folgt sodann,
wie dort, das gedieht selbst mit abgesetzten Strophen und fort-
gedruckten versen und zuletzt der anhang. Ausserdem haben
sie der ausgäbe von 1727 gegenüber eine anzahl grober druck-
fehler gemeinsam. Sie nennen alle vier den herzog Heinrich
Julius 'Heinrich Tulius', als dessen geburtstag statt des 15.
den 5. october; sie setzen den tod herzog Friedrich Ulrichs
statt in das jalir lü34 in d. j. U)43, die geburt herzog Augusts
statt in d. j. 1579 in K)!i7 u. a. m. Auch einige kürzungen
in der vorrede finden sich bei ihnen in gleiclier weise. Ebenso
weichen sie in der widergabc des gedichts von der ursprüng-
lichen quelle nicht selten gleichmässig ab, während sich
zwischen ihnen selbst verhältnissmässig wenige verschieden-
Beitrüge zur gescliichU- der iloutsolu'ii sprarlic. X ITl 20
292 ZIMMERMANN
heiten zeigen. Es würde hier zu weit führen im einzelnen
darauf einzugeben.
Ebenfalls auf jener Zusammenstellung berubt trotz zabl-
reicber und weitgebender abweicbungen die prosaauflösung
des gediebts-, von der mir zwei drucke bekannt sind. Der
titel des ersten, weleben mir berr professor dr. Steinaeker in
Braunscbweig freundlicbst zur Verfügung stellte, lautet:
Merkwürdige | Beschreibung von dem Leben | des grossen |
Herzogs und Helden | Heinrich des Löwen, | und von | seiner höchst-
getährlichen Reise. 1 [holzschnitt, darstellend einen ritter mit einem
löwen den weg nach einem tore hinauf schreitend] | Frankfurt und
Leipzig. 3.)
20 bl. in 8°. Sign. A,.— C. Seitenzahlen 4-4U.
Der titel des zweiten druckes, den mir berr oberlebrer
dr. Pröble in Berlin zur benutzung übersandte, ist folgender:
Leben und Thaten | des grossen Helden | Heinrich des Löwen,
I Herzog zu Braunschweig. | [Holzschnitt wie der des ersten druckes]
I Einbeck, | bei H. Ehlers.
18 bl. in 8". Sign. A,.— C. Seitenzahlen 4—36.
Beide drucke können frübstens aus dem anfange des
19. jabrbunderts stammen, da auf dem burgplatze, weleben in
beiden auf s. 3 ein bolzscbnitt darstellt'), bereits das erst 1802
bis 1805 erbaute Viewegsche haus^) stebt. Die drei teile der
einleitung, 'vorbericbt', 'genealogie der berzöge von Braun-
scbweig' und 'gescbicbte (in II 'kurze gescbicbte') von berzog
Heinrieb dem löwen ', sind bier ebenso geordnet, wie in
den vier obigen undatierten drucken des gediebts; aucb finden
wir den falschen geburtstag des berzogs Hoinricb Julius, das
falsche todesjabr Friedrich Ulrichs und das unrichtige geburts-
jahr berzog Augusts wider. Ausserdem treten uns manche
abweicbungen, lücken wie zusätze, sowol mit den oben ge-
nannten ausgaben des gediebts als aucb bei diesen beiden
prosaerzählungen unter einander entgegen. Auch die 'ge-
scbicbte vom herzog Heinrieb dem löwen auf seiner langen
reise '3) weicht von dem inlialte des gedichtes nicht unvvesent-
') Dieser wie der holzschnitt des titelblattes sind in beiden aus-
gaben nach verschiedenen cliches desselben holzstockes hergestellt.
^) Vgl. H. Schröder und W. Assmann 'Die Stadt Braunschweig'
(Br. 1841) s. 78.
^) In dem Einbecker drucke lautet die Überschrift dieses ab-
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 293
lieh ab. Das wunderbare iu Heiurichs erlebnisseu ist be
deutend abgeschwächt. So wird z. b. in dem Frankfurter
drucke (1) der vertrag mit dem teufel als ein träum in einer
anmerkung erzählt, im Einbeker (II) ganz fortgelassen, in
beiden aber die riickkehr des herzogs durch ein dahersegelndes
schiff bewerkstelligt. Als bräutigam der herzogin wird in 1
ein prinz Cabixtus aus Schwaben genannt, dem nach der riick-
kehr des herzogs eine prinzessin Marianne aus Franken ge-
geben wird; in II fehlt dieser teil der erzählung gänzlich.
Den 'anhang' (erzählung aus Titius' exempelbuch etc.) haben
sie wider gemeinsam. Den schluss macht in I eine mit dem
übrigen in keinem zusammenhange stehende erzählung: 'Ei so
beiss!', in II ein gedieht: 'Die treue des löwen'.
Abgesehen von dieser sozusagen volkstümlichen Über-
lieferung, welche wir so eben verfolgt haben, ist das gedieht
aber auch in vollem Wortlaute oder in prosaauflösung in einer
anzahl von werken enthalten, welche auf mehr oder weniger
wissenschaftlicher grundlage beruhen. Doch haben alle diese
bearbeiter nur jüngere formen des gedichtes gekannt, keiner
von ihnen hat den ursprünglichen druck Gödings benutzen
können.
Reichard ') hat bei seiner prosaerzählung des Inhalts des
gediehts, welcher zahlreiche verse desselben eingefügt sind,
ofü'enbar einen jener undatierten nachdrucke der ausgäbe von
1727 benutzt, da er s. 127 selbst sagt, dass sein gewährsmann
die geschichte selbst bezweifelt und deswegen auf den ersten
10 Seiten dieselbe nach der Wahrheit beleuchtet. Das trifl't
bei jenen ausgaben vollkommen zu.
J. Görres nennt für die kurze i)rosawidergabe des gediehts
in seinen 'Teutschen Volksbüchern' (Heidelberg, 1807) s. 90 — 93
als quelle einen druck, der genau denselben titel führt wie
nr. 1 und 2 der nachdrucke der ausgäbe von 1727.
Die brüder Grinmi erzählen im zweiten teile ihrer deut-
schen sagen (Berlin, 1818) s. 241 — 247 die sage von Heinrich
Schnittes: 'erzählung von den abenteuern auf der reise des herzogs
Heinrich des löwen'.
») Vgl. Bibliothek der roniano VIII 15. (Riga, 1782) s. 12.1—130.
20*
294 ZIMMERMANN
dem löwen 'nach dem Volkslied', ohne dass sich erkennen
Hesse, welche ausgäbe des gedichtes ihnen vorgelegen habe.
J. G. Büsching hat in seinen Volks-sagen, märchen und
legenden (n. a. Leipzig, 1820) s. 211 — 242 das gedieht im Wort-
laute aufgenommen; ihm haben, wie er s. 450 bemerkt, ein
älterer und ein neuerer druck vorgelegen, wol ebenfalls solche
der oben besprochenen bearbeitungen der ausgäbe von 1727,
mit deren texte jener in der hauptsache ganz übereinstimmt.
K. Simrock hat das gedieht im ersten bände seiner deut-
schen Volksbücher (Frankf. a/M., H. L. Brönner 1845) s. 1 — 40
ebenfalls vollständig widergegeben. In der gestaltung des
textes hat er sich zwar mancherlei freiheiten gestattet, im
wesentlichen aber die fassung der Volkslieder des vorigen
Jahrhunderts beibehalten. Das titelbild dieser ausgäbe zeigt
Heinrich den löwen vor einem türme stehend, an dem die
Schilde von Baiern, Sachsen und Braunschweig bangen; der
löwe liegt neben ihm. Ausserdem schmücken das gedieht
sieben andere holzschnitte, scenen der sage darstellend.
Daneben ist ein sonderabdruck dieser ausgäbe erschienen
mit folgendem titel:
Geschichte | des grossen Heldeu und Herzogen | Heinrich des
Löwen I und seiner | wunderbaren höchst gefährlichen Reise | [buch-
druckerzeichen] I Frankfurt am Main | Druck und Verlag von
H. L. Brönner. | Gedruckt in diesem Jahr.
In demselben Wortlaute hat K. Simrock dann das gedieht
ohne beigäbe von holzschnitten in seinem werke 'Die geschicht-
lichen deutschen sagen aus dem munde des volks und deut-
scher dichter' (Frankfurt a. M., II. L. Brönner 1850) s. 278— 304
nochmals herausgegeben.
In den siebziger Jahren erschien: 'Heinrich der Löwe. Ein
altes deutsches Volksbuch. Neu verfasst von L. Grote. Mit
zwölf Holzschnitten. Hannover in diesem Jahr. Im Selbstver-
lage des Herausgebers'. Vorn auf dem umschlage steht eine
nachbildung des titelbildes der Sirnrock'schen Volksbücher.
Auch von den anderen l)ildern ist ein teil nach den dort be-
findlichen holzschnitten gearbeitet, wenn nicht vielleicht beide
auf eine gemeinsame vorläge zurückgehen. Der text Grotes
zeigt noch freiere behandlung als der Simrocks, welcher eben-
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 295
falls benutzt ist. Eine zweite aufläge des werkcs ist im vev-
lage von Gustav Jacob erschienen.
H. Piöhle hat seiner ])rosa(larstellung der sage Heinrichs
des löweu in der zweiten aufläge seiner 'Deutschen sagen'
(Berlin, 1S79) s. 3 — 14, wie er s. 289 f. angibt, ausser dem
8. 292 erwähnten Einbecker drucke die s. 287 besprochene Wolfen-
büttler haudschrift zu gründe gelegt. Er hat der letzteren
folgend manche ausdrücke und Wendungen des Originals bei-
behalten, die allen anderen ausgaben und darstellungen bereits
verloren gegangen waren.
Ein abdruck der dichtung Heinrich Godiugs nach dem
originaldrucke von 1585, der nachfolgt, wird hiernach den
freunden deutscher sage und volkstümlicher dichtung gewiss
nicht unwillkommen erscheinen.
Zuvor ist jedoch zum schluss der abhandlung noch darauf
aufmerksam zu machen, dass unser verlasser des volksgedichts
von Heinrich dem löwen nicht mit dem dichter Heinrich Göt-
tings zu verwechseln ist, von welchem Goedeke in dem zweiten
bände seines Grundrisses- s. 285 zwei gedichle anführt: 'Nie-
mandt: Wie üist Jederman an jhm wil Ritter werden' etc.
und 'Bewerte Kunst Goldt vnd Geldt zu machen. Erfiordt,
Georg Bawman 159ü'. Denn letzterer hiess nicht, wie Goedeke
ihn zviiir nennt, Götting, sondern ganz zweifellos Göttingi d. i.
Göttings. Er stammte ferner, wie der beiname Witzeuhusanus
zeigt, nicht aus Braunschweig, sondern aus Witzenhausen; er
lebte 1585 zu Erfurt und war 1590 Schulmeister zu Gebesee,
einem Städtchen im jetzigen regierungsbezirke Erfurt. Die
vorrede des ersten schriftchens ist 'Erfturdt den 4. Februarij,
Anno 1585' mit 'Henricus Göttingi, W^itzenhusanus' unter-
schrieben; der titcl des zweiten gibt als Verfasser an: 'Heu-
ricum Göttingi Witzenhusanum Ludi Gebeseni M.', und die
Unterschrift des widmungsgedichtes lautet: 'Anno 1590. Hein-
ricus Göttingi'. Danach ist es unmöglich, den maier Heinrich
Göding und diesen dichter für ein und dieselbe person zu
nehmen.
296 ZIMMERMANN
Eine scliöne alte Histori |
You einem Fürsten Ynd Herrn Herrn |
Hertzogen zu Hraunschweig vud Lüne- \
l)ur§k : In gesjings weis gerichtet, |
Im 1585. Jahr. |
H. G.
1. Man sagt von starcken Helden, sie sein zu preysen hoch; [Aiia]
Darumb so mus ich melden von einem Herren auch :
Er ist von Edlem Stamme vnd ist auch lobens werth,
Von wegen grossen Thaten führt er Mllich das Schwerdt.
2. Preiss woldte er erlangen, zog weit in frembde Landt,
Abenthewer zu erfahren, das kam jhm auch zu handt;
Wagt derwegen leib vnd leben, wie jhr jetzt hören werd,
Ja, wie man find beschrieben, er war ein Degen hart.
3. Er nam an Kitter vnd Gräften, der hochgeborne Fürst,
Es waren sein Vnderthanen, nach Ehren jeden dürst.
Sie kamen an ein Wasser: die Gaul Hessen sie stahn
Vnd seumbten sich nicht lange, zu Schiff theten sie gähn.
4. Das Schiti' man fertig machte vnd ließen schnell daruon,
Sie fuhren Tag vnd Nachte, kein Landt sie traff"en an.
Es zerbrachen jhre Segel, sie kamen da in noth;
Gros kummer stund jhn zu banden, jeder wündscht jhm den Todt.
5. Sie lagen da fast lange, die Speise hat ein endt. [Aiii»]
Dem Herrn war fast bange, er hub auft" seine Hendt:
Ach GOTT, thue dich erbarmen, wir müssen leiden den Todt,
Kom du zu hülff vns armen, wir han weder Speiss noch Brodt.
0. Einer klagt dem andern den kummer, auch dieses gros Ellendt;
Jeder war math von hunger, sie wunden jhre Hendt.
Der Herre sprach mit sinnen: wir stehn alle warlich blos.
Wir mögen nichts begünnen, jeder mach auff sich ein Loss.
7. Die Loss wurden gemachet, wie man nun hören thut.
Ein jeder darauff trachtet, man legt sie in ein Hutt;
Vnd ward gentzlich beschlossen, wer erstlich herausser kern,
Sol sein gantz vnuerdrossen, sich den andern geben heim.
8. Das Loss fiele zum ersten auft' einen kühnen Heldt.
Er sprach balde von hertzen: machts, wie es euch gefeldt.
Mein Leib wil ich euch geben dahin zu ewrer Speiss,
Nerabt mir als bald das Leben, theilt vnter euch mein Fleisch.
9. Ihr mögt mich brathen vnd sieden, ich gebs euch hertzlich gern, [A iiia]
Allein wolst, GOTT, behüten vnsern frommen Landes Herrn.
Es gehe gleich vber vns alle, wir sein klein oder gros,
Ach GOT']', das ja nicht falle auff vnsern Herrn das Loss!
II
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 297
lü. Der Heldt warde geschlachtet, wie man das Messet noch;
Speise man aus jhm machet, himger war der beste Koch.
Er war balde vorzehret von seinen Mitgesellen-,
Der hunger sie solches lehret, ein ander must sich einstellen.
11. Auff welchen das Loss thet fallen, thet sich einstellen gern.
GOTT gab das glück für allen, er verschont jmmer den Herrn.
Er stund mit einem Knechte, wäre nechst GOTT sein trost;
Gros waren sie iu nöthen, der Herr war nicht erlost.
12. Der hunger hield nicht stille, er war bey jhnen gros.
Der Herr sprach: es ist mein wille, wir beyde werflfen das Loss;
Auflf wehn es dann thut fallen, sol den andern verzehrn.
Der Knecht rleff laut mit schallen: ich thue solchs nicht meim Herrn.
13. Sie theten beyde lossen, der Knecht sähe das nicht gern. [Aiii'j]
Das Loss da thete fallen auff sein getrewen Herrn.
Der Knecht solte jhn tödten, befahl der werde Manu;
Hoch waren sie in nöthen, der Knecht wolte nicht dran.
14. Der Knecht spräche mit trewen: Herr, es ist als verlohrn.
Last ewer Leben nicht gerewen, jhr seid ja hochgeborn.
Von Leder wil ich euch machen gar bald ein newen Sack,
Ihr mögt des glucks erwarten, jhr seid noch Jungk vnd starck.
15. Der Knecht nam iu der gute den thewren Helden werth,
Nehet jhn in Ochssen heute vnd legt zu jhm sein Schwerdt.
Ach thue es GOTT erbarmen, wie stehe ich jetzt in noth!
Meinen Herrn hab ich begraben vnd ist doch noch nicht todt.
16. Zu haudt käme geflogen ein grimmiger Greiff gros, —
Ist war vnd nicht erlogen, — bald nach dem Herren schoss,
Fast jhn mit seinen Klawen, furth jhn bald in sein. Nest,
Der Herr thete sich frewen: GOT'l thue bey mir das best!
17. Der Greiff flöge von hinnen, mehr Speise er begert. [A iv^^J
Der Herr thet sich besinnen, er greiif sein scharÖes Schwerdt,
Er dancket GOTT dem HERREN vnd schneit sich aus der haut;
Er sähe sich freudig vmme vnd fast ein guten muth.
IS. Die Greiifen theten schreyen, sie begerten bald des Herrn.
Ich sag es auif mein trewen, er thet sich jhrer erwehrn.
Er rieft' zu GOtt dem HERREN, der halft' jhn ferner aus noth,
Thet sich der Vogel erwehren vnd schlug sie alle zu todt.
19. Er steig gar bald herunder wol aus dem Greiff'en Näst,
Es nam den Herren wunder der vngehorten Gast.
Man thut noch wol anschawen zu Braunschweig in der Burgk,
Da hengt ein Greift'en Klawe, bracht er mit ohne sorg.
29S ZIMMERMANN
20. Der llerie kam in weiten im Wald, tliet sich vmbschawen,
Er sähe gar grimmig streiten einen Drachen mit dem Lawen.
Er sprach: ich wil es wagen, sol ich gleich bleiben Todt,
Thete auffden Drachen schlahen, si)rach: das walde der liebe Gott!
21. Ich hab otl't hören sagen, der Lew sey ein trewes Thier, [Av'']
Driunb wil iclis mit jhm wagen kegen dem Drachen vngehewr-,
Ich hoft", vns soll gelingen, der Drach sol liegen todt,
Wil jhm daprt'er beyspringen, dem Lewen helft'en aus noth.
22. Sie theten da fast ringen, jeder sein sterck bewerth:
Der Herr herzu thet springen mit seinem guten Schwerdt;
Der Lewe ward das jnnen, türm Drachen er nimmer weicht,
Der Herr aus kühnen sinnen bald auÜ" den Drachen streicht.
2;). Der Drach spert auff sein Rachen gegen dem viel werden Mann.
Der Herr begundt zu lachen, er sprach den Lewen an;
Der Lewe mit freiem muthc schnell auif den Drachen sprang,
Der Drache schrey fast laute, das in dem Waldt erklang.
21. Der Herr mit freyem muthe schlug autf das wilde Thier
Mit seinem Schwerdt so gute, aus jhm gieng wildes Fewr.
Das sähe der Lew so gute, trewe er dem Herren both;
Der Herr aus freyem muthe schlug da den Drachen todt.
25. Der Lewe thet sich legen zum Herrn vnd seinem Schildt, [B^]
Er thete seiner pflegen, er tieng jhm Hirsch vnd Wildt;
Grosse trew empfeht der Herre von diesem wilden Thier,
Er thets jlim machen gare, sagt man, ohn alles Fewr.
26. In diesem grossen Walde warn sie mit Wasser vmbgeben.
Er besann sich schnell vnd bakle: wie thue ich mit dem Lewen?
Eine Hort thet er bald machen von Holtz vnd auch von Reiss;
Der Lewe thet fleissig trachten, das er bekem ein Speiss.
27. Die Hort die war gebunden, er legt sie auff das Meer,
Satzt sich darauff von stunden, sähe weit vmb sich daher.
Der Lewe kam gegangen, hat jhm ein Wildt gehatzt;
Der Herr seumbt sich nicht lange, het sich erst niedergesatzt.
28. Der Lewe trawret sehre, er fandt sein Herren nicht,
Er lieff fast hin vnd here, sähe gar weit vmb sich,
Er hört des Herren stimme, er sähe jhn auff dem Hort,
Sprang bald aus grossem grimme zum Herren auff den Hort.
29. Sie flössen Tag vnd Nachte, wo sie der Windt hintrieb; (B'>|
Der Herr auch jmmer wachte, für angst er wenig schliclf,
Het auch viel lieber gesehen, der Lew wer blieben da.
Wie sol vns nun geschehen? vnglücke kömpt vns nah.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 299
3(1. Ach GOTT, tliue dich erbarmen, rieft' er, hub auft' die Hendt,
Hilif doch zu Landt mir armen, die Speise hat ein endt.
Es war wol zu erbarmen, wie man erachten kan.
Der Lew an seinen Armen sähe jlin fast trawrig an.
31. Ja wunder mus ich sagen, wie man es utVt ertindt;
Mancher Feindt thut hass tragen, wenn er es enden kündt.
Aber GOTT kann es wenden, mus kommen jhm zu gut,
Sein Vnglücke auch enden vnd helft'en aus der Noth.
32. Der Herr sich hart verwachet, het Tag vnd Nacht kein ruh.
Gar baldt sich zu jhm machet der Wirth aussm Nobiskrug:
New Zeitung wil ich dir sagen, hör wol auft' meine wort.
Du liegst in Wassers wagen, must endtlich sterben todt.
33. Zu Braunschweigk sein eingzogen, Ja gestern zu Mittag, — [Bii»]
Ist war vnd nicht erlogen, was ich dir jetzundt sag, —
Man wird da WirtschaÜ't halten, ist jedem wol bekandt,
Ein ander aus trembden Landen, der kriegt dein Weib vnd Landt.
34. Der Herre sass in trawren, er glaubt es were war:
Ich bin ja aus gewesen lenger dann sieben Jahr,
Sie werden nicht anders deneken, ich sey wegk von der Welt;
Zu GOtt wil ich mich lencken, der machs wies jhm gefeldt.
35. Ja hör, ich wil dir sagen, du sagst noch viel von GOTT;
Du liegst ins Wassers wagen, er liilft't dir nicht aus noth.
Ich t'iilir dich heut als balde zu dem Geniahle dein,
Auch zu dein Freunden allen, wenn du wilt mein eygen sein.
36. Sie halten ein lang gespreche, der Herr wolt wilgen nicht:
So ich mein gelübte breche gegen GO TT dem ewigen Liecht,
Ob ich gleich bin ein Ilerre von Braunschweig hochgeborn,
Fiel von Gott meinem Herren, so wer ich ewig verlorn.
37. Eins wil ich dir vorschlagen, gehe nur nicht lang zu rath: [Bii'j]
Ich wil dich heut ohn Wagen tiilirn gen Braunschweigk vor die Stadt,
Ja one einigen schaden auftm (icyersbergk legen nieder-,
Da soistu meiner warten, bis ich kom schier herwider.
3S. Ich wil alsbald verschaften den Lewen an das Orth,
Vnd so ich dich findt schlaft'en, — nun merck wol auft" mein Wort: —
Alsdann soistu mein eygen in meinem Reiche sein.
Er wold jhn gern betriegen vmb Leib vnd Seele sein.
39. Ach GOTT, thue mich erretteu! wie thue ich nun der sachen?
Ich wil gar trewlich beten, wil darzu fleissig wachen.
Ach GOTT, thue mir bescheren heut einen seligen Tag!
Ich befehl mich GOTT dem HERREN, biss der Lewe kompt hernach.
300 ZIMMERMANN
40. Der Herr thet sich besinnen, gab doch sein willen drein,
Wie er ruöcht isominen von hinnen zu der allerliebsten sein:
Ach GOtt, wolst mich bewahren diesen Tag vnd auch die Nacht,
In Gottes geleyt zu fahren, ehe die Wirtschaflft wird verbracht.
41. Er nam den werden Herren, fürt jhn in lüiften hin, [Biü»]
Er meint, er sol sein werden, het einen guten gewyhn.
Vor Braunschweigk leget er nieder den Edlen Herren frum:
Ich kom gar baldt herwider; kanstu wol wachen nuhn?
42. Der Ilerre war fast müde, ist warlich nicht erlogen:
Ach GOTT, mich doch behüte, zufallen wollu mir die Ogen.
Hilff GOTT, das ich nicht schlaffe, es möcht mir vbel gehn,
Möcht kommen in sein Rachen, darzu in ewige Pein.
43. Er thet sich nieder lencken, der schlaff satzt jhm fast zu;
Er war nicht zu verdeucken, hat lang gehat kein rhu;
Er lag auffm Geyersberge zu Braunschweig für der Stadt,
Wie man wol kan gedencken, von der Reyse war er math.
44. Es wehret nicht gar lange, Nobiswirth thet einher schweben
Vnd het gar fest vmbfangen den frommen getrewen Lewen.
Er sähe den Herrn liegen, er dacht er wer gar Todt.
Er liegt dort an dem Berge, ist kommen da in noth.
45. Der Lew^e thet laut schreyen, weil der Herr sich nicht rührt, — [B iüi*]
Den Teuffei thets gerewen, das er jhn hat geführt: —
Der Herr von solchem gschreye gar schnell vnd bald erwacht;
Da thets den Teuft'el grewen, warft den Lewen, das er kracht.
46. Ja, so der Herr geschlaffen, wer kommen vmb Leib vnd See).
Der lieb GOTT thut solchs schaffen, von jhm kompt Leben vnd Heyl;
Er hilfft in diesem Leben vnd endtlich aus dem Todt,
Thet seiner ferner pflegen, halff jhm aus dieser noth.
47. Der Herre fiel da nieder, er dancket Gott dem HERRN,
Rieht sich darnach auff wider; es wil nun Abendt werdn.
Wer er den l'ag niclit kommen, wer jlitn ein grosser schad,
Wie jhr jetzt habt vernommen, er kam fast eben spat.
4S. In die Stadt kam er gegangen, der Lewe folgt jhm nach.
Er war gar schlecht empfangen, nach der Burgk war jhm gach.
Er hört ein gros gedüline; er dacht: was mag das sein?
Er thet sich balde lencken, nachm Hause stand sein sinn.
49. In sein Hauss wolt er schreyten, man wolt jhn nicht einlahn, [Biv»]
Trabanten vnd auch Leute die drawten jlin zu schlan.
Was wiltu allhier machen wol in des Fürsten Hoff?
Wir Sehens an dein sachen, du bist ein vmmelauff.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 301
50. Gros wunder nam den Herren, was er da sähe vnd hört:
Es darff noch wol wahr werden, was der Teuffel mir sagt.
Was bedeut das gedöhn vnd pfeiffen? ist hier ein frcmbder Herr?
Gebt mir bericht, jlir Leute, was seins für newe MeerV
51. Der Herr ist ja nicht frembde, er ist vns wol bekandt-,
Ich sag, das er bekömiuet heut das Braunschweigisch Landt
Mit vnser gnedigen Frawen; dann sie ist hochgebohrn,
Sie ist ein Witwe in trewen, jhren Herrn hat sie vcrlohrn.
52. Der Herr verwundert sich sehre, thet eylen mit der Sacb,
Er trath zu jhn anhere, thet freundlich bitten die Wach:
Hetten sie kein bedencken, soUn thun den willen sein,
Er wolt nicht mehr begeren dann nur ein Becher Wein.
53. Der Ilerre bath fast sehre, er wolt gar nicht ablan; [Bivi>]
Es war jhr Landes Ilerre; der Abendt gieng heran.
Er sprach zu einem in trewen; sprich doch die Fürstin an,
Es sol dich nicht gerewen, du scheinest ein trewer Mann,
54. Vnd thue sie freundlich bitten ein trunck von jhrem Wein,
Den wolt sie herunder schicken; uiath ist das Hertze mein.
Er sähe an den Lewen vnd auch den werden Mann,
Er lieff gar schnell vnd balde zeigt es der Fürstin au.
55. Die Braut die thcte lachen: was ist es für ein Mann?
Es warn jhr seltzame Sachen, das er ein Lewen sol han.
Von Goldt gab sie ein Geschirre: las jhn den Trincken aus,
Er ist ein Abenthewer; wie kompt er in das Ilauss?
56. Man trugk den Becher hienunder, er trancke aus den Wein.
Warlich mich nimmet wunder, woher du magest sein.
Das du begerst zu trincken allein von diesem Wein,
Den thut man allein eiuschencken der frommen Ilertzogin.
57. Er nam ein Riugk von Golde, von ander war er geschlagen, [C^^]
In Becher warff er jhn balde, bath sehr, man wolt jhn tragen
Allein für die Fürstin milde; daraulf war geschnitten ein
Sein Helm vnd auch das Schilde; das trugk er jr hienein.
58. Der Knecht nam das Geschirre, er thet jhm nichts mehr sagen;
Es dauclit jhn Abenthewre, für die Fürstin thet ers tragen.
Er sprach: zart gnedige Frawe, eine Fürstin hochgeborn,
Thut diss Ewer gnad anschawen, haben sie diss Goldt verlorn?
59. Sie nam das Goldt zu banden, eygen thet sie es anscliawcn;
Ihr Hertze lag in banden; sie sahen all auff die Frawen.
Sie ward entferbet sehre, bald ward sie wie ein Leich,
Sie gedacht: ist es mein Ilerre, der Hertzog von Braunschweig?
302 ZIMMERMANN
HO. Die Braut stund auff mit eyle, bald in die Kammer gieng.
In einer kleinen weile rieflf sie den Käuiraerling,
Sprach: habet jhr gesehen drunden den frembden Mann?
Ja der für vnserm Hause sol mit dem Lewen stahn?
61. Er sprach: zarth gnedig Frawe, ich hab jhn wol gesehn, [C^']
Thet jhn gar wol anschawen, der Lew thet mit jhm gehn-,
Der Lew ist jhm getrewe vnd ist jhm vnderthan;
Viel Leut thun jhu anschawen, ist warlich ein feiner Mann.
62. Sie legt sich an die Zynnen vnd thet hienunder schawen,
Sie ward jhres Herrn junen, er sass da mit dem Lawen.
Hilff GOtt, das mir gelinge! was er mir hat geschickt,
Ist von meins Herren Ringe, gar offt sie jhn anblickt.
63. Last jhn heraufter kommen, wir wolln jhn freundlich fragen,
Wo er den Ringk genommen; er mus es warlich sagen.
Den Ringk ken ich gar eben; mein Herr hat mir jhn geben,
Da er von mir thet scheiden, ach Gott, wer er bey leben!
64. That jhn von ander schneiden, das ist gewiss vnd war,
Da er von mir thet scheiden lenger dann sieben Jahr.
Kom ich dann nu nicht wider auff dieses Hauss vnd Saal,
Sprach da mein Edler Herre, so nembt ein ander Gemahl.
6.5. Jederman nam es wunder: was wil daraus noch werdn? [Cii»]
Die Räht namen besonder den frommen Landes Herrn.
Sie fragten jhn in trewen vmb diese wunder ding.
Ja wo ers het genommen, es wer jhres Herrn Ringk.
66. Der Herr begundt zu lachen, sprach: es wird werden gut.
Ja fleissig thet er trachten, ob er möcbt sehn die Braut.
Von keim hab ich bekommen, das sag ich euch fiirwar,
Ich hab jhn hie genommen lenger dann sieben Jahr.
67. Sie theten jhu anschawen: er war ein ernster Mann.
Einer lieff zu der Frawen, thut jhr solchs zeigen ahn:
Der Ringk der were kommen ja an sein rechtes Orth,
Er het jhn wider geleget, dahin er billich ghort.
68. Die Fürstin wundert sich sehre, gieng schnell durch einen Saal,
Sie sprach: ach Gott, mein Herre ist es, mein liebes Gemahl;
Denn der Ringk ist gewesen dem liebsten Herren mein.
Ach möcht er sein genesen, wer noch beim leben sein!
69. Sie thet den Herrn anschawen, für freuden fiel sie nieder. [Cii^^]
Der Herr sähe an die Frawen, thet jhr aufihelft'en wider.
Es nam wunder alle Herren, sie sprachen all zugleich:
Was wil da noch aus werden? hilff GOTT von Himmelreich.
GEDICHT \ ON HEINRICH DEM LOEWEN. 303
70. Die Fürstin thet jiin kennen, both jhm jhr weisse Handt.
Ach Herr, jhr wolt euch nennen: seid jhr der Herr im Land?
Ihr solt euch vns anmelden, sagen wir zu dieser stund;
Wir preysen GOtt dem HErren, das jhr seid kommen gesundt.
71. Vor Zeiten war ich ein Herre, sage es ohn allen spott,
Mir geschieht jetzt wenig Ehre, mus es befehlen GOTT;
Ich war ein Ilertzog ohn sorgen, das sag ich euch fürwar.
Zu Braunschweig ausgezogen, ist lenger dann sieben Jahr.
72. Seid jhr des Lands ein Herre, seid vns all Gott wilkomn!
Sie theten jhm gros Ehre, dann er war mildt vnd fromb.
Die Fürstin fiel danieder, sie danckt dem lieben GOTT:
Mein Herr ist kommen wider, XiOTT hat jhn wol behut.
73. Zu Tisch thet man jhn weisen, jederman es gerne hört, [Ciii»]
Man thet jhn besser speisen, als jhm geschach auft" der Hort,
Zur Braut satzt man jhn nieder, jederman thet jhn anschawen;
Man thet auch wol versorgen sein getrewes Thier den Lawen.
74. Was sol man jmmer sagen V dem Breutgam kam die meer,
Er war wol zu beklagen, das eben kam der Herr:
Nun ist meine sach verloren, durchn Korb bin ich hindurch ;-
Wer ich noch höher gebohren, stehe jetzundt fast in sorg.
75. Der Breutgam trawret sehre, es thet jhm weh der höhn.
Wens nicht wer der Lands Herre, er wolt daruon nicht lohn.
Nach der Braut stund sein verlangen: ich hab ein Wildt geiagt,
Ein ander hat es gefangen, das sey ja Gott geklagt.
70. Die Herrn giengen zusammen, man pfleget guten rath ;
Der Fürst thet zu jhn kommen, ja jeden er da bath,
Guten rath solten sie geben; in gnaden wirds erkandt:
Ja weil er het sein leben vnd Herre wer im Landt.
77. Seiner guad sie theten dancken, die Sach wer nicht verlorn: [C iii'']
Ein Frewlein ist hier aus Francken, ist warlich hochgebohrn;
Dem Breutgam wolln wir sie geben, das sol gesehen zu handt,
Sie ist fast seuberlichen als eine in diesem Landt.
78. Dem Fürsten thet gefallen, die Vohrschläg waren gut;
Er lacht, das es thet schallen, gar frölich war sein muth.
Gehet bald in der eyle, zeigt es dem Herren an:
Er sol doch Wirtschafft halten, das Frewlein sol er han.
79. Die Herrn eyleten sehre, giengen zu jhm ins Gmach,
Sie sagten jhm die mehre, erzehlten jhm die Sach:
Zeittting wolln sie jhm bringen, die Sach wolt werden gut,
Man wolt jhm bald zufüren ein schüne Junge Braut.
304 ZIMMERMANN
80. Ewer gnad haben vernommen von vnserm Landes Herrn,
Das er ist wider kommen aus frembden Landen fern.
GOTT hat Jim auch bewahret aus vieler angst vnd noth;
Wir waren all in trawren, als wer er langest todt.
81. Weil es dann so GOTT schaffet, die euch zur Ehe vermählt, [C iv-'^]
Die Fürstin auch darauft" hoffet, vnd es ja nicht sein solt,
Euch ein aus hohen Stammen ein Frewlein ausserkorn.
Diesen Raht hat gegeben vnser Fürst hochgeborn.
82. Der Herre sprach mit sitten: Ihr trewen Räht vnd Herrn,
Eines wil ich euch bitten, kündt jhr mir das gewehrn,
Das vnser gnediger Herre gebe sein Willen drein;
Ich sag es auff mein trewe, sei mir nu die liebste sein.
S:^. Spürt jhr den gnedigen Willen von denen hochgebohrn,
So gehet in der stille zu der jhr habt erkohrn.
Ich sag es euch fürwahre: mein eygen sol sie sein,
Mit mir sol sie heim fahren gar baldt in meine Heimbt.
84. Sie seumbten sich nicht lange, giengen zum Frewelein;
Sie wurden schon empfangen, hies sie wilkommen sein.
Mit züchtigem geberde drugen sie an jhr Sach;
Das Frewlein wehrt sich sehre, doch endtlich sie des lacht.
85. Sie wolte auffschub nemen, die Herren wolten nicht. [C iv'']
Ein wenig thet sie sich Schemen, gab doch höflich bericht:
Sie weit fragen ihren Herren, darzu seiner gnaden Gemahl;
Was sie jhr rathen theten, solt jhr gefallen wol.
86. Sie sprachen: Edel Jungfrewlein, vnser hohe Oberkeit
Han geben jhren willen drein; gebt vns kurtzen bescheidt.
Ja vnser Gnedige Frawe het jhn selber genommen,
Wir sagens auff vnser trewe, wer er nicht wider kommen.
87. Nu Gottes will geschehe! wil ers dann also han,
Sol ich nun greiffen zur Ehe, zeigts vnserm Herren an.
Sprachen: das müssen wir sagen, das vnser gnediger Herr
Euch hat diss vohrgeschlagen, reicht euch zu grosser Ehr.
88. Das Frewlein gab jhren willen, sie hatte Ja gesagt.
Sie zeigens an dem Herren, sprachen: jhr habt noch wol geiagt;
Das Frewlein ist ewer eygen. GOTT gebe glück darzu!
Wollen sie euch bald zulegen, solt haben gute Ruh.
89. Der Herr mit freyem muthe thet dancken diesen Herrn: [D»]
Mein sache wird fast gute, nu bestehe ich noch mit ehrn.
Sol ich nu Wirtschafft halten mit meiner newen Braut,
Gott der HERR thue es walten, mein sach ist worden gut.
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 305
90. Sie antworten in der eyle: es sol noch heut geschehn.
Man nam da nicht viel weile, giengen bald zum Frewelein.
Man nam sie bej' den handen vud fürt sie zu dem Herrn;
Er thet sie wol empfangen, er nam sie hertzlich gern.
91. Grossn danck thet er jhn sagen, thet sie empfangen fein
Auff einem gülden Wagen fuhrt sie zur Kirchen nein.
Ein jeder kundt nicht hören allda sein eygen wort
Von Pfeiffen vnd Drommeten, desgleichen man nie erhört.
92. Man gab sie da zusammen, wie das noch oflft geschieht.
Da sie herausser kamen, war alles zugericht.
Jederman war in freuden, die sach deuchtet jhn gut;
Es war wol zugerichtet, doch nicht auff diese Braut.
93. Man thete Wirtschafft halten, man sähe da manchenMann [D'^]
Von Jungen vnd den Alten geriist bald auff' dem Plan;
Mit Rennen vnd Thornieren brach mancher seinen Spiess,
Ja, wie man hat gesehen, that jeder grossen fleis.
94. Die W^irtschafft hat ein ende, ein jeder Yrlaub nam.
Gaben dem Herrn die Hende Braut vnd der Breutigam.
Man thet sie auch geleiten, gros Gutt man jhn mit gab;
Jederman so es gesehen, hat lust vnd freude darab.
95. Der Herre sass in Ehren, Regieret Leut vnd Landt;
Man thete jhn fast ehren, leyst den frommen offt beystandt.
Man thete jhn fast lieben den Herren zu Braunschweig
Von wegen seiner trewe, macht manchen Armen Reich.
96. Biss in sein alten tagen thet jhn GOtt wol bewahrn.
Sein Gemahl ohn alles klagen für vngelücke sparn.
Ja, die nach seinem Tode diss Landt theten regiern,
Gab jhnen GOTT aus gute viel Frewlein vnd Junge Herrn.
97. Der Herr leget sich nieder, von Alter war er schwach: fDiia]
Kom ich dann nicht auff wieder, so befehl ich meine Sach
Christus meim lieben HERREN befehl ich Leib vnd See!,
Der wolle nun mein pflegen; von jhm kömpt leben vnd heyl.
98. Sein Gemahl weinet sehre, der Herr thet sie gesegnen:
Mein bleiben ist nicht mehre, GOTT wolt nun ewer pflegen,
GOTT wolle euch bewahren, darzu auch Leut vnd Landt.
Wol in derselben stunden both jedem da die Handt.
99. Er thet sein Geist auffgeben, der Edle Herre werth,
Vnd endet da sein leben, man legt zu jhm sein Schwerdt,
Man thet ehrlich begraben ja dieses Fürsten Leib;
Das Grab wird noch gesehen im Thume zu Braunschweigk.
306 ZIMMERMANN
100. Jedermau trawret sehre vmb den Herrn hochgebohrn,
Desgleichen dass wilde Thiere, hat auch sein Herrn verlorn.
Der Lewe legt sich nieder wol auff seins Herren Grab,
Daruon wolt er nicht wider, bis er sein Geist auflf gab.
KU. Man thet die Ehr dem Lewen, man grub jhn für die Burgk; [D iii>]
Man thut das Grab anschawen, wer jetzt noch gehet durch.
Ein Lewe ist gegossen, teglich thut man jhn sehn,
Stelt fast ein guten possen; auflfer Seule thut er stehn.
102. Ein Greiffenklaw thut hengen vber dieses Fürsten Grab,
Er thete sie mit bringen, wie ich berichtet hab ;
Dabey ist nu zu mercken, das solches ist geschehn.
la mitten in der Kirchen wird diss Grab noch gesehn.
103. Ach Gott, du wolst bewahren all fromme Oberkeit
In diesen schweren Jahren für angst vnd grossem leidt,
Gnediglich sie behüten allhie in diesem leben,
Das sie von Landt vnd Leuten gute Rechnung mögen geben.
104. Von wegen der Geschichten hab ich dis Lied gedieht,
In eyle thet ichs machen, hets sonst besser gericht.
Dem Fürsten Stamm zu Ehren, auch meinem Vaterlandt,
Befehl ich GOTT dem HERREN in seine starcke Handt.
Anmerkungen.
Der vorstehende abdruck gibt im ganzen den originaldruck in
möglichster genauigkeit wider. Er unterscheidet sich von ihm nur
durch das absetzen der verse, die einführung der interpunktion und die
abänderung einzelner augenscheinlich durch druckfehler in den text ge-
ratener Worte, welche sich im folgenden verzeichnet finden. Die reime
des dichters sind sehr ungenau, ja sie fehlen zumal am ende der ersten
halbzeilen nicht selten ganz. Es finden sich hier z. b. worte wie:
Segel : handen (4^- ^), Knechte : nölhen (ll^- *), Zossen : fallen (liJ^* 2),
Herren : vmine (17^- ^), Irawren : gewesen (34'" -J, geduhne : lencken
(4S^" % fremhde : bekommet (51'- -) u. s. w. zusammengestellt. Streng
innegehalten hat der dichter den klingenden ausgang in der mitte der
langzeilen. Nur in 5 versen ist er nicht überliefert, aber durch ganz
leichte änderungen herzustellen, die demnach gewiss nicht unberechtigt
erscheinen.*) Auch der stumpfe reim am ende der langzeilen findet sich
fast durchgehends gewahrt und zu seiner aufrechterhaltung hat der
dichter auch kürzungen nicht verschmäht, wie verzehrn : Herrn (12^* *),
Tliier : Fervr (24*" '•'), Herrn : werdn (47i" -), rvUkomn : fromh (72*" ^),
Herrn ; gewehrn (82i- -), sein : heimbt heimat (b3^' •*), Herrn : ehrn ho-
nores (891- 2). Ich habe daher an den stellen, wo das eine reimwort
') An vier stellen (17^. 39^. 69^. 853) jgt Herrn statt Herren zu
schreiben und li^' * vei'lorn : gebohr n statt verloren : gebohren.
ÖEDICHT VON HEINRICÖ DEM LOfiWEN. 307
die kürzere form zeigte, auch bei dem zweiten eine solche eingesetzt.*)
Dasselbe verfahren auch an den 18 stellen einzuschlagen, wo beide reim-
worte die längere form aufweisen 2), schien mir eine zu grosse abweichung
von dem überlieferten texte zu sein, obwol es keinem zweifei unter-
liegen kann, dass auch diese versausgänge als stumpf gemeint anzu-
sehen sind.
6*. Das auslosen der schiffsinsassen in der hungersnot und das
verzehren der vom lose getroffenen ist ein zug, der uns in den ver-
wanten fassungen, bei M. Wyssenhere^) und im niederländischen volks-
liede*), nicht begegnet.
7^ geschlossen druck.
7*. dem druck.
173. HERRN druck.
182. erwehren druck, vgl. str. X'P- K 82i- 2. 89>- 2.
1J)3. Vgl. über die greifenklaue, welche früher im dorne zu Braun-
schweig über dem grabe Heinrichs des löwen hieng und noch jetzt in
jener kirche gezeigt wird, str. 102 und das auf s. 28G und 290 gesagte.
Mich. Wyssenhere erwähnt (str. 30) mehrere klauen, die der fürst den
jungen greifen abgeschlagen habe und die hangen zu brünecz7vigk
in der stai. Im niederländischen volksliede findet sich nichts ent-
sprechendes.
20'. in weiten auf weite, freie strecken, auf lichtungen im walde.
Spätere ausgaben haben den ausdruck nicht mehr verstanden, sie schrei-
ben: der Herr that sich von weilen im Walde ziemlich umschaun.
21^ der] des druck.
21'^. vngehewer druck.
25^ Fewer druck, vgl. str. 24}- 2.
29*. nahe druck.
32'. ruhe druck.
322. Dg^ Wirlh aussm Nobiskrug, wie str. 44^ der Nobistvirlh, be-
deutet den teufel. Die bearbeitung von 1727 nenat daher statt jene
') Das letzte e ist gestrichen in den durch den druck überlieferten
formen: errvehren (182), vnqehewer {!{-), Feiver (25^), nahe {^1'^% ruhe
(32'), werden (65'), Ruhe (88*), sparen (!)6-).
2) Milgesellen : einstellen (iO^- *), vmbschawcn : Lawen (20'- 2), vmb-
geben : Lewen (20'' 2), nieder : herwider (37^- ■»), Sachen : fvachen (39'" 2),
erlogen : Ogen (42'" -), schweben : Lewen (44'* 2), geschlagen : tragen
(57'- 2), sagen : tragen (58'' -), anschawen : Frawen (59'" 2), schawer.
: Lnfven (()2'- 2), fragen : sagen (63'' 2), geben : leben (63''- *), nieder : wider
(69'' 2)j schawen : Lawen (73^' *), genommen : kommen ^86^' *), gesegnen
: pflegen (üb'- 2), leben : geben (1():P- ^).
■') Das gedieht Michael Wyssenheres ist gedruckt in Massmanns
'Denkmaelern deutscher spräche und literatur' (München etc., 1828)
s. 122—137.
*) Von dem niederländischen volksliede benutze ich einen druck,
den K. Koppmann noch 1873 auf der Strasse von Gent, wo er feil ge-
boten wurde, gekauft und Stadtarchivar Hänselmann in Braunschweig
mir freundlichst zur Verfügung gestellt hat.
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XIII. 21
308 ZIMMERMANN
ausdrücke zu gebrauchen geradezu den Teufel und den Satan (vgl. s. 289).
lieber den Ursprung des wertes 7iobis oder des ursprünglichen ohis aus
abijssus (hülle) oder wol richtiger aus ahd. opasa und opisa, got.
ubiztva, mhd. obese, mnd. ovese, womit die Vorhalle, das dach, die dach-
traute und weiter die grenze bezeichnet wurden, über die bedeutung
des Kobiskruges und Nobishauses als Wirtshauses der unterweit oder
des teufeis, über die bezeichnuug von schenken an den grenzen und an
begräbnisstätten als Nobiskriige vergl. Grimms Deutsche mythologie^
s. 953 ff.; Brem.-niedersächs. wtb. III s. 254; Gödeke in der Ztschr. d.
histor. ver. f. Niedersachsen, jahrg. 1S52 s. 367f.; Schiller und Lübben,
Mnd. wtb. III s. 190; Casper im Korrespondenzbl. d. ver. f. niederd.
sprachf., V. jahrg. s. 2S und dazu ebendas. VI. jahrg. s. 19, insbesondere
aber den aufsatz Ludwig Laistners in der Germania hg. v. Bartsch (1881)
N. R. XIV (XXVI) s. 65—95 u. 17(5—199. Noch deutlicher sind mythische
anklänge an der betr. stelle bei M. Wyssenhere str. 60 if. Hier kommt
der fürst
vnder das Wöden her,
dae die büssen gelste ir rvonüg han\
einer dieser geister bewirkt in ähnlicher weise wie bei Göding die rück-
kehr des beiden. Im niederländischen volksliede tut dies der satan.
3iJ'. Ein ander aus frembden Landen ist der bräutigam der
herzogin; in späteren bearbeitungen erscheint ein Fürst aus fremdeii
Landen, in der ganz jungen prosaauflösung ein Prinz Cabixtus aus
Schwaben. In dem gedichte M. Wyssenheres wird der bräutigam all-
gemein ein man oder ähnlich (str. GS und 94) genannt. Dass es sich
um einen dienstmann des forsten handelt, geht aus der anrede desselben
an ihn hervor, str. 95:
Blib bij mir vor als nach
Als eyn gelri'aver dinstman.
Aber es wird keineswegs gesagt, dass es derjenige gewesen, dessen
schütze der fürst str. 9 gemahlin und herrschaft übertragen hat. Das
niederl. Volkslied bezeichnet den bräutigam der herzogin nicht näher,
G. Thym macht ihn in seinem gedichte von Thedel von Wallmoden v. 558
zum pfalzgrafen.
34^. Dass der herzog 7 jähre fortgewesen, wird widerholt gesagt,
80 noch 64'-'. 66^ und 71^ Die Zeitbestimmung fehlt bei M. Wyssenhere,
findet sich aber im niederl. volksliede, wie in dem verwanten Möringer-
liede (Uhlands Volkslieder s. 776). Bei Thym ist Heinrich der löwe bei
seiner begegnung mit Thedel. von Wallmoden, welcher ihm die bevor-
stehende heirat seiner gattin meldet, zwei jähre von der helmat fort.
35*. alle druck.
37''. Der Gei/ersberg/c, eine verliochdeutschung des noch jetzt ge-
bräuchlichen niederdeutschen ausdrucks Giersberg, bildet eine massige
anhöhe, welche damals nahe bei der Stadt Braunschweig im osten der-
selben lag, jetzt aber in die neuen strassenzüge der erweiterten Stadt
GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN. 309
aufgenommen ist. Vgl. str. 4;{^. Bei M. Wyssenhere (str. 74) wird der
fürst für si/n hurgk niedergesetzt.
39^ HERRN druck.
42-. Die nd. form Ogen ist wol nur durch fliiclitigkeit des in
Niederdeutschland erwachsenen dichters in den text geraten. Der reim
zwang keineswegs dazu; es finden sich z. b. hoch ; auch (P' -), Hoff
: vmmelauff (49^- *) verbunden.
45^ Der löwe schreit, weil er denkt, dass sein herr gestorben sei.
Diese schöne begründung für das geschrei des lüwen und das erwachen
seines herrn findet sich nur hier; sie fehlt bei M. Wyssenhere (str. 76)
und im niederländischen volksliede.
48^ Es ist, wie auch 49', nur von dem Hause des hej'zogs die
rede. Erst die bearbeitung von 1727 setzte dafür die bezeichnung
Mosthauss ein (s. 290), die vollkommen richtig ist. Denn Moslhaus ist
aus nd. ynöshüs , mhd. muoshüs ca^naculum, Speisesaal entstanden und
man bezeichnete damit den pallas, den saalbau in der bürg Heinrichs
des löwen zu Braunschweig, der zur zeit eine würdige widerherstellung
erfährt. Vgl. L. Winter, Die bürg Dankwarderode zu Braunschweig
(Braunschw. 1883) s. 40 ff.
57'. Das zerbrechen dos ringes beim abschiede des beiden zum
zweck der widererkennung kommt schon in der frühsten uns überliefer-
ten gestalt der sage von Heinrich dem löwen vor, im Reinfried von
Braunschweig (v. 14762 ff.), w'o die rückkehr selbst allerdings nicht mehr
erzählt wird, da die handschrift des gedichts leider weit früher bereits
abbricht. Ebenso findet sich dieser zug bei M. Wyssenhere str. 10 und
im niederländischen volksliede; im letzteren bricht jedoch nicht der
herzog, sondern die herzogin den ring.
()5'. werden druck, vgl. str. 47'' ^
Ol)'*. Herrn druck.
69^ rveren druck.
74^. verlorn druck. — durchn Korb bin ich hindurch, vgl. über
diese redensart sowie über die jetzt gebräuchliche einem einen Korb
geben die mit reichen belegstellen versehenen ausführungen R. Uilde-
brands in Grimms Deutschem wtbche B. V (Leipzig 1873) sp. 1800 ff.
'Ursprünglich ist diess der korb durch den ein liebender des nachts
zum fenster aufgezogen werden sollte und der im fall der abweisung
von der höhe fallen gelassen oder zum durchbrechen des bodens ein-
gerichtet wurde, dass der liebende durchfallen musste.' Aus der sitte
entwickelte sich ein symbol. Später 'schickte man dem abzuweisenden
bewerber einen korb ohne boden'.
74^. gebohrn druck.
77'^. Das fräulein, welches der bräutigam der herzogin zur ent-
schädigung erhält, wird nur im allgemeinen aus Francken genannt; erst
die späte prosaauflösung fügt einen namen Princessin Marianne ein.
Die Vermählung des bräutigams mit einer anderen braut nach der rück-
kehr des fürsten fehlt bei M. Wyssenhere und im uiederl. volksliede,
21*
310 ZIMMERMANN, GEDICHT VON HEINRICH DEM LOEWEN.
findet sich dagegen beim Müringer, welcher dein nebenbiihler seine
tochter zur trau gibt (Uhland a. a. o. s. 783).
SV. die] sie druck.
85^. ihren Herren] meinen Herrn druck.
88*. Ruhe druck.
06'-. sparen druck.
101^. Der eherne löwe auf dem burgplatze zu Braun schweig, den
herzog Heinrich schon vor seiner fahrt ins heilige land im jähre 1166
hat aufstellen lassen. Vgl. die angäbe in den Stader Annalen (Mon.
Germ. Hist. XVI, 345); Dürre, Geschichte der Stadt Braunschweig (Br.
ISOl) s. 66. Die erriehtung des denkmals erzählt ebenfalls M. Wyssen-
here (str. 9S) ; im niederl. volksliede iJisst die herzogin dasselbe aufstellen.
102*. Das grab herzog Heinrichs des löwen und seiner gemahlin
Mathilde liegt inmitten des domes zu Braunschweig. Ueber die herr-
lichen Steinbilder, die auf demselben ruhen, vgl. Bethmann Westermanns
monatshefte aug. 1881 a. a. o. s. 554 fif., sonst K. Steinmann, Die grab-
stätten der fiirsten des Weifenhauses (Braunschweig 1885) s. 20 flf.
WOLFENBUETTEL. PAUL ZIMMERMANN.
ETYMOLOGISCHE STUDIEN
UEBER
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG.
DRITTER ARTIKEL.
yi.
40. Der Wechsel eines aulautendeü (j oder h mit an-
lautendem h, f erscheint in den germanischen sprachen be-
sonders häufig vor n, l, r. Das Verhältnis, wonach anlautendes
german. rj, b einem nichtgerman. k, p entspricht, findet sich
ebenfalls besonders häufig vor ??, /, r. Von solchen fällen sind
die folgenden mit g anlautenden Wörter bereits in dieser ab-
handlung behandelt: nord. gnit (auch als altnorw. zuname er-
halten), ags. hntiu, gr. xoviöfg; mhd. grans, altisl. hrani, gr.
xoQcorö^\ ags. gnorn, gr. xii'VQÖq; altn. glata, lat. clades.
Anlautendes gn wechselt auch in dem folgenden german,
wortstarame mit hn. Ags. hncfgan 'wiehern' (praes. 3. sg.
hna'gp) schwach ilectiert, wie die aldeitung hna'gung beweist;
mitteleng, negen, neueng. to neigh] mnl. ne'ten; mnd. nlhen, nigen,
in neund. mundarten neggen, näggen (ßezz. Beitr. III, 229);
mhd. liegen. Mit diesen formen stimmt in betreff des anlauts
isl. hneggja (praet. hneggjat^t) 'wiehern' wol nur zufällig ilberein.
Die isl. form mit anlautendem h findet sich nicht früher als
in einer handschr. aus dem ende des 14. jahrh. In älteren
isl. hschrr, wird dagegen das wort immer mit gn geschrieben.
So schon gneggia Helg, Hjorv. 20, wo das wort mit geldr
allitteriert. Davon die poetische bezeichnung des windes
gneggiofjf AlvTssm. 20 (mit glnnregin alliterierend), das die
flexion praet. gneggjat5a voraussetzt. Das nordische wort wurde
also nicht ■ wie das westgermanische flectiert. Mit g auch im
312 BUGGE
sclnved. gnCujya, mdiin. uud ueudäu. dial. giwjge. Im neuisl.
ist die form gneggja nach einer allgemeiuen lautteudenz auf-
gegeben, denn statt des anlautenden altisl. gn ist im neuisl.
gewöhnlich n eingetreten. Da nun neuisl. hnitSra = altisl.
ni^ra ist, scheint mir die Übereinstimmung des neuisl. hneggja
mit dem ags. hncegan in betreff des anlauts zufällig. Dem
ags. hncegan gegenüber steht also altnord. gnceggja. Nichts
scheint mir dafür zu sprechen, dass das letztere das praefix
ga- enthalte. Vielmehr vergleiche ich das Verhältnis zwischen
altnord. gnivggja, das im got. auf -addjön oder nach der
westgerm. flexion auf -addjan (vgl. daddjan) enden würde, und
ags. hncegan mit dem Verhältnis zwischen uord. gnit und ags.
hnitu, gr. y.avidiz, zwischen ags. gnorn und gr. y.ivvqÖc. Hier
finden wir in der vorgerm. form einen vocal zwischen k und
n. Dies führt mich auf die Vermutung, dass das Verhältnis
von gnceggja zu hnce'gau aus vorgermanischen formen '*kdnojeli
und ■''•knojcli zu erklären ist. Hierbei brauche ich nicht zu
untersuchen, ob der vocal zwischen k und n in ^'knoßti aus-
gedrängt oder aber in *kdnoJe(t, wie in franz. canif = altn.
knlfr, altfranz. hanap, henap = ahd. hnaj)f\ eingeschoben war.
Nach welcher regel die formen ^kdnojeli und *knojeti ur-
sprünglich wechselten, lässt sich nicht sicher bestimmen. Eine
Vermutung, dass *k9nojeü in dem zusammenhange des satzes
nach consonanten (z. b. ^ekwos kdnojeti), '"^knojcli dagegen nach
vocalen angewendet wurde, hat in mehreren erscheinungen der
idgerm. satzphonetik analogie.
41. Altn. gröa 'crescere' (dann o vor vocalen gekürzt),
ags. grönan, engl, tu grow, altfries. grüwa, gröia, ndl. grocijen,
ahd. gruoan, mhd. grüejen 'grünen, wachsen'.
Dies verbum stimmt dem sinne nach trefflich zum lat.
cresco, crevL Ahd. groit übersetzt lat. vh^escit , gruoti lat.
viror\ daran schliesst sich dem sinne nach das german. adj.
gröni-s 'grün'. Allein der wortstamm hat eine viel weitere
anwendung. Das nordische verbum bezeichnet 'crescere' über-
haupt und wird nicht nur von pflanzen gesagt. Wie z. b.
lat. crescere 'anschwellen' von Aussen bezeichnen kann, so
heisst es altn. gröbi kemr i sjö ok votn. Sovvol cresco wie
gröa wird vom haare angewendet. Beide bezeichnen über-
tragen 'zunehmen', so vom zunehmen des Vermögens: crescit
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 313
res Hör.; alta. gröetiisk eiga. Auch vom winde wird groa an-
gewendet. Äleng. groiven wird wie cresco vom fieber gesagt.
groiven ist wie cresco nicht nur 'wachsen', sondern auch 'ent-
stehen', übertragen z. b. von der liebe.
Von den sich begrittlich entsprechenden stammen altu.
grö-, lat. cre- sind mehrere ableitungen durch dieselben
eleraente gebildet. \'on groa wird altnorw. gro<5r m. 'Wachs-
tum' (engl, growlh) gebildet. Dies hat in den ältesten hand-
schriften den genetiv grübar (Gammel norsk Homiliebog s. 78).
Der stamm ist also grööu-, durch dasselbe suffix wie lat.
(con-) cre-tu-s abgeleitet. Der lat. praesens-stamm cresce- ent-
spricht in betretf des elementes -sce- wesentlich nordischen
nominalbildungeu: altisl. gröska f. unter den s(^s heiii Snorra
Edda ed. AM. II, IÜ3; schwed. dial. groske n. neu empor-
wachsendes gras. Freilich scheint es möglich, im altisl. grUs-ka
ein deminutivsuffix -ka (vgl. Kluge, Stanimbildungslehre § 61)
zu erkennen und gros- in gröska mit mhd. gruose zu ver-
binden.
Nach dem, was ich hier entwickelt habe, ist es berechtigt,
zwischen lat. cre- und german. grö- lautliche Verbindung zu
suchen. In betreft' des vocals verhält sich altu, groa, ags.
gröwan, ahd. gnwan, mhd. grüejen zu crcvi^ wie ags. spöwan
'von statten gehen' zu ksl. speja speli 'erfolg haben', lat. spes\
altn. gloa, ags. glönan, mhA. glüejen zu \\i. :lcja 'halbduukel',
u. s. w., siehe namentlich Bremer, Beitr. XI, 271 — 281.
Nun fragt sich aber: warum ist hier, wenn i\\in. groa mit
lat. cre-vi zusammengehört, vorgerm. k zu germ. g fortge-
schoben? Dazu haben mehrere momente mitgewirkt. Im
praet. pcp. {^''gröanä-), praet. ind. i)lur., praet. couj., sowie in
mehreren formen des abgeleiteten verbums altn. gröeöa sollte
freilich nach meiner regel g aus vorgerm. k lautgesetzlich ent-
stehen. Allein der diesen vcrbalformen zukommende anluut
hat bei anderen verben, die in dieser hinsieht analog sind,
nicht gesiegt. Hierdurch wird also das g uicht gcuiigend er-
klärt. Im ags. kommt zuweilen ein zusammengesetztes ge-
grötvan vor. Diese Zusammensetzung mit ga- hatte im urgerm.
gewiss eine vielfache auwcndung, so z. b. von wider zusaniuien-
wachseuden, heilenden wunden, wo im nord. groa gesagt wird.
Nach tonlosem ga- musste german. g nach Verners regel aus
314 BUGGE
vorgcrm. k entstehen. Dasselbe gilt für die Zusammensetzung
dieses verbums mit anderen praefixen. Dies mag zum sieg
des g von groa beigetragen haben, allein auch dies kann das
(/ nicht genügend erklären. Vielleicht führt uns dagegen das
folgende zum ziel. Mit altn. g7'oa, ags. gröwan ist altn. roa,
ags. röivan 'rudern' analog. Allein daneben erscheint im ind.
aritür-, aritra-s, ariira-m und ärilra-m, gr. tQixrjq, lit. irih ein
zweisilbiger stamm, dessen indogerm. form wol et'd- gewesen
ist. Ebenso verhält sich das germ. kyw- von got. knöjjs 'ge-
schlecht', ags. cnosl 'geschlecht' zum ind. ja7ii- von jani-tra-,
jani-tär-. De Saussure (Systeme primitif des voyelles, s. 245.
287 f.) der diese Verhältnisse trefflich erläutert hat, findet in
ind. aor. akärisam eine wurzel kari- 'mit lob erwähnen', wo-
mit er german. h7'ö-, got. hrüpeigs u. s. w. zusammenstellt.
Hiernach setze ich für ags. grfnvan, das mit lat. crcsco, crevi
zusammengehört, eine vorgerm. wurzelforra kera- voraus. Altisl.
grüska, das ich mit lat. crescit vergleiche, führe ich auf einen
vorgerm. verbalstamm *krodske- zurück. Das subst. altn. gröt^r
aus urnord. '*grübu-s, das ich mit lat. con-crelus vergleiche,
setzt vorgerm. ^krodiü-s voraus. Die Umstellung bei r sieht
mit der änderung der betonung in Verbindung, wie in altn.
praes. inf. ser^a, praet. pep. strotünn.
Zu gro- 'wachsen' gehört sicher german. gt^as n., das wie
von einem stamme grasa- flectiert wird. Die hier erscheinende
schwache wurzelform grä- ist mit lat. ra- in ratis analog.
Ich habe grö- auf ein indogerm. *ker9- zurückgeführt. Von
analogen wurzeln werden im gr. und ind. substantiva neutr.
auf -s gebildet: xQmg = ind. kravis, dtfiag, yeQag u. s. w.
(Fick in Bezz. Beitr. I, 232 f.). Das germ. gras setzt vielleicht
eine vorgerm. form auf -as {-ds) voraus, welche wie ind. kravis
betont war und welche von jtQag durch ablaut und Umstellung
abwich: uoni. accus, '''kroäs {krod's), gen. *krdasös {krddsös).
Keben gras erscheint mit langem ü mhd. ^n<oi'e st. f. 'pfianzen-
saft, junger trieb der pflanzen, rasen', ninl. und ndd. grüse.
Dies verhält sich, wenn wir von den vocalen absehen, zu
gras, wie mhd. egese, eise f. zu got. agis n., lat. opera,
operae zu opus.
Die schwache wurzelform gru- vermute ich auch in ags.
great, as. gröt, mhd, ahd, gröz, gross, graut- entstand viel-
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 315
leicht aus zweisilbigem *gra-ul-, das wie gT. (fvyäö-, rofiaö-
gebildet scheint.
Die wuizelform ^ra- erscheint ferner in altn. ^ro« gen.granar
f. pinus abies. In der schwedischen muudart von Dalarne kommt
eine form vor, die altnord. ffr<fn gen. r/ränar voraussetzt, siehe
Noreen, Ordlista s. 66 f. Hier erscheint also derselbe vocal
wie im lat. crevi. Ebenso im ags. f/roTde m. 'gras' pl. ffrafdas,
womit Richthofeu afries. greed 'wiese, Weideland' (oft in der
Verbindung greed ende grond) vergleicht.
42. Ags. gräf m. n., meng, und neueng. grove 'gehölz,
hain'. Mlat. grava erkläit Du Cange 'lucus, arboretum, fruc-
tetum, arbustum, ncnius'; er eitiert dafür Monast. Anglic. und
Dipl. Wilhelmi Ducis Aquitani« a. 1027. Daraus ist vielleicht
zu folgern, dass gräf auch als fem. angewendet wurde, grnf
scheint mir sicher ein echt englisches wort, obgleich Du Cange
aus Charta Vital, ducis Venet. ann. 1094 ^usque ad medium
gravium^ eitiert. Allein dass dies gravium die bedeutuug des
engl, grove habe, scheint mir unbewiesen. Gehört gravium
nicht vielmehr zu dem roman. gräva 'sandfläche, kies'?
Ags. gräf setzt für ä urgerm. ai voraus und hat also mit
'graben' gar nichts zu tun. Die von mir vorgeschlagene regel
macht urverwautschaft mit einem irischen worte möglich. Ir.
C7-deb, cräeb fem. (acc. crUcb) bezeichnet 'a brauch or a large
wide-spreading tree' (Joyce, Irish Names of Places-* s. 500).
Für das Verhältnis der bedeutungen vergleiche man altn.
vitir 'bäum, holz' und 'wald'; norweg. dial. nme sowol 'schöss-
ling, junger bäum' als 'gehölz (von jungen bäumen)'; gr. vX?]
'holz, wald, holzwerk, äste'. Ueber den Ursprung des germau.
Wortes wage ich die folgende Vermutung. Für ags. gröwan,
lat. cresco habe ich eine wurzel kerd- 'wachsen' vermutet. Ich
vermute ein davou abgeleitetes Substantiv vorgerm. '-''kroi' f ;
vgl. für die bildung ahd. muoi 'mühe' und für den vocal
gr. önco'i^.
In den idgerm. sprachen wird ein suffix -hho zum teil
mit deminutivischer bedeutung namentlich bei tiernamen an-
gewendet: z. b. ind. rsahhä-s 'stier', adj. sl/iulabfid-s] gr. sXcufog,
8Qi(pog, x^Q^'f'^^ (^viö tXäg^iov gebildet). Eine spur dieses
Suffixes hat das ccltische im altir. heirj), erb 'a kind of deer,
316 BUGGE
a loebuck' vgl. lQi(fo^ (Windisch, Kuhns Beitr. VIII, 438, Fick,
Bezz. Beitr. II, 341) bewahrt. Eine germanische spur finde ich
nicht nur in den got. adverbien auf -ba, sondern auch in dem
bisher nicht gedeuteten lamb n. (stamm lamha-, daneben stamm
la/nbas-), das im gotischen und gotländischen, wie das entlehnte
wort im finnischen, 'schaf, in den übrigen germanischen
sprachen 'lamm' bezeichnet; in Värmland, Schweden, lamm f.
'einjähriges schaf aus '^iamb'i. Ich erkläre lamb aus einem
vorgerm. stamme ^ulambJw-, 'hdanbhö-. Das wort verhält sich
zu ind. ürana-s 'junger widder, lamm' wesentlich, wie sXatpog
zu tXXög (statt '''IXi'oc), und ist mit got, wulna, wolle verwant.
Das anlautende u, das aus /re abgeschwächt war, ist im
germau. abgefallen, weil der hauptton auf der dritten silbe
lag; vgl. got. /^^// 'beide'.
Da die spräche oft das junge tier und den jungen bäum
durch dasselbe wort bezeichnet (z. b. gr. fiöoxoo), werden wir
es natürlich finden, dass das suffix -bho auch bei Wörtern aus
dem Pflanzenreiche angewendet wurde. Von dem von mir ver-
muteten vorgerm. '-^kröi f. 'schössling' wurde durch das suffix
-bhU, wie ich voraussetze, ein neues wort gebildet. Der haupt-
ton ruhte, wie lamb in Übereinstimmung mit ind. rsabhä-s be-
weist, auf der schlusssilbe; darum konnten die vorhergehenden
vocale gekürzt werden. Also dreisilbiges vorgerm. '■'''• kr oibha ,
urgerm. grUba . Daraus zweisilbiges *gruiba. So erklärt sich
ags. grUf, engl, grove, auch, wie ich vermute, ir. crüeb.
43. Das unter ags. grörvan erläuterte Verhältnis zwischen
ags. rörvan, rö- und ind, ari-, zwischen ags. cnösl, cnö- und
ind, Ja}ü- wirft licht auf einen anderen germanischen wort-
stamm. Nhd. mühen, mhd. müen, müejen, ahd. ?nuoan, muoj'an
'beschweren, quälen', ndl. ?noeijen 'belästigen, bemühen', got.
'•^•möjan, afmauidai ixXvöi^svoi Gal. 6, 9. Ich vergleiche ind.
ram-, 2, ps, praes. camtsva, pcp. camitä- 'sich mühen'; gr.
yMfxvoy 'sich mühen, sich ermüden'. In betreff des vocales
verhält sich '-^irnjan zu camila- wie ags. rörvan zu antra-, cnüsl
zu janitar-. Ich setze eine vorgermanische grundform *kmod-
jeti voraus. Anlautendes km, hm, gm wurde in den germani-
schen sprachen nicht geduldet; darum musste möjif* aus vor-
germ, '■^•kmodjeti entstehen. Nhd. mühe, mhd. mneje, ahd, mohi
{muoi) f. vergleiche ich mit ind, cämi, cimi f. 'bemühung'. Zu
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 317
diesem stamme gehört feiner lüul. müde, ahd. miiodi, asächs.
mötii, ags. mehe, altu. ;«öÖ>, got. '^niöpeis. Dies steht dem
sinne nach dem gr. yMf/cor, xexftfjoj^ nahe. Wie die toten ol
xafiovTsq heissen, so wird in altisl. diehtung der im kämpfe
gefallene vJgmübr genannt. Die germanischen \Yörter setzen
vorgermanische formen mit anlautendem km voraus; dies wird
formell durch gr. xexfüjco^, jto/.rxfi/jTog gestützt. Mhd. muo-
den 'ermatten' liegt dem gr. xaiiarocö bei Ilesych. s. v. a.
xojiiaco nahe.
Anders z. b. Bremer, Beitr. XI, 273. Gegen die vcrgleichung
von gr. m'jXoq mit germ, '■'"müjan sprechen, wenn auch nicht
entschieden, [wXlq, lat ?iiölestus.
44. Khd. brühen 'coquere, aqua ferventi perfundere', im
älteren nhd. 'brüten'; mhd. brüejen 'brühen, sengen, brennen';
mndl. hroeien. Im nnl. broeien, das auch 'brüten' bezeichnet,
sind nach Franck mnl. broeden und broeien zusammengefallen.
Mnd, Z^/'ö/m 'brühen'. Die grundform ist '^bröj'an. Hierzu nhd.
brühe f., mhd. brüeje, mitteleug. breie (nach Kluge), bre. Nhd.
brut f., mhd. bruol pl. brüete 'durch wärme belebtes, belebung
durch wärme, hitze'; ndl. broed, neueng. brood 'brut, hecke',
ags. bröd. Gruudstamm brö-di-. Davon wider abgeleitet brü-
ten, mhd. brüeten, ahd. bruoteu, mnl. broeden, engl, to breed,
ags. bredan. Aus dem mnd. broden ist dies verbuni in dänische
mundarten übergegangen.')
Mhd. brüejen ist mit rüejen, grüejen, müejen ganz analog.
Für diese verba habe ich zweisilbige wurzelformen nach-
gewiesen: er3-, kero-, kemd-. Hiernach muss dasselbe für
brüejen, *bröjan vermutet werden. Dies wird bestätigt durch
lit. perih perefi 'brüten', lett peret 'brüten'; ueüsloven. pereti
'modern', russ. preju preti 'schwitzen, gähren, faulen, sich er-
hitzen, rot w^erden', poln. przec 'warm, rot werden', niedsorb.
pr'es 'verdorren' (Miklosich, Etym. wtb. 240 b). Miklosich
1) In Dalarne Schweden bedeutet broij 'brünstig' (von k.itzen und
raubtiereu), broya 'brünstig sein'. Dies broya, das älteres bry'a vor-
aussetzt, ist mit neuisl. breyma 'brünstig' (von katzen) verwant. Noreen
(Ordlista öfver dalniälet s. 26) hat mit broyn mhd. hrüejen verglichen
und ich habe (s. 27) für hrüejen eine grundform hroiijan angenommen.
Allein brüejen ist mit hroya unverwant, da Wörter, die mit brüejen ver-
want sind, die wurzeltbrm bra- zeigen.
318 BUGGE
vergleiclit richtig Ttinygrifii. Hiernach erkläre ich mhd. brüejen,
urgerni. ^bröjan, praes. bröjip aus vorgerrn. *pro9jeti aus einer
Wurzel perd-\ brut, urgerm. '*brödis aus vorgerm. *pro9ti-s.
Für die bedeutung vergleiche man noch das verwante ksl.
pariü 'dampfen, brühen'.
Im germanischen zeigen mehrere Wörter, die mit mhd.
brüejen, '■''bröjan verwant sind, die wurzelform brc-. Nhd. ver-
bum braten, mhd. braten praet. briet, ahd. brälan praet. briat;
nd. nl. brUden] ags. brafdan praet. tirafdde 'assare, fovcre'.
P'erner altn. bräetia praet. bräedda 'schmelzen', mittelschwed.
bj'cedha 'schmelzen, durch hitze auflösen, braten'. Mschwed.
pep. neutr. bradhit 'gebrannt', mdän. bradet und norweg. dial,
bräen 'geschmelzt' setzen ein verbum Hrä^a praet. breti pcp.
liräx^inn voraus. Altn. brä^ n. teer, womit etwas überstrichen
wird; söUmit^ fem. (pl. sölbräbir) und n. 'sonnenwärme (die
den Schnee schmelzt)'. Dass diese Wörter mit brühen, brut,
brüten verwant sind, wird namentlich dadurch bewiesen, dass
bräe()a jetzt in westlichen und nördlichen dialekten Norwegens
'brüten' bezeichnet. Kluge (Etym. wtb. unter &ra/^«) bemerkt:
'Auf vorgerm. bhredh weist auch gr. jrQ7]{ho) (falls für (jP(>r/»9^oj?)'.
Allein dass das aus tvljiQrji^ov zu folgernde jtQrid-co nicht aus
*fpQ7]i)oj entstanden, dass ji hier vielmehr ursprünglich ist, er-
weisen formen wie jr f>ri6(or 'brand, geschwulst', jiifijrQrjfit
imperat. -r///jr()?y, ferner der parallelismus mit Jiti^urhuu, end-
lich die verwanten, bereits angeführten slavischen Wörter.
Nach dem, was oben unter brühen entwickelt ist, verbinde
ich braten, urgerm. *-bredan mit jiQrjd^o) 'verbrennen, anbrennen'
durch eine form '^perddheti (daraus *preddheti)^ die von perd-
durch den zusatz -dhe gebildet ist. Anlautendes b hat durch
association in allen germanischen formen gesiegt; lautgesetzlich
sollten mehrere formen anlautendes f haben.
Die wurzelform brr- erscheint aucli in den folgenden Wör-
tern: ahd. pradam 'flatus, fervor', brademön 'vaporare'; mhd.
tjrädem, auch liradem m. dunst, namentlich dampf, der vom
heissen wasser aufsteigt; hrädemen 'dunsten, dampfen', auch
brodemen, liredemen geschrieben; nhd. hradem^ brodem, broden m.
Mnd. tjradem m. 'aufsteigender dunst, qualm, vapor', wird auch
bratem, britem, bryttem geschrieben. Ahd. prädan ist eine
secundäre Weiterbildung welche neben ags. brce'^ m. steht, wie
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 319
njhd. blUdem 'das blähen' neben ahd. blüt^ ahd. chrüdam 'ge-
schrei' neben krnt 'das krähen' u. s. w. (Kluge, Stanim-
bilduDgsl. § 153).
Ags. br(ß'(5 bezeichnet 'ausdünstung, dampf, geruch';
mitteleng. breb zugleich *atem, hauch', welche bedeutung bei
dem neuengl. breath die heischende ist. Mitteleng. wird das
wort auch von 'ungestüm, zorn' angewendet. Zu hrc- gehört
ferner das seltene mhd. brafjen, brcf^en 'riechen' (trans.). Hier-
mit vergleiche ich norw. (in einer mundart des westlichen
Norwegens) hräl m., auch brjäl 'starker, besond. frischer und
gewürzter duft'. Hierher gehört wol auch neuisl. brcela f.
'fumus foetidus, crassus'.
Mit unrecht hat man ahd. prUdam, mhd. braFJen mit lat.
fragrare verglichen, prüdam kann nicht, wie Fick meint, zu
einer europäischen wurzel bhark, bhrak gehören; denn durch
den zusammenstoss des germ. h, vorgerm. k der wurzel mit
der dentalis des suffixes müsste ht entstehen.
Mhd. brw'jen, brUdem sind vielmehr mit brilejen verwant.
Für dies brilejen habe ich im vorhergehenden eine vorgerm.
form mit anlautendem p erschlossen. Dass das b von bradem
aus vorgermau. p entstanden ist, scheint durch germanische
nebenformen erwiesen: mhd. vrademen oder nach dem reime
vredemen 'dunsten' (kommt ein mal vor); mnd. vratem, vradem,
und. frua/n 'brodem, dunst, atem, vapor'. Uhd. brdde/n, urgerm.
stamm brepmo-, und ags. brce'Ö haben durch association an-
lautendes /; statt f erhalten. Den Zusammenhang der bedeu-
tung des mhd. bra'jen mit der des mhd. hrnejen erläutert
Bremer (Beitr. Vül, 279) durch Schweiz, briiederle 'nach
schweissigen kleidern, dumpligeni zeug riechen' (denom. von
*bruod). Dies erinnert dem sinne nach an russ. preii 'schwitzen,
gähren, faulen'. Für die bedeutung des deutsch, brodem ver-
gleiche man ksl. //ar« 'dampf, apreuss. />ore 'brodem, dampf,
\Q\t pars, kii\. j/ariti 'dampfen, brühen', niedsorb. .v/>(/m/i 'bro-
dem', die mit lit. pereli 'brüten' u. s. w. verwant sind. Das
nord. brUeba 'schmelzen, durch hitze auflösen' steht dem sinne
nach dem ueuslovcn. raspariti se 'calore dissolvi' nahe. Die be-
deutung des meng. breÖ 'atem, hauch, hauch des windes' ist
mit der des gr. jiifiJtQj/fu 'aufblasen, durch blasen anschwellen
(vom winde)' verwant.
320 BUGGE
Den sieg des anlautenden b im ags. broT^, mhd. brUiem,
u. s. w. haben wol nicht nur formen bewirkt, in denen das
nominalsuffix, namentlich -mo, wie im gr, axfiog, betont war.
Nach dem gr. jrif/jTQ/j(ji darf man ein vorgerm. reduplicierendes
praesens vermuten. Formen einer solchen praesensbildung, die
wie ind. praes. indic. 1. ps. pl. bibhrmds betont waren, mussten
im german. lautgesetzlich anlautendes b bekommen.
Zum ahd. bratan, altn. '^'brät)a gehört norw. dial. brcesa
praet. brceste 'braten, fette gerichte zubereiten', dän. brase,
auch altisl. hräss 'koch' Atlamäl. Man muss urgerm. *breso-s
(aus '^bresso-s) und bresjnn voraussetzen. Allein Rietz gibt
aus Smäland, Schweden, frässa 'in butter braten'. Dass in
dem Verhältnis zwischen brcesa und frässa uralter grammati-
scher Wechsel erscheine, wage ich jedoch nicht enschieden zu
behaupten, denn frässa konnte vom schwed. fräsa 'sieden' be-
einflusst sein.
45. Ueber den Ursprung des nhd, b7nist bringt Grimm im
Deutsch, wtb. mehrere unter sich unvereinbare Vermutungen
vor, u. a. nennt er 'die unverkennbaren anklänge' des ksl.
prusi pl. f. 'brüst'. Dass dies wort mit dem deutschen wirk-
lich verwant ist, werde ich im folgenden hoffentlich nach-
weisen. Got. brusts fem. ist pl. tant. von einem consonanti-
schen stamme und gibt to öTrjd-oq, ra öjiläyyva wider. Auch
das ahd. wort, welches meist im pl. gebraucht wird, zeigt con-
sonantische flexion n. acc. pl. brüst (fem.) dat. brustum] es
kann jedoch schon im 9. jahrh. als ein i-stamm flectiert wer-
den n. acc. pl. brustl, dat. bruslbi (Braune, Ahd. gr. § 243).
Mit dem hd. worte stimmt mnl. nnl. borst fem. tiberein.
Ich vergleiche mit dem germanischen worte ind. jjrsti- f.
nur im pl. 'rippe', zend. parsti-. Verwant sind ind. pärcu-s
'rippe', zend. perecu-, ksl. prusi 'brüst' u. m. Ursprünglich
war der stamm consonantisch, idgerm. in unbetonter form
'•^•prlit-. Das wort bedeutete 'rippe'. Ausdrücke mit ])luralen
casus obliqui wie 'innerhalb der rippen', 'zwischen den rippen'
u. ähnl. bewirkten, dass die plurale (und duale? s. unten) form
die bedeutung 'brüst' annahm. So ist altisl. innan rifja mit t
brjösti synonym. Es muss hervorgehoben werden, dass die am
meisten angewendeten formen dieses worts gewiss eben die
nicht singularen casus obliqui waren.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 321
Als idgerm. form des dat. instr. pl. setze ich '-^2)rk''t9hhyös,
^prk'^tdbhis voraus. Das vermittelnde d war hier notwendig,
denn ohne dasselbe würde sich die Stammform zu stark ge-
ändert haben. Aus den genannten formen erklärt sieh laut-
gesetzlieh eine german. Stammform '*bi'uht-.
Nun wird im german. ein /- (c?-)suffix öfter durch ein
^/-Suffix ersetzt. Siehe hierüber besonders Kluge, Beitr. IX, 150
und 195 f. So z. b. altn. galdr, ags. gealdor — ahd. galstar.
Namentlich ist uns hier wichtig, dass st für / nach li eintritt:
nhd. lasier, ahd. lastar , lalistar neben ags. leahtor 'vorwurf,
Sünde'; ahd. trust 'schaar' neben gleichbedeutendem tniht, ags.
dryht, got. drauhts, altn. di'ött. Das st ist auch dem nordi-
schen und gotischen nicht fremd: nhd. trost, ahd. tröst, altn.
und got. traust\ altn. Instr mit ahd. lastar verwant; got.
maUistus. Hiernach nehme ich au, dass der got. und ahd.
stamm hrust- statt Hruht- eingetreten ist. Got. *bruhsts musste
b?'usts werden; in der spräche waren verwaute formen mit h,
die das h von Hruhst- aufrechthalten könnten, nicht vor-
handen, brüst- aus *bruht- ist mit ahd. trust neben truhi
ganz analog. Diese meine Vermutung ist von einer malbergi-
schen glosse ganz unabhängig. Jacob Grimm in Lex Salica
berausgeg. von Merkel s. XXXIX i) bemerkt: 'Deutlich ....
enthalten 56, 5 si quis mamillam mulieri strinxerit aut sciderit,
quod sanguis egressus fuerit de bructe, 193, 9 bracte, brache,
brücke unser brüst pectus, papilla, über, und ist entweder
bruste zu bessern oder die form bruct, brüht zulässig. Man
vergleiche ... sl. prsi .... das « für u ist wie in fnardo für
murdo IV, 1.' Die malbergischen glossen sind jedoch in den
handschrr. so stark entstellt, dass dies hructe an sich kein ge-
wicht hat. Kern (Glossen in d. 1. Sal. 91) nimmt an, dass
bracii, brücke aus bruste entstellt sind.
Das altsächs. hat breast als neutrales plurale tantum.
Kluge (ßeitr. VIII, 510) sieht hierin einen urgerm. nomin.
dual, breuslo mit starker stufe der Wurzelsilbe: 'dies aber
konnte mit genuswechsel bequem als neutraler nom. pl. eines
a-stammes betrachtet werden'. Dies führte weiter zum ags.
breast , altn. brjöst neutr. sg.; jedoch wird auch im ags. und
') Die ausgäbe von Hesseis kann ich leider nicht benutzen.
322 BUGGE
altn. der plur. im sinne des singiilar ^ brüst' gebraucht. Die
von Kluge gegebene treffliche erklärung lässt sich mit meiner
auffassung wol vereinigen; nur muss hervorgehoben werden,
dass ^breustü ursprünglich die beiden rippengegenden (wie
ind. pärcva- im dual), nicht die beiden mammae und papillae
bezeichnete.
Die form *hreustö mit einem diphthonge in der Wurzel-
silbe muss zu einer zeit entstanden sein, als das indogerm. r
bereits durch germ. ru vertreten wurde. Andererseits war zu
jener zeit die freie betonung noch nicht durch die gebundene
speciell germanische betonung ersetzt. Zu jener zeit wechselte
bei der flexion consonantischer stamme das eu der wurzel-
betonten casus mit dem u der suffixbetonten. Nach diesen
analogien bildete man zu der Stammform hrust der suffix-
betonten casus, deren ru wie ein ursprüngliches ru ausge-
sprochen wurde, eine starke Stammform hreust-. Aehnlich
bildete man zu dem got. dat. pl. hröprwn, wo ru aus r ent-
standen ist, einen nom. pl. hröprjus nach der analogie der
w-stämme (nom. pl. sunjiis , dat. pl. sunum). Somit glaube ich
es wahrscheinlich gemacht zu haben, dass das h von hrust
aus vorgerm. p verschoben ist, und dass hrust mit ind. prsti-
zusammengehört. Wenn ich mit recht Urformen wie prk'^tdbhis
u. s. w. angenommen habe, erklärt dies, dass das indische wort
in die /-flexion eingetreten ist, denn d wird im ind. durch i
vertreten.
Das germanische wort ist auch darum wichtig, weil wir
in hrust- aus älterem ''^-bruht- ein von keinem systemzwang ab-
hängiges beispiel davon haben, dass indogerm. /• durch germ.
ru vertreten ist. Man vergleiche Bructeri, dagegen später
Burcturi tab. Peuting., Boructuarii Beda, asächs. pagus Borahtra
Zeuss s. 92, 350—353.
Endgültig ist die frage noch nicht beantwortet, wie das
von keinem systemzwang abhängige r oder l im germani-
schen vertreten wird; vgl. Osthoflf, Morph, unt. II, 49, 145,
Kluge, Kuhns zeitschr. XXVI, 90, Brugmann, Grundriss I, 290 f.
Mir ist die folgende auffassung wahrscheinlich: In einer be-
touten silbe und wo der hauptton auf der unmittelbar folgen-
den silbe ruht, wird r, l im germ. durch or (ur), ol (ul) ver-
treten. Wo dagegen de°r hauptton nicht auf der unmittelbar
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 323
folgenden, sondern auf einer nachfolgenden silbe ruht, wird
r, l durch ro {ru)^ lo (lu) vertreten. So erklärt sich altn.
strotiinn praet. pcp. von serha. So erklärt sich auch ahd.
hrusiwn (dat.) neben ind. prsli-. Jedoch bleiben hierbei noch
viele Schwierigkeiten zu überwinden.
Ob der volksuame Bructeri zu dem von mir vorausgesetzten
stamme *bruht- 'brüst' (in localer an Wendung) gehört, wage
ich nicht zu entscheiden.
46. Mhd. b(tst m. n., pl. beste, hast (die inwendige zähe
haut der linde und anderer bäume, deren man sich zu stricken
bedient); nnl. ranl. bast m.; ags. bicst\ altnord. hast neutr. Das
wort bezeichnet auch einen aus bast verfertigten strick. In
dieser bedeutung daneben mhd. buost. Mitteldän. mschwed.
neunorw. dial. halsbast nackenmuskel, nacken. Altn. heilabast
n. hirnhaut, auch mit genuswechsel, aus heilabast entstanden,
heilabiist f; vgl. valbost f. ein (unsicher welcher) teil des
Schwerts. Meine erklärung des got. brusts (nr. 45) erklärt uns
vielleicht auch bast. Ich vermute einen idgerm. consonanti-
sehen stamm, dessen unbetonte form pak'^t- war. Dieser stamm
gehört zu zend. pac- 'binden', ind. paca-s 'schlinge, strick';
vgl. für die form lat. paciscor und vielleicht '^pasco (für *pacsco?)
in compesco. In schlussbetonten casusformen (instr. pl. indo-
germ. '*-pafild})liis u. s. w.) entstand lautgesetzlich eine urgerm.
Stammform '*baht-. Statt -t trat später -st ein wie in brust-
aus '^bruht-, ahd. ti'ust neben truht, ahd. lastar neben ags.
leahtor u. m. Also *bahst-, bast. Mhd. buosi verhält sich in
betreff des ablauts zu bast wie asächs. bfeost zu ahd. b7-ust.
buost ist in wurzelbetonten casus entstanden, verdankt aber
sein b den schlussbetonten casus.
47. A\iu. bauta, praet. pcp. pass. bautinn, stossen, schlagen;
ags. beatan, beot, beaten, eng. to beat] ahd. bözau] mhd. böz,en
praet. bie:^. Muss im got. '-^bautan praet. '^-baibaut gelautet
haben. Mit altn. bauta und dem davon abgeleiteten beysia
habe ich früher (Curtius, Stud. IV, 346 f.) lat. fustis zusammen-
gestellt. Allein man müsste dann für fustis eine grundform
*/udsiis annehmen, was kaum wahrscheinlich ist. Mit dem
german. bautan vergleiche ich jetzt lat. pavio, gr. jiaico. Das
t von bautan vergleicht sich mit dem t von giutati, lat. fundo
gegen gr. ;ffcw; von asächs. fliolan, Wtau. praeter, plüdau gegen
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche, XIII. 22
324 BUGGE
ind. plavafe; von lat. endo gegen ksl. kuj'q; von lat. pudef
gegen jitoIo nach Fick, u. s. w.
Für lat. pavio, ind. pavi-s ist vielleicht eine zweisilbige
wurzelform zu vermuten. Auch beachte man, dass baufan mit
stautan analog ist. In diesem vermute ich ein intensiv zu lat.
iundo, ind. iudüti. Nun tragen die indischen intensiva in vielen
formen den hauptton auf der dritten silbe: praes. indic. dual.
{vevidväs u. s. w.) und 1. 2. pl. {vcvidmäs u. s. w.); praes. opt.
(?;ei'/<7?/ä'm u. s. w.); imperat. 2. in allen drei zahlen und 3. dual.
{veviddhi u. s. w.). Dadurch erklärt es sich vielleicht, dass h
im german. hautän aus vorgerm. /; verschoben ist.
48. Altisl. gufa f. 'rauch, dampf. In norweg. mundarten
erscheint ein starkes vb. guve^ gyve {.fyve) oder jua, woraus ein
altnorw. *^z7/ö, gauf, gofii sicher zu folgern ist. Dies verbum
bezeichnet: rauchen, dampfen, in der luft wie staub oder rauch
herumtreiben; auch: hin- und herlaufen, (auf jem.) losfahren.
Dazu gehört u. a. norw. dial. goim {b = offenes, ursp. kurzes
o) oder guva {ü = off. u) f. dampf, rauch, ausdünstung. gj'öyve
(das altn. '^gmjfa voraussetzt) etwas so schütteln, dass staub
davon treibt; rauchen, dampfen; wallen, sieden, so dass es
überfliesst; von der see: schäumen, in heftiger bewegung sein.
In schwed. mundarten u. a. guva oder guuv, das '^güfa voraus-
setzt, 'wehen, dampfen' auch 'riechen', guva f. 'windstoss',
gava f. 'dampf.
Dem nordischen '*güfa 'rauchen, dampfen, stäuben' ent-
spricht dem sinne nach das bereits von Rietz verglichene lett.
kupu kUpet 'rauchen, dam])fen, stäuben', in compositis kupstu
küpu kiipt z. b. ap-kiipstu 'beräuchert werden'. Mit dem lett.
verbum verwant sind u.a. apreuss. /fMp,?m^ 'nebel'; \\\.kivapas
'hauch, duft', krvepiu hrfptl tr. u. intr. 'hauchen', k?vepm -p'eti
'duften', knimpu krvipti 'geruch bekommen'; gr. x«jrrog 'rauch',
xajiv(D 'hauche aus'.
Das norw. gjöyve bezeichnet, wie oben gesagt, 'wallen, so
dass es überfliesst', auch von der see 'schäumen, in heftiger
bewegung sein'; in dieser letzteren anwendung wird auch
reflexiv gjöyves gesagt. Dies setzt altnorw. *gfiyfa 'in heftige
bewegung bringen' voraus und schliesst sich dem sinne nach
genau an ind. köpäyati 'in bewegung bringen, erschüttern, auf-
regen, in Wallung bringen', satn + köpäyati 'in wallung ge-
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 325
raten', küpyate 'in bewegimg — , in aufregung — , in wallung
geraten'; auch an ksl. kypeti 'sieden, überfliessen'.
Das altn. *gT(fa setzt urgerra. ^güban, praes. 3. sg. '^y/übepi
voraus. Dass dies mit dem lett. küpt zusammengehört, ist mir
unzweifelhaft. Lit. kw'e'pti, kwepe'ti und kwtpti so wie gr. xajc-
voq (aus ^kiidpnös), xajtvw beweisen, dass das U von lett.
küpet, küpt aus u9 entstanden ist. Ich vermute daher vorgerm.
^kudpeti, urgerm. '^-(judhepi] daraus *gübip. u3 hat auf die
lautverschiebung so wie eine zweisilbige form gewirkt und
wurde daher wahrscheinlich ursprünglich zweisilbig gesprochen.
Dies stimmt mit der scharfsinnigen entwickelung De Saussures
überein.
Das verbum *güban praes. *gUbip aus vorgerm. *ku9-
petl war es gewiss, das für den anlaut der Wortsippe im
german. zunächst bestimmend wurde. Jedoch entstand auch
in anderen verwanten wortformen g lautgesetzlich aus vor-
germanischem k. So kann das g des subst. f. gufa, urgerm.
stamm '*gubun-, unter dem einfluss einer vorgerm. Stammform
kupdn— (vgl. xajivöa) entstanden sein. Im pcp. praet. *gubanä-^
im praet. des causativs *gaubide'p, im pcp. *gaubidä- und in
mehreren anderen formen ist germ. g regelmässig aus vorgerm.
k verschoben. In Helsingland gävla 'dunsten' aus urgerm.
*gubdlo-. Ob auch composita {^gagauhjan u. ähnl.) zur ent-
stehung des anlautenden germ. g mitwirkten, weiss ich nicht.
Der Wechsel des langen und des kurzen u war wol durch die
folgende regel bedingt: kudp—^ wo der hauptton auf der un-
mittelbar folgenden silbe ruhte; kup--, wo der hauptton auf
einer nicht unmittelbar folgenden silbe ruhte.
49. Gotischem, ags. und nordischem p entspricht regel-
recht nhd. d. In einigen nhd. Wörtern entspricht jedoch an-
lautendes t dem p anderer germ. sprachen: tausend, ieutsch
(neben deutsch), ton, tauwind u. m. Auch das gewöhnliche
mhd. hat in einigen Wörtern anlautendes ^, meistens neben d,
wo andere germ. sprachen p zeigen: tfisent, t'mlsch, t'mten,
tähe, touwen, turse, täht u. m. Schon im ahd. kommt solches
t sporadisch vor. Dass bei dieser erscheinung alemannischer
einfluss wirksam ist, scheint sicher. Weiuhold, Alem. gr. s. 133
sagt, dass ahd. Schreibungen mit t statt des got. p seit dem
9. jahrh. in der Notkerschen schule nicht selten sind; er erklärt
22*
326 BUGGE
dieselben aus der alemannischen ausspräche. Nach Winteler
s. 64 hat die Keienzer mundait des kantons Glarus regelrecht
die fortis t für got. anlautendes p. Er bemerkt: 'Die so lange
verteidigte und bestrittene scbreibuDg teiUsch wird ihre natür-
lichste herleitung und begründung in dieser oberdeutschen ent-
sprechung finden'.
Es ist mir aber zweifelhaft ob anlautendes hochdeutsches
t neben dem p anderer germ. sprachen überall aus alemanni-
schem einfluss zu erklären ist; in einigen fällen scheint mir
die erklärung dieses t aus urgerm. d möglich. Ich habe nicht
kenntnisse genug, weder in den altdeutschen Schriftwerken
noch in den lebenden deutschen mundarten, um dies problem
zu lösen. Ich will die folgende behandlung einiger hoch-
deutschen mit t anlautenden wortformen nur als eine frage
betrachtet wissen, und ich muss die beantwortung dieser frage
deutschen Sprachforschern überlassen.
Got. pUsundi f. 'tausend'. Altn. püswid f. Ags. püsend n.
Asächs. thüsint (in den psalmen) n. Ahd. düsunt f. und n.
Das wort ist ursprünglich fem., später durch den einfluss der
zahl 'hundert' neutr. Got. twa pUsundja deuten Mahlow (AEO
s. 98) und Kluge nicht als neutr. pl., sondern als dual. fem.
Der anlaut ist im hochdeutschen zum teil abweichend. In
einem der ältesten hochdeutschen Sprachdenkmäler, der Pariser
hs. des Keronischen glossares, welche in Baiern im 8. Jahrb.,
etwa um 770 (Kögel, Beitr. IX, 357), geschrieben ist, findet sich
nach Kögel anlautendes fh (^ got. />) 29 mal erhalten; 218
mal ist dafür d geschrieben, nur zweimal t. Die eine dieser
wortformen ist tusunt (Kögel, Ker. gloss. 115). Das anlautende
t muss doch wol hier die ausspräche consequent widergeben,
da im spätahd. häufig tüsent vorkommt (Braune, Ahd. gr. § 167
a. 8, § 275), wie dieses zahlwort im mhd. und nhd. festes t im
anlaute hat. Warum sollte nun eben bei diesem worte die
alemannische ausspräche massgebend werden? Die Pariser
handschrift ist ein bairisches denkmal, und in so alter zeit
wurde ja auch nicht in Alemannien t für got. p geschrieben.
Im got. wird das fem. püsundi gen. pusimdjös wie mawi
gen. niaujös flectiert. Diese feminina waren bei der freien be-
tonung oxytona, wie dies z. b. durch das tv (aus giv) von
matvi, das g des altn. ylgr, das ^, p der ahd. namen auf -idh,
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 327
-ulp bewiesen wird. Darum darf man bei der freien betonung
eine schlussbetonte urgerm. form ^J^üsunpt voraussetzen dürfen;
vgl. Kremer, Beitr. VIII, 399. 418. '•^•fnisimpi sollte nach der von
mir vorgeschlagenen regel zu ''^•düsundi verschoben werden. Da
hd. t regelrecht urgermanischem d entspricht, liegt es nahe,
hieraus mhd. iTisent zu erklären.
Dass das zahlwort in anderen germanischen sprachen an-
lautendes p hat, erklärt sich aus Verbindungen wie got. twa
pUsundja, wenn die kleinere zahl hier stark betont war.
Allein 'warum hat mhd. iUsent s, nicht ein aus z ent-
standenes r, wenn es aus einer schlussbetonten grundform ent-
standen ist? Die bisher nicht gefundene etymologische deu-
tung des zalilworts kann vielleicht diese frage beantworten.
In den späteren altnorw.-isl. formen püshund, pUshundraf^ ist
die auffassung, dass das wort mit himd 'hundert' zusammen-
gesetzt sei, ausgedrückt. Man hat mehrfach auf die Überein-
stimmung zwischen apreuss. tuslmtons 'tausend' und lit. szlmtas
'hundert' aufmerksam gemacht. Daher vermute ich mit Vig-
fusson (Icel. Dict.), Scherer (Z. gesch. d. d. spr.2 591) und an-
dern forschem, dass das lit., slav. und germ. wort für 1000
mit 100 zusammengesetzt ist. Ich vermute eine vorgerm. form
^tUsU^nti , iUskonif, eigentlich 'krafthundertschaft', 'sehwell-
hundert'. Die Zusammensetzung ist mit got. piudangardi f.
von gards analog, tüs- bedeutet 'kraft'. Ich sehe darin die
protonische form eines Stammes, der in ind. tüvismant- 'kraft-
voll', tuvistama- 'der stärkste' als tuvis- erscheint und zu ind.
taviti 'vermögen' gehört. Das vorgerm. *t'uskonli' wurde im
germ. *pTisyonpi\ später *dTisliundl' , ''''•dTisundi. Das intervoca-
lische vorgerm. ^Ä- blieb hier im germ. nicht, wie sonst, unver-
schoben, weil man die silbenteilung tus-k- aufrechthielt. Das
tonlose s des mhd. iüscnt erklärt sich also daraus, dass nach
dem s früher ein tonloses h, x unmittelbar folgte. Ebenso ist
der apreuss. stamm tUslmla- aus lüs-simla- zusammengesetzt.
Ksl. iysnsta, tyscsta enthält eine ableitung von dem mit tijs-,
aus ITis-, zusammengesetzten ^si^lo = suto.
50. Der in den altgerm. sprachen für 'die schlafe' am
meisten verbreitete ausdruck bezeichnet etymologisch 'die dünn-
wangen'; altnorw. punnvangi m., selten pwmvengi n.; ags. punn-
rvang und punnwenge\ nmd. dunninge, dimnige f ; ahd. dünne-
328 BUGGE
wengi, dunrvengi. Allein daneben erscheinen hochdeutsche for-
men mit anlautendem l: ahd. tunawengi, mhd. (unewenge, läne-
ivengel n. Diese formen mit / sind vielleicht aus urgerm. for-
men mit anlautendem d verschoben. Wenn dies richtig ist,
muss das urgerra. d, welches hier im hochd. zu / verschoben
ist, so erklcärt werden: in diesem compositum lag der haupt-
ton ursprünglich auf dem zweiten gliede. Darum wurde das
anlautende vorgerm. t, urgerm. /> hier in der zweiten periode
des urgerm. lautgesetzlich zu d, woraus hd. t, verschoben. Die
formen altn. punnvawji^ ags. pwiwang, ahd. dwmewengi ver-
danken das anlautende />, hd. d dem adjectivum 'dünn'. Im
mnd. diüininge und in aschwed. pymiinger (Arkiv IV, 165),
neuschw. tinning, dän. tinding ist, wie es scheint, das zweite
glied des compositums durch lautschwächung mit einem suffixe
zusammengefallen.
Andere hochdeutsche formen zeigen nach dem anlautenden
t ein, wie es scheint, unerklärtes /: ahd. tinna., tinne^ frons,
auch ünnewenga; mhd. linne schw. fem. st. f. st. n., stirn, pl.
schlafe*); ahd. thinna-bahlio m. schlafe (neben dunna-pahhun).
Das / erscheint auch in asächs. Ihinnongum, temporibus, gl.
Lips. 912. Dies i erkläre ich durch das folgende laut-
gesetz: vorgerm. 7i vor n oder einem andern consonanten
wird germ. im, allein vorgerm. n vor einem consonanten -\- j
wird germ. in. So altnord. minni n. 'mündung' ableitung von
mu()r munnz. Altnord. }nin)ias{k) 'küssen' ebenfalls von tmtt^r.
Anders Kock, Arkiv IV, 163—170.
Der stamm des adjectivs 'dünn' ist idgerm. (nm'i-] daraus
german. '■^•punnu-s. Dagegen mhd. tinne nach meiner Vermutung
aus *dimi/a, *dhmjö, vorgerm. etwa ''^•truidiiUa .
YII.
Ausser den im vorigen behandelten Wörtern giebt es noch
eine lange reihe germanischer Wörter, die nach meiner ansieht
dafür sprechen, dass g, d, h im germanischen anlaute unter
gewissen bedingungen aus vorgerm. k, /, p entstanden sind.
Vorläufig halte ich jedoch die behandlung dieser Wörter zurück,
um ein nahe verwantes problem zu besprechen.
') Ganz verschieden von dem deutschen wurte scheint das afranz.
und prov. tin, schlaf, siehe Diez, Wtb. 11 c.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 329
Das Vernersche gesetz erklärt nicht nur die entstehimg
der inlautenden stimmhaften germ. g, d, h aus den stimmlosen
h, p, /, sondern zugleich die entstehung des inlautenden stimm-
haften germ. z, später /•, aus dem stimmlosen s. Wenn der
nächstvorhergehende vocal bei der ursprünglichen freien be-
tonung nicht den hauptton trug, wurde inlautendes s zu z
(stimmhaftem s) verschoben. Dies z blieb im gotischen un-
geändert, wenn es nicht durch spätere lautgesetze oder durch
association in das stimmlose s geändert wurde. In den
übrigen germanischen sprachen gieng z in einen ;-Iaut über.
Im altnordischen wurde dies aus z entstandene /• anders als
das ursprüngliche ;• gesprochen, was man namentlich daraus
ersieht, dass das aus z entstandene r in der älteren runeu-
schrift durch die ?/>-rune, das ursprüngliche r dagegen durch
die reib-Yune bezeichnet wird. Die entstehung des inlauten-
den z (;•) aus A' ist also, wie Veruer nachgewiesen hat, mit
der entstehung der inlautenden g, d, b aus h, p, f ganz
parallel.
Nun habe ich, wie ich meine, nachgewiesen, dass auch
im germau. anlaute /?, />-, f unter gewissen bedingungen zu
g^ d, h verschoben worden sind. Es entsteht also die frage:
ist die behandlung des a- auch im gernian. anlaute mit der be-
handlung von //, />, / parallel V Mit anderen Worten: wie ist
vorgerra. s im german. anlaute vor vocalen lautge-
setzlich vertreten, wo der hauptton bei der freien be-
tonung auf der dritten silbe oder dem worteude
näher lag?
Nicht wenige beispiele sprechen anseheinend dafür, dass
ein germanisches s auch unter diesen bedingungen einem
vorgerm. s lautgesetzlich entspricht. Ich werde einige solche
beispiele hier besprechen.
Got. sineUjs alt; urnord. swoslcli auf dem steine von Tune,
superl. u. pl. masc. slnelgs hatte ursprünglich gewiss den haupt-
ton auf der dritten silbe, da das suffix -ga, wie das g zeigt,
betont war und da wir im ind. sanakn-s 'alt' finden. Auch
got. sinista 'ältester', burguud. (mit lat. endung) shüslus bei
Ammian hatte bei der freien betonung den hauptton auf der
dritten silbe. Jedoch braucht das anlautende 5 von sineigs,
sinista nicht als lautgesetzlichor Vertreter eines vorgerman. s
330 • BUGGE
aufgefasst zu werden. Die genannten formen können ihr s
verwanten formen, denen das s lautgesetzlich zukam, ver-
danken. Got. sineigs, sinista und frank, siniscalcus lassen ver-
muten, dass das germanische einst formen besass, die dem ind.
säna-s *alt', ^v.ivoq, Mi. seyias 'alt', senis 'greis' entsprachen.
Auch das / der ersten silbe von s'meiffs, sinisla scheint laut-
gesetzlich in formen, die den hauptton auf der ersten silbe
hatten, entstanden zu sein.
Altn. sammöbr = gr. oiwifrjTQiog beweist nur anscheinend
etwas für die hier behandelte frage, denn die behandlung des
anlautenden s kann hier durch samr = ofiög und andere ver-
wante formen beeinflusst sein. Auch sammeln, ahd. sammiön
stand nicht frei und allein. Ebenso kann ahd. sibunto, wenn
es wie ind. saptamä-s (gegen saplälTia-s) ursprünglich den haupt-
ton auf der dritten silbe hatte, sein s der cardinalzahl ver-
danken. Wie got. saiwala bei der freien betonung betont war,
lässt sich nicht sicher bestimmen. Dasselbe gilt von saliel^
ahd. satul, das wol lehnwort ist.
Ich finde überhaupt nicht vollgültige beweise dafür, dass
vorgerm. anlautendes s vor vocalen in wortformen, die den
hauptton auf der dritten silbe hatten, lautgesetzlich durch
germ. s vertreten sei.
Ich werde vielmehr durch einige, wie mir scheint, zum
teil" sichere, wenn auch nicht zahlreiche belege die folgende
regel stützen: Wo der hauptton bei der freien betonung
auf der dritten silbe lag oder vom wortanfang noch
weiter getrennt war, wurde vorgerm. anlautendes s
im germanischen durch das stimmhafte z zu r ver-
schoben.
51. Nhd. rusSj mhd. ahd. ruoz,; mnd. rot, rüt\ ndl. roei.
Davon das adj. nhd. russüj, mhd. ruo2,ec, ruoz,ic, ahd. ruoz,ac.
Ndl. ;-oe/ bezeichnet zugleich: talg, fett, unschlitt; auch: russ-
brand im getreide. Grimm (vorrede zu Goth. glossar von
E. Schulze s. VI) führt ahd. hruoz 'fuligo' an. Diese form
findet sich nicht bei Graft' und ist mir unbekannt. Eben-
daselbst vergleicht Grimm ags. hrol 'sordes, fuligo'. Ebenso
ist bei Schiller-Lübben, Mnd. wtb. neben mnd. rot 'fuligo' ags.
hrot gestellt. Endlich geben Weigand und Kluge (Etym. wtb.
unter russ) agii. hrot 'schmutz'. Dies ags. wort bezweifle ich.
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 331
Bei Boswortli-Toller findet sich nur das folgende citat: Gervyrc
t5e Iceceböm bus of ecede and of hunige, genim bcct seleste
hunig dö ofer heorp äseöp ^cet weax and t5(et hrot Leechd.
11,224,17. Daraus wird mit recht hrot n. 'Thick fluid, scum,
mucus' gefolgert, und dies wird mit ahd. hroz, nhd. roiz ver-
glichen. Nhd. russ, ahd. nio::; kann gewiss auch nicht mit
got. hröt ortyr], öSficc, wie Grimm meint, etwas zu tun haben;
denn got. hröf, das dem neunorw. dial. röf n. 'dach, räum
unter dem dache eines hauses' entspricht, liegt dem begriffe
nach allzu fern.
Der stamm röta- 'russ' ist also bisher etymologisch nicht
erklärt. Gleichbedeutend ist der folgende wortstamm: altnord.
söt n. *russ', ags. söt, neueug. soof, neufries. dial. söf, süt, nnd.
söt, söd, mnl. soet. Davon das adj. altisl. sötugr 'russig',
altschwed. sotogher, neuschwed. sotig, ags. gesötig, neuengl.
sooty. Wie nnl. roet 'russbrand' bezeichnen kann, so ist
schwed. sotaks 'eine aou russbrand angegriflene ähre'. Lehn-
wörter aus dem germau. worte sind neuir. sTilh, gael. sTiith,
neucymr. swta\ ferner franz. suie^ prov. suia^ suga, catal. masc.
siUje. Urverwaut lit. sü'dis gen. südrio (gewöhnl. im pl.) m.
'russ', ksl. sazda f. (aus '•'•sadja). Wir haben also im german.
für 'russ' sowol sota- als rota-, für 'russig' sowol sötaga- als
rötaga-\ von diesen ist nur sota- in verwanten sprachen wider-
gefunden. Nach meiner Vermutung wurde vom substantiv-
stamme vorgerm. sodö- das adj. *södokö-s gebildet, södö-
wurde im german. zu sota-, *sodogö-s dagegen zu ''"zotagäSy
später ''^•rötagäs 'russig' verschoben. Das adjectivsuffix ga
war betont, siehe Kluge, Stammbild. § 202. 203. Sowol alt-
nordisch sötugr, engl, sooty als nhd. russ sind also analogie-
bildungen.
Kluge bemerkt (Etym. wtb. russ): 'Engl, soot, angls. söt
'russ' sind nicht verwant'. Beitr. X, 442 scheint er dagegen im
ags. söt neben dem ahd.;7<oc '(grdf. *c(7/V)' ein fremdwort zu sehen.
52. Nhd. mild, riechen, ahd. riochan, obd. riuhhan (Braune,
Ahd. gr. § 334) 'rauchen, dami)fen, duften, riechen, einen gc-
ruch empfinden'; ndl. ruiken, rieken 'riechen', ags. reocan
'rauchen, duften'; altnord. rjüka 'rauchen, duften'. Diesen
wortstamm hat man nirgends widergefunden. Lit. rükaii, rii-
kinu, rUkst'u, rukis sind lelmwörter aus dem deutschen.
332 BUGGE
Dem siunc uach übereiastinimend ist der folgende wort-
stanim: nM. sn-echan stark, vb,, nur in praesensfornien belegt:
'scatcre, cbullire; duften, riechen, stinken', swech (sweh) *ge-
rucli, duft'; nilul. sn-echer 'stinkend'. Asäcbs. swek 'gerucb',
ags. s/rccc, swec, strcecc, dat. auch sn'icce, 'geruch'; sweccan
(schwach, vb.) 'odorari'. Grimm vergleicht neuisl. siuika 'flare',
svcckja 'aer circulans, bumidiis, sutiocationi quam refrigerationi
proprior et aptior', 'tepor vaporosus et nauseosus' bei Björn
Haldorsen. Vgl. Osthotr, Beitr. VIII, 279.
Kdl. ruiken, mnd. rn/ien wie die entsprechenden formen in
neueren nd. mundarten (Osthof!', Beitr. VIII, 293 f.; Holthausen,
Beitr. X, 557; Jellinghaus, Westf. gr. 91) setzen altes rUkan
voraus. Daraus sind ahd. riochan, riechen, ags. reocan, altn.
rjüka entstanden, wie z. b. altisl. Ijüka, rahd. liechen aus lUkan;
siehe Osthotl, Beitr. VIII, 2S7 — 311. Ich setze v or germ. suof/eli
voraus. Dies wurde im german. zu '''•zudkepi, *ru9kepl, '*imkijj
verschoben, rukan ist 'aoristpraesens' zu dem 'imperfectprae-
sens' ahd. swechan. Es verhält sich zu diesem wie z. b. nord.
güfa, lett. kTipl zu kwep-, litau. kwipti (oben s. 32 1). Das praet.
1. ps. pl. zu Si\n\. swechan würde in vorgerm. form, wenn wir
-mem als enduug der 1. ps. annehmen, '^sesugdnmn lauten.
Daraus entstand im germ. lautgesctzlich '"zezukdmem, rukum.
Ein regelmässiges pcp. pf. zu s/rechan, dem mit s anlautenden
verbum, welches nur im praesens belegt ist, muss etymolo-
gisch in rohhan 'gerochen' erkannt werden, aus urgerm. *>w-
kand-, *zukand-, vorgerm. *siigonö-.
Gegen die hier vorgebrachte deutung kann man einwen-
den: ahd. sUijdn, ags. sfujan, sUcan u. s. w. 'saugen' hat an-
lautendes s, obgleich dies wie rüken in der ersten silbe U hat;
vgl. Osthofi', Beitr. VIII, 278 tf. Allein wir sind nicht berechtigt,
die möglichkeit zu leugnen, dass bereits im vorgerm. sük' ^ sug-
'saugen' neben suok'- 'riechen' eingetreten war.
53. Nhd. riemen, mhd. 7-ieme, ahd, riumo\ asächs. reomo,
riomo 'schuhriemen'; mnd. reme nach Schiller-Lübben m. und
zuweilen f.; ndl. ricm; ags. reoma. Fick und Kluge vergleichen
gr. {)\na. Dies scheint mir bedenklich. Die bedcutung des
griech. worts stimmt freilich einigcrmassen. (>»'//« ist 'zugseil',
wird auch von der bogensehne angewendet. Und in einem
deutscheu glossare heisst es: ^rictne od. zugseil des schiffes,
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNC4. 333
lemulcis', also ganz wie (wfia in (ivfiovXxtco. AUeia formell
ist es schwierig', ahd. riumo mit gr. QVfia^) von eQvco (fsQv-)
zu verbinden, und das mit riiww gleichbedeutende nord. reim
spricht entschieden gegen diese combination. Johansson (Üe
derivatis verbis contractis s. 1 1 1) vermutet in i-iumo, aus re-ii-m-,
und in altu. reim, aus ra-i-m, verwante formen mit verschiede-
nen infixen. Aehnlich sieht Noreen ('Om orddubbletter i ny-
svenskan' s. 48, Upsala 1886, in 'Sprakvetenskapliga Sällskapets
förhandlingar 1882 — 1885') in altn. reim ra-im-, neuschwed.
ra-m-sa, ahd. ri-um-o Suffixvariationen. Bei diesen versuchen
bleibt der ursjjrung des worts unsicher.
Die hauptbedeutung und, wie es scheint, die älteste an-
wendung des deutschen riumo, rieme)i wie des nord. reim, rem
ist ^lederriemen, schmaler streifen von leder', wenn das wort
auch zur bezeichnung eines bandes von metall übertragen wird.
Ahd. riumo gibt lat. corrigia, balteum, habcna wider, dat. pl.
riumun lat. pittaciis in der Verbindung 'pittaciis calceamenta
consuta erant'. Synonym mit ahd. riumo ist ind. syi'i'man- n.
'band, riemen, ziigel, streifen', auch 'nat (am schädel)', das zu
'dem uralten worte für lederarbeit' ind. si'vyati 'nähen', pcp.
pf. syiitä-s gehört. Die qualität des vocales der ersten silbe
in sijüman- zeigt, dass das suftix ursprünglich betont war. Die
Wurzel war ursprünglich zweisilbig; vgl. De Saussure, Bulletin
de la Soc. de Liug. nr. 22 s. LIV f. Ich setze hiernach den
folgenden vorgerm. substantivstaram voraus: *sirimen- (aus
'*siu9men-), in anderen casusformeu '■^•siümdn' . Dies wurde im
germ. zu ''^zium\ dann zu rium' (mit zweisilbigem iu) ver-
schoben. Später entstand der diphthong iu aus zweisilbigem
iu] vgl. ahd. uiun und hiosf (Beitr. XII, 421 f.).
Gleichbedeutend mit riemen ist altnorw.-isl. reim f., pl.
reimar, schvved. dän. rem, est-schwed. dial. rö/m, aus urnord.
'*rai?}iu. Vgl. in älteren deutschen glossaren 'tendicula, -lum:
raim, rcim\
Altn. reim verhält sich in bctrelf des vocales zu got. siujan,
ind. sJvyati, lat. suo, gr. {xao)ovo), lit. siU/ru, wie nhd. ahd.
feim m. 'schäum', ksl. penn, aprcuss. spoayiio, lat. spuma (aus
^) Mit (nfiu vergleicht Stokos ir. rüm 'Iiawsor'V Tognil Troi IU'.»
(Calcutta iss-i).
334 BUGGE
'•^spoima), ind. phcna-s und phenä-s zu ahd. spJwan, lat. spuo,
gr. jTTvco, iud. s/lv- u. s. w. Als grundform vermute ich ^poi^mo-,
*spoi"mo- mit vedueieitem (halbem) 71. Ebenso vermute ich
für reim eine grundform '''■soi"mü. Vielleicht wurde dies soi"ma
betont, woraus urgerm. ^zoi'^ma, ^roi^'mü', *raimu. Oder ver-
dankt reim sein r einer verwantcn im ahd. riumo erhalte-
nen form?
In derselben bedeutung wie rel?n hat das altisl. rafmat
Ich führe dies auf einen urnord. stamm '*rTimllon- aus *rai-
miion- zurück. Mehrere wortformen deuten darauf hin, dass
im urnord. einst die folgende lautregel galt: ai wird ä, wenn
der hauptton auf einer nicht unmittelbar folgenden silbe ruht.
Vgl. altnorw. Urhjalmr aus '^aizahe/mall; urnord. dalidun (Tune)
wol von '-'''dailjan] hateka (Lindholm) ne])en hailey vgl. ind. aham,
gr. tY«')V. Im schwed. ramsa, das in estschwed. dialekten
'langer schmaler streifen' bezeichnet, ist ä vor 7ns gekürzt. In
derselben bedeutung erscheint in der schwed. reichssprache
remsa, in schwed. und norw. dial. rimsa. Dies setzt reimsa
voraus (Kock, Undersökn. i svensk sprakhist. s. 40) mit nach
reim erneuertem ei.
Die etymologische deutung, welche ich hier versucht habe,
setzt voraus, dass ksl remeni 'riemen', welches in den ver-
schiedenen slavischen sprachen verbreitet ist (Miklosich, Etym,
wtb. 275), aus dem germanischeu entlehnt ist, wie Miklosich,
Denkschr. d. Wien. akad. XV, 122 annimmt.
54-. Nhd. röhr ist seinem Ursprung nach ganz dunkel ge-
blieben. Kluge vergleicht lat. ruscus 'binse'. Allein lat. ruscus
bedeutet vielmehr 'mäusedorn'. Dies wort ist hier mit dem
germ. z. b. mnd. rusc 'binse' (woneben risc) verwechselt. Got.
raus neutr. 'röhr', also wol stamm rausa-; hieraus entlehnt
prov. raus, demin. rauzel, fr. roseau. Ahd. mhd. rör n., ndl.
roer, mnd. rör. Altisl. reijrr masc, gen. reijrar; dieser genetiv
deutet auf einen stamm rauzi- hin. In neunorweg. mundarten
ist das wH)rt fem. und neutr.; im schwed. neutr,, in schwed.
mundarten fem. und masc. Ags. nur in der ableitung rifric
'röh rieht'.
Ich vergleiche ind. susir/i-s 'hohl', das besonders oft vom
röhre angewendet wird; in der späteren spräche kann es sub-
stantivisch masc. 'röhr, banibusrohr' bezeichnen.
GERMANISCHE LÄUTVERSCHIEBUNG. 335
Mit ind. susirä-s vergleiche ich zugleich das gr. arXog.
Fröhde hat aiXdc gründlich behandelt (Bezz. Beitr. III, 1 ff.)
und nachgewiesen, dass die grundbedeutung desselben 'höh
lung' ist. In avkog ist das anlautende s spurlos verschwunden
wie in avaXtog gegen ind. cüska-s (aus *suska-s), lit. suusas.
Gr. avXoq mit av verhält sich zum ind. susirä-s mit u wie
aeol. avcog zum ind. usus, cwaXtog zum ind. cüska-s, avS,o') zum
ind. iikmti, aire zum ind. uta u. s. w. Der dem suffixe -ra un-
mittelbar vorangehende vocal in smirä-s fehlt in avX6q\ so
verhält sich tQvd^Qog zum ind. riidhirä-s, vgl. Fick, Bezz. Beitr.
III, 160. Wie avXog gewöhnlich 'blasinstrument' bedeutet, so
hat ind. susira-m in der späteren spräche dieselbe bedeutung.
Wie das verwante spätere ind. cusi-s 'höhle, grübe' bedeutet,
so avXog u. a. 'canal, graben'.
Dem ind. stamme susird- entspricht nach der von mir ge-
gebenen regel genau ein urgerm. ^zauzilä-, *rat(zUn-. Dies
liegt vor in dem mhd. rcerl, wovon roerloht 'mit röhren ver-
sehen'. Das prov. rauzel, fr. rosean hatte wahrscheinlich auch
in betreff der deminutivbildung ein germanisches Vorbild. Ind.
su.fi-s masc. (nicht in den ältesten Sprachdenkmälern) ist 'höh-
lung eines rohrs'. Dies erklärt uns den in altisl. reyrr masc.
gen. reyrar vorliegenden german. stamm rauzi-. Im urgerm.
flectierte man nach meiner Vermutung instr. pl. '■^'rauzimis aus
^zauzimis; auch in anderen formen, z. b. im gen. pl., lag der
hauptton auf der dritten silbe. Miid. 7'(cre berührt sich dem
sinne nach nahe mit dem gr. avlög] beide können, wie auch
gr. atXojv, 'canal, graben' bezeichnen.
Nach got. lautregeln kann raus aus '■•'rauz entstanden sein.
Durch association kann das s aus dem nom. acc. sg. zum In-
laute übertragen sein: dat. rausa statt eines älteren *rauza.
Das got. raus ist darum wichtig, weil es beweist, dass ein
vorgerm. anlautendes .v, wo der hauptton bei der freien be-
tonung auf der dritten silbe lag, auch im got. zu ;• verschoben
wurde.
Ob man mit Osthoff (Ferfectum s. 497 f.) cusi-s, cusird-s
für echtere formen als susi-s, susirä-s ansieht, ist für die hier
behandelte frage gleichgültig, denn der indogerm. anlaut ist
jedenfalls s.
336 BUGGE
Es ist möglich, tlass mhd. rcerl germanische neubikhmg
ist imd in betreff des snffixes nur zufällig mit ind. susirä-s,
gr. avlö^ stimmt; allein diese auffassung hebt den Zusammen-
hang mit dem ind. wortstamme nicht auf.
Die Wurzel des ind. siisirä-s, susi-s 'höhluug eines rohrs',
cusi-s 'höhle, grübe' ist wahrscheinlich dieselbe wie die wurzel
von cüsi/afi 'trocknen, dörren', cüska-s 'trocken, dürre'. Da-
für sprechen lit. saüsas 'trocken', saus-ledis 'hohl und trocken
liegendes eis', saüs-medis 'eigentl. verdorrter bäum; gew. hohler,
ausgefaulter bäum', saus-wedis in Südlit. 'ein inwendig ver-
dorrter (und wol auch hohler) bäum'.
Mit rolw verbindet man gewöhnlich nhd. reuse, mhd. riuse,
ahd. 7'usa, riissa 'geflochtener behälter für fische', dän. ruse,
schwed. rysja, norw. dial. rusa, rysu, rysju. Allein es ist un-
sicher, ob die grundbedeutung dieses worts 'ein aus röhren
verarbeiteter gegenständ' ist. In einer westlichen norw. mund-
art bezeichnet rusa 'ein aus weiden geflochtener korb, worin
man heu wälzt'. Aus dem nord. worte entlehnt ist russ. dial.
rjuza, rjuza art netz (Miklosich, Etym. wtb. 279). Vielleicht
ist nach der andeutung Diefeubachs (Goth. wtb. II, 167) eine
combination möglich zwischen ahd. rüssa 'reuse' (aus *rüsjä)
und russ. versa f. 'reuse', poln. wiersza (entlehnt lit. varias)
Mikl. Etym. wtb. 384. Bereits im urindogerm. kann unbetontes
r% rü betontem uer entsprechen. Vgl. z. b. ind. rUpä-m 'äussere
erscheinung, färbe, gestalt, form' neben vürpas 'bild, gestalt';
ind. rürä-s 'hitzig' neben lit. tvirti 'sieden'. Siehe meine be-
merkungen in Kuhns zs. XX, 2 — 5.
55. Mhd. roum m. 'rahm', auch roume\ mnd. röm, röme\
nl. room] ags. i-eam. Im ablaut dazu altnorw. rjömi m.; schwed.
dial. njmj f., das altschwed. *r?/my« voraussetzt, vb. ry?nj 'den
rahm abschäumen'. Das wort ist etymologisch unerklärt. Die
form erlaubt es nicht, vcrwantschaft mit lat. cremor anzu-
nehmen. Nach der bedeutung ist das wort weder mit lat.
ruma, rummare noch mit apreuss. raugus 'geronnene milch',
lit. rüugas ' Sauerteig' verwant. Dagegen verbinde ich, um eine
kühne Vermutung zu wagen, roum, rouriie 'rahm, das fette der
milch' mit lat. sUmenu., der fette teil, woran sich die brüste
oder saugwarzen befinden, gewöhnlich bei Schweinen saueuter,
schmeerbauch (dessen milch nicht ausgesogen ist), meton. von
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 337
einem fetten stück erdreieb. sümen statt '"^-sügmen ist von sugo
abgeleitet. Das verwante sums kann dicke feucbtigkeit be-
zeicbnen: sucus I actis Pliu.
Mbd. 7^oum, roume setzt nacb meiner Vermutung eine vor-
germ. Stammform '^soumdn- aus '"^sougmdn- voraus. Die ur-
sprünglicbe bedeutung ist dann wol 'was ausgesogen wird',
daber fette milcb. '*soum?n~ wurde nacb der von mir ge-
gebenen regel im germ. ^zounidn-, '^rourndn'. Altu. rjömiy der
den ablautsvoeal der betonten silbe zeigt, muss also wol das
r einer verwauten form, die ursprünglicb den baupttou auf der
dritten silbe trug, verdanken.
Die bier gegebene etymologiscbe deutung wird vielleicbt
durcb cymr. hufen m. ' Cream' gestützt. Cymr. h ist regelrecbt
aus s entstanden (Zeuss, Gr. Celt.- 122 f.), u aus ou (s. 99. lOS),
/aus m (s. 114 f.). In mebreren neucymr. femininen Wörtern
erscheint das suffix -fen aus -men (Zeuss 824). Hiernach ver-
mute icb, dass cymr. hufen aus '"^'soumen- entstanden ist und
mit lat. siimen, mbd. roum zusammenbängt.
56. Nbd. rock, mbd. roc gen. rockes, abd. rocch. In cnt-
sprecbender form und bedeutung in anderen german, sprachen;
im nordischen erscheint das wort spät und ist gewiss aus dem
deutschen entlehnt. Das deutsche wort gieng ins mittellatei-
nische, romanische und noch andere sprachen über. Etymo-
logisch ist es noch nicht erklärt. Zusammenbang mit ksl,
ruho 'panuus, onus, spolia' ist abzuweisen (Miklosich, Etym.
wtb. 282).
Im ksl. bezeichnet suhio 'wollenes tuch (zur kleidung)'.
Das wort findet sich in allen slav. sprachen, z. b. poln. sukno,
davon suknia f. rock. Aus dem sl. entlehnt sind rumän. sukne,
sugne 'weiberrock', lit, sukne. Das wort gehört zu ksl. sukati
'drehen', cech. soukati 'spinnen'; suk- ist regelmässig aus souk-
entstanden.
Nacb der jetzt herscheuden auffassung der german. gemi-
natae soll der germ. stamm rokka-, rukka- aus %-uknö- ent-
standen sein. Wenn dies richtig ist, darf man vielleicbt im
anscbluss an die oben genannten slav. Wörter für rock eine
vorgerm, form *sük9n6-s 'der gesponnene (rock)' voraussetzen.
Davon vielleicht german. *ziuj9n6-s, *rugdnö-s, *ruggnö-s, *rukk-
nö-s, '^rukka-s.
338 BüGGE
57. Nhd. rocken m., mhd. rocke, ahd. roccho; ndl. rok,
rocken, mittelengl. rocke, engl, rock, altuord. rokkr, estschwed.
dial. rukk; entleliut fiun. rukki. Auch dies wort ist etymo-
logisch uneiklärt; vgl. Schiader, llandelsgeschichte u. Waren-
kunde I, 177 f. Mit Kluge vermute ich, dass rock und rocken
unter einander verwant sind. Vielleicht darf daher rocken zu
ksl. sukali 'drehen', cech. souka/i 'spinnen', lit. sukk sukti
'drehen' gestellt werden. Man könnte denn eine vorgerm.
Stammform '^snken-, in anderen casusformen '*suk9n— voraus-
setzen. Aus dieser letzteren vielleicht urgerm. '^-zugBn' , '^rug9n~\
daraus *ruggn ' , *rukkn '-, ^rukk ' .
Jedoch macht das unerklärte nd. trocken hierbei be-
denken.
58. Nhd. reichen, mhd. reichest 'erreichen, erlangen, dar-
reichen, wonach langen, sich erstrecken, reichen', ahd. reihhen
'darreichen, sich erstrecken', ags. riccan (aus '■^•raikjan)^ eng.
lo reacli 'reichen, recken'. Der bcdeutung nach liegt es nahe,
dies verbum mit got. rakjan (nur in compp.) 'recken' zu ver-
binden. Allein die versuche, diese combination lautlich zu be-
gründen (J. Schmidt, Vocal. II, 55 f.; Möller, Kuhns zs. XXIV,
453 ff.), haben sich nicht bestätigt. Nur als eine frage nenne
ich mit bedenken eine andere combination. Sollte reichen
zu lit. sö'kiu sii'kti 'langen (mit der band), reichen' gehören?
Denselben ablautsvocal wie reichen zeigt lit. saikszczioti 'nach
etwas mehrfach langen'. Wurzelformen mit k und mit g
wechseln oft. Kurschat nennt ein ihm selbst nicht bekanntes
s'e'giu 'die band ausstrecken' = sü'kiu, und Nesselmann hat
die form mit g in der bedeutung 'schwören'. Vorgerm. '*soi-
geieti sollte freilich regelrecht im germ. '-^saikip, nicht raiktp
werden. Allein vielleicht waren composita wie gereichen, ags.
geruTcan^ hereichen u. m. häufig genug um das r auch im
simplex durchzuführeu. Vorgerm, ^kosoigcieti sollte regelrecht
germ. garaiktp werden. Nach meiner regel entstand aucli in
formen wie pf. pcp. vorgerm. '^soigitö-s germ. r aus vorgerm. s.
50. Got. riiirs 'vergänglich', accus, riurjana, stamm riuri-\
altisl. ryrr 'gering, dünn'; norw. dial. nfr 'kurze zeit dauernd,
bald schwindend'. Zimmer (Ostgerm. u. westgerm. Zs. fda. XIX,
450) und Fick III, 255 verbinden das wort mit lit. rauli 'aus-
reissen', \2ii.rHcre. Dagegen erweckt das in bedenken; auch
GERMANISCHE LAUTVERSCHIEBUNG. 339
der umstand, dass das wort 'kurze zeit dauernd', nicht 'schwach'
bedeutet. Dem sinne nach stimmt mit i^iiirs gut übereiu ind.
syandrä-s 'fahrend, eilend, flüchtig, schnell vorübergehend' von
syändate 'laufen, fahren'. Daher scheint die frage erlaubt, ob
riurs auf eine vorgerm. dreisilbige grundform '^sihidri-s zurück-
geführt werden kann. Dies scheint nur möglich, wenn *siundn-s
vor dem eintreten der germ. lautverschiebung zu '^siunri-s ge-
worden ist. Die weiteren lautänderungen *zmnri-s, '^-riunn-s,
*riüris scheinen weniger bedenklich zu sein. Dass vorgerm.
-ndr- in protonischer Stellung in -)ir- übergeht, wird nicht
durch Winter und durch munter widerlegt, auch nicht durch
nhd. Sinter, altn. sindr aus sendhro-, vgl. ksl. s^dra. Ander-
seits weiss ich freilich den von mir vermuteten Übergang nicht
durch sichere beispiele zu belegen.
CHRISTIANIA. SOPHUS BUGGE.
Beiträge zur gesohichte der deutschen spräche. XIII. 23
EIN NEUES BRUCHSTUCK
DER
NIEDERRIIEINISCHEN TUNDALUSDICHTUNG.
Uie grosse Verbreitung der Timdaluslegende im mittelalter
geht sebon aus der so bedeutenden zahl der handschrifteu der
visio Tnugdali hervor, deren Albr. Wagner, Visio Tnugdali,
lateinisch und altdeutsch, Erlangen 18S2, im ganzen 54 auf-
zählt. Davon entfallen auf Deutschland und Oesterreich allein
40, Ausser diesen haben wir noch eine lateinische bearbeitung
in hexametern und zwei deutsche. Die eine vollständige,
welche den namen Albers führt, weicht von der vorliegenden
lateinischen quelle in manchen teilen nicht unbedeutend ab,
sie ist eine freie bearbeitung derselben und hält sich nur der
reihen folge der ereignisse nach au jene, häufig ändert sie und
sucht besonders das schreckliche zu mildern. Dagegen zeigt
das zuerst von Lachmann in den abhandlungen der Berliner
akademie 1836 herausgegebene niederrheinische bruchstiick,
dass es direct aus der visio übersetzt ist mit beibehaltung der
eonstructionen und oft ganzer lateinischer stellen. Die heraus-
geber desselben, Lachmann und zuletzt Wagner, haben beide
es schmerzlich empfunden, dass von dem gedichte in dieser
fassung nur ein so geringes fragment erhalten sei, da man
sonst in der läge sein würde, über die reimkunst des dichters
weitere wichtige aufschlüsse zu gewinnen. Aber auch abge-
sehen davon, schon des hohen alters wegen ist das werk
doppelt interessant; fällt es ja nach allgemeiner annähme um
das jähr IIGO, vor Eilhard von Oberge und das gedieht vom
grafen iiudolf.
Ich bin nun in der läge, ein anderes längeres bruchstück
dieses alten gedichtes hier veröffentlichen zu können, und das
BRUCHSTÜCK DES NIEDERRHEIN. TÜNDALUS. 341
glück des Zufalls ist um so höher anzuschlagen, weil wir mit
grösster Sicherheit ])eweisen können, dass wirklich Lachnianus
fragment und das unten mitgeteilte ein und derselben be-
arbeitung, ja noch mehr, derselben handschrift angehören. Der
stärkste beweis liegt wol darin, dass mein bruchstiick da be-
ginnt, wo Lachmaun abbricht, so zwar, dass erst das neue
fragment den fehlenden reim bietet für Lachmanns vorletz-
ten vers.
Wie aber konnte es kommen, dass zwei vereinzelte stücke
eines grösseren gedichtes in so verschiedene teile Deutschlands
verschlagen wurden? Wo war ursprünglich das buch, welches
bis auf 12 selten vollständig, vielleicht für immer, verloren
ist? Ein befriedigende antwort wird sich wol nicht geben
lassen. Das von Lachmann herausgegebene fragment befand
sich seiner zeit in der Sammlung Meusebachs und gelangte
von da in die königl. bibliothek zu Berlin. Sollte sich nun
auf keine weise mehr feststellen lassen, woher Meusebach das-
selbe erhalten? Das weiter unten veröffentlichte bruchstück
fand sich in dem nachlasse meines kürzlich verstorbenen
vaters, des königl. gymnasialdirektors dr. F. W. Grimme. Auch
hier lassen mich die uachforschungeu vollständig im stich, und
ich habe nicht einmal Vermutungen, wie es in seinen besitz
gekommen. Wir müssen uns daher der hoffuung hingeben,
dass sich irgendwo noch ein weiteres stück der handschrift
finde, welches uns auf eine fahrte führt. Die spräche der frag-
mente weist zum Kiederrhcin und dem gebiete des erzbistums
Köln. Wo das original sich aber auch ursprünglich befunden
haben mag, schon frühzeitig ist es der Vernichtung anheim-
gefallen, wenigstens haben die folgenden brucb stücke als ein-
band dienen müssen, und zwar bildeten sie die innenflächen
eines buchdeckels, da je zwei selten mit leim überschniiert
sind, und die schrift hier bedeutend mehr gelitten hat, als bei
den andern. Wie barbarisch man ferner dabei verfuhr, kann
man daraus erkennen, dass man, weil die blätter zu gross
waren, einfach einen zoll breit oben abschnitt, wodurch bei
dem einen zwei oder drei zeilen abgetrennt wurden, während
bei dem andern nur der weisse rand fortfiel. Doch sind auch
diese stücke erhalten und befinden sich in meinem besitz.
Ich gehe nun über zu einer beschreibung der bruchstücke,
23*
342 GRIMME
und wenn man die naclivicliten dag-cgeu hält, welche Wagner
im obengenannten werke seite XL über das Laehmann'sche
fragment bietet, so wird auch hierdurch ein jeder zu der Über-
zeugung kommen müssen, dass sümmtliche blätter notwendig
zu derselben handschrift gehören. Es sind zwei doppelblütter
auf deutschem pergament in gross oktav, die schrift ist schön
gotisch und, soweit sie nicht durch leim etc. beschädigt ist,
leicht lesbar und dem äuge woltuend. Die verse sind nicht
abgesetzt, sondern durch punkte im allgemeinen richtig von
einander geschieden; ausserdem beginnt ein jeder mit grossem
buchstal)en, welcher durch einen roten strich verziert ist. Der
Schreiber hat nur wenige versehen sich zu schulden kommen
lassen, die unter dem texte bemerkt werden sollen, er ist ziem-
lich correct, sogar die trennungszeichen sind vorhanden. Die
handschrift ist später noch von derselben band einer correctur
unterworfen worden, Wörter sind überschrieben, rasuren und
Verbesserungen angebracht etc.
Die vier ersten selten haben je 26 Zeilen text, die fünfte
25, die sechste und siebente je 24 und die achte wider 25,
wobei jedesmal die abgeschnittenen reste mitgezählt sind.
Beide blätter lagen ineinander, und so fährt die erste seite
des zweiten blattes fort, wo die zweite des ersten abbricht,
ebenso verhält es sich mit den vier letzten selten. Zwischen
seite 4 und 5 haben wir eine grössere lücke und zwar, wie
wir mit bestimmtheit annehmen können, von 12 selten; die
uns erhaltenen lagen sind also die zwei äussersten einer ab-
teilung gewesen. Lachmanns fragment hat auf 4 selten ca. 170
verse überliefert, das meinige bietet auf 8 selten 334 verse,
das würde also, wie auch schon Wagner ausrechnete, ca. 680
verse für den quaternio ausmachen. Da nun in der ersten ab-
teilung der handschrift, von der Lachmann anfang und ende
hat, 14 selten des lateinischen textes der visio Tnugdali, wie
ihn Wagner bietet, verarbeitet sind, und das untenstehende
fragment incl. der fehlenden lagen 12 selten text derselben
ausgäbe umfasst, so müssen beide abschnitte gleich gross ge-
wesen sein. Quaternionen, wie Wagner, möchte ich nicht als
einheit annehmen; dann müssten die uns erhaltenen fragmente
merkwürdig weit ausgesponnen sein gegen die fehlenden. Die
ersten vier selten meines bruchstückes behandeln im ganzen
BRUCHSTÜCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS. 343
62 Zeilen des lateinischen textes, die vier letzten 59. Das
fehlende stück in der mitte umfasst einen räum von 195 Zeilen;
es müssteu demnach, wenn wir die gleiche breite der dar-
stellung- annehmen, 3 doppelblätter =12 Seiten fehlen, und
wir würden so auf eine einheit von 5 doppelblättern kommen.
Aehnlich verhcält es sich mit dem bruchstücke Lachmanns. Die
beiden ersten seiten können nicht in betracht gezogen werden,
da in der einleitung sehr vieles gekürzt ist. Die beiden letzten
Seiten aber umfassen 31 Zeilen lateinischen text, genau die
hälfte eines ganzen blattes von den meinigen; für die fehlen-
den Seiten bleiben dann 215 zeilen, was auch mit obigen an-
gaben übereinstimmt. Wir können also lagen von 5 doppel-
blättern als sicher annehmen. — Lachmanns fragment bietet
ca. 172 verse, das meinige doppelt so grosse 334, auf ein
doppelblatt kämen demnach ca. 170 verse; das machte für je
eine der obigen abteilungen 850 verse. Solcher abschnitte
lassen sich nun, nach der länge der lateinischen visio zu
scbliessen, im ganzen vier annehmen; die erste zu 14 seiten,
die zweite zu 12, die dritte und vierte wider zu je 14 seiten
der Wagner'schen ausgäbe. Für das ganze gedieht würde sich
daraus eine länge von ca. 3400 versen ergeben, eine zahl, die
Albers Tundalus um rund 1200 verse überträfe. Letztere be-
rechnung weicht nicht unerheblich von der Wagners ab; der
gruud liegt aber darin, dass er die einzelnen abteilungen als
quaternionen, und für das ganze gedieht deren drei annahm.
Er kam daher auf ungefähr 2000 verse hinaus.
Die untenstehenden bruchstücke beginnen nun in dem
kapitel: 'De avaris et pena eorum' da, wo Lachmann abbricht
(zur näheren beleuchtung habe ich das fragment mit abdrucken
lassen); sie bieten in 180 versen das ganze capitel bis auf die
letzten drei zeilen des lateinischen textes. Dann fehlt ganz:
'de pena furura et raptorum', 100 zeilen lateinischer text, ferner
von dem capitel: 'de pena glutonum et fornicantium' alles bis
auf den schluss, im ganzen 95 lateinische textzeilen. Wider
erhalten sind in 40 versen der schluss dieses abschuittes, und
in 114 versen der grösste teil des folgenden nebst Überschrift:
'de pena sub habitu et ordine religionis fornicantium etc.', bis
auf die letzten 35 zeilen der Wagner'schen ausgäbe. Lach-
manns fragmente miteingeschlossen, sind uns im ganzen 505
344 GRIMME
vei'se des deutschen gedichtes liberkommeD, und diese anzalil
gibt uns reichliche gelegenheit, die spräche des Verfassers
kennen zu lernen. Aus verschiedenen gründen nehme ich vor
der hand abstand, näher auf diese hier einzugehen, und be-
gnüge mich .vorläufig mit dem einfachen abdrucke der hand-
schrift, wobei ich bemerke, dass ich die ziemlich häufigen liga-
turen, besonders ' für -er, aufgelöst habe, mit ausnähme von
uü, um den text lesbarer zu machen. Gleichzeitig habe ich
die betr. lateinischen stücke der visio gegenübergestellt zur
näheren vergleichung.
Schon oben habe ich bemerkt, dass der dichter sich voll-
ständig genau an seine vorläge gehalten habe; dies kann man
auch daraus ersehen, dass er ganze ausdrücke wörtlich aus
ihr herübergenommen hat, die er aber sofort seinen lesern ins
deutsche überträgt. Solcher stellen führe ich hier an: Et sola
remansit misera, vers 83 — ut canes rabidi 88 — Respondit
ei angelus 171 — Et oportet te precavere 180 — Et propterea
ille prespiter 192 — Ductus est ad supplicia 195 — Quam
deus dedit diligentibus se 207 — Et sie serpentes pariebaut
264 — Scintilla pietatis 308.
Wagner a. a. o. XXVI macht schon darauf aufmerksam,
dass eine grosse anzahl stellen in der lateinischen visio wört-
lich oder doch ziemlich genau aus der vulgata übernommen
sind, und zählt mehrere derselben auf. Da der deutsche Über-
setzer seiner quelle ganz getreu gefolgt ist, so bringt er natür-
lich auch diese in wörtlicher Übertragung. Ich führe dieselben,
soweit sie unser fragment betreffen, kurz an. — Job. 40, 18:
Absorbebit fluvium et non mirabitur et habet fiduciam, quod
influat Jordanis in os eins cf. vers 43 ff.:
Div srift uns uon ime kund diit,
Iz sole uirslinde groze vlut,
Vö in sal iz ken wnder han,
Ob in sinen mimd vlize der iordan.
Vgl. auch Apocal. 12, 15: Et misit scrpens ex ore suo post
mulierem aquam tamquam flumen, ut eam faceret trahi a
flumine.^ Zu vers 111 — 113 cf. Apoc. 13, 2: Et bestia, quam
vidi, similis erat pardo, et pedes eins sicut ursi, et os eius
sicut os leonis. Et dedit illi draco virtutem suam et potesta-
BRUCHSTÜCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS. 345
tem magnam. — Psalm 115, 12: Quid letiibuam domino pro
Omnibus, quae retribuit mihi vgl. mit vers 163:
Waz sal ich nu al laiu leiben
Vnseme heiTcn wider gebiu,
Des her mir had getan al hi?
Mattli. 16, 27: et tunc reddet unicuique secuudum opus eius
— cf. Eom. 2, 6: qui reddet unicuique secundum oi)era eius
— cf. Apocal. 2, 23: et dabo unicuique vestrum secundum
opcra vestra — cf. Job. 34, 11: Opus enim hominis reddet ei
et iuxta vias singulorum restituet eis vgl. mit v. 177:
Einin igelicheu sal er geleiden
Nach sinen wirdekeiden.
Das gleiche citat findet sich auch visio 12, 6 und 25, 21 der
Wagnerschcn ausgäbe. Jac. 1,12: Beatus vir, qui suffert tcmp-
tationem, quia cum probatus fuerit, accipiet coronam vitae,
quam repromisit deus diligentibus se; cf. v. 203:
Sin ende ist gud uü gereht,
Dar umbe ist ime gegebin zu lone
Du eweclihe himel crone;
Di hat er inphangin immer me,
Quam deus dedit diligentibus se.
Vergleiche auch Apocal. 9, 10: Et habebaut caudas similes
scorpionum, et aculei in caudis eorum, mit vers 284:
Ire zegele. di si bit in brachtin,
Hadden manegcn colben behahten.
Endlich noch Apocal. 9, 19: nam caudae eorum similes serpen-
tibus, mit vers 332:
Si geglichedin den slangen.
Die fragmente selbst haben nun folgenden Wortlaut:
Lachmauu v. 125 — 172.
[Von der giren luder ])ine. De avaris etpena eorum.
Et recedente angelo Precedente autem angelo
Bit dem engele si hiue zo profecti sunt per
An einen wec lang uFi smal, longam ac tortuosam
Vnreine was er ober al. et valde difficilem viam.
Zu grozer arbeidc Cumque multum laborarent
Was div selbe reise, et tenebrosum iter agerent,
Der uertdc si s^crc uirdroz. nou luuge ab eis vidit
346
GRIMME
Ein dir unmezclig-e groz
Gesah si da uii ward iz gewaie,
Iz was eislichen vaie,
Siner groze einglicbe.
Daz duhte si- werlihe
Merre im breider da iz lach,
Dan alle di berge, di si ie gesach.
Sin owgen waren uurich,
Sin gesihte gruelich.
Sin munt stunt alle cit
Oöenen uii vil wit:
Daz si des wole beduhte,
Daz iz bit einer aden zuhte
Zein dusiut wol verslimde
Gewappender lüde; wanne so iz
beg'unde,
Zwene riseu stränge
Stunden in grozem getwauge
In sime munde innen weudic.
Di hadde uf gerihtit sich,
Alse si da wereu uaste gemerit,
Si waren beide uirkerit.
Den einen sah si sin howbet wenden
An des dires oberste cene
Vn di uuze keren nider.
Des anderen uuze stunden wider
Zu dem howbete wert gekeret.
Des wart div sele irveret,
Do si daz höbet des strängen
Saeh nider wert hangen.
Zu den understen cenen,
In deme munde an zwen enden
Stunden di risen beide
Underscheiden,
Alse zwa sule starc uzer mazen.
Dri porten inde dri strazen
bestiam magnitudine incre-
dibilem et horrore intolera-
bilem.
Que bestia pre sue enormitate
magnitudinis precellebat
omnes, quos unquam viderat
ipse, montes.
Oculi vero eins ignitia
assimilabantur collibus,
Os vero eius valde patens
erat et apertum,
quod, ut sibi videbatur,
capere poterat
novem milia hominum
arinatoruiri.
Habebat auteiu duos
iu ore suo parasitos
et versis capitibua valde
incompositos.
Uuus euiru illoriim habebat
Caput sursuin ad dentes su-
periores prefate bestie et
pedes deorsum ad inferiores,
alius vero versa vice caput
deorsum et pedes ad dentes
superiores habebat sursum.
Erant sie quasi columpne
in ore
eius, qui idera os in simili-
tudinem
BRUCHSTUCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS.
347
GiDgen uzer des dieres munde.
Also iz den aden lazen solde.
So wloch druz di flamme groz:
In drw ende si biue schoz.
Durch die flamme man dikke twauc
Di seien suuder 1
trium portaium dividebant.
Flamiua etiain inextinguibilis
ex ore eius eructuabaf, que
in tres
partes per illas tres portas
dividi solebat,
et contra ipsam flammam
anime cogebantur
ireu danc
In zugene daz abysse,
Liden ir vertumuisse.
Der rown uii unrene staue
Vil dicke uz sime munde dranc.
Bit ludere grimmer stimmeu
Soch ieder man da inue grimmen
Di seien zu vil maueger stund
Vzzer dem buche durch den mund,
Diz in was dechen wnder,
So da inne vü och da under
Mauich dusint werkle lagen
In des duuelis buche plagen.
Vor sime munde
Der duuele vile waren,
Di di sele twngen uz un in;
Ir in were ie me,
Ir in was nit min.
Ei wi lüde sruen di zungen,
Do si wrden betwngeu
Mit grozen sleigen maneche stuud,
Daz si quemen in den mund.
Da tundales sele do gesach
Dit uresliche ungemah
intrare dampuande.
Fetor quoque iucomparabilis
5 ex ore eius exiebat.
Set et planctus et iilulatus
multitudinis
de ventre eius
per idem os audiebätur,
10 uec miruu],
cum intus essent
multa milia viroruui ac mu-
lierum
dira tormenta lucütium.
Ante cuius os
15 erat etiam inmundorum spiri-
tuum miiltitudo, qui animas
intrare cogebant.
Set antequam iutrarent,
nuiltis et diversis eas verbe-
ribus et plagis affligebant.
Cumque diu vidisset anima
tarn horribile et metuendum
2 zugene sehr verwischt und nicht genau zu entzififern. — 7 ieder,
das erste e ist zerfressen, ebenso 8 das n in maneger, 11 das d in under
und 13 das h in buche. — 15 wäre. Vor dem w ist eine rasur; es
scheint, dass dort ein z stand.
348
GRIMME
Vzer den drin porteu, 25
Vau der grozer voihten
Solde si vil nah begeben sich;
Ir rowe der was grozlich.
Weinende si zume engele sprach:
Direr qualin ungemacb, 30
Daz ich bi also grozlich sin,
Solin si dich shuen uu vlin,
War umbe geistu in so na?
Der engel antwirtte al da:
Vnse vart sal anderes sin getan, 35
Wir solin in noch narre stan.
Si muzzen uz irweilid wesen,
Di hi uore solen genesen.
Dit dir ist acheron genant;
Ich sal dir sagen al zu bant 40
Vil rebte daz getude:
Iz werslindet alle gire lüde.
Div srift uns uon ime kund dut,
Iz sole uirslinde groze vlut,
Vii in sal iz ken wnder bau, 45
Ob in sinen mund vlize der iordan.
Noch wil ich dich machen wis:
Dise zwene man, di du bi sis
In sinen munde verkeren sich,
Daz waren zwene risen vreslich; 5u
Di in hadden in irme lebene
Nit gelebet so eweliche,
Alse hadde bcde di gine,
spectaculum,
deficiens pre nimio terrore
simul et timore
Spiritus
flebili voce dixit ad aiigelura :
Heu, lieu, domine mi,
non te latent ista, que video,
et quare eis appropinquas?
Angelas autera respondens
dixit:
Iter nostrum aliter explere
non possumus, nisi huic tur-
meuto proprius assistamus;
non enim hoc tormentum nisi
electi devitare valebunt.
Ista enim bestia vocatiir
Acherons,
que devorat omnes avaros.
De hac bestia scriptura lo-
quitur:
Absorbebit fluvium
et non mirabitur et habet
tiduciain,
quod iufluat Jordanis in os
eins.
Hi vero viri, qui inter dentes
et in
ore eius apparent contra-
positi,
gigantcs sunt et suis tempo-
ribus
in secta ipsorum
tarn fideles, sicut ipsi non
suut inventi,
45 un in sal iz ken rasur und nur mit mühe zu entziffern.
BRUCHSTÜCK DES NIEDEKRHEIN. TUNDALÜS.
349
Di nu g-euaren sin hine,
Der namen du wola hast bel^aut. 55
Der eine ist ferrugius genant,
Der ander hezzit sonalius.
Div sele antwirtte ime alsus:
Wi sere ich des bewegit bin,
Daz dise hadde so guden sin, go
Daz ruwen ire sunden,
Vü du in des gist Urkunde,
Vü si dirren pinen sint benomeu,
Herre min, wi ist dit komen,
Daz dise andere zwene gigande 65
Stent in disses dieris banden
Vii verkerit in sime munde?
Der engel antwertten begonde:
Dise piue uü dise quäle
Des inhat mich decheine bele; 70
AI ein dunket si dich groz bi sbinen,
Du kumes noch zu merreu pinen,
Di du Salt sin uii sint bekaut,
E du wider werdes gewaut.
Er ne gesprach dit ni so sire, 75
So ginc er naher deme dire.
Di sele al eu dede si iz uode da,
Si must ime uolgen nah,
Ire was vil sere leide.
Alse si da stunden beide so
Vor deme dire engestlich,
Der engel intlichede sich.
Et sola remansit misera
Inda si arme beleb al eine da.
Di tuuele, di der wizen plagen, S5
Do si div sele alene sagen,
Si uureu umbe si,
quorum nomiua tu beue uosti.
Vocantiir euim Fergusius
et Conallus.
Ad quem aniiua:
Heu, domine, hoc me movet,
quod, cum tu eos in sua secta
fides asseris,
cur eos dominus lalibus
diguos iudicet plagis.
Ad quem angelus:
Ista omnia, inquit, que adhuc
vidisti, penarum genera licet
sint magna,
antequam revertaris videre
poteris
multo maiora.
Et cum hec dixisset,
accedens propius antecede-
bat eam et
stetit ante bestiam, anima
vero,
licet noleus, sequebatur cum;
Cumque simul starent
ante bestiam,
angelus disparuit
et misera sola remansit.
Demones autem,
cum eam ceruerent desolatam,
conveniunt miseram
76 tlire. — 87 und bs in der handscbrift als ein vers.
350
GRIMME
Ut canes rabidi;
Alse di dobende liunde
Zügen si si zu des dires munde
In den buch bit grozen siegen,
So si meist mohten . . wigen.
Wilcbe pine, wie grozen strit
Si da liden in corz cit,
AI ein si iz wole uersuigen mohte.
Ein wis man, der id dohte,
Er mohte iz wole bit sinen wizzen
Han irkant an sime antlizze,
Do di sele wider quam.
Idoeh als iz manecliez da uiruam
An der widerkere, da er lac,
Di selbe wort, di er da sprab,
Alcin in können wi si nit alle ge-
sriben ;
Iz iusal doch so nit uerliben,
Daz wir die materie uertragen,
Wir in solin ein wenic trabe sagen
Vn künden, so uile is weseu niak,
Von manegin dingen, di er da sach.
Gepinet wart di sela da
Von hundeu, di ire volgeten nah,
Beide lewen un beren,
Di waren ire in grozer gereu,
Natren uü slangen
Hatten si umbeuangen;
Si leit von diren manege quäle,
Der si inwiste decheine zale.
Noch der si decheiz inkande.
Manech dir si ane rande.
An der selben stunden si leid
Manegis dires grimmekeit,
Der duuele siege, wres izze;
ut canes rabidi
90 secuinque pertrahunt
in ventrem bestie flagellatam.
Qualia autem vel quanta ibi
tonnen ta passa fuerit,
95 etiam si ipsa taceret,
in colore vultus et conversione
morum facillime cognoscere
poterit, quisquis sapiens no-
tare voluerit.
lOU
Et qviia brevitati studerc de-
bemus,
non cuncta, qua audivimus,
scribere
valemus. Et tarnen,
105 ne ipsam materiam videamur
negligere, pauca de niultis
ad edificationem legentium
vohimus recitare.
Passa est enim ibidem
1 1 () canuin,
ursorum, leonum,
serpentium
115 seu innumerabilium
aliorum incognitorum
monstruosorum animalium
t'erocitatem,
120
demouum ictus,ardorem ignia,
92 moliten bis 95 mohte auf dem abgetrennten stücke. — 97 iz
nicht zu entziffern.
BRUCHSTUCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS.
351
Da in half sin noch wizze.
Der gTOzer siege bitterclieit,
Vs des svebeles unrcinekeit,
Daz uinsternisse der owgen 125
Muste si da logen;
Vlizende biruende trene
In waren ire nit seltsene
Noch tuffene uf gebufet.
Si was sere gesowfit 130
In des grozen wres flamen.
Da sach si aeue grisgrammen
Dise uü andere mane pineu,
Di si da sach wolleclihe irschineu.
Wi mohte si sich des iusageu, 135
Si in muste weinen vu clagen
Daz groz ungemab?
Durch den missetrost, der ir da
geschah,
So zerriz si ire wangen,
Bit sorgen was si beuaugeu, 140
Bit vil grozer ungedult.
Alse si da bekaude ire solt,
Daz si wirdik was zen ewen,
Ze wonene under den lewen,
Vii si virdinet al ir leiben, 145
Daz si den pinen was gegeben,
Si in wiste doch, wan abe iz quam,
Daz ir pine da ende nam;
Vü sach den selben engel bi ir stan,
Der ire e was abe gegau. 150
Sere si sich vrowede do;
asperitatem frigoris
fetorem snlphuris,
caliginem oculorum,
flexus lacrimarmn ardentiiim,
copiam tribulatiomim
et Stridoren! dentium.
His et similibns ibi compertis,
quid aliud misera,
nisi seiuet ipsam de
preteritis accusare
et proprias geuas
pre nimia tristitia
et desperatione
poterit lacerare?
Cumque misera reatum suum
cognosceret, et eternum pro
suis meritis se pati suppli-
cium pertimesceret.
nescia, qua ordine exierat,
se extra [bestiam esse sen-
tiebat.
Et ecce, cum longius iaceret
debilis, aperiens oculos prope
se vidit illum, qui eam ante
precedebat, spiritum lucis.
124 svebeles. Das v ist überschrieben. — 125 und 126 in der hand-
schrift ein vers. — 128 ire über der zeile nachgetragen. — 139 so bis
142 beiiande auf dem abschnitt. — 147 in überschrieben. — 149 vor den
rasur eines buchstabeus.
352
GRIMME
Denie engele sprali si aber 7a\:
0 du eineg-e hoffuuge min,
Lutere (lau ein suuueu schin!
Min einik trpst mines vuweu, 155
Du mir von gode bis virluwcu!
0 du miner owgen liht,
Wi was mir bit dir gesit
Daz du mir were gestanden ab?
Du bist gelede uü stab iüü
Miner armen unselicheide;
Durh waz lizze du mich von dime
geleide?
Waz sal ich nu al miu leiben
Vnseme herren wider gebiu,
Des her mir had getan al hi? icö
In hedde mir unse herre nie
Me gud usgetan in allen enden,
Dan daz er dich mir ze tröste
wolde sendin
Daz ich wrder inkuude nit ge-
waukeu,
Wi mohtc ich ime des gedanken? ito
Respoudit ei anglus
Der engel autwirte irc alsus:
Also du zu erst si)rehc, also ist
iz noch,
Daz Salt du baz geuresin noch,
Daz godes genade merer ist, itö
Dan dine missedat si.
Einin igelichen sal er gcleiden
Nach sinen wirdckeiden;
Dar umbc ist iz, als ich gasete e;
Tuncillagaudens, licet afflicta
multum, dixit ad aiigelum:
0 luea spes imica,
0 solatium mihi indebitum
a doiuino concessiim,
o lumen oculorum meorum
et baculus
mee miseric et calamitatis,
ut quid rac luiscrara deserere
voluistiV
Quid autem ego misera
retribuatn domino pro
Omnibus, qua retribuit mihi?
Qui si nuuquam fecisset
mihi aliquid boni,
Tiisi qnod tc misit in occnr-
sum mihi,
(juas ei digue retribuerem
gratias?
Respondit ei angelus:
Sicut tu in priinis dixeras,
sie esse scias,
malor est divina raisericordia,
(juam iniquitas tua.
Ipse quidem reddet unicuiiiue
secundura opus suum et me-
ritum, set tarnen unumquera-
que de suo fine iudicabit.
U;i gudus im original. — KiS send'n, — 177 Ein mit rasur von
zwei buchatabcn dahinter, nur mit mühe zu lesen.
BRÜCHSTÜCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS.
353
Et oportet te precavere,
Sich wi du wibaz daz —
innent . . danne g-rozen zorn,
Daz si di geiiade haut veiloin.
Dit leit si god durh daz besovveü,
Daz haben deste menin rowen, i85
Also si bit pinen werdint gequält,
Wände si di vrowde manicualt
Verlorin haut imer me.
Decheine pinc in ist so swere,
So daz gesheidit ist uon godc
Vu siner cngele gebode.
i9()
IOl
Et propterea ille prespiter,
Den du segis cunieu her,
lüde seist her uure cumen dn,
Ductus est ad supplieia.
Zu den pinen ist er geleidit,
Di sin lange haut gebeidit,
Di muz er beshowen da innc,
Vfle daz er geware minnc
Zu gode me drage uü habe in IIb, 200
Qua propter, ut ante dixi,
oportet te precavere
ne, (cum fueris tue potesta-
tis, iterum ista merearis. Et
hoc diclo subiunxit: Trans
eamus ad ea, que ante nos
sunt, supplieia.)
(De pena glutonum et for-
nicantium) —
. . . . sie e contrario anime
peccatorum, que digne eternis
suppliciis iudicantur, prius
ad sanctorum gloriam perdu-
cuntur, ut visis premiis, que
sponte deseruerant, cum ad
penas venerint,magi9 doleant,
et ipsam gloriam, quam ante
potuissent acquirere, in me-
moriam revocent ad augmen-
tationem pene.
Nullum enim est tam grave
supi)licium, sicut sequestra-
tum esse a consortio divinc
majestatis et sanctorum ange-
lorum.
Et propterea ille prcsbiter,
quem primum pontem sccure
transire videbas,
ductus est ad supplieia,
ut visis penis
ardentius arderet in amorem
illius,
182 bis 18G pinen auf dem abschnitt. 182 nach innent ein wort
von 2 buclistabeu durch einen einschnitt bis auf ganz geringe reste des
letzten vollständig vernichtet, zoru über der zeile von gleicher band
nachgetragen. — 198 er von der selben band überschrieben. — 200 gode.
go- vüUstiindlg verschwunden und nur nach dem sinne ergänzt.
354 GRIMME
Der ime zu der eugelle g-lorien rif. qui eum vocavit ad gloriam.
Er ist der getruwe dinist kenet, Fidelis namque scrvus
Sin ende ist gud un gerebt, inventus est et prndens
Dar urabe ist ime gegebin zu lone et ideo accipiet
Du eweclihe himel crone; 205 coronam vitae,
Di bat er inpbangin immer me,
Quam deus dedit diligeutibus se quam repromisit deus dili-
gentibus se.
Di god den ginen bat gegebin,
Di in geminnet bant al ir leben
Bit guden werken nabt un tac. 210
Nab disen worten der engel sprab: Et post hec verba dixlt:
Wir in ban uob nit al gesin Quoniam nondum omnia
Daz übel, daz wir solen sin; mala vidimus,
Iz sal dir uromen, alse wir dare proderittibi,utadeavidenda,
komen,
Du gesist da. des wir nob nit in 215 que nondum vidimus, prope-
ban vernomen. remus.
Dw sele sprab: dit muz icb dolin, Tunc anima: si, inquit,
Obe wir docb ber widere solen komen postmodum redire debemus
Zu decbeinen genadin wider, ad gloriam,
So uure mieb zu pinen nider
Vn la mieb da liden, daz icb kan,220 rogo ut quantocius me pre-
Vfie daz icb zu genadin kume dan. cedas ad penam.
Von den di in gestlicbeme De pena sub habitu et
leibene uuciuse. ordine religiouis forni-
cantium vel quaeunque
conditione immoderate
se coin quinantium.
Bit deme engele diw sele bine zo, Precedente igitur angele
202 kenet auf einer rasur nachgetragen. — 211 vor Nah rasur eines
einzelnen buchstabens. — 220 liden bis zum ende der Überschrift des
folgenden kapitels auf dem abschnitt. Letztere, mit roter färbe gemalt,
ist sehr beschädigt und nur event. richtig mit hülfe des lat. textes zu
entziffern. Am schluss befindet sich eine verschnürkclung, aus der gar
nichts mehr heraus zu lesen ist; ob sie etc. bedeutet ist fraglich, doch
wol anzunehmen, da die lat. Überschrift nicht vollständig widerge-
geben ist.
BRUCHSTÜCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS. 355
Beide ruwin .... unuro;
Da sahen si ein dir eslich viderunt bestiam
Den anderin allen ungelicb, 225 omnibus, quas ante viderant,
Di si da vorin irkaude e. bestiis valde dissimilem,
Daz cumberliche vie
Hatte zweue uuze lauge duos pedes
Vnde vlugele stränge et duas alas habentem,
Den hals lane ufi breit, 230 longissimum quoque collum
Sin snabel iserin stach uü sueit. et rostrum ferreum,
Sine nagele an uuzen uü benden ungulas etiam
Waren iserin an allen endin; habebat ferreas,
Di ulamme sof er in den munt per cuius os flamma
Vn blis si wider uz groz zu aller 235 eructuabat inextinguibilis.
stund.
Vf eimme wazzere saz iz gespreit, Que bestia sedebat super
stagnuin
Daz was ein is beuroren breit. glacie condensum.
Daz selbe dir in sich virslant Devorabat autem bestia
Alle di ^tlen, cli iz uant, quascunque invenire poterat
animas,
Alse si ze nide virdouwet waren 240
In sinen buche bit grozer plagen. et dum in ventre eius per
Ofte daz ys iz si gebar, suppliciaredigerenturadnihi-
Da wrden si piuen gar; lum, pariebat eas in stagnum
glacie coagulatum,
Da musten si sich irnuwen ibique renovabantur
Wider zu quälen bit grozeme ruwen. 245 iterum ad tormentum.
Di seien der manne uü och der wibe Impregnabantur vero omnes
(jebarin an irme libe anime tarn virorum quam mu-
Vü genasen des na irre wise lierum, que descendebant in
stagnum, et ita gravide
In deme wazzere uü in dem ise ^)restolabantnr tempus,
Zu iren ziden bit grozen sweren. 250 quod eius conveniebat ad
partum.
223 vor unuro ist ein wort vollständig verschwunden und nicht
wider herzustellen, wie überhaupt die ganze Seite bis vers 257 sehr ge-
litten hat. — 239 -ien, di iz im original ganz verschwunden und nur
dem sinne nach ergänzt. — 242 si von gleicher band überschrieben. —
250 das z in grozen über der zeile.
Beiträge zur geachichte der deutschen spräche. XIII. 24
356
GRIMME
Nu sold ir wizen, waz si geberin.
Bit Daterin un bit slangen
Waren si innen beuangen;
Vil haitte si. di bizzen,
Ir inedere si in zurizzen. 255
In deme wewin di armen uurin
Vf un nidere mit grozer ruren,
In deme mere ineonden si nit ge-
grundin
In des dodis isis unden.
Alse danne quam des geberes cit, 200
So wart daz gesreie un der strit
Also bitterliche hart,
Daz di helle alle iruullit wart;
Et sie serpentes pariebant
Di slangen gewnnen si al zu baut. 2t)5
Di wib gebaren nit al eine,
Wene di man al gemene.
Allen talben riber den lib
Gebaren man uü wib,
Nit an der stede, des sit gewis, 270
Di dar zu getermit ist,
Wene durh alle ire lide gelieh,
So gebar ir igelich.
Brust uü arme si durchstachen,
In allen talben si uz brachen. 275
Di selbe dir, der si genasen,
Rungen zu haut nah iren äsen.
Ires ezzenis waren si in uaren,
Ire howbet gluende yserin waren,
Ire snebele, daz sold ir wizzen, 280
Da mide si di lihamen zu rizzen,
Alse si uz gigen in allen talben.
Intus vero mordebantur in
visceribus more viperino a
prole concepta,
sicque vegetabantur misere in
unda fetida maris mortui
glacie coDcreta,
Cumque tempus esset, ut pa-
rerent, clamantes replebant
inferos ululatibus,
et sie serpentes pariebant.
Pariebant, dico, non solum
femine, set et viri,
non tantum per ipsa membra,
que natura constituit tali of-
ficio convenientia, verum per
brachia simul et per pectora,
exibantque erumpentes per
cuncta membra.
Habebant vero ipse, que pa-
riebantur, bestie
capiia ardentia ferrea
et rostra acutissima,
quibus ipsa, unde exibant,
dilaniabant corpora.
253 beuangen fast ganz verwischt und nur mit hülfe des reimes
richtig hergestellt. — 258 ineonden. Das in ist nicht ganz sicher, da
die handschrift hier einen einschnitt hat. — 275 talben, das 1 ist von
derselben band überschrieben.
BRUCHSTÜCK DES NIEDERRHEIN. TUNDALUS. 357
Beeil un swebel waren ire salben,
Ire zegele, di si bit in bracbtin, In caudis autem suis eedem
bestie
Hadden manegen colben bebabten, 2S5 multos habebant aculeos,
Di warin crump, alse engele sint; qui, quasi hami retro retorsi,
Da mide zurizzen si si als ein lint, ipsas, e quibus exibant,
Di arme selin über alle den lip. pungebant animas.
Sus pinegediu si man un wib.
Alse di dir dan uz gen begunden, 290 Bestie enim volentes exire,
Vii ire zegele bit in gezihen nit cum caudas suas aecum non
in konden possent trahere,
Vor den heebin uu uor den angen,
So begunden si danne umbelangen in ipsa, unde exibant, corpora
Bit den snebelin iserin; rostra ardentia ferrea
Daz muste danne ir quäle sin, 295 retorquere non cessabant,
Biz si uerzerden . . aderin uü ben, donec ea usque ad nervös et
So daz da nusnit ane in sen. ossa arida consumebant.
Bit luder grimmer stimmen Et sie simul conclamantes,
Begunden si alle grinen
In den unden under deme ise, 300 Stridor glacierum inundan-
Ir igelicb nacb siner wise. tium,
Manicbe sele bulde da yü carde, et ululatus animarum susti-
Di dir si srwwen da so bardde, nentium et mugitus bestiarum
Daz si uz uü in iledin al, exeuntium
So daz iz in den bimel sal 305 perveniebant in celum,
Also lüde inde also sere, ita ut et ipsi demones,
Ob an den duuelin irgen were si in eis esset uUa
Scintilla pietatis. scintilla pietatis
Nu borit, wi daz gedude ist;
Iz ist gut, daz ich iz uch dude: 310
Iz quit ein genestre der mildekeide.
Daz ist doch ein den gewin,
Were doch der irgen an in, merito moverentur ad
So mohte si iz irbarmet han misericordiam compassionis.
292 nach hechin ein punkt, als sei ein vers zu ende; das nächste
wort fängt jedoch nicht an mit grossem buchstaben, — 290 die erste
zeile der neuen seite nur noch in geringen Überresten erhalten und zum
grössten teil aus dem lateinischen texte reconstruiert; ebenso 297. —
303 sruwen? nicht völlig zu entziffern,
24*
358 GRIMME, BEUCHST. DES NIEDERRHEIN. TÜNDALUS.
Daz weinen uü daz hantslan, 315
Daz di arme seien mähten da.
Ruwe Uli raste was in iinua, Eranteniminomnibusdiversis
In allen geliden si gewnen, membris et digitis
Di dir ir howbet ho uf drugen. diversarum bestiarum capita
Maneeher dire kunne an in sazen,320 qui ipsa membra
Ire lidere si in alle durh azen mordebant
Biz an di aderin un bein; usque ad nervös et ossa.
AI so kugen si uz uü in.
Lebende zungen hatte si och, Habebantquoquelinguasvivaa
Da mide daz ir igelich sowch 325 in modum aspidum,
Der seien munt uii rächen, que totum palatum et arteria
Biz si bit bitterlichen sahgen, consmnebant omnia
Biz si werzerden bit iren zungen
Brust uii braden biz an di langen, usque ad pulmones.
Alle di uugen an irme libe 330 Verenda quoque ipsa
An mannen uü an wiben. virorum ac muliernm erant
Si geglichedin den slangen, in similitudine serpentium,
Den buch hatte si innen beuangen, qui inferiores partes ventris
Ir inedere rizzen si inzwe, lacerare et ipsa viscera inde
So wart dan ein michel gesre. 335 studebant abstrahere.
327 sahgen, das h steht über der zeile. — 334 inedere kaum noch
zu lesen. — 335 gesre unter die zeile geschrieben.
Hier bricht das fragment ab; bis zum ende des capitels
folgen noch 35 zeilen lateinischer text.
MÜNSTER i. W. FR. GRIMME.
BEMERKUNGEN ZU DEN LAUSAVISUR
DER EGILSSAGA.
Üis sollen auf den folgenden blättern einige gedanken zur
darstellung gebracht werden, die dem Verfasser beim lesen der
Kritiske Studier etc. von Finnur Jönsson (Köbenhavn 1884)
eingefallen sind. Es betreffen diese bemerkungen teils uner-
klärte, bez. ungenügend erklärte stellen, teils metrische fehler
der lieder. Erstere sind im Jönssonschen texte gewöhnlich
durch gänsefüsschen bezeichnet. Die aufdeckung letzterer ver-
danke ich zum grossen teil meinem verehrten lehrer prof
Sievers, welcher die gute gehabt hat, mein manuskript durch-
zugehen und die resultate zu prüfen. Eine nachträgliche ver-
gleichung mit der von Finnur Jonsson besorgten neuen aus-
gäbe der Egilssaga, von welcher ein die ersten 64 capitel ent-
haltendes heft erschienen ist, hat zwar auf meine ersten auf-
stellungen keinen besonderen einfluss geübt, wol aber das zu-
sammentreffen einer meiner correcturen (die von hväta) mit
seinem texte ergeben.
Die erste hälfte der lausavisa cap. 30 ^ lautet im texte
der Krit. Stud.:
Mjok veröl- är sas aura
isarnmeit5r at risa,
[väöir vidda brööur
vet5rs] leggja skal [kvet5ja].
In der neuen ausgäbe der saga ist keine weitere änderung vor-
genommen, als dass statt isarnmeit5r die lesart isarns ?nei^r
aufgenommen ist. Die erklärung von F. J. (Krit. Stud. s. 123)
gewährt zwar den vorteil nur eine einzige, unbedeutende cor-
') Die capitelangabe richtet sich nach der Jönssonschen ausgäbe,
so weit das erste heft geht, nachher ist die Reykjavik-ausgabe zu gründe
gelegt.
360 FALK
rectur (vebrs statt vebr) zur Voraussetzung zu haben, laboriert
aber andrerseits an folgenden gebrechen: 1. leg g ja aura soll
'lucrari' bedeuten, wofür belege fehlen; 2. isarnmeitir als kenning
für 'sehmied' ist sehr unwahrscheinlich, es müsste wol eher
'kämpfer' bezeichnen; 3, väbir kann unmöglich allein 'blasebalg'
bedeuten; 4. F/<?da iröÖVr = 'ventus' ist ohne analogie; 5. der
ganze ausdruck 'der blasebalg verlaugt windstoss od. hauch
vom winde' ist höchst unnatürlich und anstössig. Indem ich
von der auffassung ausgehe, dass erst in der nächsten halb-
strophe vom blasebalg die rede ist, schlage ich folgende emen-
dationen vor:
Mjok vertir lir, sas aura
isarn-, meiör at risa
vdÖa Vilja br6Öur
vet5rs, -sleggju skal kveöja.
D. h. früh muss der manij {meit5r rUja bröbur vebrs väbä =
meibr hrynju) aufstehen, der die metallbarren hämmern {kvebj'a
aura isarnsleggju wie kvet)ja IIb oddum) soll (d. h. der schmied).
Cap. 55, Str. 3, v. 5 conjiciert Jönsson:
rauömeldrs kna ek reiöa.
Da eine zweisilbige form wie knä ek auf jeden fall zu den
metrischen ausnahmen gehört (vgl. Beiträge V, 501 f. 508 und
Möbius, Hättatal s. 23), und da fernerhin sämmtliche hs. drei
Silben vor dem knä aufweisen, ist es mir wahrscheinlicher,
dass man zu lesen hat:
rauömeldrar knak reiÖa,
oder in besserer Übereinstimmung mit den hss.:
ryÖmeitis knak reiÖa.
ri/bfiieitir 'gladius' ist mit randa rybfjön zu vergleichen; die
bezeichnung des ringes durch rybme'itis gelgja bezieht sich auf
die besondere art der Übergabe: der ring wurde wurde ja dem
Egill auf der schwertspitze dargereicht.
Cap. 55, Str. 5, v. 1 lautet in der Überlieferung:
Nu hefr foldgnär fellda.
Die zeile stimmt mit den Sieversschen ausführungen Beitr.
V, 462 und VIII, 56, Eddalieder 10 anm. 2 nicht tiberein. Man
könnte an foldgnüa denken, was mit jofra zu verbinden wäre.
Indessen verdient es hervorgehoben zu werden, dass noch kein
zu DEN LAUSAVISUR DER EGILSSAGA. 361
adj. gndr 'fortis, streuuus' erwiesen ist; die von Egilsson, Lex.
poet. s. 255 b ang-efülirten stützen sind 1. eben dieses nur hier
vorkommende foldgnär, 2. hjaldrgnär Isl. I, 90, wozu jedoch
Lex. poet. s. 341 b bemerkt wird: 'potest tarnen esse gen. sing.
a hjaldrgnä f. dea proelii, bellona'. So lange dies der fall
bleibt, scheint es am geratensten zu sein, sich mit dem asin-
namen Gnä auszuhelfen zu suchen. Mau lese und construiere
somit: fold-Gnäar liarra = 'der landesherren'. Dass Gnd im
gen. Gndar heisst, zeigt mälmgnäa?- Egilss. cap. 24; fold-Gnä,
die asin der erde, steht hier metonymisch für land.
In cap. 56, str. 1, b ist — wie schon G. Magnüsson ge-
sehen hat — hergonundar (resp. berganvindar) foldar faldr zu
verbinden und als Umschreibung- für Asgert^r zu fassen. Es
ist uns hiermit der richtige w^eg angezeigt worden, aber bei
seiner weiteren erklärung, wonach faldr = gert5 'cingulum'
sein soll, dürfen wir nicht stehen bleiben. Denn einerseits
stimmt ja die bedeutung nicht, und andrerseits heisst 'cingu-
lum' zu dieser zeit gewiss nie gerti, sondern gjor<3^ die laut-
gesetzliche parallele zu got. gairda. Dagegen löst die bedeu-
tung 'kleidungsstück' für ger(^, von der Fritzner 2 zwei beleg-
steilen anführt, die frage in befriedigender weise, wenngleich
noch zu beachten bleibt, dass die easusendungen sich nicht
ganz decken, was sonst bei den älteren skalden der fall zu
sein pflegt (vgl. Krit. stud. s. 171). — Die letzte zeile lese ich:
brtätt miöstalli hvata.
hväta kommt sonst nicht vor, wird aber durch heranziehung
von kv(cta 'stecken, (in den boden) stossen' in norwegischen
dialekten (Aasen s. 513 b) wahrscheinlich gemacht und ist
metrisch notwendig.
In der folgenden visa wird die erste halbstrophe ohne
correctur verständlich, wenn man construiert:
[Sef] skuldar felk sjaldan
[sorg ey] vita borgar
i niÖjerfii) Narfa
nafn ^Orvifils Drafnar.
Orvifils (seekönig, vgl. Vifill) borgar ('mare', vgl. Beita borg
vita skuldar-Drofn (cf. skuldar- fölk verwante) ^= 'die verwante
>) Hierzu vgl. Beitr. XII, 480.
362 FALK
frau, ÄsgerÖr'. Die bedeutung des ganzen wäre hiernach etwa:
'ich verhehle nicht den naraen der geliebten in meinem liede
(ich dämpfe, unterdrücke immer meine sorgen, spreche sie
nicht aus)'.
Auch in der nächsten strophe ist die erste hälfte unver-
ständlich. Sie lautet in den Krit. Stud.:
hyborna kveör }?orna
]>ornreiS atti horna
[syslir hann of sina
singirnÖ onundr] mina.
Die neue ausgäbe hat är statt atti eingesetzt, wodurch die
zeile nur 5 silben erhält. Ich bin überzeugt, dass man zu
lesen hat:
tyborna kveÖr J'orna
JjornreiÖ Ari hornu, etc.
D. h.: potma Ari (vgl. poi-na Pundr = 'pugnator, vir') kvebr
mina pornreib {vera) hornu pijhorna. Statt Art könnte man
an Ati (Lex. poet. s. 28 a) denken; allein dieser name ist, wie
Möbius, Kormaks saga s. 111 nachgewiesen hat, richtig Ati zu
schreiben (vgl. auch Ata skib um vibi Stjornu-Odda dr. 122,4, 1)
und somit hier metrisch unmöglich. *) Der Odinsname Ari
konnte wegen des seltenen Vorkommens leicht entstellungen
unterliegen. Iloima ist das femininum zu hornungr] man ver-
gleiche zu dieser stelle Frost. 8, 8: hoima ok hrisa ok döttir py-
horin. Zeile 1 hat a?5alhending wie z. 7; 1—2 bilden dunhenda
wie 3—4 (vgl. folg. str. 1—2, 7—8).
1) Vgl. Beitr. X, 526. Die dort gegebene regel über Verkürzung
der zweiten hebung im typus A mit nebenton in erster Senkung,
LI. I wx I — X' ist, wie mir Sievers jetzt mitteilt, noch strenger zu
fassen. In den at5alhendingäeilen des dröttkvaetc tritt sie ausnahmslos
ein, sobald der nebenton irgend deutlich ausgesprochen ist. Ausnahmen
finden sich höchstens in versen wie der a. a. o. citierten zeile grtiigt
vetSr d Qp7-'Öum, wo eine an sich nicht nebentonige silbe, -ig-, erst durch
den antritt einer consonantischen endnng lang und damit nebentonig
wird. Namentlich fallen hierher die ausgiinge auf -aiin, -inn, -ill, -uU,
-arr, -urr, welche bald als nebentonig, bald als unbetont behandelt wer-
den. ^— Ebenso unrichtig wie pornreiti atli horna ist demnach der vers
regnhjötir hdva pegna (Krit. Stud.), resp. regnhjö^r Mvars pegna (neue
ausgäbe) cap. 44, str. 3. Die codd. haben Härs, was als Haars aufzu-
lösen ist, wie es ja schon längst Gislason dargetan hat.
zu DEN LAUSAViSUR DER EGILSSAGA. 363
In der zweiten hcälfte der folgenden Strophe liegt die
hauptseliwierigkeit in der erklärung von simla sorgar. Am
natürlichsten schlösse sich dieser ausdruck an rän zur bezeich-
nung irgend einer abschattung des raubes, wie etwa fe-rän,
jari5-rän oder arf-rän. Aber was bedeutet simla, und was ist
simla sorgar? Wer nicht zu hypothesen greifen will, kann aus
dem vorliegenden Wortschätze nur an den in Snorra Edda vor-
kommenden ochsennamen simull denken. Neben simull kommt
in demselben Verzeichnis der oxna heiti auch simi vor, als
dessen diminution sim .'/ zu betrachten ist (vgl. johill : jaki,
ongull : angi\ Kluge, Stammbildungslehre § 56). Durch sorg
simla wird ein gegenständ bezeichnet, der den jungen, bez.
kleinen, ochsen sorge verschafft, leid antut (vgl. Gubi*. kv. 1,24.
sorg konunga), was wol ohne zwang auf den erwachsenen oder
starken stier bezogen werden darf Ein stier aber heisst auch
arfr, wie uns schon die gedachte namenliste belehrt. Wir be-
kämen demnach eine auf homonymie beruhende kenning simla
sorgar rän = arf-rän, wie man sie eben zu erwarten hätte.
Doch möchte ich die deutung nicht als allzu sicher be-
trachten.
In der letzten vlsa von cap. 57 ist trotz den ausführuugen
von Jonsson s. 147 f doch andcerr 'contumax, pertinax' zu
schreiben, wie die formen anderen und andccres der norwegi-
schen dialekte es beweisen; siehe auch Fritzner - unter andcera
und andceris. Die Egilssonsche etymologie des Wortes aus är
'rüder': a«<?öP/r = 'qui adversum remigat' ist mir mit Jönsson
wenig wahrscheinlich. Da die norw. dialekte auch die form
andhicres mit derselben bedeutung aufweisen, scheint mir die
ankuüpfung an Mr 'haar' nahe liegen zu müssen, was eine
grundbedeutung 'widerhaarig, struppig' ergibt.
Cap. 61, Strophe 2. Ich vermute in regnat^ar regni eine
kenning rögnat5ra Reginn = 'proeliator'; fyr rögnatira Regni
= vor Erik. Rögna^r ist wie valnatir und vignat^r gebildet. —
Zur erklärung der kenning magnabr hugins vära construiert
Jönsson aus dem adj. vcerr, dem subst. yöPrÖ etc. ein nomen
värar fpl. 'ruhe, freude'. Mit demselben recht könnte man
wol auch nach vceri n. 'alimentum' ein vär resp. väri mit der-
selben bedeutung ansetzen. Es ist aber eine frage, ob man
nicht besser tut, mit dem gegebenen und belegten sprach-
364 FALK
material auszukommen zu suchen, in welchem falle sich das
wort väri m. 'flüssigkeit, wasser' darbietet. Zwar schreibt
Fritzner, Rettelser og TilUiig s. 871 (er ist der einzige lexiko-
graph, der das wort anführt) vari mit kurzem a, allein HofuÖ-
lausu 21, wo es mit Idi-a reimt, beweist für länge des vocals.
Wir bekommen hiernach folgende kenning: magnatir hugins vära
= 'vermehrer des rabentrunkes'.
Cap. 64, Strophe 1, z. 3 — 4 lautet bei Jönsson:
sigrat gaukr, ef glamma
gamra veit of sik ]:>rarüma,
worin ich keinen sinn zu entdecken vermag. Statt sigrat, das
von hnhjrat z. 7 influiert zu sein scheint, bietet K. s'mgja, das
sicher auf ein syngrat der vorläge zurückgeht. Dies gibt den
sinn: 'es singt nicht der kukuk, wenn der adler über ihm
schwebt'. — Wenn gjälpar in z. 8, wie es den anschein hat,
richtig ist, wird es wol zu ags. gielpan, mhd. gelfen gehören.
In der vierten strophe desselben capitels kommt eine
dativform vmd vor, von welcher Jönsson erklärt, er verstehe
sie nicht. Wenngleich dieses bekenntnis, in anbetracht der
nicht ganz wenigen belege für ebensolche dativbildung der
«^stamme (vgl. auch Noreen, Anord. gramm. § 309, 3), einiger-
niasseu befremden muss, darf doch diese form, mit anderen
kriterien, als beweis für späteren Ursprung, in casu für un-
echtheit der strophe angesehen werden.
In der nächsten lausavisa haben die ausgaben eine kenning
cegir hauga. Allein das nom. ag. wgir kommt sonst nie in der-
artigem gebrauche vor; auch wird meines bedünkens die an-
gesetzte kenning durch heranziehung der Umschreibung dtti
ormvengis (vir liberalis) nicht um sehr viel wahrscheinlicher,
da doch immerhin den bezeichnungen 'der schrecken des gol-
des' und 'der erschrecker der goldringe' ein ziemlich ver-
schiedener ästhetischer wert beizumessen sein wird. Dürfen
wir somit dem genialen und formgewanten Egill ein solche
geschmaeklosigkeit nicht beilegen, so brauchen wir nur das
(cgir in A:lgir zu ändern, um einen in jeder beziehung un-
tadelhaften ausdruck zu bekommen, der mit der kenning hauga
Tyr ganz auf einer stufe steht.
Cap. 82, 1 endet bei Jönsson folgendermassen:
zu DEN LAUSAVISUR DER EGILSSAGA. 365
letk af emblu aski
eldi valbasta kastat,
wo das wort eldi metrisch unrichtig- ist, weil es dem verse
eine überschüssige silbe erteilt. Zu lesen ist eld oder elds.
Das object des verbums kasta wird dann in der voraufgehen-
den zeile zu suchen sein. Es bleibt somit kaum eine andere
combination möglich als diese: elds emhla = 'femina' (vgl.
eld-Gerbr und eld-Gefn), valhasta askr = 'pugnator, vir' (wo
valhost metaphorisch für schwert steht). Der sinn wird hier-
nach folgender: 'ich befreite die frau von dem krieger'. Der
satz bezieht sich auf die cap. 64 erzählten begebenheiten. Der
ausdruck kasta af 'abwerfen' darf nicht beanstandet werden;
es wird an gegebener stelle von Ljö(s ofriki gesprochen, für
welchen begritf das zeitwort Uggja ä (vgl. Lex. poet. s. 517 a.
Oxforder wb. s. 389 a) zu geböte steht, dessen gegensatz wir
vor uns haben.
Zeile 6 der folgenden strophe hat bei Jünsson die form
bafjoU digulsDJävi,
obwol metrische wie sprachliche gründe für digul- beweisen
(vgl. die verse armleggs digul farmi, hafleygr digulskafli SE. I, 404,
mjok litt digidjokla Hättalykill "28, 4 und Beitr. X, 526). Von
den Wörterbüchern hat nur Fritzner das richtige. — Statt meb
orbum in z. 7 ist wol met) virbiwi 'unter den männeru' zu
lesen; dass hier drei reime sind, tut nichts. — Was die gänse-
füsschen bei fyr z. 5 für einen zweck haben, ist mir unklar.
In der letzten strophe des cap. 82 i^t mir keine andere
wahrscheinliche auffassuug ersichtlich, als zu verbinden lofs
at enda 'am ende des lobgedichtes', und die discrepanz mit
den einleitenden werten der prosaischen erzählung ok er peita
uppJiaf at als einen Irrtum seitens letzterer anzusehen. — crt5-
glöins in z. 8 ist eine wie metrisch so gewiss auch sprachlich
unmögliche form.
Cap. 83, str. 1. Da keine parallele zu einer form ätlka ==
cittaka bekannt ist, wäre in zeile 2 der lesart eigi statt /// der
Vorzug zu geben; letzteres wort scheint wie die auffällige
form arfa statt arfs durch die ähnliche verszeile in cap. 88
arfa Geirs til parfar) bewirkt zu sein. Ich lese somit:
attak ertiuyrja
arfs mör eigi )?arfan.
366 FALK, ZU DEN LAUSAVISÜR DER EGILSSAGA.
Ein ähnlicher pleonasmus wie erfi-nyti arfs findet sieh öfters,
so z. b. hä-degi dags. — In z. 3 ist aus metrischen gründen
svikvinn für svikimi zu lesen.
In der folgenden lausavisa sind die zwei letzten verse un-
verständlich. Da es, so viel ich sehe, kein anderes wort auf
h gibt als hegna, welches mit fregna aÖalhending bildet, und
hegna hier keinen ersichtlichen sinn gibt, liegt es nahe zu ver-
muten, dass fregnask statt irgend eines seltneren synonymons
hineingeraten sei. Eine derartige emendation wäre z. b.:
— hrafnstyrandi heyri
hranna — min of sannask.
TÜBINGEN, april 1887. HJALMAR FALK.
MISCELLEN.
1. In meiner 'Soester mundart' habe ich auf s. 15, § 56 a,
sys 'sonst' als beispiel eines unerklärten /-unilauts von u auf-
geführt. Ich glaube nun, dass man bereits in mnd. zeit das
and. sus nach der analogie von düs (= and. ihus) zu süs um-
gebildet hat; das aber hatte sein ü von dem zugehörigen
demonstrativpronomen düsse, düt bekommen, dessen formen ich
a. a. 0. s. 91, § 401 anm. 2 zu erklären versucht habe. Später
ist dann düs ganz durch süs verdrängt worden, während sich
im nl. noch dus und zus nebeneinander erhalten haben. Vgl.
hierzu Sievers, Beitr. XII, 498 ff.
2. Ein weiteres beispiel für die lautliche angleichung be-
grifflich verwanter Wörter (vgl. Beitr. XI, 553) bietet westfäl.
moend 'mutter, tante' in der Soester mundart. Es ist etymo-
logisch genau = nhd. muhme (ahd. muoma, mnl. moeme), das
im mnd. nicht bloss als mome, sondern auch mit dissimilation
der beiden nasale als mone (vgl. me. möne^ aisl. mono) er-
scheint. Die Vertretung von mnd. and. ö = westgerm. got. ö
ist aber in unserer mundart aö, woneben als i-umlaut ae steht
(vgl. meine 'Soester mundart' § 74 f.), also kann mben9 keine
lautgesetzliche form sein. Es ist offenbar nach dem muster
von bem9 'oheim' — vielleicht schon in mnd. zeit^) — um-
gebildet, wie sich ähnlich z. b. im ital. 7iuora 'Schwiegertochter'
nach suocera 'Schwiegermutter' gerichtet hat.
3. Mnd. meven 'nur, ausser, allein, sondern, indes, aber',
woraus später men, man wurde, das auch ins dänische und
schwedische in der form men übergieng, möchte ich auf ein
and. *un-bi-efno zurückführen, woraus zunächst *umbevene, dann
') Bereits Lauremberg hat (1662) in seinen 'Niederdeutschen
scherzsredichten ' 7710^ me.
368 HOLTHAÜSEN
*ummeven{e), und schliesslich, mit abfall des vortonigen vocals,
dessen bedeutung dem sprachlichen bewusstsein vollständig
dunkel geworden, ineven entstanden wäre. Die ursprüngliche
bedeutung war wol dieselbe, wie die der entsprechenden bil-
dungen: and. -zi«-e/>2o, ae. un-efne, mhd. un-ehene 'uneben, un-
gleich'. Für die bedeutungsentwicklung verweise ich nur auf
ne. hut = ae. hi'itan.
4. Bugge hat Beitr. XII, 410 f. ae. distcef, ne. distaff
'kunkel, rockenstock', wozu auch ne. dizen (phonet. daizn)
'schmücken, zieren, putzen' gehört, mit mhd. d'ehsen, lat. iexere
zusammengebracht. Ich glaube nicht nur diese etymologie als
falsch erweisen, sondern auch eine bessere an ihre stelle setzen
zu können. Zunächst ist ae. distcef mit langem i zu lesen,
was aus der me. form dysestafe d. i. distUf^), aus mnd. dise,
disene 'Spinnrocken' — kurzes i in offener silbe hätte zu ton-
langem e werden müssen! — nnd. westf dutn, disn, dise, und
endlich dem ne. diphthougen ai des verbums dizen deutlich
hervorgeht. Wenn dJs-, was möglich ist, aus '*dJhs entstanden
wäre, so müsste dieses notwendig auf einem urgerm. *dh]hs
beruhen, wie z. b. got. pe'ÜKin auf älterem '''•pi7jhan] eine wzl
*dirj1is aber mit i = idg. e, also nach Bugge idg. ^lerjks, er-
scheint in keiner der verwanten sprachen, besonders nicht im
germanischen, wo nur pehsan und pahs der idg. wzl. ieks an-
gehören. Aus diesem gründe glaube ich Bugges aufstellung
verwerfen zu müssen und stelle distcef etc. zu lat, füsus
' Spindel', das ganz gut ein urlat. ■^•foissos sein kann und bis
auf die ablautsstufe der wurzel genau dem germ. dis- ent-
spricht: / = idg. dh, Ol = idg. oi, ss = idg. d + t oder
t -\~ t, woraus nach langer silbe einfaches (kurzes) s werden
musste. Das germ. i dagegen kann sowol == idg. i (längere
tiefstufenform) wie ei sein, s < ss erklärt sich wie im lat.,
vgl. Osthoff, Zur gesch. des perf s. 522 ff.
5. Zu dem von Bugge a. a. o. s. 419 f. besprochenen mhd.
hit, bet, betalle, mnl. bedalle gehört auch noch me. biclSne, be-
dene 'zumal, zugleich, zusammen; alsbald, unverzüglich', worin
ene = ae. cene^ instr. von cm 'ein' ist.
^) Bei stäfst&mmt die tonliinge wie in nhd. staO aus den zweisilbigen
casus obliqui; ne. distaff' zeigt regelrecht t wie fisl.
MISCELLEN. 369
6. Kauö'mann setzt Beitr. XII, 504 unten and. hwitl an,
das ja auch einmal im Gott. (ed. Sievers) v. 3127 in dieser
form vorkommt. Da aber sonst stets einfaches t und langes
/ erscheint, so dürfte jene Schreibung wenig beweisen. Mnd.
nnd. nl. wit erklärt sich sehr leicht als ausgleichung nach
dem comp, und superl. witter, witste^\ wie ich bereits Beitr.
X, s. 415 und 551 ausgeführt habe; ganz entschieden gegen
alte kürze spricht aber Remscheider w7, dessen i nur Ver-
kürzung von i sein kann, da altes kurzes / zu geschlossenem
e geworden wäre, vgl. rebd 'rippe' etc., a. a. o. s. 407.
7. S. 505 anm.' 2 wird v. Fierlingers erklärung von soll
angenommen. Warum heisst es denn nun schulter, nicht, wie
man nach jenem 'gesetz' erwarten sollte, *sulter, da doch hier
offenbar n aus idg. / sonans entstanden ist?
8. Zu dem a. a. o. s. 515 aufgeführten ags. rcccc, an. rakki
' Spürhund' gehört doch wol auch nl. rekel, nnd. westf. ridkl
'männlicher hund', dessen i entweder auf altes / oder auf
i-umlaut von a weist, also and. "^rikil oder *rakU, ''''rekil.
9. Ebenda z. 6 v. u. hat Kauflfmann die unglückliche er-
klärung Kluges von ndd. fuken 'oft' = jtvzvä widerholt, ob-
wol die richtige schon längst gegeben ist, vgl. DW. III, 1220,6.
Darnach ist ndd. fäken, nl. vaak der dat. pl. von fak 'gefach,
Zeitraum' (letztere bedeutung bereits in ae. fcec), und ebenso
md. {gejvache eine ableitung von vach. Urgerm. kk hätte doch
nach kurzem a nicht vereinfacht werden können (ä in faken
ist tonlanges a)\
10. In den bemerkungen auf s. 526 über nhd. zaupe
'hündin' finden sich mehrere Unrichtigkeiten. Einmal ist ahd.
zdha statt zoha anzusetzen, wie die Weiterbildung Schweiz.
zcßle, nnd. westf. toeld (meine Soester ma. § 77 a) = urgerm.
*tauhilö beweist. Sodann haben züpe, zopp, zoha natürlich
nichts mit ndd. tewe zu tun, weil diese worte doch ganz ver-
schiedenen ablautsreihen angehören 2) • — und endlich geht ndd.
e nicht auf e zurück ('mndl. teve''), sondern der grundvocal
') Wie e. hot, vgl. die dissert. von Ferd. Brück: Die cons. Ver-
doppelung in den me. compp. und superl., Bonn 1SS)6.
'-) An M-epenthese wird doch jetzt mit Möller niemand mehr
glauben !
370 HOLTE AÜSEN
ist entweder i oder ?-umlaut von «, wie westf. tldv9 zeigt, vgl.
meine Soester ma. § 100 b.
11. Auf s. 528 führt K. nach Jellinghaus ein nnd. hodde
'geronnene milch' an, übersieht dabei aber, dass in der Ravens-
bergischen mundart inl. t > d wird (vgl. Jellinghaus, Westfäl.
grammatik § 146, s. 55 f.). Die echte ndd. form erscheint da-
gegen in mnd, hotte.
12. Auf s. 541 anm. 2 wirft mir K. vor, ich hätte in den
Soester und Remscheider worten für bese7i das )?i als 'stimm-
losen' consonanten genommen. Diese art mich zu kritisieren
steht dem im Lit. bl. 1887, nr. 2 von demselben herrn geleiste-
ten würdig zur seite; ich begreife nicht, wie ein verständiger
und aufmerksamer leser die von K. angeführten stellen so
misverstehen kann. Ich habe, wie dies deutlich aus dem Wort-
laut der regel und der reihenfolge der gegebenen beispiele
hervorgeht, beide male die erhaltung des s durch seine
Stellung im silbenauslaut erklärt!
13. Das von Paul Beitr. XII, 551 unten zur spräche ge-
brachte ahd. wetiaff hat sein e statt ei wol am ehesten durch
anlehnung des adj. an we = got. )imi erhalten.
14. Luick meint Beitr. XI, 514 f., dass im ndd. die bei-
den e, nämlich e und der «-umlaut von a zusammengefallen
seien. Fürs mnd. beruft er sich dabei auf die autorität Lübbens,
der sich so in seiner mnd. grammatik ausspreche; für die
neueren mundarten will er seine behauptung durch 'Stich-
proben' beweisen. Damit nun nicht etwa diese ansieht, weil
ihr nicht widersprochen ist, für wahr gehalten werde, so will
ich hiermit ausdrücklich dagegen protestieren. Auf Lübbens
buch sollte sich niemand berufen, denn es ist eine ganz ver-
fehlte arbeit, die am besten ungedruckt geblieben wäre; bei
seiner Umschau in den neueren dialekten hat aber Luick ent-
schieden Unglück gehabt, indem ihm entgangen, dass viele
westfälische mundarten die beiden e, wenigstens in offe-
ner silbe, wenn kein r folgt, streng auseinander halten.
Um bereits gesagtes nicht zu widerholen, verweise ich
bloss auf die §§ 58—61. 86—87. 99—100. 103—107 meiner
'Soester mundart'; ferner unterscheidet Jellinghaus in seiner
westfäl. grammatik genau zwischen liepel 'löffel' (§ 77), ie/el
'esel' (§ 78) und swiarvel ' Schwefel' (§ 80), wenn ihm auch das
MISCELLEN. 371
gesetz Dicht klar g'eworden ist. Die in § 81 verzeichneten aus-
nahmen, wo ia = umlauts-e ist, erklären sich als neubildungen
wie in der Soester ma. § 61 und § 105. Gerade wie die
ravensbergische mundart der kreise Herford, Bielefeld und
Halle unterscheidet auch das märkische in Altena und Iser-
lohn die beiden e, denn Woeste schreibt in seinem Wörterbuch
der westfäl. mundart z. b. idsel 'esel', aber ^teu 'essen', wo ^
den von mir mit ea transscribierten diphthongen *) bezeichnet.
In der auch von Luick genannten abhandlung Woestes in
K. Z. II, 81 ff. wird für (; die bezeichnung iä, resp. bei deh-
nung ice gebraucht und dies (s. 92 ö".) streng von ie, te =
2-umlaut von a (s. 96, 4 f.) geschieden, vgl. täten 'essen', triceen
'treten' gegenüber schiepel ^^q\\qEq\\ iege 'egge\ Die aufs. 94 f.
verzeichneten ausnahmen, wo iä, ice den /-umlaut von a ver-
tritt, sind teils analogiebildungen mit 'angelehntem' umlaut^),
teils erklären sie sich durch das folgende r.
Auch Kau mann unterscheidet in seinem 'Entwurf einer
laut- und flexionslehre der münsterischen mundart', Münster
1884 (dissert.), bieke 'bach' (§ 8) von ki^'/e 'kehle', Inege
'hecke' von wi'ege 'wege' u. s. w. Die ausnahmen sind meist
dieselben wie oben; die vielen Unregelmässigkeiten, welche die
§§ 7 und 8 aufweisen, erklären sich zum teil durch die flüch-
tigkeit und Unwissenheit des Verfassers, der z. b. sl'iewl ' Stiefel*
unter umlauts-e, liedich 'leer' (= mhd. lidic) unter urspr. e
aufführt!
E. Hoffmann in ihrem jüngst erschienenen buche: Die
vocale der lippischen mundart, Hannover 1887, unterscheidet
bei dehnung in offener silbe deutlich izdl 'esel' von lezdn
'lesen', vgl. §§ 15. 16. 47. 68. 69. Die ausnahmen, welche z. t.
dieselben sind, wie in den übrigen mundarten, lassen sieh
meistens leicht erklären.
Da es mir augenblicklich an zeit gebricht, den gegen-
ständ weiter zu verfolgen, so lasse ich es mit diesen an-
deutungen vorläufig genügen, indem ich mir eine ausführliche
1) Ich muss Dochraals ausdrücklich Kauffmann gegenüber (vgl. Lit.
bl. ISST, nr. 4, sp. 193) erklaren, dass ea in der Soester mundart ein
deutlicher diphthong, kein triphthong, ist.
^) Vgl. über diesen begriff und ausdruck Soester ma. s. 112 unten.
Beiträge zur geschichte der deutsclien spräche. XIII. 25
372 HOLTHAUSEN
abhandlung über die beiden e im ndd. für später vorbehalte.
Man wird aber bereits aus dem gegebenen material ersehen
können, dass M. Heyne schon im jähre 1873 in seiner 'klei-
nen as. und andfrk. grammatik' s. 12 mit recht behau})tet hat:
'Das aus a' durch i entstandene e lautet daher hell, dem i
ziemlich nahe Dagegen hat das durch a aus i um-
gelautete e einen breiten, dem a nahen ton . . . .'
15. Sievers hat gewiss mit recht Beitr. X, 495 f. fussnote
in ags. hegen m. 'beide' Zusammensetzung mit dem pronomen
jener vermutet und Ags. gr.- § 324 anm. 1 bemerkt er, dass in
hegen, hoe'ga, hoe m 'vielleicht alte dualformen stecken'. Da
aber aus seinen äusserungen nicht hervorgeht, wie er sich die
entstehung dieser form im einzelnen denkt, so möchte ich
im folgenden jenen fingerzeig benutzend eine erklärung ver-
suchen.
Aus den ältesten formen gen. hce ga, dat. hce'm, sowie aus
nordh. tuoßge geht hervor, dass hegen = älterem hoe gen ist,
worin der umlaut natürlich durch ein ursprünglich folgendes i
hervorgerufen sein muss. Dies l stand in der zweiten silbe,
wo es zu e geschwächt wurde, wie z. b. bei opt. sHgen = got.
stigeina. '-^hö-gin als dualform hatte selbstverständlich auch in
dem zweiten teile die idg. dualendung des masc, -ö, woraus
urags. -II wurde. Auslautendes -u schwindet aber nach dem
Ags. gr.- § 135 dargelegten apokopierungsgesetze in dreisilbigen
Wörtern nur nach langer mittelsilbe, und darnach erhalten
wir als urags. grundform *hü-gmu == urgerm. '*hö-gJnü, eigeutl.
'jene zwei', eine ähnliche bildung wie anord. ftdö/r, nhd, heide
u. s. w. (vgl. Sievers a. a. o. und R. Meringer, K. Z. XXVIII,
236 ff".), glnoz 'jener' verhält sich zu got. j'ahis wie oixti zu
(Hxoi, d. h. jene form ist vom idg. loc. iei, diese von ioi des
anaphorischen Stammes w- (skr. yds, gr. og) mit dem suffix
no- gebildet, vgl. Lidcn, Ark. for nord. fil. III, 242, der passend
Ixu-voc und yJj-voq vergleicht, twegen halte ich mit Sievers
für eine neubilduug nach hegen\ wegen der ursprünglichen
flexion der zwei -zahl verweise ich auf Meringers aufsatz
a. a. o. s. 234 ü".
VO = 0' IM BELIAND. 373
UEBER UO = O^ IM HELIAND.
Kauffmauu bat mir im Literaturblatt 1887 sp. 60 einen
Vorwurf daraus gemacht, dass ich bei der darstellung der
sogen, 'brecbung' von altem ö > oa, wie dieselbe in der Soester
mundart in betonter offener silbe eintritt, einen wichtigen um-
stand ausser acht gelassen hätte, nämlich das erscheinen eines
entsprecheuden uo in der Londoner hs. (Cottonianus) des
Heliand. Auf meinen dagegen a. a. o. sp. 192 erhobenen Wider-
spruch hat er sp. 193 durch Verweisung auf seinen artikel in
den Beitr. XII, 356 ff. geantwortet, in welchem auf s. 358 unter 4
dieses uo verwertet wird, um daraus Schlüsse auf die heimat
des dicbters zu ziehen. Er stellt sich dadurch in gegensatz zu
Sievers und Jostes, von denen der erstere auf s. XIV f. seiner
Heliandausgabe sich über diese uo folgendermassen ausspricht:
'Bei der beurteilung dieser formen muss man mit in rechnung
ziehen, dass auch kurzes o ausserordentlich häufig durch uo
vertreten wird. Eine solche Vertretung kann nicht wol für
wirklich dialektisch gehalten werden; es ist nicht unmöglich,
dass die -erscheinung auf die tätigkeit eines der mundart frem-
den Schreibers zurückzuführen ist, welcher mechanisch die o
seiner vorläge in uo umsetzte', während Jostes im Jahrbuch
des Vereins f. ndd. Sprachforschung XI (1886) s. 91 sagt: 'Dass
schon im 10. Jahrhundert Urnen, himven etc. gesprochen sei,
wird Jellinghaus zu behaupten nicht einfallen . . .' Eine ent-
scheidung in dieser frage ist natürlich nur ^möglich, wenn wir
die mit uo statt mit o geschriebenen Wörter genauer be-
trachten und mit den heutigen formen vergleichen.
uo = 0 steht im Cott. (ed. Sievers) in betonter silbe
bei folgenden Wörtern:
a) in geschlossener silbe: guod 994. 4038. 2340; thuoh
4681. 5920; ?)moh/a 574; farmuonstun 5286.
b) in offener silbe: guomon 654. 3109; guodes 1064. 1069.
1072. 1084. 1260. 1440. 1456. 1784. 2499. 2509. 2699. 3678;
guoda 1261; gidruogi 2925.
Die drei letzten unter a) aufgezählten formen können
keinesfalls etwas der modernen 'brechung' entsprechendes
haben, da diese — abgesehen von der gruppe o -\- r — nur
25*
374 HOLTHAUSEN
in offener silbe eintritt, vgl. meine Soester ma. § 63; guod
könnte allerdings seinen diphthong nach den unter b) ge-
gebenen casus obliqui erhalten haben, wie z. b. unser honf
'bof, a. a. 0. § 375. Sehen wir jetzt die andere gruppe näher
an, so muss zunächst das vorherrschen von guodes 'gottes'
und guoda dat. auffallen, indem die 3 übrigen 'lautgesetz-
lichen' — um einmal K.'s Standpunkt einzunehmen — uo ja
noch nicht den 4 (resp. 7) falschen unter b) die wage halten
würden! Nichts liegt nun näher als die annähme, dass der
Schreiber in diesen fällen god 'gott' mit god 'gut', die beide
in seiner vorläge gleich geschrieben waren, verwechselt hat;
V. 2340 könnte er wol geradezu god statt god gelesen haben!
Die verschreibung uo für o wurde auch vielleicht noch da-
durch veranlasst, dass sehr häufig ein oder mehrere Wörter
mit echtem uo = o in der nähe stehen, d. h. unmittelbar vorher-
gehen oder nachfolgen, vgl. v. 994. 1064. 1440. 1456. 2509.
2699. 2925. 3109. 5286. 5920. In giwjnon endlich dürfen wir
vielleicht eine Vermischung des nebeneinander gebrauchten
gumo = ags. ^uma und gomo = ahd. gomo erblicken. Was
jedoch die bedeutungslosigkeit des uo völlig klar macht, ist
seine Verwendung auch für g^ < westgerm. au in folgenden
Wörtern:
fruo 4509. 4685. 5017; fruohen 5007; tuogiayi 5291; gihuo-
cnida 4597; gruotes 5192; hruod 2844; gilmod 3850; bluothi
4872; huomes 5507; huomo 3676.
Da die heutigen westfälischen dialekte altes o und au
strenge auseinanderhalten, so ist natürlich an einen lautlichen
zusammenfall von 6 und o^, der durch diese Schreibung zum
ausdruck gebracht wäre, nicht zu denken — diese uo sind
wie jene nichts als schreiberversehen. Sogar in unbetonten
endungen finden sie sich hin und wider statt der gewöhnlichen
0 oder u.
Zum schluss will ich noch darauf hinweisen, dass Kauflf-
mann auch die 'brechung' von e > westfäl. ea bereits in den
formen iMeses, ihiemo (Beitr. XII s. 358, 4) zu finden vermeint.
Gegenüber den unzähligen fällen, wo e unverändert bleibt, be-
weisen diese paar formen doch gar nichts; sie erklären sich
überdies sehr einfach als bildungen nach dem nom. thie =
the^ wo ie die lautgesetzliche diphthongierung von e ist. Wenn
ÜO = Or IM HELIAND. 375
ie in v. 5368 sogar für [■ < ai in h'ieri^) steht, so zeigt dies
nur, gerade wie die Vertretung von 0 = au durch uo (oben
8. 374), dass wir auch in ie noch nicht den Vorläufer des
heutigen ea erblicken dürfen.
^) Das von Kauffmann Beitr. XII, 349 aus metrischeu gründen ver-
langte femin. Iieri ist natürlich keine nebenform zu dem m. n. heri =
g. harjis, sondern genau := ahd. hcrl 'dignitas, raagnitudo, majestas,
meritum, ordo', hier in concreter bedeutung gebraucht.
SOEST. F. HOLTHAUSEN.
GRAPHISCHE VARIANTEN IM HELIAND.
Jjeitr. XII, 287 hat Kauffmann versucht zu beweisen, dass
die pronominal- und adjeetivendungeu auf -7nu dem abschreiber
von M. angehören und nicht in der vorläge standen; dies und
andere (anderwärts zu besprechende) gründe führen ihn zu
dem schluss (s. 356 f.) dass C. in ostsächsisches gebiet, M. nach
Werden oder Umgebung zu verweisen ist. In bezug auf das
letztere bin ich aus anderen gründen zu derselben ansieht ge-
kommen, dass nämlich der Monac. in Essen oder Werden ge-
schrieben ist (meine gründe gedenke ich an geeigneter stelle
mitzuteilen). In betreff des abschreibers von M. kann ich
jedoch Kauffmann (s. 287) nicht ganz beistimmen; auch nicht
Behaghel, wenn er (Germania 31, 378) behauptet, dass in der
vorläge des Monacensis mehrere, mundartlich verschiedene,
bände zu erkennen seien. Wenigstens können mich die au-
geführten gründe und stellen nicht überzeugen.
An erster stelle die frage, ob die formen themu etc. vom
abschreiber aus seiner mundart eingeführt oder ob sich diese
formen in der vorläge fanden. Wie Kauffmann richtig be-
merkt, sind die formen auf nm bis v. 1450 in der minderheit;
1450 bis 2247 bezeichnet einen Übergang; von da ab über-
wiegen sie.
Vor 1450 findet sich hnu l mal (v. 784), themu 3 mal (zu-
erst 605), fnimwm 3 mal (219), thinwnu 1 mal (500), hwiUcumu
2 mal (605), enumu 1 mal (1176), obru/nu 1 mal (1441), allumu
1 mal (1274), rikiumii 1 mal (940), eganumu 1 mal (491), geli-
cumu 1 mal (1221); ferner die form imo (301 und 302 in bei-
den das 0 von der 2, band): im ganzen also 27 formen auf
-mu gegen 252 auf -m oder -n. Sieht mau von im (121 mal)
und ihem (69 mal) ab, so bleiben 20 auf -um, die übrigen auf
-un, -on, -an.
GALLEE, GRAPHISCHE VARIANTEN IM HELIAND. 377
Von 1450 — 2247 sind als neue formen auf -mu zu ver-
zeichnen: iuiiuomu, gihuuUicunm, liuuemu, usumu, thurfligumu,
enigumu, wisimiu, zusammen 88; zwei auf -mo. Dagegen 89
andere formen, von welchen, im (23 mal) und them (9 mal)
mitgerechnet, 40 auf m. Hier also ein gleiches Verhältnis.
Von 2247 ab nehmen die formen auf -inu noch mehr zu.
Neu kommen hinzu: gihuuemu, niyenumu, sidicumu, seWtwiu,
sinumu, managumu, grotiimu, middiumu, helagumu, godumu\ zu-
sammen 555, daneben 3 auf -mo. Dagegen nur 58 andere
formen, worunter, abgesehen von 33 im (so weit verzeichnet),
16 them, noch 2 auf -um.^)
Auf mehrere Schreiber dürfen diese Verschiedenheiten nicht
zurückgeführt werden, da die formen bis zum schluss neben-
einander hergehen. So liegt es denn nahe die eine form dem
abschreiber zur last zu legen, nur fragt sich welche. Kauff-
mann ist der ansieht dass die formen auf -inu aus dem dia-
lekt des abschreibers stammen, dass er sich erst an das
original gehalten, später aber von der eigenen mundart habe
beherrschen lassen. Mich dünkt, es könnte sich vielleicht an-
ders verhalten.
Mit -Jim scheint der Schreiber von M. weniger gut vertraut:
er fühlt es nicht mehr recht als endung des dat. sing., denn
er gebraucht -mu auch für den dat. plur.: iinu 1936. 2972.
3016. 4817; ebenso -om: si7iom 1838, suUcom 1737, a^rom 2985
u. a. Als acc. sing. masc. steht iuuuo?nu 4416 (C iuuuoii)] seiner
spräche war diese endung also fremd, er schrieb sie nur weil
er sie vorfand. Anfänglich merkte er weniger darauf, je
weiter er kam desto besser wurde er mit der spräche seiner
vorläge bekannt, desto genauer schrieb er ab. Dass seine
mundart eine andere war, und zwar dass sie dem hochdeut-
schen näher stand erhellt auch aus einigen andern fehlem.
So setzte er auch anfangs häutiger als weiterbin den ver-
schlusslaut g statt /.-, und h für k, z. b. 173. 545. 674. 785,
925. 935. 975. 978. 979, später viel seltener: 2624.2628.3383.
5080. Einmal (749) schrieb er zuerst piforan, worauf er p in
b corrigierte. Den dichter oder abschreiber mit dem hoch-
1) Die citate werde ich in meinem As. wörterb. und meiner Gram-
matik genau angeben.
378 GALLEE
oder mitteldeutschen für vertraut zu halten, scheint mir ohne
bedenken; auch in anderen altsächsischen denkmälern sind
spuren eines solchen einflusses zu finden, wie ich nächstens
an anderer stelle zeigen werde. Es scheint mir deshalb nicht
unwahrscheinlich, dass geistliche, die in der schule zu Fulda
gebildet waren, sich mit abfassung von werken für die Sachsen-
bekehrung beschäftigt haben; zu diesen mag denn auch der
dichter des Heiland oder der abschreiber gehört haben.
Dass die vorläge -mo oder -mu hatte macht auch der
Cottonianus wahrscheinlich. Auch hier findet sich, wenngleich
in geringerer zahl die vollere form. Vor 1500 nur imo 355.
779. 1370; v. 1500—4000: ihesom (2753), imi (3218), thinemo
(3376); themo findet sich bis zum schluss 22 mal, imo zwischen
4195 und 5571 7 mal, weiterhin obremo 4537, thesamo 5015,
mmemo 5614. Mir kommt es am wahrscheinlichsten vor, dass
diese formen als -inu oder -mo in der vorläge standen und
dass der Schreiber von C, welcher das gedieht im dialekt seines
Wirkungskreises für die heidnischen laien abschrieb, so viel
als möglich alle abweichenden formen vermied, aber doch an
einigen stellen unwillkürlich seine herkunft verriet, an anderen,
vielleicht irrtümlich, die form der vorläge beibehielt.
Behaghel will auf grund der verschiedenen Schreibung von
eo io gio, antthat anttal, eu iu, c und k, her hir verschiedene
bände in M. oder in der vorläge annehmen. Ein sehr ent-
schiedener einschnitt ist nach seiner ansieht in der gegend
von 1860 einzusetzen, weil bis dahin thana, von da ab aus-
schliesslich thena vorkommt.
Auf grund der abwechslung von Jier und Ä/r unter-
scheidet er:
a b c d e
248—934 1105-1312 13U1— 1519 1568—2326 2583 — schluss
her hir her hir her
der abwechslung wegen von gio, io und eo:
I II III IV
120—1324 1494—2063 2127—2875 3096—3892
formen mit e 2 18 1 7
„ i 18 - 11 —
GRAPHISCHE VARIANTEN IM HELIAND.
379
formen mit e
1» :i '
V VI VII
3889—4055 4120—4178 4325—5267
— 2 5
4 — 11
Wenn für einige eigentiimlichkeiten der Schreibung in
diesen woiteu ein unterschied besteht, der auf abschreiber zu-
rückzuführen ist, so muss auch bei andern worten, die der-
gleichen Varianten fähig sind, in denselben abschnitten Ver-
schiedenheit der Schreibung wahrzunehmen seiu.
Meine Untersuchung galt daher zuerst Behaghels abschnit-
ten a, b, c, d, e. Folgendes ergab sich:
a
b(a)
c
d(b)
e(c)
f(d)
&
h(e)
(Behaghel)
1
bis
248
bis
934
bis
1105
bis
1301
bis
1519
bis
2326
bis
2583
bis
248
934
1105
1301
1519
232G
2583
ende
hei
hiel.
5
2
13
1
hcl
bis
zu
ende
he
hie
nur
he
he
24
44
he
ist
regel
hi
2
30
1
her
2
11
1
7
1
(3822)
stets
hier
l
her
hir
5
20
(2439)
ne
4
18
4
1
12
62
2
27
ni
14
25
4
1
12'
24
16
183
eo
eorviht
1
9
3
4
8
gio
giorviht
3
1
5
1
1
3
7
io
iorviht
1
1
1
1
8
neo
l
4
neoman
neorviht
nerviht
1
2
nio
2
1
1
3
nioman
niorvihl
1
2
l
nia
1
380
GALLEE
a
b(a)
C
d(b)
e(e)
f{d)
g
h(e)
(Bcliaghel)
1
248
934
1105
1301
1519
2326
2583
bis
bis
bis
bis
bis
bis
bis
bis
248
934
1105
1301
1519
2326
2583
ende
m
3
iuu
1
giu
4
1
1
2
giuu
■
1
Schw. V. auf ian
-ia-
W
1
1
7
ß
4
30
-ca-
10
1
1
4
IT
1
2
71 CO Ian
1
3
nioiaii
1
nialan
1
ihn na
'
1
2
1
1
4
(1863,
64,88
und
2 1 5S)
1
(5238)
ihan
1
lltcua
thena
ist
regel
ihoi
1
1
(tu foruicn nicht
1
verzei<;linct)
CH
5
4
2
euues
1
euua
2
1
euuuan
4
1
euuar
2
giu
1
1
anllhat
4
1
iinllal
1
"2
4
anlal
1
17
unlüiat
2
2
untlal
1
eflha
1
3
8
eftho
1
1
2
1
2
eliha
1
2
2
etiko
1
4
ohttho
1
GRAPHISCHE VARIANTEN IM HELIAND.
381
lieber andere worte und formen werde ich vielleicht
später handeln, diese genügen zu der zu besprechenden frage.
Vergleichen wir einige dieser mit den abschnitten I, II,
III, IV, V, VI, VII von ßehaghel.
I
II
HI
IV
V
VI
VII
120
1494
2127
309G
3889
4120
4324
bis
bis
bis
bis
bis
bis
bis
1324
20G3
2ST5
3892
4055
417S
5267
hei
22
von
hier
ab
nur
het
—
Iiiel
3
her
13
(6-) 2
9
nur
her
—
—
hir
6
16
3
hier
1
he
nur he
31
64
nur
he
—
—
hi
24
4
1
(3322)
ne
26
62
7
10
3
1
3
ni
41
24
48
44
17
6
75
gio
9
1
7
3
io
2
2
7
eo
10
2
1
2
iu
2
l
gilt
8
2
ihana
5
3
1
1
than
1
thena
4
meist
thena
—
—
Ihen
2
1
cflha
1
4
1
1
4
eflho
1 [
] 2
;••
[
J 1
ettha
2
1
1
ettho
6
ohiho
1
antlhat
4
l
anital
6
antat
1
4
I
5
unthat
4
unttat
1
Man sieht aus diesen Zusammenstellungen, dass wol da
und dort eine einzelne form iu einem der rubrikcn merklich
überwiegt; gross ist der unterschied jedoch nur bei he (IL und
III. bis schluss, antat IV. bis schluss, eftha V. bis schluss) im
382 GALLEE
allgemeinen finden sicii die abweichenden formen durch alle
teile hin. Eftho und ettho, ni und wt' stehen oft neben ein-
ander in derselben zeile, in demselben satze (1664. 243. 2049.
2561 u. a.). Augenscheinlich gebraucht hier der abschreiber
die verschiedenen formen der abwechslung zu liebe. Die eine
ist die ältere, die wol noch nicht so ganz veraltet war, die
andere die meist gebräuchliche.
Bei andern Worten, wie hir, her, liier, he, liir möchte ich
eher eine Unsicherheit in der Schreibung vermuten, wie man
sie ja immer wahrnehmen kann, wenn unerfahrene eine spräche,
mit deren formen und Schreibung sie nicht genügend vertraut sind,
aufschreiben wollen. So möchte ich auch erklären, dass im letzten
teil grössere regelmässigkeit herrscht als in den früheren, z. b. bei
he, het^ her, neotan\ verursachen doch diese laute noch heute
Schwierigkeit in verschiedenen niederdeutschen raundarten, da
der ungeübte kaum unterscheiden kann ob er einen e- oder «-laut
hört. Bei eo, w, gio, den schwachen verben auf -ian liegt m. e.
ein ähnlicher grund vor. Wie man bei der schwachen conju-
gation wahrnimmt sind e, i und auch g für den Schreiber mehr
oder minder gleichwertig, wenn es den /-laut auszudrücken
gilt. Der /-laut in inlaut und anlaut vor u unterscheidet sich
zwar von i und e] in der dialektischen ausspräche näherte er
sich aber doch beiden, und deshalb schwankte auch der
Schreiber.
In bezug auf Behaghels ansieht, dass bei der gutturalen
tenuis, z. b. im auslaut von Worten wie sprac, iverc u. a. 'von
vereinzelten ausnahmen abgesehen' sich in der gegend von
2257 ein unterschied bemerklich macht, dass nämlich vor 2257
nur c, später nur k sich finde, so glaube ich dass der 'ver-
einzelten ausnahmen' doch zu viele sind. Vor 2257 fand ich
ausl. k in werk 753. 1032; si)rak 61*.). 1667; nach 2257: sprac
11A1. 2846. 2931. 3061. 3137. 3387. 3556. 4571. 4604. 4615.
4674. 4747. 4956; werc 3231; skoc 2707; folc steht 412—5107
23 mal wovon 17 nach 2257.
Während flesk vor und nach 2257 mit sk geschrieben
wird, findet sich biscop stets mit sc] vor 4156 werden werte
auf -skepi an 6 stellen mit sc geschrieben, nach 4156 fand ich
noch sk in 4574. 4652, Tatsache ist also, dass die Schreibungen
mit sk und sc nicht so ausschliesslich vor oder nach einer be-
GRAPHISCHE VARIANTEN IM HELIAND. 383
stimmten stelle vorkommeu. Hiermit fällt m. e. der gruud
nach 2257 und 4156 eine neue band anzunehmen.
Die Verschiedenheiten in der Schreibung, weniger in der
ausspräche der laute, sind allerdings sehr zahlreich, aber die
meisten finden sich durch das ganze gedieht. In betreff 1), u, h
findet sich z. b. v. 1—1450 16 mal u, 7 mal «; v. 1450—2247
3 u gegen 6 ^'; v. 2247 bis schluss: \'2 ic gegen W i). So
findet sich meistens gisahun, gisahi, gesahin, aber gisaimin 604,
gisauui l'iW, gisaun 2597; das beweist m. e. nur dass h in
diesen fällen nicht mehr ausgesprochen wurde.
Auch in C. haben solche schreibuugsdiö'erenzen statt: liier
allgemein, sporadisch Wir, her; hiet allgemein, einige male het\
ni und ne\ nio und neo\ eo, io, gio; thana, than und thena,
antthat, untthat und antat. So gut man annehmen kann, dass
hierbei verschiedene bände tätig gewesen seien, könnte man
auch der meinung sein dass dem abschreiber handschriften
von verschiedener Schreibung s'orlagen.
Doch kann ich mich hiermit nicht befreunden,, sondern
glaube lieber mit Sievers an einheit des Schreibers und schreibe
die abweichungen der Schreiber, wie oben gezeigt, einer Un-
sicherheit in der lautbezeichuung zu. Diese Unsicherheit kann
in der vorläge bestanden haben und die Schreiber von M. und
C. sjichten sie vielleicht auf ihre weise zu normalisieren.
UTRECHT. J. H. GALLEE.
AHD. LEO, LIO, LEUUO, LOUUUO.
IVauffmaun hat in diesen Beiträgen XII, 207 fi". ahd. UuuOy
louuuo auf eine germ. grundform *xlauiö zuiiickzufüiiven ver-
sucht. Ich halte diesen versuch für missglückt. Kauffmann
selbst gibt gemeingerm. eutlehnung des lat. leo sogar für das
ahd. zu; daneben soll im ahd. ein einheimisches wort, welches
'der brüller' bedeutete, zur benennung des lövven in anwendung
gekommen sein. Die Deutschen hätten also teils das ihnen
fremde tier — sie hielten die ihnen zuerst zu gesiebt kommen-
den löwen der Römer bekanntlicli für grosse hunde — mit
dem lateinischen namen genannt, teils ein in ihrer eignen
spräche vorhandnes wort von allgemeinerer bedeutung an-
gewant, um seinen gebrauch auf jene neue bedeutung einzu-
schränken. Das erscheint an sich schon wenig glaublich, selbst
wenn ein germ. '''•.rlauu) nachweisbar wäre. Dies ist aber nicht
nur nicht der fall; nicht einmal das vorausgesetzte zeitwort
'^xlaukin ist als germ. nachweisbar oder auch nur aus andern
sprachen als idg. erschliessbar. Die ganze etymologie Kaufif-
manns schwebt also völlig in der luft.
Aher selbst, wenn es ein germ. wort '^xlauw gegeben hätte,
und selbst wenn sich die von Kauft'mann vorgetragne bedeu-
tungseutwicklung wahrscheinlich machen Hesse, die brücke von
diesem '■"•xlauiö zum ahd. leuuo, louuo wage ich nicht zu be-
treten. Es ist gar nicht einzusehn, weshalb ein ahd. stamm-
ahstufendes paradigma louuuo, leuuin, wie es Kauffmann an-
setzt, zwei paradigmen louuuo und leimo geschafit'en habe,
während bei den zahlreichen, weit häufiger gebrauchten Wör-
tern, bei welchen das gleiche Verhältnis vorlag {Imno : henin
u. dgl.) die nicht-umgelautete form zur alleinherschaft gelangte:
also nur hono, namo u. s. w,, kein '*heno, *nemo. Man würde,
um den von Kauffmann ])ehaupteten Ursprung von leuuo zu
BREMER, AHD. LEO, LIO, LEUUO, LOUUUO. 385
rechtfertigen, wenigstens hier und da einmal unter der grossen
zahl von belegen ein ''-'-heno, '*nemo nachweisen müssen. Viel-
mehr aber sagt Braune an der von Kauffmaun angeführten
stelle, Ahd. gramm., § 221 anm. 2, ausdrücklich von den um-
gelauteten formen wie henin: 'Jedoch hat sich der umlaut,
unter einwirkung der übrigen casus, nicht halten können und
findet sich nur in alten quellen; im 9. jh. ist schon das fehlen
des Umlauts regel'. Und der gen. dat. sing, leuuin sollte, als
einziges beispiel, nicht nur sich über das 9. und 10. jahrh.
hinaus erhalten sondern eine so grosse kraft besessen haben,
dass er, trotz des louuu- sämmtlicher andern casus, einen neuen
nominativ leuuo aus sich heraus schaffen konnte?! Kaufluiann
hat selbst diesen schwachen punkt wol gefühlt, weiss aber
nichts zur erklärung beizubringen, als dass lat. leo mitgewirkt
haben könnte. Eine einwirkung dieses Vorbildes ist indes
schon darum abzuweisen', weil zu jener zeit, in welcher die
umgelauteten formen wie henin zu schwinden begannen, ahd.
leuuin nach Kauffmann noch ''-hleuuin gelautet haben müsste,
was von dem lein doch recht weit abliegt.
Die richtige erklärung des ahd. leuuo, louuuo liegt auf der
band. Es ist allein von lat. leo auszugehu, welches zunächst
unverändert herübergenommen wurde. Im acc. sing, und nom.
acc. plur. entwickelte sich vor dem -un der eudung auf phy-
siologischem wege ein u, also lewm für lemi, vielleicht auch
vor dem o der endung des gen. und dat. plur. und dem o der
endung des nom. sing., so dass nur der gen. dat. sing, sein
uu von jenen casus her übernommen hätte, wie ich Heitr. XI, 72
gezeigt habe. Dass das lautgesetzliche paradigma nicht mehr
erhalten ist, verschlägt nichts. Zur zeit unserer deukmäler
waren eben die uu-foimen schon für das ganze paradigma
verallgemeinert worden.
Ob die im ahd. belegten leo, leon, leono (Graff II, 31 f)
als die Vorstufen zu leuuo zu betrachten sind, ist mir sehr
zweifelhaft. Ich möchte glauben, dass die entstehung des uu
in leuuo weit vor die zeit unserer denkmäler fällt. Die belegte
form leo lässt sich auf drei verschiedene weisen erklären. Ein-
mal ist anzunehmen, dass der löwe unseren vorfahren noch in
weit höherem masse als uns als etwas fremdartiges erschien.
Hatte sich seine bezeichnung noch nicht so recht als ein ein-
386 BREMER
heimisches wort eingebürgert, so konnte ein deutscher schrift-
steiler immer wider von neuem das wort unmittelbar aus dem
lateinischen entlehnen. Eine andere erklärung gibt Kögel,
Beitr. IX, 513, 7 a und Braune, Beitr. XII, 208 anm. 1, nach
welcher das :uu zwischen vocalen ausgefallen sein könnte. Eine
dritte erklärung endlich fordert die wol schwerlich aus vulgär-
lat. leonem > '^Vipne entstandene ahd. form lio heraus. Wäh-
rend nämlich leo einerseits zweisilbig genommen wurde, so dass
sich ein leuuo auf lautlichem wegc entwickeln konnte, fasste
man andrerseits das wort einsilbig auf, indem das eo mit dem
ahd. diphthong eo zusammenfiel. Ich möchte in der tat glau-
ben, dass sämmtliche belege von ahd. leo in dieser weise zu
verstehen sind. So musste leo in der ersten hälfte des 9. jhdts.
zu lio werden, wie hob > Uoh (Braune, Ahd. gramra. § 48). In
dieser auffassung stimmen die freilich geringen belege trefflich:
leo Isidor IX, 9 (nach Weinhold, wo das wort aber im glossar
fehlt), leo Carmen ad deum, Müllenhoff-Scherer, Denkm. LXI,23,
leono Rb., Steinm.-Sievers Gl. I, 553, 1. Das einmalige leo bei
Notker (Ne.) nach Graff, gegenüber dem bei demselben Schrift-
steller 14 mal belegten leuuo, loiiuuo könnte ein Schreibfehler
für leuuo sein. Sonst ist nach Graff' noch belegt: leo Sg. 242
und leon Em. 18; beide stellen kann ich augenblicklich nicht
einsehen; Sg. 242 ist aus dem 9. jhdt., Em. 18 eine abschrift
des 10. jlidts. von glossen aus dem 9. jhdt. Isidor und Carmen
ad deum haben auch sonst regelmässig, Rb. öfter noch eo
(Braune, Ahd. gramm. § 48 anm. 1). Lio, lioin hat Sg. 242;
lioniia Rb. stimmt zu dem für dieses deukmal anch sonst nor-
malen io (Braune a. a, o.).i)
Wenn wir nun neben der gebräuchlichsten form leuuo im
spätem ahd. noch ein louuuo finden, so gibt es hierfür nur eine
^) Die für ahd. leo vorgetragne erklärung findet aucn auf aengl. leo
anwendung. Kauffmann meint 3.208 anm. 2, man sollte nach meiner
theorie auch hier ein rv erwarten. Das trift"t nicht zu. Einmal begann
im aengl. mit u nur die endung des dat. plur.; falls also nur folgendes
M, nicht auch o, jenes rv bewirkt hat, so könnte man ein rv im aengl. gar
nicht erwarten. Aber auch -on, -ona ist aengl. nur selten gegenüber
-an, -ena. Im aengl. fasste man das eo von leo naturgemäss als den
diphthong eo auf, was durch north, k'a sicher gestellt ist. Vgl. die
gleiche flexion von irveo, Srveon, meo, beo, ceo, peo, reo, seo (Sievers,
Ags. gramm. 2 § 277 anm. 2 und 27S anm. 2).
AHD. LEO, LIO, LEUVO, LOVUUO. 387
erklärung, welche schoü durch das spätere auftreten der letz-
teren form nahe gelegt wird. Es gab im ahd,, soweit ich
sehe, kein einziges wort mit euu im stamme 9, das nicht da-
neben eine andere Stammform mit ouuu aufwiese (Kögel, Beitr.
IX, 530 — 533). Der Wechsel von geuui : gouuues, freuuita :
frouuuen ist ein lautgesetzlich begründeter. Durch ausgleichung
entstanden die doppelformen geuui : gouuiii, freuuen : frouuuen.
Es liegt auf der band, dass nachdem einmal die Vermischung
eingetreten war, dem Sprachgefühl ouuu neben euu als gleich-
berechtigt galt. Konnte man statt geuui ebensogut gouuui
sagen, warum nicht, so musste man sich unbewusst sagen,
auch louuuo für leuuo, louuuili für leuuili, louuuin für leuuin'i
Es wäre sehr zu verwundern gewesen, wenn man in diesem
einzigen falle nicht ein ouuu neben euu neu hergestellt hätte;
denn man konnte damals unmöglich noch eine ahnung davon
haben, dass es sich mit dem euu von leuuo etymologisch an-
ders verhielte als mit dem euu von geuui.
Die entwicklung der ahd. formen ist demnach diese:
westgerm.
*leo
leO ^""^ '^'^'^ '''^^'^ unserer denkmiiler
-^ leuuo
1. liälfte des !). jlults.
lio
leuuo ««it i""o
louuuo
1) Nämlich dem ?-iimlaiit von mm, wol zu unterscheiden von dem
mit iuuu wechselnden euuu (Kögel, Beitr. IX, 5;<5 ff.).
STRALSUND, den 21. Juli 1887. OTTO BREMER.
Beiträge zur gesciiichte dor deutschen spräche. XIII.
26
ZUR THEORIE ])1:R EN^rSTEHUNG
DER SCI1WELLVER8E.
in meinem aufsatz über den versbau der Judith (Bcitr.
XI, 470 ff.) habe ich versucht, die in diesem denkmal vor-
kommenden schvvellverse von den normalen versen abzugrenzen
und ihren bau, wie er sich in dem beschränkten kreise dieses
gedichtes zu erkennen gab, darzulegen. Dass bei einer Unter-
suchung des gesammten versmaterials manches unter einen
anderen gesichts))unkt rücken würde, war bei der beschränkt-
heit des materials i) vorauszusehen. In der tat stellt sich nach
den ausführungen Sievers' (Beitr, XII, 454 ff'.) vieles anders.
Namentlich weicht Sievers von meiner damaligen auf-
fassung der schwellverse in der erklärung ihrer entstehung
ab (Beitr. XII, 458. 481). Die argumente, welche er bei-
bringt, kann ich nicht widerlegen; aber andererseits drängen
sich mir bedenken gegen seine auffassung auf. Zunächst trifft
diese erklärung bei manchen typen nicht sofort zu. Es ist
wol von geringer bedeutung, wenn bei B und C statt —x
bloss -1 vortritt; möglicherweise wäre diese ausnähme nicht
einmal notwendig: Ix I X — X— "^^^ -X I x — -X könnten das
ursprüngliche sein und die formen mit einsilbiger erster Senkung
nur eine spätere rückbildung; dass aber einmal (s. 468) auch
Vorschiebung von x— ^^^^^t -ix angenommen werden muss,
scheint mir misslich. Vor allem jedoch halte ich folgendes
für wichtig. Wenn die erste hebung die hinzugetretene, secun-
däre ist, wie sie sich deutlich im zweiten halbverse durch die
schwache betonung (s. 4G0 anm.) zu erkennen gibt, so sollte
') So finden sich z. b. unter den schwellversen der Judith i<eine
B-formen, welche für die auffassung derselben von Wichtigkeit sind;
(vgl. Beitr. XII, 459 anm.).
LUICK, ENTSTEHUNG DER SCHWELLVERSE. 389
man erwarten, dass sie aucli im ersten halbvers die minder
betonte ist; statt dessen bildet sie gewöhnlich eine von den
zwei alliterierenden hebungen. Wenn die formen des ersten
halbverses ebenso aus den normaltypen desselben entstanden
sind wie die des zweiten aus den seinigen, so sollte nach dem
muster des letzteren die alliteration entweder auf der zweiten
und dritten hebung oder nur auf der zweiten stehu. Das ist
eine Schwierigkeit, über die ich nicht hinauskomme. — Mir ist
daher eine andere auffassung wahrscheinlich geworden, die
mir schon bei der Judith flüchtig vorschwebte, die aber nun,
wo das gesammte material gesammelt vorliegt, erst ihre stütze
findet.
Danach wäre die erste hälfte der schwellverse auf folgende
weise gebaut. Der vers beginnt mit einem jener normaltypen,
deren silbenzahl nicht eine geschlossene ist, also mit A, B
oder C; mit der zweiten hebung jedoch tritt eine abfolge ein,
als ob sie die erste hebung irgend eines der fünf typen wäre.
Z. b.: der normale typus A ist .Ix — x! bei der zweiten hebung
ist aber das erregte gefühl noch nicht befriedigt. Es fängt
von neuem an, fasst sie als erste hebung, eine weitere schliesst
sich an u. z., wie leicht erklärlich, in einer weise wie sonst
bei irgend einem typus. Nehmen wir C, so entsteht J-x — -x-
Es findet also eine durchdringung zweier typen statt:
-x-x
X--X
-X X
Dabei wird gewissermassen zweimal angefangen; da nun in
den gewöhnlichen typen normaler weise die erste hebung
alliteriert — wenn nicht alle beide — so ist es natürlich, dass
die ersten zwei hebungen des neu entstandenen gebildes,
w'elche ursprünglich zwei erste hebungen waren, nunmehr alli-
terieren, wenn nicht alle drei dies tun. Theoretisch ergäben
sich nun 15 formen:
AA ^x--x.-x
AB Ix.-x--
AC -X---X
AD ^x----x
Kl? ' ' ^ '
AH. _x x-
26*
390 LUICK
BA
X-
-X--X--X
BB
X-
- X • - X • -
BC
X-
-X---X
BD
X-
- X • - - - X
bp:
X-
-X-- ' X-
CA
X-
- - X • -' X
CB
X-
--X--
cc
X-
1 1 1
X
CD
X-
----X
CK
X •
— --X -
Von diesen theoretischen möglichkeiten fallen einige weg,
CD ist ein unding. CC und CB nähern sich, da nach ausweis
der alliteration die dritte hebung des ersten halbverses minder
betont ist, zu sehr dem normalen typus D mit auftakt (und
beziehungsweise zweisilbiger Senkung im zweiten fuss), (Beitr.
X, 301 f. D. 5, 6), um als schwellvers empfunden zu werden;
ebenso ist CE nur eine art erweiterter ty])us D mit auftakt.
Es bleiben somit noch U formen; von diesen sind die ersten
fünf genau die typen der Sievers'schen tabellarischen übersieht
(Beitr. XII, 473 f}'.), die nächsten fünf ihre Varianten mit auf
takt und CA endlich jene form auf s. 46S, welche nur im
ersten halbvers vorkommt. — Diese erklärungsweise scheint
mir den vorteil zu besitzen, dass mittelst einer und derselben
Operation alle formen sich ergeben und dass die Stellung
der alliteration ihre begründuug findet. Ja ich möchte sogar,
wenn diese auffassung richtig ist, in dem wideraufgreifen
eines betonten elementes (der ersten hebung), in jenem sich
nicht genug tun können an erregten stellen ein metrisches
Seitenstück zu gewissen Stileigentümlichkeiten der ags. poesie
erkennen.
Es lässt sich nun einwenden, dass die aus B als erstem
typus abgeleiteten formen fraglich sind, da nur ein- und zwei-
silbiger auftakt und der nur selten erscheint, gerade so wie
ja auch sonst im ersten halbvers vor normaler weise auftakt-
losen typen ein- oder zweisilbiger auftakt vorkommt. Dieses
bedenken scheint mir nicht unberechtigt und es ist möglich,
dass B aus der reihe der jener entvvicklung fähigen typen zu
streichen ist. Es ist denkbar, dass dieser typus, weil sein
ENTSTEHUNG DER SCHWELLVERSR. 391
hauptcharakteiisticum an seinem ende liegt und er dadurch
seinen ausgang so scharf von den anderen abhebt, der Weiter-
bildung stärkeren widerstand entgegensetzte. Wenn mau in
A und C bei der zweiten hebuug angelangt ist, so ist der vers
noch nicht abgeschlossen; man erwartet noch etwas und so
kann sich leichter anstatt der Schlusssenkung eine erweilerung
anschliessen. Bei B hingegen ist mit der zweiten hebung der
vers überhaupt zu ende, man erwartet nichts weiter.
Danach wäre so zu formulieren: Der vers beginnt mit
einem der normaltypen, deren silbenzahl nicht eine geschlossene
und deren ausgang klingend ist, also A und C; mit der zwei-
ten hebung tritt eine abfolge ein, als ob sie die erste hebung
eines der fünf typen wäre. Von den zehn theoretischen mög-
lichkeiteu kommen nur sechs zur geltung: AA, AB, AC, AD,
AE und CA. Vor den so entstandenen gebilden ist ebenso
massiger auftakt gestattet, wie vor den normaltypen des ersten
halbverses.
Die formen der zweiten hälfte der seh well verse werden
nicht auf diese weise zu erklären sein. Die alliteration nimmt
hier eine andere stelle ein und eine form — die wir oben als
AC erklärt haben — fehlt ganz. Ich glaube, einem gewissen
metrischen symmetriebedürfuis widerstrebte es, parallel zur
ersten vershälfte nun ebenfalls von den liaupthebungen all-
mählig durch die nebenhebung") zum versschluss herabzusteigen;
nachdem die tonstärke im ersten halbvers langsam gesunken
war, entsprach es diesem bedürfnis, nun allmählig zur tonstärke
des hauptstabes hiuanzusteigen und so entstand die secundäre
hebung. Daher ist sie häufig so schwach und im allgemeinen
viel weniger ausgeprägt als die dritte hebung des ersten halb-
verses. Nun aber, nachdem dies geschehen war, erst wider
jene Umbildungen eintreten zu lassen, war zu spät; da würden
die verse ungeheuerliche ausdehnung angenommen haben. —
Im zweiten halbvers also tritt eine secundäre hebuug vor die
normaltypen. Das fehlen der form AC ist begreiflich.
So denke ich mir den Ursprung der seh well versformen;
1) Ich meine damit die dritte nicht alliterierende hebung, welche
auch nach Sievers' ansieht — ich verdanke diese kenntnis brieflicher
mitteilung — minder betont war als die ersten zwei.
392 LUICK, ENTSTEHUNG DER SCHWELLVERSE.
sobald sie sich gefestigt hatten, mochte das gefiihl für denselben
mehr und mehr schwinden; daraus erklären sich jene Stellungen
der alliteration, welche von der normalen abweichen. Nament-
lich sind die ersten halbverse, in denen nicht die erste hebung
alliteriert, mit der form A 3 der normalverse zu vergleichen.
Manche, mögen übrigens auftaktverse zu normaltypen sein (vgl.
Sievers, Beitr. XII, 467).
WIEN, 13. april 1887. KARL LUICK.
GESCHLOSSENES E AUS E VOR L
Die von Paul, Beitr. XII, 548 f. gegebene erklärung von
geschlossen e in nhd. fels^ pelz, welch kann durch weitere be-
lege gestützt und gesichert werden. Im schwäbischen und
alemannischen dialekt, die etym. e und (" lautlich streng schei-
den, indem e als umlaut von a durch geschl. e (ö), e (sog, ge-
brochenes e) durch oifeu (' (im schwäb. unter gewissen be-
dingungen e^) vertreten ist, bestehen eine anzahl 'ausnahmen',
in denen e (ö) statt ^ erscheint. Franck hatte Zs. fda. 25, 218 ff.
das schwäbische zur feststellung der mhd. qualitäten angezogen
und s. 220 in schwäb. hresfr (alem. hvöstdr vgl. z. b. Stickel-
berger, Mundart von Schaffhausen s. 20) wie mhd. swester (vgl.
den reim swester : vester in Hartmanns Gregor 449 f. u. a.) und
ebenso in gestrt gestern die entstehung des geschl. (?-lautes
auf den einfluss der folgenden lautgruppe -st, -st zurückgeführt.
Dieser ausweg ist nicht statthaft, weil beispielsweise n^st nest,
hrpthaft zerbrechlich u. a. offen ^ bewahrt haben. Analog der
annähme Pauls ist vielmehr die Ursache für e in dem alten
Suffixablaut zu suchen, vgl. ahd. swester : swister bei Tatian
106, 6 (zweimal) wie anord. systir, und eine mischform ahd.
*sfvestir > '"^swestir vorauszusetzen. Dasselbe hat für gestrt
gestern zu gelten, vgl. ahd. gestaron : kestirn, egestir Graff
IV, 273; denkbar wäre indessen auch, dass der geschlossene
laut aus der -/^/-ableitung ahd. gestrig stammte. Wenn für ehd
eben (planus) gegen ^dhd soeben etc. ausser ahd. ehari auf diese
weise eine nebenform */im, die mit der ersteren zusammen
ehin > ehin Graff I, 95, ergäbe, wahrscheinlich wird, so erklärt
sich geschl. e in dem substant. ehdne die ebene (ebenso alem.
vgl. Stickelberger a. a. o.) aus ahd. ehani > ehini Graff a. a. o.
(vgl. Braune, Ahd. gr. §§ 67. 68) und möglicherweise ist von
dem Substantiv der geschl. laut in das zugehörige adjectiv ge-
ö
394 KAUFFMANN, aESCHLOSSENES E AUS E.
drungen. Auffallend ist die in manchen mundarten wie im
Schwab, und alem. (vgl. Stickel berger a. a. o.) bestehende
differenz bei dem zahlwort srks und seinen ableitungen; der
oftene laut (= ahd. ii^ idg. e) ist in sedclitse, s^dchtsk üblich,
während die einfache zahlform geschl. e zeigt. Doch kann
hierfür nun ein, wie ich glaube, einleuchtender grund geltend
gemacht werden. Die mundarten verwenden in der regel die
alte flectierte form (z. 1). schwäb. meist sekse, wahrscheinlich =
neutr. plur. ahd. sehsiu) und da nun wie bekannt die Zahl-
wörter von 4 — 12 ahd. in die flexion der f-stämme eingetreten
sind (vgl. Braune a. a. o. § 271), ergibt sich hieraus die Wand-
lung von e ZU e vor i der flexion, die für s^9chtse, s^dchisk
ausgeschlossen war (z. b. ahd. dat. sehsiin : sehzug, sehzog u. s. w.
Graft" VI, 152).i) Dass ferner dem adj. ledig altes (gebrochenes)
e zukam beweisen anord. lipigr, lil>ugr und der wol kaum
bezweifelte Zusammenhang mit got. leipan gehen; mhd. ledic,
ledec bezeugen durch den stammvocal eine ursprüngliche ab-
leitung -ag, die wie in andern fällen (vgl. Beitr. XII, 205 f.)
auf analogischem wege durch die -7^-ableitung (diese in ahd.
lidigen expedire Graft" II, ISO) verdrängt worden ist {*ledig >
ledig). Dieselbe ableitung hat im alem. chressig (vgl. Stickel-
berger a. a. o.) aus mhd. kresse (danach schwäb, kr^ssig) den
geschlossenen laut veranlasst , wahrscheinlich ist ebenso alem.
schwäb. ellicli aus mhd. etelich zu erklären. D^s geschl. e in
schwäb. hcsd (nicht allgemein, auch h^dsd) besen führe ich auf
die genetiv- und dativ-formen des Singulars der ursprünglichen
schwachen flexion zurück, hüsamo : hesiinin vgl. Graft" III, 217,
in analogen fällen ist bekanntlich umlaut eingetreten (Braune
a. a. 0. § 221 anm. 2). Diese umlautung von ^ zu f vor i ist
nur in isolierten Wörtern nachweisbar, in zahlreichen andern
fällen, in denen die mundarten heute f vor i zeigen, hat sich
der ofi'ene laut gehalten, weil etym. verwante formen mit ^
überwiegen.
^) Die Wirkung der z-flexion wird auch durch mlid. ehte acht be-
wiesen, dem umlaut dieser form entspricht genau der Übergang von f in
e bei seks.
MARBURG, 12. mai 1887. FR. KAUFFMANN.
ETYMOLOGICA I.
1. Got. afaikan.
E.
js ist eine ganz unbegründete Voraussetzung, dass in
got. af-aikan 'leugnen, verleugnen', weil man es auch 'ab-sagen'
übersetzen kann, das Schlussglied -aikan 'sagen' bedeutet
haben müsse; die darauf gegründete hypothese, dass hier die
german. entsprechung von aind. aha perf. 'sagt, spricht', gr. i)
'sprach' und lat. üjo 'sage, spreche' < *«ä/ö oder *agw, ad-
U(j-ium 'Sprichwort' vorliege, richtet sich heutzutage, wo man
über die famose germanische /-epenthese hoffentlich allge-
meiner zur tagesordnung übergegangen sein wird, von selbst.
Was hindert, in got. af-aikan ein 'ab-schütteln' zu sehen?
Dann würde das verbum zu aind. ej-a-ti 'rührt sich, bewegt
sich, bebt', l'j-a-ti in äpejate 'treibt von sich weg, verjagt'
(< *dpa-ljati) gestellt werden dürfen.
Die Wurzel aind. ej- 'schütteln' ist schon durch die dazu
gestellten griechischen Wörter aly-sg f. pl. 'grosse meereswellen',
aly-lg f. 'gewitterwolke, sturmwolke, Sturmwind', 'gewitterschild
des Zeus' (als 'kräftig geschüttelter'), xar-aiyig f. 'plötzlich
herabfahrender windstoss, stürm', ejt-aiyiC,i:iv 'heranstürmen,
herandringen' (G. Curtius, Grundz. der griech. etymJ' 180 f.,
Vanicek, Griech.-lat. etym. wörterb. 83, Etym. wörterb. d. lat.
spr.'- 30, Leo Meyer, Vergleich, gramm. d. griech. u. lat. spr.
12 867) für den vocalismus in beschlag genommen, der dem
got. af-aikan seine ablautsreihe bestimmt. Ebenso durch das
bereits bei aind. eJ- und der erwähnten griechischen sippe
untergebrachte auord. eikenn adj. 'wild', das jetzt als erstarrtes
particip des got. (af-)aikan sich darstellt. Dass auch der name
der eiche — ags. äc, ndl. eck, ahd. eih, mhd. eich, im anord.
Beiträge zur geschiebte der deutschen spräche. XIII. 27
396 OSTHOFF
eik f. nur 'bäum' — sich hiev anschliessen möge, hätte Kluge,
Etym. wörterb. u. d. w. vielleicht zuversichtlicher ausgesprochen
bei berücksichtigung von griech. ai'ytiQog f. 'pappel', eigentlich
'zitterbaum' nach Curtius a. a. o.
Wenn got. af-aikan von dem grundbegriff des abschüttelns
ausgegangen ist, so bedeutete es anfänglich ein 'energisches
verleugnen, sich lossagen mit entschiedenheit', wie es z. b. das
von Petrus gegen Jesus verübte war, das Wulfila an allen
darauf bezüglichen stellen (Matth. 26, 72. 75. Marc. 14, 68. 71.
Jon. 13,38. 18,25) durch afaikan bezeichnet. Die begrififsüber-
tragung, 'abschütteln' zu 'verleugnen', hat gute analogien im
lateinischen: re-pudiTtre eig. 'mit dem fasse zurückstossen';
spevncre, aspenmri 'verwerfen, verschmähen' zu dündi. sjyhur-üd
'schnellt, zuckt, stösst von sich ab', griech. öJiaiQco 'zucke',
lit. spir-li 'mit dem fusse stossen', sowie zu ags. asächs. ahd.
spurnan 'treten' nebst ags. spora, alid. sporo, mhd. spo?^ 'sporn'.
2. Asche, esse.
Die Vereinigung des got. azgö f. 'asche' mit lat. ärere
'trocken sein, dürr sein', Urtdus 'trocken, dürr', ardere 'brennen'
(aus '-'aridere), ferner mit aind. ä'sa-s m. 'asche, staub' unter
einer wurzel as-, der der grundbegriff der 'ausdörrenden glut-
hitze' zukam, ist schon versucht worden von Fick, Vergleich,
wörterb. ir^, 28. Ill-*, 29; vgl. auch Vanicek, Etym. wörterb. d.
lat. spr.2 34, Zehetmayer, Analog. -vergleich, wörterb. 35 a.,
Leo Meyer, Vergleich, gramm. I-, 114.
Von as- hat es nun eine alte Wurzelerweiterung durch
-d-, etwa eine indog. praesensbildung mit stammerweiterndem
f/-suffix '■''■az-do , gegeben, deren spuren deutlich im griech. und
slav. vorliegen: griech. aCo) 'dörre, trockne' (Hesiod.), aCofiaL
pass. 'verdorre' (Homer, Herod.), aC,(ci'8rca 'vertrocknet', a^aivco
'dörre, trockne', aC,r/ (aCa) f. 'dürre, trockenheit', übertr. als
folge derselben 'rost, schimmel' (Hom.), auch 'hitze, glut'
(Oppian.), dCaXiog adj. 'dürr, trocken, dörrend, austrockend, er-
hitzend, entflammend' (-g- < -zd- wie in /'^o?, o^og, ^d-7JvaC,s)',
cech. apoln. ozd m. 'malzdarre', slov. cech. ozditi, polnisch
oz'dzic 'malz dörren', klruss. oznyc'a f. 'rauchloch im stroh-
dache' < ^ozdnyc'a.
ETYMOLOGICA I. 397
Mit Fiek auf die basis *az-d- auch lat. ardere zurückzu-
bringen, gebt nicht au, da dieses nur eine synkopierte form
aus *äridere, denom. zu Urtdus, sein kann. Doch scheint mit
hilfe des *az-d- vielmehr das lat. adolere 'als brandopfer ver-
brennen' [hostiam, tUra, viscera u. dgl.), 'opfernd in brand
setzen' (äram, alläria, focös) sich deuten zu lassen. Ein dem
griech. *aCaXo- in aC^aX-to-q entsprechender lat. adjectivstamm
*ädolo- < *azdolo- (vgl. mdus, sido) lieferte das denom. *Udo-
lere^ das durch einflüsse der Volksetymologie zu adolere wer-
den konnte, da sowol ad-olere 'duften, riechen' nahe lag, um
das brandopfer in wolgeruchspende sich umwandeln zu lassen,
als auch das, wie es scheint, von den alten noch mehr herbei-
gezogene ad-olescere 'heranwachsen', dem zufolge das lodernde
altarfeuer als 'wachsendes' erscheinen konnte (Paul. Fest. 5, 6)
oder als die gottheit 'stärkendes, wachsen machendes' (Serv.
Verg. Aen. 1, 704. buc. 8, 65, Non. p. 58, 21); bei Bröal-
Bailly, Dict. etyra. lat. 231 wird ja sogar die Verbindung von
adolere 'verbrennen' mit adolcscere auch wissenschaftlich noch
vertreten. Ficks 'europäisches al brennen' (Kuhns zeitschr.
XXI 3 f., Vergleich, wörterb. P, 500. \\\ 307. IIl^, 27) ist mis-
raten, da anord. eldr (für *e//e5r nach dat. sing, elde < '"^eilde,
Noreen, Altisläud. und altnorw. gramm. §111 s. 45. §270,2
s. 111), ags. (Ued, asächs. cid m. 'feuer' und ags. Alan 'bren-
nen' < '■^ailjan auf german. *«//- beruhen, daher mit lat. ado-
lere, selbst wenn dieses in ad-olere zu zerlegen wäre, nichts
zu schaifeu haben können. Nach unserer auffassung von
adolere 'opfernd verbrennen' käme dieses passend mit lat. Tira
'altar' zusammen, das doch wol richtig von Bücheier, Lex.
ital. V b. auch zu ürere, (xridus, ordere gestellt wird.
Die jedenfalls aus dem griech. und slav., w'eun lat. adolere
als unsicherer verwanter dahin gestellt sein mag-, sich er-
gebende basis *az-d- 'brennend dörren' darf man auch das
ihrige beitragen lassen zur hebung der consonantischen Schwierig-
keit, welche das -zg- von got. az(/ö gegenüber dem -sk- in
anord. aska, ags. cesce, ahd. asca, mhd. nhd. asche f. bereitet.
Ein dem griech. a^rj entsprechendes german. nomcn war
*asiö] vgl. ast = o^oq, nest < id^. '■^'•ni-zdö-m u. dgl. Von
einem aus ^astö abgeleiteten adjectiv germ. "^-asta-gö-z 'zur
dörrhitze gehörig', gleichsam griech. ^aC^a-xo-q, war das sub-
27*
398 OSIHOFF
stantivierte feminin '■'•asta^ön-. Indem dieses lautgesetzliche
Synkope seines mittelvocals erlitt, entsprang "^'aslgön-, das
dann je nach den dialekten zufolge riickwärtswirkender assi-
milatiou in az{d)gön- (got.) oder zufolge vorwärts wirkender
in *as{t)kö}i- (skandin.-westgerm.) ausmündete. Die gotische
vocalahsorption in azgön- < '''•asfagön- — die in den übrigen
dialekten bedarf als mit den allgemeinen synkoperegeln der-
selben in einklang keiner besondern erläuterung — reiht sich
den bekannten erscheinungen wie abinöJmn für ^ainanö-hun,
ferner den synkopieruugen des compositionsvoeals in ain-falps,
aU-waldandSy gud-hüs, laus-qiprs, rve'm-drugkja u. s. w. an, für
die freilich auch nach Julian Kremer, Beitr. VIII, 378 ff, das
gesetz noch zu suchen bleibt.
Zu der wurzel as- 'brennen' stellt Fick, Vergleich, wörterb.
IP, 28 auch ahd. essa, mhd. nhd. esse f. 'ustrina, feuerherd des
metallarbeiters'. Auch darin hätte man ihm, wie es bereits
Vauicek und Zehetmayr aa. aa. oo. taten, folgen und die wol auf
Schleichers autorität Kuhns zeitschr. XI, 52 beruhende, von
mir selbst Morphol. unters. IV, 324 leider auch noch gebilligte
deutuug, wonach essti als reflex einer grundform ''^idh-ta zu
griech. cäd-co, aiud. edh-, idh- 'entzünden, entflammen' bezogen
wird, längst fahreu lassen sollen. Ein deiartiges particip von
indog. aidh- können wir uns nach heutigem wissen von indo-
germanischer lautentwickelung nur wol als germ. '^•izdö =
indog. '''•id^dha denken; vgl. Bartliolomae, Ar. forsch. I, 24. 176,
Kluge in diesen Beitr. IX, 153, abweichend freilich Brugmann,
Grundr. d. vergleich, gramm. I § 552 s. 406. Ferner aber, was
noch ausschlaggebender ist: esse hat in allen lebenden deut-
schen volksmundarteu, in denen ich sein auftreten verfolgen
konnte, geschlossenes e, also ein durch «-umlaut aus a ent-
standenes. Wird schon dadurch auf ein got. '"^asja (oder nom.
*asi), gen. '''•asjüs hingewiesen, so \ollends durch die noch deut-
lich das ableitende jod zeigenden skandinavischen Wörter
aschwed. cesja 'esse', norweg. esja 'glühende kohle' und am
allerklärlichsten durch das vor der z-umlautung von dort ent-
lehnte tinn. ahjo 'esse'. Es ist fast unverständlich, wie
Thomsen, Ueb. d. einflus,^d. german. spr. auf d. finn.-lapp. 128
und 0. Schade, Altdeutsch, wörterb.- 154 b. unter gleichzeitiger
nenuung der skandin. formen und des finnischen wortes sich
ETYMOLOGICA I. 399
noch zustimmend zu der Sehleicher'schen etyraologie verbalten
konnten. Brugnuinn hat sieh Grundr. d. vergleich, granim.
I, 565 durch den uachtrag zu s. 36. 260. 105 auf meine au-
regung von derselben losgesagt.
Umlautslose formen der gleichen wurzel, die sich hierher
stellen, sind noch die dialektischen mnd. ase (äsen) 'ort wo
man das fleisch zum dörren aufhängt', hess. äse dass.; ferner
nud. westfäl. asse f. 'rauchbiihn über dem herde' (Schiller-
Llibben, Mittelniederd. wörterb. I, 133 a., Woeste, Wörterb. d.
westfäl. mundart 12 b.). Das letztere erinnert in seiner laut-
form und bedeutung auffällig an lat. assus adj. 'auf trockenem
wege oder durch blosse hitze bereitet, trocken gebraten, ge-
schmort' und knüpft vielleicht mit diesem, dafern es = *ass-ö-s
wäre, an ein altes neutrum mit -<?5-suftix *as-es-, *as-s- an.
Am lehrreichsten jedoch für die verwautschaftliche be-
ziehung zwischen asche und esse erweist sich das formal zu
ersterem, begrifflich zu beiden gehörige mhd. esclie f. 'asche'
und 'esse' = nnd. westfäl. esche f. 'rauchkammer' (Woeste
a. a. 0. 69 a.): hier liegt ein got. ''^azg-ja oder '''azg-jö zu
gründe.
Nachträglich eine bemerkung zur richtigstellung dessen,
was ich Z. gesch. d. pcrf. 545 f. über lat. assus und griech.
«Cra im anschluss an Froehde, Bezzenbergers beitr. I, 206.
VI, 173 und Müllenhoft", Zs. fda. 23,9 vorgebracht habe. Eine
Wurzel ad- 'dörren, brennen' ist nicht aufstellbar, da man die
hesychischen Wörter für 'herd' und 'russ, asche', aöiq • toyJiQa,
adiag • toxccQa, ßcoiuK und ddaXog • aoßoXog, sehr wahrschein-
lich für den makedonischen dialekt in anspruch nimmt und
so nur die sippe von ald-co 'entflamme', cdd-aXog 'russ' mund-
artlich gefärbt in ihnen vertreten findet, gestützt auf aöf] '
ovQavog, Maxsöovsg, d. i. (dd/jQ^ und dÖQaic'c ' aiÜQuc, ßlaxs-
öovEg Hesych. Vgl. Mor. Schmidt zu d. glossen A 9S7. 1079,
Fick, Kuhns zeitschr. XXII, 195, G. Curtius, Grundz. d. griech.
etym.5 nr. 302 s. 250.
8. Flehen, gr. laixäg, lat. lena.
Durch die Zusammengruppierung von got. gä-pläihan 'lieh-
kosen, umarmen, trösten, freundlich zureden', ga-plinhts f. 'trost,
ermahnung', anord. ßär adj. 'falsch, hinterlistig', ags. Iläh
400 OSTHOFF
'schlau, hinterlistig', ahd. ßchan, /Ichon ^driugencl bitten, lieb-
kosen, schmeicheln', nihil, vlchen 'dringend bitten' gewinnt
Kluge, Etyni. wörterb. unt. liehen als den grundbegrift' der
Wurzel germ. plaix-: "etwa 'zudringliche, einschmeichelnde
rede'." Sollte das nicht bestimmend sein, um griech. ?Mix-c'cg
f. 'hure' und lat. lena f. 'kupplerin', leno m. 'kuppler' hier
auzuschliessen?
Huren und kupplerinnen sind doch gewiss die meisterinnen
der 'zudringlichen, einschmeichelnden rede', sie, die das 'be-
rücken durch Worte' (oder sonstige sanfte mittel), d^tXytiv
tjrtsoöiv — wie bei Homer Od. a 56 die Kalyjiso den Odysseus
ahl fiaXaxolOi xcd a((ivXioiOi Xoyoioi &tZy£i — aus dem gründe
verstehen und darin ihr metier suchen. Ueberdies ist für kca-
xäCtiv, das denominativ von latxag gewöhnlich im sinne von
'hurerei treiben, huren', geradezu auch die bedeutung 'betrügen'
überliefert, nach anführuugen der alten lexikographen: Suid.
lex. n 1, 514 rec. Beruhardy AuixäC^co ■ ajiarm, Zonar. lex.
1292 ed. Tittmann XarycäL,ro zo anarco, äxartjrixcd yccQ cd
Xar/.üöTQiai, ö loriv lu jioQvai. — Mit Xaixac, XaixccCo) hat
des Wurzel vocalismus wegen die sippe von Xtjxc') f. 'penis',
Xi]xl(.co 'futuo' Aristopb., h]xaXtog 'hurerisch' kaum in urver-
wantschaft gestanden; vielleicht aber in volksetymologischem
verbände, wodurch auch die formale äussere ähnlichkeit eine
grössere geworden sein könnte, als sie es etwa von hause
aus war.
Was das lautliche der combination von flehen mit ?Mixccg,
lat. lena angeht, so steht zunächst im lat. der gewinnung eines
'''iaena aus '■^•tlaic-na oder eher noch aus '''Uaic-s-nU (zu einem
nomen ''''•tlalc-os n. 'berückung) kein hindernis entgegen. Die
aulautsgruppe tl- wäre wie in iruus part. < ^'lla-to-s (zu tollo,
gr, TXijvai) behandelt. Den vocal e statt ae könnte lena ohne
Schwierigkeit auf volksetymologischem wege durch anlehnung
an lenis 'sanft, gelinde, milde', als 'die, welche sanft zu werke
geht', empfangen haben. Das verbuni de-lenio nebst seinem
Zubehör {dclemmentmn, delenltor, dclenllrix, deleni/icus), das
mit seinen bedeutungen, 'durch schmeicheln, liebkosungen, auch
durch list gewinnen', 'für sich einnehmen' (gleichsam 'bezaubern'),
'kirren, ködern, locken' vortrefflich zu der kupplerin und zu
germ. plaihan passt, schwankt bekanntlich zwischen der form
ETYMOLOGICA I. 401
mit c und einer ebenfalls gut bezeugten mit 7, dc-Unio. Ob-
gleich eine eikläiung des eintiittes von i für e, und zwar von
mir selbst, versucht worden ist (vgl. Brugmann, Grundr. d.
vergleich, gramm. I § 73 s. G5), so könnte doch auch die sache
sich so verhalten: dc-llnio, das lautgesetzlich aus ''^de-Zainiö
(vgl. oc-cJdo, il-lido, ex-lsiumo, in-iquoSy AchivJ u. a. ni.) ent-
standen wäre als zu *laena gehörig, erlitt mit letzterem
zusammen die volksetymologische Umgestaltung nach lenis,
lenio.
Schwieriger scheint es zu sein, im griech, die Xcix-äi; auf
eine wurzel '-'t Xatx- = germ. p/uix- zurückzubringen. Dass in-
lautend die gruppe -rk- hier durchaus geduldet wird (vgl.
avxXoq avrXko, b/ixh], oxtrXov, oxtT?uoS), kann freilich für
den an laut nicht schlechthin einen massstab abgel)en. Es ist
aber das seltene vorkommen von anlautendem rX- im griech.
— nur in dem fremdworte TXcog und in dem einen stamme
tXä-, xX^^vai — schon von anderer seite hervorgehoben wor-
den (G. Curtius bei verf. Forsch, im geb. d. indog. nomin.
Stammbildung I, 22 anm., Gust. Meyer, Griech, gramra.2 § 257
s. 254), TXcög, name einer Stadt in Lykien und einer solchen
in Pisidien, bleibt als wahrscheinlich unhellenisches wort ganz
ausser betracht. Für T?.rjvai, t/z/toc, tXri^cov, rXijoiq u. s. w.
aber mag man getrost annehmen, dass sie ihre volle anlauts-
gruppe rX- nach analogie der wurzelgesippen, die -xX- in-
lautend hatten, also nach l-rXrjV, TErXtjxa, a-rXi^xoq, JcoXv-xXäg
u. dgl., wider hergestellt haben,
4. Fleisch, gr. XM^rvög, lat, lüridum.
Die so eben mutmassliche geäusserte ansieht, dass germ.
]jI- (skandin. westgerm. //-) und griech. X-, lat. /- als ent-
stammend von einer indog. anlautsverbindung tl- lautgesetz-
liche entsprechungen seien, würde erwünschte und rasche be-
stätigung finden, wenn auch die folgenden combinationen in
der hauptsache das rechte treffen sollten.
Gegenüber ags. ßcesk, fries, fläsk, asächs. flesk, ndl. vleesch,
ahd. fleisk, mhd, vlcisch n,, die sämtlich nur die allgemeine be-
deutung des nhd, Wortes haben, kommt dem anord, /Jesk n. der
engere begriff von 'lardum' zu. Darüber bemerkt Kluge,
Etym. wörterb, uut. ßeisch gewiss ansprechend: "anord. flesk
402 OSTHOFF
wird nur von 'schweiüellcisch', spez. von 'schinken' und 'speck'
gebraucht, während kjot das allgemeine wort des nord. für
'fleisch' ist. Es Hesse sich recht gut denken, dass die nord.
spezialisierte bedeutung von fleisch des wortes die älteste [lies:
die älteste des wortesj war und erst durch Verallgemeinerung
die gemeinwestgerni. bedeutung zu stände gekommen ist." Dass
die leider unbekannte got. form ebenso wol ein *plaisk als
■^/kiisk gewesen sein könne, wird gleichfalls von Kluge au-
gedeutet.
Wir wagen es, unter der Voraussetzung eines got. ^plaisk
den verwantschaftlichen Zusammenhang mit den Wörtern der
alten klassischen sprachen, die denselben begriff wie flesk im
skandinavischen ausdrücken, zu behaupten. Also mit: gr. yläpf-
vöc adj. 'gemästet, fett' (von ßoix, xavQOi^ und ovo), Xä()Tr£va)
'mäste'; lat. läridus adj. 'gepökelt, pökel-', läridwn n. 'Schweine-
fleisch, Pökelfleisch, si)eck', nebst der synkopierten satzdou-
bletteuform laräuin^ in der das wort in die romanischen si)rachen
(italien. lardo, prov. larl, franz. lard) übergieng.
Die Verbindung der griech. und lat. Wörter unter sich, die
ja nahe liegen musste und die ich am frühesten bei Döderlein,
Lat. synon. u. etym. VI (1838) s. 189 ausgesprochen finde, ist,
abgesehen von Benfey, Griech, wurzellex. II (1842) s. 122 und
Zehetmayr, Analog.-vergleich. wörterb. (1879) s. 238 b., weniger
von den eigentlich sprachwissenschaftlichen kreisen vertreten
worden. Es bekennen sich zu ihr zumeist die lexika: Freund,
Wörterb. d. lat. spr. III (1845) s. 31b., Georges, Ausführl. lat.-
dcutsch. band wörterb. IT, 501, Littre, Dict. de la langue fran^.
III, 254 c. Man scheint vor der Schwierigkeit gestutzt zu
haben, dass in läQivö^ (zuerst bei Aristoph. und Xenoph.) das
a auch attisch ist, also auf eine vocalcoutraction nach spiranten-
ausfall hindeutet und den schlechthinnigen ansatz eines 'graeco-
italischen' */«;•- verbietet. Auf das auskunftsmittel, entlehnung
des lat. Wortes aus dem griech. anzunehmen, ist wol nur
G. A. Saalfeld, Griech. Ichnw. im lat. 19. 33, D. lautges. d.
griech. lehnw. im lat. 11.29, Tens. italogr. 610 f. verfallen.
Diese annähme entbehrt jeder einleuchtenden begründung. Wie
sollten auch die Römer, die für die fleischarten der verschie-
denen tiere {caro) suina, porcma, haedtna, anaiina^ anserina
u. s. w. sagten und denen überhaupt die stoffadjectivableitung
ETYMOLOGICA I. 403
mit -mos (s. weiter unten) viel lebendiger war als den Griechen,
veranlassung- gefunden haben, an einem aus Griechenland er-
borgten *lc(nniün oder {caro) *länna eine suffixänderung be-
hufs herstellung von läridum, lärida vorzunehmen? An sich
richtig verwirft daher auch 0. Weise, D. griech. Wörter im
lat. 60 die auffassung von läridum als lehnwort, wenn auch
sein grund einer vermeintlichen 'quantitätsverschiedenheit' der
<<-vocale in läridum und )mqTv6v nicht gelten kann. Die
falsche messung läridum bei Weise (vgl. auch bei demselben
a. a. 0. 546 den nachtrag zu s. 60), wie übrigens auch l)ei
Saalfeld, scheint durch den Vorgang von Georges, der auch
noch in der siebenten aufläge seines lat.-deutsch. handwörter-
buclis läridum, läridus hat, veranlasst zu sein; an der länge
des ä in läridum lässt das metrura bei Plautus, Capt. 847. 1)03.
Men. 210 keinen zweifei.
Dass griech. att. XüQTvog aus einer grundform '^'XaißO-Q-Tvö-g
wol entstanden sein könne, wird kein sachkundiger leugnen.
Die nächste Vorstufe vor dem Vollzug der synizese war dann
*Xai]Q-Tr6-g oder wahrscheinlicher noch (nach den darlegungen
F. Solmsens, Kuhns zeitschr. XXIX, 87. 348 f.) ein ^XaeiQ-ivo-g
mit 'unechtem diphthoug' si; vgl. rif/äv aus rluc'uiv < *Ti-
fiäisfev, fpävög aus (pccsivög < *(paHo-vö-g u. dgl. Das doppel-
suffix -Q-Tvo- in '"^'Xcdiö-Q-Tro-g, wenn wir das ganze gebildc
von einem '''Xaltö- 'mast, mastung' ausgehen lassen, ist un-
schwer zu rechtfertigen. Häufung synonymer ableitungsmittel
gehört ja zu den bekanntesten Vorgängen im sprachleben.
Aus lat. aenus < ^aüii-no-f! gieng durch einfluss von uer-cu-s,
auch von aur-eu-s, argent-eu-s (vgl. gr. aQyvQ-ao-g, -/iciXx-to-g,
XQvOeo-g), späteres aeneus hervor, ebenso pöpul-n-eu-s 'von
l)appeln, pappel-' Cat. Col. zufolge der contamination von pöpul-
nu-s Plaut, und pöpul-eu-s Enn. Verg. Ov. Hör.; und daher der
Ursprung der suffixgruppe -n-eo-s für stoftadjectiva, quer{c)-
n-eu-s neben querc-eu-s 'eichen', acer-n-eu-s neben acer-nu-s
'ahornen' (= ahd. ahorn m.). Aehnlich konnte im griech.,
wenn zunächst ein wie loxv-QO-g, 6iL,v-Q6-g gebildetes *Xai_^t6-
Q(')-g 'mastig, gemästet' bestand, dieses nach analogie von ad-
jectiven der herkuuft und des Stoffes mit der alten ablcitung
-Ino-s in xogax-lvo-g 'junger rabe, rabenbrut' = lat. [aescul-,
urgent-, haed]-Jnu-s, got. [aitr-, (jail-, silubr\-ein-s (Brugmann,
-IUI OSTHOFF
Giuuclr. d. vergleich, graiijui. 1 § 'M 8. 39) sieh zu '''Xaltö-Q-fvo-q
> XfiQivö;: erweitern.
liei dem lat. luridus < '''läa-ido-s weideu wir durch die
gleichungeu /Wr-idus : /lös = rör-idus : rös = lär-idus : x zur
erschliessuug- eines '^-lUs 'mast, niastfett' geführt. Dies als eine
zusanimenziehung aus '*lales- zu betrachten, ist lautgcsetzlich
erlaubt, mit riicksicht auf den wol schon als uritalisch anzu-
nehmenden Schwund von intervocalischem jod. Vgl. Brugmann,
Grundr. d. vergleich, gramni. 1 § 134 s. 122, dazu meine an-
merkung auf folgender seite. Gricch. att. ä und lat. U in Xä-
(ii'i'ö^, lürklus würden sich also ähnlich zu einander verhalten
wie dieselben laute in den verbalformen imper. praes. xl[icc,
xt iiärt und \i\.\. cum, curat e.
Das hiermit widergewonnene griech. und lat. '*Uües- er-
langt nun, wenn wir es auf beiden gebieten das vorschrifts-
mässige evolut einer vorn noch ungckapj)ten grundform '^Ulales-
sein lassen, den anschluss an /leiach = got. '^-plaisk. Nur ein
urgerm. '■'• ]4ais-ko- < '•'plaUs-ko- vermochte ja die entvvicke-
lung eines indog. '"^-ilales-ko- 'mastig, von der mast herkommend'
zu sein. Wegen germ. -ai- < -aü- kann man unmittelbar die
got. lautform des alten -c»'-neutruras indog. *äies- 'erz' = aind.
äyas-, avest. aijanh- vergleichen: got. aiz. Auch würde ein
lautliches analogen zu griech. -ü- aus *-«/£- in XäQlvö:^ und
germ. -ai- aus *-aü- in '"^'-plaisk noch sein: a.Qiotov n. 'früh-
stück' < '■^auQ-iöTO-p superl. 'frühestes, erstes' neben asächs.
ahd. er ist, ags. (er est 'der früheste, erste' (got. *air-ist-s superl.
zu air adv. 'früh', air-iza compar. 'der frühere, vorfahr') nach
der einleuchtenden von avest. «?/are n. 'tag', eig. 'das tagen' aus-
gehenden erklärung Ficks, Kuhns zeitschr. XXII 95 f., Vergleich,
wuirterl). P, 27. 506, D. eliemal. spracheinh. d. Indog. Eur. 303 f.
(vgl. auch Vanicek, Griech.-lat. etym. wörterb. 947 f., 0. Schade,
Altdeutsch, wörterb.- 111 a.), w^elche deutung durch diis von
Windisch bei G. Curtius, Grundz. d. griech. etym. '^401 zweifelnd
herangezogene air. an-äir 'östlich' gestützt wird; griech. (cqiötov
bei Homer wol noch mit offenen icti>-, wenn man anders II. 1.1 124,
Od. jt 2 mit IvTvvovT ätQiotov dem durch überliefertes tvzv-
vui'To ('.Qiörov gestörten metrum aufzuhelfen haben wird.
Vielleicht aber wird man bei got. aiz 'erz' und air 'früh',
airis, airiza compar., die annähme der vorformen *aiiz-o-, ''•'•aiir-
ETYMOLOGICA I. 405
vermeidend, lieber au suffixiscliwacbe theiiieu iiulog. '''■cus-, '''ah--
auknüpfcu wollen; eine auffassuug, die für lat. nes, gen. aer-is
(alat. aifid, aire) die einzig übrig bleibende ist.') Nichtsdesto-
weniger bestünde die parallele mit got. -''plais-k, da man meinet-
wegen auch dieses auf ein mit griech.-lat. '■'•llalcs- im stamm-
abstufuugsverbältnis stehendes indog. ^tla'is- zurückbringen mag;
vgl. unten s. 410 tf. die griech. niederschlage von einem solchen
'-''Hals-.
Es ist nun aber von fleisch das germanische tliema nicht
eigentlich ''•plais-ko-, sondern unser wort ist wegen des /-undauts
in der ags. form /Id'sc, nach dem was Kluge, Noniin. stammbild.
§ 84 b. s. 40 und Sievers, Angels. gramm.- § 207 a. s. 121, § 288
1) Anders über lat. aes, aber verkehit, Brugmann, Kuhns zeitschr.
XXIV, 1() anm. und neuerdings Grundr. d. vergleicli. gramm, I § 131 s. 122.
Die einsilbige form acs, aer- als 'contraliierte' aus *aU's- aufzufassen,
verbieten doch die verbalen ausgänge [cür\-ü^ -äle, -äs, die aueh Brug-
mann aus '''-(tfc, *-aiete, *-ales herleitet; dazu nun unser lär-idus. Dass
aueh der alte nom.-ace. sing, indog. '^dios zu lat. -'äs geworden wäre, ist
wahrscheinlich, wenn es gleich durch \cdr]-a,inus, eventuell ^^*-aiomos,
aus nahe liegendem gründe nicht sicher bewiesen wird. Jedenfalls ver-
mag ich mir Brugmanns deutung von slö 'ich stehe' aus einem *stü-lö
ebenso wenig anzueignen, wie seine erklärung von aes. Für letzteres
beweist auch ainus, umbr. ahesnes dat.-abl. plur. mit nichten, dass man
in der- die Stammform indog. *afes- zu suchen hat: warum soll nicht
das italische in dem stotVadjectiv die längere themaform, in der declina-
tion von aes selber aber gleichzeitig das kürzere indog. *ö/5- fortführen V
Freilich wird man fragen, weshalb, wenn wir aenus = ^ak'S-no-s setzen,
hier keine vocalcontraction nach jodausfall wie in Uir-idus. Es ist zu
antworten, dass das gesetz der vocalcontractionen, sowol derer nach ein-
getretenem Jodschwunde als der iUirigen, bestimmten einschränkungen
unterworfen ist. Eine nähere ausführung anderem orte vorbehaltend,
deute ich hier nur kurz zwei solcher einschränkenden regeln an. Ein-
mal nehmen nicht alle vocale an den contractionen teil, sondern, ähnlich
wie im griechischen, gehen auch im italischen (lateinischen) nur die a-,
(•-, ö-laute mit ihresgleichen synizese ein. h'odann aber unterbleibt auch
zwischen diesen die vocalcontraction lautgesetzlich, wenn der zweite der
in diaerese stehenden vocale als ein vom vorhergehenden (jualitativ ver-
schiedener zugleich in schwerer (natura oder positione langer) silbo
sich beiludet. Hiernach steht ital. *aes-no-s (aenus) -^ ''ales-no-s neben
*tläs-ido-s {(äridus) ^=z *llaies-ido-s ähnlich da wie lat. co-äclus, co-agu-
luni, co-'egi. neben cögo -^ ^co-dgö, co-Vpit neben cöpula -=: *co-dpuld.
Ich komme mit dem hier bemerkten auf eine erweiterung der Z. gesch.
d. perf. 15S ft". aufgestellten theorie hinaus.
406 OSTHÜFF
anni. 1 s. 134 benieikt haben, für das urgcrniauiselic als ein
A-ncutruni ''-p/aiffkiz, demnach auch für das gotische genauer
als *f4alsks anzusetzen. Trotzdem dürfte kaum denkbar sein,
dass dieses *plais-k-iz- anderswo die quelle seiner bildung ge-
habt habe, als in einem zu gründe liegenden adjectiv '■'•plais-ko-.
Dessen suffix -ko- wäre das bekannte altindogermanische für
adjectivableitungeu aller art dienende = aind. -A-a-, griech.
-xo-, lat. -cö-, das im gernian. bei intervocalischer Stellung des
gutturals als -yo- und -^o- abwechselnd erscheint (got, staina-h-s,
innlitei-g-s) und mit vorausgehenden voealeu die mannigfachsten
combiuationen eingeht; vgl. Kluge, Nomin. stammbild. §§ 202 ff.
s. 86 flf., Kautfmann in diesen Beitr. XII, 201 ff.
In der rolle, solche substantivischen secundärableitungen
aus adjectivstämmen (insbesondere adjectivischen o-stämmen)
zu liefern, wie es bei germ. '*f4ais-k-iz n. 'mastfleisch, speck'
von einem adj. *plais-k<)- 'mastig' der fall sein müsste, scheint
im germanischen das ursprünglich nur primäre neutrale -os-j-es-
suffix noch sonst einige male aufzutreten. Ich verweise hier
auf: germ. '''■y/ii-l-iz n. 'gesundheit, glück, heil' = ags. h(sl,
anord. Iwi/l, asächs. hcl, abd. mhd. heil (ags. auch hälor n. aus
der nebenthemaform '*yai-l-oz-), von '^iai-lo-z adj. 'gesund,
ganz, heil' = got. hail-s, anord. heil-l, ags. lud, asächs. hel^
ahd. mhd. heil, abulg. cclu adj. 'vollständig, ganz' (Kluge,
Etym. wörterb. unter Heil und hcit). Ferner auf: germ. '^-ylai-
w-iz n. 'hügel, grabhügel' = ags. hlobw neutr. und masc, von
einem adjectiv indog. '■^■klol-uo-s 'gelehnt, sich neigend', mit
welchem lat. cli-vo-s m. 'hügel, abhang' (vgl. ac-cltvo-s, de-
cllvo-s als adjectiva) in der wurzel ablautet; ags. hläw m.,
asächs. hleo masc. oder ncutr., ahd. hleo, leo m. 'grabhügel,
grab' und got. hlaiw n. nebst dem urnord. run. hlaiwa n. 'grab'
(Xoreen, Altisländ. und altnorweg. gramm. § 88, 3 anm. 4 s. 39'
und s. 193) könnten die alten j)rimitiva ^kloM.w-s, '■'''• kl oi-no-m
darstellen, wofern sie nicht, was aber für die runenform schwer
zu motivieren wäre, von der neutralen Ä-declination, auf die
nur ags. hlcerv deutlich weist, Überläufer zur o-declination sind
(vgl. Kluge, Etym. wörterb. unter lehnen, Sievers, Angels.
gramm.2 § 250 anm. 1 s. 112, § 288 anm. 1 s. 134). Weitere
beispiele dieser art mögen unter dem bei Kluge, Nomin.
stammbild. § 84 s. 39 f. und § 145 s. 65 f. zusammengebrachten
ETYMÜLOGICA I. 407
material bei uäheiem zusehen sich wol tindeu lassen. In den
verdacht ähnlicher bildungsweise kommen mir namentlich
noch: anord. Am', ags. hrcc{/v) n. Meichnam, aas' < '''^rai-w-iz
neben ags. hrä{fv) u. dass., got. hrain-a- in hrai/ra-dubü 'leichen-
taube' (asächs. hreo, ahd. hrcu, rt'o, mhd. re u. sind dop})el-
deutig); anord. mi/rkr n. 'dunkelheit' neben mijrk-v adj. 'dunkel,
finster'.
Dass das -k des altgerman. Wortes fleiscli ableitung sein
werde, glaubte Kluge im Etyni. worterb. bereits aus ndl.
vleez-ig 'fleischig' schliessen zu müssen. Sollte letzteres in
der tat noch eine von dem urgerm. '*plais- = indog. '"^'-llales-
selbständig ausgegangene adjectivbildung sein?
Ein an fleisch anklingendes wort ist anord. fJikke, ags.
flicce, engl. /Jitch {pf hacon) 'Speckseite', womit das aus
Leidener glossen des 9. jahrh. (vgl. Zs. fda. V, 197) belegte
und von Diez, Etym. wörterb. d. roman. spr.* 585 f. zur er-
klärung von franz. fleche de lard benutzte altdeutsche ßcci
'perna' übereinkommt. Mir ist fraglich, ob dieses nach
E. Müller, Etym. wörterl). der englischen spräche I^, 444. 449
etymologisch etwas mit fleisch zu tun habe, trotz der an anord.
flesk so nahe sich anschliessenden bedeutung. Denn der ge-
brauch von nhd. fUck für 'abgeschnittener läppen, fetzen fleisch',
laütel-fleck u. dgl., scheint doch jenes anord. ßkke^ ags. pcce
eher dahin zu weisen, wohin es von Grimm, Deutsch, wörterb.
I, 1741, Skcat, Concise etym. dict. of the engl, language- 152 b.,
zweifelnder auch von Kluge, Etym. wörterb. d. deutsch, spr.
unter fUck gestellt wird.»)
Die für indog. *tlai-es- in deutschem fleisch, griech. Xüqi-
j'oc, lat. lUridus aufzustellende wurzel //«/-, tiefstufig (If- mit
dem grundbegriflc des 'mastigen, gefettetseins' dürfen wir nun
auch noch anderwärts zu suchen uns anschicken. Vor allem
wäre sie zu finden in lat. lac-tu-s adj., das, ursprünglich ein
ausdruck der landwirtschaft für animalische und vegetabilische
*) Anders freilich jetzt Kluge in der mir erst nach abschluss des
obigen zugegangenen zweiten lieferung der vierten verbesserten aufläge
seines etymologischen Wörterbuchs unter fleisch, wo nunmehr auch ein
ags. (kcnt.) flUvc (woher?) für fld'sc 'fleisch' beigebracht wird.
408 OSTHOFF
üi)pig-keit, fülle, iu deu bedeutuugen 'fett, feist, üppig, geil,
fruchtbar' das von gesundheit, kraft und guter nahrung
strotzende nutzvieh, das üppige gedeihen der Auren und
dessen, was darauf wächst, und ähnliches bezeichnete und
endlich durch mehrfache metaphorische Verwendung in die
begriffsmannigfaltigkeit von 'lachend, freundlich, herrlich',
'blühend' (vom redestil), 'heiter, fröhlich, freudig', 'erfreulieh,
angenehm', 'beglückend, glückverheissend' u. dgl. ausmündete.
Also lehren richtig Bröal-Bailly, Dict. etymol. latin. 149 b.:
'' Laetus signifie proprement 'gras, fertile', en parlant des plantes
et des animaux. De lä, en parlant de la terre, laelUre 'en-
graisser la terre' et laetämen 'engrais'." Auf der grundvor-
stellung beruhen, ausser diesen laetäre 'düngen' Fall., laetämen
'dünger, mist' Plin. Fall. Serv., laetificüre 'durch düngung und
bewässerung befruchten' Cic. Flin., noch: laeta houm armenta
Verg., glande sues laeil id., ferner ager crassus et laetus Gate,
laetus ager Varr. Verg. Sali., tellUs jUstü laetior Verg., laeta
pUscua Liv., laetae segetes Cic. Verg., laetum legUmen Verg.,
laetissima farra id., vile quid est laelius? Cic., frugiferae aut
laetae ai'hores Sen., colles frondihus laetJ Cmt, laetitia ^ ü-ppiger
wuchs, fruchtbarkeit' in loci laetitia Col. , trunci id., pabult
Justin., u. dgl. mehr. Bei Hör. sat. 1, 1, 8 fassen Breal-Bailly
a.a.O. 150 a. vJctöria laela ansprechend als 'la victoire avec
son butin'.
Die metaphorischen Übertragungen im gebrauche von
laetus haben manche analogieu. So im latein selbst an der be-
deutungsgeschichte von niltre, nilescere, nitidus, niloi\ wenn
diese ihren begriffskern des 'feisten, wolgenährten ausehens'
(von menschen und tieren) oder des 'strotzens, Üppigseins'
(von ackern, pflanzen, fruchten) in der richtung nach 'gleissen,
prangen, schmuck und nett aussehen, zierlich erscheinen' aus-
]>ildeten; sclion Döderleiu, Lat. synou. u. etym. II (1827) s. 73
zieht diese parallele, indem er unter auderm auf j'ümenta nitida
Nep. neben laeta armenta Verg., auf nitida, laela als gegensatz
von Jiorrida, inculta bei Cic. orat. 11 verweist. Ferner ver-
gleiche man: griech. liTtaQÖq 'fett, fettig', 'fruchtbar, ergiebig',
'wohlgenährt, strotzend, frisch', übertr. 'behaglich, wolbehäbig',
'anmutig, heiter'; nhd. geil adj., mhd. geile f. 'Üppigkeit, fetter
boden, fruchtbares ackerland' und 'lustigkeit, fröhlichkeit' zu
ETYMOLOGICA I. 409
g-ot. (jailjan ^erfreuen'. Wir gewinnen demnach I actus aus
einem ^tlai-to-s part. 'gemästet, fett'.
Lat. largus adj. 'reichlich, reich an etwas', übertr. 'reich-
lich schenkend, freigebig' zeigt mit laetus wol bemerkenswerte
gebrauchsberühningen. So in pähula larga Lucr,, cöpiam quam
Im-gissimam facere Cic, foUa larga sUcö Plin.; in largJ cöjiia
lactis Vcrg. Georg. 3, 308 verglichen mit dem kurz darauf
(310) folgenden verse laeta magis jjressls münübinä flümina
mammis, woselbst Georges, Lat.-deutsch. handwörterb. II', 479
laeta mit 'reichlich' überträgt; insbesondere auch in der con-
struction beider adjectiva mit dem genitivus copiae, largus
opum Verg., comae Sil., föns aqiiae largus Lucan., wie pabul/
laetus ager Sali., lUcus laetissimus umhrae Verg. Andererseits
bat largus geradezu mit lardum, lUridum und griech. ?mqTi'oc
schon Döderlein, Lat. synon. u. etym. VI (1838) s. 189 zu-
sammengebracht, indem er versuchsweise ein 'largus, AAP-
0X0^' aufstellte. Dem nahe bleibend, dürfen wir largus wol
als synkopiert aus ''"lür-igo-s betrachten, so dass es formal an
dasselbe *las- < *tlaies- wie läridus, lardus anzuknüpfen
wäre; *lär-igo-s < '*lUs-ago-s hätte im gründe 'mastigkeit
führend, fett ansetzend' bedeutet. Zum phraseologischen wäre
auf spümäs, scintillUs agere, ferner rimas agere 'risse, Sprünge
bekommen', gemtnäs, cöliculum, folia, ßörem, frondem agere
'knospen u. s. w. ansetzen', ossa röhur agunt 'die gebeine wer-
den zu hartem holze' Ov. zu verweisen; die art der composi-
tion von largus und ihre lautliche bchandlung beleuchtet u. a.
jurgüre 'zanken, streiten' < ''^•jUr-igäre 'ein rechtsbctreiber
i^jUs-ago-s) sein, rechthaberisch auftreten'.
Zweifelnd wage ich noch weiter zu tasten. An lat. laetus
wird man erinnert bei lit. läima f 'glück, gUicksgöttin, pa-liiima
'glück, wolergehen', laimusm.^]. 'glückhaft', laimiu, laime'ti deuom.
'gewinnen'. Ist diese baltische Wortfamilie möglicherweise
ohne erhaltung der Zwischenglieder am ende der bcdeutuugs-
geschichtlichen entwickelungsreihe angelaugt, an dem laetus
als 'glückverheissend, glückbringend' steht in wk" [i. e. 3fer-
rurium] laetum Plaut. Amph. prol. 2, in laelwn prödigium Plin.,
tuet um augurhim Tac, exta laeliöra Suet., In et um est 'es be-
deutet glück' Plin.? Die beziehung zu dem grundbegriif der
Wurzel tJal- könnte man sich etwa greifbarer machen mit hilfc
410 OSTHOFF
unseres bekannten slangausdvucks scfmein haben für grosses,
•gleichsam mastiges glück; auch franz. *il engra'isse de male-
(lictions, c'est-a-dire tout lui prospere nialgre les maledictions
(|ui s'elüveut contre lui' (Littre, Dict. de la langue frau^. II,
1399 a.) ist äbnlicb. Die Läima würde somit zu einer oplma
oder göttin Ops des baltischen Volkes. Wegen lit. lett. l-
aus *//- verweise icb auf den folgenden artikel IHehen (unten
s. 413).
Mit der nötigen reserve kann endlich auch der Vermutung
räum gegeben werden, ob nicht das seither noch dunkel ge-
wesene griecb. Xi-iu\ ion. homer. l'ujv adv. 'sehr, stark, heftig',
'zu sehr, allzu' hierher gehöre. Von hause aus hätte es dann
'mastig' ausgedrückt. Auch XäQfvöc, 'fett' kommt ja derge-
stalt metaphorisch gebraucht vor in .wt/a xcä )mqivov tjiog ri
Aristoph. av. 465 für ein 'derbes, kräftiges wörtlein'; dazu
vielleicht in der ableituug läQTvaloQ 'gross, stark, fest'
(nach Passow, Handwörterb. d. griech. spr. 11^, 1,21 b.), von
geflochtenen fischreusen, wenn nicht XaQiralov xvqtov ot
aXitlg TOP ix Xtvxtag, ?/ fityav Hesych. zu dem seefisch Xüqi-
voQ gehört (vgl. Mor. Schmidt z. d. gl.). In Xl-äv^ mit l und T,
würde tiefstufiges indog. iW- vorliegen, -^xr-lä-v oder *TXr-
fä-v etwa die grundform des erstarrten acc. sing. fem. gewesen
sein. Dazu kommt die vorsatzsilbe ?.i- von verstärkender
kraft: in XL-av&rjg 'blumenreich' Orph. Arg. 588, wo die lesart
vielleicht mit unrecht angezweifelt wird (G. Hermann schreibt
aliarih'ig), Xi-afiäd-fjj' aiyiaXtö Xlar afiaD^cöÖsi Hesych., Xi-Ji6-
V7jQog' Xlcw jiorrjQog Hesych. Ueberall könnte hier der begriff des
'mastigen, massenhaften' wol angebracht erscheinen: Xi-avd^rjg
cig. 'mastig an blumen'. Formal deutet dann das Xl selb-
ständiges Xl für Xiäv soll nach Strabo 8 p. 364 Epicharm ge-
braucht haben (vgl. Passow, Handwörterb. II'', 1, 55 b., Lobeck,
Pathol. I, 200) — wol auf ein wurzelnomen idg. *UT- 'mastig-
keit' hin, wovon '^llt-w- oder *lli'-no- in Xiäv adjectivische ab-
leitung war, sowie vielleicht auch Xl-Qo-g adj. 'frech, unver-
schämt, dreist, lüstern'.
Andererseits scheinen wir dagegen in dieser selben regiou
auf eine neue spur unseres in fleisch, XägTvog, lUridus, largiis
gefundenen -^^-ueutrums indog. '*llal-es- zu stossen. Ich meine,
bei griech. Xuio-xajiQog 'sehr geil, sehr wollüstig' Etym. M.
ETYMOLOGICA I. 411
558, 39 Gaisford, eig. 'üppiger eber', Xaiö-xccjcgav ZafWQav
Hesych.; laic-jcaig' ßocxaig, AtvyMÖioi Hesych.; Xcuöjroöiag
'sehr geil, sehr wollüstig' für '*Xcuö-6Jioöiac {öjcoötco s. v. a.
ßivtco); Xaif/aQycg 'sehr gefrässig, gierig' < '^•laio-^aQyog.
Etwa auch bei Xaio-Jco6iag 'der einen fehler am fusse hat'
Aristoph,, eig. vielleicht 'klotzfuss, kerl mit mastigem fusse',
von Hesych als 'der sichelfttssige', o ÖQSjtavokhiQ Jioöaq tr/(o^>
erklärt wegen vermeintlicher herkunft von Xalov] bei Äcaö-
TQvyovEg, wenn dies mythische riesenvolk als 'die kräftig
brummenden' (TQvycör 'turteltaube', tqv^co 'gurre, knurre') be-
zeichnet war. Das Xaif/agyog hätten also die alten gramma-
tiker, die freilich nur eine partikel Xai-, nicht Xcuo-, sahen,
richtiger zu fiagyog 'rasend, toll', 'gierig, gefrässig' gezogen,
als neuere zu Xaiftog 'kehle' und aQyog (in welcher bedeutung
dieses adj.?). So dürfte denn nun auch XalXaip (gen. XalXaji-og)
f. 'Sturmwind, regensturm, orkan' wol aus *Xaiö-Xajr-g 'mastig
packend' gedeutet werden, wobei die seither schon empfoh-
lene beziehung des Schlussgliedes zu Xaftßavco und zu Xäß-Qo-g
adj. 'heftig, reissend, stark, gewaltig, ungestüm', eig. 'packend',
durch 'entgleisung' des mutastammes ''^'XaiXaß- in der alten
flexion XalXay), '^XaiXaß-og nach verf. Z. gesch. d. perf 311.
(519 f. zu erklären wäre; freilich bliebe die deutung aus einem
intensivstamme '^Xai-Xaß-, der in der weise von dcu-öäXXm,
jiai-jiäXXoj, jrai-fpüoöco, homer. fdöOco < *fca-Mxlco und zu-
gehörigen nominalformen wie 6ai-6aX-o-g, jiaL-jxaX-rj (Curtius,
Verb. d. griech. spr. P, 307 f., verf Beitr. VIII, 271, Jak. Wacker-
nagel, Kuhns zeitschr. XXVII, 276, ßrugmann, Iwan Müllers
handb. d. klass. altertumswiss. 24.81, Grundr. d. vergleich,
gramm. I §96 s. 91) zu verstehen wäre, gleichberechtigt. In
Xalö-iro^' xh'aidog, jioQvtj Hesych., wenn es zu iTijg, hai/og
adj. 'drauflosgchend, dreist, keck, frech, unverschämt' gehört,
müsste Xaic- von beispielen wie XcdG-y.ajTQog, Xaia-Jiaig, Xaio-
jcoölag analogisch übertragen sein. — Fern indes steht wol
diesem kreise Xatfta adv. ntr. i)lur. 'ausgelassen, toll' in ?Mifm
ßaxxtvei Menand. p. 100 Meineke, Xaifja' XafivQa Hesych.; es
scheint Xcufwg < '■'•Xao-iiiu-g ein der sii)pe von XtXcdoficu, lat.
las-clvus (G. Curtius, Grundz. d. griech. ctym.'' 361) anzureihen-
des adjectiv gewesen zu sein.
Haben wir in diesen griech. Zusammensetzungen mit Xai6-
Jieitiiigu zur gescliichtc der rtciitscheii spr.aclic. XI 11. 28
412 OSTHOFF
in der tat uocli ein ganzes nest von veitietern des indog.
'^tlaies- ntr. entdeckt, so bieten sie uns denn auch die schwache
Stammform des letzteren, '•^(lais-, dar, die das germanische
wort '''plais-ki-z 'mastfleisch' nach dem oben s. 405 bemerkten
wenigstens auch enthalten kann. Begreiflich ist, dass, mit
einziger ausnähme des gerade der gewählten und dichterischen
spräche seit Homer eigenen, vielleicht aber eben auch nicht
hierher gehörigen XüiXaip, 'totum hoc genus intentionis, cui
Icdü-jiaiQ quoque adjicitur, politior sermo declinat' (Lobeck,
Proleg. 50): gemäss der grundbedeutuug des Xai6- waren die
bildungen und ihr gebrauch in den volkskreisen zu hause, in
denen man vorzugsweise auch bei uns von klotzig viel geld^
es schneit massig u. dgl. zu hören bekommt. Allerdings auch
Göthe: tretet nicht so mastig auf wie elephantenkältjer.
5. Fliehen, lat. locusta, lit. lekiii.
Professor Wilh. Meyer sprach mir vor einiger zeit die
Vermutung aus, dass der lat. name der 'heuschrecke', locusta,
das tier wol in derselben weise als ' Springerin, grashiipferiu'
bezeichnen werde, wie dies bekanntlich in manchen anderen
sprachen geschehe: z. b. bei franz. sauterelle, engl, grasshopper,
ndl. sprinkhaan, ahd. hewi-skrekko, mato-screch und vielfach
sonst noch (vgl. A. von Edlinger, Erklärung der tiernamen
aus allen Sprachgebieten, Landshut 1886 s. 57); locusta werde
nemlich anzuschliessen sein an die baltische Wortsippe von
lett. lezu, lekt 's])ringen, hüpfen', lekdt iter. dass., lekas f. pl.
'herzschlag', wozu mit etwas abweichend entwickelter bedeu-
tung die litauischen Wörter /^/wV^, /e"/:^/ 'fliegen', läkas m.^^\\^\
laka f. 'flugloch der bleuen', lakta f 'hühnerstange' (zum auf-
fliegen) kommen.
Indem ich diesen glücklichen gedanken W. Meyers, den
mir derselbe für mein in arbeit begriffenes etymologisches
lateinisches Wörterbuch freundlich zur Verfügung stellte, weiter
verfolgte, bin ich dabei zu einer, wie mir scheint, brauchbaren
etymologie des deutschen vcrbums /liehen, got. JAiuhayi gelangt.
Zunächst nemlich drängte sich mir die möglichkeit auf, dass
zu lat. locusta und jenen lit.-lett. Wörtern auch got. plahsjan
trans. 'in schrecken versetzen', ga-plahsnan intr. 'erschrecken'
zu stellen sein dürften; die bedcutimg wäre bei diesen analog
ETYMOLOGICA T. 413
entwickelt wie eben in unserem schrecken, d. i. bekanntlich
als ahd. scr'ecchön — und so ja noch in heu-schreck — 'auf-
springen, auffahren'. Als wurzel ergäl)e sich ein indog. tlek-]
lat. locusta < '^tlocostu ist ohne weiteres lautgesetzlich (vgl.
oben s. 400); halt, lek- aus "^-ilek- herzuleiten erscheint auch
statthaft, da weder lit, noch lett. einen anlaut tl- kennen und
von einer anderweitigen Umwandlung eines solchen auf diesem
Sprachgebiete, etwa der für den inlaut geltenden in -kl- (suft'.
-kla- < *-flo-)f nichts verlautet. Zwischen !ocus-ta und dem
got. plahs-jan waltet noch eine engere morphologische be-
ziehung: der nominale (neutrale) ^-stamm urlat. *tloc-os- 'das
aufspringen', auf den locus-ta weist (vgl. onus-lus, venus-tus,
vetus-tus, alat. cön-foedus-ti), bildete in seiner themaschwachen
form idg. *llok-s- auch das germ, denominativum plali-s-jan.
Dass 'fliehen', pliu/ian, und 'erschrecken', plahsjan, wenn
anders die formale einigung gelingt, begrifflich sehr wol unter
dem gemeinsamen grundbegriflf 'aufspringen, aufgescheucht sich
hinwegbewegen' sich zusammenfinden würden, dafür mögen uns
die bedeutungsverhältnisse einer griechischen Wortfamilie als
Zeugnis dienen: q)eßo{/ai 'werde gescheucht, fliehe, flüchte'
nebst ffoßtco 'schrecke, scheuche, jage in die flucht', med.-pass.
ffoßtofiai 'werde erschrekt' und 'werde verscheucht, fliehe',
cpoßog 'Schrecknis, schrecken, furcht' und 'verscheuchung, flucht'.
Von der ältesten germanischen verbalflexion der wurzel
indog. tlek- 'aufspringen' bietet wol das altnordisclie mit der
hier in alten und dichterischen quellen erscheinenden ablautung
/Iijj'a, flö, flugom (Noreen, Altisländ. u. altnorw. gramm. § 262, 4
s. 105, §404 anm. 3 s. 161) das relativ treueste bild dar. Hier
ist flijja < *flyh-jan < '^-ßuh-jan (got. *plaüh-jan) die von lit.
lek-i'u nur im wurzelablaut abweichende alte jodpracsens-
biklung: indog. '■^llek-tu und *tl'k-io neben einander wie verg-u)
(gr. i-QÖco) und iirg-iü (got. waurkja, avest. vereztjämf) und ähn-
liches bekanntlich sonst öfter; vgl. H. Möller in diesen Beitr.
VII, 532, verf. ebend. \ III, 287, Z. gesch. d. perf. 89. 596 anm.,
neuerdings G. Burghauser, Indog. praesensbildung im germau.,
Wien 1887 s. 39 ff". Das jodpraesens germ. ''" plüx-jö war wurzel-
betout, daher mit -i- (-/<-), trotz seiner tiefstufigkeit nach alter
regel, die got. fi o/Ja, hlahj'a, frajjja, skapja wie aind. ;;^/^/v'//<',
nljyali, küjiyali u. a. kennen. Anord. llui/otn plur. perf. und
2»*
414 OSTHOFF
'^ßogenn pavt., bei denen gerni. }Aug- = idg. /Ik- mit nach-
iolgeudem grundspraclilichen acceute, und das praesens ''''-JAuh-
jan stellen sich hinsichtlieh ihres lu für / sonans auf eine linie
mit den bekannten got. bnikans, ahd. gi-brohhan, got. t7'udan
Irudans == ■ anord. Irotia ti'otienn, ahd. gi-sprohhan, gi-irofl'an
u. s. w.: hatte die uugesch wachte wurzel die lautfolge liqu.
+ voc, so dürfen wir eben In, nicht ul, bei den tiefstufen-
formen von tiek- erwarten. Von der heischung eines plur.
perf. anord. '"^flogom i^= got. *plegurn) statt flugom düi-fen wir
Umgang nehmen, wenn wir auch got. skulum. munum für ur-
sprünglicher dem ablaute nach als helum, hetmm, nenium zu halten
uns berechtigt glauben; vgl. verf. Z. gesch. des perf. 118 f.,
Burgauser, Die bildung d. german. perfectst., Wien 1887, s. 64. 65.
Im anord. paradigma von ßijja ist eine entschiedene neu-
bildung nur der sing. perf. flö = got. plduh, und natürlich
eine durch den plur. /lugo?n und das part. *ßogenn veranlasste:
/Id 'flog' zu flugom flogenn, lö zu lugom, smb zu smiigom u. dgl.,
auch '*tö 'zog' (= got. tnuh) zu ''^' lugom plur. und togenn part.
waren die musterverhältnisse. Nichts hindert aber die annähme,
dass solche analogische Schöpfung des sing, perf schon ur-
germanisch stattgefunden habe; und somit kann denn als die
weitere consequenz eines frühzeitig zu '*plu^um, *plu^ans neu
entwickelten pläuh 'floh' das praesens des got. und westgerm.,
pliuhan = ags. fleon, asächs. ahd. fliohan, betrachtet werden.
Das alte '^■pluhjan erhielt sich im anord. dadurch, dass flijja
in der späteren spräche in die schwache conjugation übergieng:
praet. flijba, noch jünger flütia (Noreen a. a. o. § 404 anm. 3 s. 105).
Von den nominalen bildungen, die zu pliuhan in den altgerm.
dialekten gehören, kann ags. /7m« m. 'flucht', nach Sievers, Ags.
gr."- § 222, 2 aus '■'"flcahm, auch auf '-'•fleahm = got. *plahm-s be-
ruhen (vgl. 3igH.t>wcal = go\. prvahi)] nach von Bahder, Verbal-
abstr. 133 wäre es gar von fliehen ganz zu trennen. Got plaüh-s-
m. (st. plaühi-), anord. flölti m. (= got. '-^'- plaühla) und ags. flyht,
ndl. vlugl, asächs. ahd./ft<A^ f 'flucht' bleiben im alten ablautsgeleise
von ''"pley- = idg. /lek-, in dem sie etwa so dastehen, wie ahd.
fvidar-bruht neben brühhan, got. slaühis neben slahan, mhd. iruht
{truhl-sceze) neben tragen (von Bahder, Verbalabstr. 65. 68. 69).
Den zusammenfall dieser bildungen mit entsprechenden formen
von fliegen {\v. indog. p/eugh-) bespricht Kluge in seinem Etym.
ETYMOLOGICA I. 415
wörteil). unter fliehen, fluchf. Die misch uui;' beider verba und
ihrer sippeu konnte eine vollständigere freilich nur im skandi-
navischen und westgerm. werden, wo in folge des hier statt-
findenden Überganges von germ. got. />/- in //- allerdings ein
anord. flugo und ags. fluffun sowol 'sie flohen' als auch 'sie
flogen' in einer form ausdrückten, und wo ags. fit/ht, engl.
/Jiffht 'flucht' und 'flug' zusammen bedeutet. Denkbar ist aber
auch bei der grossen lautähulichkeit von einem plu^- und
flug-, dass immerhin schon in der urgermanischen zeit begriff-
liche association, die unserem neuhochdeutschen Sprachgefühl
jetzt fest anhaftet, eingetreten war und den geschilderten process
der Umformung der wurzel plex- in eine wurzel pleux- be-
schleunigen half. Wie nahe solche begriffsassociation lag, deutet
das lit. an, wo das dem fliehen etymologisch entsprechende
verbum lek-iii, le'kti den sinn ^on 'fliegen' bekommen hat.
Den ablautsreihenwechsel macht unter den nominen aber
der name des flohes mit: anord. fld, ags. fleah, ndl. vho, ahd.
floh, mhd. vlöch m. = got. *pläuh-s. Ihn als den 'flüchtigen' mit
Kluge (Etym. wörterb. unter floh) zu fassen, empfiehlt sich viel-
leicht jetzt weniger als ein unmittelbares zurückgehen auf die
schon von Grimm, Deutsch, wörterb. III, 1789 eben nach floh
gcmutmasste grundbedeutung von fliehen, der gemäss der floh
dann als 'der aufspringende, hüpfer' erscheint, wie die mit
ihm ja wurzel verwante lateinische Springerin locusta.
G, Häher, reiher.
Alte mehr oder weniger in Vergessenheit geratene etymo-
lügieen gelegentlich wider aufzufrischen, hat zuweilen seinen
nutzen. Eine solche ist die von Beufey, Griech. wurzellex.
II (1842) s. IGl (vgl. auch Förstemann, Kuhns zeitschr. III 56,
A. Kuhn ebend. XIII, 73) herrührende Zusammenstellung von
griech. xiooa {xirra) f. 'häher, eichelhabicht' < ^xiy.-l«. mit
den germanischen nanien desselben vogels, ags. hignra m.,
ahd. hehara f, mhd. heher m. f., ndd. hegcr m. Diese combina-
tion scheint von 0. Schade, Altdeutsch, wörterb.^ 378 b. und
Kluge, Etym. wörterb. unter häher übersehen zu sein. Auf-
genommen hat sie jedoch neuerdings A. von Edlinger, Erklä-
rung der tiernamen 52, der auch bret. qegiiin 'häher' und,
A. Kuhn a. a. o. folgend, aind. kiki-sh f. 'der blaue holzhäher'
4 IG OSTHOFF
(dazu kiki-clivi-sh und vcd. kiki-divi-sh ni. als composita) bei-
bringt. Die aind. formen vergleicht auch Grassmann, Wörterb.
z. rigv. 325 mit dem deutschen häher. Das kiki-sh, beiläufig
bemerkt, nicht lautgesetzlich wegen der zweimaligen nicht-
palatalisierung von A% gewann wol sein formales aussehen
durch ausgleichung des alten lautwechsels in einer stamm-
und suffixabstufenden declination nom. sing. *keci-sh, abl.-gen.
'^cike-sh = indog. '■'kölki-s, *kiköl-s.
Es bestehen einige bemerkenswerte onomatologische be-
riihrungen im germanischen zwischen dem häher und einem
andern vogel, dem reiher. Neben ags. firä^ra, asächs. hreiera,
ndl. mhd. reiger m., — die man etwa mit homer. y.Q[y.i, aor.,
den dem storche verwanten reiher als 'knarrenden, knacken-
den' nach seinem geräusche gefasst, in Verbindung bringen
darf (A. von Edlinger a. a. o. 86 f.) — liegen als ''auffällige
ncbeuformen ahd. heigir, mhd. heiger 'reiher'" (Kluge, Etym.
wörterb. unter reiher). Man i)flegt die letzteren allgemeiner
als formverwante den bezeichnungen des hähers beizugesellen;
so ausser Benfey, Förstemann und A. Kuhn auch Graft", Alt-
hochd. sprachsch. IV, 791). Im skandinavischen geht die for-
male berührung so weit, dass anord. here (< *hehre) nebst
der den grammatischem Wechsel habenden seitenform hegre
m. 'reiher' ganz die mit dem westgerm. namen des 'hähers'
übereinkommende lautgestalt aufweist und darum geradezu
als identisch damit betrachtet wird. Das letztere bei Cleasby-
Vigfusson, Icel.-engl. dict. 247 a. und Noreen, Altisl. u. altnorw.
gramm. §202,4 s. 105, welche gelehrten indes über die be-
deutungsdiflerenz schweigen; ferner bei Kluge, Etym. wörterb.
unter häher, nur dass dieses fälschlich den nordischen hcre, hegre
für einen 'häher' ausgibt.
Mir scheint nun, dass die namen der beiden vögel früh-
zeitig volksetymologisch auf einander eingewirkt haben. Beide
haben die eigenschaften gemein, dass sie buntfarbig, Strich-
vögel und geschreimacher sind. Im hochdeutschen geschah
wol die formale beeinflussung so, dass sich aus einem *hrelgir
= mhd. reiger (oder '*hreigaro = ags. hrä^ra) und einem
*hegara als der zu hehara 'häher' im grammatischen Wechsel
stehenden nebenform (vgl. ags. higora, ndd. heger) die misch-
form heigir zur bezeichnung des 'reihers' herausbildete. Im
ETYMOLOGICA I. 417
skandinavischen schob sich der name des 'hähcis' schlechthin
an die stelle desjenigen für den 'reiher'; wobei immerhin an-
genommen werden mag, dass auch hier anfänglich eine
dem ahd. heigir entsprechende mischform, etwa anord. ''^häre
(< '-^haihre) oder *heigre 'reiher', bestanden habe und diese
dann in der folge noch weiter von den für den 'häher' gelten-
den benennungen attrahiert wurde. Ein gewisses dissiraila-
torisches bestreben, dem die Volksetymologie füglich die band
bot, wird wol auch mit im spiele gewesen sein, um für den
reiher eine neue namensform zu gewinnen, die nicht wie die
alte zu dem r im suflixteile noch ein solches in der anlauts-
gruppe hr- enthielt. Dissimilation schuf auch die mhd. neben-
form reigel für reif/er.
Die häher- und reiherfrage hat auch noch eine besondere
bedeutung für die altgermanische lautlehre. Wegen gr. xiööa
und aind. kiki-sh hat das ags. higora ein indog. / und ahd.
hchara mithin ein aus indog. / 'gebrochenes' c. Das letztere
erscheint aber auch in niederd. lieger 'häher' und in anord.
here, hegre 'reiher'. Damit werden die beispiele um eins ver-
mehrt, die ein solches 'brechungs-t;' auch auf den ausserhoch-
deutschen dialektgebieten zeigen. Ich bin neudich nicht der
ansieht von Paul in diesen Beitr. VII, 82 tf., der sich neuer-
dings Brugmann, Gruudr. d. vergleich, gramm. I § 35 s. 36 f.
anschliesst (unbestimmter, wenn auch, wie es scheint, ebenfalls
mehr im sinne Pauls äussert sich Braune, Althochd. gramm.
§ 52 s. 40 f.), dass jene /-brechung oder «-umlautung sich einzig
auf das hochdeutsche beschränke. Ich neige mich vielmehr
entschiedener einem Standpunkte wie dem von Noreen, Alt-
isländ. u. altnorweg. gramm. § 5ü s. 23, § 173 s. 65 und von
anderen gelehrten vertretenen zu, wonach die crscheinuug als
eine solche von dialektisch weiterem umfange anzusehen ist,
die nur in den anderen gebieten durch ausgleichungen zu
gunsten der neben den t'-formen hergehenden /-formen mehr
verwischt worden ist als im hochdeutschen. Haben uns doch
die Vertreter der Panischen theorie bisher noch nicht gesagt,
wie sie ihrerseits die von Xorccn angeführten isl.-anorw. neban,
ncbre 'nieder', anord. siege 'leiter' u. a., wie ferner mengl.
«t'ö^r, nengl. nelher, ndl. neder 'nieder', ags. ndl. nesi 'nldus',
anord. verr, ags. asächs. ner 'vir' auffassen; lauter Wörter, in
418 OSTHOFF
denen indog. i so sicher ist wie nur etwas. Als eine aus dem
niederdeutschen hinzukommende form dieser art gilt mir noch
asäehs. heda f. 'bitte, gebet' {knio-beda), ndl. bede = got. hida,
ahd. beta. Denn an der ßeitr. VIII, 140 ff', ausführlicher be-
gründeten, auch von Kluge, Etym. wörterb.^ 32 a. unter hitteyi
aufgenommenen Zusammenstellung dieses verbums mit griech.
jtiiiho) machen mich die abweichenden, jedoch keineswegs an-
nehmbaren bemerkungen von J. Franck, Etym. woordenboek
d. uederl. taal 94 f., deren consequenzen E. Martin, Anz. fda.
X, 414 f. bis ins unglaubliche zieht, nicht irre; desgleichen
auch nicht die von Bechtel, Litteraturbl. f german. u. roman.
philol. IV (1883) s. 6 und von Fick, Bezzenbergers beitr.
VIII, 330. IX, 318 empfohlene vergleichung des got. hidjan
mit griech. »9^£öofö9ßt 'flehen', avest.ya/Ö//m? 'bitte', air. guidiu
^ bitte', eine combination, die trotz ihrer auf der flachen band
liegenden lautgesetzlichen unhaltbarkeit sich den beifall Bezzen-
bergers, Götting. gel. auzeig. 1883 s. 392 und Prellwitz's, De
dial. thessal. 26 erwarb.
Ob nun freilich, wie Noreen will, die /-brechung zu e
schon für das urgermanische in anspruch zu nehmen sei, ist
eine andere frage, die zu bejahen ich mich nicht so ohne wei-
teres entschliessen möchte. Jedenfalls, dünkt mich, wird dieser
lautwandel ebenso sehr oder — je nachdem — ebenso wenig
als schon urgermanisch zu gelten haben, wie die in phone-
tischer hinsieht und dem Verbreitungsgebiet nach (d. i. überall
ausser im got. auftretend) ihm durchaus parallel gehende u-
brechung zu o.
1. Got. handugs. Gr. 60(f6g, lat. /aber.
Mir scheint, dass das etymologisch schwierige got. adjectiv
handugs 'weise' einmal von ganz anderer seite, als es bisher
immer geschah, anzupacken ist. Seine bildung haben wol alle,
die sich damit befassten, so verstanden, als ob das suffix -go-
= indog. -ko- darin enthalten sein müsse, mochten sie nun
mit der am nächsten liegenden, aber begrifflich anstössigeu
anknüpfung an handu-s 'band' sich begnügen oder auf andere
deutungsmittel bedacht sein. Kluge, Xomin. stammbild. § 203
s. 86 hat es mit der hcranzichung von griech. z8VTt(a 'steche,
stachele', wozu xovro-g m. 'stange, stecken, speerschaft', ver-
ETYMOLOGICA L 419
sucht, indem er zugleieli ideutificieruug von handiujs mit ahd.
hantag 'scharf vorschlug. Das ist ebenfalls von selten der
bedeutung wenig einleuchtend und selbst der Zusammenhang
mit dem ahd. adjectiv äusserst fraglich, wenn man den be-
griffsumfang des letzteren, ahd. hantag 'acer, ferus, saevus,
mordax, durus, fortis, asper, gravis, acerbus, araarus, immanis,
intolerabilis' u. dgl. mehr (Graff, Althochd. sprachsch. IV, 972.
973), richtig erwägt. So hat denn auch Kluges auffassung mit
recht Kauffmanu in diesen Beitr. XII, 202 anm. 2 nicht be-
friedigt, der, an suffix -go- freilich festhaltend, vorsichtiger be-
merkt: 'das grundwort ist nicht klar, möglicherweise liegt in
hayidugs, handugei doch volksetymologischer einfiuss von han-
dus vor'.
Ich zerlege han-dug-s und finde als die grundbedeutuug
von germ. ''''•yan-dug-o-z = indog. ''^•köm-dhugh-o-s'. 'tauglich,
tüchtig, geschickt'. Das Schlussglied ist ein nomen agentis der
Wurzel von got. daug, dugan 'tauglich sein, nütze sein, sich
brauchbar erweisen, geschickt sein', anord. duga^ ags. asächs.
dugan^ ahd. tugan, mhd. tugen, ndl. deugen, nhd. taugen, wozu
als andere nominalbildungen anord. dggb, ahd. tugid f. und
ags. dugu^, ahd. fugund f. 'brauchbarkeit, tauglichkeit, tugend',
mhd. tuht f. 'kraft, tüchtigkeit', mhd. tühtic adj. 'brauchbar,
kräftig, wacker, tüchtig' gehören. In der vorsilbe von got.
han-dug-s steht das Itan- auf assimilatorischem wege vor -d-
für *ha)n- zufolge desselben lautwandels, den man als urger-
manischen für nhd. hundert, rand, sand, schände, sund gemäss
der etymologie dieser Wörter anzunehmen hat (vgl. Kluges
Etym. wörterb. unter den einzelnen artikeln, dazu Brugmanu,
Grundr. d. vergleich, gramm. I § 214 s. 182); d. h. ich sehe
hier die german. form des praefixes indog, '-^kom 'mit, zu-
sammen' =^ lat. com- ciwi, osk. küm- com, umbr. kuni com,
air. com, griech. *xo,a in xouw^ < '^xofi-lö-g (verf. Z. gesch.
d. perf. 507). Das praefix '''kom- hatte in indog, '■'•kniJi-dJiugh-o-s
= got. han-dug-s lediglich verstärkenden sinn, eine deu begrift'
des Simplex bestimmter ausprägende kraft, wie sie lat. com-,
con- so oft zeigt, z. b., um nur adjectiva zu nennen, in cofn-
pos, con-cavus, con-dignus, cön-slUns, con-suclus, con-tumäx (zu
temnere, con-ternnere)', wie sie ferner dem semasiologisch wenig-
stens zu lat. com- durchaus stimmenden germ, ga- (got, ga-
420 OSTHOFF
main-s gleichartig mit lat. coni-mwii-s) bekannter massen häufig
zukommt, in gc-wiss, ahd. (ji-wis adj., gi-wisso adv. neben ahd.
ivisso adv., in gesund, ahd. gi-sunt, ags. gesund neben afriess.
ags. sund, engl, sound u. dgl. Mit ^a- ist daug, dugan 'taugen'
verstärkend zusammengesetzt in mhd. ge-louc, ge-tugen vb.,
gctuht f., g'e-tühtic adj. Das got. han-dug-s wird als germani-
scher Vertreter von indog. */tow- praef. nicht allein dastehen,
wenn die unten s. 427 f. aufgestellte erklärung von hanse beifall
vcidient.
Was die Wegstrecke in der bedeutungsgeschichte von
'tüchtig, geschickt' zu 'weise' anbetrifft, so erscheint diese als
eine leicht durchmessene. Auch die griechischen Wörter, die
Wiilfila eben mit handugs^ handugei übersetzt, haben sie zu-
rückgelegt. Sehr zutreffend ist das bild, welches Passow,
Handwörterb. d. gr. spr. 11^, 2, 1485. 1487 f. unter öofpoq, GO(pla
von der begrifflichen entwickelungsgeschichte dieser w^ortsippe
entwirft. Darnach war der ausgangspunkt hier: 'geschickt,
geübt' "von körperlicher und mechanischer fertigkeit, in einem
handwerk oder einer kunstfertigkeit erfahren, gewant", 'fertig,
kundig' "in jeder mehr oder weniger geistigen fertigkeit, als
arzt, Wahrsager, feldherr, redner u. dgl"; von da gelangte man
über 'anstellig, gewant, erfahren' "in angelegenheiten des häus-
lichen wie des öffentlichen lebens" zu 'klug, verständig, ge-
scheit, praktisch', auch 'gewitzigt, vorsichtig, schlau, listig'
und endlich erst zu 'intellectuell klug, gelehrt, denkend, weise'.
Dieser rote faden ist verfolgbar von der frühesten und einzigen
homerischen spur, rtzrovoc, sv jtaXäfüjOi öat](iovog 6g (>« re
jta07]g EV tidii ooffifjg II. 0 412, von den rtxtoveg öocpol Find.,
dem öoqbg aQ(i)]Xct.ri]g id., xvßsQvrjr/jg id., der öog)rj x^^Q t£xt6-
i'cov Eurip. über den oocpog fiavtig Aeschyl. oder ohovod^irag
Soph., latQÖg Soph., jtoitjtt'jg Aeschin. u. s. w. bis zu den letzten
ausläufern derjenigen gebrauchsweisen, in denen öo^og, oocpia
wulfilanisch durch liaudugs, handugei widergegeben werden.
In die alte, von aocpog später meist verlassene semasiologische
stelle ist als jüngeres Substitut tvrixvog eingerückt.
Mit got. daug, dugan 'taugen' pflegt man bekanntlich all-
gemeiner griech. rsvx'^ 'richte geschickt her, bereite kunst-
voll, verfertige', xtvyi-og n. 'gerät, geschirr, rüstzeug, rüstung'
zusammenzustellen; vgl. verf. Z. gesch. d. perf. 304 f. und die
ETYMOLOGICA I. 421
dort angefühlte litteratur. Das vereinigt sich mm sehr gut
mit han-dug-s, und wir hätten den grundbegriif 'geschickt',
den wir hier ermittelt zu haben glauben, jetzt nur genauer
präcisiert etwa als 'wer geschickt anfertigt' hinzustellen, um
ihn dem der wurzel indog. dheugh- adäquat zu machen. In
dem praeteritopraesens got. daug ,'ich^tauge' können die in-
transitive (passivische) bedeutung^'bin geschickt hergerichtet,
bin tauglich zubereitet (für etwas)', wie bei griech. ßoo^ (nvolo
TSTsvxcög Od. fi 423 (verf. a. a. o. 305), und andererseits die
activische 'verstehe geschickt zu machen', daher 'zeige mich
anstellig (zu etwas)' in formaler ungeschiedenheit, ganz ent-
sprechend eben der doppelbedeutung von griech. rETtvya perf.,
bei einander gewohnt haben. Als ein zeugnis aber, wie ähn-
lich von einer 'machen, verfertigen' bedeutenden w^urzel aus-
drücke für 'tüchtigkeit' sowol als auch 'klugheit, Weisheit'
entspringen können, diene uns schliesslich das von aind. kar-
' machen' gebildete indo-iranische nomen ved. kr-ä/u-sh m. 'ver-
mögen, tüchtigkeit, Wirksamkeit' und 'einsieht, verstand', avest.
yratu-sli m. ' Weisheit, verstand'; d. i. nach der erläuterung
Grassraann's, Wörterb. z. rigv. 353 'ursprünglich: die fähigkeit,
etwas ins werk zu richten und durchzuführen [von /,/•], daher:
tüchtigkeit, kraft, und zwar sowol leibeskraft als geisteskraft,
namentlich verstand, wille u. s. w.'
Lit. ddug 'viel', däug-sinli 'mehren', daug-y'be f. 'menge,
Vielheit' möchte ich jetzt lieber von rsvxtiv, got. dugan, weil
begrifflich wenig dazu stimmend, scheiden. Doch frage ich, ob
nicht air. dül 'geschöi)f, dement', düil f. dass. nebst dülem m.
' Schöpfer', deren Verbindung mit aind. dhü-li-sh f. 'staub', lat.
fidlgo 'russ, schwalk', lit. d'ulkcs f. plur. "staub' (Fick nach
Stokes, Bezzenbergers beitr. XI, 74) semasiologischen bedenken
unterliegt, passender sich unserer wurzel dheugh- J\Q,i-iQvi\^Q,n,
kunstvoll bereiten' anschliessen dürften; air. dül- < '"''dug-l-
wäre ja lautgesetzlich. Thurneyseu meint (brieflich), dass man
ebendahin dann auch stellen könnte: air. düan f. 'gedieht, lied'
als 'kunstvolles erzeugnis', für '*dognä, umgelautet aus"/<;?2<//-Mä,
oder für ur-inselkeltisch '^dögna (= indog. '■■'•dheugh-nä oder
*dhough-7ia)] etwa auch air. dual 'flechte, franse' als 'künst-
lich gedrehtes' (stamm indog. '■'''• dhugh-lo- oder '-''dheugh-lo-,
'•^dhough-lo-). Und von Stokes, Bezzenbergers beitr. XI, 132 ist
422 OSTHOFF
auch (las freilich g-anz unsichere g-all. dugeonleo oder diujUontiio
einer iuschrift schon zu g-riech. rtvxoi, revxo^ und deutschem
taugen, iugend bezogen worden.
Da uns für got. han-dug-s das griech. öogoog brauchbare
dicuste als bedeutungsanalogon erwiesen hat, so sei es trotz
des germanistischen Charakters dieser Zeitschrift gestattet, dass
wir hier nunmehr anhangsweise uns auch mit den etymologi-
schen Verhältnissen des griech. adjectivs selbst beschäftigen.
Von lat. sapiens ist GOffog aus gründen der inneren wie
der äusseren sprachform etymologisch entschieden fern zu
halten. Das sah richtig schon Stokes, Kuhn-Schleichers beitr.
z. vergleich, sprachf V 365, der hingegen air. sdi 'gelehrter'
als genaue entsprechung von lat. {ne)-sapius hinstellte. Lat.
sapiens, -sapius gehen ja mit asächs. af-sebhian^ mhd. en{t)-sehen
'wahrnehmen, inne werden, bemerken', ahd. in{t)-suah perf.
(Otfrid), anord. sefe^ ags. sefa, asächs. seijo m. 'sinn, geist' von
der in lat. saplo^ sapere^ sapor lebenden grundvorstellung des
'schmeckens, geschmackbekommens' aus, die von dem für
oo(f(')g notwendig anzunehmenden begriffskern 'praktisch geübt
sein, geschick haben' beträchtlich weit abliegt. Und zur
hebuug der formalen Schwierigkeiten, die der vergleichung von
6o<f<K und sapiens entgegenstehen — anlautend griech. ö-
gegenüber lat. s-, inlautende aspirata -<p- an stelle von lat. -p-
■ — war mein Vorschlag einer einigenden wurzelform indog.
'*lsaph- bei Hübschmann, D. indog. vocalsyst. 191 doch nur ein
künstlicher notbehelf.
Ich möchte aber jetzt dem griech, aorpog 'geschickt, geübt,
kunstfertig' seinen lateinischen verwauten in /"aber adj. 'künst-
lerisch, meisterlich, geschickt', 'kunstgerecht, technisch vollendet,
sachkundig, meisterhaft', m. 'künstlerisch oder handwerksmässig
verfertigender, Werkmeister, künstler, handwerker' geben. Die
herkömmliche anknüpfung des /aber als 'macher' an fa-c-io,
griech. ri-d^r/-iu, ags. dd7i, ahd. (uo7i, aind. dä-dhä-mi {dhä-iär-
m. 'gründer, schöpfer') u. s. w. lässt das moment der 'kunst-
geübtheit', der 'technischen fertigkeit oder geschicklichkeit',
welches doch namentlich in fahre adv., af-faber, af-fabre, auch in
fabrica so entschieden vorwiegt, nicht zu seinem rechte kommen;
ist der faher gleich ein arli-fex, so doch nicht schlechthin ein
ETYMOLOGICA I. 423
*fax. Von moipbologischer seite verdient wenigstens angemerkt
zu werden, dass faher als ^fa-bro-s von würz, ß- = indog.
dhe- 'rid^erai', d. i. mit männlicher oder adjectivischer primär-
ableitung -bro-s ^== indog. -dhro-s, zwar einige spärliche bil-
dungsanalogieen im griech., z. b. XäX7j-{^Q0-c adj. 'geschwätzig',
hätte, im latein selbst aber so gut wie isoliert dastehen würde:
ob er eher die Zerlegung '^cre-hro-s gestattet, ist bei der Un-
sicherheit der etyniologie zweifelhaft; Mulci-her, gen. -beris,
weicht in der flexion ab und mag wie candelä-her im letzten
gründe doch ein compositum (mit fero) sein; endlich salU-her,
das Corssen, der freilieb faber und facere beide von rl&fjfu
scheidet, Ausspr. voeal. 11', 41 (vgl. auch Krit. beitr. 355 f.,
Krit. nachtr. 188) neben faber noch nennt, ist deutlich deno-
minal. — Was von anderer seite Fick, Kuhns zeitschr. XIX,
260 f., Spracheinh. d. indog. Eur. 333, Vergleich, wörtcrb. P, ()33.
11-, 116 (unter beistiramung von Vanicek, Griech.-lat. etyni.
wörterb. 392 f., Etym. wörterb. d. lat. spr.^ 130 f., Leo Meyer
Vergleich, granim. P, 61 f. 81. 257. 984 f. und Miklosich, Etym.
wörterb. d. slav. spr. 47) alles mit faber unter einer europäi-
schen Wurzel dhäbh- oder dhab- 'passen, fügen, schmücken'
zusammenbringt — lit. dabtnti 'schmücken', abulg. doha 'oppor-
tunitas', dobrü^^\xi\ (foJ/? 'tapfqr', got (/a-daban 'sich schicken,
sich geziemen', ga-döf adj. ntr. 'schicklich, passend', ahd.
tapfar 'schwer, gewichtig', nhd. tapfer und gar Hesychs OißQÖv
TQvcptQov — das alles laboriert zum teil unter sich, insbeson-
dere aber in seinen bezieh ungen zu lat. faber an solchen be-
grifflichen und formalen unwahrscheinlichkeiten, dass man
Corssens gründliche polemik dagegen Beitr. z. ital. sprachkunde
178 ff. nur gerechtfertigt finden kann.
Mir vereinigen sich nun griech. oocföq und lat. faber formal
durch den ausatz eines *Tfo(p-d< < ■••/>/or/;-o-g für das grie-
chische, und andererseits durch zurücklcitung des urital. ^faf-
ro-s (oder '*faf-ro-s) auf ein älteres '^fvaf-ro-s {'''fvaf-ro-s) =
indog. ''■dhuabh-ro-s. Griech. 6- in öo(pöq < Tfo(p-6-q wäre
wie in öt acc. sing, 'dich', cöc. pron. poss. 'dein' < *tH, *Tf6-c,
aind. ivd^ ivd-s, auch wie in oiio) 'schüttele, erschüttere' für
indog. *lHcls-ü = aind. tvcsh-ämi 'bin heftig erregt' u. dgl. mehr;
vgl. Froehde, Kuhns zeitschr. XXII, 263, Jak. Wackernagel
ebeud. XX VIII, 123. So kommt auch die form kjri-ööofpo-c,
424 OSTHOFF
die als narae eines amtes auf einer tlieräischen insehrift (Cauer,
Del. inscript. Graee.^- no. 148, F 30. G 9. 19. 35. H 15. 19. 29)
erscheint und mit der G. Curtius, Grundz. d. griech. etym.^ 512
beim festhalten an der alten Zusammenstellung des ootpöz mit
lat. sapio, sapiens begreiflicherweise nichts anzufangen wusste,
in das richtige licht: in txi-ooocpo-g ist das inlautende -öö- <
-t/- wie in rtaöuQeg. Für die relative zeitliche datierung
des lautgesetzes der Verwandlung von ttj, in griech. -öö- (att.
böot. -TT-), anlautend ö- (auch attisch, vgl. Wackernagel a. a. o.)
liegt nun übrigens ein beachtenswertes moment in 009:0-?,
ijiL-ooo<po-g, sowie auch in 6tQ<po-g m. 'kleines geflügeltes
Insekt, mücke, ameise' < '"^Tfigcp-o-g < *&f£Qg)-o-g, wenn von
Bradke, Zeitschr. der deutsch, morgenländ. gesellsch. XL, 352
und Holthausen in diesen Beitr. XI, 554 letzteres in solcher
weise aufgefasst richtig zu germ. '''"dwer^o-z m. 'zwerg' =
anord. dvergr, ags. dweorg, ahd. twerg, von Bradke auch zu
lat. /ormFca 'ameise' < '*-fvorg-m-icTi, stellen. Jenes lautgesetz
war jünger als die Grassmann'sche hauchdissimilationsregel;
denn d-f- an sich ergibt nur griech. d^-: nach d-aiQÖ-g 'türangel'
aus '^O-fag-iö-g zu d^vga (G. Curtius, Grundz. d. griech. etym.^
258, Fick, Vergleich, wörterb. P, 121. G41. IF, 117), nach d^ög-
rvfiai, ihoQsiv 'springen, stürmen, eilen', homer. poet. ^ovQog
'anstürmend, ungestüm' (< '^•B-fag-fo-g) zu avest. dvar-aite 'läuft,
stürzt', lit. pa-dkrmai adv., su padhrmu instr. 'mit ungestüm,
stürmisch' (Curtius a. a. 0. 256, Fick a. a. 0. P, 121. 640).
Was den vocalismus von öo(p-6-g und lat. fab-er anbelangt,
so steht hier a-stufe in der einen neben o-stufe in der andern
spräche wie in den bei Hübschmann, ü. indog. vocalsyst. 190 f.
mitgeteilten ablautsfällen. Die a-stufe begegnet aber auch auf
griechischem boden selbst in den von öotpög nicht zu trennen-
den oa.(p-a adv., öacp-'^g adj. Dem paelign. faber gibt Bücheier,
Rhein, mus. f. philol. XXXV, 496 (vgl. auch Bücheier, Lex.
Ital. IXa., Zvetajeft; Inscr. Ital. med. 21. 106, Inscr. Ital. infer.
12. 105) langes a auf grund saturnischer lesung der grabschrift,
in der es vorkommt. Das bleibt freilich vor der band sehr
fraglich; sollte es aber richtig sein, so würde es dem ablaut
paelign. läb- : lat. fäb-, giiech. oac/,- : griech. 009p- auch nicht
an parallelen fehlen: lat. üc-et% griech. ravv^jx-rjg : lat. äc-ies,
äc-us, griech. ax-gog, (cx-gic : lat. oc-i^is, umbr; oc-ar, griech.
ETYMOLOGICA I. 425
ox-Qic, ferner lat. üc-iiis, ex-ä{g)-men, co-äg-ulum : lat. äg-o, griech,
ay-co : griecb. öy-f/og, etwa auch lat. scUh-j perf". ; scäh-o :
scoh-is, scoh-ma würden sieb ähnlich verhalten. Es soll im
griechischen zu 009:0^ auch der Schlauberger 2i-6vcp-o-c, hesych.
O£0vg:og' jravovgyoq gehören; und homer. a-övfp-i^Xo-q adj,
'nichtsnutzig' (Curtius, Grundz.' 512), welches letztere dann
wol ursprünglich 'ungeschickt, untüchtig' bedeutet hätte. Wenn
nicht -öv(f- hier dialektische (aeolische?) gestaltung von öorp-
ist, dürfte daran zu erinnern sein, dass indog. dhuabh-, dhuobh-
eine tiefstufenform dhiibh- haben mussten; diese, lautgesetzlicb
zu griech. ^tvcf- werdend, mochte in anlehnung an die wurzel-
gesippten öo(p-6-g, oägj-a das 0- übernehmen, wofür eine be-
kannte analogie wäre att. ov für tv nach oov, ool, oe
und öog.
Auf die bedeutungsverhältnisse von griech. öäg:a und
6aq)^g — sie besagten nicht eigentlich oder von hause aus
'deutlich, klar, verständlich', sondern 'richtig, genau, zutreffend',
wie noch stets das adverb oucfa bei Homer — gehe ich viel-
leicht später einmal an anderem orte ausführlicher ein. Hier
nur der eine hinweis auf die nähere berührung mit dem grund-
begrift" von ooffög, lat. fahej' in rostig ov jrco öcicpa dÖcog
d-rjQL fiaxijoao&ca II. 0 632, von dem jungen hirten, der im
kämpfe gegen den löwen 'wenig geübt noch' (Voss), oder 'un-
erfahren, ungeübt' ist nach Faesi-Kayser z. d. st.; ferner in
jiXriQoiijig oacf'i'ig Demosth. p. 183, 28 Keiske, d. i. 'tüchtige
bemannung', eine kunstgeübte, die ihre sache versteht, nach
Jacobs und Schäfer, vgl. des letzteren Appar. crit. et exeg. ad
Demosth. I, 773, auch Passow, Handwörterb. d. griech. spr.
IP, 2, 1386 b. unter öa^p/j^.
8. Hanse, lat. Cönsus, cönsul.
Aus dem gebrauch von lat. con-derc, das als compositum
aus com- und dare zunächst das 'zusammentun, zu einem
ganzen zusammenfügen' bezeichnet, hebe ich vorab zwei be-
sondere anwendungsweiseu hervor: einerseits die im sinne von
'zusammenfügend bilden, gründen, stiften' mit objecten wie
urhem, Röiiuun, oppida, colöniüs, wie ferner cTvilülcs noväs Cic.,
coUegium novum Liv., novam seclam Plin., Römänam gentem Verg.,
mllitärem discipUnain Flor.; sodann die, wonach condere für das
426 OSTHOFF
'eintun, einbringen, einheimsen und aufspeichern' der geernteten
fruchte, früctUs, frUmentum, früges, messis, pabulu7n, vinum, oleum
u. dgl., der übliche ausdruck ist.
Von dem recompositum abs-condere, das schon allein durch
sein dasein verrät, wie condere von dem Sprachgefühl als ein
Simplex gleichsam von einer 'vvurzel' co7id- empfunden zu
werden anfing, hat die spätere latinität nach analogie {pensus,
prehcnsus, cünscensus u. dgl.) die von grammatikern noch ver-
worfene participform abs-cönsus (vgl. Neue, Formenl. d. lat. spr.
IP, 572) gebildet; ein sprachtrieb, der romanisch in dem Italien,
perfect 7i-ascosi neben part. n-ascoso (und noch jüngerem na-
scosto)^ walach. ascunsu seine fortsetzung hatte. Vgl. Pott,
Etym. forsch. IP, 1, 563.
Einer anderen auffassung muss notwendig wegen seines
weit höheren alters der name des altrömischen gottes Cünsus
unterliegen. Sein wesen ist dadurch hinlänglich klar bestimmt,
dass er als unterirdische gottheit gedacht und verehrt wurde,
dass er ferner mit seinem fest der Cö7isuäUa bezug auf das
bergen der saaten und das einheimsen der fruchte, jedoch
auch auf die eheschliessung und -Stiftung sowie auf die grün-
dung des staatsbürgerlichen Vereines hatte; vgl. Härtung,
Religion d. Römer II, 87 ff., Schwegler, Rom. gesch. I, 471 flf.,
Rossbach, Untersuch, üb. d. röm. ehe 302. 330 £f.. Preller, Rom.
mythol. U'', 23 ff. Es ist darum auch über die etymologie von
Cönsus die landläufige ansieht der sachkundigen altertums-
forscher neuerer zeit die, dass das wort eben von condere ab-
zuleiten sei; ausser Härtung und Preller vertreten diese ab-
leitung u. a. Th. Mommsen , Corp. inscr. Lat. I p. 400 und
H. Jordan zu Preller, Rom. mythol. II^, 24 anm. 2. Zweifeln-
der verhält sich dazu Pott, Etym. forsch. IP, 1, 562 tf., indem
er namentlich auf das unzulängliche der formalen parallele
des abs-cönsus aufmerksam macht, welches letztere mit wenig
glück Jordan a. a. o. dagegen als 'wahrscheinlich nicht erst
eine neubildung, sondern volkstümlich ' in schütz nimmt.
Uns dürfte aber nunmehr der name des gottes Cönsus als
eine altberechtigte neben form des part. con-diius, und zwar
jener in der weise von pränsus, pötus, jürUtus u. dgl. in acti-
vischem sinne wie con-dilor gedacht, erscheinen; die von Serv.
Verg. georg. 1,21 erwähnte feldgottheit Condilor 'der Speicherer'
ETYMOLOGICA I. 427
ist nur ein jüngeres Substitut der einen seite im wesen des
alten Cönsus. Letzteres wort, indem es für ein indog. *Aw«-
isto-s (oder allenfalls '^köm-tpto-s) < ^köm-d-to-s mit schwäch-
ster wurzelstufe von da- 'geben, tun' stünde, würde zusammen-
gehören mit den altindischen bildungen, die die participform
-t-ta-s mit vorherhergehendem verbalpraefix oder auch nomiual-
stamme zusammengesetzt enthalten: a-tta-s, m-tta-s, parä-tta-s,
püri-t(a-s, pra-t(a-s, prati-tla-s, vl-tta-s, sü-tta-s, auch inmar-tta-s
'widergegeben', devä-tta-s 'gottgegeben' u. a. (verf. Morphol.
unters. IV, vorw. XII f., Hübschmann, D. indog. vocalsyst. § 3
s. 15, Brugmann, Grundr. d. vergleich, gramm. I § 309 s. 248,
§ 310 s. 249, § 317 s. 258); con-dUu-s : Cönsus = aind. vij-ä-
ditas 'aus einander getan, geöffnet' ; vij-a-tta-s dass.
Zu berücksichtigen bleibt nun aber Cönsu-älia, 'statt dessen,
wäre es von cons-us, -«, -um abgeleitet, ja freilich ConsaUa
(vgl. VollurnaUa, NeptunaUa u. a. m.) zu erwarten wäre', nach
der richtigen bemerkung Jordans a. a. o., der indes auch mit
dieser 'Schwierigkeit' sich nicht genügend abzufinden weiss.
Der von Cönsu-Ulia erforderte w-stamm kann auch in dem
primitivum Cönsus selbst zu gründe liegen, wenn wir nur
dessen flexion Cönsus, Cönsi den bekannten altlateinischen
metaplasmen aus der vierten in die zweite declination, wie
adventi, quaestl, senUtl u. dgl. mehr (Neue, Formenl. d. lat. spr.
112, 352 ff. 522 ff., Bücheler-Windekilde, Grundr. d. lat. declin.
§ 153 s. 62), zurechnen. Dann wäre also Cönsus ein zum con-
cretum gewordenes abstractum: m^o^. '''köm-fsfus (^kdm-tptus)
'bergung, gründuug', im lat. metonymisch für den schutzgenius
derselben. Entsprechende -^ew-bildungen des altindischen von
der Wurzel dö- kenne ich nicht, doch sind hier feminine
nomina actionis mit dem suffixe -tel- die hJiäga-ttish 'glücks-
gabe', maglu'i-ttish und väsu-ttish 'empfang von gütern', pän-
llish 'Übergabe' (verf. a.a.O., Hübschmann a.a.O., Brugmann
a. a. 0. I § 317 s. 258).
Was ich für die deutung des namens der Hanse, des l)e-
rühmten norddeutschen städtebundes im niittelalter, nach dem
vorhergegangenen bezwecke, liegt nahe. Got. hcmsa, ags. hos,
ahd. hansa f. bedeuten 'cohors, schaar', aber immer nur von
menschen; mhd. hans, /ia7ise i'. war 'societas mercatorum, kauf-
männische Vereinigung mit bestimmten ritterlichen befuguisseu,
Beiträge zur geschichte der deutgehen spraolie. XIII. 29
428 OSTHOFF
kaufmannsgilde'. Dazu kommt finn. kansa f. 'populus, societas'
als aus dem skandiuavisclien eutlelmt (Thomseu, Ueb. d. ein-
fluss d. german. spr. auf d. finn.-lapp. 140), und die im nor-
dischen selbst lebende von Noreen, Aikiv. f. nord. fil, III, 12 f.
nachgewiesene spur dieses Substantivs in schwed. dän. Itos adv.
praep. praef. 'zusammen mit, bei' (etwa alter instruni. sing.?).
Das urgerm. '■''•■^ansö f. 'zusammengeschlossene gesellschaft, ver-
band, verein' aus indog. *Av)/«-/-?/ä part. 'condita', seil, societas,
wäre formal das feminin zu dem lat. Cönsu-s, wenn dieser
nicht ursprünglich der w-declination angehört hätte. In hanse
das -s-, zunächst für -ss- als Vertreter der alten lautgruppe
eines doppeldentals, vergleicht sich demselben nach nasal
stehenden Zischlaute in ahd. funs, ags. asächs. füs, anord.
füs-s 'bereit, eilig, willig' < urgerm. *funsö-z, part. zu ags.
fiindian, ahd. funden 'eilen, streben', während der römische
gottlieitsname sich in derselben hinsieht zu pensiis^ sensus,
scänsum, tUnsus u. dgl. stellt (vgl. Kluge in diesen Beitr. IX, 154,
verf. Z. gesch. d. perf. 562).
Das von uns oben s. 419f bereits in got. han-dug-s ge-
fundene praefix indog. '^-kom 'mit, zusammen' sah in der be-
zeichnung der hanse auch schon Bugge, dessen bemerkungen
Beitr. XII, 418 f. überhaupt diesen meinen etymologischen ver-
such erst anregten. Ich habe aber bei dem Bugge'schen an-
satz eines indog. '^•köm-söd ' Zusammensitzung' (würz, sed- 'se-
dere, sitzen') mich nicht beruhigen können wegen des laut-
lichen bedenkens, dass von einer solchen grundform vielmehr
got. ahd. '*hamsa zu erwarten wäre. Denn in got. amsans acc.
plur. 'schultern' = griech. miiovg, lat. iimerös, in got. mimz
'fleisch' (zu aind. mämsd-m, abulg. ?nfso, preuss. metiso), ferner
auch in ahd. amsala 'amsel', wenn dies richtig zu lat. meriüa
< '"^-mesolä gestellt wird (vgl. Kluge, Etym. wörterb. unter
amsel), liegt doch wol, wie auch Brugmann, Grundr. d. ver-
gleich, gramm. I §214 s. 182 erkennt, der beweis, dass es
keineswegs urgermanischer lautwandel war, die ererbte conso-
nantenfolge von labialem nasal und indog. s assimilatorisch in
-ns- (-71Z-) umzusetzen. Unsere erklärung von germ. *x^n*ö
hat denselben einwand nicht zu fürchten, denn nach ihr war
das -s- nicht = indog. -s-: wird man nun in -tst- oder —
wozu ich jetzt weniger neige — in -t/'l- die grundsprachliche
ETYMOLOGICA I. 429
zurechtformung der alten dentalgruppe sehen müssen, die im
germau. und latein. historisch durch -ss-, beziehungsweise nach
consonant oder langem vocale durch -s- vertreten wird (vgl.
zu der frage Kluge, Beitr. IX, 151 f., verf. Z. gesch. d. perf.
566 flf., neuerdings Brugmann, Grundr. der vergleich, gramm.
I §469,4 s. 347, §527 s. 384), in jedem falle war das an-
fangselement der gruppe noch ein dentaler verschlusslaut -/-.
Und so hindert nichts, den eintritt des dentalen nasals von
^yßnsö zu einer zeit geschehen sein zu lassen, als noch im
urgermanischen die in indog. ^köm-tstä i^köm-tlHa) unmittelbar
auf das -m- folgende dentale Verschlussbildung nicht unterge-
gangen war; etwa auch durch den nemlichen assimilatiousact,
durch den got. han-dug-s und jene hunderl, rand u. s. w. zu
ihrem -n- kamen (vgl, oben s. 419). Indogermanisch musste
noch -m(- vorhanden sein, so weit hier wenigstens lit. szimtas
'hundert' einen schluss erlaubt. Lat. Cönsus < '■^•Com-su-s ist
unter allen umständen lautgesetzlich.
Uebrigens haben die alten Römer selbst diesen ihren gott
als genius der geheimen ratschlage mit grosser einhelligkeit
etymologisch zu cönsilium bezogen. So: Paul. Fest. p. 41, 15
Müller 'Cönst, quem deum cönsilii putabant', Serv. Verg. Aen.
8,636 '' Cmisus autem deus est cdnsiliörum, qui ideo templum
sub Circo habet, ut ostendatur tectum esse debere cünsilium\
Tert. de spect. 5 ' Crmsiis cönsUiö, Mars duello, Lares COILLO
[verderbt] potentes' (als worte einer altariuschrift), Arnob. 3, 23
'salutaria et fida cönsilia nostris suggerit cogitationibus Cönsiis\
Augustiu. de civ. dei 4,11 'deus Cönsus praebendo cönsilia\
Pseudo-Ascon. in Cic. Verr. 1, 31 p. 142 Or. ^ cönsiUörum secre-
torum deo'.
Selbst dahinter könnte ein körnchen von richtigem stecken,
trotzdem es mit den neueren mythologen und antiquaren auch
Pott, Etym. forsch. II'^, 1, 562, dieser als 'eitel Spielerei', ver-
wirft, ferner trotz der von uns gerechtfertigten ableituug des
CöJisus ü condendö. Selbstverständlich geht ja cönsil-iu-?n zu-
nächst von cönsul aus, wie exsilium von exsul, familia von fa-
mulus. Sollte aber nicht der cöns-ul, dieser etymologisch so
viel versuchte beamtentitel, in einem '*cönsa f. 'gegründeter
verein, korporation' = got. hansa seinen Ursprung gehabt
haben können? Die bildung wäre, wenn man cöns-ul = urlat.
29*
430 OS'J^HOFF
^cö7is-ol{o)-s (vgl. altlat. /'u/}w/ für famidus) setzt und von diesem
nom. sing, aus vollzogeneu fiexionsweclisel, übertritt in die con-
.sonantische declination, annimmt, zu vergleichen mit derjenigen
von Röm-ulu-s : Roma, fam-ulu-s : '*/'ama (wovon denom. osk.
faamat 'liabitat' in pompejanischen wohnungsanzeigen), auch
vou griech. yßafi-aX6-g : yßcov. Es würden also die nach ab-
sebafifung des königtums eingesetzten cönsules der etymologie
nach etwa bezeichnet haben: 'die zur corporation (^-cöJisa) ge-
hörigen', d. i. die aus dem verband der am Staatswesen be-
teiligten personen (der patricier) oder auch aus der staats-
leitenden körperschaft (dem senat) selbst entnommenen beiden
obersten executivbeamten, daher auch 'Vertreter der körper-
schaft'; im gegensatz nemlich zu dem früheren r^a:, der ausser-
halb des ständischen Verbandes des patriciertums sich befand,
beziehungsweise dem senatskörper als diesem übergeordnet
nicht angegliedert war. Das alte stammnomen *cönsä wurde
eben hernach durch das erst wider aus cönsut abgeleitete cün-
silium 'rat, Versammlung der beratenden personen, ratsver-
sammlung', speciell vom Senate gebraucht, verdrängt, wie ähn-
liches ja so oft geschieht im sprachleben.
Ich werde bei solcher etymologischen auffassung des
consulnamens nicht sehr durch die rUcksicht auf das verbum
cönsulo, cönsulere geniert. Dieses, obzwar nicht der form nach
denorainativ von cönsul, sondern umgekehrt wie dessen stamm-
verb aussehend, braucht dennoch nicht älter zu sein als das
institut der consuln. Man gab wol dem cönsul{s) das seine
amtshandlung bezeichnende verbum in der form cönsulo bei
nach analogieen wie dnco : dux, re;/o : rex, vielleicht gerade
in besonderer gegensätzlichkeit zu dem verhasst gewordenen
reijere des rex. Die begriffserweiterung von cönsulere 'zu rate
gehen, sich beraten', 'beschluss fassen, beschliessen', 'zu rate
ziehen, um rat fragen, befragen', 'rat schafien, sorgen' wäre
dann ein späterer Vorgang gewesen. Der ausspruch des Varro
de ling. lat. 5, 80 ^cönsiU nominatus qui cönsulere/ populum et
senatum, nisi illinc j)otius unde Attius alt in Bruto: qui recte
cönsulat, cDnsnl cluat' würde weniger für den Ursprung des
cönsul, als für den des tätigkeitwortes cönsulere belehrend sein.
ETYMOLOGICA I. A'M
9. {Gerymär, sinv. (riadi)-meru, gr. {^yx£(jl)-ficoQoc, air. mär;
mehr, ineist.
Zu got. -mcrs in tvaila-mers 'tvc/tjfiog\ anord. mccr-r, ag's.
tncere, asäcbs. ahd. fnäri, mlid. mcere adj. 'herrlich, bekannt,
berühmt' weiss Kluge im Etym. vvörterb. unter märchen keine
andere aussergermanii?c*he verwantschaft als diejenige von slov.
-merii in eigennaraen wie Vladi-merü 'Wladimir, Waldemar'
und von lat. ?nerus 'rein, lauter, klar, unvermiseht'. Das be-
ruht im wesentlichen auf Fick, Kuhns zeitschr. XXII, 382 f.,
Vergleich, wörterb. !•', 719. IP, 233, D. ehemal. spracheinh. d.
indog. Eur. 354, der auch noch gallisches -märus in Virido-
märus u. dgl. und air. mar adj. 'gross, ansehnlich, bedeutend'
herbeizieht und alles an die wurzel mar- 'glänzen' in griech.
fi((Q-iiaiQco 'flimmere', {laQ-^taQ-so-g adj., a-fiuQ-voOcu 'funkle,
schimmere', u-iiaQ-vyr'i f., aind. mär-ici-sh m. f. 'lichtatom, licht-
strahl' anknüpft. Vgl. auch 0. Schade, Altdeutsch, wörterb.^
592 b., F. Bcchtel, Ueb. d. bezcichn. d. sinnl. wahrnehiu. in d.
indog. spr. IUI. Der letztere gelehrte machte dadurch einen
bemerkenswerten fortschritt über die Vorgänger hinaus, dass
er zuerst ebend. anm. 'gr. lyito'iiiwQog, iötiwQog, vXaxöf/coQog
mit dem speer, dem pfeil s. auszeichnend, durch bellen sich
bemerklich machend' an dieselbe sippe anreihte.
Lat. mcrus — bei Schade, Bechtel und Kluge fälschlich
als merus angegeben — liegt wegen seines c lautlich ferner
und begrifi"lich ganz abseits. Mit Egilsson, Lex. poet. 565 a.
messen Fick und Kluge dem anord. mdr-r die nebenbedeutung
'rein, unvermiseht' bei. Aber enn nuera mjo<5, mdran dnjkk
mja^ar, i enom mwra Mimes brunne, die Egilsson dafür anführt,
beweisen eine solche nicht und werden anders und richtiger
von Cleasby-Vigfusson, Iceland.-engl. dict. 443 a. verstanden,
die auch hier nur 'famous, illustrious, great, Germ, herrlich'
sehen; also cnn mcera mjot) bezeichnet nur 'den herrlichen
met' und i enom mcera Mimes brunne ist, wie auch Simrock
Voluspä 22 überträgt, 'in der vi elbekannten quelle Mimirs'.
Anders steht es mit ags. nuere für 'merus, purus' in der ein-
zigen belcgstelle mid V pundum nucrra 2)enin^a leg. Aelfr. 3.
Hier sind allerdings 'pfenuige von reinem silber' gemeint; vgl.
R. Schmid, D. gesetze d. Angels.- 73 anm. 026 a., Ettmüller,
432 OSTHOFF
Lex. Auglosax. 223. Wie aber öchmid a. a. o. 592 a. zeigt, ist
(las nur eine Übersetzung der sogenannten merl denärii des
niittellateins jeuer zeit (vgl. Du Gange, Gloss. med. et inf. Latin,
unter merus): und so werden wir annehmen dürfen, dass man
bei der wrdergabe des niems- durch das anklingende miBre
volksetymologisch verfuhr, die bona moncta der merJ denärii
als 'anerkannte, gäng und gäbe pfennige', im gegensatz zu
etwa unterweltigen prägungen, sich zurechtlegte. Ein wirk-
liches Zeugnis für die geltung des german. adjectivs als 'merus,
purus' ist demnach bisher nicht beigebracht.')
Auch griech. naQfiaiQco, c'naQiooco, aind. ?när-ici-sh weise
ich ohne bedenken als unverwant ab. 'Glänzend' im sinne
des natürlichen glanzes auch nur als eine der bedeutungen,
geschweige denn als die ursprünglichste, von auord. mcer-r, ags.
rncere, asächs. ahd. fiiäri aufzustellen, liegt nirgends in dem ge-
brauche dieses adjectivs eine nötiguug vor. Zwar interpretiert
Mor. Heyne, lieliand- gloss. s. 261 das asächs. märi, so-
') Das lat. merus Mauter, unvennischt, rein, unverfälscht' ist dem
got. -?ncrs um so fremder, wenn ich jenes in ähnlicher weise etymo-
logisch deuten darf, wie nach Jak. Wackernagel, Kuhns zeitschr. XXVIII,
l.')7 griech. /<-wjt| 'einhufig' aufzufassen ist. Auch m-eru-s kann bahu-
viihiconipositum mit dem zu scm-el, sim-ul gehörigen *sm- von griech.
(o)i(-lu fem. sein; '^sm-eso-s 'wer nur eines wesens ist', daher 'von
fremdartigen zutaten frei', enthielte im schlussgliede die übliche adjecti-
vische Umformung eines femininen nomens indog. *es-a 'das sein, wesen'
von der wurzel des verbum substantivum lat. esse. Solches *es-a wäre
nicht lediglich nur erschlossen nach der analogie von griech. (pvy-i'j, lat.
fiig-a , griech. dy-y 'bruch' u. ähnl., sondern läge wol schon historisch
verkörpert vor in dem gen. plur. homer. ep. eüojv, dem meines erachtens
sehr ansprechend Göttling zu Hesiod. theog. GG4 und Lobeck, Technol. 253
(vgl. auch Brugmann, Ein problem. d. homer. textkrit. (Jl anm. 2) einen
nom. sing. *i7] {*tr]) im sinne von ovoia, tu ovxa unterlegen: die dfot
(SojTTjQsq iücov sind darnach nur einfach 'die geber der dinge', Mi, a
quibus omne quodest in rer um natura profisciscitur'. 'Güter', den
gegensatz von xuxoiv, bezeichnet luojv (icuov) nur li. i2 528 und hat
hier in y.uxüiv, 'izf-Qoc Sh iraov^ abweichend von den festen formein
()('jr7J()eg iüojv, ()ajzo(j ir/iov (Od. i> 325. 335. hyiim. in Merc. XVIII, 12.
hynm. in Vest. XXIX, S Baumeister), deutliche digammaspur. Somit könnte
in il 52S ursprünglich irgend eine an aind. vüsu-sh, avest. vaiihu-sh adj.
'gut' anzuknüpfende fouii (welche? ist dunkel) gestanden haben, die
dann dem misverständlich aufgefassten gen. plur. in (korr/Qfg iäcDV, 6u-
TO(j hi/Mv hätte weichen müssen.
ETYMOLOGICA T. 433
weit es als epitheton zu berg, hurg^ cröa, Hohl (vom himmel),
doff oder dom-dag (vom jüngsteD tage) auftritt, durch 'glanz-
voll, klar, licht'; und noch weiter geht 0. Schade a. a. o., wenn
er hier und bei ahd. märi, nihd. mcere sogar ein 'glänzend,
namentl. von der sonne beschienen, leuchtend (licht, see, erde,
bürg)' zu erkennen glaubt. Weit besser und zutreffender be-
urteilte schon Miillenhoff', Deukni.^ 254 diese und ähnliche Ver-
bindungen, wenn er zur erklärung von der mdreo seu im Wesso-
bruuner gebet bemerkt: "der märeo seu ist 'das grosse,
herliche meer', wie alts. Ihea märiim ertlia, (hat märlo Höht
Hei. 39, 5. 105,24 und an zahlreichen anderen stellen auch
ahd. das adjectiv diese erweiterte [?] bedeutung zeigt, und
daher zu vergleichen mit thie grbto seu Hei. 131, 22, se bräda,
sc slda scc Crist. 1145, Beov. 507. 2394, aldinn marr Hävam. 02."
Durch Miillenhoff hat sieh freilich der ihn citierende Bechtel
a, a. 0. nicht abhalten lassen, gerade vorzugsweise in die stelle
des Wessobrunner gebets dem griech. f/aQficuQco zu liebe das
vermeintliche 'glänzend' hineinzubringen.
Mir will es überhaupt scheinen, dass man schon allein
vom Standpunkte des altgermanisehen Sprachgebrauches — von
etymologischen riicksichten ganz abgesehen — unrecht getan
hat, nicht 'gross, wichtig, bedeutsam' an die spitze der be-
griffsverzweigungen von got. -mers, anord. ?ncer-r u. s. w. zu
stellen. Tatsächlich lässt es sich sehr oft, wie eben in den
von Miillenhoff berührten fällen, lateinisch durch nichts besser
als durch magnus oder auch magnificus widergeben. Gewicht
zu legen ist in dieser hinsieht auch auf die ableitungen und
Zusammensetzungen wie ags. mcer-lic adj. 'magnificus', mcer-lice
adv. 'magnopere, valde', mckre-ness ^q\ü\\{\x(\.o' und 'magnitudo'
(Ettmüller, Lex. Anglosax. 223), frühmhd. märe-groz ' sehr bedeu-
tend' (»2<3re adv.), mhd. it*r-w«re 'höchst wichtig', un-mcere 'un-
wichtig' (Mittelhochd. wörterb. \\ 1, 69 a. b. 70 a., Lexer,
Mittelhochd. handwörterb. I, 328. HI, 1911. 1912). Wie sich zu
diesem ausgangspunkte der bedeutungsgeschichte von got. -mers
das denominative verbum merjan und sein Zubehör verhält, er-
sehen wir hernach (s. 437).
Das in slavischen personennamen als zweites compositions-
glied vorkommende -mcru stellt man allerdings mit Wahrschein-
lichkeit zu got. -mers, ahd. nihd. -mär. Dieser ansieht war
434 OSTHOFF
schon Scbafarik, Slav. altert. I, 53 f., desgleichen Miklosich,
Denkschr. d. kaiserl. akad. d. wissensch. pbilos.-hist. cl. X (Wien
1860) s. 289 f., derselbe neuerdings Etym. wörterb. d. slav. spr.
195 b. Es wechselt aber dieses slav. -mei-u bekanntlich mit
-mirü ab, z..b. slov. Goj-mer {goß m. 'pax') mit serb. Goj-mir,
wie serb. Vladi-mer, russ. Volodi-mer mit eech. Vladi-mir, poln.
Wiodzi-mierz {-mierz < -mirü, vgl. Brückner, Archiv, f. slav.
philol. YII, 540). . Ein sicherer entscheid nun über das Ver-
hältnis der e- und der f-form Hesse sich zwar erst geben, wenn
zuvor festgestellt wäre, in welchen slavischen dialekten -merü
eigentlich auftritt. Vorläufig kann aber so viel wol behauptet
werden, dass -merü, wenn es anders dem got. -mers entspricht,
mit der anderen form slav. -mirü lautlich unvereinbar ist. Nun
hat man ansprechend bereits in dem letzteren das Substantiv
mirü m. 'friede' gefunden. So Pott, Personennamen (1853)
s. 254, Förstemano, Altdeutsch, namenb. I sp. 907, Ign. Petters,
Kuhn-Schleichers beitr. z. vergleich, sprachf. II, 133 f.; ähnlich
auch Leskien, der mir schreibt (13. nov. 1887): "Ich möchte
zunächst die sache so ansehen: -merü ist = got. -mers, aber
nicht entlehnt, sondern urverwant; -mirü ist ein ganz anderes
wort = 'friede'; in späterer zeit sind componierte namen mit
-merü und -jiiirü durcheinander geworfen worden. Die bedeu-
tung -mi7'ü 'friede' passt in vielen namen sehr gut, z. b. serb.
Ljiibo-mir = gratam pacem habens". Denkbar wäre auch,
dass das als namensstotfwort ererbte -merü, nachdem es bei
sonstigem nichtmehrvorkommen etymologisch verdunkelt war,
volksetymologisch meistenteils durch -mirü ersetzt, also Vladi-
mer 'Waldemar' in Vladi-mir 'Waltfried' umgedeutet worden sei.
Recht hat jedenfalls Petters a. a. o. mit der bemerkung,
dass der zusammenklang des slav. -mirü mit der in den ger-
manischen namen auftretenden nebenform -mir an stelle von
sonstigem -mcr und -mär für zufällig zu halten sei. Wie wir
von Theodo-mir, Theode-mir wissen, dass damit gotische persön-
lichkeiten bezeichnet waren (vgl. Förstemann a.a.O. I sp. 1183.
11S4), wie Gaila-mir, Gunlhi-mir^ lloha-mir bekanntlich oder
nachweislich dem Wandalenstammc angehörten (Förstemann
a. a. o. 1 sp. 459, Ferd. Wrede, Ueb. d. spräche d. Wandalen,
Strassburg 1886, s. 77. 79 ff. 81 f. 84 f. 92. 95. 106. 107. 110.
115), so steht zu erwarten, dass dies gernian. -mir überhaupt
ETYMOLOGICA T. 435
nur den dem späteren gotischen und seinen ihm zunächstehen-
den östlichen schwesterdialekten eigenen lautstand mit J für c
in wulfilanischem -mers, merjan repräsentieren werde. Der
beweis solcher östlich-germanischen herkunft der sämtlichen vor-
kommenden namen mit -w/r ist freilich im einzelnen noch
nicht erbracht; doch hat neuerdings Bremer, Beitr. XI, 8 ff.
einen anfang zur ausfüUung dieser Kicke gemacht, indem er
eine grössere reihe derartiger gotischer namen (latinisiert auf
-mirus und seltener -miris) von dem um 376 anzusetzenden
Vithi-miris des Ammianus Marcellinus herab bis gegen ende
des siebenten jahrhunders quelleumässig belegt vorführte. Die
quellenangaben für die namen auf -mir in Förstemanns 'Alt-
deutschem namenbuche' finden sich: I sp. 18. 51. 125. 248.
282. 352. 366. 416. 434. 465. 525. 677. 694. 715. 791. 914. 1048.
1049. 1069. 1183. 1184. 1253. 1287.
Aus slav. -merk, wenn dessen Identität mit got. -mers fest-
zuhalten ist, ergibt sich unter mitberücksichtigung der -/ö-flexion
des german. adjectivs im skandinavischen und westgermani-
schen die mutmassliche herstellung des ursprünglichen thema-
charakters. Von slavischer seite ist /-decliuation ausgeschlos-
sen; die tatsächlich bestehende o-decliuation kann in be-
kannter weise die historische nachfolgerin ursprünglicher u-
declination, auf veranlassung des nom. und acc. sing, -mcrü
(< '*-mcru-s und '''-mcru-m), gewesen sein; vgl. Leskien, Ilandb.
d. altbulg. spr.2 § 57 s. 63 ff. Got. -mcrs^ *-merJa- = skandin.
westgerm. mUrjo- würde sich gegen die ansetzuug eines /-themas
germ. *imcri- zwar nicht, jedoch gegen ein *ma~ru- als ur-
sprüngliche Stammform sträuben. Aber M-flexion ist auch von
Seiten des germanischen als die ursprüngliche Signatur des
adjectivs wol zulässig. Bei annähme derselben würde in for-
maler hinsieht alles so liegen, wie in den germanischen flcxions-
verhältnissen des dem aind. svädü-sh, griech. t^öv-c. 'süss' ent-
sprechenden alten «-adjectivs: anord. mccr-r, ags. nucre, asächs.
ahd. mdri wie anord. scet-r, ags. swele, asächs. sn-oli, ahd.
suozi mit der bekannten ausdehnung der -/o-form auf den nom.
sing, von den obliquen casus aus; andererseits wäre das ein-
mal belegte got. waila-jner nom. sing, neutr. Phil. 4, 8 so zu
beurteilen, wie das ebenfalls einmal bei Wulfila erscheinende
suis nom. sing. masc. Tim. I, 3, 3, sei es nun beide als ersatz-
436 OSTHOFF
bilduugen für *-meru, *sutu-s nach analogie des nom. sing-, der
/-adjectiva (verf. Liter, centralbl. 1876 sp. 180), oder mit got.
tugr <, */affru (= griech. daxQv) als lautgesetzlich eine u-
syukope erlitten habende formen, nach B. Kahle, Zur entwiekl.
d. conson. decl. im german., Berlin 1887, s.S. In der alten
?<-declination, wenn diese also den einigungspunkt für die
flexivischen divergenzen von slav. -ffierü und got. -mers, ahd.
mdri abgab, wird dann das ahd. mhd. -7ndr der deutschen
Personennamen Danc-mär, Diet-mär, Ot-mär u. s. w. dieselbe
Stellung wie slav. -meru, als nom. und acc. sing, aus germ.
*m(C~ru-z^ *tn(c'i^u-n, eingenommen haben.
Was sav.mär, mar, cymr. »laz^r adj. 'gross, ansehnlich' be-
triftt, so stehen die a- und die ö-form des irischen unter sich
in dem Verhältnis, dass jedenfalls der ersteren die Priorität
zukommt. Was mar anbetrifft, so kommt nach Thurneysens
brieflichen aufschlnssen zunächst in betraciit, dass im altirischen
wenigstens das kurze a in der Stellung nach labialen vor pala-
talen (und wol auch ?<-farbigen) consonanten in weitem um-
fange in 0 übeigeht, z. b. in hoill, fnoirb (neben mairh) als den
pluralen zu ball, marb] mithin könnte bei ?ndr auch ?n6ir, die
form des fem. sing, und des gen. sing, masc.-neutr., eine solche
gewesen sein, die das ö für ä lautgesetzlich erzeugt hätte.
Dann wol andererseits der comparativ ?nöo, mö, indem dieser
auf müo zurückgehen mag nach analogie von gäu, gäo und da-
neben göo, gö 'falsches, lüge', lau, Im und löo, lö, dat. sing, von
läa 'tag', -tau und -tö 'ich bin' u. ähnl. mehr. Es wäre also
zu vermuten, dass von formen wie inöir und mdo aus sich das
ö verbreitet haben dürfte.
Die rolle, welche das adjectiv air. 7när, mar, cymr. maw'
in der namengebung der Kelten, insbesondere als äusserst be-
liebtes Schlussglied von vollnamen, wie deutsches -mär, spielt,
wird von Ch. W. Glück, Die bei C. Jul. Caesar vorkomm. kelt.
namen 76 ff. unter beibringung vielen materials (vgl. auch
Zeuss-Ebel, Gr. celt.2 16 anm.** 94. 95) gründlich erörtert. Ich
nenne hier beispielshalber gall. JSemeto-, JSerto-, Sego-märus
(zu ahd. Sigi-mär), Vlrido-inärus (trotz Virdomäri Prop, V,
10, 41 rec. Haupt, vgl. Zeuss-Ebel a. a. o. 3 anm.* 16 anm.*
Glück a. a. o. 77 anm. 1), air. Teacht-mär, cymr. Cat-mör (zu
ahd, Jladu-mär), bret. Chono-moris {= Cuni-märus) bei Greg. Tur.
ETYMOLOGICA I. 437
Glück verficht die zusauimenstellung des got. -mcrs, ahd.
märi mit dem keltischen Worte, die er (1857) lange vor Fick
(1874) ausgesprochen hat, gegen Holtzniann auch durch ein-
gehen auf die bedeutungen des keltischen adjectivs: im irischen
und gälischen drückt nach Glück mär, mör 'gross' 'auch in-
clytus, illustris, praeclarus, insignis, nobilis' aus; 'im kymr.
dagegen kommt maur bloss mit der bedeutung magnus, grandis,
amplus vor'. In Verbindung mit diesem moment der Überein-
stimmung ist meines erachtens das semasiologische zusammen-
treffen der denominativen verbalbildung auf beiden Sprachge-
bieten erwähnenswert: ?ä\\ niäraim {inöraim) 'maguifico, verherr-.
liehe, erhebe' (Windisch, Ir. texte m. wörtcrb. G96 a.); ent-
sprechend got. merjan ^ x?jqvO(j8ii', 8vayy£XiL,tö&ai\ anord. mcera
'to praise, laud', ags. ^e-mccran 'darum reddere, honorare,
magnificare', asächs. ?ndrimi 'rühmen, verkünden', ahd. mär{r)en,
gi-mär{r)eu 'celebrare, clarificare, praedicare'. Wenn wir den
begriff 'gross', namentlich in qualitativer hinsieht, auf den uns
schon von -anderer seite erscheinungen im gebrauche des ger-
manischen adjectivs selbst zurückführten (s. 433), eben für den
ursprünglichen halten, so bieten sich hier als bedeutungsanaloga
dar: ausser lat. magnificare das griech. (ityalvvtiv und got.
mikUjan 'preisen', ahd. mihhilösdn 'magnificare' (Tat.), etwa
auch aind. mahäyaä 'verherrlicht, verehrt, feiert', eigentlich
'macht gross'. Es erscheint mir auch wol annehmbar, dass
der sinn von 'wolbekannt, berühmt', den das adjectiv germ.
*mce'ru-z, ^mce'rjo- in den historischen Zeiten so vorwiegend
aufweist und der in unserem mär, märe^ märchen der schliess-
lich allein fortlebende gewesen ist, wesentlich durch den ein-
fluss des denominativen verbums merjan zu solcher erstarkung
auf kosten des zurückgetretenen grundbegriffes 'gross, ansehn-
lich, bedeutend' gelangt ist.
Im wurzelvocalismus besteht zwischen air. mär und an-
dererseits germ. '^mce'ru-z, slav. -mcrü eine abweichung, und
hier eben, glaube ich, hilft das altgriechische von Bechtel ver-
glichene -[4coQO-g in homer. tyx^ol-fKDQog, lö-ficoQO-g, vXaxö-
ficoQo-g und nachhomer. (bei Herodot, Hippokrates und Atti-
kern) öirä-ficoQo-g vermittelnd aus. Das ablautsverhältnis
germ. ce", slav. indog. e : griech. indog. ö hob schon Bechtel
richtig als ein anerkannt regelmässiges hervor; es findet eine
nahe liegende stütze an dem entsprechenden von got.ßr, anord.
138 OSTHOFF
är, ags. ^eär, asächs. ahd. mbd. jdr ii. zu griech. ojQO-q m,
'jähr', cüQä f. 'friihling, Jahreszeit, jähr'. Der vocal aber von
air. mär, cymr. maiu- kann nun iudog. ö gewesen sein, nach
air. da 'zwei' : öcö-ötTca^ gndth 'bekannt, gewohnt' : yvcoro-g,
lat. 7iötu-s, acymr. di-aiic 'segnem' (eigentlich 'unschnell') :
(oxv-g, lat. öc-ior u. dgl. mehr (vgl. Brugmann, Grundr. I
§ 90 s. 85 f.); in dem gall. -mürus der eigennamen, Nei'to-märus
u. s. w., würde denn auch das bisher noch vermisste erste
sicherere zeugnis begegnen, dass der inselkeltisch durchaus (ab-
gesehen von wortschliessenden silben) erfolgte Übergang von
indog. ö zu ä auch dem gallischen gebiete nicht fremd ge-
wesen sei (Brugmann a. a. o. s. 86 anm.): urkelt. '■^•müro-s stünde
genau = griech. -^coqo-q.
Aber die bestimmte bedeutuug des griech. lyxeoi-^aoQoq
und seiner drei bildungsgenossen war erst durch die gewinnung
der richtigen etymologie des Schlussgliedes -fimgo-g zu ermitteln.
Von der Unzulänglichkeit der früheren auffassungen dieser viel
besprochenen griechischen composita überzeuge sich der leser
selbst durch einblick in folgende litteratur: Apollon. soph. lex.
s. vv. lyxtol-, 16-, vXaxö-fiojQoi, Hesych. in gloss. E 344, / 747,
F144, Heyne llias t. IV p. 603, Lucas, Philol. bemerkungen
üb. d. auf MiiPOl' ausgehenden homer. epitheta (gymnasial-
l)rogr., Bonn 1837) s. 1 ff., Benfey, Griech. wurzellex. I, 507.
508, Braune, Odyssee XIV, 1—60 (gymnasialprogr., Cottbus
1845) s. 11, Passow, Handwörterb. d. griech. spr. P, 2, 773 a.
1486 a. IP, 2, 1424 a. 2042 b., BBnary, Kuhns zeitschr. IV, 53 f.,
Goebel, Zeitschr. f. d. gymnasial w. XVI (1862) s. 587, Philo-
logus XIX (1863) s. 418" ff., Ameis zu Od. / 188. g 29 und
ebend. IP, 178, Döderlein zu II. B 692, Düutzer, Kuhns zeitschr.
XII, 3 fi'. XVI, 284 f., Faesi-Kayser zu II. zi 242. Od. / 188,
Pott, Wurzel-wörterb. d. indog. spr. I, 1, 282, Ebeling, Lex.
Homer. I, 333 f. 596 b. II, 361 b., Brugmann, Curtius stud. IV,
161, Vanicek, Griech.-lat. etym. wörterb. 735. 736, G. Curtius,
Grundz. d. griech. etym.'^ 330, Benseier -Autenrieth, Griech.-
deutsch. schulwörterb.*^ s. 210 a. unter tyxtöificoQog. Weder
griech. (lojQo-g adj. 'stumpfsinnig, dumm, töricht' konnte etwas
crspriessliches zur lösung der Schwierigkeit beitragen, da eyxsoi-
(iüQyog und ayxä-fiaQyog Et. Magn. p. 313, 7. 14 Gaisford,
tyxto'mccQyog • lyx^^ [laivöy^evog Hesych., wie schon Benary
ETYMOLOGICA I. 439
a. a. 0. erkannte, nur zu etymologisierendem zwecke, nemlich
als ausdruck der verfehlten deutung £7;f£ö/-//fO()o-g = 'speer-
toll, mit dem Speere wütend', erfundene präparate sind; noch
war mit hilfe der von Lucas zuerst versuchten auknüpfung an
(lOQog, f/oiQa, fitQog, fitiQOf/ai ein ungezwungen einleuchtender
sinn, etwa tyxfOi-ffoyQo-g = 'den speer zu seinem teile habend, dem
der Speer als loos zugefallen ist', erzielt; von anderen allzu
einseitigen erklärungsweisen, wie der mit ^aQvaodai 'kämpfen'
nach Braune a. a. o., ganz zu geschweigen. Wenn Leo Meyer,
Vergleich, gramn). d. griech. u. lat. spr. P (1884) s. 914 schreibt:
^^kyx^Gi-l^imQoq 'mit Speeren . . . (?)", so ist damit die bis heute,
auch trotz Bechtel (1879), noch obwaltende rätselhaftigkeit der
frage genügend angedeutet. Denn Bechtel hielt eben noch,
obwol er richtig die verwantschaft mit ags. m(ct^e, ahd. tnäri
sah, die auch von Goebel, Ameis und Döderlein aa. aa. oo.
vertretene ansieht eines Zusammenhanges mit mar- 'schimmern,
flimmern, glänzen', griech. fiagf/aigco, ccfiaQvy// fest, und gegen
diese bestand nach wie vor der einwand von G. Curtius a. a. o.
zu recht: "Dass diese wenig verwendete wurzel bei Homer in
der abgeblassten bedeutung 'sich auszeichnen, sich hervortun',
zumal von den nach dieser erklärung 'durch bellen glänzen-
den' hunden \xvpsg vZaxöf/wQot Od. §29. jr 4j gebraucht sei,
ist schwer zu glauben".
Nach uns ist, mit wegfall der rücksicht auf das 'glänzen',
tyiiGL-iiojQo-g IL ß 692. 840. // 134. Od. / 188 als bei wort
tapferer krieger 'im speerwurf gross, in Speeren sich hervor-
tuend', daher 'speerberühnit', gleichsam ahd. (lei'-imh- (vgl.
Ge?-mers-hei??i). Wenn 1<j-/icoqoi 'die im pfeilschuss grossen'
II. /] 242. 3*479 einen tadelnden beigeschmack hat, so liegt
der verächtliche nebenbegritf nicht im worte selbst, sondern
wie Faesi-Kayser zu der ersteren stelle richtig bemerken, in
dem sachlichen momcnte, dass 'der kämpfer, der sich aus-
schliesslich des bogens bedient, in hinsieht auf bewaftnung
und kampfart nur eine untergeordnete geltung und viel weniger
anspruch auf den namen eines kriegers hat, als der in der
vollen schweren rüstung'; wegen lo- in homer. fo-fWjQoi und
pindariscliem lo-yjaioa gegenüber ^oc vgl. ve.rf. Morphol. unters.
IV, 185, Aber eben weil -iuooo-q 'gross in etwas, sich hervor-
tuend durch ' an sich eine vox anceps et ambigna war, fand
440 OSTHOFF
bei dem damit gebildeten compositum notwendig ein in pejus
abire seines sinnes statt, wenn die bedeutung des ersten gliedes
darnach angetan war. So bei bomer. vXaxo-f/coQo-g 'gross im
bellen, d. i. durch bellen unangenehm auffallend'; nachhomer,
otP('c-(icoQO-c 'schädlich, naschhaft', zu einem '^oirrjf. 'heimliches
beschädigen', 'naschen', vgl. olvojjcu praes. Also wenn bei
Ebeling, Lex. Homer. I, 334 a. 596 b. nach dem sprachge-
brauche, nicht auf dem dort betretenen etymologischen wege,
sich die begriffsbestimmungen 'permultus in jaculando', 'qui
permultus est in jaciendis sagittis', 'qui permultum latrat'
ergeben, so sind eben diese es, die durch unsere darstellung
die etymologische bestätigung erhalten.
Es zeigt sich das in rede stehende griech. -{iwQo-g fast
zu einem suffix verblasst; die Griechen werden kaum noch
etwas anderes empfunden haben als z. b. bei vXax6-[i(OQo-c.
* wahrsch. blosse abltg. von vXaxtj ohne zstzg.', die es nach
Passow, Handwörterb. 11^ 2, 2042 b. sein sollte. Auch darin
nun gleicht so vollständig als möglich dem -(wjqo-q das formal
identische kelt. '*märo-s 'gross'. Im irisclien und cymrischen
ist dieses geradezu suffix geworden, indem es nach Glück,
Kelt. nameu 77. 80 ff. anm. entweder mit vielen anderen bei-
wörtern verbunden zur Verstärkung ihrer bedeutung dient oder
an hauptwörter angefügt die function der lat. endung -usus
ausübt. Das letztere z. b. in air. cenn-mär 'grosskopf, capito'
(zu cend cenn m. 'köpf, haupt'), ir. aos-mhar, gäl. aos-mhor
'grandaevus, antiquus' (zu air. aes m. 'aetas'), mittelir. ed-mur
'eifersüchtig' (= gall. JanUi-märus nom. pr., zu air. et 'eifer'),
ir. glör-mharj gäl. glor-mlior (zu air. gUnr aus lat. glüria ent-
lehnt), ir. neart-mhar^ gäl. neart-mhor, cymr. nerth-fawr 'potens,
validus, robustus, fortis' (= gall. Nerto-märus nom. pr., zu air.
nert n. 'kraft, macht'), Q,ym\\hndd-fanT (zu büdd, ix\v. büaid n.
'sieg'), g wer th- füll r 'pretiosus' < '*verto-märo-s\ das erstere in
air. ardd-mär 'sehr hoch' {j'ird adj. 'hoch'), cymr. cJod-fawr <
*cloto-märo-s (zu clod, air. cloth adj. 'berühmt', vgl. ahd. Hlodo-
mär nom. pr,), doelh-fawr 'persapiens' < *doclo-märo-s (zu
doelh aus lat. doclus entlehnt), mwyn-fawr 'percomis, perurbanus'
< '*meno-nmro-s (zu rmvyn = min adj.). 'Owen stellt in sei-
ner grammatik [A grammar of the welsh language s. 66. 67j
marvr geradezu unter die adjectivendungen. Ist dies auch un-
ETYMOLOGICA T. 441
richtig, so ersclieint es doch in der tat wie eine ableitungs-
silbe.' lieber das allgemeine wesen solcher sprachprocesse,
wie der entwickelung des compositionsgliedes griech. -ficogo-g,
kelt. *-märo-s zum derivationssuffixe, vergleiche man Paul,
Princip. d. spracbgesch.2 294 ff. Aehnliche entstehung von ab-
leitungen auf grund alter composition, die im sinne der latei-
nischen bildungen auf -dsus auftreten, liegt bekanntlich vor: in
nhd. jvitz-hold, trunken-hold, rauf-hold u. dgl. mit -hold als der
unbetonten form des adjectivs ahd. hald, mhd. halt 'kühn'; in
dem gebrauche von got. hardus^ shd. nhd. hart bei der Schöpfung
der Wörter wie mhd. nit-hart, lüg-hart und besonders bei vielen
romanischen nachahmungen derselben, Italien, hugi-ardo, l'miju-
ardo , cod-ardo = franz. couard, vecchi-ardo = franz. vieillard,
franz. criard, fuyard, hlanchard u. a. mehr (Diez, Gramm, d.
roman. spr. 11^, 385 f.).
Zur gewinnung der nackten wurzel von germ. *mceru-z,
slav. -meru und dazu griech. -^coqo-q, kelt. *mUro-s — ob indog.
me-^ mö- oder mer-, mar- — weist uns die gradationsbildung
des air. ?ndr 'gross' den weg: f}iäo, mäa {möo, möa) compar.
'grösser, mehr', rnäam superl. (Zeuss-Ebel, Gramm, celt.'- 277,
Windisch, Kurzgef. ir. gramm. § 183 s. 43). Das -r- in den
positivstämmen war darnach nicht wurzelhaft, sondern gehörte
nur der themenableitung an. Air. mäo compar. weist wol zurück
auf *mä-{l)üs < '*mä.-iös nom. sing, masc, während dagegen
das -a der nebenform mä-a wie der ähnlichen li-a 'mehr', si-a
'länger', ö-a 'jünger' der erklärung noch grössere Schwierig-
keiten macht.
Man hat nun mit air. inäo 'grösser' bereits unsere grada-
tionsfoi men mehr, meist, d. i. got. mais adv., m.aiza adj. compar.
'grösser', maists superl. 'grösster', anord. meir{r) meire, mestr,
ags. ?nä mära, nuhst (über den umlaut — northumbr. noch mäst
= nengl. 7nost — s. Holthausen, Beitr. XI, 556), asäehs. mer
mero, mest, ahd. mer mero, meist, in Verbindung gebracht, jedoch
gewöhnlich nicht ohne die unhaltbare Voraussetzung eines
gutturalausfalles in ihnen und eines Zusammenhanges mit aind.
mahiyän, mahishtha-s, griech. iitL^cov ((leiC^wr), fiiyiozo-g, lat.
fnagis, major (dieses notwendig für *magjös oder '*-mahjös,
wegen des für ursprüngliches intervocalisches jod geltenden
ausfallgesetzes im lat.). So Pott, Wurzel-wörterb. III, 984, Fiek,
442 OSTHOFF
Vergleich, wöiterb. l\ 709. IU\ 227. Das richtige lehrte aber
dem gegeuüber schon Windiscli bei G. Curtius, Grundz. d.
griech. etym.^ 32S: 'Die keltischen Wörter für gross, altir. w^<r,
mör, cymr. ?nanT, zeigen keine spur eines gutturals und stam-
men von w. ma. Dazu der compar. altir. ftiäo, mö, corn. moy
cymr. mw?/ major (wie skr. däv-iijas zu dü-rä fern), identisch
mit got. mais] superl. altir. mdani, cymr. mwyaf (Z.2 270. 299).'
Den letzten gescheiterten versuch, die hypothese von dem unter-
gegangenen guttural (palatal) in got. ma'is^ maiza, maists laut-
gesetzlich zu rechtfertigen, machte J. von Fierlinger, Kuhns
zeitschr. XXVII, 478 f. aum. In dem gradationsschema, das
got. mikils, anord. ?nikell, ags. ?nicel, asächs. f/iikil, ahd. ?nihhi/
mit got. maiza, maists u. s. w\ bilden, sowie in demjenigen des
adverbs anord. ?njgk : meir{r), mest sehen Braune, Got. gramm.^
§ 138 s. 57, Althochd. gramm. § 205 s. 180, Noreen, Altisländ.
und altnorweg. gramm. § 354 s. 141, §350 s. 143 und Sievers,
Angelsächs. gramm.- § 312 s. 140, ebenso Paul, Mittelhochd.
gramm.- § 141 s. 55 bei mhd. michel : merer, meiste, mit recht
'defective comparation' (nach Noreens ausdruck, besser wäre
noch: suppletorische), insofern als die zu griech. //fc'/a, //f/fdo-,
aind. juähi gehörigen positive anord. jnjok, mikell, got. mikils
mit den für ihre Steigerung dienenden formen etymologisch
nichts mehr zu tun haben, als bei uns viel oder sehr mit
mehr, meist.
Das auf den ersten blick befremdlich erscheinende resultat,
dass mehr, meist formal als die regelrechten gradationsbildungen
zu dem positiv got. -mers in ivaila-mers, zu dem hochd. -mär
der eigennamen zu betrachten seien, haben wir, was hervor-
zuheben vielleicht nicht unzweckmässig ist, nicht auf grund
irgend einer neuen etymologie unsererseits ermittelt, sondern
lediglich auf dem wege, dass wir schon vorgefundene combi-
nationen anderer gelehrter nach näherer begründung derselben
unter sich in Zusammenhang brachten und daraus die con-
sequenzen zogen: ^^ui. -mers, ahd. wa// zu 'mx: mär 'gross' nach
Glück und Fick; zu air. mär der comparativ wao, mäa\ zu
diesem got. maiza,, maists nach Windisch.
Auch für germ. *maf-ru-z : got. ma-iza, ma-ist-s gilt die
von Windisch gezogene parallele des aind. dü-rä-s : ddv-tydn,
däv-ishthu-s. Man vergleiche aber weiter: aind. kship-rä-s :
ETYMOLOaiCA T. 443
kshep-iyän kshep-ishiha-s , cak-rä-s : cäc-ish/ha-s, cuk-rä-s : cöc-
ishtha-s, cuhh-rü-s : cöbh-ishiha-s, cü'-ra-s : cäv-ishlha-s, gr. aiöy-
Qo-g : alox-icoi' aiöx-ioro-g, tyß-Qo-g : tx&-icov £x&-iüTO-g, y.vö-
q6-q : xvö-lcov xvd-iöTO-g, f/ax-Qo-g : fiäööov fiTjx-iOto-g, oixr-
Qo-g : olxT-iöTO-g. Sodann aind. ug-rä-s, avest. ug-ro : compar.
aind. öj-iyän, avest. aoj-yäo : superl. aind. dj-isJitha-s , avest.
aoj-ish'io; aind. a-cn-rä-s 'unschön, hässlich', avest. sri-rö 'schön' ;
compar. aind. cre-yän : super), creshtha-s, avest. sraesJi to (für ein
aind. *criy-ishthä-s, avest. '"'•sriy-ish'td nach dem comparativ um-
gebildet')); gr. "^-jikri-QO- in JiXrj-Q-yjg^ \sit. ple-7'U-s (plen-que) :
compar. aind. prä-yas neutr. adv., avest. fra-yäo, gr. jtXk-coiy
(< '*jth']-{i)a)v), alat. ple-ör-es, p)lous plus (< '^'pleus <, ple-os
< '^'ple-{f)os), air. li-a, anord. fleire (= got. '■'"fJa-iza) : superl.
avest. fraesh'tö (< indo-iran. '-'"jjra-ishthä-s, s. u.), gr. jiXs-
tOro-g (< ^JcXyj-iöTO-g, s. u.), anord. fJestr (= got. '''/la-ist-s);
lat. se-ru-s 'spät', air. si-r 'lang, ewig' ; compar. air. si-a.
Lauter Verhältnisse, in denen die mit dem 'primären' indog.
comparativ- und Superlativsuffixe gebildeten steigeruugsformen
einen positivstamm mit ;--suffix begleiten. Dass das letztere
in den genannten fällen immer -ro- ist, bei slav. -me-rü aber
und germ. '*mce'-ru-z zur seite von got. ma-iza, ma-isl-s vielmehr
das seltenere suffix -reu-^ wie etwa auch in aind. pc-ru-sh
'schwellend', hhi-rü-sh 'furchtsam' (Lindner, Altind. nominalbild.
§ 80 s. 103 f.), erscheint, tut nichts zur sache; haben wir ja
doch auch mit -;-e/-stammbilduug der positivform das Verhältnis
aind. hhü'-ri-sh 'reichlich, viel', ntr. adv. bhü'-ri : hhü'-yän
compar., bhuyishiha-s suj)erl. (für '''•bhiw-is/i/hd-s zufolge Umbil-
dung nach dem comparativ), sowie analog avest. tig-ri-sh' m.
pfeir (und tig-rö adj. 'spitz') neben aind. tej-lyän, tej-ishtha-s.
Wegen der äusseren ähulichkeit von anord. meire, mestr
= got. maiza, maisis mit anord. /leire^ flesti- — zur entstehuug
>) Lebte etwa das lautgesetzliche aind. *-^riy-ish(/i((-s noch fort an
den neun ligvedastellen, wo nach (Jrassnianu, Wörterb. z. rigv. 1431 f.
für das überlieferte ncshijia- des textes aus metrischen gründen drei-
silbiges *i;rdijishlha- substituiert werden soll? Die gleiche Vermutung
eines superl. prii/-islUjid-s für das dem compar. prc-yas neutr. nach-
gebildete preshijxa-s (zu priy-ä-s posit. 'lieb, erwünscht') könnte statt
haben für die elf stellen des rigveda, denen Grassmann a. a. o. 894 die
form *präyishtha- zuweisen will.
Beiträge zur geachichte der deutscheu spräche. XIII. 30
444 OSTHOFF
von mest7' und flestr aus '^meistr, *ßeislr vgl. Noreen, Altisländ.
u. altuoiweg. gramm. § 1 1 1 s. 45 — liegt es am nächsten, die
formalen Verhältnisse dieser letzteren dem sprachgebrauche
nach zu anord. margr 'mancher' sich stellenden gradations-
bildungen vergleichsweise herbeizuziehen und näher zu beleuch-
ten. Der vergleich ist um so mehr angezeigt, als wir jetzt
wissen, dass für mehr, meist von einer basis indog. me-, wie
dort von indog. plc-, auszugehen ist.
Bremer in diesen Beitr. XI, 11 ff. zieht hauptsächlich oder
eigentlich nur aus anord. fleire, flestr die folgeruug eines laut-
gesetzes, nach welchem aus einem indog. e'i unter allen um-
ständen germ. ai geworden sei. Richtiger schon verfährt Brug-
mann, Grundr. d. vergleich, gramm. I § 142 s. 127 f., wenn er
nur für die 'unbetonten Schlusssilben' einen lautvvandel von
indog. -ele- zu germ. -ai- statuiert; freilich legt derselbe ge-
lehrte a. a. 0. I § 116 s. 109 f, § 611 s. 463, § 614 s. 466 im
Widerspruch damit und offenbar im sinne der Bremer'schen an-
schauung den anord. fleire, flestr dennoch ein indog. ■^•ple'is- zu
gründe. Auf die nach der germanischen wurzelbetonungsregel
nicht haupttonigen nebensilben beschränkt sich meines erach-
tens der eintritt von germ. -ai- für ursprüngliches -^/- und
-eij- durchaus und ist hier durch die Zwischenstufen urgerm.
^-äT/-, *-«/■-, beziehungsweise ■^■-a'ii-, ^-äü- vermittelt worden.
Z. b. in got. habais, hahaip = ahd. habes, habet, verglichen
mit lat. habr-s, habet (< '-'habet), für indog. '*khabhe'-ie-si^
*khabhe'-i^e-ti > urgerm. '''•'läbafnzi, *xä^ce'ii'bi (Burghauser, Indog.
])raesensbild. im german. 11); in go\. armaiö L 'barmherzigkeit'
aus urgerm. '''•ärmoTlön. Weder Bremer aber noch irgend ein
anderer hat bisher den zwingenden beweis erbracht, dass in
got. saiip (saijip), ahd. säit 'er sät' nicht die strict lautgesetz-
liche entsprechung von abulg. sejett und fortsetzung von indog.
*se-ie-ti > germ. ^'safübi uns vorliege.
Es haben Bremer und Brugmann, indem sie in anord.
flestr < *fleistr = got. '-^flaisls ein indog. *pleisto-s sahen, auf
griech. jiXtiöTOQ, das freilich für '^-jThflöTog steht (verf Philol.
rundschau 1881 sp. 1593, Brugmann, Iwan Müllers handb.
d. klass. altertumswiss. II, 29, Grundr. d. vergleich, gramm. I
§ 611 s. 463, Gust. Meyer, Griech. gramm.2 § 298 s.288), zu ein-
seitige, dagegen auf das avest. fraeslitb superl. 'der meiste,
ETYMOLOGICA I. 445
mächtigste' gar keine rücksicht genommea. In dem letzteren
kann nicht ein indog. *plcisto-s vertreten sein, da dieses viel-
mehr zu avest. ^frdish'td geführt haben würde; andererseits
vermag doch fraesh'to augenscheinlich als der unmittelbare
refiex von anord. flestr- = got. '^/laisls zu gelten. In an-
betracht .der ursprünglichen endbetonung des Superlativs und
der damit band in band gehenden tiefstufigkeit der ersten
silbe der superlativformen (ßrugmanu, Kuhns zeitschr. XXIV, 99,
Kluge in diesen Beitr. VIII, 519 ff., Job. Schmidt, Kuhns Zeit-
schrift XXVI, 384, verf. Z. gesch. d. perf. 448 anm. 449. 450
anm.) dürfen wir avest. frahlito =^ anord. fleslr < germ.
'^ßaistö-z unzweifelhaft auf einem indog. '*plv-lslö-s (» = 'schwa
indogermanicum') beruhen lassen; indo-iran. ai = avest. ae
ist normaler Vertreter von ursprünglichem »/ nach Hübschmann,
D. indog. vocalsyst. 16. 21 ff. 24. 68. 79 (vgl. auch Brugmann,
Grundr. d. vergleich, gramra. I § 109 a. s. 102). Für das grie-
chische wäre als anfänglich dagewesene superlativform ein
'^jiXa-iöro-Q zu erwarten; dieses ist jedoch frühzeitig durch
ein nach analogie des comparativs *jTXtj-{i)G)v > jtltmv neu-
geschaffenes *jth'j-iOTO-g > tcXhötoq verdrängt worden (vice
versa dann später der comparativ griech. jildcov nach jtXttaroQ
superl.). Umgekehrt aber ergab im germanischen die aus-
gleichung zwischen der niederen uud der höheren gradations-
form ein got. '*ßaiza = anord. fleire nach massgabe des superl.
'^ßa-ist-s = anord. ßeslr. Das ursprüngliche abstufungsver-
hältnis wahrt eben nur das avestische mit fräyäo compar.
neben fraesh'to superl. = indog. '"^-ple-iös, *plr)-istö-s.
Aus altlat. ploirufne 'plürimi' C. I. L. I, 32 wäre kaum
die berechtigung abzuleiten, in dem diphthong von avest.
/raesh'to und germ. *ßaistö-z := anord. ßesir vielmehr ein indog.
oi zu erblicken. Wenn der verfertiger der alten Scipionen-
grabschrift sein oino etwa bereits Uno{m) sprach unter beibe-
haltung der etymologischen Schreibweise, konnte er das un-
mittelbar nachfolgende ploirumc für gesj)rochenes ^p/ürime in
'umgekehrter Schreibung' setzen; desgleichen wären ploeres,
ploera aus anderer archaistischer quelle (Corssen, Ausspr.
vokal. 12, 702. 709 anm. 711) phonetisch nur = piUres, plüra.
Aehulich ist andererseits ou in inschriftlichem couraverunl
(Corssen a. a. 0. P, 668) für w < oi (vgl. paelign. coisatens und
30*
446 OSTHOFF
altlat. coira coh'Uuit, coerae coerävit, Corssen a. a. o. I-, 708 f.")
zufoli>-e 'umgekehrter Schreibung' eiogetreten, nach dem ver-
leitenden vorbilde nemlicli von plous, plouruma, auch douco
u. dgl., als diesen bereits der ausspräche nach nur mono-
phthongisches ü = graphischem und etymologischem ou zukam.
Analoges bei L. Havet, Mem. de la soc. de linguist. IV, 410.
Das pliir- in plUr-es, plür-irnJ selbst dürfte einzig dem neutr.
sing, plus, alat. p/ons < indog. *pli' -ws (vgl. oben s. 443,
Gust. Meyer, Zeitschr. f. d. österr. gymn. 1885 s. 282) ent-
nommen sein. Mehrfacher deutuug kann die andere altlatei-
nische form plisima 'plurima' (Fest. p. 205, 17 Müller) unter-
liegen: wäre plis- = (vorrhotacistischem) plJs- für *pleis- <
indog. *plc-is-, so läge der suffixschwache stamm des compa-
rativs indog. '^ple'-lös (vgl. ple-ör-Ps) zu gründe; vielleicht ist
aber plishna auch nur altertümliche Schreibung für ein *pUssma,
zu welchem plUrima oder dessen ausgangsform '"^plonzimä durch
den einfluss der gewöhnlichen Superlativbildungen auf -issimus
umgemodelt sein würde.
Was auf grund der vorherigen ausführungen über die for-
malen Verhältnisse der gradationsbildungen von indog. ple- für
got. *flaiza, '^ßaists = anord. fleire, flestr gilt, haben wir nun
zur beurteilung des vocalismus von got. maiza, maisis anzu-
wenden: d. h. der comparativ hat auch hier sein ai von dem
Superlativ maist-s = indog. '''■tnv-istö-s übernommen. Für maiza,
ahd. 7nero wäre lautgesetzlich ein got. ^•maiiza {*maißza), ahd.
*mäiro zu fordern, nach massgabe eben von got. sai{j)ip, ahd.
satt 'säet' und bei Zugrundelegung von indog. *me-les- als
Stammform; das mit *me-ies- im suffixablaut stehende altindog.
*me-is- dagegen hätte sehr wahrscheinlich durch '*meis- hin-
durch zu einem got. *meisa. ahd. *rinso geführt, da ja das
vocalkürzungsgesetz auch dem germanischen zuzuerkennen ist
(verf. Philol. rundschau 1881 sp. 1595).
Im altirischen sollte — denn die Verschiedenheit der
Stammbildung und wurzelablautuug des i)Ositivs urkelt. *mä-ro-s
(< indog. *mü-ro-s = griech. [8-/iE6'L\-poi-Q0-!i) von germ. '^mce-
ru-z, slav. -me-ru ist ohne belang für die formation des 'pri-
mären' comparativs mit -iös — es statt mäo, mäa 'grösser'
eigentlich '*7nio, *mia lauten; vgl. lia, sia von indog. ple-, se-.
Hier ist füglich anzunehmen, dass nach dem positiv air. mar
ETYMOLOGICA T. 447
sich tiiäo (daraus dann möo^ mö nach s. 436), mäa statt der
lautgesetzlichen *mio, *mia eingestellt haben.
10. Oheim.
Nach einer auf mehreren indogermanischen gebieten zu
beobachtenden sprachsitte gewinnen die vülker unseres Stammes
ihre bezeichnungen des 'oheims', d. i. zunächst des 'mutter-
bruders', zumeist oder doch mit Vorliebe aus derjenigen des
'grossvaters mütterlicher seits'. Jedoch die einzelnen in ver-
schiedener weise.
In preuss. aw-i-s 'oheim', abulg. u-jt 'avunculus' {uß-ka f.
'amita') erscheint ein indog. '•^'•au-w- mit dem nom. sing, '^au-i-s
(Brugmann, Grundr. d. vergleich, gramm. I § 84 anm. 1 s. 81),
also im gründe eine adjectivische bildung mit dem bekannten
die Zugehörigkeit, herkunft, abstammung u. dgl. ausdrückenden
Suffix -w- {-Ho-), das auch aind. piir-ya-s, griech. jiärQ-io-c,
lat. patr-iu-s hat; das Stammwort für ^mi-h- 'gross väterlich',
welches letztere denn auch in air. «?<^, öa 'enkel' < ^avio-s Aqü.
descendenten zweiten grades bezeichnen kann (Windisch, Kuhn's
beitr. z. vergl. sprachf. VIII, 434 anm.), war natürlich lat. avo-s
'grossvater'. Ebenso für lit. aw-ijna-s 'onkel, oheim, der mutter
und des vaters bruder', das sich in suffixaler hinsieht zu kaim-
ijna-s 'nachbar' {ki'cma-s 'dorf, hof) und zu den bei Schleicher,
Lit. gramm. § 51 s. 121 und Kurschat, Gramm, d. litt. spr.
§ 289 s. 87 genannten jit^giexrixa wie akmen-ijna-s ' Steinhaufen',
ang-ijna-s 'natternest', herz-ipia-s 'birkenhain' stellt, d. i. sub-
stantivierten adjectiven mit dem alten herkunfts- und stoff-
adjectiva bildenden indog. -ino- (vgl. oben s. 403); also lit.
atv-yna-s eigentlich auch 'der vom grossvater abstammende'
oder 'aus grossvaterstoff bestehend'. Lat. avun-culu-s 'mutter-
bruder, oheim' ist einfach deminutivisch 'der kleine gross-
vater', knüpft übrigens bekanntlich nicht sowol an das 0-
stämmige avo-s an, als vielmehr an ein nebenthema ^avon-
(vgl. honmn-culu-s, lenun-culu-s , sermim-culu-s u. a.), dem durch
anord. äe ' urgross vater' = got. '*arva, gen. ^arvin-s (vgl. auch
got. awd f. 'avia, grossmutter', dat. sing, airön) sein höheres
alter zugesichert wird. Uebrigens hat eben aus avun-culu-s
als 'oncle maternel' L. Havet, Mem. de la soc. de ling. VI, 20
den richtigen rückschluss auf die grundbedeutung von avo-s
448 OSTnOFF
gemacht, dass dieses, obwol historisch für 'grossvater' über-
haupt, übertragen für 'ahn, ahnherr, vorfahr' gebräuchlich,
ehedem auch nur hm dcgre de parentc maternelle' ausgedrückt
haben müsse.
Wenig ausbeute in der angedeuteten morphologischen rich-
tung ergeben cyrar. e?vithr und e/ra 'oheim väterlicher oder
mütterlicher seits', acorn. euiter, bret. eonlr, jedoch so viel,
dass wir das alte ?i-thema des grossvaternamens von lat.
avun-cidu-s und anord. äe darin widererkennen. Im wesent-
lichen das richtige über die bildung dieser keltischen formen
bemerkte schon Diefenbach, Vergleich, wörterb. d. goth. spr.
I (184G) s. 83, dessen auffassung mir durch Thurneysen be-
bestätigt wurde. Darnach ist cymr. enm, das bis heute als
blosse koseform in familiärem redegebrauch dient, 'nur ver-
kürzt aus e)viihr\ also nicht alt; andererseits gehen die voll-
formen aller drei britannischen dialekte zunächst zurück auf
ein ''''even-tr oder *evin-tr, das mit umlaut aus einem *aven-(r
entsprang und in dessen -tr (nom. sing. *-/fr) man anlehnung
an die verwantschaftsnamen mit indog. -ter {-ter-, -tr-) zu
sehen hat. Welche ableitung aber vor dieser suffixanbildung
bestanden habe, um die beziehung zu '^aven- 'grossvater' zu
markieren, ist nicht auszumachen.
Am originellsten erscheint die germanische weise, das
wort oheim aus der bezeichnung des mütterlichen grossvaters
zu gewinnen, vorausgesetzt dass der folgende erklärungsversuch
als ein gelungener wird gelten können. Dass für die west-
germanische sippe von ags. eam, afries. em, ndl. oom, ahd. mhd,
oheim 'mutterbruder' Kluge im Etym. wörterb. die gotische
entsprechung in der form *anhaims regelrecht erschliesst, lässt
zwar den auch sonst schon längst, z. b. von Diefenbach a. a, o.,
vermuteten Zusammenhang des ersten wortteiles mit lat. avo-s,
avun-culu-s^ anord. äe, got. awö deutlicher hervortreten, hat aber
im übrigen noch nichts zur lösung der hier obwaltenden mor-
phologischen Schwierigkeiten beigetragen. Die von einigen,
wie Lexer, Mittelhochd. handwörterb. II, 148, beigebrachte Ver-
mutung, im hinblick auf nhd. frauen-zimmer könne b-he'm als
'onkels heim' gefasst werden, weist Kluge mit recht ab. Cor-
recter wäre auch nur ein aufgestelltes 'grossvaters heim'' ge-
wesen, und so hat schon ansprechender MüUenhoff, nach einem
ETYMOLOGICA I. 449
mir vorliegendeu collegienheft über Tacitiis Germania aus den
6Uer jähren, o-heim bahuvrihisch als 'den im hause des gross-
vaters wohnenden' gedeutet.
Gegen die im sinne von frauen-zhnmer unternommene er-
klärung spricht sich auch Singer in diesen ßeitr. XII, 214 aus,
glaubt aber in veranlassung davon die Kluge'sche erschliessung
des got. *auhaims verwerfen zu müssen: für das -elm von bhelm
bleibe, wenn 'onkels heini' nicht angehe, nur übrig es als ab-
leitung zu nehmen, als solche könne es dann aber nicht goti-
schem ^-aims entsprechen, da got. ai in unbetonter silbe zu
ahd. c werde. Das heisst doch offenbar das kind mit dem
bade ausschütten. Kann denn nicht -lieim immerhin composi-
tionsglied bleiben, indem es nur ein anderes nomen, das mit
heim Svohnung, haus' äusserlich zusammenfiel, darstellt? Aller-
dings wurde in o-heim gerni. got. ai nicht zu ahd. e nach der
für die Stammsilben des zweiten teiles der composita (vgl.
namentlich das suffix -heit = got. haidus), jedoch überhaupt
für schwere mittelsilben mit stärkstem nebeuton, wie in ahd.
agaleizi, araheit = got. uglaitei, arbaips u. dgl., geltenden
vocalgestaltuugsregel. Den einfall Holtzmanns, der Altd. gramm.
I, 1, 243 öheim zweifelnd zu got. auhuma 'höher' stellte, hätte
als einen lautlich und begrifflich ganz ungenügenden Singer
lieber nicht der Vergessenheit entreissen sollen.
Von got. '''au-haim-s aus gestatten die germanischen laut-
gesetze die weitere reconstruction eines urgerm. ''äu-^/iaimo-z
oder vielmehr noch "^äu-xainio-z ') < *äun-xaimo-z < *dwu!j-
*) Mit . bezeichne ich, dem transscriptionsvorschlage Techiuers,
Internat, zeitschr. f. allgem. sprachwiss. I, 177. 182. 185 folgend, die
' apertura nasalis', die ja das urgeimanische wenigstens bei ä vor ■/ i°
lallen wie */'j7';(ö 'fahe, fange', */ji'/jJ ^hsixige' sehr wahrscheinlich noch
gehabt hat. Vgl. Sievers, Ags. gramm.- § 45, 5 s. 19, § ISiJ anm. 4 s. 77,
dazu Bremer, Beitr. XI, 15. Die aus dem u von ags. brvlite, ddhte ge-
zogene Sievers'sche Schlussfolgerung erklärt Brugniann, Grundr. I § 214
s. 183 fussn. mit verschweiguug eines grundes für 'nicht zwingend'. Dass
die notwendigkeit, auch noch nasalierte i/') ßZ- für das urgermanische
anzusetzen, nicht durch ebenso zwingende kriterien sich erweisen lasse,
hat schon Sievers selbst angemerkt; vgl. auch Noreen, Altisl. gr. § 53
anm. Man könnte nun den bekannten ablautsreihenwechsel von got.
peihan, ags. di'on, asächs. thi/ian, ahd. dihan und von got. preihan
(Joh. Schmidt, Z. gesch. d. indog. vocal. 1,52.53, Paul, Beitr. VI, 540,
450 OSTHOFF
'/ai-mo-s = indog. '"^änn-qomo-s. Die einzelnen hier statuierten
lautübergänge haben ihre ziemlich genaue parallele au der be-
kannten entstehungsweise des got. jühiza compar. 'jünger' <
*ju'yjzö < ^ju'axizd < *jü{w)u)jxisö .
Germ, '"^^aim- < '^awun- als die sehwache theraaform des
vou anord. äe, lat. aviin-culu-s und cymr. ewi-tr dargebotenen
alten ?j-stammes indog. ''^■anen-, '^murn- 'muttergrossvater' lässt
sich zur erklärung des ersten gliedes vou o-heim nicht ent-
behren; denn falls wir etwa ein urgerm. ''^•awo-%aimo-z oder
'*(iwi-xamo-z mit dem -o-/-e-stamme von lat. avo-s aufstellen
wollten, wäre die ausstossung des compositionsvocales, mittels
deren man zu *au- = ahd. o- zu gelangen hätte, bei der
kürze der vorhergehenden Stammsilbe eine mit den westger-
manischen synkoperegelu unverträgliche annähme.
Das Schlussglied *-qomo-s in dem als bahuvrihicomposi-
tum anzusehenden indog. '^äm-qomo-s = ahd. d-heini stellen
wir zu griech. tT-^ü) f. 'Schätzung, Wertschätzung', 'ehre', 'preis'
< indog. '''•qj-mu. Neben der Stammform *qi-ma- eine damit
in Wurzelablaut stehende phase indog, ^q(yj-ma-, gleichsam
griech. '^jroi-fiä- (vgl. rroi-v/j), vorauszusetzen, ist nach manchen
analogien unbedenklich (vgl. verf. Morphol. unters. IV, 127 ff.);
und von einem derartigen *qdi-nm ist das schlussglied des
indog. *äu73-qo'mo-s die erforderliche adjectivische Umformung,
wie -rffio-g in den griech. bahuvrihibildungen ä-, fityä-, jioXv-,
löo-Tifio-g u. a. diejenige von xTfirj.
Kluge, Etym. wörterb. unter dringen, gedeihen, verf. Z. gesch. d. perf.
49. 50 anm., Biugmann a. a. o.) dafür anführen wollen, dass hier reines i
im praesens schon urgerinanisch vorhanden gewesen sei. Aber die neu-
bildung der formen got. ga-pdih, ags. di^on, di^en, asächs. gi-lhigan,
ahd. deh, digi, gi-digan, andererseits got. */>rdih (vgl. praihun perf. plur.,
praihans part.) braucht doch nicht notwendig in die germanische grund-
sprache verlegt zu werden, (lerade die erhaltung so vieler -«(/-formen
bei diesen verben, nemlich ags. '^un^on, 'bunten (Sievers, Ags. gr.- § 383
anm. y s. 175), asächs. gi-lhungan, vollends die tatsache ihrer machtge-
winnung über die A-formen bei der Schöpfung der neuen praesenstypen
anord. pryngva, ags. d?in^an, asächs. Ihringa7i, ahd. dringaji lässt meines
bedünkens schliessen, dass hier im wesentlichen die alten ablautsver-
hältnisse urgermanisch noch intact waren, also etwa damals noch (mit
gotischen endungen) "pr/an, *pßx, '^pungum, -'pungans und *prr/an,
*prny_, *prungum, " prungans im schwänge waren.
ETYMOLOGICA I. 451
Der Wurzel (indog. qei 'schätzen, schätzen') von aind.
cäy-ale 'rächt, straft', eig. 'scliätzt für sich (den entgelt) ab',
äpa-ci-la-s 'geehrt, geachtet', {dpa) cdyaii praes. 'respectiert,
ehrt' (vielleicht, des vocalismus wegen, denom. für *cdy-aya-ti
mit ' Silbenausfall durch dissimilation'), dpa cikihi imper. 'nimm
rücksicht auf, respectiere', griech. t'l-vco 'büsse, bezahle', ri-vj
'schätze, ehre', «-rfro-c 'ungebtisst, unbezahlt', 'ungerächt',
'ungeehrt, ungeachtet', .-roXv-rfro-^ 'hochgeehrt', abulg. ci-U^
'zähle, ehre, verehre', abulg. russ. cmiü m. 'rangordnuug' hat
man bereits aus dem germanischen, als form gleichen ablauts
mit dem alten feminin avest. kae-na 'strafe', griech. jioi-vi]
'busse, strafe, entgelt, belohnung', abulg. ce-na 'preis', lit. kai-na,
das anord. hei-ti-r ra. 'ehre', angeschlossen (Fick, Vergleich,
wörterb. P, 34. 532). Dieses niüsste somit von anord. hei^-r 'hei-
ter, klar', heib n. 'klarer himmel' und dem westgerm. adj. ags.
hädor, asächs. hedar, ahd. hellar, mhd. nhd. /ieitet% sowie von
aind. ci(-rd-s adj. 'glänzend, strahlend, hell' nur weiter ent-
fernt werden, als es gemeiniglich geschieht (Fick a. a. o. IIP,
56, Kluge, Etym. wörterb. unter heiter), wenn auch nicht zu
verkennen ist, dass mit dem zu aind. ket-ü-sh 'helle, klarheit,
eischeinung, gestalt' gehörenden got. haid-us m. 'art, weise',
ags. hdd m. 'art und weise, eigenschaft, stand, geschlecht',
asächs. hedvü.i. 'stand, zustand', ahd. heil m. f. 'rang, stand',
mhd. heit f. 'art und weise, beschatfenheit' jenes anord. heitir
'ehre' bei alter fiexionsgleichheit (gen. sg. hei(5ar und jünger
heitirs, Noreen, Altisl. gr. § 269, 2) begrilfsberührungen hat. Auf
jeden fall aber käme wenigstens ein anderes altisländ. nomen
entschieden nur als verwanter der sippe von griech. x'ivco, zico,
Tifii], Jioivr'i und mithin auch des -heim in ö-heim in betracht:
das nach Cleasby-Vigfusson, Icel.-engl. dict. 247 a. obsolete und
auf die poetische spräche beschränkte anord. heib f. 'bezahluug,
besoldung, lohn', 'wert, preis' < indog. *qol-tn.
Scheint aber nicht sogar ein zu griech. rCfi)), -tr/io-j: ge-
radezu stimmendes *du-klmo-z für 'oheim' im german. noch
nachzuspukenV Ich habe die durch ihren umlaut merkwür-
digen formen im mittelhochdeutschen und auf niederdeutschem
gebiete im äuge: mhd. cehcim, ccheime, sowie auf mnd. ^ ceme
weisendes heutiges westfäl. ohnd in der Soester mundart, das
dort mit seinem oe selbst den tantennamen mhhxd an^-esteckt
452 OSTHOFF
hat nach IlolthauHen, Beitr. XI If, 3()7. Mein eigener heimats-
(lialekt (Billuieiich bei Unna) hat beides, is^owol oemo (und
mocnd) wie das Soestische, als auch ohne umlaut homd < niud.
nmc = mhd. oheimc] wobei homd als die gewähltere und vor-
nehmere form gilt. Auch Woestc, Wörterb. d. westfäl. mundart
ISS b. bringt öm und daneben o'^me aus anderen gegenden West-
falens bei.
Läge nun, was die unigelauteten formen anbetrifft, die an-
nähme fern, dass in früher hochdeutscher zeit — denn ahd.
oheim kann Ja sowol dem unigelauteten mhd. cehelm entsprechen
als das heutige umlautslosc nhd. wort und = ags. mm (< '*ea-
ham) sein — sich aus dem einst bestehenden flexionsbasen-
wcchsel d'heim- und *ce-kim- die compromissform cehehn heraus-
gebildet habe? Noch einfacher stünde es mit dem nd. oemd,
über welches mir dr. Holthauseu (Soest, 22. october 1887)
schreibt: 'Ich sehe jetzt erst, welche Schwierigkeiten diese
form macht, und würde ein as. •^oVr<;;j = Ihrem '^•au-h'uno-z ent-
schieden [anderen in dem briefe versuchten erklärungsweisen]
vorziehen, fast notwendig finden!' lieber die Umbildung in
die w-declination bei mhd. öheime, ceheime und mnd. öme,
westfäl. eomo, oe?nd {p^me) s. unten s. 450.
Als grundbedeutung von oheim hätte sich somit ergeben:
entsprechend wie griech. d^üö-Tino-Q 'eines gottes ehre ge-
niessend, wie ein gott geehrt' ausdrückte, so germ. *äu-xaimo-z
(^äu-Mmo-z) = indog. ^dm-qomo-s {^mu-qimo-s) 'grossvaters
Schätzung habend, in dem ränge des grossvaters stehend'. Der
'kleine grossvater' bei den Römern steht hiergegen an würde
der bezeichnung zurück.
Von dem intimen und engen Verhältnis, welches im ger-
manischen altertum vorzugsweise von allen vervvanten der
mütterliche onkel zu den neffen einnahm, legt Tacitus wert-
volles und bekanntes zeugnis ab, Germ. 20: 'sororum filiis idem
apud avimculum qui ad patrem honor\ quidam sanctiorem ar-
tioremque hunc nexum sanguinis arbitrantur'. Die vielbe-
sprochene stelle enthält nach übereinstimmender auslegung der
Philologen und rechtshistoriker den hinweis auf den uralten
brauch, welchen das in vorhistorischer zeit bei den Germanen
und wol noch höher hinauf bei den Indogermauen geltend ge-
wesene mutterrecht mit sich brachte: wie nach dem tode des
ETYMOLOGICA I. 453
Vaters eine unverlieiratete Schwester in gewalt und schütz des
bruders iibcrgieug, so war dieser auch zur pflicht und ehre
der Vormundschaft über die kindcr einer verheiratet gewesenen
berufen, wofern der zunächst in betiacht kommende mütter-
liche grossvater nicht mehr am leben war. Vgl. Kritz zu
Tac. Germ. 20, besonders aber Schweizer -Sidler z. d. st. in
seiner kleineren ausgäbe der Germania und in dem commcntar
der Baiter-Orelli'schen Tacitusausgabe vol. II fasc. 1 p. 42;
ferner die von Schweizer-Sidler angeführte ältere rechtsge-
schichtliche litteratur, dazu von neueren L. Dargun, Mutter-
recht und raubehe und ihre reste im germanischen recht und
leben, Breslau 1883, in Gierkes Untersuch, z. deutschen staats-
u. rechtsgesch. XVI, 21 f. Die nach Schweizer-Sidler 'echt
indogermanische anschauuug, die sich im lateinischen worte
avu7iculus, im litauischen awijnas, mutterbruder, und, wie Diefen-
bach richtig ahnte, im ersten teile des deutschen ö-heim (mhd.
Geheim) widerspiegelt', erhält nun auch durch den zweiten teil
dieses o-hehn, nachdem dessen herkunft ermittelt rst, eine
schöne beleuchtung. Dass die ehrenvolle Stellung der sororura
filii apud avuneulum als notwendiges correlat die hohe Wert-
schätzung des mutterbruders durch die neften haben musste,
ist klar, und so ist in den Worten des auch hier sich kurz
ausdrückenden culturhistorikers unserer vorzeit gewiss im-
plicite enthalten, dass ^avuncidö idem apud sororum filios qui
patri et avö (mortuis) honor\ Wie das im alten farailienrecht
begründete nahe Verhältnis zwischen mutteroheim und nefte
durch manche Zeugnisse in geschichte, sage und brauch der
germanischen Völker bestätigt wird, so deutet insbesondere auf
die ranggleichstellung des ersteren mit dem avos der umstand
hin, 'dass es gar häufig in der sage vorkommt, dass nicht nur
der grossvater, sondern auch der mütterliche olieim das recht
hatte den namen zu geben'. Aehnliches wird zu der Tacitus-
stelle im anschluss an Kraut, Vormundschaft I, 44 f. auch von
Müllenhoff in dem s. 448 f. erwähnten vorlesungsheft ausge-
führt, wo unter anderm die bcmcrkung sich findet: 'Der oheim
galt also dem neften wie der grossvater zu achten'. Zur ety-
mologie übrigens von lat. avos selbst und anord.y^/e möchte ich
hier fragen, ob nicht der grossvater mütterlicherseits als 'schützer'
der enkel, der er eben zunächst (der väterlichen verwant-
454 OSTHÜFF
Schaft gegen über und sonst) nach dem alten mutterrechte war,
bezeichnet gewesen sei; vgl. aind. ^^i;-^/-// 'fördert, hilft, schützt',
ävas n. 'förderung, beistand', avest. avö n. 'hilfe, schütz'.
Für bahuvrihizusammensetzungen, wie ö-heim eine ist, gilt
als die allgemeine nach dem sanskrit gewonnene grundsprach-
liche betonuugsregel: 'Der accent liegt auf dem vordergliede'.
Vgl. Garbe, Kuhns zeitschr. XXIII, 502 ff., Whitney, Ind. gramm.
§ 1295 s. 47(), Leop. Schröder, Kuhns zeitschr. XXiV, 104 f.,
Wheeler, D. griech. nominalacc. 43. Demgemäss haben wir
unser indog. '■^äm-qoimo-s mit betonter erster silbe angesetzt;
denn an ein *ann' -qoimo-s mit haupttonigkeit des tiefstufe
repraesentierendcn sonantischen nasals wird man doch nicht
denken wollen. Zur vergleichung im accent böten sich hier
etwa indische bahuvrihis mit w-stämmen im vordergliede wie
grava-hasla-s, brähma-jyeshtha-s^ sama-lejäs dar. Es muss aber
im urgermanischen wegen des -li- von bheim zur zeit des Wir-
kens von Verners gesetz die accentstelle in diesem worte doch
schon unmittelbar vor dem -li- (-x-) gewesen sein, *ätvm3-
Xaimo-s also damals bereits zu *äut3-xamo-s geworden sein.
Und widerum die gleiche annähme erfordert ja auch got. ju-
hiza\ denn so sicher dieses einmal in viersilbiger lautgestalt
und dabei mit comparativischer anfangsbetonung als '^jürvwj-
Xisö bestanden hat (vgl. Verner, Kuhns zeitschr. XXIII, 127,
Kluge in diesen Beitr. VIII, 520), ebenso sicher kann es nur
in einer verkürzten dreisilbigen wortform, als *juHxisö oder
Vß'yßö, von dem Verner'schen gesetz angetroffen sein. Der
bekannte ausfall des w vor u, den wir für formen wie got.
ahd. Htun 'neun', goi. juggs, anord. ungr, ags. geong, asächs.
2i\\di.jung (= aind. yuvacä-s, \2ii. juvencu-s) und got j'unda 'Jugend'
(= \?i\. juventa) annehmen (Paul, Beitr. VI, 162 ff., verf. Morph,
unters. IV, 306. 312. 316, Brugmann, Grundr. d. vergleich, gramm.
1 § 179 s. 157), weist sich also nicht nur, was schon vermutet
wurde, als ein bereits urgermanischer, sondern auch sogar als
ein der Wirksamkeit der Verner'schen lautverschiebungsregel
zeitlich vorausliegender sprachgeschichtlicher act aus. Wenn
neuerdings W.Schulze, Kuhns zeitschr. XXIX, 271 für got.
stiur diesen w- ausfall annimmt, um es dann als zwei-
silbiges sti-ur mit kurzer endsilbe -ur hinzustellen und so als
ausnähme (hinsichtlich des fehlenden nominativ-^) von Braune,
ETYMOLOGICA I. 455
Got. gTamm.2 § 78 anm. 2 s. 33 (=3 g^ 34) 2.11 beseitigen, so
ergibt sieh das hier als etwas unhaltbares: mag auch ein ur-
urgerm. *siefvuro-z = aind. sthävira-s adj. 'breit, dick, derb,
massig' zu gründe liegen, so gieng doch jenes nur als '-'"steuro-z
oder urgot. ^stiura-s mit einsilbigkeit des stlu- in die einzel-
dialektische sprachentwickeluug über.')
Unter eidam deutet Kluge im Etym. wörterb. die möglich-
keit an, dass von ags. dcium, afries. ätlnim, ahd. eidiwi, mhd.
ekle?» 'die scheinbare ableitung -mit der von o/ielm vielleicht
verwant ist'. Besonderen suffixalen anklang an das letztere
könnte man nur in der ahd. nebenforra eideim sehen, die von
Graif, Sprachsch. I, 156 in einem einzigen belege aus den gl.
Lindenbrog. (10. jahrh.) aufgeführt wird. Nun hat jedenfalls
Singer, Beitr. XII, 214 aus diesem eide'mi zu viel gemacht zum
zwecke der formalen deutung von öheim. Wäre die existenz
des eideim als gesichert zu betrachten, so müsste es wol local-
mundartlich irgendwie durch suffixanbildung an öheim zu stände
gekommen sein. Aber ein solcher Vorgang hätte kaum grosse
Wahrscheinlichkeit gehabt, denn der eidam und der oheim sind,
ob wol beide verwantschaftswörter, doch nicht gerade solche,
die begrifflich einander näher stehen und daher zur formaus-
gleichung gegenseitig sich besonders reizen könnten. Mau
wird gut tun, einstweilen mit Braune in der redactionsnote zu
Beitr. XII, 214 die correctheit der Überlieferung des einmaligen
eideim in zweifei zu ziehen.
Wichtiger und sicherer nachweisbar ist formaler und sema-
siologischer austausch zwischen oheim und anderen verwant-
schaftsbezeichnungen, solchen, die als wirkliehe begriffscorrelate
dazu sich verhalten, wie insbesondere nefl'e 'schwestersohn'.
1) Möglicherweise ist aber ein bereits synkopierter noui. sing. *sliurs
im got. wider zweisilbig geworden, etwa zu einem *sliu-urs der aus-
spräche nach, indem sich auf das consonantische r bei seiner Stellung
nach dem abfallend betonten diphthong iu ein neuer silbenictus legte.
Das hätte ein analogon an der neuhochdeutschen entwickelung von aus-
lautendem -r zu -er in fällen wie geier, sauer, feucr = mhd. gtr, sür,
viur (Paul, Mittelhochd. gramm - § 2(3 s. 12); denn unstreitig hängt hier
das spätere zweisilbigwerden auch eausal mit der ueuhochd. diphthongie-
rung der alten monophthongischen längen mhd. z, ü, iu (= « ) zusammen.
Auch so wurde sich denn got. stiur nom. sing., als eigentlich sliu-ur,
der Braune'schen regel fügen.
456 OSTHOFF
Ich uiüchte deu übertritt von oheim zur ?ideclination in mhd.
ohehne, ceheime und mnd. ome^ und. westfäl. homd, benid (s. oben
s. 452) als analog'iebilduug- nach der flexion von ne/fc, mhd.
niud. neve (im westfälischen jetzt verloren) erklären. Doch
nicht nur darnach allein: in mhd. vetei^e, veler, mnd. veddere
' Vatersbruder', dann auch in dem feminin mhd. muome, mnd.
7iidme (mö^nie, möne, moine) 'muttersch wester' hatte der oheim
als 'mutterbruder' paarbegriff liehe ergänzungen in anderer art,
die seineu anschluss an die 'schwache' declination veranlassen
konnten. Wenn im mittelhochdeutschen oheim {ceheim, oheime,
(ßheime), ebenso mnd. ow, otne, gelegentlich auch selbst den
'neffen, schwestersohn' bezeichnet (Mittelhochd. wörterb. II, 1,
435 b., Lexer, Handwörterb. 11,148, Schiller-Llibben, Mittel-
niederd. wörterb. III, 227), so gehört das in die rubrik des
crsatzgebrauches, nach dem umgekehrt auch mhd. neve für den
S)heim' und überhau])t verwautschaftsnamen im germanischen
so oft für die mit ihnen corresi)ondierenden begrifi'e eintreten.
Vgl. Kluge, Etym. wörterb. unter hase, eidam, neffe, nichle,
oheim, Schwager, vetler\ auch Lexer, Mittelhochd. handwörterb.
1,2239 und Schiller-Lübben, Mittelniederd. wörterb. 111,110
über mhd. muome, mnd. 7nöine als 'weibliches geschwisterkind',
'weibliche anvcrwautc' überhaupt. Entweder brachte es die
gemütlichkeit altgermanischen familienverkehrs vielfach so mit
sich, dass ein dem alter und ränge nach übergeordneter ver-
wanter freundschafts- und namensaustausch mit dem jüngeren
eingieng, was vornemlich bei geringeren altersunterschieden
leicht eintreten konnte; oder die ursprünglich engeren bedeu-
tungen der verwantschaftswörter mochten auch auf dem wege
sich lockern, dass, entsprechend einem noch heute in bäuer-
lichen und kleinstädtischen kreisen geltenden brauche, die ver-
traulich ehrende anrede zu freigebig nähere verwantschafts-
grade an entfernter oder kaum noch verwante personen er-
teilte.
lieber die in mittelhochdeutschen quellen begegnenden
formen von oheim mit auslautendem -n, ohain^ oehein und an-
dere Varianten bei Lexer, Handwörterb. II, 148, vergleiche man
Paul, Mittelhochd. gramm.^ § 84, 6 s. 34. Wenn aber im spät-
althochd., mittelhochd. und mitteld. auch sonderbare formen
mit anlautendem h-, höheim, lueme, bestanden (Graff, Sprachsch.
ETYMOLOGICA I. 457
I, 132, Mittelhochd. wörterb. a. a. o., Lexer a. a. o.), so dürfen
wir, glaube ich, für diese die kindersprache unserer altvordern
verantwortlich machen, die aulaut an inlaut assimilierte oder
lautversetzung vom wortinneru auf den wortanfang- vornahm,
wie CS ihr eigen zu sein pflegt; der gute onkel hat sieh auch
diese naniensverdrehung von den sprachunfertigen kleineu
neffeu und nichteu gefallen lassen müssen.
11. Germ, saljan, gr. IXuv, Xutqov.
Philol, rundschau I (1881) sp. 1591 habe ich griech. tXuv,
hXtöd^ai aor. 'nehmen' für verwant mit lat. velle und deutschem
ivoUen, 7vählen ausgegeben. Dieser etymologie des griech. verbs,
gegen welche schon der mangel aller sicheren digammaspuren
bei sehr häufigem vorkommen in den homerischen gedichten
spricht'), hätte Gust. Meyer, Griech. gramm.^ §241 s. 240 nicht
zustimmen sollen; sie wird jetzt vollends hinfällig durch die
grosse gortynische Inschrift, auf der IXtjv, tXorxa, tXövoi, tXo-
fiivco, dv-sX/jTca, JtaQ-kX?j II, 34. 37. 44. III, 4. 10. VI, 48. 52.
X, 40 ohne /- sind, während sonst das kretische dieses denk-
mals anlautendes digamma noch durchaus festhält.
Aber ein sei- kann die wurzel des l).-tlv wol gewesen
sein, dXo^' für 'H-6eX-o-r stehen mit Übernahme des spiritus
asper von den nicht augmentierten formen. Dann ist ver-
gleichung möglich mit got. saljan 'als opfer darbringen', anord.
selja, ags. sellan, afries. sella, asächs. sellian, ahd. mhd. seilen
'übergeben', ahd. sala, mhd. sal f. 'rechtliche Übergabe eines
gutes', mhd. sal m. 'vermächtni's' (nlid. in sal-buch = mhd.
s//l-buodi), ahd. fi(?--seli f. 'Überlieferung, verrat'; dieser germa-
nischen Wortfamilie, zu der man lit. siülau, smlyli 'anbieten',
pa-siUla f. 'angebotenes, anerbietung' nur mit nichtachtung der
vocal Verhältnisse stellt (Fick, Vergleich, wörterb. 11-, 481. 673.
IIP, 319 f.).
Die bedeutungen von griech. IXhv^ IXiod-ai 'nehmen' und
germ. saljan 'übergeben, einhändigen' vermitteln sich einfach.
^) An wenigen stellen hebt sich der scliein des digammatischen
anlauts durch leichte textiinderungen. So ist z. b. II. /iMlS avö(/ ^^l^eZv
statt uvÖQa iXtlr, O 71 "l?.ior ctmvr i?.o(ev für ainv tloi^v (vgl. Faesi-
Kayscr z. d. st.) zu lesen.
458 OSTHOFF
wenn man nur den formalen cbarakter dieses letzteren in be-
tiaebt zieht, demgemäss es ja causativum oder factitivum ist:
salja < indog. ^solew Mcb lasse nehmen, mache dass jemand
nimmt', daher 'ich übergebe', zu einem starken verbum got.
'''sUan 'nehmen' = tlnv, wie got. nasja zu ga-nisan, fra-atja
zu fra-üan u. dgl. mehr. Das 'rechtskräftige übergeben' wird
zu einem 'verkaufen' bei saljan in: anord, selja, das auch
'verkaufen' ausdrückt, anord, sal n. und sala f. 'verkauf,
handel', engl, io seil 'verkaufen', asächs. gi-sellian 'als kauf-
preis hingeben' (neben far-kbpdn Hei. 4580. 4809), md. ver-
seilen 'verkaufen, verhandeln' bei Nie. Jerosch. (Mittelhochd.
wörterb. II, 2, 34 a., Lexer, Handwörterb. III, 224), 'Verkaufen'
(d. i. 'kaufen lassen') : 'übergeben' = 'kaufen' : 'nehmen'; und
so gewinnt man auch von dieser seite eine die vergleichung
des saljan mit griech. tlav 'nehmen' rechtfertigende begritfs-
parallele an lat. emo 'kaufe', eig, aber 'nehme' und so in ad-imo,
demo, ex-imo u, a. (vgl. Paul. Fest. 76, 4 Müller '■ einer e^ quod
nunc est mercari, antiqui accipiebant pro sümere^), dazu umbr.
emantur 'sumantur', air. w-/ö-/m/m 'suscipio', abulg. ?m^, lit.
imh 'nehme', auch got. 7iifna 'nehme' (verf. Z. gesch. d. perf. 142,
ßezzenberger in seinen Bcitr. X, 72).
Eine nominalbilduug mit tiefstufenvocalismus von indog,
sei- 'nehmen' möchte ich nun noch in griech. ^a-r()o-^ n. 'sold,
dienstlohn, arbeitslohn' erkennen, wovon XatQ-i-g m. ' Söldner,
tagelöhner, diener' und als entlehnung lat. latro m. 'mietling,
Söldner', übertr. 'freibeuter, räuber' (G. Curtius, Grundz. d.
griech. etym.^ 363, 0. Weise, D. griech. Wörter im lat. 31. 325.
446, Saalfeld, Tens. italogr. 612 ff".). Dieses Xargov mit Curtius
und Weise an ajco-Xavco 'geniesse', Xtjig 'beute' (für '^Xäf-ic),
lat. lucrum, got. laun 'lohn', abulg. lovu 'jagd, fang' anzu-
schliessen, verbietet sich ja oifenbar des vocalismus wegen.
Nach unserer auffassung stünde XätQov vielmehr für *oXcc-tqo-v
= indog. *sl-tro-m 'entnommenes, empfangene besoldung', und
das wäre begriff'licherseits zu .stützen durch aQvvfiai 'trage für
mich davon, erwerbe, empfange, bekomme', insbesondere 'be-
komme als preis, als lohn oder belohnung', [iioihov aQvvoB-ai
Plato, f/iöl^-uQvo-g und iiiOih-äQvri-q 'der lohn empfangende,
tagelöhner, lohnarbeiter'. Auf nhd. sold, mhd. soll m. 'lohn für
geleistete dienste', 'gäbe, geschenk, Unterstützung' und 'was zu
ETYMOLOGICA T. 459
leisten ist, schuld, pflicht, dienst', das erst seit 1200 im mittel-
hochd. auftritt, macht allerdings romanisches sprachgut als
quelle, nemlich Italien, soldo, franz. sou, d. i. eigentlich der
münzname lat. solidus, mlat. soldus 'Schilling, löhnuug' — franz.
sohle f. 'lohn' erst wider aus dem deutschen — gegründeten
anspruch; und für die doppeldeutung des mhd. Wortes pflegt
man den einfluss des verbums sollen^ mhd. soln anzurufen
(Lex er, Mittelhochd. handwörterb, II, 1055, Kluge, Etym. wörterb.
unter sold). Die an sich nun mögliche deutung des sold als
eines germanischen erbwortes aus indog. *sl'-to-s 'empfange-
nes, rechtlich bekommenes' wird somit wol zu unterbleiben
haben.
12. Schaden, gr. aoxtjd-rjg.
lieber die sippe von got. skapjan 'schaden, unrecht tun',
ags. scet5<5an 'schädigen', ahd. scadon, mhd. schaden dass., got.
skapis n. 'schaden', anord. skat5e, ags. sceat^a, asächs. skabo,
ahd. scado, ndl. mhd. schade m. nom. ag. ' Schädiger, feind'
und (in einzelnen dialekten) abstr. 'schaden, verderben, nach-
teil' bemerkt Kluge, Etym. wörterb. unter schade, dass dazu
noch nichts vervvantes aus anderen indog. sprachen gefunden sei.
Die vergleichuDg von griech. d-öxfj&fjg adj. 'unversehrt,
unverletzt, wolbehalten', das von Homer an der epischen und
epigrammatischen dichtung eigen ist, hat wol hauptsächlich
deshalb nicht allgemein befriedigt, weil sie gewöhnlich mit
vielem wüst von unbrauchbarem verquickt vorgebracht wurde
(vgl. Schweizer-Sidler, Kuhns zeitschr. XVII, 306, 0. Schade,
Altdeutsch, wörterb. 771 a.), andererseits auch vielleicht wegen
formaler bedenken nicht. Das dem griech. compositum zu
gründe liegende neutrum '''öxädoq 'Verletzung, Schädigung',
mor])hologi8ch zu got. skapis stimmend, entspricht im ablaut dem
])erf. got, sköp, ags. scöd (sceod) und den nominen anord. sköb n.
'ungcmach, elend, schädliches ding', skce'tir adj. 'schädlich'.
Der consonantismus findet seine rechnung beim ansetzen einer
iudog. Wurzel skath- mit tcnuis asi)irata, unter der griech. -i9--
uud germ. -p- sich ja nach den Kluge'schen regeln (Kuhns
zeitschr. XXVI, 88 fl:, vgl. auch Brugmanu, Grundr. d. vergleich,
gramm. I § 553 s. 408) wol vereinigen.
Beiträge /.iir gearliiohte ilor deutschen spräche. XIII. 31
460 OSTHOFF
13. Stehlen und hehlen.
In got. stilan, anord. stela, ags. asächs. ahd. sielan steckt
"eine specifiseb germ. wz., welche dem gr. öt^qiöxo^ 'beraube'
nur ungenau entspricht". So Kluge, Etym. wörterb. unter
stehlen. Ja, noch weiter geht Fick, Vergleich, wörterb. IIP,
347, indem er unter abweisung von oteqioxo), öteqsco, örtQO-
fiai die begritflicli gar nicht einleuchtende combination von
gr, "öTtXXttv zusammenziehen [d. i. vielmehr 'ein kleid zu-
sammennehmen, die segel einziehen' u. dgl.j, aroUa falte"
vorzuschlagen wagt. Anders jedoch noch Fick, Spracheinh. 383.
Es wird bei der vergleichung der griech. r-formen sein
bewenden haben dürfen, wenn wir erwägen, dass hehlen, ags.
ahd. helan, fries. heia 'geheim halten, verbergen', dem gemäss
der vervvantschaft mit lat. celare, oc-culere^ dam, air. celini 'ver-
hehle', gr. yMliä 'hütte, Scheune' altes / zukommt, schon in den
germanischen urzeiten mit stehlen, dem zeitwort für das 'heim-
liche wegnehmen', ebenso geläufig in formein und redensarten
des alltäglichen lebens verbunden auftreten mochte, wie uns
heute der stehler und der um kein haar breit bessere hehler
unzertrennliche kumpane sind. Wenigstens in der mittelhochd.
litteratur gehört nachweislich das paar- und reimweise zu-
sammenfassen von heln und stein zu den allergewöhnlichsten
Stilmitteln und Spracherscheinungen. So in: 7iu helnt und
steint] der da vei'hilt der ist ein diep als rvol als jener der da
stilt\ hei er si7it steler] swä ein diep den andern hilt, dane
rveiz ich weder me stilt] wir mähten Sünden vil v er st ein, wolle
uns der tiiwel helfen heln; der shi yeferte muoz verheln und
vor den Hüten wil versteht daz leheii und den namen sin; daz
mein daz wir unz hiute der werlte haben vor verstoln, dazn
wil niht me sin verhohi; unverstoln und unverholn. Vgl.
über diese und weitere belege Mittelhochd. wörterb. I, 675 a. b.
676 b. II, 2, 634 a. b. 635 a. b.
Diese gewöhnung, denke ich, wenn sie sehr alten datums
war, konnte es mit sich bringen, dass schon in der periode
der germanischen Spracheinheit ein '*sleran die wurzelanbil-
dung — nach Scherer, Z. gesch. d. deutsch, spr.^ s. XIV und
s. 214 'Wurzelübertragung' (vgl. über das wesen des Vor-
ganges auch J. Franck, Anz. fda. XI, 14) — an helan er-
ETYMOLOGICA I. 461
fuhr. Daher stelan mit /. Vielleicht hat auch helan — sei
es vor oder nach der formalen anbildung ■ — auf *steran bezw.
stelmi den einfluss gehabt, dass der nebensinn des 'heimlich-
tuns, heimlichvollbringens', insbesondere auch von 'heimlich
sich wegbegeben', in letzteres erst hineinzog. Ich meine die
eigentümliche gebrauchsweise wie in engl, to steal a marriage
'heimlich heiraten', to steal into 'sich einschleichen', to steal
lipon 'überfallen', to steal one's seif arvmj = nhd. sich weg-
stehlen. Aehnliches im nihd., wo auch kumher stein, minne
stein (Mittelhochd. wörterb. II, 2, 634 b., Lexer, Handwörterb.
II, 1173), und damit übereinstimmend ags. hine hestelan 'clam
se subducere' (Ettmüllcr, Lex. anglosax. 730), sowie anord.
stela-sk 'to steal in or upon', stelask frä 'to steal from one
auother' (Cleasby-Vigfusson, Icel.-engl. dict. 591 b.); wornach
kaum zu bezweifeln ist, dass solche Verwendung von stelan
im germanischen hoch zurückreicht. Aber griech. oteqsco, öre-
QiOxco kennen sie nicht und bezeichnen nur das einfache, auch
offen geschehende 'rauben, berauben'.
14. Triefen, air. druchl.
Ags. dreöpan^ asächs. driopan, ahd. triofan, mhd. triefen
'tropfen, triefen', ndl. druipen dass., dazu ahd. mhd. irouf m.,
mhd, troufe i. 'traufe', anord. drope^ ngs. dropa^ a&ächs. dropo,
ahd. tro//'o und tropf o, mhd. tropfe m. 'tropfen' führen auf eine
Wurzel des indog. ablauts dhrenb-, dhnmb-, dhrüb- (in ndl.
druipen aoristpraes.), dhrüb-. Der letzten stufe wird auch air.
drucht 'tau, tautropfen' angehören, indem es ein grundsprach-
liches *dhrup-lu-s oder *dhrup-ti-s widerspiegelt. Wegen -cht-
als urkeltischer entwickelung von indog. -pt-, z. b. in air. secht
'Septem', wecÄ^ 'neptis', vgl. Windisch, Kuhns beitr. VllI, IG f.,
Kurzgef. ir. gramm. § 36 s. 9, Brugmanu, Gruudr. d. vergleich.
gramm. I § 339 s. 272.
15. Zwerch, gr. jtQajiiöfq.
Wenn den griechischen ürztcn (Galen) öiäcpgcq^a 'Scheide-
wand, querwand' das brustfell, die quer durch den leib gehende
und die brusthöhle von der höhle des Unterleibs scheidende
starke haut, bezeichnet, so ist das eine ähnliche vorstellungs-
31*
462 OSTHOFF
weise, wie sie in unserem zwerch-fell zu gründe liegt. Eine
ähnliche auch bei dem discretörium des Caelius Aurelianus,
völlig die gleiche bei iränsversum saeptum des Celsus, womit
diese Kömer den griech. terminus zu verdrängen suchten, ohne
erfolg freilich, wie die romanischen sprachen zeigen.
Sollte nicht entsprechendes schon hinter dem viel älteren
griech. worte für 'Zwerchfell' zu vermuten sein, hinter den
schon homerischen jtQajriÖtg fem. plur., seltener und später
(Find., Eurip.) auch jiQajcig sing., übertr. als vermeintlicher sitz
aller geistigen regungen 'gedanken, sinn, verstand, neigung,
gefiihl, herz'? Dann könnte der versuch einer formalen ver-
mittelung mit unserem adj. zwerch (quer) angezeigt erscheinen,
denn dass in dem wurzelhaften teile jtqccx-, wenn man -Qajr-
= indog. -rq- setzt, schon viel lautliche Übereinstimmung mit
got. Jjwairh-s 'zornig', eig. 'quer', anord. pver-r 'quer, hinder-
lich', ags. bweorh 'verkehrt', a.h(\. dwerah, twerh 'schräg, quer',
mhd. dwerch, ttverch, md. querch 'schräg, verkehrt, quer' be-
steht, ist unverkennbar. Die vergleichung von jcQajiiötq mit
lat. corpus, aind, k7'p f. 'gestalt, erscheinung, Schönheit', die
L. Havet, Mem. de la soc. de ling. VI, 18 vorschlägt, kann ich
aus begrifflichen gründen nicht gutheissen.
Die germanischen formen für 'zwerch, quer' weisen auf ein
indog. '''•luerqo-; im got. ist pwairha- und '*ptvairhi- = indog.
*tnerqe- zu gunsten der ersteren Stammform ausgeglichen, das
abgeleitete fem. abstr. /'wairÄd 'zorn' sollte lautgesetzlicher als
^pwairlvei erscheinen. Vgl. Kluge, German. conjug. 42 ff., verf.
in diesen Beitr. VIII, 281 ff. Für das griech. wäre von einem
mit *luerqo- im ablaut stehenden '*üirqö- auszugehen.
Es fragt sich: was wird im griech. aus dem ursprüng-
lichen anlaut rfg- oder überhaupt aus dieser lautgruppe?
Einen anhält, den einzigen, so viel ich sehe, geben formen des
Zahlwortes 'vier'. In TttQaöi dat. (homei-. und poet.), zerQarog
(vgl. iit. ke(w)r/as, abulg. relvritt/ß), rirgd-xig, r£TQa-x6öioi,
xtTQa- als anfangsglied zahlreicher com])osita ist inlautend
-t/()- zu -tq- geworden. Bei rQä-7rtC,a, da es = urgriech.
^jirjQä-jihdnc < '•'•qr/Qa-jitdla ist, liegt als uralt der anlaut
qrfQ- vor. Vgl. Joh. Schmidt, Kuhns zeitselir. XXV, 44 ff.,
Gust. Meyer, Griech. gramm.^ § 400 s. 370 f. Die fälle sind
also dem für jTQajTig anzunehmenden, wo es sich nur um ehe-
ETYMOLOGICA I. 463
maliges im anlaut gestandenes rfQ- handeln kann, nicht völlig
conform.
Dennoch ist in anbetracht eben von rga-xtL^a, wenn hier
sogar ein qrJ-Q- sich zu rfg- > tq- reducierte, nicht abzu-
sehen, wie so ein einfacheres ursprüngliches rfQ- an sich nicht
den gleichen wandel in tq- hätte erfahren sollen. Aber 'singu-
läres wird singulär behandelt'. Und das 'singulare' der Sach-
lage bestand bei einem ur-urgriech. *TfQaqö- 'quer' darin, dass
nach einem alten rf- im anlaut der ersten ein -q-, d. i. -k'"-,
im anlaut der gleich folgenden zweiten wortsilbe stand. Was
wunder, dass aus dem *t/()«;c"'o- durch vorausnähme der guttu-
ralen (velaren) artikulation im wortinnern, welcher der mit /
in t/- grosse lautähnlichkeit habende labialparasit uachschlug,
zunächst ein *xfQax''6-, daraus dann ^jiQajxo- wurde? Wir
nehmen jetzt wol allgemein einen ähnlichen Vorgang bei lat
coquo für *quequö und qulnque, wo indog. *peqö, '^peuqe vor-
ausliegen, an; vgl. Ph. Bersu, Die guttur. und ihre Verbindung
mit V im lat. 62 anm. 186, Brugmann, Grundr. d. vergleich,
gramm. I §431 s. 322 (anders noch über quinque verf. Morphol.
unters. 1, 94). In dem uns beschäftigenden griech. falle mochte
die veranlassung zur assimilation der anlauts- au die inlauts-
gruppe so zu sagen noch dringlicher als in den beiden latei-
nischen erscheinen, weil dort die aufeinanderfolge von rf- und
noch einem consouanten, der liquida -q-, der ausspräche be-
sondere Schwierigkeiten darbieten musste.
Die annähme eines zu dem germ. '^pwcryj)- 'zwerch, quer'
stinmienden griech. adj. '■^jxQanö- hat für 7iQajx-[(S-i.c, auch den
wert, dass sie das innere -n- zu erklären hilft; denn wenn
dieses = urspr. indog. -q- ist, müsste es vor l lautgesetzlich
als -r- auftreten, wie in ric, und rtrcü, rr////. Von '^ütQano-c. ist
jiQaji-iq abgeleitet wie z. b. von dfn'o-i^ df^iv-'iq, djuteXo-g
afiJttX-lg, ajiXöo-g ajiko-tg, OrQorfo-g öTQocp-ig, (pcÜMQO-g <pa~
XäQ-ig u. dgl. mehr.
HEIDELBERG, den 1. dez. 1887. H. OSTHOFF.
BEHAGHP]LS ARGUMENTE FÜR p:iNE
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE.
in der schiift: 'Zur frage nach einer mittelhochdeutschen
Schriftsprache', Basel 1886 (sonderabdruck aus der festschrift
der Universität Basel zum Heidelberger Jubiläum), ist Otto
Behaghel zu dem resultat gelangt: *Es wird also doch bei
der annähme einer mhd. Schriftsprache sein bewenden haben
müssen', s. 18. Diese entscheidung ist belangreich genug, um
eine sorgfältige priifung der einzelnen argumente Behaghels
und seiner Schlussfolgerungen zu rechtfertigen. 'Die einzige
unbedingt zuverlässige grundlage der forschung bilden die Ur-
kunden, vorausgesetzt, dass bei ihrer Verwertung gewisse vor-
sichtsmassregeln nicht ausser acht gelassen werden. •) Mit dem,
was aus diesen denkmälern zu entnehmen ist, müsste verglichen
') Es fragt sich, was darunter zu verstehen ist; a. a. o. schränkt
Bcliaghel die (doch erst zu beweisende) absolute giiltigkeit der Urkunden
als quelle für die lebeudige Volkssprache dahin ein, dass er aufzeich-
iiungen, welche volle endvocale auch an stelle ahd. kürzen zeigen, vom
beweisuiaterial ausschliesst. Ich glaube nicht, dass damit alle vorsichts-
massregeln erschöpft sind. Von grösster Wichtigkeit wäre gewesen, festzu-
stellen, ob und wie weit wir der Orthographie überhaupt vertrauen dürfen,
wenn es sich darum handelt, mit phonetischen lautwerten zu operieren.
Es ist von vornherein sehr wahrscheinlich, dass ein orthographischer
usus geherrscht haben wird; verirrungen sind nur zu vermeiden, wenn
es gelingt, das Verhältnis, das zwischen diesem orthographischen usus und
den lautformen besteht, klarzulegen. Am zuverlässigsten ist das meiner
meinung nach nur möglich aufgrund lautgeschichtlicher Studien
im gebiete der betreffenden mundart. Ich bemerke, dass ich im folgen-
den vorzugsweise vom (süd-)schwäbischen ausgegangen bin, um so mehr
als ich eine umfassendere Untersuchung über die historische entwick-
lung eines schwäb. localdialekts seit längerer zeit in angriff genom-
men habe.
KAUFFMANN, MITTELHOCHD. SCHRIFTSPRACHE. 465
werden was die reime und der innere bau des verses für die
spraclie der dichter erschliessen lassen', s. 5. In diesem sinne
hat Behaghel die Untersuchung aufgenommen; dieselbe be-
wegt sich auf dem gebiete der lautlichen und flexivischen
merkmale.i)
Er stellt s. 6 für das alemannische, einschliesslich des
schwäbischen, den satz auf: 'Nur die kurzen flexions-
vocale des althochdeutschen sind im mittelhochdeutschen zu
dem irrationalen c geworden; die langen vocale bestehen bis
tief in das 13. Jahrhundert als volle vocale fort und sind
noch gegen 1300 nicht völlig in den irrationalen vocal über-
gegangen'. Bezüglich der chronologischen Schlüsse ist doch
der alte zweifei zu erheben, ob denn die Orthographie der
Schreiber genau sehritt gehalten hat mit den Veränderungen
im lautstande. Mir ist wenigstens eines sehr bezeichnend. In
schwäbischen Originalurkunden, die ich auf dem Staatsarchiv
in Stuttgart eingesehen habe, dringt die diphthongierung der
mhd. J, U etwa erst vom jähre 1510 ab in der Schreibung
durch, bereits von den öOger jähren des 15. jhdts. an sind
aber einzelne ci nachweisbar und zwar in der art, dass ein-
und dieselben Wörter an einem und demselben orte, in denen
nach Zeugnis einzelner papicre di])iithong gesprochen worden
sein muss, in der weitaus überwiegenden zahl der Urkunden
noch mit i geschrieben werden. In Horb z. b. 1463 zcyt,
zeylten, weys, tveyssen u. a. gegen stark überwiegende zi(^
wis etc. gleichzeitiger und späterer Urkunden. Ich glaube, man
wird gut tun, für die Umformung einer Orthographie auf grund
eines veränderten lautstaudes mehrere decennieu in aurecli-
*) Es wäre lohnend, die syntaktischen formen der litenitur-
denkniäler in ähnlicher weise mit denen der geschäftssprache des täg-
lichen lebens zu vergleichen, wozu die oft sehr ausführlichen Urkunden
zusammen mit der entwicklungsslufe heutiger dialektsyntax reiches
material liefern können. Es erhebt sich die frage , ob die (unbestreit-
baren) syntaktischen ab weichungen von der volksraässigen , land-
läufigen ausdrucksweise für eine über den muudarten stehende literatur-
sprache geltend gemacht werden können oder müssen. Ein Verfasser
kann sich durchaus der mundartlichen laute und flexioneu bedienen, aber
sehr willkürlich, d. h. kunstmässig von den syntaktischen formen
der mundart sich emancipieren, für seinen stoff und seine Situationen
sie sieh umgestalten.
466 KAUFFMANN
nuug zu bringen. Aehnlicli verhält es sieh mit dem terminus
ad quem. Behaghel gelaugt zu dem Schlüsse, dass noch gegen
1300 die vollen endvocale gesprochen worden seien, weil um
diese zeit die a, 0, u, i der eudungen sehr viel seltener wer-
den. In den von mir eingesehenen Urkunden des 13. und 14.
Jahrhunderts besteht überhaupt kaum eine dififerenz im procent-
satz der vollen endvocale zu den ' geschwächten' 1), so auch
Pfeiffer, Freie Forschung s. 333 f.
Ich sehe ferner von den bei Birlinger, Die alem. spräche
rechts des Rheins s. 154 f. gegebenen beispielen ab (vgl. z. b.
priorhmn 1342. widun 1383, hoson 1465 u. v. a.) und bemerke,
dass die 0 der superlativendung -ost (vgl. Birlinger a. a. 0.
s. 160 u. a.) das ganze 15. jhdt. hindurch im datum üblich
sind: zwaintzigosten 1420. sechziyosten 1460 etc., ferner 143D
der ersamen frowun {geü. sg.) gewerof U7id bezalt. \Ai9 dieselbmi
zway pfwLd u. a. Der schreibusus hält an, nachdem die buch-
staben ihren nenn wert längst verloren haben. Darin liegen
Schwierigkeiten, die meiner meinuug nach bei beurteilung der
frage nach einer Schriftsprache noch nicht deutlich hervor-
gekehrt worden sind. Wir haben in vielen fällen keinen ein-
zigen anhaltspunkt oder beweis dafür, wenn wir, in der regcl
von der heutigen gemeinsprache geleitet, einen buchstaben mit
diesem oder jenem phonetischen wert versehen. Wie grosse
vorsieht erforderlich ist, möchte ich an folgendem beispiel ver-
anschaulichen: Schon in ahd. periode finden wir nicht selten
für n > 0", ou geschrieben, vgl. z. b. Denkmäler^ 582. 616.
Weinhold, Bair. gram. s. 103. Mhd. gram. s. 83. Braune, Ahd.
gram. § 45 anm. 5 u. a. Besonders häufig ist diese Orthographie
in der Vorauer handschrift, vgl. Waag, Beitr. XI, 123. 143. 153
u. a. Diese selbe Schreibung erscheint weiterhin in den schwä-
bischen Urkunden und entspricht durchaus dem heutigen laute
Schwab, ao (auch = mhd. o?<), der entsprechung von ahd. ö.
Ich sehe mich auf grund dieses tatbestandes genötigt, bereits
im 10. 11. jhdt. wenigstens fürs schwäb. eine entwicklung von
1) Vgl. z. b. auch aus den von Bartsch veröffentlichten Engelberger
denkmälern Germ. 18, 66 ff.: zügon, unkehilot, ha/sschkgi/on, bereginol,
rilerschol, gemiesot, valterlot, hanlsclüegolon {plaudo), brahtosl, manon,
hatlosl, die im 14. Jahrhundert aufgezeichcnt sind.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 467
ö : 0" unter gewissen andern orts näher auszuführenden be-
dingungen zu coustatieren. ^Yas hindert uns anzunehmen, dass
z. b. der Sehwabe Heinrich von Rugge nicht gebot : tot 99, 1. 2
sondern geholt : to'^t, erko"s : ver!o"s 103, 12. 14. gro"z : geno"z
106, 7. 9 u. s. w. gesprochen und gereimt hat? Was verbietet,
dem buchstabeu o den lautwert ö" beizulegen? In diesem
sinne ist die frage nach einer mittelhochdeutschen literatur-
sprache neben der lautgeschichtlichen eine in eminentem sinne
orthographische. Es muss auch für die Untersuchung der reime
der mhd. denkmäler immer strenger das Verhältnis der buch-
stabeu zu den betr. lautwerten festgestellt werden; von den
heutigen mundarten aus ergeben sich bei systematischer be-
handlung der einzelnen lautvorgänge in vielen fällen mehr als
wahrscheinliche resultate.
In den von Behaghel angezogenen fragen handelt es sich
nur um die lautwerte der endsilbenvocale. Auch hiefür
wäre es eine sehr dienliche auskunft, wenn wir über die heutige
lautung in den obd. mundarten in allen stücken zuverlässig
orientiert wären. Wenn nach Behaghels meinung in denselben
z. b. ahd. -ä lautgesetzlich bis ins 13. jhdt. in seiner klang-
farbe erhalten geblieben ist, also lliohtera (zweimal) a. 1292
(s. 8) unmittelbar etwa Notkers nom. pl. -ä entspricht, wenn
andererseits Birlinger a. a. o. s. 154 berichtet, dass heute noch
im Allgäu a rein gesprochen werde in dötra töchter, muoddra
mütter u. s. w. könnte mau versucht sein, an eine crhaltung
der alten klangfarben bis heute zu glauben, wenigstens in ge-
wissen isolierten strichen. Da nun zudem nach der ansieht
Behaghels die 'analogiewirkung' bei der Verbreitung der irra-
tionalen -e eine sehr wichtige rolle gespielt hat, wäre es sehr
wol denkbar, dass an vereinzelten orten auch umgekehrt auf
gruud des vollen vocals ausgeglichen worden wäre, und wenn
wir davon kenntnis hätten, wäre es für die entscheidung von
durchschlagender Wichtigkeit. Allein wir werden im folgenden
nur selten in der läge sein, heutige lautstufen nutzbar machen
zu können. Ich behandle die einzelnen enduugsvocalc ge-
sondert, und werde ausser den Urkunden auch eine anzahl
'literaturdenkmäler' heranziehen.')
*) Ich habe allerdings nur eine auswahl getrulieu und nicht alles
468 KAUFFMANN
I. Ahd. -ö- der endung:
a) Die schwachen -öw-verba (vgl. Weinhold, AI. gr.
§ 357 f. 361 ö"). Der tathestand des materials ergibt, vgl.
Kehaghel s. 15, dass von der ältesten zeit ab fast überall neben
den -o-himen auch solche mit -e- auftreten. Ich verzichte hier
die belege Behaghels noch einmal anzuführen. Von den Ur-
kunden zunächst abgesehen, findet sich in der von Birlinger
Germ. 18, 186 ff", publicierten (schwäbischen) Deutschen Fran-
ciscauerregel des XIII. jhdts. ein einziger inf. SivX -on {hezzeron
s. 193), sonst durchweg -en (z. b. hezzeren, manen s. 193). Eine
besonders interessante fuudgrube, bilden die von Grieshaber
herausgegebenen 'Deutschen predigten des 13. jhdts.'
Hier finden sich äusserst zahlreiche belege voller vocale, die
Schreiberpraxis ist von der der Urkunden durchaus nicht ver-
schieden, maclion 1, 4 ; machen 1, 15 u. a. machot : machet
1,33. dienon 1,36 ; gedienen 1,37. dienot 1,44 ; dienet 1,46.
laden : laden 1,47. wainon : wainende 1,82. n-ainol 1,31 ; ge-
wainet 1,165. salhostii 1,45_, getroslost , zerhrailost 1,164 ;
fcrdieneslu 1, 166, ferdienon 1, 166. marterost, marterot 1, 166
; marteren 1, 167. volgot 2, 3 ; volget 1, 163. 2, 3. wotiot, wonon
2, 1 ; wonet 2, 3, ivoncge 2, 2. gidingot, dingot 2, 45 ; gedinget
ebda, wissost 2, 43 (wusstest). phlanzot : gephlanzet 2, 47. lohot
2,51 ; ze lohende 2,49. vaston 2, 15 ; vastende 1, 166. 2,48
u. a. helon 2, 18 : betende 2, 48. dienon 1,29 ; dienende 2,48
u. a. schamon 2, 18 ; schämen 2, 75. gervalot : ivaleti 2, 112.
füron 2, 113 ; füren 2, 111, füregen 1, 7. ebda, füron, fürot :
fiiref 1,8 u. V. a. Die beurteilung der einzelnen Schreibungen
wird erschwert durch die sehr früh eingetretene vermengung
der -ön und -^/i-verba, vgl. Braune, Ahd. gr. § 369 anm. 1 ; wie
bei Otfrid fasten neben faslön, klagen neben klagön u. a. so bei
Notker chlagfm : chlagcn, gcrön : geren, Jagön : jagen (vgl.
Beitr. IX, 520), ladön : laden, leidon : leiden, lobön : loben,
mandn : majien, spiWn : spilen, üzstadön : üzstaden, tarön :
einschlägige benützt. Vgl. noch Pfeiffer, Freie forschung s. 331. Auch
ist nicht aus dem äuge zu lassen, dass sowol die Sammlung Behagheia
(vgl. s. () unten) als meine eigenen urkuudenbelege nur aus einer be-
schränkten zaiil von Schriftstücken genommen sind, in vielen Urkunden
sind volle vocale überhaupt nicht belegbar.
I
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 469
laren^) und es wäre denkbar, dass diese fusion mit der zeit
immer grössere ausdehnung angenommen hätte, und oben
voUjot : volgel, tvonot : wonet etc. darauf zurückgeführt werden
müssten. Es ist übrigens zu beachten, dass Notker zwar
sorgest, fragest aber spilest (Boethius 1556' Hattem,), ebenso
leidet (aber folget u. a.), leiden (aber folgen) schreibt, die auf-
fassung Keiles demnach nicht unangreifbar ist, vgl. noch Zs.
fda. 30,319. Besondere beachtung verdienen jedenfalls formen
der predigten wie vrägon, volgot, n-onon : wonege, vaston : vaste-
gest (2, 49), füron : furegen u. a., vgl. 2, X. Dazu kommen
noch folgende Schreibungen: lonan inf. 1, 22 ; lonon 1, 2S. 29.
ferdampnaten : ferdamjmoten, -ton \, 40. 41. vastan inf. ; vaston,
vasfotif, vastegest 2, 49. Vgl. dienan bei Behaghel s. 8 a. 1276.
vertgan, manat 1298. vcrchumbcran 1282 s. 11, vgl. Weinhold,
AI. gr. § 356. 370. 381. Andererseits ist koinon kommen inf.
1, 47 geschrieben (vgl. rverdon (= werdan) ahd. glossen 1, 310, 20),
ferner müson conj. praet. 1, 43 (= müssten). Nun ist in den
predigten von fol. 73^* bis zur sechstletzten zeile von 77* (vgl.
Grieshaber I, XVII) ein anderer schrciber tätig gewesen, der
eine total verschiedene, zweifellos verwilderte, Orthographie ein-
geführt hat. Es finden sich aber trotzdem eine reihe deutlicher
kennzeichen, die ihn als Schwaben (im gegensatz zum aleman-
nischen Oberland, vgl. Grieshaber II, XII ff.) erkennen lassen.
Da Behaghel seine regel auch auf den schwäbischen dialekt
sich erstrecken lässt, muss näher auf diese partie eingegangen
werden. Hier habe ich bei den alten 5«-verben überhaupt
kein o gefunden, vielmehr erscheint an seiner stelle u: heiiutin^
dancut, ich fastun, gerechtvertgutcr, dienun, lo^nunde 1, 84;
oplierun, ferstänun (vgl. ferstainon 2,bi)) 1,85; begerut, machut,
hero^but, gediejiun 1, 86 u. ö.; begerust, lo^bim, furdrunl 1, 87;
geschaudgudust, geschaudgut 1,88; mangelun \,S9-^ ich betun vn
fvachiin, enl los/gut 1,90; wainut, redunt, machutun, /rndrul \.,^i.
Ausserdem findet sich geschrieben: ferscmahatun 1, 83; Unat
1,84; comant 1,84; gefolgan 1,86 (vgl. auch ctainaden 1,89);
ferner: lohnen 1, 85; dienen 1, 85; berobel 1, 86 (s. o. bero^bul
>) Vgl. Kelle, Das verbum und nomen in Notkers Boethius in den
Sitzungsberichten der Wiener akadeniie bd. 109, s. 260 f. (im folgenden
als Kelle, Sitzungsber. citiert), Zs. fda. 30, 298. i319.
470 KAUFFMANN
1, 86. 87. 90); gedimen (s. o. gedienun) 1, 86; geschadgethi (s. o.
geschaudgudust 1,88) 1,89; vgl. andererseits geschaufun 1,88;
ansmaidus (einstmals) 1, 90; vgl. Weinhold, AI. gr. § 30. 32.
Behaghel hat sich über diese -u- nicht weiter geäussert (vgl.
s. 16), obwol sie auch in seinem materiale vertreten sind:
mrichim 1296 (Bebenhausen), vervestinim 1281 (Ulm.), manun
1295 (zweimal ebda.), giordenul, gid'mgut 1296 (ebda.), urkun-
dun 1307 (ebda.), vordrun 1274 (Bern). L. Laistner hat Beitr.
VII, 548 die vocale der verbalendungen in einer Zwiefalter
BenedictinerregeH) behandelt. Die handschrift befindet sich
auf der kgl. öffentlichen bibliothek zu Stuttgart (cod. thcol. et
])hil. no. 230), ist im anfang des 13. jhdts. geschrieben und
für die geschichte des schwäbischen dialekts von grosser be-
deutung. Ich besitze eine eigene copie dieser regel, deren
deutscher text eine interlinearversion darstellt. Die ön-verba
erscheinen hier wie in der bereits besprochenen (schwäbischen)
partie von Grieshabers predigten mit dem flesionsvocal -u
nicht o: 2. sg. praet. leitust, vürtust 14 b, demütust 15 b; 3. sg.
l)raet.: tninnul, horsamut, widerut; ebenso 3. sg. praes.: gewon-
lichut gloriatur 3 b, horsamut 9 a. 10 a, irvoUut 18 a. 19 b. 20 a
u. ö., ?}iinnut 10a, murmurut 10a, volhd 10a, hezzirut 10b,
aiscul 30a, aisckut 36b, trahlut 31a, ofßuä Ala,, offerut AZh,
spotul 50b, hozzut 57b (])ulsauerit vgl. Laistner a.a.O. s. 553
anm.*); 3. plural. praes.: minnuni 9a, geriint 9b, nahvolgund
10a, scouhunt 13a, segenuud 14b, sundunt 29b, wandilimt
36 b, uirrunt 42 b. 46 a, wonunt 47 a (vgl. oben s. 468 tvonot)\
dazu die imperative hihlunt confitemini 15 a, dienunt seruite
24 b; ferner die infinitive: wandelun 3 a, dienun 4b, minnun
7 a. 7 b. 8 a. 8 b u. ö., muotrviUmi^ kestigun, vazzun, wisun (visi-
tare) 7 a, v/üchiin 1 h, gesegemm 1 h, bihtimSa, gehot^sa/min Sh,
iruoUun 8 b. 13 b u. ö., betun 8 b. 33 a. 44 b u. ö., mernm (augere)
35 b, offinun 41 a, widerun (excusare) 50 a, seginun 52 a, uestinun
53 a und schliesslich von part. praet.: gehezzirut 6a. 34a,
irvollut 8b u. ö., vur'wollut 9b, unglmäsuf (inmaculatus) 12b,
gitemperut 17 a, endut 18a. 22 a. 33 a, gisunderut 23b. 27 a
u. ö., gahtut 23 b. 34 a, girefsiit 25 b. 29 b, tvundut 26 a, girrul
28 b, gihannul 28 b. 39 a, gidienut 30 a, insculdut 32 b, gisellut
') Vgl. auch Pfeifter, Freie forsch, s. 331 ff.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 471
39 a, giordinul 41 b, l)ezz,rui 45 b, gwonlichut 49 a, gofferut 51 a,
u'mnacchut 51b, gUihtrut 52a, dienut 53b, bösirut 53a. Da-
gegen erscheint das pari praes. -önde niemals bIs -unde son-
dern stets als -end (so auch Laistner a. a. o. s. 559 f.): vUichun
mi. : vlüchende 7 b, minnend 13 b (aber tninnim inf.), iriiullend
14 b (aber iruollun inf.), segenend 18 b (inf. segetiun), aiscend
33 a (3. sg. praet. aiscut), ebenso horsamend, wandlend 9 b, »«<7'-
milendis 10 a, mayiejid 24 a. 36 b, dienend 33 b. 35 a, ^« seilend
53 b, 2/ m wonend 53 b. Neben dem inf. dienim 4 b erscheint
ebenda dienen inf, neben a/*cw/ 30 a, ö/^c// expetit 56 b und
umgekehrt wurkut operatur 3b (neben wurkenden ebda.); ge-
runt 9 b aber gert 3. sg. praes. 53 a, begerne inf 8 a, ^^r/ part.
praet. 35 a, bigert 46 b, ger petat 34 b und neben gedienut part.
praet. 30 a finden sich gedient 17 a. 33 b, gedienet 46 a ebenso
neben segenun inf. gisegint part. praet. 27 b. 33 a, neben glrefsut
29 b, girafsit 31a, girafsut 39 a, rafsut 60 a; sundunt 3. pl.
praes. aber gisundit 34 a, gibezzirut 34 a gegen gibezzirt 41a,
girrut 28 b aber girret 44 b, vazzim uestire 7 a aber giuazzit
uestitus 51 a. Vgl. ferner gibannut : gibantim, betun : gibst wie
dienun : gidient u. a. Dass ^/ö//e Äa;' (uocavit) 3 a, ^/a/// uocati
Oa einem giladut entsprechen würden wie Laistner a. a. o.
s. 529 will, ist nicht wahrscheinlich, vgl. zfdudi convocet 6a,
und ladin inf. 48 b (vgl. oben s. 468 ladon : laden bei Notker).
Von interesse sind schliesslich die formen des conj. praes.:
manei 2 a, nahvolgei 6 b. 7 a. 17 b. 18 a. 28 a u. ö., jnüdei la-
cescat 14 a, volgei 17 a, segenei 17 b, ordinei 24 a, masei con-
taminet 29 a, irvollei 29 a, diene/n (3. pl.) 32 b, ahteigen con-
siderent 33 b, segeneigen benedicant 36 b, temperei 'dl Si, bezzirei
37 b, girivTvei 38 b, virrei vacet 39 a, rüwei 40 a, o//m 43 b,
bitei exspectet 43 b, betei 44 b, ahtei 47 b, garnei mereat 53 a,
insculdei excuset 58 a, horsamei 58 b. 59 a. b, ordineigen 59 a;
dagegen w«m existimet 12 a. 16 a, nahvolgi 19 a. 60 b (vgl. oben
-volgei), ir-vollen compleant 38 a (vgl. oben -vollei), ebenso virren
uacent 41b, riiwen 41b, beten 40 a, betin 50 b, off'ren 51b,
virdamnen IIa (1. pl.). Da neben hovertei superbiat 56b, ho-
vertigend superbiendo 58 b sich findet, kann Jenes wol nur aus
'^-vertegi entstanden sein und wir erhalten dadurch einen festen
anhaltspunkt für die beurteiluug der übrigen ^/-formen. Diese
erseheinen gerade bei ön-verben {dienun : dienein, seginun : sege-
472 KAUFFMANN
nei, helun : hetei u. s. w.), von dem ö-timbre ist also keine
spur mehr geblieben, vgl die aleni. chlagoe, trahtohee, deo-
noen (BR), gizuchoie, touhoge, machoge, ahtogen u. s. w, Kögel,
Beitr. IX, 507. Zwischen o und e hat sich als übergangslaut
/ gebildet (vgl. gizuchoie u. a., Braune, Ahd. gr. § 310 anm. 4. 5)
der später, wie in andern fällen, vor hellen vocalen zu g geworden
ist, das aber lautgesetzlich im alem. in der lautfolge -ent-
schwinden mussle {ahtoe > ahtoie > ahtoge > ahtege > ah-
tegi > ahtei). Verfolgen wir nun die entwicklung der ön-verba
von der mitte des 13, jhdts. an, so erscheinen in den schwäb.
Urkunden folgende belege: 1253 gelohet, irren inf., geueste-
nut. 1260 f erwandlet part. praet., ierren inf., beuestnet. 1281
gevertiget. 1287 gevestenot, geurkundot, gevestenot. .292 ge-
urkundot (2 mal), geuestenot. 1293 geurkundot, geuestenot.
1295 gewerl. 1298 bewerte gezaichent^ schadegeti, — schaidegun
(1. schade-), schaidegtti, gemani, hedinget — schadegeti. 1301
7nit gesamnofer haut. 1305 clagen inf,, ze ainer bewerten ge-
zügnust. 1307 gedingot. 1314 gewert, vertigan, geirren, rvan-
delen. 1315 gedingot (2 mal), 7veren inf., shaffun inf., geur-
kundot (2 mal), gelobet, besigelete, geuestenot. 1318 hesserot,
gewerot, geuertigot, vertigetin. 1320 gewerot, uertigon. 1322
vertigen, manen inf. 1325 geuertigut. 1326 ze uertigamie. 1327
vertigan, vertigate, ze vertigenne. 1330 vertigan. 1333 gerve-
rat, ze mananne, geuertigat. 1335 ze mananne, geuertigat. 133G
vertigan. 1337 gewerat, rveran, uertigan, uertigati, geuertigat,
ze schadiganne. 1341 gewerat, vertigan, geuertigat. 1348 ge-
wert, uertigan, geirren. 1351 globan (ich gelobe), ebenso lehan
(ich lebe). 1354 gewerot, vertigan, geverlegot, ermanof, gevor-
derat. 1359 ungewerot. 1362. 1365 gewerat, vertigan u. s. w.
Uebcrblicken wir die Schreibungen, so ergibt sich, dass
durchweg und überall neben o-, w-formen solche mit -e- (i)
auftreten, bereits in den Grieshaber'schen predigten macht
sich auch a geltend, das in späterer zeit immer mehr an
ausdehnung gewinnt (vgl. Weinhold, AI. gr. § 79). Es fragt
sich, wie diese vielformigkeit («, o, u, e, i) sprachgeschichtlich
beurteilt werden muss. Für Behaghel bleibt s. 16 nur die 'an-
nähme, dass wir es mit wirklichen "doppel formen" zu tun
haben: 'in den einen wurde wirklich c {i), in den andern wirk-
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 473
lieh 0 bezw. n (a) gesprochen. Diese doppelformen könnten
rein lautlieh entstanden sein, d. h. unter gewissen aeeentver-
hältnissen könnte der voeal sich geschwächt, unter gewissen
andern seine vollere gestalt bewahrt haben. Die erklärung
wäre an sieh möglich, wenn in den frühsten und spätesten Ur-
kunden das Verhältnis zwischen alter und neuer bezeichnung
das gleiche wäre . . tatsächlich nimmt aber ja die neue be-
zeichnung immer mehr zu; es müsste die unter bestimmten
accentverhältnissen eintretende Schwächung sich vor unsern
äugen vollziehen . . wir werden somit zu der annähme ge-
zwungen, dass die einen der doppelformen — natürlich die
mit den vollen vocalen — die rein lautliche entwicklung
darstellen, dass dagegen die jüngeren formen der analogie-
wirkung ihre entstehung verdanken.' Leider erfahren wir
nichts näheres, was wir uns unter dieser 'analogiewirkuug' zu
denken haben. Doch werden wir kaum fehlgehen, wenn wir
voraussetzen, dass Behaghel die «-formen bei alten ön-verben
nach analogie der en- und yaw-verba wird entstanden gedacht
haben. An sich Hesse sich das vorstellen, man versuche aber
am überlieferten formbestand damit durchzukommen. Der
Schreiber von Grieshabers predigten hat I s. 33 in der 3, pers.
sing, praes. ?nachot die lautgesetzliche form 'gesprochen', da-
gegen auf derselben seite in machet die analogiebildung voll-
zogen, vgl. ausserdem ladoti neben ladest I, 47; wainon : wai-
nende I, 82; ferdienestu : ferdienon I, 166 u. s. w., s. o. s. 468 fi".
Diese annähme ist durchaus unstatthaft und unmöglich. Man
denke sich ein und dasselbe Individuum beständig zwischen
diesen beiden möglichkeiten schwanken! Es wäre sehr wol
möglich, dass verschiedene Individuen in ganz verschiedener
weise verfahren, und so Hesse sich z. b, das gegenseitige
Verhältnis der einzelnen Schreiber in den bei Behaghel auf-
geführten Urkunden fassen, in der spräche des einen wären
in gewissen formen die lautgesetzlichen entsprechungen ver-
treten, während ein anderer in ebendenselben formen die ana-
logischen bildungen aufgenommen hätte. Ich kann mir aber
nicht vorstellen, wie ein und derselbe Schreiber 7;Wo/mwM neben
priolinen (bei Behaghel s. 10 a. 1275), Agnesun neben Agnesen
(ebda. a. 1277), herlzogon neben hertzogen (a. 1287), erhon neben
erben (s. 11 a. 1282), kilclmn neben kilchen (a. 1285) u. s. w.
474 KAÜFFMANN
habe sprechen können. Um bei den ö«-verben zunächst zu
bleiben vgl. man: gesamenoter : hesamenen s. 7 a. 1293; gedhigut
: gedinget s. 9 a. 1296 und die zahlreichen oben mitgeteilten
Schwankungen. Ausserdem muss aber sehr viel merklicher,
als dies bei Behaghel geschehen ist, hervorgehoben werden,
dass der von ihm s. 6 aufgestellte satz, dass die langen vocale
des ahd. als volle vocale fortbestehen nicht genau der spräche
der betr. denkmäler und Urkunden entspricht. Auch Behaghel
führt unter den 'vollen vocalen' der öw-verba solche auf wie:
dienan inf. s. 8 a. 1276. machvn s. 8 a. 1296. vertgan, veriigan^
manat (ermahnt) s. 9 a. 1298. gedienat 1307. manun 1295. gi-
ordenut, gidingut 1296. urkundun 1307. vercliumheran s. 11
a. 1282. vordrun s. 13 a. 1274, und ich habe oben s. 469 flf.
zur genüge zahlreiche belege für derartige u- und a-vocale
beigebracht. Der eine Schreiber in den predigten (s. o.)
kennt die o-vocale gar nicht. Behaghel äussert sich s. 16
allerdings : 'so viel ist sicher, dass die qualität der alten vocale
schon im 13. jahrh. nicht rein bewahrt blieb'. In welchem
Verhältnis stehen nun aber diese a- und z^schreibungen zu den
vorauszusetzenden ö? Hier befindet sich in der argumentation
Behaghels eine noch empfindlichere lücke. Ich komme hierauf
erst zurück, wenn ich die übrigen kategorien Behaghels werde
besprochen haben.
Wir finden also in den Urkunden aus dem letzten drittel
des dreizehnten Jahrhunderts bei den öw-verben ahd. periode
vielfach an der stelle von ahd. o auch mhd. o geschrieben, da-
neben e, a, u (vereinzelt auch /, bei Behaghel dienin s. 11
a. 1282). Die grösste Verbreitung haben o, u, e und zwar ist
es kaum möglich o und u auf verschiedene dialekte zu ver-
teilen (vgl. auch Weinhold, AI. gr. § 363 s. 367), wenn auch
hervorzuheben ist, dass im schwäbischen zum unterschied vom
alem. u stark überwiegt, in gewissen denkmälern allein herrscht,
während aus alem. Urkunden immer nur vereinzelt belege dafür
beigebracht sind. Die erklärung Behaghels, wonach die e-
formen producte einer 'analogiewirkuug' seien, rausste ab-
gewiesen werden. Es lässt sich ferner der nachweis führen,
dass Behaghel seine Schlüsse auf unzutreffende prämisseu
gebaut hat. Er geht allem nach von der Voraussetzung aus,
dass die öw-verba in ahd. epoche in sämtlichen formen ü ge-
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 475
habt hätten, was nicht richtig ist. Bereits Braune, Beitr.
II, 136 hatte beobachtet, dass das o des Stammes bei der ö-classe
von Notlier im conj. praes. nicht bezeichnet werde, sondern
dass fast immer -oe- geschrieben wird; vgl. auch Kögel, Beitr.
IX, 508. In weiterem umfange ist von Fleischer, Zs. fdph.
14, 158 die annähme Weinholds (AI. gr. s. 364) als unrichtig
zurückgewiesen, dass Notker durchaus -ön- habe, und s. 170
erkannt worden, dass die participialendung des praet. -öt-
durchgehends kurz wird vor * schwerem suffix', zuweilen auch
vor leichtem suffix' s. 171; ähnliches gilt für die praesentische
participialendung -önt und schliesslich gelangt Fleischer s. 172
zu dem allgemeinen resultat, 'dass vor kurzem suffix das u
sich lang erhalten kann, dass es aber kurz werden muss
vor schweren suffixen'. Diese selbe auffassung liegt auch den
darstellungen von Kelle zu grund, vgl. Das verbum und nomen
in Notkers ßoethius in den Sitzungsberichten der Wiener
akademie 1885, bd. 109, s. 258 ff'. Das verbum und nomen in
Notkers Capeila, Zs. fda. bd. 30, 295 ff". Das verbum und
nomen in Notkers Aristoteles, Zs. fdph. 18, 342 ff'. Das schwan-
ken unserer Überlieferung in bezug auf setzung des circumflexes
war seitdem immer so aufgefasst worden, als ob nachlässigkeit
des Schreibers dasselbe verschuldet habe, die statistischen
Sammlungen haben nun aber einleuchtend erwiesen, dass auch
in dem fehlen des circumflexes regel herrscht. Nur ist es
nicht richtig mit Fleischer und Kelle (a. a. o.) anzunehmen,
dass das gewichts- oder quantitätsverhältnis der flexionsendungen
für länge oder kürze des o massgebend gewesen sei, dieser
annähme widersprechen gar zu zahlreiche ausnahmen, vielmehr
beruht die quantität des o auf den allgemeinen, allerdings
nicht näher zu fixierenden (vgl. Beitr. XII, 550 f.), gesetzen für
die Verteilung der nebentöne im Satzzusammenhang,
wie dies in nuce bereits von Paul, Beitr. VI, 137 ff', dargelegt
worden ist. Paul hat hier s. 139. 140 f. auch gerade die
differenz zwischen -öt und -ot neben -et, -ote neben -ete, -te
in diesem sinne besprochen. Wenn demnach wenigstens für
die spräche Notkers der formbestand der ist, dass in einer
und derselben form langer und kurzer ableitungsvocal be-
standen hat (vgl. z. b. machola Boeth. 95^'" .- machoia Boeth.
30a26_ 141^33)^ die quantität desselben keineswegs fest, sondern
Beiträge zur gesclüchte der deutschen spräche. XIII. 32
476 KAUFFMANN
wechselnd war (man vgl. die Sammlungen Keiles namentl.
Sitzungsber. 109, 258 flf.), darf nicht, wie das Behaghel getan
hat, für beurteilung sämtlicher jüngerer entwicklungsformen
des 13. jhdts. derselbe lange r7-laut zu gründe gelegt werden.
Vielmehr ist festzuhalten, nach den als immer wertvoller sich
ergebenden orthographischen regeln Notkers, dass möglicher-
weise in den ö-formen der ableitungsvocal bestehen bleiben
konnte, dass aber notwendig, die vorauszusetzenden o-formen
in e übergehen und als solche im 13. jhdt. erscheinen muss-
ten. Die Überlieferung der denkmäler des 13. jhdts. ist in
eben dieser weise zu erklären, die flexions formen mit
'vollen' vocalen entsprechen den ahd. längen, die da-
neben existierenden mit e sind die fortsetzer der ahd.
kürzen. Diese möglichkeit der erklärung ist gleichfalls von
Paul, Beitr. VI, 139 anm. 1 ausgesprochen worden: 'es ver-
diente einer genaueren Untersuchung, ob das schwanken der
flexionsendungen in der Übergangszeit vom ahd. zum mhd.
wirklich nur auf einer Unsicherheit in bezug auf die laut-
bezeichnung beruhte, oder ob dabei wirklich verschiedene
laut stufen vorliegen, die, unter verschiedenen syntaktischen
bediugungen entwickelt, mit einander um die herschaft kämpfen.
Das resultat wäre dann im allgemeinen ein sieg der abge-
schwächten formen gewesen, woneben sich aber namentlich
im alem. volle endvocale behauptet hätten , die nur durch
ausgleichung etwas unter einander gemischt wären'. Ueber
die letztere annähme näheres unten. Den e (neben o) der Ur-
kunden des 13. jahrh. gegenüber handelt es sich also nicht um
eine Schwächung aus n zu e (wie das Behaghel s. 16 annimmt),
sondern bereits in ahd. zeit hatten sich doppelformen im
Satzzusammenhang entwickelt i); in der verkennung dieser tat-
sache beruht der eigentliche fehler der Behagbel'schen argu-
mentation.
Bei der inneren Unmöglichkeit der erklärung Behaghels,
wonach e neben o auf einer analogiewirkung beruhte, s. o. s. 473,
findet sich demnach ein ganz anderer ausweg in der geschichte
der ahd. ön-verba, wie der übrigen categorien mit vollem
•) Nicht, wie Behaghel s. 10 als möglich aufstellt, in luhd. periode.
\
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 477
eudungsvocal. Die g-foimen ergeben sich als fortsetzung der
unter einem bestimmtem satzrhytbmus entstandenen ahd. -0-,
die frage bleibt nur noch, wie die 0, a, ic des 13. jhdts. auf-
zufassen sind. Darüber ist vorerst eine entscheidung nicht
möglich, es müssen vorher die Schicksale weiterer ö-laute unter-
sucht werden.
b) Plural, praet. der schwachen verba ahd. -iöm,
-tot, -tön, vgl. Weinhold, Al.gr. §367. Behaghel bringt bei
s. 7: Freiburg i. B. : hatton, Irahton 1265. irzugiton, hezugeton
1276. hatto7i 1282. seilon 1291. hatten 1302. S. 8: hatten
1326. S. 9: Bebenhausen: leitan, clagton, hettan 1307. Ulm:
hetun (4 mal) 1298. horten 1299. Salem: horton 1282. het-
tunt, gelobtun 1290. S. 10: heton 1290. hatton, irwalton, hanch-
ton, rumden, horten 1290. herton (gehörten) 1294. St. Gallen:
hetton 1294. S. 11: Thurgau: hatton (2 mal) 1276. 1285.
tailton 1285. Geschichtsfreund: massewayidon, haton 1275. hor-
ten 1276. hatton (3 mal) 1282. S. 12: hatten 1290. horten
1297. Aarau: horton 1292. clagton 1304. S. 13: Bern: vrag-
tin \214. Basel: ha(te7i, horten 1279. vertigotten 1299. Ausser-
dem horten 1238/39. S. 17: Man vergleiche dazu aus Gries-
habers Predigten: waineton 1, 16. clagton ebda, horton 1,26.
ivolton 1,38. volgeton 1,29. haton 1,40. wändon ebda, fer-
ko^fton 1,61. santon \,\^\. vrägeton 1,1Q2. süchton2,d. krie-
geton 2, 7. kerton, tvändon, sühton, hörtoji 2, 9. fulton, heton
2, 16, ebenda wizzon. hrähton 2, HO u. s. w. Dagegen ge-
täten 2, 16. wänden 2, 46 u. s. w. Bl. 73 ff. erscheint der eudungs-
vocal wider als -u-\ ferscmahatun 1, 83. randun 1, 86. ebda.
setun (1. seitun), dagegen setin (1. seitin) 1, 91. wessut 1, 90
(vgl. wizzon 2, 16). furtun, machutun 1, 91. Ebenso in der
Zwiefalter Benedictinerregel: nwltun 2a,, Trätun Aa, ge-
urägetun, hörtun 4 b, dumm 49 a, rihtun 55 a, saztun 56 b, ^Z-
huctun 6 1 a, -e?i ist bei den schwachen verben überhaupt nicht
zu belegen. Dagegen tritt es in den Urkunden auf {haten
1296. sähen und hörten 1305 u. a.) ist aber verhältnismässig
selten, die gewöhnlichen formen sind: 1287 hattun (4 mal),
1292 santun, hatun, sähen und hör tun, 129d hatun, saztun, 1295
gelopton, 1305 hatun, 1315 hatun, 1327 hettan, gehortan, 1337
hettan, \ZM hettan, ldQ2 kauf tan, 13Q1 tiettan, IdQS kouftan u. a.
Wie bei den (7«-verben ist der späteren zeit die Schreibung -a-
32"'
478 KAUFFMÄNN
eigen, vgl. Pfeiffer, Freie forschung s. 331 f. (belege aus Strass-
burg).
c) Genetiv und dativ pl. der starken und schwachen
fe mini na: Bei ßebaghel s. 7: Freiburg i. Br.: 1265 minnen
D. PI. V6\^' sfvesleran (sechsmal D. PI., zweimal G. PI.) rehan
G. PI. S. 8: 1332 closerinan D. PI. 1333 hrwjgan D. PI., hruggen
D. PI. (zweimal). Fürstenberg s. 8: 1276 frowen D. Pl. (zweimal).
1290 hmiivestinan D. PI. S. 9: Ulm: 1294 vrowen D. PI. 1295
irotven Xy,V\. Salem: 1290 ve^o G. PI. S. 10: truwon "D. ?\.,
sluron G. PI. 1294 truwon, hantveslinon D. PI., iriuwen D. PI.
(zweimal). St. Gallen: 1275 swestron D. PI., srvestron Gen. PI.
(dreimal). 1277 gnaden D. PI. (zweimal), triuwen D. PI. 1287
minnen D. PI. (zweimal), sachen D. PI. 1291 hanivestinon D. PL,
triiwen D. PI. 1294 iriuven (zweimal) stunden, eren D. PI. 1307
ginaden D. PI. S. 11: Thurgau: 1276 triuwen, der ewigen vroden.
1282 iriuven u. ö. Geschichtsfreund: 1275 vrowon D. PI. 1282
vrowon D. G. PI. (fünfmal), gnadon G. PI. (zweimal). 1287 schul-
don D. PI. 1288 swesteran G. PI. (zweimal), eron G. PL, selon
G. PL, swesteran G. PI. 1290 matton, würzon D. PI. S. 12: 1297
froivan G. D. PI. (viermal). Aarau: 1301 eron, frowon D. PL,
geherden G. PL, einungen D. PI. 1304 frowon D. PI. (zweimal),
frowen D. PI. Bern: 1271 eron und seildon ane. S. 13: 1275
Sachen G. D. PI. Basel: 1276 rehen G. PL, vrowen G. PL S. 14:
1280 vrowen. 1283 frowen D. PI. 1283 mulinan D. PL 1284
fasten D. PI. Mulhouse: messen D. PI. Das Verhältnis der
vocale ist hier wie bei den verben ö, «, e, beachte besonders
in einer und derselben Urkunde 1288 swesteran neben sweste-
ron als G. PI. Vielfach zeigen gerade die ältesten Urkun-
den zahlreichere e als die jüngeren, vgl. auch Behaghel
s. 17. Sehr interessant ist nun aber gen. pl. fem. veso 1290
(cod. dipl. Salem.), ebenda G. pl. sw. mascuL grozzo. Aus
Grieshabers predigten führe ich an: to^htero G. PL 1, 10.
kröno G. PL 1,29. hrosemo 1,39.42. rvundo G.V\. 1,43. ßugo
G. PL 1, 46. hino G. PI. 1, 16. der swalwo 2, 34 (vgL II, XI),
daneben die dative: türon 1,2. rütoji 1, 11. hinon 1, 15. zungon
1,30. genadon 1,33 [genaden 1,34), ebenso -on: en 1,163;
von binsoyi und von widon 2, 111 u. a. VgL noch mit forchtun
\, 89. In der Zwiefalter Benedictinerregel finden sich:
der wachlo G. PL (vigiliarum) 17 a. 19 a, der lietmottino 19 b.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 479
der vespero uespertinorum 23 b, sculdo culparum 26 b, der sicho
selo 28 a, rüto virgarum 28 b, der uasto 45 b. Dagegen dat. pl.:
sculden culpis 27 a, wahtun 17 a. 18 a. 24 a, tvahtin 18 a. 21a.
22 b, Uetmottinun 19a. 21 b, ahslun 28 b, vastun 29 b, wilun
(horis) 37 b, turun (fores) 39 b, selun (animabus) 57 b, lezzen
leetionibus 18a. 19a u.a. In den Urkunden dagegen 1360
frotva gen. pl., sonst: 1296 wlsen. 1336 selan. 1341 vesan,
wisan. 1362 selan. 1412 vesa. 1426 seilen (= seien) als gen.
pH. Dativformen sind: \292 genadun. \'29d ?visun. 129b rvisen,
gehaerden. 1296 ivison., tvisen. 1298 wisen, genaden. 1314 vrowen.
1327 IrhiTven, wisan, schinran, wochan. 1333 vrowan. 1335 vro-
tvan. \Z^1 schulden. 1345 wi^a. 1359 />-o;ra;?. lAQl geschweslran
u. s. w., vgl. Weinbold, AI. gr. s. 439 f.
d) Genet. und dat. pl. der scbwachen mascul. und
neutra. Bei ßehaghel s. 7: Freiburg i. B.: 1272 erbun G.
D. PI. 1275 komindon G. PI., fürston D. PI., nachgehuron D. PI.
\2n gehuron G.V\. heiligouY).^. 1303 Mr^m G. PI. S. 8: 1326
bürgen D. PI. 1332 siechan D. PI. Fürstenberg: 1276 erben D. PI.
1284 heiligen G. PI. 1290 hailigen D. PI. 1292 erbon D. PI.
(zweimal). Bebenbausen: 1296 der vorgenanto, der burgo G. PI.
S. 9:Ulm: 1294 /?m-^?i G. PI. 1295 ^>wr^?m D. PI. 129S Ämvm
G. PI. 1299 bescheidnan D. PI. sw., erben G. PI., bürgen G. PI.
1307 ^;-&^?« G. PL, zn-elfboten G. PI. Salem.: 1273 vorderon D.
PI. (zweimal). 1282 herren G. PI. 1290 ^rozzo (G. PI. sw.
Masc). S. 10: herren D. PI. 1290 erbon D. PI. 1294 studon,
bamon(J), bo7igarton, w^'^öw (!) D. PI., ^rfton (achtmal), Iluton{\)G.
PL, burgon G. PL, Druhsaezon G. PL, fto//^;« D, PI. St. Gallen:
1287 herron G. PI. (dreimal), hertzogon D. PL, herron D. PL,
hert zogen G. PI. 1291 er&en G. PI. 1294 ^rZ^o« D. PL (zweimal).
1307 kernen G. PI. S. 11: Thurgau: 1276 vorderon G. PI. 1282
erbon D. PL (zweimal), burgon D. PI. (dreimal), ^/-J^« D. PL,
den hailigen (zweimal), hurgen G. PL 1282 den hailigen, nacho-
wßw D. PL (dreimal). 1285 /m^e?z G. PL Gescbichtsfreund: 1282
herron G. D. PL vorgenanion herron G. PI. 1287 herron G. D. PL
(dreimal), vorderon G. PL, gotzhusron (!) G. PI. (zweimal). 1 290
erbon, güsellon D. PI. S. 12: kernen G. PL, herren D. PL, erben
G. PL 1297 er^^n G. PI. Aarau: 1292 er&o?* D. PL, der vorgenan-
don kindon(\). 1301 fremdon G. PL, mannon G. PL, ^«^o/i D. PL,
oe^^e« D. PL 1304 erbon D. PI. (dreimal), kernen G. PI. (zweimal).
480 KAUFFMANN
1310 erbon D. PI. (fünfmal). 1313 kernen G. PI. (dreimal), vor-
dren D. PL, erben G. D. PL Bern: 1251 ze den heiligon. 1271
erben D. PL S. 13: 1275 der gleulngen manschen, der erwirdi-
fjen (jeisiliclien mannen. Basel: 1276 kindon G. PL, pheningon
G. PL (zweimal), eigeron G. PL, lülen G. PL 1279 Herren G. PL
1276 erben D. PL erbon D. PL (1278 kinden G. PL). S. 18:
1280 nachkomen D. PL 1282 erben D. PL 1286 erben D. PL
Mulhouse: (1295 kinden G. PL) thutschen herrin G. PL 1310
erbeji D. PL
Aus Grieshabers predigten führe ich an: füzstapho
G. PL 1,45. der belialteno 1,49. der gfito werche 1,164.166.
vil haligo 1,166. 2,48. der bocke und der ochso 2,115. ochso
2,29 ; ochsen nom. pl. ebda, vil blümo 2,3. der Judo 2, 16.
der u7idertano 2,31.33 u. ö. der geler to ebda, der wissago
2, 33. der erwelto 2, 46. der gaistelicho hierto 2, 31. 36. vil
hierto (hirten) 2, 78. der cwarto, töto, rehto vgl. II, XL An-
dererseits: zwelfpoion 1,30 : zwelfpoien 1,31 D. PI. under den
hailigon 1, 40. o^gon 1, 163. 164 u. ö. o^'gen 2, 34. m den blü-
mon 2, 1. den Judon 2, 24. 32. 33. ze drin mälon 2,21. ebenso
Gen. PI. der zwelfboton 2, 27. den imdertanon 2, 34. iungern
D. PL 2, 35 u. ö. ieron gesellon 2, 36 (ebda, gesetlon nom. pL).
under den guten 2, 38. mit den guten und mit den rehten 2, 39,
aber durch der güto willen 2, 40. 41. mit den haidenen 2, 42.
sinen herron dat. pl. 2, 42 u. s. w.
In der Zwiefalter Benedictinerregel finden sich: der
ovgo (oculorum) r2a; der menscho gen. pl. 13 a. 15 b. 46 b; der
dultindo (suflferentium) 14 a; der merro (maiorum) 15b; der
wissago (prophetarum) 18 b; der hailgo (sanctorum) 20 b. 50b.
61a; der dri salmo gen. pl. 21b. 23 a. 23 b. 24a; der eltro
(seniorum) 26b; der siecho, durftigo 30 a (ebda, der kinde)\
siecho 33 b. 36 a; der altho (senum) 34 a; der mislicho (diver-
sorum) 35b; der midro (aliorum) 36 a; der armo richo 45b;
der botho 48 a; der durftigo, nidndo (inuidentium) 48 a; der
//5w?/rAo (artificum) 48 b; der edilo armo 51a; der ewarto b2a.
53 b; der phafo 53 b; der namo 55a; dagegen der phafin gen.
pl. 52b. Andererseits: der betti (\QQ,\.o\wm) 48a; der sithi, sith
(morum) 60 b; der vleische (carnium) 34 a. 36a; der kunige
37b U.S.W. Ferner dative plural: {mit wortun 16a!) ougun
2 a. 8a. 16 a, ebenda ougen\ örun 2a; ?nit gurtilun {fem,?) oder
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 481
saUlin 26 a; von den eltrun 26 b; ewartun 52 a. 53 b. Die
endungen lauten in den schwäbischen Urkunden: 1287
heren G. PI., ze den hailegun D. PI. 1292 herrun (3 mal) D. PL,
wasun D. PL, herho (1. erho) G. PI., ebda, erho, nahchomendo
(zweimal). 1293 herrun D. PI. (4 mal), herj^o G. PI., erho, 7iah-
cotnendo G. PL, ebda, nahcomenden G. PL 1295 herren D. PL
1296 erhon G. PL, herren, herron, erhon, rvasen D. PL 1296
erho G. PL, herron (2 mal), garton^ nachkomenden D. PL 1298
herren, wasen, herron D. PL, erhen G. PL 1302 herron D. PL
1303 erhon D. PL (2 mal). 1305 füsstapphon D. PL 1305 erhen,
herron, herran, holen D. PL 1307 erhoji D. PL 1314 mit allin
tninun rehten (!). 1315 Jndun, herrun, nachomejiden. 1318 erhon
D. PL, &?<r^öw G. PL, hurgo G. PL 1319 fewr^^« G. PL 1322
hur gen D. PL 1327 (allan), gartan, wasen, unsern aigenan in-
sigeln D. PL (vgl. ebenda an offenan rvirten, zivischant). 1330
herron D. PL 1333 erhan, hurgan, haUgan, der vorgeschrihnan
G. PL, der vorgeschrihenan hurgan D. PL (vgl. haidanthalh). 1334
allan, erhen, hur gen D. PL 1335 erhan, hurgan (2 mal) G. PL
{haidanthalh). 1336 envessen G. PL 1337 allan, Iran erhen von
unseran wegen (vgl. 1400 von unsra wegen), {zwischant). 1338
hotten, nachkomen D. PL 1348 erhen G. PL, nachkomen D. PL
1351 allan, offenan, iran erhen. 1365 zu disen zitan vgl, 1333.
1335 zu disan ziten u. a. 1367 inan (ihnen) u. s. w. In der
folge treten G. D. PL stark überwiegend als -en auf, vgl. noch
Weinhold, AI. gr. s. 435 f.
Damit wäre die Übersicht der laugen r7-(o-)laute ahd. periode
geschlossen. Das wichtigste ergebnis besteht darin, dass zu
einer und derselben zeit gowol bei denselben als bei verschie-
denen Individuen in den einzelnen kategorien stark abweichende
entwicklungen (nach massgabe des orthographischen ausdrucks)
vorliegen. Sehen wir zunächst von den überall sich finden-
den übereinstimmenden -ew-(-/M-)bildungen ab. so erscheint an
stelle von ahd. -un:
482
KAUFFMA
NN
Grieshabers
Zwiefalter
Urkunden.
Predigten.
Benedict.
R.
schwacbe vba.:
inf.
-on, -un, -an
-un
-on, -un, -an.
})l. praet:
-on, -un
-un
-un, -an.
st. sw. fem.: G.
PL
-0
-0
-on, -an, -o, -a.
D.
PI.
-on
-un
-un, -on, -an, -a.
sw. masc: G.
PI.
-0, -on
-0
-on, -an, -o.
D.
PI.
-on
-un
-on, -un, -an.
Die in den uriiunden bei Bebagbel wie aus meinen eige-
nen Sammlungen belegten -an-, -«-formen sind vorerst als
einer wahrscheinlich späteren periode angehörig ausser be-
tracht zu lassen. In allen hier verzeichneten fällen hat Notker
die enduug -on {-on) und daran haben wir diese jüngeren bil-
dungen jedenfalls anzuknüpfen, es wird zulässig sein, Notkers
sprachformen als die allgemein gültigen zu fassen.
Von besonderer Wichtigkeit sind die von ßehaghel nicht
beachteten schwachen G. PI. masc. fem. -o (vgl. z, b. bei
Behaghel s. 9 unten u. a.), um so mehr als die Schreibung in
einer weise constant und einheitlich auftritt, wie es bei keiner
andern classe vorkam. Der schluss der sich ergibt, liegt auf
der band. Wenn in den inf. der schwachen verba ahd. -ön noch
im 13. jhdt. -on der Schreibung gemäss gesprochen worden ist,
warum findet sich diese orthographische bezeichnung nicht bei
dem G. PI. der schwachen deel. und umgekehrt? i) Diese eine
tatsache des schw. gen.pl. auf -o genügt, jeden glauben an
die phonetische geltung der Orthographie in den an-
gezogenen quellen zu zerstören, wemn wir uns von allen
andern, möglicherweise durch 'analogiewirkung' etc. zu recht-
fertigenden formen noch nicht beirren lassen wollten. Es
lassen sich aber noch mehr gegenzeugnisse beibringen, die
auch dazu dienen werden -o für -Ön etwas mehr zu verdeut-
lichen.
II. Ahd. ä der endung. Auch dieses hat nach Behaghel
') Man könnte denken o sei nur schreibversehen statt ö = on, wie
vielfach in den Urkunden schwanken zwischen -en und e besteht, dieser
ausweg ist aber nicht statthaft, weil in verschiedeneu denkniälern die-
selbe einheitlichkeit der Schreibung herrscht, möglicherweise liegt
schreibversehen vor in dem einmaligen inf. verdampno Griesh. II, XII.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 483
bis ins 13. jhdt. seine qiialität bewahrt; er gründet diese an-
nähme auf folgende belege: s. 7 Freiburg i. Br.: 1258 Jünnan.
1265 h'mnan. 1272 dannan, dannen. 1273 dannon. 1275 swan-
nan, dannon (dreimal), damian. 1282 hinnanthin. 1291 schüra
(N. P. F.). 1293 einunga (N. P. F.) {cinungan G.D.V). 1303
hinnan. 1316 swestera (A. PL, dreimal) {swesteran sechsmal
D. PI., zweimal G. PI.) {rehan G. PI.). S. 8: 1326 dannan. 1332
closerina (N. PI.) (c/oserinan D. PI.). 1333 hrugga (A. PI.) {hrug-
gan D. PI). 1340 h'mnan, dannan 'sonst nur geschwächter vocal'.
1344 vestma, (mit den vestinan) 'sonst geschwächter vocal'.
Fürstenberg: 1284 schult er ra. 1291 obenan. 1292 thohtera
(zweimal). S. 9: Ulm: 1307 dannen. S. 10: 1294 vrorvan.
St. Gallen: 1275 dannan, srvesiran (N. PI.), dannan. XYll wan-
nan. \2Q1 dannan. 1294 w/^a^z (A. PI. zweimal). S. 11: Thurgau:
1282 dannan (zweimal). 1285 andeswannen. Geschichtsfreund:
1282 geverda (A. PI.), immn, gaha (N. PI.), sn-eslren (N. PI.).
1287 dennen. S. 12: 1291 hinnan, dannan, rittra. 1297 srvestere
(N. PL). S. 13: Bern: 1295 dannanl (zweimal). Basel: 1273
hinnan. S. 14: 1282 hinan, geverda (A. PL). 1283 {^nulinan
D. PL). 1295 tnatha (die matten; viermal) {mathon S., zweimal).
Mulhouse: 1295 vnderdannen. 1318 ohoian, nidenan. Strass-
burg: 1262 hinnan, dannan. 1263 obenan, dannan. S. 15: dan-
nan, hinnan, dannan (zweimal). 1264 obenan, dannan dieses
ausserdem noch zweimal, obenan noch 6 mal, nidenan zweimal
bis 1284. Behaghel glaubt s. 15 dass ä so gut wie aus-
nahmslos als a geblieben sei. Was die orts- und zeitadverbia
auf ahd. -an betrifft, so war hier widerum zu beachten, dass
auch die Quantität dieser silbe wenigstens bei Notker sicher
schwankte, vgL Zs. fdph. 14, 163; ausserdem handelt es sich
nur noch um die fem. nom. acc. pl. -d, für deren quantität
dasselbe gilt, bei Kelle, Sitzungsber. s. 290 ff. sind 20 nom. acc.
auf -a aus Notkers Boethius beigebracht. Ausserdem musste
das Verhältnis dieser auf ahd. ä zurückweisenden formen zu
den übrigen im G. D. PL u. a. erscheinenden a-endungen fest-
gestellt werden. Ich weiss nicht, ob Behaghel der ansieht ist,
dass -an im G. D. PI. analogisch die a-färbung bekommen habe
nach nom. acc. pL -«. Es gienge nicht an, weil -an bekannt-
lich auch sonst vielfach an stelle von -ön erscheint. Vgl. die
schw. o«-verba.
484 KAUFFMANN
Die Sachlage steht in diesem punkte nicht anders als
wenn Behaghel s. 6 diejenigen quellen für die frage nach er-
haltung des i ausschliesst, in denen, besonders in der
endung -en, der irrationale vocal durch / bezeichent wird.
Wenn dann fernerhin s. 7 a. 1316 A. P. swestera, s. 10 a. 1275
N. P. swesiran, s. 11 a. 1282 N. P. swestren, s. 12 a. 1297 N. P.
swestere belegt ist, so erwecken bereits Schreibung und chrono-
logisches Verhältnis sehr gewichtige bedenken gegen eine iden-
tificieruug von -an, -en, -e, a- mit ahd. -ä. Von Interesse sind
hier widerum die Grieshaberschen predigten: tu'ra n. pl.
1, 1 (vgl. Braune, Ahd. gr. § 220 anm. 1). nmda acc. pl, 1, 2.
13. 32. to'htera n. pl. 1, 3. 24. sela n. pl. 1, 3. mwa n. pl.
1, 5. ivirtinna acc. pl. 1, 10. rüta n. acc. pl. 1, 10. 11. 17. ta-
vela n. pl. 1, 23. schara n. pl. 1, 29. 63, acc. pl. 2, 35. kröna
acc. pl. 1, 29. straza, gassa acc. pl. 1,44, nom. pl. 2,26. ßmga
n. pl, 1, 45. 46. krota (kröten) n. pl. 1,46. schussela (schusseln)
acc. pl. 1, 46. in die fersenna acc, pl. 1, 167. frowa n. pl.
2, 7. 8. 42, mäsa acc. pl. 2, 36. yaisela nom. pl. 2, 30. reha
2, 50. rvucha acc. pl. 2, 111 u. a. Vgl. vjnundiiina, nachge-
hwina, kircha, gaha, viga, mugga, brosema, swalwa, iunchfrowa
II, XI lauter nomin. oder accus, der mehrzahl weiblichen ge-
schlechts, für deren einige in jener zeit zwar -e, für andere
aber -en zu erwarten wäre'. Ich erinnere an die G. PI. dieser
nomina auf -o und mache besonders darauf aufmerksam, dass
gen. pl. der wirtinna 1, 2 genau ebenso geschrieben ist wie
acc. pl. wirtinna 1,10 (ahd. -ä : -öno). Man vergleiche ausser-
dem in der Zwiefalter Benedictinerregel: vnze in d öslra
16b, von ostra 17a (dagegen von östrun 36b u.a.), in ostro
37 a, ostra acc.pl. 43 b, wahta n. pl. 20 b, ^^/a n. pl. 37 a, acc.
pl. 49 b. 56 a, hohina culmina 61b. Was nun schliesslich die
Urkunden betrifft so kenne ich vor 1318 nur -en im fem.
nom. acc. pl.: vrowa 1318, swestran 1327, vier wochan 1336,
frowan 1337, 7visa 1345, tochtran 1352, frowa 1359, frowa,
frorvan 1362, mutschla (heute mutschein, gebäck) 1362, frowan
1367, swestrafi 1420. 1438 u. a., vgl. Weinhold, AI. gr. s. 417.
420 f. 437 ff. Die endungen -« und -an ergeben sich dadurch
als gleichwertig, sie stimmen ausserdem mit den obliq. cas.
des PI. überein (s. o. s. 479) und es kann nicht zweifelhaft
sein, dass dieselben die der schwachen decl. sind. Die be-
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 485
lege aus Grieshabers predigten zerfallen auf alte voealische
wie consonantisehe stamme und während Behaghel anzunehmen
scheint, dass im fem. n. aee. pl. die endung starker flexion
(ahd. -ä, -a) verallgemeinert sei, kann ich nur einen allgemei-
nen übertritt in die schwache flexion für wahrscheinlich
finden. 1) So auch Weinhold, AI. gr. s. 446. Nicht bloss schwanken
in ahd. periode einzelne substant. zwischen fem. starker und
schwacher decl., 'von den meisten zweisilbigen fem. der o-decl.
werden sich in irgend einer quelle auch schwache formen nach-
weisen lassen' (Braune, Ahd. gr. § 208 anm. 2, Kelle, Zs. fda.
30, 299. 332), wie weit bereits im mhd. die Vermischung beider
classen gediehen ist, braucht nicht belegt zu werden. Es
hiesse demnach die gesamte Überlieferung auf den köpf stellen,
wollte man in diesen fem. enduugen -a {-an) reflexe der starken
decl. erkennen. Vielmehr muss -a ganz ebenso beurteilt wer-
den wie -0 der genetive (s. o, s. 478 f., Weinhold, AI. gr. s. 415),
der ursprünglich auslautende nasal ist verschwunden; ob wir
-a, -an als unmittelbare entsprechung von nom. acc. pl. ahd.
-ün, -un zu betrachten haben, wird später zu erörtern sein.
Die adverbia auf -an bewahren in der Schreibung -a- sehr con-
stant; urkundlich kann ich sie noch im 15. jhdt. reichlich be-
legen, um so weniger ist es wahrscheinlich, dass die Ortho-
graphie sich mit der ausspräche deckt. Es ist auch an die
elsäss. belege zu erinnern. Behaghel constatiert s. 14 dass
'altes -on, -un nicht mehr bewahrt sei-), obwol die Urkunden
bis zum jähr 1261 zurückgehen. Von Substantiven auf ur-
sprüngliches i finden sich fast keine belege, dagegen ist -an
im 13. jhdt. stets bewahrt.' Das ist durchaus unwahrscheinlich.
Vgl. auch Weinhold, AI. gr. § 122, wo ausserdem auf -a- in
praefixen wie antiveder u.a. verwiesen wird, vgl. dazu § 118.
III. Ahd. IL Es handelt sich hier nur noch um den
singl. der schwachen fem. decl. des substant., und die betr.
casus der schwachen adjective. Es ist hier wider vorauszu-
schicken, dass die quantität des vocals nach Notkers System
*) Dies gilt auch für die oben s. •1('>7 augcfühiteu heutigen foiiiien
aus dem AUgäu (a = a-haltig .-> aus -cti).
^) Vgl. die auffallenden belege bei Socin, Strassbui-ger Studien
I, 248 f.
486 KAUFFMANN
als bald kurz, bald lang angesetzt werden muss, vgl. z, b.
Kelle, Sitzungsber. s. 297 ff. Bei Behaghel ') s. 7 Freiburg i. Br.
finden sich: 1272 svnnvntage, errun (G. Sgl. F.), vrorven (Gen. S.).
1273 n-ilim (Dat. S.). 1275 kilchun, frorven, nahgand'm (Gen.
S. F.), Wochen (sechsmal). 1276 similvn, mitchun (zweimal),
jungirun (G. S. F.), vrowin. 1282 vorgenantun (G. S. F.), mitchun.
1291 tvirtinyiun, lovbun, Sultzgassun, der oberun Undun, frowen.
1293 genanten (G. S. F.). 1302 ohervn (G. S. F., zweimal), ge-
nantvn (S. F., fünfmal). 1303 genantun (S. F.), altun (S. F.),
1316 gassun, srvellun, genanten (A. S. F.), Margareten, kertzen,
meisterinnen, frowen, Margareten die Turnerinen, frowen der
Jüngeren. S. S: 1326 seVmn (S. F.), der nehsten inittewochen.
1332 frowen. 1333 oberen (S. F.), langen (S. F., zweimal), nidern
staininen (S. F.), vasfen (D. S.). Fürstenberg: 1276 niderun (S. F.),
ewigen (A. F.), die vorgenanten frowen. 1280 kirchun. 1284 Gvtvn.
1290 Marivn, Magdalenen. 1291 Brigen, 7vochen. 1292 ganzzvn
ßebenhausen: 1291 Margretun, 1292: 9 -en = -un. 1293
kilchun. 1296 Ernstinvn, vasiim. 1297 wirtinnvn, vrowen (zwei-
mal). S. 9: 1297 4 -e- = -ü-. 1298 AUunstaig, wochun. 1301
edelvn frouwn, wochwn (zweimal), frown der jungervn, einmal
-en = -im. 1307 frowun (viermal), kilchun, genantun (S. F.),
selbun, errun, jungerun, PetroneUun\ sechsmal -e- = -ü- u. s. w.
Es ist überflüssig die belege in extenso zu geben, ich führe
noch an: St. Gallen s. 10: a. 1275 Gutun : Guten, priolinun :
priolinen. 1277 Agnesun : Agnesen. Thurgau s. 11: a. 1285
kilchun : kilchen. Aarau s. 12: a. 1292 Reberron, Eisbeton. 1301
selbon (D. S. F.). 1304 bi der Aron, obron (G. S. F.). 1313 ebti-
schinon (G. S.). Basel s. 14: 1280 tninrun (G. S. F.) ; minren,
niderun : oberen. 1295 der eberon vrowon der eptissinon, Ciaron,
tninneron (S. F.), mathon (S., zweimal), genanton (S. F.) u. a.
Wir sehen teilweise einen und denselben Schreiber zwischen
den formen mit -u- und denen mit -e- schwanken (s. o.
s, 473 f.), auffallend sind die fälle mit -o- der enduug aus
Aarau und Basel. Sie finden sich auch in den Predigten 2):
1) Ich kann leider nicht controlieren, wie weit bei den folgenden
beispielen die belege singulare oder plurale sind, Behaghel hat es nicht
immer angegeben.
2) Vgl. Germ. 13, 186 der ewigon froude in der Franciskanerregel
des 13. jhdts.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 487
üz der sifon 1,4.11.32. die intvendigon n-aide acc. sg. 1,8.
üzTvendlgon 1, 39. die claitioti zit 1, 13. emigon G. S. F.
1, 16, D. S. F. 1,28.29, A. S. F. 1,43. die ganzon vollon
A. S. F. 1, 27. der bifferon helle D. S. F. 1, 27. manech-
valtigon D. S. F., grözon A. S. F. 1, 27. erston D. S. F. 1,31.
in ai)ier fiurinon zungen D. S. F. 1, 35. ze der niuwon e : in
der alten e 1, 36. zungo7i A. S. F. 1, 38 : zungen 1,39. in der
t'iufon 7vize 1, 39. ain sniton A. S. F. 1, 60. der armer witirvo
G. S. 1, 72. 7vä7'on G. S. F. 1, 162. der rehten wäron hecherde
G. S. F. 1, 163. von der zarton kuneginnon miner frorven S. Ma-
rien 2, 1. Mariun 2, 8. wiegon A. S. F. 2, 3. dwimion krön
A. S. F. 2, 6. der ai^ion, androji frowon : froiven 2, 7. gesege-
noton A. S. F. 2, 8. zimelichon, ko^melichon A. S. F. 2, 10. zangon
2, 11. Je/ ö'er zarton Marion 2, 13. mm frowen S. Marion
2, 15. m amer gasson 2, 16. gallo7i A. S. F. 2, 18. «wncÄ frowon
Saron D. S. 2, 19. gro'ston D. S. F. 2, 21. ze £?er ainlifton
zit 2,46. der ewig 0 fro^mde [und der ewigoti ere] 2,44.46. der
hailige7i scrift 2, 46. gi7nahelon A. S. F. 2, 51. 5. Marion Mag-
dalenen 2, 75. die her t in trahta imd die herto7i spise und div
herton hrot 2, 107. hi ai7ier 7vit7V07i 2, 113 u. a., dagegen: ze
der hailigeti messe 2, 1. mi7ier frowen 2, 8. 13. sa7ite7i Marien
2, 8. mit der hailigen 7nin7ie 2, 9. ze ai7ier fro7ven 2, 20 u. s. w.
Der sclireiber von bl. 73*ff. wendet auch hier das «-zeichen
an: in der hailigun messe 1, 83; n-achmi D. S., in der altim e
1,86. m der alti7i e 1, 89. schunge7i (1. zu7ige'ii) A. S. 2, 91 in
Übereinstimmung mit der Zwiefalter Benedictinerregel:
ei7vigv7i perpetuam 2a; -en 4b; zungwi D. A. S. 2b. 3 b. 10b.
15b; 7nit der selbun 7'ätgebu7id 3b; sce7'un tonsuram 5b; der
regillichvn D.S. 6 b; wö/^/rmw« magistram 6 b; der selbun laiter
G. S. IIb; der ahtodun stund, halbunnaht 16b; 7iah der driitun
lezzun 17 b; der hailguji triualti, der gotlichun orthabunge 17 b;
V071 der altu7i gezivgu7ige 18a; der andru7i, vierdun, vu7iftim,
sehstun feri 19 b. 20 a; alrwirstun boshait D.S. 31b; der stren-
gi7'U7i disciplin 32 a; 'vo7i der 7vocchu7i 32 b. 33 a; der mcrru7i
D. S. F. 41 a; sua7'stun D. S. F. 48 a; mi7iistun A. S. F. 61 a u. a.^)
^) Dass, wie Behaghel s. 18 meint, die geschwächten vocale in den
endungen des adj. früher eintreten als in denen des Substantivs, wird
durch die Materialien nicht bestätigt.
488 KAUFFMANN
Es ist indessen zu beachten, dass auch masc. neutr. schwach,
flexion denselben ausg-ang zeigt in: hunder tusten : hunder titstun
G, S. M. 22 b; von zwainziymtvn, hundertusten, hundertustuji 22h.
23 a. 23 b; dim b?'üder gibantun D.S. 27 b; tnhirwi alt er minore
etate 36 a; zim anderun male 39 a (vgl. Behaghel s. 6) und
ebenso die adverbia: anderswanun aliunde 35a; sunderUngvn
singillatim 21b; allenihalhun -10 b; bei Grieshaber hinderwerti-
linyon 2, AI] entnornon 2, 112; eniuschon 2, 1 u. ö. und ferner
die Zahladverbien: drisfun iexQio dreimal 17a. 50b (dreimal
zu belegen); sihinstun septies 21a; sehr interessant ist widerum,
dass dafür in Grieshabers Predigten -o erscheint: dristo,
suhensto, zehensto, zwainzechsio, hundersto vgl. II, XI. Es kann
nicht zweifelhaft sein, dass -slun der Benedictinerregel die
erste stufe der abschwächuug des die composition bildenden
-stunt darstellt, und die 'isolierten' formen der Predigten auf
-0 aus -un geben ein sehr treffendes und sicheres zeugnis für
die fernere lautliche Veränderung. In den Urkunden finden
wir durchgängig schwanken zwischen -un und -ew, nähere an-
gaben sind überflüssig. Wir kommen auch hier zu dem
Schlüsse, dass die Orthographie der Urkunden etc. nicht mass-
gebend sein darf, für die taxierung des lautlichen wertes der
endvocale. Wie bereits beim gen. pl. (masc. und fem. s. o.
s. 478 ff.) begegnen uns hier neben einzelnen flexivischen formen
wie 7vitiwo, ervigo (s. o.) namentlich die zahladverbia in den
Predigten ohne auslautenden nasal; und zur beurteilung der-
selben sind noch aus den Predigten anzuführen: zwiro, zwiero
(zweimal), ahd. zwiro, zwiron, z7viront, mhd. neben zwir, zrviren
zwirent, znirnt\ ie vasto und ie vasto 1, 163, ie haldo und ie
baldo] dester gerno 2,3; aller vaslo 2,21; also vaste 2,48;
vgl.: Wan so der mensch ie verro ist von got, so er ie vaster
sol . . ie tiufer . . ie vasto . . ie vasto 2, 92 (2, XI f.). Ich
glaube, wenn wir das vorgeführte material als zuverlässig an-
erkennen, wenn wir ferner au einer gesetzmässigen laut-
entwicklung festhalten, dürfen wir uns nicht länger an die
buchstaben der Urkunden etc. gefangen geben. Noch bleibt
aber die wichtigste categorie, ahd. 4 zu erörtern.
III. Ahd. -? der enduug: Die lautgeschichtliche auf-
fassung ist hier sehr schwierig da der buchstabe -i- gerade
auch in obd. quellen des 13. jhdts. eine ausserordentlich um-
I
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 489
fassende Verwendung gefunden hat.i) Für die alemannischen
mundarten (hoch-, nieder-alem., schwäb.) gilt heute das all-
gemeine gesetz, dass die musikalische höhe der tonbewegung
im Worte (resp. Sprechtakte) bei ruhiger rede umgekehrt pro-
portioniert ist der expiratorischen Intensität der einzelnen
Silben, d. h. expiratorischer ictus (nachdruck) geht zusammen
mit musikalischem tiefton, nachdruckslose silben sind
musikalisch höher, Z. b. schwäb. ^pis etwas (schweiz.
öpis) zerfällt in die nachdruckssilbe f-, und die nebensilbe
-pis'^ -^ hat den expiratorischen ictus, liegt aber musikalisch
tiefer als die mehr oder weniger nachdruckslose silbe -pis,
dass die alem. mundarten sehr stark in betreff des musikali-
schen intervalles zwischen ictus- und nebensilbe differieren
soll hier nur bemerkt werden, für die principielle beurteilung
ist dies nebensächlich. Wenn wir nun an stelle eines heutigen
i-timbres der endung in ahd. und mhd. zeit -a- {elewaz) ge-
schrieben finden, ist es uns möglich auf grund dieses allge-
meinen tongesetzes die entstehung des /-timbres ungefähr zu
begreifen. Als in nebensilbe stehend, musste der alte a-laut
zunächst an Quantität wie Intensität herabgesetzt werden > 3,
und wenn historisch das tongesetz aufgetreten ist, zu einer
zeit, als «zu 3 geworden war, musste sich zum mindesten
eine erhöhung des dem betr. a-laute eigenen tones geltend
machen. Die ausgesprochene «-färbe vermögen wir zunächst
nicht zu erklären; wenn ich auch hier beiläufig bemerken darf,
dass allgemein im südschwäb., nieder- und hoch-alem. d vor s
wie palatal. cli, zu i geworden ist.
Leider sind wir noch nicht so weit, diese wichtigsten aller
sprachlichen factoren (exspirations- und tonbewegung) historisch
in ihrer entwicklung und ausbildung verfolgen zu können, aber
in unserem fall liegt es nahe, wenn wir heute dieses tongesetz
experimentell constatiert haben, es für eine literarisch über-
') Vgl. z. b. in einer Urkunde a. 1296: In gotis namin, ansehinl
oder horint lesin, wirtiyin tohlir, habin gebin, vnsii' aigin, agkir, mit
allir ehafli, horit, silbirs, des herin abbit, vnsir rehün erhin solin, sinir
rehtin erbon u. a. Ich verweise ausserdem auf das von Bartsch, Germ.
18, 50 f. publicierte Engelberger Marjengedicht, in dem beinahe sämt-
liche endungen als -i erscheinen, die aufzeichnung ist allerdings sehr
bedenklich.
490 KAUFFMANN
lieferte epocbe in auwendung zu bringen, die gerade durch
ihre Orthographie auf ähnliche zustände hinzuweisen scheint.
So glaube ich denn, ohne es vorerst näher beweisen zu können,
dass die zahlreichen /-Schreibungen in den alem. endungen des
13. jhdts. die existenz dieser heutigen tonverhältnisse zwischen
Stammsilbe und endung bezeugen. Da wir nun in abd. zeit
diese Schreibungen nur spärlich vorfinden, in der regel an
stelle eines späteren hellen \ocals tiefere timbres auftreten,
möchte ich weiter schliessen, dass dieses tongesetz erst in
mhd. periode wirksam geworden sei, ohne damit behaupten
zu wollen, dass diese betonung in ahd. zeit überhaupt nicht
existiert habe, möglicherweise hatte sie ursprünglich nur ein
bestimmtes geschlossenes territorium. Findet man diese an-
nahmen wahrscheinlich (ich werde an einem andern orte ein-
gehender darüber bandeln), so haben wir kein recht, ohne be-
stimmte beweise endungs-/ des 13. jhdts. direct als fortsetzer
von ahd. 4 zu nehmen, es spricht dann vielmehr alles dafür,
dass die -i des 13. jhdts. ein product jüngster Spracherscheinungen
sind, durch deren Wirkung der ursprünglich geschwächte vocal,
unter ganz anderen bedingungen als vordem, das /-timbre neu
bekommen hat. Auf diese weise kämen wir auf die entwick-
lungsreihe ahd. giioti > ffiieti > giiete > gü'eti (' fallender,
' steigender ton). Jedenfalls darf ich die von mir entwickelte
anschauung als möglich betrachten, nehmen wir dazu, dass die
reime der mhd. dichter die aussprachsform -e direct bezeugen,
wenn wir uns zunächst auf den unbefangenen standpunct einer
constatierung von tatsachen stellen, so meine ich fügt sich unsere
gesamte Überlieferung ohne zwang. Dazu kommt noch ein sehr
wichtiges argument. Es ist nicht ganz correct, wenn Behaghel s. 1 5
behauptet: 'Die wenigen belege für e aus z müssen, wenigstens
so weit sie der Schweiz angehören, ungenaue Schreibungen
sein, denn so weit wenigstens meine künde reicht, w^eisen die
schweizerischen dialekte noch heute in den in frage kommen-
den Substantiven das i auf.' Das ist richtig, aber in den
heutigen dialekten des Schweizerlandes erscheint -/ auch in
solchen fällen, wo nicht ahd. i zu gründe liegt und ich weiss
nicht, wie Behaghel dieselben erklären will.
Winteler, Ker. ma. s. 177 f. verzeichent folgende Neutra:
hö/fti (ahd. hefti n.) heft des messers, milltsi (ahd. milzi) milz,
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 491
netsi (ahd. nezzi) netz, hJrni (abd. hirnt) hirn, heri (alul. heri)
beere, rippi (abd. r//;;>« n.) rippe, essbi (abd. rt^/;a) espe, ^/r.r/
(abd. birihhu) birke, ivesshi (vgl. abd. tvefsd) vvespe, hii (abd. bia)
biene, xüni (abd. Ä/Vm/) kinn, tremi (mbd. clräme) balken.
Feminina ausser den geläufigen //<V~ r/ böbe, r^^^/ scbärfe etc.
{hirti beerde), hcesi {i\\\([. hasa) base, iUi (abd. 6/i//a) diele,
gUri'i (abd. /zV«) scblecbtes getränke. Maseulina: göti (mbd.
ö'öY^) pate, Japi (mbd. läppe), hutsi (mbd. hutze) und weitere
kategorien s. 178 f. Namentlicb diese maseulina und neutra
sind wicbtig und interessant, bei den übrigen formen kann
analogiebildung im spiele sein, die freilieb nicbt klar zu fassen
ist; bereits Winteler fand die berkunft dieser -i scbwer festzu-
stellen. Stickelberger, Ma. von Sehalibausen s. 55 ff. bringt
weiteres material bei, i stellt an 'stellen, wo man e (d. i. d)
erwarten sollte' und kann 'gescbwäcbt' sein nicbt bloss aus
altem /, sondern aucb aus a, e, e, u, ü (s. 56): bindi (abd. binda),
segi (abd. saga, sega), ausserdem sind beachtenswert die pro-
clitieae di- = mbd. da: dihäm dabeim, difonid davorn, dl-limid
da binteu, ebenso mi man indef., die wol am treffendsten die
Wirkung des tongesetzes veranscbaulicben. Damit schwindet
die sicberbeit, mit der Bebagbel die beutigen -/ der Scbweizer-
mundarten direct an mbd. /, abd. l angeknüpft baben will.
Es stebt durchaus nichts im wege, diese -/-endung aus irgend
welchem vocaltimbre secundär entstehen zu lassen.^ Es dürfte
*) Wenn schon das tongesetz zur erklärung der heutigen -i aus-
reicht, so kommt noch ein zweites hinzu, was Behaghel nicht beachtet
hat. Wie Kögel, Beitr. IX, 319 f. nachgewiesen, sind es in ahd. zeit vor-
wiegend Isidor und Murbacher denkmäler, in denen die form der obliquen
casus -m (von dem einfluss der verbalsubstantiva abgesehen) auch in den
nominativ der abstracta gedrungen ist, doch ist diese analogiebildung
aus weiteren alem. denkmälern zu belegen, vgl, ebenda s. 32ü, Beitr. IV, 420.
In mhd. zeit erscheinen reime auf -in, -in vgl. Sievers, Beitr. IV, 438,
Weinhold, AI. gr. s. 441 ff., ferner Paul, Mhd. gr. i^ I2ü anm. 3. Wein-
hold belegt: l^om.menegin, predin, greuwin, kelwin, geliorsamin, gu<^lin,
rveitraichin, freßn, s/mjflin, koltin, Ütuerin. den.: guelin. Dat.: fins/e)-in,
meliin, roetin, lacw'm, keltin u. a. Ich bin der meiuung, dass wir für
die alem. Volkssprache des 12. 13. jhdts. gerade so doppelformen (-<?: -m)
vorauszusetzen haben, wie wir in ahd. periode die betr. Substantive
zwischen -i, -i (?) und -in schwanken sehen. Paul hat bereits constatiert,
dass die <?-formen auf den nasallosen nom. sg. zurückgehen, -hi hat im
12.-13. jhd. ebenso den ausl. nasal verloren wie das dim. -im ==- -/t,
Beiträge zur gesohichte der deutschen spräche. XIII. 33
492 KAUFFMANN
überflüssig' sein, das material widerura detailliert vorzuführen,
iu den bei Behagbel verzeichneten Urkunden finden sich e aus
?, z. b. gehorsame Fürstenberg a. 1295 s. 8, St. Gallen a. 1275
hmUvesle, gegenwurle. 1277 hantveste (mehrmals). 1291 liehe,
haniveste s.lO. Aus Basel s. 13 zahlreiche e, i nur zweimal.
liehe 1275. s. 14 1283 lenge u. a. Aus Grieshabers Predig-
ten nenne ich: wit^sti \,1. 11. frühste 1,8.15. ru^ti 1,11. ru'le
1,17. verri 1,42. verre \,o^. unku'schl 2,1H. U7iku^sche 2^ lOS
u. s. w., vgl. 2, XVII. In der Zwiefalter Benedictiner-
regel finden sich die Schreibungen: gehorsami Ib. 4b. 9a;
gnumlichi 2a. 3b; vili 2 b; gedulli Aa. 5 a; sfiziba; denudida
u. (").; zurni 7a; an aller steti (loco) 8a; statt stabilitas 9a;
der ersti grad 9a; in der sjielli 9b; disi seihe horsami 10a;
höhi IIa; der zuhti G. S. 12a; alli steti omni loco 12a; alli
stund omni hora ebd.; di gidaiiki cogitationes (zweimal) 12a;
ih dähti 1. sg. praet. 15 a; lündi sint agendi sunt 17 a; sehs
salmi N. PI. 17 a. 21b. 22 a. {salmim 17 b. 18 b. salmin 18 b.
19 b. 20 b. 23 a); der sehzignst sehte salmi 19 a (vgl. Weinhold,
AI. gr. s. 433); sahne 19b; krenki (infirmitati) 28b; di trosti
solatia 32 b; soryi alrgröste N. S. 33 b; di sireniji 34 a; grozzi
(quantitas) 36a; triinkini 36 b; lancsa?ni 38b; pfisiri (pistrino)
40b; der nihi, uraisi 56a; di snäri der hurdi 58 b; alrswärsti
sacche : sacchi (occasio) 59 a; als langi (tamdiu) 60 a; di rothi
der scami (rubor confusionis) 61a; vgl. ferner der heiti (lecto-
rum) 48a; der nouici G. PI. 49b; der sithi morum 60b u.a.
Aus den Urkunden sind 1292. 1293 liehi, 1296 ehafti, 1305
liehi die einzigen mir zu gebot stehenden belege.
Eine formenkategorie ist von Behaghel nicht behandelt
worden, die conjunctive practeriti der schwachen verba.
Man hat schon mehrfach gerade hieraus argumente gegen einen
unmittelbaren Zusammenhang zwischen literatur- und Volks-
sprache entnehmen wollen. In Grieshabers predigten
stehen: rüweti 1,8. woHti 1,10.81. mo'^hte 1,11. ßrti 1,18.
ferWgenti 1,27. macheti 1,37. martereti 1,167. hlüti 1,168.
Vgl. Grieshaber pred. II, XII und den gen. pl. -o aus -on. Wir kommen
so auf doppeltem weg zu den heutigen bildungen. Von interesse sind
einzelne endungslose formen die Weinhold beibringt (s. 441), Synkope
war nur bei zu grund liegendem -e möglich, hlül : güeli wie soll : lepti
vgl. unten s. 494 f.
MIlTELHOCHDEUrSCHE SCHRIFTSPRACHE. 493
so''(/efi 2,1. lll. tveretl 2,2s. so'lte 2,h. A'^. heti 2,\0'd. wo'lte
2,107 (s.o. n-o'Ki). tvalefi 2, 112. bre/ife 2, lld. Vgl. auch
ersiihti 3. sg-. iudic. praet. 2, 109. Vgl, ih dähti 1. sg. indic.
praet. Zwief. Bened.-Reg. loa. (Weinliold, AI. gr. § 366.)
In dieser letzteren: virhancdi permiserit 31b; ebenda gUbi
dederit (vgl. Beitr. VII, 564); 58 a z. 8. lese ich deutlich under-
kanii, kämi ist wol correct, aber " wird von dem folgenden
i = in fälschlich auch auf das vorangehende / geraten sein; du
hul/i 33 a (2. sg. ind. praet.); ahliezi 15 a (reniisisti); wklermchhe
1 a (recesseras), d<< Ä'aw (venisti) 52 a. In den Urkunden sind
die betr. fälle nicht weniger spärlich: 1298 .vcÄa/^.v^/// (schadete)
3. sg, conj. pr. iheUla (thäten) 3. pl. schadegeli 3. sg. 1299
dühte 3. sg. 1315 woU'm, müslin 3. pl. 1318 vertigetint. 1333
laH und nit laisli 1335 gelwrlij, gefrnmti, löget e (= leugnete
conj.), sölty, sölt. 1365. 1367 fügli (1365 zugi). 1327 verligaie
(1327 ahgiengi). 1330 hedorfeün {ahgieng, sturh 3. sg. conj.
praet.). 13^3 angiengf. 1337. \M1 vertigati {nmrdi, wcri, k(fme),
tetin, (hrechin), irolten. vSo erschwert schon die überwiegende
Übereinstimmung mit dem conjunctiv-ausgang der starken verba
die beurteilung, ich glaube aber, dass die Schreibungen mit -e
den ausschlag geben müssen (vgl. Weinhold, AI. gr. s. 375), das
-i-timbre nicht unmittelbar an die ahd. -l anzuschliessen. Es
muss auch hier widerum hervorgehoben werden, dass bei Notker
circumflectierte formen mit kürzen wechseln, vgl. Kelle, Sitzungs-
berichte s. 275. Zs. fdph. 14, 160.
Zu beachten ist andererseits, dass in den heutigen schweizer-
mundarten (z. b. Kerenzen, Winteler s. 159 ff". 152 f.) der con-
junctiv praesentis der starken verba -/ als endung hat,
während der conj. praeteriti endungslos ist, z. b. steli conj.
praes., stcel conj. praet., helffi : hulff, sterhi : stUrh, ferlifri :
ferlur etc., die schwachen verben gehen im conj. praes. mit
den starken zusammen lehi (wie steli), losi, tsahli u. s. w., conj.
praet. endet aber auf -ti: lepti, losdti, tsahldti u. s. w\ Wir
sind danach wol berechtigt anzunehmen, dass i- der starken
und i- der schwachen verba eine gemeinsame geschichte gehabt
haben und wie ersteres, so auch letzteres aus mhd. -e ent-
wickelt sei, geradezu beweisend scheint mir dafür der umstand,
dass in denselben Schweizermundarten (Kerenzeu s. 164) der
conj. praet. der praeterito-praesentia endungslos ist: törft,
33*
404 KAUFFMANN
tlirsf, söl, mo.r.rl, 7)mssf, .vwimf, wet, yrnsst, ebenso ifPl, hrreJif,
lud (hätte), obwol für diese veiba im conj. praet. genau die-
selben etymologischen Voraussetzungen bestehen wie für die
sollwachen verba. Da nun so viel mir bekannt, etym. / der
ilexionscndung- in der geschichtc der niundart von der mhd.
epochc bis heute, in keinem fall synkope erfahren hat, haben
lepti : lürfl etc. als satzdoppelfornien zu gelten, beiden scheint
-1e zu gründe zu liegen, das je nach satzrhythmus erhalten ge-
blieben (resp. zu -ü weiterentwickelt, s. o. s. 490) oder ge-
schwunden ist.') Vgl. darüber Behaghel, die deutsche spräche
s. 159.
Tabellarisch stellt sich die Überlieferung in sämmtlichen
bisher erörterten flexionsendungen folgendermasseu dar:
') Hei Boncr fiadcn wir z. 1). cdolstein LXXXV', 8 ff.: wöli'i, sölti,
möcitl, nu'ilt etc. Vgl. aiu-h ähnliches bei Weinliold, AI. gr. §3()S-,
9. 4ü9 11. a.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 495
Behaghel. Predigten. Benedict. -R. Schwab, urk.
inf.-ön,(-6üt)
on, un,au, cn,
in
on, en, an,
(un)
uu, eu, iu
ou, eu, uu, au
-6t, -Ost
ot, ut, et, at
(ut, ust) ot, et,
at, ost, est
ut, ust, it, et
et, ut, ot, at
-onde
-ende
-ende
-6e
-ege
-ei, -ege
-ton
on, cn,an,uu,
in
on, en, un
uu
uu, an, eu
G.D.Pl.fem.
en, au, ou.
G. -0
G. -0, -a
D. -on.
G. -0, D. -en,
uu, in
G. -a, an, en,
D. un, ou, eu,
an
G. D. PI.
masc.
un, on, en,
an, -0
G. -0, on, en,
D. ou, eu
G. -0, in,
D. uu, eu
G. -0, en, on,
au, i). uu, ou,
en, an
-ä(n)
an, on, en,
a, e
a, an, en
a, an
en, a, au
-im
un, en, in, on
on, eu, 0, un,
in
un, en
un, en
-i
i, e
i, e
i
i, e
Wie stellen sich nun dazu die literaturdeukmäler?')
Es handelt sich daiuui, ob die geschwächten -c der reime der
niundart alem. dichter gemäss waren oder nicht. Behagliel
meint zwar s. 17, die möglichkeit müsse zugegeben werden,
dass schon 'einzelne' der jüngeren formen existierten. Wenn
wir berechtigt waren, l)ereits für die ahd. periode auf grund
von Notkers acceutuieruugsrcgeln einen Wechsel der quantität
1) Es kann sich hier nur um die anfangsperiode der mhd. literatur
handeln; auch die 'gegner einer mhd. Schriftsprache' sind des glaubens,
dass im laufe des lo. Jahrhunderts ein allgemeinerer typus für die lite-
ratur sich festgesetzt hat.
496 KAUFFMANN
für die in frajic stehenden cudsilbenvucale anzusetzen, und
daran wird nicht gezweifelt werden icönneu, so niusste bereits
im 11. 12. jhdt. eine ganze kategoric von formen 'lautgesetzlieh'
mit geschwächtem c erscheinen, so weit eben gekürzter end-
vocal zu gründe lag. Der dopjjellieit der lautformen (ge-
schwächter neben vollem vocal) entspricht noch durchaus die
Orthographie der Urkunden, und ich glaube sie kann nur auf
diese weise sachgemäss erklärt werden. Demnach ist es ein
durchaus unberechtigtes ansinnen, wenn Behaghel in den poe-
tischen litcraturdenkmälern durchgchends die vollen end-
vocale verlangt. 'Es ist zwar äusserst unwahrscheinlich, aber
docii nicht ganz ausgeschlossen, dass schon die mundart
Ulrichs (von Zazikofen) vereinzelte Jüngere -cn gekannt hätte.
Immerhin müssten dann solche reime bei Ulrich viel seltener
auftreten, als bei dichtem, die nur -en in den cndsilbcn kennen'
s. 18. Bei meiner auffassung fällt all das weg. Wir müssen,
nach der Orthographie zu schliesscn, voiaussetzen, dass Ulrich
von Zazikofen in seiner mundart geschwächte eudvocale als
historisch gleichwertig neben den vollen besass; das numerische
Verhältnis ist für uns ül)erhaupt nicht mehr festzustellen. Es
ist sehr zu beachten, dass nach Hahn (ausgäbe s. XVll) die
Wiener handschrift des Lanzelet 'tiefere vocale statt e in den
cndungen, z. b. hekandan, sahun, hosun\ aufweist. Es genügt
diese dürftige angäbe (in dem Variantenapparat sind dieselben
leider nicht berücksichtigt), zusammen mit den predigten und
der Benedictinerregel überhaupt nicht mehr zwischen der Ur-
kunden- und der literatursprache zu scheiden, wir sehen
dass dieselbe Schreiberpraxis geherrscht zu haben scheint. *)
Behaghel war meiner meinung nach durchaus im irrtuni,
wenn er reime wie heginnen : hinnen, n-unncn : mannen,
(tonnen : mamien (s. 17) als gegen die mundartliche lautform
verstossend betrachtete, ich finde im Lanzelet allerdings keinen
^) Folglich entspricht es auch nicht den tatsachen, wenn Wackernagel,
Literaturgesch. s. 124 behauptet: 'Das dreizehnte Jahrhundert kennt die
schärfere ausprägung und sonderung der mundarten und, damit verbun-
den, nachhaltende altertüinlichkeit der formen nur noch in zwei gattungen
der literatur, die vom hofleben weniger berührt oder gar von demselben
ausgestossen waren, in der prosa der geistliclikeit und in der Volks-
dichtung'. Dagegen auch Pfeiffer, Freie forschung s. .SIT f.
5IITTELH0CHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 497
reim auf die volleii eudvocalc, dagegen zeigen die baudschriften
mehifacli im inncrn des verses die endung -an: ü:;enan 4101,
inuan 4674, ii2,aH 4773, mnatt 4890, obenan 5056 W u. a.;
zeugniss geoug, dass die iiiuudart des dichters auch hier die
doppelfornieii gehabt hat und es mögen äussere tecimische
gründe gewesen sein, dass sie im reime nicht gebunden wor-
den sind. Ebenso wenig- dürfen die übrigen -en-formen (ahd.
-du, -nn) als nicht numdartlich angefochten werden, da eine
grosse zahl von reimen existiert, in denen die vollen vocale
zulässig sind, und das gleiche gilt bei beurteilung der -e aus
•i Der reim vcrhenye : Icnge 49. 50 (Behaghel s. 17) ist ge-
wiss zu Ulrichs zeiteu mundartlich ebenso correct gewesen, wie
er CS heute im schweizerischen sein würde, vgl. oben s. 493 f.
Au zutreffenden reimen hebe ich hervor: gedwhlc : brmhle
Lauz. 217. 218; bedeckte : brcchle 757. 758; tccle : hiclc Voll.
1578. 4989. 4990; erten : kSrlen (conj. praet.) 761. 762 u. a.:
und wenn sich Behaghel an dem reim kemenälen : beraten 89.
90 stösst, so führe ich kemenäten : täten (3. pl. praet.) 1185.
1186. 2 127. 2128 als gegenzeugen an; es lässt sich nicht be-
weisen, dass die zahlreichen vroiuven : schouwen incorrect sind.
Vgl. ferner zuo den stunden : wunden (A. PI.) 2197. 219S; wol
auch künden : stunden 8705. 8706 u. ö.; sümden : schümden 2567.
2568; gunden : künden 81. 82; gerte : werte 83. 84. 6167. 6168;
gewaget : yenissaget 93. 94; stunden : künden 3469. 3470; bran-
den : bekunden 3701. 3702; enge : (enge 4869. 4870; gerende :
werende 5240. 5241; täten : häten 5555. 5556; gelobet: ertobel
5889.5890; handeln : wandeln 8213.8214; mähte : töhte SIU.
8712 u. ö., wol auch machen : suchen 9007. 9008 u. a., lauter
fälle, in denen die einsetzung der vollen endvocale statt-
haft wäre. Ich mache noch auf die reime in Keiuhart Fuchs
(Elsass) ed. Eeissenberger aufmerksam, die sehr instructiv sind;
während das 'ursj)rüngliche gedieht' gehandelot : döt 1617 reimt,
finden wir 1750 gehandelt^ ebenso gän : damiän IIb. 776, län :
dannän 821. 822, kan : dannan 1561, dannan 1730, aber daniiin
1714, {gewinnen : hinnen 1989, mit unminnen : liinnen 521. 522).
Vgl. ferner wainunde^W, weitere belege Weinhold, Al.gr. s. 380;
gleti^\i)\ gletinSW; einost Uli; nher santest 1^1 b; weizgot :
umbemurot 829. 830; gevolgöt : not 1645. 1646. Vgl. gevolgete
1634; war)iete 752; gelagot : not 1697. 1698. Die jüngeren
498 KAUFFMANN
texte P imd K haben an den bctretieuden stellen die reime,
weil ihrer mundait nicht augchörij;', umgangen und andere
constructioneu eintreten lassen (vgl. Schönbach, Zs. l'da. 29, 52.
55. 60. 63. 64), doch ist tot : ühcrkündiydt 1127. 1128 stehen
geblieben. Schon für das alte gedieht ist demnach die existenz
der vollen neben den geschwächten endvocalen gesichert und
sind formen wie scotvittc KUl (analoge fälle bei Weinhold, AI.
gr. § 358), wochin \}. PI. {: geslocliin) 18*.M, tjehandclt 1750 u. a.
nach unserer auffassung anstandslos. Auch in Barlaam und
Josaphat stehen noch z. b. yelichsonte 8,39 (D. 13. — 14. jhdt.),
hinnan 9, 18. 164,2 C. K. 175,34 C. 181,13 B u. a., hattisl 111,35,
aber haitost 1), 38 (D) (vgl. Weinhold, AI. gr. s. 372), saglont
35, 13 (A. D.), (lamian 76,35 (A. ü.). 171,2 K, ze shicr vinstrun
K, lingun C 92,33, dise seVnm lere 137, 20 K, wollont 278,3
(d. 13. Jhdt.), dannmi 285, 10 (d,), dannan : man 337,39. 40 K;
n-einonde 373,29. 374,2 (A).')
') Vgl. ausserdem die satuuiluiigen bei Jak. Griimu, Graiuiu. 1, S77
(ueudr.), Weinhold, AI. gr. s. 3S0. Meinloh von Sevelingen hat nur
varn : hewarn als in frage kommende bindung, betvarn ist so wenig
anstüssig als die gern, bewcrn, gcmanl etc. der Urkunden s. u. s. 472.
Ebenso sind zu beurteilen bei Heinrich von Rugge: tvcincn 1)7, 38:
meinen 08, 2. gert : wert !)s, 33. 34. IDO, 2. 5. gebunden : stunden 101, 27.
leren : cren : verkeren : meren 110, 27. 20. 3!. 33 (gehören 29 und 33 zu-
sammen? doch vgl. anm.), dagegen verwandelöt : rot 107, 13. 14, für
correct halte ich auch zeren : meren HO, 3. 4 (s. o. s. 478), über behüele
: güele etc. vgl. s. 493 f. Aus Bartsch, Die Schweizer Minne-
sänger notiere ich: gueti Rudolf von Fenis 3, 24. 32 B. liebi Ulrich von
Singenberg 24, 8. 23 BC. 24,17 B. conj. merti : erti 25,2.4 A. Göli:
anderan 1, 36 B. zwirant 1, 54 B. samnoni 2, 49 C. Jacob von Warte:
liebitn 1,36. Hadloub: dannan 5, 33 C. 6,6 C. hinnan 36,3. stubun
18, :32 C. matigi 26,3 C. liebi 34, 5. 6 C. ro^ti 52, 101 C. Ringgenberg:
ließ 30 C. halost 47 C. santost 45. Gliers: gesundost 2, 146. ütte zem
Turne: gallun IS. Rost ze Sarne: liebi 5, 10 C. Vgl. noch Bartsch, Germa-
nistische Studien I, s. 8 und anm. zu v. 617. Heinrich von Veldeke: Annan
: dannan 1451, 52 B. u. a. — Es fragt sich, wie es psychologisch aufgefasst
werden muss, wenn wir einem Individuum schwanken zwischen 'vollem'
und 'geschwächtem' vocal aufbürden. Die Sachlage ist hier eine ganz
andere, als wenn Behaghel die eine form als 'analogiebildung' erklärt
(vgl, 0. s, 473), die immer eine gewisse spontane activität der gedächnis-
kraft erfordert, welche nicht einen augenblick ruht, nachdem sie eben
in action gewesen ist. Bei meiner mit Paul zusammentreffenden er-
klärung involviert ein bestimmter satzrhythmus eine bestimmte lautform,
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 499
Weuu uuu Beluighel scliliei^slicb Boiier's edelstein (14.
jhdt.) als gcgcubcwcis anzieht, so kann idi hier wider niclit
beistimmen. Dass bei ihm hinnen, dannen etc. nicht im reime
erscheinen, l?ann nicht für die ausschliessliche existcnz der
volleren hinnan, dannan geltend gemacht werden, und wenn
die 'eigcuschal'tssubstantivc' nicht reimen, so stimme ich hier
Behaghel durchaus bei, dass Boner 'f/üeli, schoeni etc. sprach
und es seiner mundart an reimbindungeu dafür gebrach' s. 18.
Aber ich habe oben s. 4SI) ti'. ausgeführt, dass /- dieser kategorie
als jüngere eutwicklung aus -e aufgefasst werden muss, die
im 14. jhdt. in der Schweiz bereits stattgefunden hatte.')
Aus allem geht hervor, dass sich nicht beweisen lässt,
dass die alem. dichter wie Ulrich von Zazikofen u. a., in ihren
reimbiudung-en lautformen verwendet haben, die ihnen
ihre eigne mundart nicht gewährt hätte. Wenn wir die
lautgeschichte der endsilbenvocale nach unseren denkmälern
ahd. zeit einer- und nachclassischer mhd. zeit (ende des 13.
jhdts.) andererseits objectiv zu beurteilen vermögen, so hat der
alem. dialekt bereits im 11. 12. jhdt. geschwächte -e für alle
kurzen vocaltimbres ahd. periode eintreten lassen, die langen
spätahd. endvocale haben ihre qualität bewahrt, über die
quantität lässt sich nichts bestimmtes sagen. Folglich brauchte
ein Ulrich von Zazikofen u. a. nicht lautformen fremder gegen-
den oder einer bestimmten literaturspracbe sich anzueignen,
vielmehr hat ihm sein eigener heimatlicher dialekt die ge-
schwächten wie vollen flexionen geboten. Folglich ist von
dieser seite her kein argument gegen eine nicht der mundart
gemässe sprachform aufrecht zu erhalten. Folglich wird es
vorerst immer noch bei der früheren ansieht 'sein beweu-
wenn der rhythmus eingesetzt ergeben sich ursprünglich mechanisch die
iliui adäquaten töne und quantitäten (vocaltimbres). Für die reime der
dichter kommt dazu, dass sehr viel refiexion über die sprachform mit
unterläuft, die für einen urkundeuschreiber oder prosaiker nicht in dem
masse besteht, die 'reimnot' kann häutig für diese oder jene laut-
tbrm entscheiden, und es darf in unserem falle der 'geschwächte' vocal
der endung nicht auf rechnung fremdsprachlichen einflusses gesetzt
werden.
') III, IV) findet sich noch begegnoten in papierhandschriften des
15. jhdts. Vgl. noch got : verdknot 22, ül. (>2; spot : vcrwandefot
2'.», 17. IS,
500 KAUFFMANN
den haben müssen'. Von dieser seite war kein angriff
niöglicb.
Im anschluss an Paul, Beitr. Yl, 137 ff*, lässt sich die ge-
schichte der ahd. cndsilbenvocalc in den alem. dialekten»)
skizzieren: 'ein von natur langer oder durch do})pelconsonanz
gestutzter vocal auf der niittclstufe oder mindestens auf der
stärksten mittelstufc entzieht sich der abschwächung. Nur
haben diejenigen formen, in denen die erhaltung des vollen
vocals durch die syntax bedingt ist, immer nebenfornien mit
abgeschwächtem vocal zur seite, von denen sie gefahr laufen,
ganz verdrängt zu werden.' Paul a. a. o. s. 137 f. Ich glaube mit
dem eben vorgeführten material die Paul'sche anschauung aufs
neue gesichert zu haben-), und es kann als ausgemacht
gelten, dass bei dem schwanken der ilexionsendungen 'wirk-
lich verschiedene lautstufen ^orliegen, die unter verschiedenen
syntaktischen bedingungen entwickelt sind. Paul a. a. o.
s. 13'.) anni. 1. ISämtlichc langen endvocalc auf schwäch-
ster nachdrucksstufe sind in ahd. i)eriode quantitativ
reduciert worden, unter denselben uachdrucksbedingungen
ist die qualitative reduction zu e durch eine beschleu-
nigung des Sprechtempos erfolgt, die in der zungen-
articulation nachdrucksloser vocale eine art neutralstellung
herbeiführen konnte. Daneben bleiben aber unter der macht
des nebentons (stärkste mittelstufe Pauls) positione- oder
natura-lange endvocale gewahrt. Allein damit ist die entwick-
lung noch nicht abgeschlossen gewesen. Nun machen sich
weitere Specialgesetze der alem. mundarten geltend, unter deren
Wirksamkeit neue Veränderungen eintreten.
Untersuchungen ganz anderer art haben mich seit längerer
zeit darauf geführt, bei der feststellung einer Chronologie der
lauterscheinungen des schwäbischen dialekts den eintritt des
') Bezüglich der nördlicheren mundarten glaube ich, dass vermut-
lich das lebendigere Sprechtempo und die energischere musi-
kalisch hochtonige accentuation der Stammsilbe (im gegensatz
zu den alem. dialekten, in denen markierte nebentöue herrscheu) die ab-
schwächung eine stufe weiter geführt haben; beide momente mussten eine
ausgedehntere reduction an qnantität und qualität zur folge haben.
-) Ich verstehe nicht, warum Behaghel dieselbe keiner discussion
gewürdigt hat.
MITTELHOCHDEUTSCHE SCHRIFTSPRACHE. 501
sämtliche aleai. mimdarten uuiCassseudcu lautgesetzes der nasa-
lieruug- ins 12. — lo. jhdt. zu veiiegeu. In staninisilbeu hat
heute das hoch- und niedcralem. die nasalvocale nicht mehr,
vielmehr ist im laufe der zeit wider choauenverschluss einge-
treten, dagegen hat das schwäb. sie festgehalten. Wol aber
gehen schwäb. und alem. darin zusammen, dass in endsilben
keine spur des nasals geblieben ist, die alte endung -en > 9
(nicht nasaliert). Paul a. a. o. s. lo9 hat diesen abfall des
nasals nach dem Vorgang von öicvers unter denscll)en ge-
sichtspunkten wie die allgemeine abschwächung der endsilben-
vocale betrachtet, und es kann nicht zweifelhaft sein, dass
diese anschauung für die ebenda aufgeführten beispiele zutrifl"t,
es ist auch möglich, dass der 'abfall' des nasals im auslaut
chronologisch gleichzeitig vor folgender cousonanz eingetreten
sei (a. a. o. anm. 2), da nun aber in den alem. dialcktcn auch
in Stammsilbe die lautfolge vocal -|- nasal zu nasalvocal führte,
musste in späterer zeit — ich werde durch verschiedene combi-
uationen ins 12. — 113. jhdt. geführt — auch in absoluter auslaut-
stellung der nasal schwinden. Damit stimmen vortrefllich die
oben s. 178 ff. mitgeteilten belege für -o, -a = ahd. öu, ün, wie
die zahladverbia drislo etc. s. 4SS, die anders überhaupt nicht sich
werden erklären lassen. Vgl. auch Weinhold s. 348. 378. Im
13. jhdt. mussten also die -on, -im, -an etc. durch nasalvocale hin-
durch den nasal verloren haben. Die Schreibungen der
Urkunden und deukmäler sind also nicht der aus-
sprachsform congruent, wenn der nasal überwiegend
beibehalten wird. Es ist wahrscheinlich, dass sich n\is\.o,u,a,c
gleichzeitig zu d reducierten, es lässt sich nicht beweisen, dass
der heutige unbestimmte laut schon das product der Schwächung
bei dem Übergang von ahd. zu mhd. periode gewesen sei, viel-
mehr scheint diese reduction erst jetzt eingetreten zu sein und
hat c so gut mitbetroffen, als o, u, aA) So fielen nach mei-
ner meinung lautlich die e-vocale mit den vollen endungs-
^) Zweifellos stellen aucli die o in gravo, schenko, altho, crbo bei
Behaghel s. 0, Weinhold, Al.gr. s. 432, nur eine transscription des
p-lautes dar, der vielfach in späteren Jahrhunderten in derselben weise
mit o widergegeben worden ist; vgl. Weinhold, AI. gr. §26.83. 'Eine
Übertragung aus dem Gen. und Dat. PI.' wie Behaghel will, erscheint
mir als anachronismus.
502 KAUFFMANN
Yücaleu zusammeD, imd uuu ist es leicht denkbar, dass auch
die vollcu M»cale iu der stellaug: vor -/. -^7 (pract., part. praet.,
2. sg. praes. der o^-verba) nachdem int'.. ])raes., part. praes. und
die alten satzdoppclfornicn mit -e- iu ^ zusammengefallen
waren, allmählich unterliegen und dem gedächtuis entschwinden
mussten, vgl. noch die reime bei Boncr u. a., Wcinhuld,
AI. gr. i; 43. So sehe auch ich in der bunten Orthographie
der Urkunden etc. nichts anderes als den reduetionsvocal .*
iBehaghel s. 5 f.), vgl. auch Schmeller bei Griesbaber II, XI f.
Allein noch bleibt das bedenken bestehen, wie es denn ge-
kommen sei. dass die sehreiber im grossen ganzen so auffallend
genau mit den historischen (ahd.i hingst untergegangenen laut-
formen in ihrer Orthographie zusammentrafen?
"Wenn ahd. -en, -on, -un, -an so gut wie ahd. -f«, -ön, -ün, -du
zu c^ geworden waren, warum ist im 13. 14. jhdt. -on, -un, -an
nicht häufiger auch an stelle jener früheren kürzen eingetreten,
warum sind fälle wie komon inf. (s. o. s. 469), tratjon, werdun,
[/ebiefun, unpfelhun, helff'un, haissun, bindun, lihun, neimm Wein-
hold, AI. gr. § 35U. 352. 370, kindon, hömon. negon, hiisron (s. o.
s. 479 f.), engilon, geiston, himelon, sinnon, phennhigon, fogtun,
neynn Weinhold, AI. gr. s. 415 f., kindon, nerchun, mälon, hoiip-
lon, jöran, nortan, dingan s. 425, namon, nillun, herrun, scha-
d«n, gehrestun, hasan, lantgrävon, geseUan, die andran s. 434 f.,
mannen s. 44S u. a.. Gotzun, offun, Odun Behaghel s. 6. nicht
zahlreicher? Mir bleibt zur erklärung dieser auffallenden er-
scheinung nur der ausweg, dass auf alem. boden das ortho-
graphische System des 11. — 12. Jahrhunderts noch im 13. 14.
Jahrhundert traditionell im grossen und ganzen beibehalten
worden ist, was mir um so leichter glaublich scheint, als
der Schreibunterricht immer au band geschriebener vorlagen
gegeben worden sein muss.
Doch ist zu beachten, dass -on, -un, -an vielfach unter
sich coufundiert worden sind, vielfach ist die bezeichnung -an
tnr ahd. -an an stelle von ahd. -on, -un getreten ^j, besonders
-) Dazu kommt noch ein weiteres. In den heutigen alem. mundarten
ist ? sehr stark a-haltig, d. h. der resonanzraum tür a und 9 ist beinahe
derselbe, ich glaube dass dies auch bei den im 14. Jahrhundert immer
zahlreicher auftretenden a-schreibungen von einflnss gewesen ist. — Es
mass hier ferner bemerkt werden, dass auch andere etym. volle vocale
MITTELHüCHDELT.SCHE SCITRIF TSPRACHE. 503
häufig ist -nn durcli -un ersetzt worden, seltener, der zahl
der raöglicheu fälle entsprechend ist -on für -an eingetreten
s. o. s. 4S3, "Weinhold, AI. gr. § 26. Beachtenswert sind die
schwäh., seltener alem. -ii- an stelle von ahd. -o- der -o«-verba
und im pl. praet. der sw. verba überhaupt, s, o, s. 46S tf. Ich
halte es für sehr wahrscheinlich, dass hier ein lautlicher Über-
gang von 0 > u bereits in ahd. periode eingetreten ist, Isidor
und Otfrid, die in andern beziehungen mit dem schwäb. ver-
wantschaft zeigen, kenneu gleichfalls -u- an dieser stelle
ebenso Tatian u. a.. vgl. Braune. Ahd. gr. §§ 319. 320. 360
anm. 1 {zi i/invihhunne Ahd. gl. I, 326, 51), doch bedarf dies
einer besondern Untersuchung.
Die tatsache, dass ein und derselbe Schreiber iu ein und
derselben form vielfach bald 'vollen" bald 'geschwächten" end-
vocal gesetzt hat (s. o. s. 472 tf.), ist nur so erklärlich, dass
etym. -o, -u wie etym. -e in d zusammengefallen waren;
dass die von anfang au in der spräche stark überwiegen-
den -e in der Orthographie immer mehr terraiu gewinnen,
ist nicht verwunderlich, nachdem o allgemeiner endungsvocal
geworden war.
in den heurigen dialekten durch p vertreten sind, z. b. schwäb. d?b9i =
mhd. dühi u. ähnl., faeßtsrvanisk fünfundzwanzig (.-' = und). an.'>le dim.
zu Anna, fasn9t (fastn.icht) u. a.
MARBURG, den 16. juui IS^T.
FRIEDRICH KAUFFMA^'X.
ZUR
ALTGERMANISCHEN SPRACHGESCHICHTE.
GERMANISCH UG AUS UW.
Vi ie in ueunordischen mundarten uw in ug {^g als stimm-
hafter Spirant gesprochen) übergeht (vgl. Noreen, Arkiv I, 161 ff.),
so ist vorgerm. an- {uu) unter gewissen bedingungen im iir-
germanischen in ug tibergegangen. Diesen lautiibergang, der
bisher fast gar nicht beachtet ist, will ich hier näher behandeln,
um dadurch die von mir begründete lautverschiebuug bei einer
wichtigen Wortsippe nachzuweisen.
1. Ahd.Jugimd fem., dat. Jugundi] selten und später jm»-
gund. Mhd. Jiigent, Jugend:, nhd. Jugend. Asächs. Juguth, gen.
und dat. Jwjuthi (psalm. Jug'mde dat.). Nndl. Jeugd. Ags. geo-
gut), das als ö-stamm flectiert wird. Dies wort zeigt einen
stamm Jugünpi-. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass dies
mit ind. ?/ui'a?z-, jung, \2ii. Juven-, womm. juvenis, woyon Juventus,
zusammengehört. Daher ist Jugünpi-, statt '^Junn'mpi-, aus
vorgerm. 7«//'w//- entstanden, wie auch Kluge, Stammbild. § 1311)
erkannt hat." Das un der früher betonten silbe (statt en)
scheint aus anderen formen, in denen das un unbetont war,
übertragen.
Die form auf Jug- wird durch die Übereinstimmung des
ags., asächs., ndl., ahd. wenigstens als urwestgerm. nachge-
wiesen. Später hat man \idiQ\\ Jung ahd. Jungujid, mhd. Jungenl
Junz/el, mitteleng. youngth (vgl. norw. dial. yngd) gebildet.
Got. Junda setzt dagegen vorgerm. ''^Jünla aus '^-Junnla
voraus.
2. Altnord. prUga, praet. prUgabi. Weigand und Kluge,
Beitr. IX, 173 verbinden dies mit mit ahd. drUh fessel, drucchen,
ags. pryccan, drücken. Allein prUga bedeutet nie 'drücken'
sinnlich gefasst, dagegen 'bedrücken, durch drohungen zwingen'
BUGGE, GERMANISCH IJG AUS UTF. 505
und ist im ueunordischen das g-e wohnliche wort für 'drohen'.
Es ist oftenbar mit den folgenden westgerman. Worten ver-
vvant: ahd. ürao, drö f. drohung, ags. prea: ahd. drouwen,
drohen, ags. prew/eun, prean 'arguere, inerepare, corripere*,
auch 'eogere, coartare, urgere (bedrücken, zwingen)'. Hier-
nach scheint mir der nordische verbalstamm prüga-, urnord.
''''prügö- aus '^'prwvd - entstanden.
3. Ags. hrycg f., engl, hriüge, setzt einen urgerm. stamm
'Hrugjö- voraus. Auch in schwacher form afries. hrigge, hregge,
mnl. brugghe, ahd. hrucca, mhd. uhd. brücke, altn. hryggja.
Das altnorw. wort bedeutet selten brücke, gewöhnlich hafen-
damm, quay, auch eine zur landung augewante planke.
Daneben steht altnorw. isl. hrU (gen. sg. hruar, n. pl. hruar)
f., schwed. däu. hro 'brücke', auch: fester weg über sümpfe,
treppe vor einem hause.
Kluge meint, dass hrü aus einer grundform '''bruwü- für
'•'brug7vö- entstanden sei. Allein dass g diesem stamme ur-
sprünglich nicht zukommt, wird durch die formen der verwan-
teu sprachen erwiesen. Ksl. brüvi f. braue, auch: poutieulus.
Gr. 6(pQv-^ oder oqQvc. f. braue, jeder erhöhte rand, uferrand;
ocpQv?] bergrand. Ind. bhrU-s f. braue, acc. bhn'wam, instr.
hhruva . Ir. bra braue, pl. brai; daneben gen. dual, bniad.
Mit altn. brU f. 'brücke' formell identisch ist ags. brU f. braue,
cas. obl. brüwe, pl. brUwa. Erweitert ags. gen. pl. brüna, altn.
brün f., pl. bnfnn, braue, hervorragender rand. Dem ahd.
hrärva f. braue, altn. brä f. augenwimper (urgerm. Hreirn).
ags. brcew m., palpebra, entspricht formell gall. by^tva 'brücke'
aus "^breva.
Hiernach setzt, wie ich vermute, ags. brycg, sisimm '^bruggjo-,
älteres ''•'•hrugijä- aus '■•'bru/rijä- voraus. Für die ableitung ver-
gleiche man gr. ycovia, lyydtj, x/Lioi/j u. s. w. Im ags. brUft-e
(cas. obl.) hat sich das tv nach einem bei der freien accentua-
tion betonten vocale ungeäudert erhalten \'^brugJ aus Hrwvj,
Kluge, Et. wb.^].
Lat. brukas m. Steinpflaster, steinbrücke, lett. bruge, bi-ugis
poln. weissruss. b^-uk, est. prüggi sind aus dem schwed. bryggja
oder aus einer niederdeutschen form entlehnt.
4. Nhd. mückc^ mhd. mücke, mucke f., asächs. muggia, ndl.
mng, ags. mycge, eng. midge, mittschwed. myggia (Rydqvist III,
50G BUGGE
132). Diesen formen Avürde ein got, ■hmif/jö, stamm mugjrm-y
entsprechen. Sehwed. dün. inygg^ myg n. setzt einen stamm
mijggjn- ans mugja- voraus. Fick und Kluge haben dies wort
mit gr. ftvy.äofiai ver])unden. Hiergegen sprechen mehrere,
wie es sckeint, vcrwante nordische formen. Altisl. w?//" n.
'mücke', auch in norweg. und sehwed. mundarten. Eine form
aus Dalarne (Schweden) setzt altes mifja f. voraus; s. Xoreen,
Ordlista 128 f. Neben dem compositum norweg. dial. myhanke
(eine art langbeiniger miicken; ?/ geschlossen, setzt altn. langes
if voraus) finden sich in anderen mundarten meliank {e ge-
schlossen, setzt altn. langes e voraus) und mehrere formen mit
mer. Wenn mugg'm, mijggia mit my zusammengehört, kann das
// desselben nicht dem x von ficxäofmt entsprechen. Die ver-
wantschaft mit fny~ beweist vielmehr, das mücke, stamm '''•mug-
jon-, und nord. ?nygg n., stamm '"^iniigja-, aus ''^•muwj- entstanden
sind, '''muw- stand zur zeit der freien betonung jedenfalls in
protonischer Stellung. \'ielleicht darf man vorgerm. ^mumiü,
'■"•mu/rih-?)) voraussetzen. Zwischen altn. wt/" und norw. dial.
mehank besteht dasselbe Verhältnis der vocale wie zwischen
altisl. hhfja ^obdach geben, schützen, wärmen' und dem praeter,
dieses verbs hle^^a (auch Iil/r^a), zwischen sy'Ja 'tabularum in
corpore navis ordo', praes. inf. ''''sfja 'zusammennähen, zu-
sammenfügen' und dem praet. dieses verbs setia (auch ssba).
hlyja ist aus '^'Miujan, hie<)a aus ^hlcnibö entstanden. Ebenso
*sy'ja und set5a aus siujan und *sewibö, *smi()(). Dass nicht
*.«Öa aus *siwibö entstand, erkläre ich daraus, dass t vor ?r
in e übergieng. Hiernach führe ich altn. my' auf einen urnord.
stamm '''miuja- zurück. Die compositionsform me-, welche im
norw. mehank erscheint, führe ich auf urnord. ^?ne/ri- zurück.
Anderswo werde ich näher ausführen, dass ein selbständiges
nord. harj3R (ich lasse die qualität des nach j folgenden vocales
unbestimmt und bezeichne denselben daher durch d) gleichzeitig
mit der compositionsform hari- bestand. Ebenso bestand *mmjd
neben *mcwi-.
Ausser den oben genannten nordischen formen finden wir
noch sehwed. dial. inugg m. (Dalarne), niogg f. (Södermanland),
norw. dial. mugg n. (Telemarken). Diese setzen wol die Stamm-
formen '-hnuggwa-, *muggwö- voraus, welche durch 'Verschärfung'
aus '''■muwo-, munü- entstanden sind.
In dem Verhältnis von mllcke^ nord. mygg zum nord. nnf
GERMANISCH IJG AUS [JW. 50"/
finden wir also einen uralten ablaut wie z. b. in dem Verhältnis
des altn. trür, nbd. trauen zum altu. tryggr, nbd. treu.
5. Altnorw. isl. hrüga f. baufen übereinander liegender
dinge; auch klumpen, besonders von unrat. Das wort gebort,
wie icb bereits Kubns zs. XIX, 420 bemerkt habe, zu lit.
kräfvh f. häufen übereinander liegender dinge (z. b. stroh,
dünger). hrüga. urnord. stamm *hrUgön- ist also aus ''"hrüwd'n-
eutstanden.
In norvveg. mundarten findet sich nicht nur ruga, sondern
auch in derselben bedeutung ruva. In Arkiv II, 220 habe ich
dat. rrifuu in mehreren beispielen aus dem 14. Jahrb. im süd-
östlichen Norwegen nachgewiesen. Dies v ist nicht unmittelbar
aus dem ursprünglichen w, sondern zunächst aus g entstanden;
vgl. norw. dial. jfwr == altn. jUgr euter.
Das mit hrüga in betreff der bedeutung verw^ante norw.
dial. ruka, schwed, ruka setzt ein altes ''^hruka mit ableitendem
k voraus.
6. Got. hugjan (praet. hugida). Altn. hyggja (praet. hugtia,
pf. pcp. hugat). Ags. hycgean (praes. 2. sg. hogas Durhambook,
3. sg. hogati kent. psalt., praet. hogde). Asächs. hugglan (praet.
hogda, hugda). Ahd. huggen, aobd. hukkan (praet. hugita^ hogta.,
obd. hocia, bei Otfrid auch hogeta). Das verbum bezeichnet:
denken, meinen, beachten, beabsichtigen u. ähnl. Siehe über
die fiexion u. a. Sievers, Beitr. VIII, 91; Kögel, Beitr. IX, 509—23;
Braune, Ahd. gr. § 361 anm. 4. Der urgerman. verbalstamm ist
*hugc-, praes. 1. sg. *hugejö.
Nach meiner Vermutung ist huge- aus '"^huwe-, vorgerm.
kuwe- entstanden. Dies gehört mit dem ind. knvdte in ü-ku-
vate 'beabsichtigen' zusammen. Ebenso ist got. hugs, altn.
hngr (nom. pl. hugir), ags. hyge, asächs. hugi, ahd. in den
bair. Pariser glossen huki 'mens, animus' aus vorgerm. ''^knrvl-s
entstanden. Wie im ind. säküti-s 'verliebt' so wird auch im
german. diese Wortsippe auf die liebe bezogen.
Got. gahugds fem. (stamm hugdi-) 'gedanke, gesinnung,
gemüt', ags. gehygd, asächs. glhugd, ahd. gihuci, altn. '^hugti
(im gen. hugtiar) verdankt dem verbalstamrae huge-, dem sub-
stantivstamme hugi- und anderen verwanten formen sein g.
Durch analogie ist also der substantivstamm "'Vm^^rf/- aus *//m<//-
entstaudeu. Dies '■'hüdl-s entspricht lautgesetzlich dem ind.
Beiträge zur geschichto der deutaclien spräche. XIII. 34
508 KUGGE
'*kTiti-s, das in den eompositis aknti-s 'absieht' und sdkUti-s
'begierig, verliebt' vorkommt^)
Zum substantivstamme hugdi- fem. gehören altn. composita
auf -hilf), -üb, -hugb, -ugt5, -ygt) fem. 'sinn', deren vorderglied
ein adjectiv- oder substantiv-stamm ist. Davon werden adjec-
tiva auf -übigi' 'gesinnt' abgeleitet und von diesen wider ab-
stracto feminina auf -ybgi. Die form -üb erscheint in älteren
handschriften und häufiger als die formen auf -gb. Besonders
hebe ich hervor aus der Clemens saga (hschr. um 1200 ge-
schrieben) asthupar Postola s. I, 143, alup 146; aus der von
Wisen herausgegebenen Homil. äslhüp s. 190 z. 1. So ferner
z. b. illv'j> Volund. 21, 23, illvbgar Atlam. 13, .s7ö/-y/>^/ Härb. 15,
grumujbgi Atlam. 74. Ebenso ohne g ülfüb (Ulbüb), pverüb,
ledüb, fieilübigr. Nur in einem adj. habe ich die form mit g
gefunden: harb vgbict Grip. 27 cod. reg. Neben varüb kommt
oft, jedoch nicht in sehr alten handschriften, varhygb, varygb
vor. In älteren band seh rr. findet sieh munop Leifar 26 (cod.
AM. 677, um 1230 gesehrieben) 'wollust'; tnimopa (gen. pl.)
Homil. ed. Wisen s. 116 z. 0; munopsamlect 7..T1\ mvnob Hävamäl
79; mvmb Oddr. 24, H. Hund. I, 5. Hier ist der vokal der zwei-
ten silbe verkürzt.
Erst in späteren hschrr. munugb, munlmgb (Barlaams s. 86),
mwfihygb.
Im asächs. hat der Cotton. des Heliand nicht nur -hügelig
'gesinnt', sondern auch -hudig d. h. -hüdig. Im ags. erscheint
-fiy~d und -hifdig neben -hygd und -hyydig.
Im ags. kann in betonten silben g vor d nach palatalen
vocalen schwinden (Sievers). Allein dass das fehlen des g
in -hyd, -hydig nicht aus dem einfluss des palatalen vocales zu
erklären ist, folgere ich aus asächs. -hüdig, altn. -hüb, -üb, -übigr.
Wenn diese formen ohne g auf den stamm hugdi- zurück-
gehen, muss der Schwund des g daraus erklärt werden, dass
die Silben, in denen es vorkam, nicht den hauptton hatten.
Allein sicher scheint mir diese erklärung nicht, da ich einen
analogen schwund des g im altn. und asächs. nicht nach-
') Anders über gahugds Möller, Beitr. V'II, 473—475; Kluge IX, 153-,
Kugel IX, 520 f.
GERMANISCH V(; AUS IW. 509
weisen kann.') Sollten die i;cnannten eomposita nicht viel-
mehr die ursprünglichere Stammform '*hudl- (welche später zu
hugdi- geändert wurde) =^ ind. küti- erlialten haben?
German. hudi-s 'haut' wirkte wahrscheinlich dazu mit,
dass '-'"gahudi-s 'gedanke' in (jahiigdi-s geändert wurde.
Wie der substantivstamm hugd't- so hat auch das prae-
teritum (asächs. Imgda u. s. w.) durch association sein g er-
halten.
7. Ahd. hartti'uyil, harldrugil, hartriigil, hartrugida, harli-
rugil 'sanguinuarius arbor' Gratf V, 501. Nhd. harlriegel (wo-
neben mehrere mundartliche formen) 'iigustrum vulgare' und
'cornus sanguinea' Deutsch, wtb. IV, 2, s. 518, liarl-lrugil ist
ist die ursprünglichste dieser formen, wie dies durch schwed.
h'ij masc, mundartl. tryg, iryd 'lonicera xylosteum', auch
'Iigustrum vulgare' (Hietz 755, Jenssen-Tusch, Nordiske Plan-
tenavne 160) bewiesen wird. Aus der vergleichung des schwed.
iry erhellt zugleich, dass ahd. trugil nicht, wie Weigand an-
nimmt, von trog abgeleitet ist. Franz. troene m. 'Iigustrum
vulgare', im 13. jahrh. iroine, aus '^-trugino-, ist durch das roma-
nische Suffix -mo vom germanischen stamm Irwj- abgeleitet
(verf. Romania III, 159).
Das ahd. trugil, urgerm. '^trugila-s, scheint mir ein demi-
nutiv. Das Stammwort entspricht, wie Rietz bereits angedeutet
hat, dem gr. ögvg 'eiche'. So enthält schwed. dial. eknas 'cornus
sanguinea' ek 'eiche'. Der name erklärt sich aus dem harten
bolze des Strauches. Also ist ahd. trugil, urgerm. '^trugila-s aus
'■^•trujvita-s, vorgerm. *drun'ilo-s entstanden. Dem fi von conso-
nanten {6()vg) steht protonisches u/r vor vocalen {'^•dru/rilo-s)
gleich; vgl. Osthotf, Morph, unt. IV, 353 ff.
Nach loiQi/MQ, Aioyv)Mq, fuxxvXog u. ähnl. dürfen wir viel-
leicht die betonuug *druwilo-s voraussetzen.
8. Ags. sugu f. 'sau' mit kurzem vocale in der ersten
silbe; mittengl. suge. Mnd. söge, suge. Ndl. zog, zeug. Schwab.
suge (Kluge). Daneben ahd. mhd. ags. sU, altnorw. sifr acc. sU,
lat. sUs, gr. v-Q u. s. w. Neben dem vorgerm. nominative sü-s
stand regelrecht in cas. obliq. die Stammform *suw' , vgl. gr.
^) Altn. hriVöa 'lehne eines stnlils, bündel' ist nicht aus ^brugtia
entstanden.
34*
510 BUGGE
v6c und ind. bhrU-s, instr. hhruva. Vorgerm. *suw- wurde
im german. regelrecht sug ' . Die Stammform sug ' ist im ags.
siigu in den nomiuativ übertragen. Diese erklärung ist mir
walirscheinlieber als dass ags. sugu aus einem vorgerm. durch
das Suffix -kü abgeleiteten deminutive '"suku entstanden wäre.
9. Got. praeterito - praes. daug. Altn. infin. duga, praes.
3. sg. dugir. Ags. dugmi, praes. denli. Asächs. dugan, praes.
dag. Ahd. tougan^ praes. louc 'taugen, tüchtig sein, nützen'.
Einige verbinden dies germanische verbum mit lit. daug 'viel',
andere mit ind. duh-, dögdhi 'melken; nutzen, ertrag ziehen
von — ; milchen; ertrag geben', noch andere mit rv'py, rir/'/ävco]
Kern endlich betrachtet dugan als eine varietät von driugan.
Gegen alle diese combinationen s])richt. wenn ich nicht irre,
ein verwantes nordisches wort.
Altnorw.-isl. dyggv bezeichnet 'treu' 'utilis, bonus, probus';
adv. dyggiliga auch 'hinreichend'. Norweg. dial. dygg adj.
'tüchtig, zuverlässig', besonders 'kräftig, von speise und futter';
auch 'stark, solid', von zeug und kleideru. dyggr ist von du-
gandi in betreff der bedeutung nicht wesentlich verschieden,
und die verwantschaft desselben mit duga lässt sich nicht be-
zweifeln. Allein die form des adjectivs ist bisher nicht er-
klärt. Vor a, i, e erscheint regelmässig die Stammform dyggv-
: dyggvar Voluspä in cod. reg., auch in H.; dyggvan Sn. Edda
I, 448 (Markus Skeggjason); dyggva Hkr. Ol. s. h. 252 (t>ör-
arinn loftunga). Selten ist die form dyggia (acc. sg. f.) Reginsm.
20 in cod. reg. und in cod. AM. 62 fol. Es scheint mir hier-
nach nicht zulässig, dyggjan für die ältere form des acc. sg. m.
zu halten, dies aus '^dugjmia zu erklären und in dyggvan eine
analogiebildung nach tnjggvan zu sehen. Altn. dyggr ist viel-
mehr wie altn. Iryggr, hryggr u. m. zu eiklären. Altn. iryggr
gehört mit dem got. Iriggws^ ags. treorve, tryrve, asächs. triunn,
ahd. gUrium zusammen. Altn. dyggvan setzt also ein urnord.
''"diggivjana voraus. Dies führt auf eine wurzelform detv-.
Hiernach lässt sich altn. dyggr mit duga, praes. dugir nur
unter der annähme verbinden, dass german. dugan, dug'- aus
du7v' entstanden ist.
Mit dem german. dugan aus *duw' vergleiche ich ind. lu-,
praes. lavJli, perf. lUtäva 'geltung — , macht haben'; iuvt- (in
com])p.) 'krJiftig, mächtig'; (aväs- 'tatkräftig, tüchtig'.
GERMANISCH UG AUS UW. 511
Nach der vou mir bej^'riindeteii regcl wurde vorgerni. / im
germaiiischeu zu d verschoben, wo der haupttou bei der freien
betonung" auf der dritten silbe lag oder vom wortanfang- noch
weiter getrennt war. Dass vorgerm. / bei dem hier behandelten
stamme zu germ. d fortgeschoben ist, stimmt bei dugum, cj.
'''•dugjau mit der von mir gegebenen regel überein, wenn diese
einst redui)liciert waren, denn die ursprünglichen formen (vgl.
ind. ''^lüluvmn, opt. '^(ütüyam) hatten in diesem falle den haupt-
ton auf der 3. oder 4. silbe. Ja da daug ursprünglich wie
ind. pf. lU/ava redupliciert war, so kann das d von daug nach
dem Vernerschen gesetz aus vorgerm. / entstanden sein. Frei-
lich ist das lautliche Verhältnis der perfectformen bei den
starken verbeu sonst nicht, wie hier, für den germanischen an-
laut bestimmend. Allein die abweichende bchandlung kann
hier zum teil dadurch veranlasst sein, dass die perfcctform als
praeteritopracsens hier selbständiger auftrat. Jedocii sind an-
dere formen für den anlaut d des german. dugan gewiss noch
mehr bestimmend gewesen. Ind. luvlli ist wie brnvlli gebildet;
1, ps. })1. wird also '^•Inmüs wie hrümäs gelautet haben. Die
Wurzel ist nach de Saussure zweisilbig; *lüm(ls also aus *lu9-
mäs entstanden. Es scheint hiernach begreiflich, dass die for-
men, welche lautgesetzlich im urgerm. anlautendes d erhielten,
zahlreich und häufig genug waren um formen mit anlautendem
/> zu verdrängen.
Das y von diujum, dwjan u. s. w. scheint durch association
auf davo und andere formen übertragen.
Von dwjan ist duhli- ndid. (md.) lulil 'tüchtigkeit' abge-
leitet, wie got. ustauhts, -yähts, mahls, aihls, ahd. flahl , zuhf
u. s. w. Formell scheint got. dauhts gastmal {ßo'fji) dasselbe
wort. Vom substantivstammc duhli- ist wider das adjectiv
mhd. (md.) tilhtic 'brauchbar, wacker', nhd. tüchtig, ags. dyhtig,
engl, doughly gebildet. Genesis l'J93 heisst es: sweord ecgum
dihtig, Beow. 1287: sweord ecgum dyhtig (dies wort ist jetzt in
der handschrift unleserlich, allein die abschriften Thorkelins
haben dyhttig, dyttig). Dagegen Beow. 1558: eald stveord ecgum
pyhtig. Das /> beruht liier nicht auf einem schreibfelder, denn
higepihligne findet sich Beow. 74(3. Gewöhnlich hat man pyhtig,
pihtig vou dyhtig, dihtig gänzlich getrennt und jenes zu peon,
got. peihan, gedeihen gestellt. Dies scheint mir nicht richtig,
512 BÜGGE
weil der wortsimt sich liicigcgcn sträubt. Im ags. bezieht sich
fycoH initucr iiiif leiblichen oder gcistij^cu Wachstum. Nirgends
lindet mau einen ausdruck wie sweord ecgum gepunyen {ge-
/jogcn). Auch ist ein von pcon abgeleitetes Substantiv */>«ft/
nicht nachgewiesen.
Ich habe vermutet, dass das d von dugan durch p aus
vorgerm. / verschoben ist. Hiernach wage ich die Vermutung,
dass das ursprünglichere /> sich in /ligepih/ig und ecgum pghlig
erhalten hat. Man wird hiergegen gewiss einwenden, dass
man in ptjhlig {dyhtig) anlautendes p am wenigsten erwartet,
weil dieser adjectivstamm ursprünglich schlussbetont war; vgl.
Kluge, Stammbild. § 202. 203, Kauttmanu, Beitr. XII, 201—207,
verf. Beitr. XIII, 331. Ich antworte: in dem compositum lügc-
pih/ig hatte zur zeit der freien betouung p>jh/ig nicht dieselbe
betonung wie in selbständiger Stellung. In indischen determi-
nativen compositis, deren vorderglied einen casus obliquus ver-
tritt und deren Schlussglied ein adjcctiv ist, liegt der hau|)tton
aul' dem vordcrgliede. 8o z. b. lanu cuhhra-s ^ eitel auf seine
person', ijajnädhlra-s 'der götterverehrung kundig'; siehe Garbe,
Kuhns zs. XXIII, 489, L. Schröder, Kuhns zs. XXIV, 120. Nun
hat Kluge durch mehrere beispiele nachgewiesen, dass die
germanischen composita früher wesentlich wie die indischen
betont waren, german. hundäfadi- wie ind. caiäpati-, vgl. Beitr.
VI, 3'.) 1 f. 398. Dies habe ich durch die Verschiebung der an-
lautenden consonanten bestätigt gefunden. Hiernach vermute
ich, dass ags. higepihlig zur zeit der freien betonung '^-hufji-
pnhiigdz betont war. Dass higepihlig neben dghlig das ur-
s])rünglichere p eriialten hat, ist also, wie ich vermute, aus
dem Vernerschen gesetz zu erklären. Auch ecgum pijhtig findet
so, durch die annähme einer natürlichen association, seine er-
klärung. Der instrumentalis war wol früher mit dem folgen-
den adjective durcb einen hauptton verbunden; vgl. iujtl. müde-
rughii-s 'in der begeisteruiig flink', wo mude locativ ist. Die
plurale instrumentalisform war wenigstens bei consonantischen
Stämmen schlussbetont.
Ahd. lugund, tugend, ist wie jugund gebildet. In jenem
wie in diesem scheint mir das g aus w entstanden, dugünpi-
verdankt, wie es scheint, verwanten formen sein d und sein un.
Im altnorw. erscheint dugr m. 'tüchtigkeit', nom. pl. dugir,
GERMANISCH VG AUS VW. 513
stamm duyi-. Diestern entspricht vielleicht der iud. in compo-
sitis als vttidciglied vorkommende adjcctivstamm luvt- 'kräftig'.
Das d des german. stamme» dugi- ist in dreisilbigen schluss-
betontcn casusfbrmcn aus vorgerman, / laiitgesetzlich entstanden.
Wenn das / des ind. (uvi- aus s entstanden und nicht ein ur-
sprüngliches l ist, deckt sich damit der altn. stamm du(ji- nicht
vollständig.
Altn. dijygr scheint dem ind. tävija-s oder lavijhs {tavia-s)
mit circumllectiertem ya 'kräftig, stark' zunächst zu ent-
sprechen. Jedoch scheint dyggr ein vorgerni. '*tcivihj-s voraus-
zusetzen.
Die im vorhergehenden versuchten combinationen führen
auf die Vermutung, dass auch andere gcrni. Wörter mit ind.
Uwi- 'kräftig sein' zu verbinden sind.
Ags. deoi' bezeichnet -brave, hold; heavy, severe, dire,
vehement'. Es wird am öftesten von personen angewendet,
jedoch heisst es auch dcor scTw 'heavy rain', dcarra dijaln
(gen. |)1.) 'severe blows'. Dies ags. dcor entspricht wol dem
ind. Idvisä-s 'tatkräftig, tüchtig, ungestüm', oft von personen,
allein auch als epitheton zu ürmi-s 'woge', rava-s 'gebrüU'
u. s. w. Ags. dcor scheint urgerm. dcuzö-s^ vorgerm. ictvdsö-s
vorauszusetzen.')
Das sul)st. Her, got. dhis u. s. w. scheint, wie Kluge au-
niuimt, das substantivierte neutrum dieses adjcctivs zu sein;
vgl. ahd. Horlih 'wild'.
Auch ahd. Huri 'teuer', asächs. diurl, ags. difrc, dcore,
altn. dyrr verbinde ich mit ind. tavJ- 'geltung haben'. Die
germanische grundform scheint '''•diazl-s, vorgerm. ''Uewjsilo-s
'der geltung hat'. Die bedeutung 'kräftig sein' geht leicht in
'wert haben' ül)er; vgl. lat. vulere.
Im ablautvcrliältnis zu Hure steht mhd. mich iUrct ein d.
oder eines d. 'es dünkt mich zu kostbar, dauert mich', tUr
'Wertschätzung'. Dies setzt wol vorgerm. *iüs- aus '''•luss-
voraus und gehört mit dem ind. stamm fuvis- in luvistama
'der stärkste', iüvismanl- 'kraftvoll' zusammen. Vgl. meine
bemerkungen über Jmsimdi, lausend Beitr. XIII, 327. Endlich
1) Anders Möller, Kulms zs. XXIV, 427. Kluge führt dcor auf die
wurael dhus- 'atmen' zurück.
514 BUGGE
eriüDcrc ich daran, (Uii^s got. /^luda 'volk' zu dersclbeu wort-
si})pc gehört.
Im vorhergehenden habe ich, wie ich meine, durch sichere
beispiele nacJjgewiesen, dass uw unmittelbar vor einem be-
tonten (oxytonierten) vocale im urgermanischen ug geworden
ist. Warum aber dieser Übergang in mehreren wortformen,
wo mau denselben erwarten könnte, nicht eingetreten ist, lässt
sich nur schwer bestimmen. Hier ist mir mehreres unklar.
Ags, brUfve cas. obl. von brü erkläre ich so, dass brüw- die
vor vocalen angewendete stanmiform war, wo das ü zur zeit
der freien betonung den hauptton trug. Dass in ahd. ingrücn
'schaudern', altn. grifla 'schreckbild' und mehreren vcrwantcn
Wörtern der Übergang von nw in Ug nicht eingetreten ist,
möchte ich daraus erklären, dass die lautver])indung Tiw hier
nicht vorhanden war, als der Übergang von Uw in üg sich
geltend machte. Wie lässt aber got. skuggmi 'spiegel', altn.
skiujiji 'schatten, abbild' neben ahd. scuuuo 'schatten', ags. scua,
sciuva sich mit dem Übergang von mv in ug vereinigen? Wie
ferner mehrere nordische formen, die ngg aus uggiv zeigen?
Welche abweichende bedingungen haben bewirkt, dass eine
form '^skuga nicht eingetreten ist? Dies weiss ich nicht nach-
zuweisen. Sollte die gotisch-nordische form mit ngg/r lautge-
setzlich dort eingetreten sein, wo der hauptton auf einer nicht
unmittelbar folgenden silbe ruhte? Also z. b. skuggtv9n~l
Auch unmittelbar vor einem circumfiectierten vocale?? Beide
behandlungsweisen linden sich bei demselben wortstamme in
ags. sugu 'sau' neben neuscliwed. norw. dial. sugga. Schwed.
dial. sägg 'sau' (Vesterbotten) scheint altschwed. *sugg gen.
'"soggar vorauszusetzen.
Dem ind. dualstamme des pronomens der 2. person yuvä-
(in yuväm oder yuvum u. s. vv.) entspricht begrifflich der gotische
stamm igqa-, igqi-. Formell ist dies verhältniss ganz unregel-
mässig, findet aber seine erklärung durch das Verhältnis bei
den formen des pronomens der 1. person got. ugka-, ugki-, ind.
ävä-. Der stamm igqa- verdankt, wie icli vermute, sowol den
nasallaut als den A'-laut dem einfluss von ugka-. Der stamm
ugka-, der dem ind. üva- entspricht, scheint lautgesetzlich aus
vorgerm. '-^/irvu- entstanden (^-tonlose Stammform des prono-
mens der 1. person + d/vo- zwei').
GERMANISCH VG AUS VW. 515
Wie in uyka- nach protonischcm n, so ist auch uach pro-
tonischem ai, ol vorgerm. w in geiman. k übergegangen. So:
ags. iäcor, ahd. zeihhur vgl. ksl. dcveri, lit. dcweris^ lat. Icvir^
gr. (J«//(), ind. dcvür- nom. f^em .
Nhd. mhd. speichel, ahd. speihhila, speihhUla f., auch apeih-
hallra, mnd. speke, spekcle, and. speka/dra, ndl. speeksel; got.
p>amma spalskiddra Joh. 9, Ö, nach Kluges Vermutung verschrie-
ben statt spaikuldra, vielleicht jedoch umgestellt statt *spaik-
suldra. Diese gehören sämtlich zu got. spei/ran praet. spuiw.
Altn. skeika, praet. skeikabi 'schief gehen', stamm '*skaikö-
aus '''skabvü- verbinde ich mit lat. scaevus, gr. axaiö^.
Altn. kvcikja, kvcijkva 'lebendig machen, auziinden' zu got.
qias qi/mua 'lebendig', ind. jJvä-s u. s. w. Das k auch in altn.
kvikr, acc. kvikvan 'lebendig', ags. c/rtcu, ahd. qucc.
Allein warum ist in got. ains, /'rain-, hUi'ur, hra'm, saiws,
snaiws, saiwala, {im-)aiwisks das tv nicht in k übergegangen?
Dass diese Wörter bei der freien betonuug sämtlich den haupt-
ton auf der ersten silbe gehabt hätten, ist nicht wahrscheinlich.
Gieng vielleicht vorgerm. w nach ai, oi, h lautgesetzlich in
vorgerm. g, german. /.- über, wenn der hau})tton auf einem
nicht unmittelbar folgenden vocale ruhte? Der stamm uiwiska,
der nach ai w hat, war freilich auf der schlusssilbe betont,
kann aber das w des Stammworts erhalten haben.
Nhd. nachen, ahd. nahho, asächs. nako, ags. naca, altn.
nokkvi hängt gewiss mit vavc u. s. w. zusammen. Setzt das
wort eine vorgerm. Stammform nauivdn-- voraus?
CHRISTIANIA. SOPHUS BUGGE.
EINIGE BE^MERKUNGEN UEBER GE- BP:i
VERBEN.
Lne 1885 erschienene Giessener dissertatiun: 'Leber die
Function des pruelixes ge- in der composition mit verben. Teil I.
Das praelix bei Ultilas und Tatian' von K. ÜorCeld, iiat das
verdienst, die frage nach der bedeutuug des ge- in der Zu-
sammensetzung mit verben zum erstenmale auf der sicheren
grundlage seiner Verwendung in einzelnen bestimmten denk-
mälern zu behandeln (sie beschränkt sich daher auch beim
got. auf die bibelübersetzung) und damit den weg einzuschlagen,
der allein zum ziele führen kann, lieiö'erscheids Sammlungen,
so reichhaltig sie sind, würden, auch wenn sie fortgesetzt wor-
den wären, zu einem eigentlichen ergebnis nicht haben führen
können, weil sie das von den einzelnen denkmälern gelieferte
material zersj)littern und besonders deshalb, weil sie zu dem
bilde das gegenbild vermissen lassen, die fälle, in welchen
trotz wirklich oder scheinbar gleicher bedinguugen das ge-
nicht vorhanden ist. Dieses gegenbild ist nicht nur für die
erkcnntnis und Umgrenzung des Wirkungskreises unseres vor-
wörtchens im allgemeinen von Wichtigkeit, sondern es kann
auch nur aus ihm ein schluss gezogen werden, ob die Ver-
wendung des ge- in allen hd. mda. ganz die gleiche oder, wie
wahrscheinlich, verschiedene ausdehnung gehabt hat. Es ist
doch von ganz anderer bedeutung, ob z. b. in einem denkmal
sich überhaupt nur 10 fälle eines von praet.-prs. abhängigen
iniinitivs linden, und in diesen sämtlich ge- erscheint oder ob
10 solcher ge-infinitive in einem denkmal neben vielleicht eben
so vielen oder gar zahlreicheren ohne ge- stehen. Dieses
gegenbild hat nun allerdings auch der verf. der oben genann-
ten dissertation nur für den von prt.-i)rs. abhängigen inf. sowie
für die verallgemeinernden relativsätze gegeben, aber er kennt
PIEFSCH, UEBER GE- BEI VERBEN. 517
die Wichtigkeit derselben udü hat wol nur vorläufig darauf
verzichtet; in einer späteren umfassenderen beliandlung des
gegenständes, die wir vielleicht von ihm erwarten dürfen, wird
dasselbe hoffentlich ganz zu seinem rechte kommen.
D. bespricht kurz die bisherigen Untersuchungen über ge-
nebst ihren ergebnissen und führt dann das material aus der
got. bibel und dem Tatian in 3 gruppen vor: I. ge- bezeichnet
die Vereinigung, das Zusammensein; 11. ge- bezeichnet Voll-
ständigkeit und geht allmählich in eine Verstärkung übei;
III. ge- bezeichnet temporale Vollendung. Diese einteilung ist
vom Standpunkt der historischen entwickluug der Verwendung
unseres praeHxes durchaus richtig, die Verwendung desselben
als formales dement der tempusbezeichnuug ist gewiss die
jüngste. Eine andere frage ist es, ob diese anordnuug des
materials zugleich als die am meisten zweckentsjjrechendc be-
zeichnet werden darf, ob sie am meisten geeignet ist, uns zu
einem wirklichen einblick in die gebrauchssphäre des ge- zu
verhelfen. Ich glaulie diese frage verneinen zu müssen, weil
sich begreiflicher weise feste grenzen zwischen den 3 gruppen
in manchen oder vielmehr sehr vielen fällen nicht ziehen lassen.
Und zwar nicht nur deshalb, weil das gi- l)ei demselben ver-
bum sovvol als materielles wie als formales dement tatsächlich
erscheinen kann, sondern auch, weil oft gar nicht auszumachen
sein wird, ob es das eine oder andere ist, namentlich dann
nicht, wenn nur wenige formen eines verbums in dem betr.
denkmal belegt sind, die mitwirkung des zufalls also in höhe-
rem grade in rechuung gestellt werden muss. Durch die auf-
stellung dieser 3 gruppen ist der verf. genötigt worden, jeder
form einen bestimmten platz anzuweisen, entscheidung zu
treffen über die bedeutung des gi- in vielen zweifelhaften
fällen. Er ist dabei mit grosser besonnenheit verfahren und
hat auch die zweifei über die richtige einreihung des einzelnen
zuweilen angedeutet, aber wir erhalten doch keine ganz klare
Vorstellung von dem stände des gebrauches unseres praefixes
in den beiden behandelten denkmälern. Dazu trägt allerdings
auch der schon erwähnte umstand bei, dass der verf. hinsicht-
lich der fälle, in denen das gi- fehlt, meist mit allgemeinen
angaben sich begnügt. Nach meinem dafürhalten wäre ein
klareres bild zu stände gekommen, wenn der verf. nach fest-
518 PIETSCH
stclliiug der veiscbiedcncn verwciuluugeu des gi- verbum für
verbuni, bei dem es sieb findet, vorgelubrt bätte und zwar etwa
in der reibenfolge der verbältuismässigen bäufigkeit des
gi-. Vurauzustellen wären die verba, die in dem betr. denkm.
stets gi- babeu, am scblusse beizufügen diejenigen, welcbe es
gar uicbt aufweisen. Bei denjenigen, die es bald haben, bald
nicht, wären ausser den seiner entbehrenden formen auch die
zusamjnensctzungen mit anderen i)raeHxen zu berücksichtigen,
ebenso bei denjenigen, welche sicli nie mit gi- verbinden.
Innerhalb der einzelnen verba wären dann die belegten formen
nach den vorher festgestellten verschiedenen Verwendungsarten
zu ordnen, auf welche zur leichteren übersieht durch zahlen
oder buchstaben bczug zu nehmen wäre. Ich will am Schlüsse
an einigen beispielen praktisch zeigen, wie ich mir dies denke,
hier mögen erst noch einige bemerkungen zur begründung
platz finden. Ich lege diesen das im Tatian vorliegende mate-
rial zu gründe und berücksichtige gelegentlich einiges aus dem
Isidor, weil mir für diese beiden denkm. früher gemachte Zu-
sammenstellungen zur band sind. Den Tatian eitlere ich in
der üblichen weise, da die von Dorfeid gewählte (nach selten
und Zeilen der Öieversschen ausg.) zwar genauer ist, aber
die identificierung der citate m'it denen in Sievers glossar er-
schwert.
Es kommt in Dorfeids darstellung die zweifellose tatsache
nicht zur gcltung, dass gewisse verba mehr, andere weniger
oder gar nicht zu der Verbindung mit gi- geneigt sind. Die
gründe dieser Verschiedenheit scheinen mir zu liegen entweder
1. in der bedeutung der verba, oder
2. in dem umstände, ob von einem verbum eine Zusammen-
setzung (oder auch mehrere) mit anderem praefix gebräuch-
lich ist, in welcher das i)raefix keine wesentliche änderung,
sondern nur eine Vervollständigung oder Verstärkung des verbal-
begriffes bewirkt, — oder nicht.
Was den ersteren punkt anlangt, so ist freilich Dorfeid
im rechte, wenn er s. 5 die von Martens (Kz. XII, 31 f o21 f.)
aufgestellte Unterscheidung von verba perfecta und imperfecta
im deutschen als durch Tobler (Kz. XIV, 108 f.) widerlegt an-
sieht. Aber es wird doch ohne zweifei zuzugeben sein, dass
UEBER QE- BEI VERBEN. 519
nicht alle verbalbeiiriife in gleicher weise eine Vervollständigung
oder Verstärkung ertragen bez. erfordern.
Es kann natürlich auf verschiedenen sprachstufen das
Sprachgefühl hinsichtlicli einzelner verba ein verschiedenes sein,
es können hier Verschiebungen eintreten, wenn entweder die
ursprüngliche bedeutung sich ändert oder das verbura in folge
von isolierung, bewirkt durch verschwinden seiner verwanten
nicht mehr mit einem lebhaften bedeutungsinhalt empfunden
wird. Es gibt aber, wie bekannt und wie auch D. ohne zweifei
weiss, einige verba, welche dem gi- stets widerstrebt haben
und es erst in sehr junger zeit selbst an der stelle sich haben
gefallen lassen, wo allmählich gi- notwendig geworden war, im
prtc. prt. Es gehören hierher namentlich kommen, bringen,
finden. Graft' IV, 655 f. bei. nur 1 m. gaquemet (venite); Lexer,
Nachtr. 1 m. gekomen; das prtc. prt. gekomen belegt Müller-
Zarncke I, 900=' 1 mal; dass das prtc. prt. kommen bis ins vorige
Jahrhundert in der Schriftsprache gebraucht wurde, ist aus
Grimm, Wtb. Y, 1628 zu ersehen. — Von bringen belegt Graff
keine ge-form, Lexer allerdings mehrere (5); für prtc. gebrüht,
gebrungen geben weder Müller-Zarncke noch Lexer belege, Grimm,
Wtb. 11,384 bei. gebracht aus Henisch, Thesaurus (1616). — Von
fin den gibt Graft' cafundauer(St.-Siev. 1,27,29); Lexer gevinden
1 4- 1 mal, prtc. prt. gevunden 2 mal. Belege für funden aus
d. 16./17. jh. gibt Kehrein, Gram. d. d. spr. d. 15. — 17. jhs. II
§ 220. .Ich meine der grund dieser erscheinung kann doch nur in
der bedeutung der verba gesucht werden: die begriffe des .
kommens, bringens, findens sind materiell so vollständig,
schliessen so sehr die dauer aus, dass sie einer Steigerung
nicht fähig sind und auch zum ausdruck der zeitlichen Voll-
endung der von gi- gewährten beihilfe nicht bedürfen. Vgl.
dagegen gän und suochen. Aehnlich muss es sich ursprüng-
lich mit werden verhalten haben. Auch dieses bekundet eine
entschiedene abneigung gegen gi-, welche sich vielleicht aus
der ursprünglichen bedeutung 'wenden' erklärt. Aber diese
abneigung ist, oÖ'enbar in folge der bedeutungsänderung, schon
frühe durchbrochen worden, vgl. Graft' I, 992/3; Lexer unter
gewerden. — Umgekehrt war vielleicht die entwicklung bei
treffen, das wol ursprünglich 'schlagen' bedeutete und erst
allmählich die bedeutung 'erreichen' angenommen hat. Daher
ahd. getrefl'au und prtc. i)rt. getrofi'an neben trofl'an, während
520 PIETSCH
im mhd. getreffen verhältnismässig- selten und pitc. troffen
herrschend ist.
Das gegeubild, die ueigung sich mit gi- zu verbinden,
zeigen uns verben wie sehen, hören, liegen, stehen, sitzen.
Dorfeid hat ihnen daher mit recht eine besondere besprechung
zu teil werden lassen. Der grund kann widerum nur in der
bedeutung liegen. Alle die genannten verba bezeichnen eine
dauernde tätigkeit oder einen dauernden zustand. Soll nun
die momentane Vollendung, die dauerlosigkeit ausgedrückt wer-
den, so rauss gi- aushelfen, horta, sah, stuont, lag, saz besagen
nur, dass die dauernde tätigkeit des hörens und sehens, der
dauernde zustand des Stehens, liegens, sitzens zeitlich vollendet
sei; gihorta, gisah, gistuont, gilag, gisaz bedeuten: ich habe
durch das ohr, das äuge in mein bewusstsein aufgenommen,
ich bin zum stehen, liegen, sitzen gekommen.
Hinsichtlich des zweiten punktes kann ich nur meine be-
obachtungen aus dem Tat. mitteilen. Wir finden hier ungefähr
300 verba, die gi-, abgesehen vom prtc. prt., nie aufweisen.
Darunter sind mindestens 150, welche nur 1 oder 2 mal belegt
sind, bei denen also der zufall der Überlieferung in rechnung
gesetzt werden muss. Von ihnen sehen wir ab. Unter den
übrigen, von denen noch eine ganze anzahl nur 3 oder 4 mal
vorkommt, finden wir nun zunächst manche, welche, wie z. b.
bittan (etwa 50), fliohan (9), fnlgen (38), leben (26), leren
(etwa 50), minnon (etwa 60), scriban (36), suohhen (etwa 70),
trinkan (36), thenken (14), uuasgan (17), uuuofan (20) u. s. w.,
häufig genug belegt scheinen, um den zufall auszuschliessen
(s. jedoch unten), die aber doch nie mit gi- erscheinen, ob-
gleich auch keine anderen composita von ihnen sich finden.
Ihnen kann man noch einige andere anreihen, z. b. senten, da
die neben dem ungemein häufigen simplex stehenden compo-
' sita ana-, üz-, uuidarsenten hier nicht in betracht kommen
können. Der grund des ausbleibens des gi- bei diesen verben
kann — ich habe dies nicht untersucht — teilweise darin
liegen, dass von ihnen keine oder doch nur wenige formen
vorkommen, in denen es hätte erscheinen können. Wie weit
die bedeutung der einzelnen verba in anschlag gebracht wer-
den könnte, will ich hier auch nicht näher erörtern und nur
bemerken, dass Graflf von allen den genannten verben formen
mit gi- l)elegt, ausser von wuofan, dass deren al)er nur bei
UEBER GK- BEI VERBEN. 521
fliohan, lereu, scrtbaii, suohheii, trinkaii mehr als 2 sind uud
dass nur bei suohheu (20) dieses g-i- eine weitere örtliche Ver-
breitung hat; die belege für gifliohan, 7 an der zahl, sind
sämtlich aus Notk., von den 9 für gitrinkan sind 8 aus Notk.,
von den 12 für gileren sind 7 aus Notk., 2 aus Otfr., von den
16 für giscriban 11 aus Otfrid, 3 aus Notk. Demnach scheint
das gi- dieser verba einer örtlichen beschränkung zu unter-
liegen, denn die Otfridischen belege können insofern nicht für
voll gelten, als l)ei (otfrid, — wie wol mehr oder weniger bei
jedem dichter — das gi- im dienste der metrik steht, nach
den bedürfnissen des verses gesetzt oder weggelassen wird
(Dorfeid s. 45). Im mhd. finden wir ge- bei allen diesen ver-
ben, wuofen ausgenommen (s. Lexer), und zwar nicht selten;
die belege sind jedoch meist nicht geeignet, anhaltspunkte
für eine örtliche bestimmung zu geben.
Leichter scheint es mir, bei einer reihe anderer im Tatian
vorkommender verben den grund des nichterscheinens des ge-
festzustellen. Ich glaube, wie bereits angedeutet, denselben
öfter in dem umstände finden zu dürfen, dass dem oder den
Übersetzern Zusammensetzungen dieser verba mit anderen prae-
fixen geläufig waren, durch welche sie dem bedürfnis einer
Steigerung des verbalbegrifies bez. der zeitlichen Vollendung
genügen konnten. So steht im Tatian neben läzan das viel
häufigere furläzan, neben brechan : zibrechan, bibrechan, neben
uuerphan : ar-, für-; uz-, üz-ar-, üz-furwerphan, neben nur
1 maligem skeidan : ar-, ziskeidan; neben slahan : arslahan;
neben sterban : arsterbau; neben graban : bigraban; neben
teilen : ziteilen; neben brennen : bi-, fur-brennen; neben geltan :
furgeltan; neben uuecken : aruuecken; neben gurten : bigurten;
neben thecken : bithecken; neben losen : ar-, zilosen; neben
uuerban : uuidaruuerban u. s. w. Nirgends findet sich bei
diesen eine form mit gi- daneben, bei einigen anderen finden
sich solche vereinzelt; sie würden gewiss zahlreicher sein, wenn
nicht übliche Zusammensetzungen mit anderen praefixen vor-
handen wären. So ist gifähan verhältnismässig selten wegen
bi- und besonders intfähan. So finden wir obgleich diese verba
oft genug vorkommen, bei stigan nur 3 m., bei ougen nur 2 m.,
bei iehan, ruoren, uuonen nur je 1 m. gi-, weil ar-, üf- (ar-üf-)
stigan, arougen, biiehan, biruoren, thurul»iuonen für das Sprach-
gefühl im wesentlichen genügen. Und umgekehrt werden wir
522 PIETSCH
auch nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, dass z. b. gibergan,
gieuton, gifestinön, gitruobeu darum häufig sind, weil dem
Übersetzer des Tatian andere Zusammensetzungen dieser verba
wie furbergan, bienton, bifestinon, bitrnoben nicht geläufig
waren.
Zeigen die vorstehenden erwägungen, wie wichtig ein
näheres eingehen auf die fälle ist, in denen gi- fehlt bez. durch
andere praefixe vertreten wird — und ich glaube, dass sich
das gewicht derselben noch bedeutend verstärken Hesse, wenn
ich, wozu mir in diesem augenblick die zeit mangelt, die ein-
zelnen von den besprochenen verben belegten formen in er-
wägung ziehen wollte (s. jedoch die Zusammenstellung der for-
men von losen, ar-, zi-16sen am Schlüsse) — , so ergibt sich
die nicht völlige Zweckmässigkeit der Dorfeldschen anordnung
des materials, sobald man die einzelnen von den in gruppe II
zusammengestellten verben vorkommenden formen sich des
näheren ansieht. Gruppe II vereinigt, wie wir sahen, die
verba, in denen gi- den verbalbegriff nach der richtung der
Vollständigkeit oder einer blossen Verstärkung modifiziert. Wir
finden in dieser gruppe mit recht verba wie gilouben, gifehan,
gibiotan, deren simplicia entweder schon ahd. gar nicht mehr oder
doch nur in einer von der des gi-compositums stark abweichen-
den bedeutung vorkommen. Es kann auch nicht zweifelhaft
sein, dass manche andere gi-composita in bestimmten einzelnen
denkraälern jenen durchaus gleich stehen. So z. b. im Tat.
giberehton (clarificare), gitrüuuen (confidere, sperare), gilimphan
(decere, oportere), indem bei ihnen das gi- für das Sprach-
gefühl des Übersetzers notwendig gewesen zu sein scheint.
Ein ähnliches Verhältnis ist natürlich an sich auch da denkbar,
wo neben den gi-formen solche des simplex sich finden, auch
hier kann das gi- für eine bestimmte (wenn auch für uns
schwer wahrnehmbare und feststellbare) Schattierung des ver-
balbegriffes notwendig gewesen sein. Aber es mangelt uns.
namentlich wenn neben öfterem simplex nur etwa eine oder
2 — 3 formen mit gi- vorkommen, meist ein mittel festzu-
stellen, ob wirklich die annähme einer solchen modificierung
des verbal begriff es berechtigt sei, und unter allen umständen
werden wir meist ausser stände sein, reinlich zu scheiden
zwischen den gi- der gruj)})e II und denen der gruppe lll.
UEBER GE- BEI VERBEN. 523
Denn es ist doch sehr wol möglich, dass z. b. neben einem in
seinem begriff gesteigerten verbum gihalOn sich formen dieses
verbums finden, in denen gi- dem ausdruck der zeitlichen Voll-
endung dient. Darauf hat denn Dorfeid auch bedacht genom-
men, wir finden also z. b. gihalön = herbei holen, einladen
unter II, gihalot (duxerit) unter III, 3 angeführt. Es scheint
mir jedoch, dass in manchen fällen sich die Sphäre dieser be-
grifflichen Steigerung noch weiter einengt, wenn man die ein-
zelnen formen der gi-verba näher ansieht, bei denen Dorfeid
eine solche annimmt. Wir finden nämlich, dass unter diesen
formen das praet. eine sehr hervorragende Stellung ein-
nimmt. So kommen von den 28 gihalön nicht weniger als
23, von den 10 gioifanon 9, von den 9 gifähan 6, von den 6
gihaltan 4 (in Sievers glossar fehlt gihielt : custodivi 178, 4)
auf das praet.; gifallau, gikiosan, giscouuou, giirron, giuuihen,
gitruoben, giuuäten sind nur durch gifiel (3), gikos (7), giscou-
uuöta (3), giirrota (2), giuuihita (2), gitruobta (2), giuuätita (2)
und gimären, gifurhten, gisuueran, giturrau, gilernen, giheften,
gikeren, gimagen nur durch je einmaliges praet. vertreten.
Auch bei den anderen in die gruppe II eingereihten verben ist
das praet. an den gi-formen fast stets beteiligt.^) Dieses ver-
1) Noch deutlicher tritt z. b. im Isidor das praeteritum bei den gi-
formen in den Vordergrund. Wir linden hier chi- 1. beim futurischen
praes.: chistiftu (2), chihruoru (1), chirestit (requiescit des lat. textes f.
requiescet) 37,10; chifestinOn (1), chidhuuingu (1), chiuueihhit (1). —
2. beim in f., der vom prt. prs. abhängt: mac chirahhön (1), mahti chi-
garauuen (1), mahti chifrummen (1). — Sonst aber steht chi- fast nur in
praet. und zwar chifrumida (4), chideda (:{), chiuuorhta (.3), chi8cuof(4),
chibar (3) [neben beremes : exhibemus und dhemu berandin reve : vulva],
chichundida (2), feiner je 1 mal: chiunhreinida, chihuurfi, chisalböda, cbi-
rista, chiminnerodes, chioffanOdom, chiquihhida, chifenc, chihalöda, chi-
lihheda, chirahhoda, chideilida. Nach abzug dieser formen bleiben für
die annähme des begriffssteigernden chi- ausser chilauban nur noch
übrig: chihoris -ant, chihori (2), chihördon, chihöran (simpl. n. bei.);
chisehet -e, chisah (2), chisehenne (simpl. n. bei.); ferner dhen mina
berga chisitzit (possidentem montes meos) 31, !3 neben sitzit -ent,
sitzi sitzendan; chidhinsit (contrahat), chidhuhit (exprimit), chischeinit
(3. sg. prs. id.; corruscans), neben denen die simpl. nicht vorkommen.
Schliesslich noch chichundemGs 27, 2G (demonstremus; text: demonstretur),
bei dem aber das unmittelbar vorhergehende chichundidöm in anschlag
zu bringen ist.
Beiträge zur >;esehioIite der dputsohfin spräche. XIII. 35
524 PIETSCH
hältnis legt entweder den zweifei nahe, ob wir es in den an-
geführten fällen nicht vielmehr mit dem zeitliche Vollendung
ausdrückenden gi- zu tun haben, oder — und dies scheint mir
wahrscheinlicher — es zeigt uns, dass das bedürfnis begriff-
licher Verstärkung am lebhaftesten da gefühlt wurde, wo es
sich um den ausdruck der Vergangenheit handelte. 0 Im erste-
ren falle wären die erwähnten verba aus Dorfeids II ganz zu
entfernen, im letzteren wäre eben mehr rücksicht zu nehmen
auf die von jedem verbum belegten formen. Es ist jedenfalls
nicht angänglich, mit gi- verbundene verba wie die eben be-
sprochenen mit solchen wie gilouben, gifehen oder auch gi-
fremmen auf eine linie zu stellen. Dass Dorfeid nicht die in-
finitive mit gi- angesetzt hat, zeigt, dass ihm der angedeutete
gesichtspuukt nicht ganz entgangen ist, aber was nützt es,
wenn er statt des in f. die zufällig zuerst belegte form ansetzt.
Es kann leicht zu irriger auffassung anlass geben, wenn wir
z. b. finden: giburgi abscondere verbergen 145, 17. 151, 33.
155,5. 270,15 (vgl. 246,1). 279,16. 280,10, während giburgi
nur 145, 17, steht an den anderen stellen aber gibarc (3), gi-
birgit (2).
Unter allen umständen aber muss auf grund dieser tat-
sachen der begriff des das praeteritum verstärkenden gi- etwas
weiter gefasst werden, als Dorfeid getan, der unter II, 2 nur
das plusquamperfectische gi-praeteritum behandelt. Dorfeid
führt ja selbst die worte Toblers an, dass dieselbe vergangene
handlung trotz ihrer relation auf eine andere, der sie objectiv
vorausgieng, subjektiv absolut genommen werden kann; ich
vermag nicht einzusehen, was also zu einer verschiedenen be-
urteilung von gifieng = cepi und gifieng := ceperam nötigen
sollte.
Weiterhin scheint mir auch Dorfelus abschnitt 111,4, der
den von praet. prs. abhängigen gi-infinitiv behandelt, einer er-
weiterung fähig zu sein, insofern nämlich auch die von ande-
ren praet. abhängigen inf eine neigung zu gi- zu haben schei-
nen. Ich spreche dies aber mit grösstem vorbehält und nur
') Ich möchte %. b. auf Tat. 79,5 hinweisen: ther cuning qnad
themo niagatine: biti fon luir thaz thfi uiiili, inti ih gibii thir. Inti
gisuuor iru . . . d. h. und er hat ihr wirklich, wahrhaftig geschworen.
UEBER GE- BEI VERBEN. 525
auf grund einiger beobaehtungen am Tatian aus. Statistisch
liegt hier die sache so, dass nach praet. der inf. etwa 17 ra.
gi- hat, 20 m. nicht, nach prs. etwa 12 m. gi-, 40 mal nicht.
Dies Verhältnis verschiebt sich noch einigermassen zu gunsten
von gi- nach praet, wenn man von den gi- nach praes.
3 maliges gilouben und 2 maliges gifremmen (fremmen ohne
gi- nicht belegt) und von den gi-losen inf. nach praet. 3 maliges
tuon (tuon nie mit gi- belegt) in abzug bringt. Vgl. z. b. ni
curet sprehhan 34, 3; managu haben von iu zi sprehhanne
131.9, dagegen suohtun inan zi gisprehhanne 59,1 (daneben
freilich auch bilan zi sprehhanne 19,6). Andererseits ist aber
zu beachten, dass unter den 17 inf mit gi- nach prt. 9 m. gi-
sehan sich befindet, welches insofern nicht vollwichtig ist, als
sehan sich überhaupt gern mit gi- verbindet. Neben 9 m. inf.
gisehan steht nur 1 m. sehan, und zwar nach prt.: zi hin
giengut ir üz ... sehan 64,4, während 64,5, wo derselbe satz
widerkehrt, gisehan gebraucht ist. Beachtenswert ist jedoch
noch quedenti sih gisiht gisehan: dicentes se visionem vidisse
226,2; vgl. Gr. gr. IV, 170.
Schliesslich dürfte noch ein umstand für den gebrauch
des gi- hie und da in betracht kommen, den auch Tobler,
Kz. XIV, 127 angedeutet hat, nämlich die rücksieht auf die
ebenmässigkeit gleichgeordneter Satzglieder. So z. b. wenn wir
4,7 finden: zispreitta . . ., nidar gisazta . . . inti arhuob . . .,
gifulta ... inti forliez; 148,4: erstuontun ... inti gigarauui-
tun (surrexerunt, ornaverunt): 200,4: intuuatituu inan ... inti
giuuätitun inan (exuerunt, induerunt); 5,13 gibar ... inti bi-
uuant . . . inti gilegita; 127, 1: thie fatoro arstarb . . . inti ther
thritto ginam sia (mortuus est, accepit) u. s. w.
Es war lediglich meine absieht, einiges auszusprechen, das
sich mir bei früherer erwägung der jetzt von Dorfeid in an-
griif genommenen aufgäbe ergeben hatte. Ich glaube, dass
die betr. punkte weitere prüfung an anderen denkmälern
wol verdienten. Die kritik, die ich übte, wollte eine durchaus
positive sein und sie wird ihren hauptzweck erfüllt haben,
wenn bei den weiteren Untersuchungen mehr als bisher einer-
seits das ausbleiben des gi-, andrerseits die möglichkeit in be-
tracht gezogen wird, dass bei demselben verbum, ja in der-
selben form die beiden hauptfunctioneu des gi-, die Steigerung
35*
526 PIETSCH
des verbalbegriffes und die Steigerung der zeitliehen Vollendung
sieh berühren können. Weil bei der Verwendung des gi- die
subjeetive, augenblickliche auffassung des schreibenden zweifel-
los eine grosse rolle spielt, ist nach meinem dafürhalten die-
jenige gruppierung des materials die beste, welche möglichst
wenig vorweg entscheidet, welche zwar den massstab für die
beurteilung der einzelnen fälle zunächst aus der gesamthaltung
des untersuchten denkmals entnimmt, aber doch die möglich-
keit offen hält, dass die Sachlage, die sich aus anderen denk-
mälern ergibt, manche einzelfälle in ein anderes licht rückt.
Welche art der auordnuug des materials mir im vorliegenden
falle als die zweckmässigste erscheint, habe ich oben bereits
angedeutet. Ich gebe nun zum Schlüsse einige proben der-
selben. Ich bemerke, dass ich im anschluss an Dorfeid mit
I gi- als ausdruck der Vereinigung, des Zusammenseins, mit
II gi- als ausdruck der Vollständigkeit bez. Verstärkung des
verbalbegriftes, mit III, 1^ gi- beim praet. (= perfectum), mit
III, 2^ gi- beim praet. (= plusqpf.), mit III, 3 gi- beim futur.
praesens, mit III, 4 ^^ gi- beim inf nach prt.-prs., mit 111,4^ gi-
beim inf. nach praet.; mit III, 5 gi- in verallgemeinernden relativ-
sätzen und sonst :=-: lat. fut. exact.; mit III, 6 gi- hervorgerufen
durch gleichgeordnete composita, bezeichne. Für gi- des prtc.
prt. (Dorfeid III, 1) sind genauere angaben über die einzel-
nen bei. formen nicht erforderlich, da dasselbe im ahd. bereits
meist feststeht. Dagegen wären für jedes denkm. die etwaigen
ausnahmen, die ge-losen prtc. prt. festzustellen.
In eckige klammer habe ich dasjenige gesetzt, was den
im vorstehenden enthaltenen aufstellungen nicht entspricht.
füllen (5) : implere (adimplere, couiplere). gi- (S) : impleie, eon-
suminare (replere, complere). — ar- (2) nur prtc. prt.
a) füllen
II füllet : implete; fullanti : coiupleturus.
III, 2» fulta (2) : iinplevit, -erunt.
111,4'' [quam zi fuUenne : adimplere 2,'>, 4].
b) gi-
II gifullet : implete.
III, 2a gifulta (2) : implevit, -erunt.
III, 2'J gifulta : consuinmasset 78, 1.
111,41' girdinota gifuUen : cupiebat impl. 97, 2; nOtdurf uuas zi gif. r
necesse est inipleri 281,3. — [gilimphit uns zi gif. : dccet nos
impl. 14,2].
UEBER GE- BEI VERBEN. 527
III, 6 zispreitta . . ., nidargisaata (deposuit) . . . iuti arhuob . . .,
gifulta (implevit) . . . inti forliez 4, 7.
Prtc. prt. gi- oft, ar- (2).
halon : voeare (3), adducere (1), culllgcre (1); diiccre =^ heiraten (3).
gi- : vocare (11), convocare (4). advocaie ( 1 ), adliiberc (1), colligere (2),
adquireie (1); ducere (1).
a) halon
II halO : voca (2), halönt : ducimt.
111,2»' halötut : collegistis 152,8.
III, 2 b [halüta : duxerat 79, 1].
IIT, 4'' gilimphent zi h. : adducere 188, 18 [saiita zi li. : vocare 125, 2].
III, 5 [thle thär halöt : qui duxerit 2'J, 2J.
b) gi-
I gihalöt : convocat (2).
II gihalo (2) : adhibe, voca, — oba her ... in eht gihalöt : si
lucretur 90, 5.
III, 2a gihalöta : vocavi -it(ll); : vocat (bist, prs.) 45,7; giböt thaz
man gihaloti : iussit vocari 151,4; — collegimus -istis 152,4.6;
adquisivit 151,5; auflösung von convocans (34,1. 118,1; von
advocans 94, 2.
Prtc. prt. gi- (8).
ougen : ostendere (1); sih o. : apparere (2). — gi- (2) : deraonstrare,
ostendere. — ar- : ostendere (10), manifestare (1); sih arougen : (ap)pa-
rere (11).
a) ougen
II sih ougent (2). ouget : ostendite.
b) gi-
II giougi : ostende.
III, 3 giougit : demonstrabit.
c) ar-
II arougis. erougi (2), -et : ostendere.
111,2»; eroucta : ostendi, -it (8). aroucta sih : apparuit, -eriint (lo).
III, 3 erougit sih : parebit 145, 19.
III, 4b bigonda arougen : ostendere 9o, 4.
Prtc. prt. ar- (2).
haltan (etwa 16) : custodire, servare. — gi- (8) .- custodire, servare,
conservare. — bi-(14) : custodire, servare, observare (conservare).
a) haltan:
II heltit (4; 165,2 lat. text servavit f. servat); haltes; halt, -ot (4).
111,2» hielt(4): custodiebat, servabant, servaverunt, servabaiu.
111,8 haltent : servabunt 170,2.
III, 4b [gigeban sint zi haltanne 84,4].
111,5 [oba uuer . . . ni heltit : si quis non custodierit 148,4; ob ir
. . . haltet : si . . . scrvaveritis 16", 9].
528 PIETSCH
b)gi-
III, 2a gihielt : conservabat, servasti, custodivi.
111,6 thie gihoient gotes iiuort inti thaz gihalteut : audiunt, custo-
diimt 58,2; thie dar minnöt sin ferah thie forlioses, thie dar
hazzöt sin ferah . . . giheltit iz : perdct, custodit 139,3.
c) bi-
II bihaltu, biheltit, bihaltet (iuip.), bihaltenti (2) : custodirc (servare).
III, 2» bihiclt (5) : observabant (2), conservabat, servavi, -erunt.
III, 4b [gibiut zi bih. : iube custodiri 215,3; leret zi bih. : docentes
servare 242, 2].
111,5 so uuer ... biheltit : si quis servaverit 131,22.23.
Anin. Beachtenswert scheint, dass hielt 3 m. = lat. iiupf. und nur
1 m. = lt. perf. steht, gi-biliielt aber nur = impf, von con-u b servare,
sonst = perf. servavi custodivi.
Prtc. prt. gi- (2).
losen : solvere (8), llberare (1). — ar- : solvere (3), liberare (5),
eruere(l), redimere (1). — üz- : eruere (1). — zi- : solvere (7).
a) lösen
II 16sit(2), -et; löset (imp.), lösenteii : solvere. — lösenti : liberans.
III, 4^^ [gilainf zi 1. 103,5, ih quäiui (quam) zi 1. 25,4(2) : solvere].
b) ar-
II erlösit : liberet 2ü5, 3. arlösi (2) : crue, libera. erlöset : solvite.
arlösenti : redempturus 225, 3.
III, 2 a erlösta : liberavit.
in, 5 so uuelichu so ir arlöset : ([iiaccumciue solveritis !)8, 3 ; — oba
arlösit : si liberaverit 131, 15.
c) uz-
II üzlösi : erue.
d) zi-
II zilöset : solvite.
III, 2 ■> zilösta sih : solutum est 81), I; zilösta : solvebat 88,6.
III, 5 so uuaz thu ziiösis : quodcniuiue solveris UO, 3. — ther zilösit :
qui solverit 25, 6.
Prtc. prt. arlösit ; liberatus solutus; si zilösit : solvatur; zil. uuer-
dan : solvi.
Ich habe diese beispielc beliebig herausgegiiffen , es han-
delte sich ja nur darum, das verfahren, wie ich es mir denke,
wenigstens durch einige beispiele zu verdeutlichen. Dennoch
sind dieselben geeignet, manche der vorhin angedeuteten ge-
sichtspunkte erkennen zu lassen, z. b. haben ar-zilösen ganz
deutlich die Functionen, welche bei anderen verben der Zusammen-
setzung mit gi- zufallen. Vgl. besonders III, 5. Auch der bei
haitau angedeutete gesichtspunkt verdiente vielleicht weitere
PIETSCH, UEBER GE- BEI VERBEN. 529
beachtung. Dass ich die einzelnen formen alle ganz ange-
messen untergel)racht, beanspruche ich nicht; es lässt sich in
der anordnung manches gewiss zweckmässiger gestalten. Es
war eben nur meine absieht, einige andeutungen zu geben.
Natürlich bin ich auch weit entfernt, diese etwas weitläufige
art der behandlung des gegenständes für jedes einzelne
denkmal als notwendig anzusehen; nur für die wichtigeren der
verschiedenen zeiten und der verschiedenen mundarten scheint
sie mir empfehlenswert. Besonders so lange wir noch in den
anfangen der genaueren Untersuchung dieses in seiner Ver-
wendung so proteusartigen vorwörtchens stehen.
GKEIFSWALD. P. PIETSCH.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
Uie königliche öffentliche bibliothek in Hannover besitzt
unter den handscbriften Dietrichs von Stade, welche dieselbe
nach dessen tode (1718) im jähre 1723 ankaufte, auch eine
Sammlung einer grossen anzahl von kleinen Wörterbüchern ein-
zelner altdeutscher literaturwerke unter dem, auf dem rücken
des bandes befindlichen titel 'Glossaria varia ordine alphabe-
tico', ms. IV, 447, folio. Eine Inhaltsangabe der handschrift
findet man bei a Seelen, Memoria Stadeniana, Hamburgi
MDCCXXV, s. 144 f. Dieser band enthält auf blatt 453—461
ein ostfriesisches Wörterverzeichnis, welches ich hier zum
abdruck bringe. Ich benutze diese gelegenheit der Verwaltung
der kgl. bibliothek in Hannover auch au dieser stelle meinen
aufrichtigen dank auszusprechen für das bereitwillige entgegen-
kommen, mit welchem mir die handschrift zur Verfügung ge-
stellt wurde. Nur die Überschrift ist von der band Dietrichs
von Stade:
Vocabula qdam Fresica, in Wursatia, prsecipue in pa-
rochia Wremensi, inter Frisios usitata, qua) Dom. M. Luderus
Westing, tunc temporis ibidem, jam in civitate Luneburgensi,
Pastor, mihi, äo M. DC. XXCVIII. rogatus, ex ore suorü Pa-
rochianorum excepta, communicavit.
Der nun folgende text rührt von einer andern band her.
Wir haben offenbar das original von Westings niederschrift
vor uns. Die handschrift ist sauber geschrieben und scheint
vollständig zu sein. In dem folgenden abdruck sind die zahlen
von mir hinzugefügt. Die in klammer stehnde zahl verweist
auf die entsprechende seite von Kükelhans ausgäbe des
BREMER, WÜRSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
531
Cadovius-Müller, Leer 1875. Die wörtei- des letztern habe
ich denen Westings in klammer hinzugefügt, und zwar mit
benutzung der verbessrungen, welche Kükelhan in Zwitzers'
Ostfries, monatsblatt III, Emden 1875, s. 289 — 299 nachgetragen
hat. Bis 636 laufen die zahlen für Cad.-M. fort; von 638 bis
zum schluss gilt die in klammer stehnde zahl nur für das
betreffende wort selbst, nicht auch, wie vorher, für die folgen-
den Wörter. Die wenigen buchstaben, welche Westing antiqua
schreibt, sind durch nichtkursiven druck gekennzeichnet.
(31=^) gott
ein geist
engel
teuffei
5 gespenst
uohtwendigkeit
das glück
der Zufall
die uatur
10 ein bewegung
eine ruhe
(3P') ein ort
die zeit
ein iahr
15 der frühling
der Sommer
der herbst
der winter
ein monat
20 eine woche
ein tag
eine nacht
ein stunde
(32-'*) die weldt
25 der himmel
ein Stern
die sonne
der moud
das feüer
30 der rauch
eine kohle
got [gaade)
geist {geest)
engel {enget)
devel. Imsum ') deyd {tiu/fli)
gespcnss {spoiick)
{nohtheide)
{luck)
tofall {toofall)
{natur)
bewey'de {horeigening, r dring)
raufv {rill, rost)
{oode)
tidde {tu de)
en jcer {ohn jehr)
fratv je er {farjchr)
siihmr-) {zuhmer)
hervest {heest)
{n'ijhnter)
mond {mohnnt)
en wieck {wyhk)
en die {dy)
{nocht)
[stulmde)
tvh-ähl {iverrelf)
hiemnwl'^) {hyhtnel)
en stiem {stiarn)
sönj'e {saufm)
mahn {meen, jnonn)
fiejuhr {fiauhr)
smeeck {schmayck)
köläh'^) {koll)
') doif, ',2 uieile südlich von Wiemen.
•'') c oder c. *) käluh hs.
-) smulir oder smnhr hs.
)32
BREMER
asclie
die lufi't
ein regen bogen
35 der blitz
der douner
der wind
ein wülcke
der tbau
40 der reiff
der schnee
dasz eiss
der regen
uugewitter
(32'') 45 das wasser
das meer
weser
ein fluss
eine bulge
50 ein see
eine pfütze
ein brun
ein tropff
ein Wasserblase
55 die erde
ein berg
ein hügel
ein winckell
ein erdenkloss
(30 eine sode
der koth
das sand
der untiath
(33*) ein laudschatlt
65 acker
ein wald
ein wiese
ein garte
ein Weinberg
70 eine brücke
ein Stadt
ein dorff
ein thurn
ein graben
kscke {csli)
lacht {luchi)
rins bogäh {rienhaag)
leidt, IjuclU {laijde)
toyiijhr^) (ihunder)
{rvihnde)
rvulcke {wulck)
dem {daiv)
ripp (reip)
(schnee)
iss (ijhs) -)
rhi {riehii)
aischwidder (uhnwidder)
wilihr (we/ter)
see (zech)
wissuhr
wiitirtoch {dilph gegrabener
fluss)
putte {morast)
saadt {boohde)
druppah
intfihr blase (wetterblubber)
ehrde {eerde)
beerg (birg)
kloadt {biilte, lütken birg)
en heeren (heene)
a erde kludl {eerdenklomp)
sade {aijde, turjf)
treck (bletz)
söhn (sauhn)
niiuchss {suhndels')
lohn {lauh?ischep)
dcker (ecker)
woag {holde, wolt)
wisch {mehtlaun)
tunne (tlmen)
(wynbirg)
breggc {bregge)
stedde (stcde)
tdrpe
thoren
en ßljiid
^) y otler y oder y. '^) jss hs.
WURSTENEU WÖRTERVERZEICHNIS.
533
75 eiü thor
ein gasse
ein kiiche
ein maickt
ein zech hauss
(33'') 80 g-oki
Silber
bley
zinn
eisen
85 saltz
Schwefel
ein stein
ein Ziegel stein
kalck
1)0 ein glass
ein dach ziegel
ein edelgestein
das holtz
ein bäum
1)5 ein vvuitzel
ein stamm
ein ast
ein zweig
ein blat
(34=*) 100 ein wein rebe
ein holdeibauni
kraut
ein Stengel
eine blume
105 eine Helle
ein rose
ein rübe
ein rettich
(•^1") grass
110 heii
die frucht
ein apöel
ein birn
ein pflaum
1 15 eine feige
ein kirsch
ein nuss
dahr {darr)
siraat {strait)
sch/räVA-') (zierck)
marcked {merck)
kro(j {krauch)
gohl {(joel)
siljähr {zilvcr)
hUij {bhj)
/hmen-) {(m?i)
iseni^) {ijhser)
söH^) {mit)
schwefihl {schweifet)
sleen {fllnte)
muhr stehn {backstain)
{kaUick kelch)
(jlesse {gles)
imune {krock)
deman {eedelslain)
holt {hald)
lähm {Jnaum, buam)
ivörtel {wi(iel)
stamm {stock)
t eigen {lulg)
ttviß {twillig)
bladde {bleede)
{tvyhnstock)
dlhorn
krudt {knihde)
{steehl)
blomcke {blaime)
{liljen)
{rosen)
cn röfe {rilf'e, rcij/'e)
{schn-erte reijfe)
gress Imsum {ges)
föddcr {hah)
facht ifrichte)
appel {appel)
en pähr-^) {pyhrr)
plumme {quidse)
/ige
kassbehr (kess)
nöte {nuuht)
') oder sch»vrcAV Vgl. s. 557 anm. 1.
*) soll hs, ^) jjräh lis.
•■') limien hs. 3) Jseni lis.
531
(35=^)
(35")
(3G'»)
(36'^)
BREMER
ein Weintraube
{wyhntruffen)
weitzeu
weten {iveete)
120 rocken
rogtjen {rogge)
garsten
körn {gest, kohrii)
habern
Ijeffähr {lieffer)
ein erbs
erith [erre/J'l)
ein bohne
bahne {höhne)
125 nieel
mita (mi/l)
bier
befahl' {biahr)
essig
et)ck (suhr)
honig
homiig 1) {hun'uj)
wachs
wachss {rvags)
130 milch
meMjhck-) {melck)
butter
bultuhr (biihter)
lauge
läge ilooge)
ein thier
tjahrd (ivucht)
ein vogel
vagel (fiuggel)
135 ein storch
ein äbhehj'-'') (slorck, adebahi
")
ein rabe
rä/e (ra/en)
ein krähe
krag {kragen)
ein schwalbe
schtvillnck (schwohleke)
ein spärling
sparllnck {ßnck)
140 ein schwan
schwohn {schwohn)
ein ganss
göoss {goos)
ein endte
emidt^) {oente)
ein hahn
röper {hahn)
ein hänne
h('mne {heine)
145 capaun
capuhn Qiahnruhn)
ein rebhun
(rephein, patrisken)
ein Wachtel
{kutjehlick)
ein taube
dwve {duhfe)
ein lerche
levercke {letzkc)
150 ein fisch
fische (fiosck)
ein bering
{herring)
ein lachs
lass {lochs)
ein hecht
hecket {hecke/ e)
ein ahl
ehle
155 ein krebs
ikrefft)
ein thier
{jvucht)
das vieh
becst (goot)
ein woltf
H'ul//' {nndff)
ein fuchs
foss Cfogks)
160 ein hasc
hässah {haase)
') i oder \ oder i. '-) e oder e. ■'') ä kaun allenfalls auch ä ge-
lesen werden. <) ^mndt hs.
WUKSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
535
ein maulwuiff
ein mauss
ein ratze
ein pferd
165 mutterpferd
ein esel
ein ochse
ein stier
ein kuii
170 ein kalb
ein schaff
ein hamel
ein lamm
(37'') eine ziege
175 ein bock
ein Schwein
ein eher
ein hund
ein katze
180 ein frosch
ein wurm
raupe
ein schlänge
ein Schnecke
185 ein fliege
ein miicke
ein imme
(37'') ein wespe
ein heiischreck
190 ein ameiss
eine spinne
ein lauss
ein mensch
ein man
195 ein weib
ein kind
ein mägdleiu
ein alter man
ein alt weib
(38*) 200 der leib
die haut
das fleisch
(38^^) die ader
{muH)
mus {fuuhs)
rotte {rotte)
pärdt {hingst)
mehr
esehl {eesel)
en äusse {eghs)
en st jähr {stiar)
kuh {ky)
käalf {ka/f)
schepp {schaip)
{hahmel)
löhm {laum)
zage {zege)
ramme {bück, rcunm)
schwill {schwyhn)
^everd {hajver)
hunn' {huhn)
kätt' {ziet, mueshuhn)
pdgge {pogge)
n-örm {tvorm)
en nipp {ruhhe)
schtenge
schnigge {schnigge weisze
Schnecke)
ßiäg {/Hage)
mügge {migge)
imm {ihme)
{stehckihme)
{gesprenger)
migelrehm {iniren^ pissebedden)
{spimi)
liiss {lues)
minscke {minsck)
mänii {zieht, keret)
wiff {rviif}')
bahren (been, bein)
föjven^) {fohn)
ahle mann {ohlden zieht)
en ähle wi/l' {o/itd n-uff)
tili {lief)
hede {heude)
ßesck {ßesck, /lasck, fliosck)
ader {ooder)
') fdwen hs.
53G
BREMER
ein bein
205 das marck im bein
blut
ein glied
(37^') ein haar
(38*) das ohr
210 das angesicht
die Stirn
die aug lieder
ein äuge
die nase
215 ein backe
ein kinn
ein bart
eine lippe
ein mund
220 Zahnfleisch
der zahn
ein zunge
(38'') der halss
der nacke
225 die brüst
eine zitze
ein rücke
die Schulter
die achseln
230 eine seite
das hertz
ein arm
eine band
die rechte band
235 die lincke band
ein finger
ein daum
der bauch
der nabel
240 der hinder
die bilben
ein schenckcl
die hüfft
das knie
245 eine wade
ein fuss
die ferse
beim
märck in hehn {inirck in'l behi)
blöde
glid
hier {heere, hair die haare)
ahr {ehr)
{antlaat)
stier 7m (voorblade)
owje Jid {oogenlidde)
en oäge {pog)
nesie (nusze)
Isjäck' (tvange, kohn)
{kinneb(ick)
bürde (bähde)
{lippen)
muH {thuffy junhl)
lösch ßesck' {tnsckfUosk)
losch {/iisck)
tonge {fong)
(hals)
neck'e (neck)
bröst' [bosl)
ward, litte {tilte, spehn)
regg {rigg)
schulder {sckulders, plur.)
schi'dderblel
sldd'e (side)
hart {hart)
ar"?n {irm)
hölm {haunde)
riücht'er höhn {riuchler haunde)
Jochter höhn {lincker haunde)
{finger)
Umme' {thum)
bück {hauck)
niggehl {naffel)
aerss {neers)
aerss bellen {neersbacken)
senck {schincke)
{kruesbunck)
(knldd)
7vad^) {kühle)
fndt {faul)
hacke {hacke)
^) wnd hs.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
537
die fussohlen
(39*) stäreke
250 Schwachheit
gesuüdheit
kranckheit
taubheit
blindheit
255 ein höcker
der hust
das fieber
die pestilentz
die masern
260 eine beule
ein geschwer
(«^9'') ein wunde
ein wundmahl
das leben
265 der tod
die Seele
das futter
die speise
der tranck
270 ein morg suppe
das Vesper brod
ein gasterey
brodt
ein kringel
275 ein kuche
(40=*)
ein suppe
speck
ein wurst
ein ey
280 milch
butter
(53,3) ein käse
(40=^) der seh weiss
ein thräne
285 Speichel
seiche
ein wind
släa
{starckte)
kroi'mck
sunn {suhndheide)
kroanck {kronckheide)
daaf concr. {daufheyde)
hlinn concr. {hlhidheide)
krum" regg' ihiten)
hösC {host)
köhldr^) {kohJde)
{peest die pest)
masehi {nie y sei)
buhle"^) {duhle, druhle)
idem {ähcket)
(fi'uhnde)
?iene (/iddleyken)
fit liff'an {Hefen)
dad {doude)
{zeehl)
fohr {fodder)
spiese {kost)
drinck {drawick)
niaren hrade
vesperUtcke {midduliren, schep-
mehl)
igeesteboode)
hrrade {brodde, brande)
{kroickUnge)
kocken {kayckes)
{juck, broye)
{spiock)
örst {rvuust)
{eye)
mel" ejück'^) {inelck)
buttuhr {buhten)
zise {tzise)
schweet {schweif)
thrähn {thrnnen die thräueu)
spegel {spoch, spey)
[pölcke] 4)
hölcke {niieg)
w'me,ßrV {ßest crepitus ventris)
') e oder t. 2) „ ojjer y^^ ^■> allenfalls auch e. 3) meffjück hs.
*) steht in der hs. über luilcke, ist also oftenbar eine Variante zu
diesem wort.
538
BREMER
niensehendreck
(40'') ein sinn
290 das gesiclit
das licht
finsternis
die färbe
das gebor
295 ein scball
ein stimme
das rieeben
der gerueb *)
das kosten
300 der gescbmack
das füblen
die wärme
die kälte
die gedäcbtniss
305 die vergessenbeit
der scblaff
ein träum
die wacbt
das gemütb
310 die veruuflft
der wille
die Wollust
die freiide
der scbmertz
315 die traurigkeit
die barrabertigkeit
die missgunst
(41^) die liebe
der bass
320 der zorn
die furcbt
die boffnung
ein feiertag,
eine glocke
325 ein priester
ein küster
ein leiche
ein l)egräbniss
ein bürger
330 ein frembder
die obriffkeit
menschen treck {strunt)
{sinne die sinnen)
tschah (sciah)
^Ij'acht {(Jacht)
tjusternlss (tjunck)
früw {ferfe)
hähr (hee)')
lüddi
stemm' (stem)
rücken {ruhk)
(royck)
schmeckend {profen)
schmecke {schmeck)
fehl {faijlen)
{helfe)
kohl (kohlde)
{gcdachtenis)
vergitthän {verjetenheide)
sleep {schlaip)
dreemde {draim)
finckthn {rvaaken)
gemüht {gemaide)
vernunfft '-) {verstandigheide)
{ivalle)
wehlost {(higheyde)
fr 0 fr de {fraude)
schmart {sch?nert)
trorlgkeit {trurigheide)
harmhartigkeit
aofgunst {au f Jons i)
liafd {Huf de)
quaade
thoren
growen {freyse)
{hapcnlnge)
fierdie {helgendi)
klocke
pasa in plu. puppuhn {pastor)
koster {coster)
dade^ lick
dad' hjdhr {bygreffnis)
horger {horger)
framhder {fraumhdling)
lio/fch r ig keil {överlteyde)
') geruh hs. -') veruuffl hs.
WURSTENER WORTE RVERZEICHNIS.
539
(411')
(42=^)
(42 '0
(43'')
(38^)
(37 1')
(38^)
(37*)
(38*)
(37")
(38'-')
(37")
(38*)
der kayser
ein köuig
ein königin
335 ein fürst
ein edelman
ein ampt
ein Schreiber
zusammen kunfft
340 der rath
ein rahts b.
ein gericht
ein ricbter
der friede
345 der krig
ein feind
kriegsber
ein fabne
ein schildt
350 ein gescbütz
scbiessen
ein bücbs
ein kugel
ein spiess
355 ein scbwerd
ein dolcb
ein raesser
das befft
die scbeide
3G0 baussbaltung oder
baussgesind
ein gescblecbt
blutfreündscbafft
gross vatter
gross mutter
365 ein vatter
ein stiefi" vatter
ein mutter
ein stieft" mutter
kiuder
370 ein sobn
stieffsobn
ein tocbter
stieft' tocbter
{kayser)
henihn {könninck)
kelmihein {köninghine)
{first, ferst)
{leening)
schriver {sckrifer)
tosamen kommah {hijhnauhn-
komst)
rekde^) {rayde)
rehdshelir {rayhdsmon)
gürrjücht 2) {ger'mcht)
gurrjucliter {riuchter)
feradäh (fridde)
kriegg (fehde)
fejendt
ßnnäh ^) {fahne ein febndel)
(sckilde)
gesehnt
schäjafh
röhr (röhr)
(kloot)
speet {spait)
schnärd (saghs)
körten deg {fugge)
säx'
schünnah
Schede {schayde)
hnssholding {huesliohVtng), hof-
gesind
stamm {vollck)
blöd frünschop
gröot nänn (aahlvaar)
groote möhm (ahlfnem)
nänn' {vaahr, babbe, heile)
stj'ip nann {sliapvaar)
möhme {mem)
stjip möhme'^) {sliapmem)
bahren {been, bein ein kind)
snuh (zuhn)
stjip snuh {sliapzuhn)
dochter (tiochter)
stjip dochter {stiaptiochter)
*) e od(3r e\ allenfalls atich e. ") eher u zu lesen. •') möhme hs.
Beiträge ziir geschiclite dei deutsclien spräche. XIII. gg
540
BREMER
ein kindes söhn
375 ein kindes tochter
(43^) ein bruder
ein Schwester
des vattern bruder
der mutter bruder
380 vatern Schwester
mutter Schwester
(43"^) der ehestandt
ein hochzeit
ein ehe frau
385 ein bräutigam
ein braut
Schwager
Schwiegermutter
sohns frau
(43=^) 390 ein herr
ein frau
ein knecht
magd
(43'') ein hauss
395 ein wohnung
ein platz
ein Stube
(44^) ein keller
ein scheüne
400 ein körn hauss
ein kuche
ein herd
ein oifen
ein stall
405 tauben hauss
hünerhauss
(44'') ein gebau
ein wand
ein maur
410 ein thür
ein schloss
ein Schlüssel
ein fenster
ein leiter
415 ein trepff
hrohrens söhn
hahrens dochter
bf'ohr (brawer)
schrvester {süs(er)
nan hrohr {vaahrshraiver)
?nohm hrohr (memsbrawer)
nan Schwester {vaahrssüster)
mohm Schwester {memssüster^
{echtestaund)
gäme {waschop)
ehe rviff {echtervuff)
burdühgahm {braidigonmi)
brehde {brayde)
{schwaiyer)
schwieger mohm {schwaigermein)
snnh wiff {zuhns wiiff)
här [heehr)
wifT
{thyansl knecht)
fäichhi {thyanstmagd ein dienst-
magd)
huss (hues)
uenymhn ') {kommer)
piaatz (pletze ein herdstete)
dornske, pisel {do7'ns, pisel)
{siUeni)
scheüfi {schien)
kornhuss {boode, spyhker)
koäcken {kouken)
{heerd)
niß'wuncke -) {auf ende)
{stall)
duf huss {duhfensphinde)
Immer huss {hennenhock)
geböwd {geboude)
wag {waage)
muhr {?PMhr)
dcrräh {darr)
Schlotte'^)
kay {kay)
andern {fihnster)
ladder {ladder)
trep {tratte)
') e allenfalls auch <", iinu oher iin)i zu lesen. -) oder nif/'/vucke;
die hs. liat für ttn nur 3 striche. •') e allenfalls auch <*.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
541
ein dach
ein dach ziegel
haussgerath
(45''} ein gefäss
420 ein tisch
ein banck
ein stuhl
ein Schemel
ein tischtuch
425 ein teller
ein saltzfass
ein lofifel
ein messer
ein becher
430 ein schale
ein kelch
ein glass
ein kanne
ein flascbe
435 ein kiug
ein becken
ein handfass
ein fass
ein tonne
(45'') 440 ein zuber
ein trechter
eine kertze |
ein licht ]
ein leüchter
445 ein latern
ein lichtputze
späne
blasebalg
bratspiess
450 rosst=*)
kessel
topff
drey fuess
ein korb
455 ein sack
taschen
besem
bette •
wiege
duckkäh (theck)
(paan)
hussgerahde {huesgerayde)
{fett)
{taffet)
hänck {benck)
stöhl {stull)
scKimmchl^) (sckamel)
twäal {ßisklayken)
tellähr
soltfelt {saltfett)
leppel (letz)
sax {saghs)
bettschier {bihker)
schillifah
käilcke {bihker)
gless
könne [konn ein steinern kan)
flesck {lechel)
konne'^), kross
(plaate)
{hauhnfett)
vedt
tonne {tunne)
töfähr
trachter {trichter)
,. ,^ {keers)
'J""''^'^ \liacht)
Ijuchtiir
Ijucht
Ijacht scheer {liachtschnütte)
spohn {sphone)
puster ijdaasbelg, pühster)
{brähdespitt)
{rüster eine röster)
tsch'ittihl {tschittel)
kroog*) {kroch)
triefuht {trianfaut)
koorf {kor/]')
sacke (seck)
ficke {kmapseck)
besinyi {bisseni)
bedde [bedde)
n'edsü {widse)
') scJiimnehl hs. ^) kome hs. ^) rosse hs.
*) krogg.
36*
542
BREMER
460 spannbett
küssen
ein decke
(46*) ein kieste
spinroek
465 haspel
spin radt
eine spule
ein sciiere
fingerhut
470 ein nadel
ein kämm
ein Spiegel
ein biil
ein kleid
475 ein hut
ein haube
ein Schleyer
(46'') ein mantel
ein rock
480 ein peltz
ein hembd
ein krag
ein ermel
handscbue
485 bösen
strümj)ffe
ein stieß el
ein scbue
pantofl'el
490 ein krobne
ein fmger ring
ein giirtel^)
ein nessel
ein sebueriem
495 geld und gut
ein brautscbatz
ein erbscbafl't
das gute
das böse
(47*^) 500 der schade
reicbtbum
schließ häncke {schlaiphenck
eine schlaffbank)
k essen {k essen)
däcke
käste {sphinde)
(spoel ein spindel)
hespel {rahl)
Spin red {iveyht)
spohle iflüeyet)
schere {scheine)
fingerhode {fingei'hoode)
neddel^) {nedel)
köhmm {kayhni)
speyel {spiagel)
{briet)
kläed {klaade)
höde (hoohde)
hufe {mutze)
schlejer
möntil {manlel)
(rock)
stjusl {siust)
hemniin '^) {hemhde)
hefken (kaag)
sleefe {maw)
wand {wunthe)
bocksen (bückse)
fesick' {Iltissen)
stevel {Steffel)
schifwalir {schuar)
tuffel
{krohneii)
gorrel {gerdel)
{üddern rehm)
rijalim {schuar riehiii)
geelen göde {j'ilde geld)
hrcdtschet {braydschelt)
arfschöppie
göde {yoode)
quade {bayse)
schädda ^) (schade)
ricke Juggäh (ryhckedohm)
') e allenfall.s au(-li t?.
*) schtdda hs.
■-) lu'Dvun hs. ^) (V oder u.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
543
armuth
gewalt
ehre
505 guter nähme
freiheit
dienst bahrkeit
wolfahrt
schände
510 Zierde
tugend
laster
bossheit
bubenstiiek
515 gefahr
die arbeit
die gedult
ungedult
trunckenheit
520 die zucht
demuth
hoffart
schertz
gerechtigkeit
525 billigkcit
gewalt
todtschlag
gesetz
ein bitte
530 kaiiffnung')
das lohn
die bezahlung
das lob
die straffe
535 die hiilffe
die Wahrheit
die lügen
der einfalt
der betrug
540 der geitz
frciindsehafft
feindschafft
einigkeit
Uneinigkeit
aermolit {ermohde)
{gervelde)
aehre {ehre)
gode nama (ohn goede nonini)
frieheil {fryheide)
tjanstharJieit {tyahnstharheijde)
wchlfried {wallfehrde)
schoan
tjuthud
Ulster
hösshcit
howenstuck i)
aarheit
drinckcnheit
t licht
demoth
schätz {körtztvyl)
g'örjuchügkcit 2)
{geivelde)
dadschlag
(seede)
hidde {heede)
koop
loahn [laahn)
hetlien
loff {laufde)
stra/r
helpc {lülpc)
werhcit
Icjeu ■')
ehnfoIdigkcU
hederjAh
gletz
frinschop
fcindschop
enigkcit
I
') 7V oder v. ^) g'örjiiiektigkeii hs. ») es kann auch -nnug ge-
lesen werden. *) oder Icjen.
544
BREMER
(48")
(47-'^)
(47")
545
550
555
560
505
570
575
580
ein irtlium
das gewissen
die klugheit
die weissbeit
die listigkeit
die narrheit
einkunstbaudtiiierung
ein schul
ein Schüler
ein buchstab
ein syllbe
ein name
ein wort
ein rede
ein buch
ein zedel
ein brielf
ein blat
ein schreibfedcr
ein dintfass
dinte
ein Spruch
ein ziel oder
(48=0
585
ein gedieht
ein mährlein
ein Sänger
ein handwcrck
baursman
ein mejer
ein plug
schauffei
ein gabel
sichel
Hegel
wagen
karren
ein Schlitten
ein radt
ein zäum
ein sattel
ein sporn
vieh-hiert
regel
wittänd
klockheit
7vissheU
darheit
handlerung
schooV) {schaid)
hockst ef
ncmmäfi (nomm)
worde' {rvoode)
schnack
hoock (bauck)
sedei
hrkf {braif)
hledde {hleede)
schrif feder'^)
hlackhoni
hlack
spreeck
reeg
mahr
tVjcnger
hennie tverckmon (ombachi)
hussman {huesmohn)
?nedcr {hUermohn)
plog {plaug)
sclüjätfät ^0 {schiadde)
foörck {forck, jeffel)
sieht {sied, sichte)
fUiel^) ifhiyel)
wäjen {wayn)
kear {n-üppe)
schüddäh (schlidde ein pflueg-
schlitten)
7-edt {fiauhl ein pfiuegratt)
töhm {toohni)
suddöhl (zaadel)
sprach {spaude)
hier de
^) schook hs.
falls auch I
-) schref fed'cr lia. ^) oder fteiel. *) i alleu-
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
545
jager
Vogelfänger
{ßug gel fang er)
fischer
{fioskfänger)
590 angel
{ongel)
müller
{ineller)
ein mühle
moln^) {mell)
ein beeker
ein fleischer
Schlüchtern {schlechter)
595 ein koch
kock
ein wirtii
n-irth [werlh)
ein hier brauer
hijahr braiier
barbierer
Ulberder (ast)
bader
600 weber
rvefer
Schneider
schnider (schrader)
hutniacher
hodnückihr {hohdemahkcr)
kürssner
korsner {fellbereyder)
Schuster
schostcr {schuarmahker)
605 ein sattler
sudduhl {zadelker)
ein mahler
mehler
buchbinder
baumeister
timmennon (tifiimermohn)
Schmied
(schmee)
610 zimmerman
Schreiner
Schnitzer (spihndemahker)
dreher
drejer
ein axt2)
ein bell
bin
615 ein m aurer
muhnnon
(48'') ein glaser
glascker {glesker)
ein töpfler
hotjer {pottebacker)
ein goldschmied
gohlschmid
kan giesser
konnjäter^)
620 eisenschmied
ein Schlosser
kan mickier
messerschmied
süa;' schmid
ein handelsmau
handelsmon
ein schieffmau
schipper {schtpper)
625 ein schieff
schip
ein schifflein
kahn, kanäh
ein spiel
spült
ein fechter
ein ballspiel
balsplie
630 kugel
^) allenfalls auch moic. 2) ^^jt hs. ^) oder konnjä' tcr.
546
BREMER
kegel
kegcl
küsel
{trop)
ciu huren
horc
ein dieb
liafT
035 meer läubev
see rover {kaapcr ein Seeräuber)
ein alte hex
olde hex {iJug-ofer-di-heyde eine
hexe)
wer
(57, 34) gut
goode {goed)
(59, 47) boss
boss {hmjs)
640 roht
radc
gruhn
gronjc
weiss
wit
schwartz
schn-art
lang
long
615 breit
brede
hoch
hoch
tieff
liap
schnei, geschwind
drade ')
starck
650 schwach
schwack
(32\ 37^45''. 46". 67. 97,25)
gross
( grad (graal, grool)
grosser
greller
am grossesten
grotleslen
boss
boss
655 ärger
arger
schlimsten
gelehrt
gelahrt
gelehrten
am gelehrtcslen
glückseelig
glockselig
660 reich
rick
arm
äerm
schön
schon
hesslich
aisch
(66*) ein
ehn {eyhn, en, ohn)
(66*) 665 zwei
lon-hh {ifro, Itvah)
(66-'') drev
ti'rjdh (triaii, Iriah)
(66*) vier
vcijöhr {vianr, viahr)
(06*) fünf
fivc i/i/fc)
(66*) sechs
sechss {seghs)
(66*) 070 sieben
tsingim'^) (soggen)
(66*) acht
acht (ochle)
(66*) neun
2) isiät
nigühn {niuggeri)
') grade hs. wie 704.
jün hs.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
547
(60=^)
zeben
/Jahn {ihijahn, thtjn)
(60=^)
eilf
ünel/r {citr, ey//r)
(66-^)
G75
zwölf
twelUff' {twülfe, Iwalfe)
nackt
nückküde
bekleidet
bekladc
barmheitzig
selig
680 elend
verba:
bauen
bauen
libren
lernen
(öü-^)
lieben
tjUjäfen {Hafen)
(50 '0
685
liegen
Ij'Ujägen (lidscn)
lügen
mentiri
i^n
selireibeu geben
schriven {sckrifen schreiben)
(52-^)
geben
gcvvan^) {ß/fen)
schencken
•
690
finden
/'} enden'-)
(50'')
geben
gongen^) (gungen)
(50>)
stehen
stöhn (staunen)
(bi^)
schlaffen
slepen (schlaipen)
(51")
wachen
wecken {wahken)
695
springen
(52^0
spielen
spelin (sj)ee/c)i)
(50-^)
tantzen
dont:e)t, lecken (duiissen)
gläntzen
glanlzern
brennen
harnen
700
leschen
losekeil, utdehn
verbrennen
verbarnen
(50'^)
kommen
komahn {kuhmen)
weggehen
weggong *)
lullen
follmickic
705
halten
holt
müde machen
mode macken
kehren
kahren
(51")
schneiden
schnicdcn (schnieden, schraden]
(50")
neben
seien {zijen)
710
crndten
mä^rie
dres^cben
trescken
reinigen
schon nuckle
fahren
infalls auch givvan.
fähren
1
) all(
'^) fundm hs. ^) hongcn. *) weg-
hong 1
IS.
548
BREMER
(51 '^) schiffen
schapien (schaipen)
715 backen
hacken
gebrauchen
gibruck
schmeicheln
anfangen
onfeiig
enden
le mjc brcng
720 kauffen
kopen
bezahlen
hetUn
(51''. 52'') binden
{benden, bihnen)
(50^) hören
hären (heeren)
(50 \ 55, 23) sehen
sijnhn {schiadcn, schian)
725 schmecken
messen
minchsen
(52') warten
lofen {taifen)
erlangen
erlangen
(52*) graben
gorwan {dilfen^ schiölten)
(52'') 730 nehmen
nänulhn {nüwien)
(51'') fliehen
filjagmd {ßiagen fliegen)
. beugen
bugen
kehren, fegen
feg'in
pflantzen
planten
(52 •■^) 735 reiben
rifen {rifen)
(52 =^) giessen
jäten {jaa(en)
(5 1 '') ziehen
lucken {lauckeyi)
wollen
welen
nicht wollen
nil welen
(51-^) 740 treiben
driwcn {trifen)
(52 '') sagen
teilen {teilen erzehlen)
ruhen
raucn
(51'') weiden
gersinen^) {eilen, fennen)
fordern
foddern
745 kennen
können
(5 1 •') frieren
freren {freesen)
schwitzen
schwelen
warm seyn
worin bin
gesund werden
sunn-) werden
750 nass sein
wcet sin
schwellen
schwellen
per
son^c vborü:
(19) ich
ick {ick)
(49) du
du {tu)
(49) er, sie, es
hie,ju, cl {jummasQ.jJarJufGüi.)
') Statt tu küunte auch »I, allenfalls auch ni oder ni gelesen werden.
'^) sonn lis.
WURSTENER W üRTER VERZEICHNIS.
549
(49)
755
wir
wi {wy)
(49)
ihr
tjinn {jem)
(49)
sie
tja (zy)
paiticul
je:
(49)
heut
tUnge {düling)
(49)
gestern
jestern {jistern)
(89)
760
uun
nu {nuh)
(49)
morgen
to mären {mehii)
(49)
zu abend
lo even (tal/end)
langsahm
lomjsahm
geschwind
drade i)
(55, 28)
765
wie
wo {wo)
(96, 12)
also
also {zo)
gleichsahm
glich
vielleicht
vieUcht
(5;^, 1)
und
(iihn)
(59, 46)
770
auch
ock {ock)
so, wan, sie
wenn
quando, wenn
wenehr
derowegen
der wegan
siutemahl
775
demnach
dendcr efler
(91)
aber
duer (au/erst)
ob wohl
ob wohl
dennoch
dengct
(91)
nemblich
niogncke 2) {nonunehjck)
(89)
780 denu, nam, euim
(wenthe)
weil
will
ob
man wo
obwohl
obschou
Vorstehndes Wörterverzeichnis, welches von Kosegarten
in Höfers Zeitschrift für die Wissenschaft der spräche I, 1845,
s, 95 fif. und von Jellinghaus im Korrespondenzblatt des Vereins
für ndd. Sprachforschung, 1886, XI, s. 34 fl".^) besprochen wurde,
^) grade hs. wie 64S. -) so ganz deutlich.
^) Mit Minssen, Fries. Archiv I, s. 171 anm. ist anzunehmen, dass
das Wörterverzeichnis dasselbe ist, welches (v. Wicht), Das ostt'riesische
landrecht (Aurich 1746), vorbericht s. 40 f., anm. genannt ist. Nachdem
von Cadovius-Miiller die rede war, heisst es dort, dass auch im lande
Wursten noch friesisch gesprochen würde: 'wie wir dann von denen da-
selbst annoch üblichen friesischen Wörtern ein kleines geschriebenes voca-
bularium durch die gute des seel. herrn bürgermeisters ANDERSON zu
550 BREMER
ist für die Sprachforschung in zwiefacher hinsieht von beson-
derni wert. Zeitlich, ist es neben dem ausführlichem Menio-
riale lingu« Frisic« des Cadovius-Müller das einzige denkmal
für das bis auf das wangerogische und satersche gänzlich aus-
gestorbne neuostfriesische. Oertlich, stellt es die mundart der
östlichsten Ostfriesen dar, der Wursten, an der rechten Weser-
miindung, zwischen Bremerhaven und Cuxhaven; wir besitzen
also in unserm Wörterverzeichnis einen zeugen für die für das
altfriesische wichtigste mundart, die Riostringer; denn Wursten
ist wol eine riostringiscbe colonie des 12. jhdts. (v. Richthofen,
Untersuchungen über fries. reehtsgeseh. II, s. 145). Die Wur-
stener mundart des 17. jhdts. ist als ein unmittelbarer nach-
komme des Riostringer altfriesisch zu betrachten. Etwas ab-
weichend dagegen, wenn auch sehr nahe verwant, ist das
wangerogische und die Harlinger mundart des Cadovius-
Müller.i)
Unser Wörterverzeichnis ist auf die bitte des Dietrich von
Stade von dem pastor in Wremen, Westing, 16S8 angefertigt
worden. Die nach vollendunü; des ranzen werks geschriebne
Hamburg erhalten haben'. Dass Anderson, welcher seit 1T23 bürger-
uieister von Hamburg war, nur der übersender, nicht der Verfasser war,
ist schon deshalb glaublich, weil auf der Hamburger Stadtbibliothek, wie
mir auf meine anfrage freundlichst mitgeteilt wurde, über ein friesisches
Wörterverzeichnis Andersons nichts ermittelt werden konnte.
1) Cad.-M., s. 24f.: 'So hat man einen andern dialectum der Oist-
frisischen spräche in Jever, Wranger-, Oestringer-, Rüstringer-, Westringer-
land alsü hier in Harringerland oder auf Spihker-, Langoeg und Bal-
thruiii'. — Das Wurstener friesisch starb gegen ausgang der ersten
hiilfte des IS. jhdts. aus. 1T4(I lebten in Weddewarden noch einige
leute, welche friesisch verstanden; s. Adelung- Vater, Mithridates II, Berlin
1809, s. 24tt. Zu Westings zeit müssen also die kinder schon angefangen
haben plattdeutsch zu sprechen. Nur eines halben Jahrhunderts hat es
bedurft, dass das friesisch sprechende land die plattdeutsche spräche
annahm. Dass zu Westings zeit friesische landessprache noch voll und
ganz galt, lehrt die folgende bemerkung Dietrichs von Stade, welche bei
a Seelen, Memoria Stadeniana, Hamburgi MDCCXXV, s. 367 abgedruckt
ist: 'Dass die Friesische spräche im lande Wursten bey den Friesen
noch im gebrauch, solches habe aus der erfahrung, und hat mir bey
der Visitation ein Friese selbst gesagt, dass er in seinem hause mit
frau und kindern immer Friesisch rede. So berichten auch pastores zu
Imsum, besage protocolli visitationis de a. IGHG. d. 24. jul., dass bey
den Friesen bey einer leiche eine Friesische abdanckung geschehe'.
WÜRSTENER WÖRTERVERZEICHNIS. 551
vorrede zu Cadovius-Müllers Memoriale ist d. 1. jan. 1691 unter-
zeichnet. Die beiden Wörterverzeichnisse sind also fast gleich-
zeitig entstanden, und da auch die räumliche entfernung lieine
grosse ist, dürfte mau wol a priori einen Zusammenhang
zwischen beiden vermuten. Tatsächlich muss ein solcher
wenigstens mittelbar bestanden haben. Denn beiden Wörter-
verzeichnissen liegt für die hauptwörter der gleiche deutsche
text zu gründe. In dem stücli von 1 bis 508 ist Cad.-M. viel
ausführlicher, wenn hier auch einige wenige Wörter Westings
bei Cad.-M. fehlen; hingegen von 509 — 637, in der auf-
zählung von abstracten und gewerken, ist Westing weit aus-
führlicher. Bis 637 erstreckt sich überhaupt nur die Überein-
stimmung. Von hier ab gehn Westing und Cad.-M. gänz-
lich auseinander. Bei Cad.-M. folgen pronomina und ad-
verbia, verba, Sprichwörter, müntze, maas und gewichte, von
den fris. heusern, zahlen, das einmahlein, lied von Buhske
di Remmer, eigennahmen u. s. w. Bei Westing folgen einige
eigenschaftswörter (637 — 663, 676—680), Zahlwörter (664
— 675), verba (681—751), pronomina (752 — 757), partikeln
(758 — 784); es sind nur einzelne abgerissne Wörter, ohne den
systematischen Zusammenhang wie vorher und wie bei Cad.-M.
überall. Es ist also zweifellos, dass für die hauptwörter ent-
weder beiden ein gleicher deutscher vocabularius rerum oder
dass Westings text Cad.-M. vorlag. Bemerkenswert ist auch,
dass einige Wörter sich in beiden Überliefrungen am gleichen
ort widerholen, z. b. 89 f. und 431 f, 130 f. und 277 f. Wie das
deutsche original aussah, ist nicht auszumachen. Westing hat
eine reihe deutscher Wörter, welche grösstenteils auch bei
Cad.-M., hier aber mit Übersetzung stehen, unübersetzt gelassen,
und man darf annehmen, da er das Verzeichnis so an Dietrich
von Stade gesant hat, dass er diese Wörter auch nicht hat
übersetzen können. Es ist wahrscheinlich, dass Dietrich von
Stade das uns vorliegende verzeichuis von hauptwörtern an
Westing geschickt hat, mit der bitte um Übersetzung, und dass
die von 638 ab folgenden Wörter von Westing selbständig hin-
zugefügt worden sind, wiewol auch hier einige Übersetzungen
fehlen. Cad.-M. mag das Verzeichnis der hauptwörter gekannt
und selbständig erweitert haben. Dass er Westings arbeit
nicht gekannt oder sich von ihr wenigstens gar nicht hat bc-
552 BREMER
einflussen lassen, beweist die verscbiedne Übersetzung einiger
Wörter wie: 40 reitf : rij)]) W., req? C.-M.'); 51 pfiitze : putte W.,
morast C.-M.; 60 sode : sade W., ayde, iurff C.-M.; 63 unflath
: miuchss W, suhndels C.-M.; 67 wiese : 7visch W., mehtlaun
C.-M.; 87 stein : steen W., fl'mte C.-M.; 157 vieh : heest W.,
goot C.-M.; 198 alter man : ahli mönn W., ohlden ziehl C.-M.
Möglieb ist aucb, dass die anregung zu der arbeit des C.-M.
ebenfalls von Dietrich von Stade ausgegangen ist. Fraglicb
bleibt nur, wie das plus von 509 — 637 bei Westing zu er-
klären ist. Zweifellos hätte C.-M., wenn ihm das gleiche Ver-
zeichnis vorlag, mehr Wörter gegeben, als es der fall ist. Doch
das Verhältnis der beiden deutschen texte zu einander ist ja
unwesentlich. Wichtig ist für uns nur, dass wir auf diese weise
eine sehr grosse zahl von ostfries. Wörtern aus gleicher zeit
in zwei mundartlich nur wenig verschiednen tiberliefrungen
haben, welche sich gegenseitig controlieren. Bemerkenswert
ist übrigens, dass das wort hammel, 172 bei W., in der
Auricher Originalhandschrift des C.-M. fehlt, jedoch in der neu-
bearbeitung der Jeverschen Originalhandschrift (Kükelhan in
Zwitzers' Ostfries, monatsblatt III, Emden 1875, s. 289—299)
hinzugefügt ist.
Die rechtschreibung Westings ist, wie die des Cad.-M.,
leider die im 17. jhdt. in Deutschland gebräuchliche. Dabei
geschieht die widergabe der fries. laute in sehr wenig folge-
rechter weise, indem derselbe laut einmal so, das andre mal
anders geschrieben wird, z. b. das lange i bald i, bald ie, bald
ihy bald yh. Ich bemerke, dass oa und aa den langen oifnen
ö-laut bezeichnen im gegensatz zum geschlossnen oh, oo. Das
reine ü wird in der regcl durch äh bezeichnet (auch «A, «).
Auslautendes e nach d bezeichnet, wie bei Cad.-M., vielfach
nur den stimmton des d, z. b. 13 zeit : tidde W., tydeC.-'^.] 206
blut : hlöde W.; 273 brodt : Irr ade W., brodde, hraude C.-M.;
340 rath : rehde W., rayde C.-M. Dagegen ist ein d im aus-
laut zwar teilweise als d zu lesen, z. b. 265 tod : dad W.,
doiide C.-M., vielfach aber als /, z. b. 19 monat : mond W.,
*) C.-M. übersetzt luissvcrstiindlich mit rei}) reif = reifen, nicht =
gefrorner tau; letztre bedeutnng erfordert der Zusammenhang not-
wendigerweise.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS. 553
mohnnt C.-M.; 74 graben : ßljäd (d. i. fl'jäi) W. dt bezeichnet
bald d, z. b. 102 kraut : krudt W., kruhde C.-M., bald /, z. b.
246 fuss : fodt W., faiit C.-M. z bezeichnet, wie bei C.-M., mit
Sicherheit nur den scharfen 5-laut; ob auch is, ist zweifelhaft.
Ueber Westings Verwendung der zeichen ''-""••'" vermag ich
zu keiner klarheit zu gelangen. Nur so viel kann man sagen,
dass das seltnere ' dem ' gleichbedeutend gebraucht wird. Dass
üh als reines ä zu lesen ist, war bereits bemerkt, ä bedeutet
teils ce, z. b. 32 asche : äscke W., esk C.-M.; 65 acker : acker
W., ecker C.-M., teils ä, z. b. 74 graben : filjäd W., teils offnes
ö, z. b. 132 lauge : läge W., looge C.-M. Das zeichen " kommt
meist kurzen vocalen zu, ' langen wie kurzen. Sprachliche
schlussfolgrungen aus der Schreibweise eines einzelnen Wortes
wird man vorsichtigerweise nur dann wagen, wenn man für
dieselben noch eine andre stütze beibringen kann.
Die wichtigsten Sprachmerkmale der Wurstener mundart
Westings gegenüber dem andern ostfries. sind die folgenden:
1. Der 2-umlaut des germ. u ist bei W. e. 70 brücke :
hregge, 111 rücke : regg. C.-M. schreibt hregge^ aber rlgg.
Wang. ist hryg, rig, aber saterscb hrege^ reg. Vgl. Ndd. jahrb.
XIII, 9, 5.
2. Germ, ay erscheint bei W. wie bei C.-M. und im wang.
als % in dem worte 21, 323 tag : die W., dy {y ^ t), di C.-M.,
dl wang.; vgl. sat. dej. Afries. dei, nur riostr. dl. Aber 578
Hegel : ßeiel W., flayel C.-M.; 579 wagen : rväjeyi W., wayn
C.-M., tvcein wang., tvaien sat. = afries. wein, wain.
3. Der behandlung des Wortes 'tag' ist die von 'nähen'
zu vergleichen. 709 neben : seien W., zyen (d. i. sien oder shi)
C.-M., sm wang., seen sat.
4. Die dem wang. und C.-M. mit dem nordfries. und der
spräche von Süd, Helgoland und Amrum-Föhr gemeinsame
w-fiirbung des i nach w in dem worte 'weib' fehlt W. wie dem
sat. 195. 384. 389. 391 weib : wiff W., ,vm sat, nmff C.-M.,
wyf wang.
5. i und ü werden bei W. in geschlossner silbe verkürzt,
wie sonst nur im nordfries. und in der spräche von Sild, Helgo-
land und Amrum-Föhr. Vgl. Ndd. jahrb. XIII, 9, 7. 13 zeit :
tidde W., tyde {y = i) C.-M., lul wang., sat.; 37. 287 wind :
wine W., tvihnde C.-M., rvm wang., rvmd sat.; 40 reiff : ripp W.;
554 BREMER
42 eiss : iss W., yhs C.-M., is wang.; 34. 43 regen : rin W., rieii, rieh?!
C.-M., rtn wang.; 17G seh wein : schw'm W., schrvyhn C.-M., stiin
wang., sat.; 187 imme : Imm W., ihme C.-M., itn wang.; 195
weib : wi/f W., nnu sat; 200 leib : /«/T" W., lief C.-M., lif svang.,
Im sat; 230 seite: sidd'e W., side C.-M.; sZc? wang., side sat.
— 68 garte : tun7ie W., //mm C-M., tun wang., sat.; 162 mauss :
?nus W., fnuhs C.-M., 7?itis wang.; 178 hund ; hun7i W., huhn
C.-M., Äf«i wang., ?iünd sat.; 182 raupe : rupp W., r?<Ä^(? C.-M.,
rüp wang.; 192 lauss : luss W., lues {ue = ü) C.-M.; 219 mund :
7fiutt W.; 238 bauch : bück W., buk sat; 251. 749 gesund :
SH7171 W., siihnd C.-M., i^« wang., 5Ä?i<? sat.; 360. 394. 405. 406.
418 hauss : huss W., hues C.-M., Mis wang., hüz sat — Aber
in offner silbe bleibt ^ und ü auch bei Westing, z. b. 21 tag
die, 25 himmel hiemmel, 16 sommer sufmi?-, 169 kuh ä-2<ä.
6. Die bei C.-M. und im wang. eingetretne diphthongie-
rung von e und 6 ist der Wurstener wie der saterscben mundart
unbekannt. Man vergleiche 30 rauch : s77ieeck W., schmayck
C.-M., .?w«?/Ä- wang.; 87. 88 stein : steen, steh7i W., stm sat, stain
C.-M., .srtem wang.; 204. 205 bein : beh7i W., hen sat, iem C.-M.,
h(ßi7i wang.; 283 seh weiss : schrveet W., siiel sat., schwell C.-M.,
.vwöp// wang.; 306 schlaff: sieep W., .s/^ sat., schlalp C.-M., .y/fe/ju
wang.; 340 rath : 7'ehdeW., red ssii., 7'ayde C.-M., r<e/rfwang.;
354 spiess : speet W., spail C.-M. (plattdeutsches lehuwort);
359 scheide : schede W., schayde C.-M., .?a;öe/(3 wang.; 386. 496
braut : brchde, bredl W., bred sat., brayde, brayd C.-M., ir«?/«? wang.:
693 schlaffen : depe7i W., slej>e7i sat, schluipe7i C.-M., sUeipen
wang.; 762 abend : eye« W., aifend C.-M., ^^?i;e?« wang. — 27
sonne : söjije W., ^ömäw C.-M.; 62 sand : söhn W., sörid sat, 5öwä?i
C.-M., ÄöWM wang.; 64 land : Joh7i W., Iauh7i C.-M., /öw« wang.;
173 lamm : löh77i W., laimi C.-M., /«?<;;? wang.; 233 haud : hölm
W., hau7ide C.-M., hau7i wang.; 246 fuss : fodl W., föt sat,
faul C.-M., A5^ wang.; 374. 376. 378. 379 bruder : b7^ohr W., hror
sat, Inmiver C.-M., />ror wang.; 552 schul : school W., schaul
C.-M., ;y.ro/ wang.; 559 buch : boock W., ioA- sat,, Z^«?<<"/f C.-M.,
bauk wang.; 574 plug : p/o(/ W., ploy sat., plaug C.-M., ;;/a^/a-
wang.; 692 stehen : stoJm W., std7ide sat., staunen C.-M., .?/«//-
wen w^ang.
7. Afries. ä (> wang., sat geschlossnes 6) ist bei W.
wie bei C.-M. noch ein offnes d gewesen; daher die zwischen
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS. 555
a und o schwankende Schreibung. Man vergleiche 52 brun :
saadt W., soohde C.-M. ; 60 sode : sade W.; 94 bäum : bähm
W., haani C.-M.; 124 bohne : hähne W., höhne C.-M.; 132 lauge :
läge W., looge C.-M,; 209 ohr : «Ar W. {ehr, die «-umgelautete
form, C.-M.); 212. 213 äuge : odye W., oog C.-M.; 253 taub :
daaf W., dauf C.-M.; 265. 326. 327. 527 tod : dad W., doude
C.-M.; 273 brodt : hrrade W., brodde, brande C.-M.; 352 büchs :
rolir W., röhr C.-M.; 363. 364. 651 gross : gröot, groot, grad
W., graat, grolt, groot C.-M.; 408 wand : 7vag W., waage C.-M.;
474 kleid : kläed W., klaade C.-M.; 531 lohn -.loahyi W., /aa/m
C.-M.; 583 zäum : töhm W., loohm C.-M.; 640 roht : rade
W.; 646 hoch : hoch W.; 654 boss : hoss W., Z^ay^ C.-M.; 662
schön : schon C.-M.
Es ist zu beachten, dass dasjenige afrs. ä, welches secun-
där in den Verbindungen m und im entstanden ist, bei W. wie
C.-M. stets a oder ah geschrieben wird, ohne dass eine Schrei-
bung mit 0 daneben vorkäme. Man vergleiche 74 graben :
filjäd (d. i. pt'jm) W.; 126. 597 \)\q^\ -.hefahr, hijahrV^., Mahr
C.-M.; 133 thier : tjahrd; 168 stier : stjähr W., stiar C.-M.;
185 fliege : ßäg W., ßiage C.-M.; 215 backe : fsjYick'W.] 290
gesiebt : tschah W., sciah C.-M.; 318 liebe : liafd W., liafde
C.-M.; 351 schiessen : schäjäth W.; 392. 393. 507 dienst : ijanst
W., ihyanst, lyahnst C.-M.; 494 schueriem : rijalim W., schnar-
riehm C.-M.; 634 dieb : tia/fW.; 647 tieff : tiap W.; 666 drey :
terjäh W., iriah C.-M.; 673 zehen : tjahn W., thyahn C.-M.;
684 lieben : Ijiljäfen (d. i. l'jäfen) W., //«/ew C.-M.; 724 sehen :
sijähn W., schiaden, schian C.-M.; 731 fliehen : filjagend W.,
fliagen C.-M.; 736 giessen : ja/m W., jaaten C-M.; 757 sie : tja
W. Für afries. z<ä ist das einzige beisjiiel 488. 494. 604 schue :
schifnHt.hr (d. i. sxiiür oder mar mit stimmlosem ii) W., schuar
C.-M. Dazu käme bei C.-M. s. 51'' noch dualmen tun. Aus dieser
Schreibweise ist zu schliessen, dass in diesem falle noch im
17. jhdt. ein reines ä gesprochen wurde. Erst im 18. jhdt. ist
dieser laut zu einem offenen ö geworden, um dann im wang.
und sat. die entwickelung zum geschlossenen o mitzumachen.
Für das altostfriesische, so muss man folgern, ist also eine
zwiefache ausspräche des Ti anzunehmen. Entweder sprach
man das U in den Verbindungen m und nli als ät und das ö
aus germ. a// als reines «, oder man sprach crstres als reines
Beiträge zur geschichte der deutschen spräche. XIII. 37
55C BREMER
a, letzties als w. AltwestiViesiscb sprach man, wie das
neuwestfrics. beweist, in ersteini falle u, in letzterm ein
reines U.
8. Die vocale der unbetonten endsilben sind bei W. noch
voll erbalten, während C.-M. nur e kennt. Zum teil nimmt
W. in dieser beziebung einen altern Standpunkt ein als unsere
afries. Überlieferung. Beisi)iele für a: 24 weldt : wei-dfil W.,
/rerre/t C.-M.; 122 babcrn : /Je/fahr W., he/J'er C.-M.; 2G4 leben :
li/fan W., lie/'oi C.-M.; 305 Vergessenheit : venjitlhän W., ver-
jetenhcide C.-M. -^ 441 zuher : tofdhr W.; ^AQ gewissen : wtttänd
W. ; 088 geben : gevvlm W., Ji/fen C.-M.; 702 kommen : komahn
W., kulwieu C.-M.; 729 graben : r/orwan W.; 730 nehmen : 7i«/««/m
W., nihnien C.-M.
Beispiele für r. 36 donner : ionyhr W., thunder C.-M.; 45.
48. 54 wasser : n-itihr, witlir, n-itfikr W., weiter C.-M.; 308
wacht : ivickihn W., waaken C.-M.; 333 könig : kenihn W., kön-
ninck C.-M.; 429 becher : hcttschier W., hihker C.-M.; 451 kessel :
tsch'illlhl W., tscMliel C.-M.; 69C spielen : spelin W., speelen
C.-M.; 714 schiffen : schapien "W., scha'tpen C.-M.; 733 fegen:
fegin W.
Beispiele für u: 47 Weser : Wissuhr W.; 130. 280 milch :
meUejuck, mefejück W., 7nelck C.-M.; 131. 281 hwiiex : huttuhr
W., huhter C.-M.; 395 wohnung : w'ennuhn W.; 584. 605 sattel :
suddö/d, sudduhl W., zaadel C.-M.; 670 sieben : tsmßin W.,
sofjgen C.-M.; 672 neun : nigühn W., n'mggen C.-M.
9. Vor liquida und nasal scheinen die vocale der end-
silben gedehnt worden zu sein; wenigstens überwiegt hier die
Schreibung mit h. Man vgl. die zuletzt angeführten beispiele
und mit eh: 166 esel : esehl W., eesel C.-M.; 239 nabel : niggehl
W., naffel C.-M.; 423 schemel : schimmehl W.; sckamel C.-M.
Auch im auslaut tritt ausser bei e dehnung ein; vgl. die fol-
genden beispiele.
10. Eine hervorragende altertümlichkeit hat W. auch
darin vor C.-M. voraus, dass er afries. auslautendes a, als ah
(seltner d) bewahrt hat, ebenso afries. -i als ie, afrs. -u als -uh.
Für die endung des Infinitivs hat auch C.-M. noch -«'): 339
') Vgl. unter 16.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS. 557
(zusainmen)kunfft : kömmah W., kuhma C.-M. s. 50^; vgl. dazu
in betonter silbe 290 gesiebt : fschah W., sciah C.-M. Aber
bei den n-stämmeu kennt C.-M. nur -e oder völligen Schwund:
31 kohle : kaläh W., koll C.-M. (-«-stamm?); 34 bogen : bo(/äh
W., baa// C.-M.; 53 tropff : druppah W.; 160 hase : Mssah W.,
hnase C.-M.; 344 friede : f?raddh W., fridde C.-M.; 500 schade :
schädda W., schade C.-M.; 505. 556 name : namn, ncmmäh W.,
nomm C.-M.; 581 schütten : schnddäh W., schlidde C.-M.; ferner
haben -äh: 125 meel : nüla W., inill C.-M.; 348 fahne : ßnndh
W.; 358 hefft : schi'mnah W.; 410 thür : derräh W., darr C.-M.;
416 dach dückkdh W., theck C.-M.; 430 schale : scMUijah W.;
501 reichthum ; ricke juggäh W.; 539 betrug : heder jäh W.
Auslautendes afrs. i ist als ie erhalten, wie wang. als %.
214 nase : nesie W., imsze C.-M., nazi. w^ang., nöze sat.; 497
erbschaflft : arfschöppie W.; 571 bände : hcnnie W.; 704. 712
machen : mickie W., maki wang., makje sat.; 710 erndten :
mar'te W., arl wang., adnje sat.
Wie im wang. ist auslaut. afries. -u bei W. als länge er-
halten, während es bei C.-M. wie im sat. geschwunden ist:
370. 371. 389 söhn : snuh W., sünü wang., zuhn C.-M., sün sat.
11. Hinsichtlich der assibilierung der palatale stehn W.
und C.-M. auf gleicher stufe: Inlautendes ki > mouill. t'xi,
anltd. /fi > tsi > si, anltd. kj > mouill. t's > mouill. /, inltd.
99J > dz. Für inlautendes ki ist das einzige beispiel 429
becher : heltsch'ier W., hihker C.-M., hiker wang: Die beispiele
für 9en anlaut sind: 179 katze (altwestfrs. kalte) : külf W.,
ziet C.-M., kat wang.; 198 mann (altwestfrs. fzerl) : zieh/ C.-M.,
sei wang., kerel sat. (plattdeutsches lehnwort); 282 käse (alt-
westfrs. (zijse) : zise W., tzise C.-M., siz wang., sat.; 398 keller
(altostfrs. szelner) : sillern C.-M.; abweichend 451 kessel (alt-
ostfrs. slhitel, tsieiel, tsetel., szetet) : tsch'Uilhl W. (vgl. isch =
/ in 290 tschah gesiebt), tschittel C.-M., s'itl wang., seil sat. —
Mouill. / < kj zeigen: 77 kirche (altostfrs. kerke, sthereke,
szereke, tsiurike, tsyurike, tsiureke^ tsyureke, tsziureke, skiurke^
stiurke, tsiurke, tziurke, sziurke^ ziurke, tsurke, tszurke, szurke,
d. i. gesprochen t'snrike, > -eke, > -ke) : schirack ^) W., zierck
') sclii ist in diesem worte dem nick erst später hinzugefügt wor-
:j7*
558 BREMER
C.-M., sink wang., serke sat.; 215 backe (altostfrs. keke, sthißke,
tziüke, ziäke, d. i. gesprochen i's'ake) : isjäck' {(sj = mouill.
/ wie iu G70 Isiuyim sieben) W., sat. sbke\ 480 peltz (altostfrs.
tziusi) : stjust W., siust C.-M., susl wang. — rfz < ggj: 459
wiege (altostfrs. wigghe, widzie, widse) : ivedsc, W., 7vidse C.-M.,
wklz wang., tvedze sat.; ()85 liegen (altostfrs. lidzia, lidszia,
lidsa, Udza, lidsza, ledza) : tjiljägen W., Udseri C.-M., lidz wang.
leze sat. Vgl. Siebs, Die assibilirung des k und g, Tübingen
1886, s. 37 f.
12. Das im wang. noch mitte dieses jhdts. ausser in un-
betonter silbe erhaltne germ. 0- (Ehrentraut, Fries, archiv I,
s. 6 und 16) ist bei W. wie bei C.-M. und im sat. in be-
tonter silbe zu t geworden, in unbetonter zu d. 36 donner :
tomjhr W., thunder C.-M.; 72 dorff : tärpe W.; 219 mund : muH
W.; 237 daum : taüme' W., thum C.-M.; 264 das : üt W.;
292 finsternis : Ijusterniss W.; 392. 393. 507 dienst : Ijanst
W., thyanst, iyahnst C.-M.; 424 tischtuch : twäal W.; 453. 665
drey : trie , terjäh W., triau, trlah C.-M.; 634 dieb : tiaff W.
Vgl. wang. O^üner, dorp, &ü?n, &Jönst, d-rm, sat. terp, tüme,
tjonst, (r'iö. Wenn C.-M. öfter th für l schreibt, so ist doch
überall t, und nicht d- zu lesen, da unsrer nhd. rechtschreibung
gemäss, th auch für altes t geschrieben wird, z. b. 68 garte
thuen, 284 thränen thranen. — Unbetont d, z. b. 344 friede :
feradäh W., frUlde C.-M,; 359 scheide : schede W., schayde C.-M.
13. Die Verbindungen rn, rl, rd, rt, rs sind bei W. er-
halten. Bei C.-M., im wang. und sat. schwindet r in diesem
fall ausser nach kurzem vocal vor t und s. Nur rn ist im
sat. erhalten, und zwar als solches nur in Ramslohe, während
es sonst zu dn geworden ist. Die beispiele sind die folgenden:
a) für rn\ 26 stern : stiem W., stiarn C.-M., stir wang., stinie
sat.; 58 winckell : heeren W., heene C.-M., hen wang.; 73 thurn :
t hören W., ^ßw wang.; 121. 400 garsten, körn : Ä-orn W., kohrn
C.-M., kön wang., ködn sat.; 196. 369. 375 kind : bahre7i W.,
been, hein C.-M., hen wang., hcdn sat.; 211 stirn : siierrnW.;
270. 761 morgen : maren, tnären W., meJm C.-M., meti wang.,
medn sat.; 320 zorn : t hören W.; 397 stubc : dornske W., dorns
den, mit lateinischen buchstahcn, indem W. oflenbar unsicher war, wie
er den laut bezeichnen sollte.
WURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS. 559
C.-M.; 701 brennen : harnen W., han wang., hadnjen sat. —
b) r/: 198 mau : ziehl C.-M., sä wang., kerel sat. (platt-
deutsches lebüwort). — c) rd: 55 erde : eJwde W., eerde C.-M.,
ird wang.; 217 bart : hdrde W., bähde C.-M., /;ef7 waug., bort
sat. (plattdeutsches lehnwort); 226 zitze : ivard W.; 355 schwerd :
scliwärd W., stved wang. und sat.; 402 herd : heerd C.-M., hirt
wang.; 492 gürtel : gorrel W., gerdel C.-M., yedl wang., gcdl
sat.; 557 wort : ivord'e W., ivoode C.-M., wod wang. und sat.;
586 biert : hier de W.; 749 werden : rverden W., tvei-n wang.,
wedn sat. — d) rt: 95 wurtzel : wörtelV^\, wiitel C.-M., weil
wang.; 231 hertz : hart W. , hart C.-M., hart wang. und sat.;
314 schmertz : schmart W., schmert C.-M.; 335 fürst : first^
ferst C.-M.; 356 kurz : korf W., kort wang., küt sat.; 596
wirtb : wlrth W., werth C.-M. (plattdeutsche lehn Wörter); 643
schwartz : schwärt W., swart wang., swot, swot sat. — e,) rs:
17 herbst : hervcsl W., heest C.-M.; 240. 241 hinder : acrss,
aerss W., neers C.-M.; 278 wurst : orst W., tvuust C.-M.; 603
kürssner : korsner W.
14. Id scheint trotz einiger abweichender Schreibungen
bei W. zu / geworden zu sein wie bei C.-M. Sat. bleibt id,
ist aber wang. zu / geworden. 24 weldt : tvernhl W., werrelt
C.-M., warlt wang.; 80 gold : göhl W., goel C.-M.; yol wang.^
gold sat.; 198. 199. 636 alt : aht, ähl, old W., ohld C.-M., dt,
dld sat.; 228. 229 Schulter : schölder W., sckulder C.-M., sxuler
wang., syulere sat.; 257. 303 fieber, kälte : köhlde, kohl W.,
kohlde C.-M.; 360 hausshaltung : hussholding W., hueshohling
C.-M., hüshölhj wang.; 495 geld : geel W., jilde C.-M., jil wang.,
jeld sat; 503 ge w alt : ^e/i^^Me C.-M.; 538 einfalt : ehn/'oldig keil
W.; 705 halten : holt W., hol C.-M., hol wang., holde sat.
15. Ebenso ist die bei C.-M. grossenteils und im sat. noch
vollständig erhaltne Verbindung nd bei W., wie im wang., zu
mi geworden. 37. 287 wind : tvine W., wihnde C.-M., whi wang.,
mnd sat.; 62 sand : söhn W., sauhn C.-M., saun wang., sönd
sat.; 64 land : lohn W., lauhn C.-M., laun wang., lond sat.;
178 hund : hu7in'W., huhn C.-M., hün wang., hünd sat; 233 ff",
band : höhn W., haundc C.-M., haun wang., hönde sat; 251
gesundheit : sumi W., suhndheide C.-M.; 251. 749 gesund : sunn
W., suhnd C.-M., sün wang., sünd sat; 254 blindheit : blinn W.,
blindheide C.-M.; 362. 541 freund : /rün, fr in W., fr im wang.,
5ÖU BRKMER
1'ri.ijnd, /'rlynil, fnjnd, fnjml sat.; (»92 stehen : mohn W., stau-
nen C.-M., staunen wang., stönden sat.; 762 abend : cven W.,
ai/'end C'.-M., a'iven waug-. Ebenso ist /nb zu jn/n gewor-
den: 173 lamm : löhm W., taum C.-M., wang.; 187 inimc :
iiiim W., i/itne C.-M., hn waug.; 471 kämm : köhmm'W., kayhm
C.-M., kaum waug. Im auslaut stellt ausnahmsweise nd in 299
kosten : schmeckend W.; 34G feiud : fejendt W.; 542 feind-
schaft : feindschop W.; 540 gewissen : wUtänd W.; 731 fliehen :
/il jagend W., fUagen C.-M. Unursprüugliches nr/ bleibt in 19
mouat : mond W., mohnnt C.-M.
16. Aus der formenlehre verdient hervorgehoben zu wer-
den, dass die Wurstener mundart, wie die llarliuger des C.-M.
(Kiikellian s. 50), und wie es nocli heute das waug. und sat.
tut, nicht nur noch infinitiv und gerundium schied, sondern
auch noch in diesen formen die starken und ischwachen Zeit-
wörter. Die starken haben die cndung -nhj die schwachen
/weiter klasse -ie\ beispiele s. unter 10. Das gerundium endigt
hier auf -ih)i, dort auf -ähn\ beispiele hierfür s. unter 8. Die
Infinitive auf -en GSl — 751 sind, wie die des C.-M., entweder
dem deutschen nachgebildet oder, wenigstens teilweise, laut-
gesetzliche gerundia auf -n. Aehnlich schreiben die Amringeu
als eudung ihres gerundiums -an, -in und -<?>«; letztres -^w wird
tatsächlich durchweg -n gesprochen. Im waug. sind die in-
linitive der starken Zeitwörter und der schwachen erster und
dritter klasse endungslos; die der zweiten schwachen gehn auf
-l aus. Im sat. ist dort -e, hier -je die iufinitivendung.
17. Von einzelheiten hebe ich nur die lautgestalt des
Wortes 'sieben' hervor. Westing schreibt 670 tsiägim, d. i,
s'äyun < afries. '■''•sißgun. Da eine solche form afries. nicht
nur nicht belegt ist, sondern auch lautgesetzlich nicht denkbar
ist, so kann tsiägim nur eine versehentliche Schreibung für
tsingim sein; das wäre afries. slügun. Nun ist sigun und snigwi
eine ausschliesslich weserfriesische neubilduug nach 7iigun, niü-
gun. Emsfriesisch heisst es nur sogen. Dazu stimmt soggen bei
C.-M. und sat. sogen. Waug. s'üyen stimmt zum riostr., und
auch diese form beweist, wie diese ganze übersieht gezeigt
hat, die mittelstellung, welche, der geographischen läge des
alten Wangcrlands entsprechend, das wangerogische zwischen
dem harliugischen und riostringischeu einnimmt.
WURSTEN ER WÖRTERVERZEICHNIS. 561
Dies sind die hervonageii(lsten spraeblichen merkniale
unsres wüitciverzeielinisijcs. liu iil)rii;;cu v«,^!. Jelliugliaus, IS'dd.
korrespoüdenzblatt IbSO, XI, ',i\ U".
STRALSUND, dcu 2. septeniber 1887.
OTTO BREMER.
Im bremiscli-niedcrsäcbsisL'lien wörtcibucb wird ein fiic-
siscbes glossar von Friediicb August Reuner genannt, der im
lande Wursten pastor war, und zwar in Dorum uacb der einen
(IV, s. 1035), in Cappeln uacb der andern (IV, s. 073) angäbe.
IV, s. 073 wird gesagt, dass er dieses glossar der bremisch-
deutseben gesellscbaft geschenkt habe; es muss also, da band
IV die Jahreszahl 1770 trägt, vor diesem jähre angefertigt
worden sein. Auf meine aufrage erfuhr ich, dass die stadt-
bibliothek in Bremen jetzt die handschrift besitzt. Die Ver-
waltung der bibliothek stellte mir die handschrift in liebens-
würdigster weise ])ersOnlich zur Verfügung, wofür ich auch an
dieser stelle meinen besten dank ausspreche. Die hs. ist be-
zeichnet als Brom: a 359. Es ist ein folioheft von 50 selten.
Die hs. scheint vollständig zu sein bis auf ein am schluss
fehlendes blatt. Der titel, von der band des Verfassers, lautet:
Friederici Augusti Renneri Glossarium Frisico-Saxo-
nicum. accedit specimen Grammaticae Frisicae.
Weitaus zum grössten teil enthält das Wörterbuch platt-
deutsche Wörter neurer und ältrer zeit, mit teilweiser quellen-
angabe; auch hochdeutsche und altenglische Wörter kommen
vor. Demnächst am häufigsten sind altfriesische Wörter, meist
mit quellenangabe.*) Neufries. Wörter enthält das Wörterbuch
nur weniij:e. Natürlich sind diese nur als einzelne reste der
') Unter JJi-its führt Renner die plattdeutsche redcnsart au dal dy
de Drus ludc und leitet Dnis 'von Druso dem roeuiischen generul' ab.
Dann fährt er fort: 'Wiewoll ihm seine tyranney schlecht bekommen,
so dass die Teutschen sangen
sa mey leg heffen era was migtüjan sterile
an led ta digtan besaU vel lond and weitere
äff Fresan and ajf llomcran mit kine lotten inudl.
Theoda Frescna vel crn ende gedt.
562
BREMER
einstmals im lande gesproclmeu fVies. spräche anzusehn; denn
damals sprach man nur plattdeutsch (s. 550 anm.). Auf das
Wörterbuch folgt ein sehr liederlicher abriss altfries. grammatik,
augenscheinlich nur so hingeworfen, welcher zeigt, wie wenig
Renner friesisch verstand. Zum schluss folgt der hymnus a solis
ortus cardine in einer offenbar von Renner selbst angefei-tig-
ten, altfriesisch sein sollenden Übersetzung.
Nach abzug des anderweitigen sprachguts, bleiben als
Wörter, die ich sonst als plattdeutsch nicht nachweisen kann,
die folgenden übrig, zum teil von etwas zweifelhaftem aus-
sehn und schwerlich alle wurstfries.-plattdeutsch:
aevibelcl ') uineise
alig, cgh, ighs ein stainiu geschleclit.
Ich setze hinzu dass ab,
äff, eaff, haff und liefe einerley
und den liimmcl anzudeuten
pfleget.
allemel') bisweilen
aldweers link
ante der name von einem stücke
lande so besaeet wird.
habbe^) vater
block bedeutet alles was niedrig.
sa maelt in icffra skilda
Ihen arend and the krona
sa sijn vul meijdlin skone
llie kraenziin makia,
vcel frougda ande wunna
als sunna lielta skinal
als steerna by liier nagt
untellik luchlan
sa weren sc bgderbe
die fxigian toyons Rotnens Uieode
Daher hat das bluck-land*) bey
Bremen den namen.
belt-^) das beste
heleller vorbetter
bloetselS') die kaezlein so an die nus-
bäume haengeu
bosl. hülse, cortex'')
hjrm ein gewisser erdgrund. Hie-
ven hat das bekandte dorff Bram-
sU'de, welches in alten zelten
Bormirslede geschrieben den na-
men.
0 t/ieode wo was dyn mitdt sa
klein
cnd sa tlier starke storm
vcel siigla kdlf verslroit
sa weck lliyn mudt
j\ys wastera tribiila
off meer als cene huta
Tili konn liier Tlirus na Roma
brengen
tili he by thissa wettere fenge.
') aengl. wmelle, nindd. emele.
'^) allmcls, allsmcts ten Doornkaat Koohuau, wang. alldmils.
') '■babbe nennen die bauerkinder ihren vater', Bremisch-niedersächs.
Wörterbuch, babbe ten Doornkaat Koolman ; wang. bab.
^) blokland mit graben oder wällen eingeschlossenes land, ten Doorn-
kaat Koolman; vgl. block mndd. wb.
^) afrs. und plattdeutsch bet besser.
•*) vgl. bloeisel mndld. wb.
^) vgl. bostel mndld. wb.
WURSTENER W( )RTERVERZEICHNIS.
563
Tjebukc ist ein friesischer
weiber nauie, ein ander
name Wühbük . . . Tibke ist aus
Tjebiike zusammen gezogen.
boclen, utboelen^) aussteuern
bur, bür-) eine hütte, haus
barm^) der fus von einem deiche
honen han ein tractanient zur
erndte zeit für die arbeiter da
ein alter han geschlachtet wird
bül^) eine oeffnung im eise um
wasser daraus zu holen, sonst
auch eine wuke
boerse das fett an den gedaermen
beym riudvieh. Die jungen ge-
sellen durfiften solches nicht
essen, aus beysorge, dass sie
dadurch untüchtig zum ehestande
wurden.
dweer') wind, windes braut, nordost.
dack der rücke an einer kuh
dan'') krafft, staerke
hese, ese ist nicht allein die erde
sondern auch der name eines
tlusses
eivcT') so sehr, so gar.
cldcrs **) anderswo.
cltland'^) ist vieleicht so viel als
ellgro^) was auf einer weide im
herbst vor das vieh übrig
ollen '") aufhalten, hindern
eige überhaupt alles was spitzig ist,
als an den gaersten aehren
faiihe ein stück land darauf das
vieh weidet
grotgan schwangerschafFt
gheelik^^) gaenzlich
grnf^-) hass
hurvo das netz an den gedaermen
he/m ") der auserste rand an einem
Wassergraben
liarkauen wiederkäuen
liaren fressen wird vom rindvieh
gebrauchet
heid/'ast'^) bedeckung
hespe schinke
kolle ein mit grass bewachsener
kuhscharen auf einer vieh weide
lieade, lüde von oben ist einerley
liafe Francis olim heofe coclum.
Dis wort ist annoch unter uns
gebräuchlich, man saget ivenn
1) nach afrs. bclda, balda ausstatten, bildete mau ostfrs.-plattdeutsch
bölen; vgl. bulscliat mndd. wb. und ten Doornkaat Koolman.
^) -bür in ostfries. doifnamen; vgl. mndd. bür bauer, gehäuse.
^) barm ten Doornkaat Kooiinau; vgl. barm mndd. wb.
') 'bin. Bei den Wurstern ein loch im eise, unser bremisches ivake\
Brcm.-nds. Wörterbuch VI, 12; b'u ten Doornkaat Koolman.
^) plattdeutsch dwer-wind Wirbelwind, •
'') danne, damt' stark, kräftig, ten Doornkaat Koolman. Plattdeutsch
dannig stark.
') afrs. enel übel.
**) eiders ten Doornkat Koolman; vgl. afrs. ellis, olles sonst.
'■') ostfrs.-plattdeutsch ollanl., s. mndd. wb.; el-grdo ten Doornkaat
Koolman, elgrodo Brem.-nds. wb.; vgl. afrs. etf'onno Weideland.
'") '■eilen oder illen, aufhalten. Bei den Wurstern', Brem.-nds.
wb. VI, 52; aengl. ieldan.
") vgl. awfrs. gaelik jähe, plötzlich.
1'-) grüf rauh, unfreundlich, grimmig, ten Doornkaat Koolman.
'•') vgl. Iiolmcndore mndd. wb.
") zu afrs. hcde, Westing hode, wang, luvid haut?
564
BREMER
ein schwer gewitier de liefe
spalket.
hase, hacse, ose, isc ist cinerley,
iicinlich die erde. Daher ist die
redcnsart zu erklaereii, de hase
bruet^), wenn ein dicker nebcl
des abends aus der erden auf-
steiget.
hümpel'^) ein grosser haute unge-
dreschter fruchte
kassen'-^) tauften, kassendom wenn
einer durch die taufe ein elirist
wird
koeren*) mit den dresch-flegcl die
spitzen von ausgedroschenen ger-
sten abschlagen
kinne ein winkcl worinu etwas ge-
leget wird
kiddig zierlich, anstaendig
kaele schmerze"')
kaschelik*^) geschwind
khiven^) die abgefallene aeliren auf-
sauimlen
teile der bart eines hahnes
mallhave^) geringe habe und gut
inansat'') wenn ein aeker ausgethan
wird um die helfl'te von fruchten
zu gewinnen
inanarbeit^^^) dicnste so gemein-
schaftlich geschehen
pcgel ein grünes land worauf ein
deich angeleget wird
radde wenn die baende an holzern
gefaessen schlaft* werden
ronkeii^^) sich strecken
red '-) consilium
scIirickcP'-') wenn das eis nicht
voellig zugefroren ist
schars scher, messer
schwollern heisset sich segnen ehe
man schlafen gehet, der
bauer . ., die letzte i)feiff"e tho-
back ehe er sich zur ruhe leget
nennet er die schwolter vfeiffe,
alius die mantcl pfeiffe.
•) diese reden sart ist plattdeutsch.
'^) plattdeutsch hümpel häufe.
^) ditmarsisch kas-avend Christabend; karslen taufen, Neocorus;
vgl. afrs. kerslna taufen, kerstendöm Christentum.
^) wohl von körn abgeleitet.
s) mndd. kal quäl.
^) plattdeutsch kasch munter, frisch, stark.
') plattdeutsch klihven klauben; die bedeutung ähren auflesen ist
friesisch; s. Stürenburg und ten Doornkaat Koolmau; wang. klüv klau-
ben, ähren lesen.
") mndd. male massig, wenig, gering.
'■*) ^ maan-saal. Land zu maan-saat austhun bedeutet im lande
Wursten, es zum halben hokken austhun', Brem.-nds. wb. III, 12S.
'") ^mann-arbeit heisst in einigen gegenden, wenn ein ganzes kirch-
spiel oder dorf aufgeboten wird mann für mann, etwas zu thun ', Brem.-
nds. wb. VI, 193; vgl. num-diiig gemeinschaftlich, ten Doornkaat
Koolman.
") ndld. ronken schnarchen.
^^) zweifelhaft ob das afrs. red oder ein damals noch lebendiges
wort, Westing rchde, wang. rcßid rat; vgl. rede, rüde vernunftgrund, ten
Doornkaat Koolman.
'') s. schrikkeln bei ten Doornkaat Koolman.
WÜRSTENER WÖRTERVERZEICHNIS. 565
schof tydc liulen^) ein wenig sich und tiUbeu wölken der himmel
erholen, zwischen der arbeit aus- klaercr wird
ruhen ulk^) ungleich
spinnen wird gesaget wenn das wedemc'-') ein priester haus
lein wand von vielen gebrauch ab- waerendc'^') burgschafft
nutzet wccrsdagc'') soniiuertage
Stelling ein schauui damit das bier wraddcls das feil welches den
zur gaehrung gebracht wird ochsen unter dem halse haeuget
Schicht gespenst, sckiclüiveise was wränge^) eine befestigung die im
die gespenste den menschen vor graben gemacht wird um das
äugen stellen wasser desto bequemer auszu-
tarden-) schreiten schoepfen.
iipweer-^) wenn nach vielen regen
(v. Wicht,) Das ostfiiesisehe land-ieclit (Anrieh 1710), voi-
beiicht, .s. 40 aiini.: Von der ostfrics. spräche 'lindct man ver-
schiedene spuhren in der bekannten geschieht- und ge-
schlecht-erzehluug- der adlichen fanülie von Werduni;
unter andern, dass noch um das jähr 1539. der gottlose Öibold,
der sich dieser ruchlosen worte verlauten lassen: 3fen mey so
)vH hinpretjke^ dat men de liu in de snaar haald; die daad iss,
die bleif tveil daad. d. i. Man mag so was hinpredigen, dass
man die leute in der schnür (im zügel) behalte; wer todt ist,
bleibet wol todt: annoeh in friesischer spräche geprediget habe.
Conf. d. series famil. Werdum. ad ann. 1570. pag m. 138.'
Werdum liegt nordöstlich von Stedesdorf im Harlinger-
lande. Die oben, s. 554 besprochue diphthongierung von e und
^) so ten Dornkaat Koolman; wang. sxoftid pause.
2) für terden -= iredeni wang. iride treten.
^) up-W(iren besseres wetter werden, sich aufklären, ten Doornkaat
Koolman.
^) afrs. und mndd. %intik ungleich.
^) afrs. wilhume, wethem geweihter platz.
•^J wahrscheinlich nicht mehr ein lebendiges wort sondern afrs.
tvarande, 7varende gewähr.
') vgl. nordfries. vors, Urs, sildringisch iirs, amringisch-föhringisch
vos, frühling -= *tvurs.
**) ^wränge lieisst im lande Wursten eine Scheidewand, die in einem
graben gemacht wird, um das obere wasser auf zu halten und das untere
desto bequemer auszuschöpfen', Brem.-nds. wb. VI, 421. Vgl, mndd.
wränge.
566 BREMER, VVURSTENER WÖRTERVERZEICHNIS.
o ist, wie die beispiele hinprcyke, blclf und weil zeigen, schon
in der ersten hälfte des 10. jbdts. vorhanden gewesen. Hier-
durch wird die Vermutung nahe gelegt, dass die vereinzelten
altostfries. ei, welche besonders in der Emsiger mundart für e
vorkommen, z. b. in l)reid braut, heil beule, heithe beide, in
gleicher weise zu erklären sind; vgl. wang. hrccid = sat. hred^
waug. hcciö = sat. bee. — Ob das aa in haald und daad noch
als ä oder schon als ö ausgesprochen wurde (s. 554 f.), ist
nicht auszumachen. — Id ist in haald erhalten (s. 559, 14). —
nwj stimmt zum altemsfrs. mci^ sat. mej^ gegenüber altriostr. ml,
waug. ml (s. 553, 2).
HALLE, den 27. märz 1888. OTTO BREMER.
DIE ^-REIME BEI OPITZ.
D<
'er unterschied der altdeutschen e-laute hat sich iu un-
serer neuhochdeutschen Schriftsprache gänzlich verwischt. Nur
in den dialekten finden wir die trennung noch grossenteils
erhalten (vgl. Luick, Beitr. 11, s. 492 ff.). Die schlesischen
dichter des 17. Jahrhunderts reimen keineswegs die verschie-
denen e-laute so ununterschiedlich wie es unsere dichter heute
tun. H. Rückerti) bemerkt richtig, dass sich der vater der
deutschen poesie in seinen reimen als ein achtes schlesisches
landeskind offenbart. So verbietet Opitz in seiner 'deutschen
poeterei' den dichtem bestimmte Wörter, welche ein e in der
reimsilbe haben im reime zu verbinden, weil das e in ihnen
verschieden laute. Er sagt (daselbst cap. VII): 'das e wird in
dem Worte ehren wie ein griechisches f in dem worte nelwen
wie ri ausgesprochen: kann ich also mit diesen zweien keinen
reim schliessen. Item wenn ich des herrn v. Pybrae epigramma
wollte geben:
Zum beten setze dich, wie iener Grieche lehrel,
Denn Gott wil auff der Hucht nicht angeruffen sein:
Er heischet und begehrt ein starkes hertz' allein;
Das hat man aber nicht, wann er es nicht bescheret.
liier weil das e in lehret wie e, das in bescheret wie /y ge-
lesen wird, kann ich vor bescheret das wort verehret setzen.
So schicken sich auch nicht zusammen entgegen und p/legen,
verkehren und hören: weil das oc-) von uns als ein f, und die
') In seinem aufsatze über 'deutsche niundarten in Schlesien' Zs.
fdph. bd. 1, 4, 5.
■^) Es sei hier gleich bemerkt, dass das w stets — sowohl das
lange, wie auch das kurze — dem griechischen f, dem mhd. e gleich-
lautet.
568 IIKILBORN
mittlere silhe in verkehren als ein /y iieleseu wird.'*) Opitz
greift hier einige beispicle aufs geradewol heraus. Seine ge-
dichtet) sowie die seiner sehüler und naehfolger in Schlesien
liefern das material zu weiteren Untersuchungen auf diesem
gebiete.
Die reimsill)e cren lässt bei uns nur eine ausspräche zu.
Kein dichter würde heutzutage bedenken tragen z. b. ehren
und begehren zu reimen. Opitz unterscheidet bier. Wir finden
diese beiden Wörter nie mit einander gereimt. Ein jedes reimt
in seinem kreise. Die grenzen sind streng eingehalten. Ehren
findet sich gepaart mit: hören, lehren^ inehren, röhren, ver-
sehren, bethören, zerstören. Jiegehrcn mit wehren., zehren^ leeren,
bescheren und vielen andern. Wenn Rückert (Zs. fdph. 5, 127)
behauptet, dass Opitz unbedenklich verheeret : gelehret reimt,
so ist das unrichtig; wenigstens findet sich dieser reim niemals
in der hier vor allen andern in betracht kommenden schlesi-
schen ausgäbe. Anders verhält es sich mit dem reime ver-
zehren : kehren, dessen Kückert er wähnung tut. Doch nimmt
kehren eine ausnahmestellung ein, die wir später für sich zu
behandeln haben. Opitz' sehüler in Schlesien wie Colerus,
Czepko, Scherffer, Logau, Hoffmannswaldau folgen hier ge-
treulich seinem beispiele. Nur bei Scherflfer findet sich leeren
'leermachen' mit ehren und andern ihm verwanten Wörtern ge-
reimt, doch sei gleich hier bemerkt, dass Scherffer überhaupt
den reim viel nachlässiger behandelt als die andern schlesi-
schen dichter. Die verben der ersten kategorie {ehren) haben
im mhd. sämmtlich ein (' resp. a'\ während die der zweiten
kategorie ein f, e oder cb haben (ausgeno.iimen kehren). Im
anschluss an ehren mag hier gleich der reim ehrlich : herrlich
erwähnung finden, dessen Logau sich bedient; uns scheint der-
^) Opitz (neudrucke 1,30) fährt fürt: 'so kann ich auch ist und
bist wegen des ungleichen lautes gegen einander nicht stellen'. Er ist
reimt Opitz nur auf er kiest, während er bist mit tist, vergisst, frist ver-
bindet. Daraus folgt dass er tsl mit langem i, aber bist mit kurzem i
sprach.
2) Dieser arbeit ist die erste vollständigere schlesische ausgäbe von
Opitz' gedicliten zu gründe gelegt: Martini Opitii Deutscher Poeiiiatum
erster und zweiter Teil. In Verlegung David Müllers Buchhändlers in
Breslaw. MDCXXVIIII.
DIE A-REIME BEI OPITZ. 569
selbe unrichtig, aber wegen mhd. crlicli — herlich ist ihm die
berechtigung nicht abzustreiten.
Auch die reimsilbe Pr kennt zweierlei ausspräche. Im
'Poetischen staarstecher', einer Verteidigungsschrift der schle-
sischen poesie aus dem jähre 1730, heisst es (s. 45): 'kein
Schlesier reimt mehr und hieher\ Diese bemerkung erweist
sich als durchaus richtig. Auf mehr leimt Opitz nur sehr,
ehr', versehr', hoer'. Alle andern ^r-reime gehören zu der an-
dern kategorie wie: tneer, schwer, speer, här, quer, wer etc. etc.
Diese scheidung ist sowol bei Opitz, wie bei seinen schillern
ausnahnilos durchgeführt. Die Wörter, welche im mhd. ein e
resp. ds in der reimsilbe haben, bilden eine kategorie für
sich, während das ^, mit e oder ae ununterschiedlich ge-
reimt wird.
Bei der reimsilbe elen nehmen 2 Wörter: seelen und hölm.
(dat. plur.) eine Sonderstellung ein. Ausser mit Mlen^ mit
dem es 3 mal verbunden ist, findet sich seelen nur noch ein-
mal mit dem fremdworte kamelen gereimt. Alle übrigen auf
elen ausgehenden Wörter wie: fehlen^ zehlen, stehlen, wehlen etc.
reimen unter einander. Schertfer reimt mit seelen auch er-
zählen'^ da er aber mit diesem gebrauche allein dasteht, so ist
wol anzunehmen, dass der reim als unrichtig angesehen wurde.
Dasselbe scheint von dem reime seelen : verhehlen zu gelten,
dessen sich Hoflfmannswaldau bedient. Bei Opitz erscheint
das wort verhehlen überhaupt nicht im reime. Aber bei Logau
und Scherffer findet es sich ausschliesslich mit Wörtern der
andern kategorie wie mit stehlen, fehlen, erwählen und er-
zählen gepaart. Rechnen wir also verhehlen zur zweiten kate-
gorie, so zeigt sich von neuem dass mhd. e sich nur mit oe
verbindet, während ^, e und ae sich mit einander im reime
finden.
Die reimsilbe ehen (ehn) gibt gleichfalls zu zwei streng
getrennten kategorieen anlass. Doch sei gleich bemerkt, dass
das wort flehen hier eine ausnähme bildet. Es wird später
einer besonderen betrachtung unterworfen werden. Alle an-
dern Wörter auf ehe?i {ehn) lassen sich in 2 abteilungen trennen.
Die eine umfasst Wörter wie gehen, stehen, erhöhen, getön, schön
(resp. gehn, stehn, erhÖhn). Diese alle reimen nur unter ein-
ander. Auf der andern seite finden sich im reime verbunden:
570 HEILBORN
sehen, geschehen, wehen, drehen, saeen, schmähen (resp. seh7i,
geschehn etc.). Also ist auch hier das mhd. e uud oe von (', e
und ae getrennt.
Auch die reimsilbe eten war einer doppelten ausspräche
unterworfen: Die Wörter: poelen, prophelen, lampreten, planet en,
töten, nöten, erröten reimen nur unter einander. Es finden
sich niemals mit ihnen verbunden: treten, beten, gebeten, statten.
Auch diese Wörter reimen nur miteinander. Bei Hoffmans-
waldau, Colerus und Scherffer findet sich der reim treten :
ketten. Dieser reim war für den Schlesier des 17. Jahrhunderts
ebenso richtig, wie der andere treten : stalten. 'Der gegensatz
zwischen länge und kürze war im schlesischen dialekt relativ
zart' (RUckert). Die Wörter treten, ketten, statten klangen trotz
ihrer orthographischen Verschiedenheit gleich. Die dichter ver-
suchten den gleichen klang auch dem äuge deutlich zu machen
und schrieben deshalb bald kete7i, bald treten oder trelhen (seltner:
ketten — tretten); vgl. damit mhd. treten — st^te — k^'tene.
Uebrigens bestätigt sich auch für die reimsilbe eten unsere beob-
achtung, dass e und oe im reime von ^, c und ae ferngehalten wird.
An den e/en-reim schliesst sich naturgemäss der reim auf
et. Hier finden wir den Singular der Wörter, deren plural wir
soeben betrachtet, — poet, komet, magnet — im reime mit ein-
ander und mit geht, steht, erhöht verbunden. Eine Stellung
für sich nimmt der von Opitz einmal gebrauchte reim geredt :
hett' (hätte) ein. Diesen reim hat Opitz zweifelsohne nur als
notbehelf gebraucht; er ist nach seinen eignen Worten uner-
laubt: 'weil das e nicht aus der mitten der Wörter gezogen
werden darf (Poeterei cap. VII). Die übrigen Wörter auf et
haben im mhd. — so weit sie sich daselbst finden — ein e
oder oe in der reimsilbe. Also bestätigt sich auch hier die
früher gemachte bcobachtung.
Dasselbe muss von den reimen auf ert gelten. Zwar
lassen sich die von Opitz gebrauchten reime nicht in zwei ge-
trennte kategoricen teilen, aber alle Wörter, deren er sich be-
dient, haben ein ^ oder (' in der reimsilbe, wie: pferd, schwerdt,
herd, er kehrt, begehrt, wehrt etc. Einen reim wie mehrt :
pferd oder ehrt : schwerdt meidet er, weil er das e nicht mit
e oder e verbindet.
Die Wörter auf eben, die Opitz im reime verbindet, wie
DIE E-REIME BEI OPITZ. 57l
heben, gehen, schweben, leben und viele andere haben sämmt-
lichst ein c oder e in der leimsilbe. Ebenso die auf erden
wie erden, werden vesp. ein ae wie ycberden, beschwerden. Die
Wörter auf e, welche sich bei Opitz gepaart finden, haben
ausnahmlos ein e oder oe in der reimsilbe, so: eh', see, schnee,
weh, höh\
Bisher fanden wir stets das nihd. e und oe von dem f, e
und ae getrennt. Drei Wörter nehmen eine ausnahmestellung
ein: kehren, flehen und gegen.
1. kehren (vertere) mhd. keren müsstc, da es ein e in
der reimsilbe hat, mit den Wörtern der kategorie, an deren
spitze wir ehren stellten, reimen. Nun findet sich aber weder
bei Opitz noch bei einem seiner schüler kehren mit einem jener
Wörter gereimt, es ist ausschliesslich mit Wörtern der andern
kategorie gepaart, und zwar 7 mal mit begehren, 6 mal mit
wehren, 5 mal mit nähren, 4 mal mit zehren. Daneben noch
die reime kehrt : herd und kehrt : erd'. Daraus folgt mit not-
wendigkeit, dass Opitz in kehren ein anderes e als in ehren,
lehren gesprochen hat; er muss dem worte den e-laut von be-
gehren, nähren gegeben haben. Sind . etwa im schlesischen
dialekte kehren 'wenden' und kehren 'fegen' in der ausspräche
zusammengefallen? Die dialektarbeit von G. Waniek (Zum
vocalismus der schles. mundart, Bielitz 1880, programm) gibt
darüber keine auskunft.')
2. flehen mhd. vlehen, vlhi müsste mit gehen, stehen und
den übrigen Wörtern dieser kategorie reimen. Es findet sich
aber ausnahmlos nur mit Wörtern der andern kategorie gereimt
und zwar ist es einmal mit sehen, einmal mit drehen und 2 mal
mit geschehen (z. b. I, 247) verbunden. Nach den bisher ge-
fundenen gesichtspunkten müssten wir also im mhd. eine form
wie vlehen (vlehen?) voraussetzen. Das Grimmsche wörterb.
äussert sich über das zeitwort: 'die ahd. form scheint zwischen
e und e zu schwanken, im mhd. überwiegt e\
3. gege7i (mhd. g^gen). Opitz sagt selbst au der oben
citierten stelle: 'es schicken sich nicht zusammen gegen und
pflegen\ Wir haben bisher stets gefunden, dass Oj)itz das
') 'Einige mundarten , z. b. die schlesische, sprechen das e in diesem
Worte wie ein ä, l<;ihren' (Adelung, (irainmat. krit. wb. II, lüTJö).
Beiträge zur gesohichte der deutschen spräche. XIII. 38
572 HEILBORN, DIE A'-REIME BEI OPITZ,
mhtl. f uuuütersehiedlicb mit dem ü reimt. Sollte sich für
diesen einen fall der unterschied zwischen ^ und e erhalten
haben? Diese annähme erweist sich als unmöglich, da Opitz
einen reim wie gegen : lege^i ebenso streng vermeidet. Das
wort gegen {entgegen, zugegen) findet sich überhaupt nur 3 mal
im reime, und immer ist es mit vermögen verbunden (z. b.
I, 103 und 129). Alle die andern zahlreichen Wörter auf egen
reimen völlig promiscue unter einander. Auch bei Czepko
findet sich nur der reim gegen : vermögen. Logau, Hoffmanns-
waldau, Colerus vermeiden gegen mit einem andern worte auf
egen zu reimen. Scherfl'er allein reimt gegen mit pflegen und
]egen\ aber, wie schon gesagt, Scherffer ist bei solchen Unter-
suchungen kaum zu rate zu ziehen, weil er den reim sorglos
und nachlässig behandelt. Durch das mhd. lässt sich die
trennung des wortes gegen von den übrigen Wörtern auf egen
nicht erklären: sie muss auf einer eigentümlichkeit des schle-
sischen dialektes beruhen.
Sieht man von den zuletzt betrachteten ausnahmen ab, so
zeigt sich, dass Opitz und seine schüler das e von dem f und
e unterscheiden, dass sich aber der unterschied zwischen e und
e, verwischt hat. Er vergleicht das e mit dem griechischen h,
die beiden andern mit ?y. Schon daraus, dass er diesen ver-
gleich anstellte, geht hervor, dass er nur noch zwei e-laute
kannte. Uns aber erscheint sein reim so oft unrein, weil
er mit den c-lauten das oe und ae verbindet. Das oe klingt
ihm wie mhd. e (pocterei cap. YII) oder wie griech. f , und
das ae — das geht aus unsrer Untersuchung hervor — wie
mhd. (' und e oder griech. ?y.
JENA. ERNST HEILBORN.
zu DEN DEUTSCHEN FLAUTEN.
Der vorstehende aufsatz legt den schluss nahe, dass im
sehlesisehen dialekt zwei lange e-laute unterschieden werden:
der eine ein geschlossenes e, welches dem mhd. e und (b ent-
spricht, der andere ein offenes e {ä^, dem mhd. (c, sowie
dem gedehnten mhd. e und e entsprechend. Dass die sehlesi-
sehen dichter des XVII. jh.'s nur diese beiden kategorieu im
reime auseinander halten, das hat allerdings der verf. gezeigt.
Es fragt sich nur: wie verhalten sich dazu die sehlesisehen
Volksdialekte? Insbesondere, in wie weit ist im sehlesisehen
wirklich mhd. e und e völlig zusammengefallen? Die entgegen-
stehenden äusserungen hierüber von Weinhold-Waniek einer-
seits und H. Eückert andererseits führt Luick (Beitr. XI, 513 f.)
an. Während Weinholds Zusammenstellungen — soweit sich
bei seiner anordnungsweise ein deutliches bild gewinnen lässt
— für zusammenfall von e und e sprechen und Waniek dem
(wenigstens für den ihm bekannten teil Schlesiens) zustimmt
behauptet H. Eückert (Zs. fdph. 5, 127 ff.) auf das bestimmteste^
dass die heutigen sehlesisehen volksmundarten die entsprech-
ungen von mhd. e und e scharf auseinanderhalten. Ich kann
es nicht unternehmen, diesen widersprach abschliessend und
für das ganze gebiet der sehlesisehen mundart zu lösen; dazu
bedürfte es einer genauen nachprüfung seitens eines einge-
borenen kenners des dialekts. Aber soweit man sich nach
den für feinere Untersuchungen freilieh mangelhaften proben
schlesischer mundarten bei Firmenich ein urteil erlauben darf,
scheint doch im allgemeinen der unterschied des alten c und /"
zu bestehen, wenn auch in einzelnen mundarten vermischun^-en
sieh finden. 1) ^
•) So in den proben ans der gegend nm Breslan (Firmenich II
345-47) findet sich a sowoi für e als e, ce , z. b. assa {ezzen), Laha
38*
574 BRAUNE
Das alte i- hat im gesammtschlesischen die richtung nach
a hin eingeschlagen, also der ihm von alters her eigene offene
e-laut hat sich noch weiter geöffnet, ist zum hellen a gewor-
den: in den proben bei Firmenich erscheint für e regelrecht
und überall, a. Das umlaut-e dagegen, welches ursprünglich
geschlossenes e war, hat sich vielleicht auch etwas geöffnet,
ist aber doch sicher — wie aus den Schreibungen bei Firme-
nich zu erschliessen — in den meisten gegeuden Schlesiens
noch als ^-laut, wenn auch als offener, erhalten, so dass der
unterschied vom alten e bestehen blieb. So z. b. in den proben
aus Mittelwalde (Firm. II, 354 ff.), wo gegenüber Larva {leben),
besahn (besehen), Water {wele?-)^ hatfa {helfen), vergassa (ver-
yezzen) die formen mit altem e stehen wie besser^ derzühla,
hält, geredt^ derfährst. Ganz scharf tritt der unterschied her-
vor in den niederschlesischen mundarten, wo für das umlauts-e
meist diphthongierungen {iä, äi u. dgl.) eingetreten sind. Vergl.
z. b. aus den proben von Petersdorf (Firm. II, 294 ff.) d'rlabi
(erlebt), las'n (lesen), salber (selber), zahne (10), dagegen Riäde
(rede), d'rziähln, Jälend (elend), Stiädt'ti (d. pl. = mhd. steten),
desgl. mhd. a^ in liär {J(cre), spiäfste (spätste) etc. Kurz, es
bestätigen sich im wesentlichen die ausführungen Rückerts a. a. o.
Wenn wir also annehmen dürfen, dass im ganzen und
grossen noch der heutige schlesische dialekt das alte e und
das umlauts-e (resp. auch mhd. a?) von einander scheidet, so
fragen wir nun weiter nach dem gründe des reimgebrauchs
bei den schlesischen dichtem, den Heilborn oben dargelegt
hat. Danach scheint es, als wären die entsprechungen des
mhd. (", e und ce schlesisch offenes <?, die entsprechungen des
mhd. e, ce dagegen geschlossenes. Nun lehren uns aber be-
züglich der letzteren kategorie die schlesischen volksmundarten
etwas weiteres. Die entsprechungen des mhd. e, oe sind näm-
lich durchgängig im heutigen schlesischen gar keine e-laute
mehr, sondern gradezu langes t Es heisst also ire (ere), gm
{gen), bise (bmse), hiren {hceren) etc. Und dass das schon im
17. jh. so war, zeigt einer von den schlesischen dichtem selbst,
A. Gryphius in seiner geliebten Dornrose. Dort schreibt Gry-
(lehen) = lalzte {lelzle), dankt {denket), Gespansta (gespenste), Gasia
[geste)-^ lar (/wre) etc.
Zu DEN DEUTSCHEN ^-LAUTEN. 575
phius durchgehend i oder ü für diese laute, also z. b. ihren,
Ihrey ilirUch (mhd. creu etc.), müh oder mih (me), gihn, stihn,
sihrc {scrc), zwilne [zivenc), schüne oder schine {schäme), büsc
(bcese), hüren {hoercn)A) Es ist also der schluss naheliegend,
dass Opitz und die übrigen schlesischen dichter worte mit e,
(c deshalb nicht auf die mit e, c, (c reimten, weil ihnen da-
bei das dialektische l im hintergrunde stand, wenngleich sie
in gewählter ausspräche wol nicht i, sondern nur ein sehr ge-
schlossenes, nach i hin liegendes e sprachen. Wenn ihnen
also dieses e (= c, a;) nicht reimfähig mit den andern arten
von e schien, so folgt daraus noch nicht, dass ihnen das mhd.
e mit dem e und (c vollständig zusammen gefallen war, son-
dern nur, dass diese beiden kategorien weniger geschlossen
waren als jene c-, a-laute. Es konnte sich im munde des ge-
wählt sprechenden Schlesiers im 17. jh. sehr wol das e (= e,
cü) durch eine weniger offene ausspräche von dem ganz ofteuen
e (= e) scheiden; so dass also drei e-stufen vorhanden ge-
wesen wären, von denen die beiden letzteren {=.e, (b und
= c) deshalb im reime gebunden wurden, weil sie dem e — ce
gegenüber beide als offene laute erschienen und weil ihnen in
den meisten schlesischen volksmundarten c-artigc laute zur
Seite standen (das helle a eiubegriften).
Für die eben dargelegte auffassuug spricht, dass A. Gry-
phius in seiner geliebten Dornrose den unterschied dieser ^-laute
1) Diiss Gryphius dem uihd. iv entsprechend meist ü, dem c ent-
sprechend meist i schreibt, hat gar keine hiutliche bedeutung, denn auch
das ii war schon damals blosses /: es ist nur durch einwirkung der
nhd. Orthographie verursacht. Ueberhaupt ist der einfluss der Schrift-
sprache auf Gryphius darstellung der mundart nicht ganz gering: daraus
hauptsächlich erklären sich die vielfachen inconsequenzen und Ver-
schiedenheiten in der widergabe derselben worte, die Palm s. 29 an-
merkt (in seiner einzelausgabe der Dornrose, Breslau 1855, nach deren
Seiten und zeilen ich auch im folgenden citiere). Neben den durch die
schriftsprachliche Orthographie verursachten ausweichungen ist es haupt-
sächlich die hineinmischung von Wendungen aus etwas höheren lebens-
sphaeren, die den dialekt verwirren und scheinbare ausnahmen der laut-
gesetze verursachen. So z. b. wenn neben dem sonst stets geschriebe-
nen / in ihre einmal e eintritt s. öSs,, so ist dies in der formel mit Gott
und ehren, welche auf einen feierlicheren stil hinweist. Andere beispiele
gelegentlich unten.
576 BRAUNE
scharf zur darstellimg bringt. Er schreibt nämlich a für das
mhd. c, während dem mhd. c und (c bei ihm die Schreibung
e oder ä entspricht, wobei ä nur der schriftsprachlichen Ortho-
graphie verdankt wird und mit e in denselben worlen häufig
wechselt: lautlich sind c und ä völlig gleichbedeutend. Diese
regel ist in der masse der bcispicle so deutlich durchgeführt,
dass an der Verschiedenheit der beiden laute gar nicht zu
zweifeln ist. Die abweichungen von der regel sind entweder
in gewissen worten ständig und beruhen dann auf bestimmten
lautübergängcn, oder sie sind nur vereinzelt und rühren dann
von den schon s. 575 anm. gekennzeichneten schriftsprachlichen
einflüsscu oder vielleicht gar nur vom setzer her. Ich belege
die Scheidung der e-laute bei Gryphius, die sich übrigens auch
auf die kurzgebliebenen e erstreckt, durch eine reihe von bei-
spielen.
A. Zunächst uihd. e =^ a bei Gryphius: a) vor mehrfacher conso-
nanz kurz geblieben, z. b. Harlze, salber, garnc, Gald, Walt, A'arle^),
8t. verba asscn, müssen, vergasscn, ira/fen, liallJ'en, warffen, starben,
8W, V. larnen. b) Nhd. dehnungen salin, gcschahn (diese beiden verba
sehr häufig!), zaiin l<t; laben (s\v. v. und subst.)- aben, (jahn (geben),
Faall ißl), nnhnen, schämen, lasen, Wasen, geivasl, Lader, Gebat (dazu
diuiin. Gebatheln), traten, IValer, liar (her), prun. dar, dan, war,
wan etc., gewahren {gewern), hegalircn, warden und — wol dem muud-
artlicheu laute treuer — rvaren {werden), wahrt (adj.), Krabse u. a.
Von dieser durch die masse häutig widerkehrender beispiele ge-
sicherten regel des a = mhd. e gibt es eine bemerkenswerte ausnähme.
Vor dem palatalen ch und g nämlich scheint das e erhalten. Niemals
steht hier a, sondern meist e oder ä, also recht, rächt; sprechen,
sprachen, brechen, siechen, schlackt, Wäg (subst., ebenso adv. wäg),
sägen (der segen). Wir haben es hier oftenbar mit einer art von palatal-
umlaut zu tun, indem das eigentlich zu erwartende a durch den folgen-
den palatal afficiert wurde. Der laut war kein reines e, sondern es
klang eigentlich diphthongisch ein i nach, wie die teilweise daneben
stehenden Schreibungen mit ni, äi beweisen, die dem laute näher zu
kommen suchen. So findet sich raichl, braichen, Waig, immer Knaichl,
knäichl.
Von sonstigen ausnahmen sind einige auch schon von Luick a. a. o.
in andern dialekten mit iimlauts-c nachgewiesen worden, so dass sie
also für Gryphius als Unregelmässigkeiten wegfallen. Solche sind das
') Die Schreibung Karle bei Gryphius zeigt, dass das md. kerle
mit e, nicht nach oberd. charl mit e anzusetzen ist (vgl. ags. ceorl):
andernfalls würde Gryphius kerle schreiben.
zu DEN DEUTSCHEN ^-LAUTEN. 577
häutig vurkoiniiioude Schelme, chis nie mit a geschriebeu wird, t'erucr
gestern und dräschen. Nie mit a wird Salden, sellzem bei mehrmaligem
vorkommen gescliricbcn, es muss also hier im dialekt der andere <?-laiit
vorgelegen haben. Andere ausnahmen kommen nur ganz vereinzelt vor,
sei es in nur einmal belegten Wörtern, wie Beer IIO27, ivälk~()y,, hellem
94i9, Wärck 573^ u.a., oder in Wörtern, die sonst regelrecht mit a ge-
schrieben sind. Es ist nicht zweifelhaft, dass hierin der dichter durch
die Schriftsprache beeinflusst ist. Sehr deutlich lässt sich das an einigen
stellen zeigen, wo grade etwas gewähltere phrasen auch die lautliche
auomalic zeigen. Z. b. das an die schule anklingende Buchslabiren
lärnen "A^u während sonst stets larnen gilt. Oder lOoai gestrafft iver-
deii einfluss der gerichtssprache, wie der Zusammenhang deutlich macht,
während der dialekt nicht bloss tvarden, waren, sondern auch gestrafft
erforden würde (vgl. sirojfcn 104,-, Stro/fe IDD,,).
B. Das umlauts-6' = e, ä bei Gryphius. a) kurz geblieben, z. b.
Vetter, Wette, Bette, setzen, letzte, entdecken, stecken, Leffel, Sch7Väntze,
Gänse, Länge, Hänger, stelin, wein (wollen), hell (3. p. zu hatten), erben,
besser, Gäste, gämlich hl^ etc. — b) Durch nhd. dehnuug verlängert,
z. b. reden (sehr häufig), wedelte, leen (legen), reen (sich regen) 54^1,
Flegel, Elend, elende, Zähne, schweren (jurare), fertig. — Mit diesem
gedehnten e fällt vollständig zusammen die entsprechung des mhd. langen
Umlauts m, z. b. schvecr, drehet, kreen — krete (vom hahn), Härle,
schleeffste ("2. p. zu schlafeu), conjunctive praet. der IV. V. ablautsrcihe
wie sesse, kerne, were — wäre etc.
Statt des zu erwartenden e, ä für umlauts-6', ic findet sich bei
Gryphius nur in wenigen worten a. So stets in Käse (käse), Schaffer
(der Schäfer) = ce, in Pfard und Batlig 1%., {Raitlig \)\n) für gedehntes
e. Hierin liegt aber keine besouderheit von Gryphius vor, da in diesen
Worten noch andere md. mundarten den laut zeigen, der sonst gedehn-
tem mhd. e entspricht. So heisst es in meiner heimatsmundart (s. u.
s. 5S1 ff.) durchaus: käse, safer, ffärd, rätig, mit ä statt des nach der
etymologie zu erwartenden h. Ferner schreibt Gryphius stets Haller
(nur 1 Häller !)49) für die bekannte münze. Vereinzelte andere fälle
(Farckel 94i5, Blasser 5227, fVeessgarber, Stadler 087. 93ü = Städter
"^23. 91io, saliger lOSgi) vermögen also auch nicht die regel wankend zu
macheu.
Ist CS also erwiesen, dass die schlesischen dichter des
17. jh.'s in ihrer heimischen mundart die c und e auseinander
hielten, so darf unsere oben ausgesprochene Vermutung glaub-
haft scheinen, dass sie auch im sprechen der Schriftsprache
die beiden laute trennten, obwol sie dieselben auf einander
reimten. Es müsste denn sein, dass schon zu jener zeit die
Schriftsprache den verwirrenden einfluss auf die e-laute aus-
geübt hätte, den wir heutzutage allerdings vielfach bemerken.
578 BRAUNE
Denn dass es allein die sclirift spräche mit ihrer, für die
6'-laute ungenügenden Orthographie ist, welche in neuerer zeit
die beiden ^-laute in Unordnung bringt, geht klärlich daraus
hervor, dass die volksruundarten den unterschied bewahren.
Für Ober- und Mitteldeutschland hat das schon Luick a. a. o.
dargetau. Aber auch die niederdeutschen volksmundartcn,
denen Luick s. 515 die Unterscheidung absprechen will, schei-
nen sie doch im grossen und ganzen zu haben. 8chon
M. Trautmann hat in seiner verdienstlichen erörtcrung über
die ausspräche der (?-lautc (Die sprachlaute s. 203 ff.) auf
einiges hingewiesen i), sodann hat liolthausen neuerdings
(oben s. 370 ff.) weitere nachweise dafür geliefert, dass auch
auf niederdeutschem boden die Unterscheidung zu finden ist.2)
Es wäre zu wünschen, dass auf dem weiten gebiete der
niederdeutschen spräche recht viele genaue einzelbeobachtungeu
hierüber angestellt würden: von Wenkers si)rachatlas wird
man über diese frage doch nur etwa da aufklärung hoffen
dürfen, wo einer der beiden laute ganz aus dem e-bereiche
herausgetreten oder etwa diphthongiert worden ist, da im all-
gemeinen unsere für Scheidung der c-laute so unzulängliche
Orthographie einer genügenden widergabc bei den nicht sprach-
lich geschulten aufzeichnern im wege gestanden haben dürfte.
Der eigentliche sitz der Verwirrung ist, wie gesagt, die
Schriftsprache, welche für l)cide c'-lautc von haus aus nur das
eine zeichen e hatte; das daneben auf kommende . zeichen ä
aber, welches geeignet wäre den offenen laut zu vertreten und
das c dem geschlossenen zu überlassen, wurde verwendet, um
in den klar liegenden fällen den umlaut des a zu bezeichnen;
also gerade den laut, dem es phonetisch am wenigsten ge-
^) Dass übrij^ens mnd. und mnl. dichter c auf e reimen, beweist
noch keinesfalls den zusammenfall dieser laute, wie Trautmaun nach
J. Grimm u. a. annimmt. AVenn gute mhd. dichter c und c nicht reimen,
so folgt daraus allerdings, dass sie die laute schieden, ohne dass nuvn
deshalb auch zu dem umgekehrten schluss berechtigt wäre: wer c und
6' reimt, dem sind sie zusammengefallen. Ebenso berechtigt ist es daraus
zu schliessen, dass die guten mhd. dichter genauer reimten, als die
mnd. und mnl. dichter.
2) Vgl. auch Uoffmann v. Fallersleben in seiner ausg. des Reineke
Vos (1834) s. XV f.
zu DEN DEUTSCHEN ^-LAUTEN. 579
mäss war.i) Und so kommt es deuu. dass beim sprechen der
Schriftsprache für die mit ä geschriebenen umlaute auch die
üti'eue ausspräche vordringt, dass also die Orthographie Ver-
wirrung in die laute bringt. Ich selbst scheide in meiner indi-
viduellen ausspräche bei tonlanger silbe-) die mhd. c und e
genau, wo das nhd. für beide e schreibt, sj)reche also geschlos-
senes c für undauts-e, cb für mhd. t', z. b. legen (legen) aber
gelcbgen^ edel aber Iwder, esel aber hd'sen, wcren (wehren) aber
begojren, enlbccren, das mir, her aber lubr, dcbr. Wo dagegen
die Schriftsprache ä für umlauts-c hat, spreche ich ib statt des
etymologisch erforderlichen c, z. b. ziblen, er IrAgl, fibrt. Ebenso
spreche ich das mhd. (c als e, wo die Schriftsprache c schreibt,
andernfalls d'\ also bUb-eii, scb-en, aber dre-en, n-e-cn\ die m(br,
gefd'rlich, aber /er, sch/rcr. So ist mir denn auch der unter-
schied zwischen praes. und conj. praet. der IV. V. ablautsreihe
verloren gegangen: ich tubme, gd'bc, sAe, Irwic gelten mir ohne
Jeden unterschied für beide formen, während eigentlich das
praes. ncbme, g<bhe vom conj. praet. ncme., gehe etc. geschieden
sein sollte.^)
Es hat also meine ausspräche — welche soviel ich weiss
bei dialektfreier sprechenden Obersachsen weit verbreitet ist
— sich einfach nach der schrift dahin gemodelt, dass die e
da zu A geworden sind, wo die orthographiercgel zufällig ä
erfordert. Die kehrseite davon wäre nun eigentlich die, dass
jedes lange c der schrift geschlossen gesprochen werden müsste,
dass wir wie weren, edel etc., so auch hegeren, leder, beseu etc.
sprächen und der lautgeschichte entgegen eine neue Scheidung
zwischen praes. ich gebe und conj. praet. ich gibbe bekämen.
Das ist denn auch die orthoepische forderung, welche Victor
(Phonetik^ s, 66 11".) für die ausspräche der langen schriftsprach-
lichen e, ä stellt. Er fordert die ausspräche als cc^ wo ä ge-
schrieben wird, — als geschlossenes e tiberall da, wo man c
1) Die geschichte der einfiihrung und t'estsetzung dieses ä legt
Wilmunus dar: Die Orthographie in den schulen Deutschlands, Berlin
18S7, s. 63 flf.
^) Die kurzgebliebenen e und J scheide ich nicht,, sondern spreche
für beide offenes e, also ivcttcr, essen, hell = veller, besser, gesell.
^) Der Leipziger macht diesen unterschied noch: s. Albrecht, Die
Leipziger mundart s. 4-, vgl. auch Wilmanns, Orthogr. s. 76.
580 BRAUNE
{eh, ec) schreibt. Damit vviüdc sicli denu allerdings die sache
sebr einfach stellen, indem die historisch gewordene Schrei-
bung die ursprünglich abweichenden laute sich unterwürfe.
Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass dies der ausgang
der bewcgung sein wird. Denn so gut es die Schreibung der
Schriftsprache fertig gebracht hat, dass wir jetzt die ei in klein
und wein, die au in bäum und räum völlig gleich sprechen'),
obwol keine einzige deutsche mundart die entsprechungeu des
mhd. i, ü und des ndid. ei, ou hat zusammenfallen lassen,
eben so gut dürfte auch der Schreibung zu liebe schliesslich
eine allgemeine geschlossene ausspräche aller langen e durch-
dringen und die offene ausspräche auf die langen ä beschränkt
werden. Noch sind wir lange nicht so weit. Den jetzigen
zustand schildern Trautmaun und Wilmanns wol im ganzen
richtig, und es werden die gebildeten Mitteldeutschlands und
noch mehr Stiddeutschlands noch geraume zeit das uhd. lauge
e (eh^ ec) je nach der etymologie offen oder geschlossen sprechen.
Aber in dem doch immer mehr für die ausspräche massgeben-
den norden mit der reichshauptstadt Berlin, ist die tendenz
entschieden auf die von Victor geforderte rcgel gerichtet, und
wenn man das als norddeutsche ausspräche bezeichnet, so
wird das nicht darauf beruhen, dass die entsprechenden uicderd.
Volksdialekte die Vermischung hätten, sondern darauf, dass der
Norddeutsche unserer hochdeutschen Schriftsprache von haus
aus als fremder gegenübersteht und das streben hat, dieselbe
möglichst nach dem buchstabeu auszusprechen,, also — in un-
serem falle — dem geschriebenen e immer ein und denselben
laut zu geben.
Es ist also jene von Victor als ideal aufgestellte aus-
spräche des langen e ausgegangen von den norddeutschen
bildungsccntrcn, wie denn auch Trautmaan (s. 264) angibt, sie
sei 'gegenwärtig die herrschende wenigstens in Berlin, Stettin,
Hamburg, Bremen und andern grossen städten des nordens
und drohe immer weiter vorzudringen'. Es liegt mir ferne
dass allgemeine durchdringen dieser ausspräche zu wünschen,
aber das endergebnis der bewegung wird es doch wol sein.
') Nur im schwäbisch-aleiuannischeu gebiete scheiden — soviel ich
weiss — auch die gebildeten noch die beiden ci in der ausspräche.
zu DEN DEUTSCHEN ^--L AUTEN. 581
Da mm eiinual unsere conveutionelle Schreibung der e-laute
eine so mangelhafte ist (Wilmanns s. 77 bezeichnet sie als
'eins der schlimmsten und schwierigsten gebiete' unserer Ortho-
graphie) und da es schon wegen der diöerenzen der ausspräche
in den verschiedenen provinzen Deutschlands nicht möglich
sein würde, auf phonetischer grundlage diese Orthographie zu
reformieren, so erscheint allerdings die reform der gebildeten
ausspräche auf gruud der Orthographie als das einfachere
mittel, einheit und cousequenz herzustellen. Es würde dann
das verwickelte orthographische capitel der i?-laute sich in die
einfache regcl auflösen, dass wir für den kurzen (stets offen
zu sprechenden) (?-laut zwei gleichwertige zeichen hätten: e
und ä, deren letzteres da steht, wo etymologisch klare formen
mit a daneben liegen, dass dagegen das lange ä stets offen,
das lange e {eh, ee) stets geschlossen zu sprechen sei.
Ich benutze die gclegenheit, um anhangsweise den obigen
erörterungen einige angaben über die 6'-laute in meiner heimats-
mundart folgen zu lassen. Man mag dieselben als nachtrag
betrachten zu Luicks aufsatz in bd. XI, dem ich sie schon damals
folgen lassen wollte, woran ich nur durch äussere Störungen
gehindert wurde. Die mundart meines heimatsortes Gross-
thiemig bei Ortrand (K. Pr. kreis Lieben werda) gehört zum
obersächsischen dialekt, da wo derselbe an das Oberlausitzische
stösst (die grenze der provinz Schlesien ist nur wenige kilo-
meter entfernt). Ich habe die mundart als kind im verkehr
mit den landleuten vollständig beherrscht und habe das wesent-
liche davon noch jetzt in sicherer erinnerung.
Die Scheidung des mhd. e und c ist in der nmudart auf-
gehoben bei der kürze: hier sind beide zu einem hellen a ge-
worden: es heisst also nicht nur (= e): hal/u^) (helfen), slarmm
(sterben), asn (essen), halJ (hell), sondern auch fta^v" (besser),
satsn (setzen), kalwdrd (u. pl. zu kalb).-) Es ist also das kurz
') Die sonantischen nasalen und liquidae bezeichne ich durch über-
gelegten strich.
-) Die grammatische function des umlauts bleibt dabei doch ge-
wahrt, da das alte kurze a etwas dunkler, nach o hin, gesprochen wird,
ohne doch schon offenes o zu sein; also (indem ich diesen «-laut mit a
bezeichne): ig.kälp, ])\. kal)V9r3\ praes. satsn, rückuml. praet. sälsl?.
582 BRAUNE
gebliebene umlauts-f vom geschlossenen zum oti'enen laute fort-
geschritten, mit kurz e zusammengefallen und mit diesem zu-
sammen noch ofiener, zum hellen a geworden. i)
Dagegen ist der unterschied vollständig gewahrt bei den
gedehnten e und e, und zwar ist das e zum hellen a geworden,
also die länge der eben besprochenen kürze, das gedehnte c
dagegen hat diphthongierung erlitten zu einem (fallenden)
diphthougen, dessen erster betonter teil länger gesprochenes i,
dessen zweiter teil ein kurz nachschlagender sehr ofifener e-iaut
ist: ich will den diphthougen durch Id bezeichnen. Es heisst
also: hhii/Ji (leben), aber Meniili (heben); /r«^r" (wetter), häln
(beten), träln^ aber liddn, ridde (reden), nddi~ pl. zu rät (mit
kurz ä\ = rad, rädcr); stäln (stehlen), kdld (kehle), aber k/rialfi
(quälen), Isldln (zählen), widln (wählen); b9gdrn (begehren),
sdri) (die schere) -), aber swidrn (schwören), fidrtx (fertig), fidrl
(er fährt); läri3 (die lehne), aber gDivienn (gewöhnen), hidnd
(pl. die hähne); lasn (lesen), häsn (besen), aber i5A-r(esel);
gdldn (gelegen), aber Itdn (legen) etc.
Diese durch sämmtlichc vorkommende fälle hindurchgehende
scharfe Scheidung des gedehnten c vom c beweist also, dass
auch in diesem dialekt die qualitäten der 6'-laute die von
Franck und Luick nachgewiesenen waren. Das a < c erklärt
sich nur aus offenem t', während andererseits die diphthongie-
rung id ein geschlossenes c zur Vorstufe hat. Letzteres lässt
sich auch durch die übrigen fiille des id beweisen. Denn dieser
diphthong steht nicht nur für gedehntes ^, sondern ferner stets:
2. für mhd. a', welches zunächst zu e geworden, dann diphthon-
giert war, z. b. hidrrt (hören), Uds3 (böse); 3. für mhd. e, z. b.
hiU (schnee), lldro (lehre), (ßdn (gehen); 4. für mhd. w, welches
also in unserem dialekt zunächst nach mitteldeutscher weise
mit mhd. e zusammengefallen, ein geschlossenes c geworden
war, z. b. stvidr (schwer), sion (säen), drmi (drehen), spiond
j)l. (späne), die conj. praet. der IV. V. ablautsreihe wie ix
nlamd, <jidn-d (zum praes. // ndmd nehme, /^ 'J(^ ©cbe); ii hridyt^
') Ausgenommen sind die c vor nasal Verbindungen , welche als
offenes e {et) geblieben sind, also wccrj] (wenden), brccnn (brennen),
fict^ij^, pl. zu hänt (bände).
^) Also auf älteres schere zurückgehend, nicht schccre, das shr9
heissen würde.
zu DEN DEUTSCHEN ABLAUTEN. 583
(brächte), dlditd (dächte), tldte (täte). Wir haben also ein aus
obigen vier lauten zusammengefallenes geschlossenes e, welches
gleichmässig zu id diphthongiert wurde. Ebenso wie das ge-
schlossene e. ist übrigens auch das geschlossene o (= mhd. b
und gedehntem mhd. 6) zu einem fallenden diphthong gewor-
den, dessen erster betonter teil aus langem etwas oftenem ü
besteht, während der zweite aus dem gleichen kurzen d wie
in %d gebildet wird. Also z. b, südn, pl. stdnd (söhn), hüdtd
(böte), küdln (kohlen); grüds (gross), hüdne (bohne, dazu dimin.
hldndyji böhnchen). Dagegen ist das mhd. ä nebst dem ge-
dehnten kurzen a, welches zunächst in Übereinstimmung mit
andern md. mund arten zu offenem b geworden war, zu einem
steigenden diphthong diphthongiert, dessen erster schwach
betonter teil aus einem kurzen u besteht, während der zweite
den hauptsilbenton tragende ein langes dunkel gesprochenes Ci
{uf) ist. Also z. b. sluä"fn (schlafen), hluoFsn (blasen; 3. sg.
d hlidst)\ huä°n (der hahn, pl. hi9nd), fucfrn (fahren), luä°dn
(laden) etc. — Ich habe diese diphthongierungserscheinungen
eingehender besprochen, weil mir unsere mundartlichen %d, üd
immer als eine lehrreiche parallele zu den ahd. diphthongie-
rungen des geschlossenen e, 6 zu ia, üo (Notker le, tlo) er-
schienen sind. Die dafür sonst wol zum vergleich gezogenen
italienischen ie, uo aus e, ö {Ueto, buono) stimmen nicht, indem
diese steigende diphthonge sind (ital. ie, uö) die ahd. ui, üo
und unsere id, ud dagegen fallende. Da nun die ital. ie, uö
aus offenem (~, ö diphthongiert sind, so ist das schon mitbe-
nutzt worden, um auch für die Vorstufen des ahd. ia, uo offene
e, ö anzusetzen. Das ist also unzutreffend, während die mit
den ahd. genau stimmenden diphthongierungen unserer mundart,
die sicher aus geschlossenen e, ö entstanden, auch für das ahd.
das gleiche vermuten lassen, was ja auch schon aus andern
gründen vorauszusetzen ist. Umgekehrt ist unser steigender
diphthong uä" aus langem offenem o (= mhd. a, u) dem ital.
nö aus off'enem ö parallel. Dass das immer so sein müsse,
dass off'ene e, o zu steigenden, geschlossene zu fallenden diph-
thongen werden müssten, will ich damit nicht behauptet haben. i)
1) Zusammenfassend sei über das System der langen vocale und
diphthongen meiner mundarf bemerkt, dass dasselbe sich der art ver-
584 BRAUNE
Zum scliluss möchte ich in vergleicbung der e-laute meiner
mundait mit denen in der sehlesischen mundart bei A. Gry-
phius hervorbeben, dass bei letzterem auch die kurz gebliebe-
nen <■;■ und c als a und e, ü getrennt gehalten werden, während
in meiner mundart das kurze e seine geschlossene qualität auf-
gebend mit e zusammengefallen ist. Es wäre nicht unwichtig
zu wissen, wie gross das gebiet ist, auf welchem bei scharfer
trenuung der längen die kürzen als offenes e zusammenfallen.
Das scheint in Niederdeutschland die regel zu sein, aber in
Mitteldeutschland doch nur teilweise vorzukommen. — Ein
weiterer unterschied ist, dass im sehlesischen die entsprech-
ungen des mhd. e und ce nicht zusammenfallen, während
meine mundart wie alle obersächsischen für beide denselben
laut hat. Dieser zusammcnfall ist ja schon als altmittel-
deulsch bekannt. Es ist daher bemerkenswert, dass das
mild. 110 :=
« ie \
üe/
öu ==- 0 (geschl.)
öu ]
ei / ^ ß Uj^schl.)
schoben hat, dass die alten langen vocale (nebst dehnungen von kurzen)
zu diphthongen , die alten diphthonge dagegen zu nionophthongen
geworden sind. Nämlich:
mhd. ä, a ::=- ua*
„ o, O i=- fl3
„ G, a;, OL', e :=" in
„ i :=- ai
„ ü ==- au
„ iu :^ oy
Eine ausnähme von der diphthongierung bildet allein das gedehnte mhd.
«;:=-«; dehnungen von mhd. ?, u vermag ich in der mundart jetzt nicht
mit Sicherheit aufzufinden, da in grossem umfange gegen die Schrift-
sprache kürzen geblieben sind, z. b. %// (liegen), rir/r (riegel), sij) (sieb),
7vise (wiese), mi~ srimm, s/ifftj (wir schrieben, stiegen, sg. i-/ srep, .iiek),
iiir Ixufpi, summ (wir zogen, schoben, sg. iy fsok, sap). — Von der mo-
nophthongicrung ist allein ausgenommen der alte mitteldeutsche diphthong
ai (aus äffe), welcher (entgegen dem oberd.) im älteren ost-md. vom
diphthong ei streng geschieden ist, wie ich dies schon in Kuhn und
.Schleichers Beitr. 8, 92 f. dargelegt habe. Dieses ai ist in der mundart
erhalten als diphthong oy, ein stark gerundeter diphthong, dessen an-
fang ein offenes o, dessen ende ein offenes n ist, das ich hier mit y
schreibe: Also z. b. tnoi/l (magt), soyn (sagen), froyn (fragen), woyn
(der wagen), noyl (nagel), Iroijn tragen etc.; der gleiche laut vertritt
mhd. iu, z. b. stoyro (Steuer), hoysora (die häuser), o loygat (er lügt).
In diesem falle also hat die mundart die rundung bewahrt, eben so wie
beim kurzen ü (z. b. um um, büß büffel), während die entsprechungen
des mhd. cp, a, üe und öu entrundet worden sind.
REINHART FUCHS. 585
schlesische sich hierin mehr zum oherdeutsehen hält. Dass
die altschlesischen quellen e sovvol für e als ce schreiben, be-
weist für 7Aisammenfall der laute nichts, wie schon Riickert
(Schles. muudart im ma. ed. Pietsch s. 28) mit recht her-
vorhebt.
Im october 1887. W. BRAUNE.
REINHART FUCHS.
Der neueste herausgeber des Reinhart K. Reissenberger
hat s. 14 die meines wissens zuerst von W. Wackernagel in
seiner litteraturgeschichte aufgestellte behauptung widerholt,
dass das ursprüngliche gedieht Heinrichs den titel Tsengiines
nol geführt habe, während der Überarbeiter den titcl in Rein-
hart fuchs geändert hätte. Damit diese behauptung nicht sich
festsetze (vgl. z. b. Reinke ed. Prien s. IX), wollca wir kurz
nachweisen, wie wenig sie begründet ist.
Die in betracht kommende stelle lautet (v. 1788 ff.):
original Überarbeitung
der ist geheizen Heinrich er ist geheizen Heinrich
er hat diu huoch gclihtol der hat diu buoch zesamene geleit
nmbe Isingrtnes not. von Isengrines arbeit.
Soll hiernach das original Isengrines not geheissen haben,
so müsste man mit demselben rechte schliessen, dass die Über-
arbeitung den titel führe Isengrines arheil. Denn letzteres be-
sagt ganz dasselbe und ist nur, um das altertümliche partic.
getihtot fortzuschaffen (vgl. z. b. v. 1697/98) an stelle des Origi-
nals getreten. Ein büchertitel liegt aber in den worten Ishi-
grines not oder Isengrines arbeit an dieser stelle keineswegs.
Vielmehr geht der dichter dazu über, Isengrins herbstes
Schicksal, seine schindung auf anraten Reinharts zu erzählen
und nimmt dazu einen besonderen anlauf mit den worten
V. 1784 ff.: 7111 vcrnemet scltsceniu dinc und vremdiu mcere, der
der Gltc]ies(rre in künde gll, si sind gewa'rlich, worauf die obigen
3 verse folgen.
Waekernagel hat sich offenbar durch den anklang an der
Nibelunge not verleiten lassen, hierin den titel des gcdichts zu (in-
58G BRAUNE
den. Das wäre aber uur begreiflieb, wenn das Nibelungenlied
in .seiner fassung AB schon vorhanden und ein berühmtes ge-
dieht gewesen wäre, als Heinrich schrieb. Daran ist aber nicht
zu denken. Beim uraarbeiter des Reinhart würde man, wenn
er heiujrines not eingeführt hätte, eher eine solche reminiscenz
für möglich halten können.
Dass aber das alte gedieht seinen uamen nicht von Isen-
grin geführt haben kann, ist meines erachtens sicher. Denn
in den ersten 5 geschichten (v. 11 — 384) kommt Isengrin über-
haupt noch nicht vor, während Beinhart im ganzen gedieht
die erste rolle spielt. Da man bei der ganz mechanischen,
nur formell glättenden weise des umarbeiters nicht diesem
die ersten 5 erzählungen wird zuweisen wollen, so ist auch
mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass v. 1 — 10, in
welchen Reinhart fuchs zum beiden des gedichtes erklärt wird,
schon entsprechend im original vorhanden gewesen sind, dass
demnach auch das alte gedieht bereits Reinhart fuchs ge-
heissen hat.
Zum überfluss erweisen uns die alten fragmente selbst den
Reinhart noch als den titelhelden, indem darin alle übrigen
tiernamen ausgeschrieben werden. Reinhart allein aber durch
R — dem betreffenden falls flexionen (R*"', R'^) angefügt sind
— bezeichnet wird. Das hat schon Jacob Grimm (sendschreiben
an K. Lachmaun s. 11) richtig gedeutet.
Im december 1887. W. BRAUNE.
NACHl^RAG ZU MHD. EIN.
(ßeitr. XI, 518; XU, 393.)
Bei der lectUre der 3. aufläge von R. Hildebrands buch
vom deutschen Sprachunterrichte (Leipzig 1887), in welcher
s. 230 f. der demonstrative gebrauch des mhd. ein unabhängig
von meinen erörterungen behandelt wird, drängte sich mir der
gedanke auf, dass ich selbst zuerst in Hildebrands Vorlesungen
auf jenen gebrauch aufmerksam gemacht worden sein dürfte,
wahrscheinlich mit dem hinweis auf die bibelstelle: Mch bin
NACHTRAG ZU MHD. EIN. 587
ein guter hiitc'; denn an diese stelle als locus classicus knüpfte
sich mein hcwusstsein von dem Vorhandensein des gebrauchs
an. Wer wie ich das glück gehabt hat, Hildebrands fein-
sinnigen erkläruugen von mhd. dichtungen zu folgen, der weiss,
in wie unzähligen einzelheiten da das genauere Verständnis
unserer alten spräche bei den Zuhörern gefördert wird: nicht
aber dürfte jedem nach längeren jähren für jede einzelheit
dieser Ursprung im gcdächtnis haften bleiben. So wird es mir
mit jenem gebrauche des mhd. ein gegangen sein, welchen
zuerst richtig erkannt zu haben ich nun als ein verdienst
meines hochverehrten lehrers R. Hildebrand ausdrücklich hin-
stellen möchte.
Im november 1887. W. BRAUNE.
Beiträge zur gcscbiclite der deutschen spiache. XIII. 39
GESCHLOSSP]NES E FÜR E VOR ST.
JJeitr. XIII, 393 hat Kaufifmaun auf gruncl der schwäbisch-
alemannischen ruuadaiten die annähme, dass c vor st durch
cüüsonantischen einfiuss zu e, werde, als nicht statthaft zu er-
weisen gesucht. Dagegen sind einige einwände zu erheben.
Während sonst, auch in den fällen von e für c vor i das
bairische durchaus mit dem schwäbischen geht, entspricht
dem Schwab, ncsl, welches Kauffmann als gegenbeweis anführt,
im bair.-öst. nosl und diese lautung hat anspruch auf ursprüng-
lichkeit, weil sie mit mhd. reimen in Übereinstimmung ist (vgl.
Grimm, Gr. P, 139, ferner neste : geste Rcinh. 635). Ebenso
hat i'cst (= festuni) im tyrolischeu (Schöpf, Deutsche mund-
arten III, 15) und nach Frauck, Zs. f. d. a. 25, 220 auch im
schwäbischen q, und Schmeller belegt (I, 849) aus dem salz-
burgischen Vestl = Sylvester. In der alemannischen mundart
von Ottenheim (vgl. Heimburger, Beitr. XIII, 218) findet sich
nesdo {n-estcn) und drsd^ < dcstc (neben nmt und brccsd^
s. 219). Für n-cste, welches, so viel ich weiss, in keiner ober-
deutschen mundart vorkommt, liegen zahlreiche mhd. reime
auf e vor; so allein im Iwein : beste 1721, 1791. 3901. 4065,
: veste 2543. 3769. 3901, ; geste 3317.
Diese fälle lassen nun kaum die erklärung zu, welche
Kauft'manu für giister und sw'ester angewendet hat. Bei ncst
könnte man an eine einwirkung der pluralendung -//•, -tv
denken. Aber sie tritt in der alten spräche nur ganz vereinzelt
in diesem worte an. Der erste und so viel ich sehe einzige
beleg während der alt- und mittelhochdeutschen periode — er
wurde von Lexer in seinem Mhd. wtb. angezogen — findet
sich in der von Joseph Haupt, Germ. 14,441 ff. veröffentlichten
alemannischen evangelienübersersetzung, Lucas IX, 58. Die
nicderschrift dieser bruchstücke stammt aus dem zwölften jähr-
GESCHLOSSENES A' FÜR E VOR 6T. 589
hundert. — Was w'cslc betriöt, so läge die Vermutung nicht
ferne, dass das e aus der durch analogie entstandenen con-
junctivform wessi (vgl. Paul, Mhd. gr. § 39 s. 17) übertragen
sei, in welcher e lautgesetzlich wäre. Aber dann müsste auch
in nibd. w'csse c vorliegen, während es tatsächlich mit t^ reimt
(;mc Erec6787).i)-)
Somit wird noch an der annähme consonantischen ein-
flusses festzuhalten sein.
1) Beitr. XI, 5U.'5 habe ich auf gruud einiger österr. e für e ver-
mutet, dass e aus wurzelhaftem i ursprünglich geschlossen war. Da-
nach würde tvcste nicht streng hierher gehören. Aber es sind dazu, so
viel ich sehe, keine parallelen in anderen mundartcn, noch beweis-
ki'ättige mhd. reime zu finden. Einmal wird allerdings c aus i ge-
schlossen gewesen sein; aber gerade so wie e (<)), sobald die lautbe-
dingungen des umlaut-6' eintraten, geschlossen wurde (Paul, Beitr. XII,
54S f.), so wird auch die Weiterentwicklung jenes <• zum laut des c laut-
gesetzlich gewesen sein, da ja die bedingungen für den bestand des
alten e und für die entwickUmg des c aus wurzelhaftem i dieselben
waren. In jenen fällen im österr. dialekt mag durch alte uns nicht mehr
erkennbare analogiewirkungen das c erhalten worden sein. Dass bei
wcste die herkunft des t) aus / nicht die Ursache des c ist, sehen wir
übrigens schon daraus, dass wesse, wie oben gezeigt wurde, e hatte.
2) Mhd. esse hat umlauts-t-. Vgl. Osthoff, oben s. 3'.t8 f. — W. B.
WIEN, am 7. dczember 1887. KARL LUICK.
39*
ölJO HÜLTHAUSEN, NACHTRAG.
NACHTRAG.
1. Ae. mesl hat seinen umlaut wol am ehesten dem gegen-
satz t(fsl zu verdanken, nicht den übrigen 'unregelmässigen'
Superlativen, wie ich Beitr. XI, 556 angenommen habe. Weitere
beispiele für lautliche und formelle ausgleichung von bedeutungs-
verwanten oder -gegensätzen sind: nnl. leimen 'lehnen' (statt
'*lcnen) nach steunen 'stützen', lit. dehesis 'wölke' (statt '-^•nebesis)
nach dmvjUs 'himmel', gr. xh'wic, 'hüfte' (statt '^xkovvig, vgl.
lat. clFmis; skr. cro riis, lit. szlawüs, anord. /dann) nach yövv
'knie', nprov. piboid, pipoulo 'pappel' nach bedouUo 'birke'
(Gröber im Arch. f. lat. Lexikogr. IV, 446), vulgärlat. ■''praeynis
'schwanger' (statt praegnans) nach dem gleichbedeutenden
gravis (Gröber 1. c. 448), afrz. polture, pouture 'kochtopf nach
dem sinnverwanten pature == pastura (1. c. 452), ae. nujcel, me.
niHcliel [d. i. mylsel] 'gross' nach lijlel 'klein', und umgekehrt
got. IcHds, anord. litiU nach mikds, resp. mikUl. Wegen weiterer
beispiele verweise ich auf Beitr. XI, 553 und XIII, 367. Es
wäre der mühe wert, wenn jemand nach diesem gesichtspunkt
die verschiedensten sprachen und sprachperioden durchmustern
und den gegenständ ausführlich erörtern wollte, denn es unter-
liegt keinem zweifei, dass dadurch eine menge noch unerklärter
formen ihre einfachste erledigung finden würden. [Ich kann
jetzt auf die hübsche arbeit Wheelers: Analogy and the Scope
of its Application in Language, Ith;ica, N. Y., 1887, verweisen,
wo auch noch weitere beispiele gegeben sind. — 15. jan. 88.]
i. Beitr. XIII, 372 z. 1 1 v. u. lies -jTnu, -jinö statt -^tnu,
-ginö, und z. 8 v. u. lies jinoz statt ginoz. Es war übrigens
gar nicht nötig, das wort als urs])rüngliches compositum zu
fassen und darnach die ae. form hc^en zu erklären, da urags.
'■^jlnu ja nach bekannter regel seinen endvocal verlierend zu
*jln werden mussle; vielleicht wurde das pronomen dann erst
mit der dual-form bu zu einer einheit verschmolzen.
LONDON, Weihnachten 1887. F. HOLTHAUSEN.
Bcrk'liligiing: S. Ibl z. 15/1(), bez. 29 lies *polouli-s, po-röuti-s.
l>nick von Eliiliniat Kaiia
Viert eljahrsclirift
liir
Litteraturge schichte
unter Mitwirkung
villi
Erich Schiiiidl und BernbaiMl Supliaii
lierauso-eo-eben
Vnll
Beruhard Seutfert.
Die unter dieseiii Titel vom Jahre IS88 an eri>elieinende
Zeitschrift wird vor allem Abhandkingen über neuere deutsche
Litteratur enthalten.
Sie wird mit strenger Auswahl des Bedeutenden un-
bekannte und nicht allzu umfangreiche Urkunden und Hilfs-
mittel der Litteraturforschung veröffentlichen und womöglich
zugleich erläutern.
Auch kleine Xachrichten. kritisclie und exegetische
Bemerkungen wird sie bringen.
Zusammenfassende Berichte über neue Erscheinungen
sind in Aussicht genommen.
Die Tierteljahrschrift setzt sich keine engen Schranken
der Zeiten und Völker, um der Entwicklung der heimischen
Überlieferung und des für Deutschland besonders Avichtigen
Verkehrs der Weltlitteratur offen zu stehen. Sie verschliesst
sich aber allem nicht streng wissenschafthchen Vergleichen
und Sammeln.
Sie sucht philologisch -historische Betrachtung mit der
Pflege ästhetischer Studien zu vereinigen.
In Weimar verlegt, knüpft die Vierteljahrschrift an
die dort altvererhten und neubelobten Bemühungen an und
möchte, ein anderes 'AVeimarisches Jahrbuch', den grossen
Idealen der Litteraturgeschichte im Sinne Herders, Goethes,
Schillers dienen.
Sie strebt das 'Archiv für Litteraturgeschichte' zu er-
setzen und will die selbständige Ergänzung der 'Zeitschrift
für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur' sein, die,
durch ihre CTOSchichte vorwiegend auf die ältere Zeit an-
gewiesen, für neuere Litteratur nicht genügenden Raum
zur Verfügung hat. Neben ihr und den 'Beiträgen zur
Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur" möchte
die Vierteljahrschrift als neue Heimstätte deutscher Philo-
logie stehen.
Ein Band der Vierteljahrschrift für Jjitteraturgeschichte
wird 30 bis 40 Bogen gr. 8 zählen. Doch sind die Hefte
nicht an ein bestimmtes Mass gebunden, damit die Bei-
träge rasch zum Drucke gelangen können. Dem Schlüsse
jedes Jahrganges werden genaue Inlialtsverzeichnisse bei-
gegeben.
Zuschriften empfängt
Prof. Seuffert,
Graz (Steiermark) Harracligasse L
Die Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte erscheint
im Verlage des Unterzeichneten. Der Umfang eines Heftes
wird 7 bis 10 Bogen zum Preise von 30 Pf. für den Bogen
betragen. Jedes Heft soll einzeln berechnet werden. Der
Subscribent verpflichtet sich zur Abnahme eines Jahrganges.
Das erste Heft wird im März erscheinen und das zweite
Heft bald nachfolgen.
Alle Buchhandlungen nehmen Bestellungen entgegen.
Hermann Böhlau
in Weimar.
Inlialt von Heft 1 und i>.
Jak. Bächtold, Hölderlin in der Schweiz.
Louis Bobe, Gln-istian Wernigke.
J. Bolte, Die streitenden Liebhaber, eine Gesangsposse aus
dem 1 7. Jahrhundert.
Derselbe, Die älteste Fassung des Gaudeamus.
Roh. Box berger. Zum zweiten Theil von Goethes Faust.
Derselbe, Maitre Jacques in Goethes Briefwechsel.
Konr. Burdach, Zur Geschichte der Faustsage.
Derselbe, Zu den Faustparalipomena.
Th. Distel, Ein Schreil)en Gottscheds.
Otto Harnack, Goethe und Wilhelm von Humboldt.
Piud. Henning, Localc und litterarische Beziehungen zum
5. Acte des Faust.
Otto Holfniann, Hamanns Briefe aus Nicolais Nachlass.
Fr. Jonas, Zu den Tabulae votivae.
Piud. K('igel, Kleinigkeiten zu Goethe.
Reinli. Köhler, Adams erster Schlaf.
Wend. von Maltzahu, Goethes Prolog zu dem Puppenspiel.
Ernst Martin, Verse in antiken Massen zur Zeit von Opitz
Auftreten.
Fr. Meyer von Waldeck, Der Peter Squenz von A. Gry-
pliius, eine Verspottung des Hans Sachs.
Jak. Minor, Christian Thomasius.
Derselbe, Beiträge zui- Litteraturgeschiclite des 17. Jahr-
hunderts.
Aug. Sauer, Das Phantom in Lessings Faust.
Derselbe, Nachträge zu Bürgers Gedichten und Bi'iefen.
Erich Schmidt, Goethes Proserpina.
Derselbe, Zu Novalis.
S. Singer, Der Verfasser der Schildbürger.
Phil. Strauch, Zwei fliegende Blätter von Caspar Scheit.
B. Suphan, Aus ungedruckten Briefen Herders an Hamann.
u. s. w.
l'estc'Ilzcttcl uinsteliciid.
Unterzuichnetor subscrüjirt auf
Expl. der Yierteljahrschrift für Littcraturgcschicht«'.
Herausgegeben unter Mitwirkung von Erich Schmidt
und Bernhard Suphan von Bernhard Seuffert.
T. Band. (Verlag von Hermann Böhlau in Weimar.)
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3003
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Bd. 13
Beiträge zur Geschichte der
deutschen Sprache und
Literatur
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