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BEITRÄGE
ZOK
GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN PLASTIK
VON
ALEXANDER CONZE.
Mit XI Tafeln,
meitteiiB nsoh Ab^ÜBBen dei uohaeologisohen VuHimifl dar kSnigl. TJuiTenitfit Halle -Wittenberg
geieichnet usd lithograpbirt
HEDMtNN SCHENCK.
Zveite Anfüge.
HALLE,
rSKLAO DBB BUCKHABIILUIia . DBB WAIHBIISADHE8.
1869.
n
L. -i- /<§
Herrn
EDUARD VON DER LAUNITZ
zugeeignet.
Die hier gebotenen Beiträge zur Geschichte der griechischen Plastik
sind in so fern ein Ergebniss meiner Amtsthätigkeit als Vorsteher des archaeo-
logischen Museums der Universität zu Halle, als ich für diese Sammlung die
Abgüsse der bis dahin noch gar nicht oder doch wenigstens nicht genügend in
weiteren Kreisen bekannt gewordenen antiken Bildhauerwerke, deren Herausgabe
den Kern dieser Beiträge bildet, beschaffen konnte. Die akademischen archaeo-
logischen Sammlungen haben nicht nur die leichtere Aufgabe, das nach dem bis-
herigen Stande der Forschung unerlässliche Material für den Unterricht zusam-
menzubringen , sie haben daneben auch die andere weniger bequeme Aufgabe ins
Auge zu fassen, zur sicheren Grundlage der noch immer mit der grossen Zer-
streuung ihres Materials kämpfenden Wissenschaft der antiken Kunst die stili-
stisch wichtigen bisher noch unbenutzten Werke der Beobachtung zugänglich zu
machen. Hierzu habe ich nach Kräften das Meinige zu thun gesucht; Erheb-
licheres in dieser Richtung kann freilich nur eine reicher dotirte Sammlung bei
planvoller Leitung nach und nach leisten. Mir war es nur möglich in fünf
Jahren fünf solche unser kunstgeschichtliches Wissen bereichernde Stücke zu
erwerben und auch das gelang bei beschränkten Mitteln nur mit Beihülfe vor
Allem der Generaldirection der königl. Museen zu Berlin, welche allein die
Kosten der Formung des Grabreliefs von Orchomenos und der Petersburger
Ephebenstatue getragen hat , dann der Vorstände der Universitätsmuseen von
Breslau, Bonn, Dorpat, Göttingen und der im vielversprechenden Werden begrif-
fenen Universitätssammlung zu München. Ein mehr, als es bis jetzt stattfindet,
fortgesetztes Hand in Hand Gehen zunächst der Vorstände der zahlreichen deut-
schen Sammlungen würde sich bei derartigen Unternehmungen gewiss ungemein
förderlich erweisen. Dankbar habe ich übrigens auch noch der entgegenkom-
menden Bereitwilligkeit des Magistrats von Bologna zu gedenken.
Die kunstgeschichtliche Wichtigkeit der fünf neuen Bildhauerwerke werden
die Abbildungen, so wie sie hier am Orte von geschickter Hand hergestellt
werden konnten, wenigstens annähernd dem kundigen Auge zeigen. Ich habe
VI
nun aber aucli meinerseits versucht, die Eäthsel einigermaassen der Lösung näher
zu führen, welche uns jedes neu auftauchende Werk namentlich der älteren
griechischen Kunst aufzugeben pflegt und dabei bin ich auf Erörterungen über
Fragen von ziemlich erheblicher Wichtigkeit eingegangen. Einige neue Ansichten
sind ausgesprochen, die sich mir bei fortgesetzter Beobachtung zum Theile schon
seit längerer Zeit aufgedrängt hatten. Auf dieser Seite wird nun freilich, wie
ich mir sehr wohl bewusst bin, vielleicht der sterbliche Theil dieser ganzen
Arbeit liegen. Dass eine grosse Anzahl meiner Fachgenossen die von mir auf-
gestellten Vermuthungen und Behauptungen einstweilen nicht billigt, weiss ich
sogar zum Voraus. Dennoch sie öffentlich auszusprechen, war mir eine wissen-
schaftliche Gewissenspflicht. Mein Hauptwunsch dabei ist, zur Prüfung von
Ansichten, die ich für mich allein bisher nicht zu einer mir selbst zweifellosen
Gewissheit bringen konnte, die ich aber ebensowenig durch früher aufgestellte
entgegengesetzte Behauptungen von vorn herein als beseitigt anzusehen vermag,
die Betheiligung anderer Mitarbeiter auf dem Gebiete der griechischen Kunst-
geschichte in Anspruch zu nehmen.
Giebichenstein bei Halle a. S., den 26. November 1868.
Auf Wunsch des Herrn Verlegers erscheint meine Arbeit in einer zweiten
Auflage. Diese enthält nur einige ganz geringe Aenderungen und Zusätze, zu
denen theilweise Michaelis und Kekul6 den Anlass gaben. Inzwischen sind mehre
Besprechungen erschienen , von Hübner in der Berliner Zeitschrift für das Gymna-
sialwesen 1869, S. 145 ff., vonKekulö, diese besonders eingehend , in den N.Jahr-
büchern für Phil, und Päd. 1869, S. 81 ff., von Bursian, so darf man wenigstens
vermuthen, im Literarischen Centralblatte 1869, S. 591 f., von Heibig im Bull,
deir inst, di corr. arch. 1869, S. 74 ff., von Benndorf in der Zeitschrift f. d.
Österreich. Gymnas. 1869, S. 261 ff., von Lützow in der Zeitschrift f. bildende
Kunst 1869, S. 287 ff. Im Ganzen enthalten sie mehr Widerspruch als
Zustimmung. Dem gegenüber möge dieser im Wesentlichen unveränderte Wieder-
abdruck nicht so gedeutet werden, als legte ich auf die entgegenstehenden
Ansichten kein Gewicht. Ich halte es nur fär zweckmässiger, erst noch die
Abgabe anderer Stimmen abzuwarten, um dann auch meinerseits noch ein Mal
auf die angeregten Fragen zurückzukommen.
Wien, den 26. Mai 1869.
- ^ --»--- 1-
Tafel I.
Marmorkopf in Bologna.
Der auf dieser Tafel in zwei Ansichten abgebildete Marmorkopf gehört zu der
Antikensammlung des früheren Architekten Palagi in Mailand, welche, vom Municipium
von Bologna angekauft, gegenwärtig in dem sogenannten arciginnasio antico aufgestellt
ist.^ Leider ist es mir nicht gelungen, weiter zurück über die Herkunft dieses ausge-
zeichneten Kopfes Etwas in Erfahrung zu bringen. Er ist von so tadelloser Erhaltung,
dass auch nicht ein Stückchen an ihm fehlt oder etwa ergänzt wäre. Seinen antiken
Ursprung wird deshalb Niemand bezweifeln wollen.
Es ist der Kopf eines jungen Mannes, dessen volles Haar eine breite, hinten
zusammengeknüpfte Binde umgiebt; nach der Form des Bruststücks muss er ursprünglich
2u einer ganzen Statue gehört haben. Nichts an dem Kopfe deutet auf eine Gottheit
oder einen mythischen Heros; vielmehr erscheint es am wahrscheinlichsten, dass dieser,
wie viele andre jugendliche Köpfe mit Binden im Haare, einer Ehrenstatue gehört habe,
sei es, dass die Binde ihm als Siegesbinde oder als auch sonst vorkommende Kopftracht
gegeben wurde. Die jetzt ausgehöhlt leeren Augen waren ohne Zweifel ursprünglich
mit einer andern Masse ausgefüllt. Das Band im Haare macht ganz den Eindruck einer
jetzt etwas leeren Fläche, die ursprünglich durch Farbe, durch ein farbiges Ornament
vermuthlich, gefüllt war.
Ein erhebliches, den dargestellten Gegenstand betreffendes Interesse knüpft sich
also an den Bologneser Kopf, so weit unser Wissen reicht, nicht; sonst wäre er auch wohl
nicht so lange unbeachtet geblieben.^ Er verdient aber trotzdem im höchsten Grade unsre
Aufmerksamkeit; mit seiner ebenso edlen wie höchst eigenthümlichen Bildung, die uns
in einer für ein Marmorwerk so seltenen Unversehrtheit bewahrt geblieben ist, tritt der
Kopf bedeutsam unter der Reihe bisher bekannter antiker Typen hervor. Ich erinnere
1) Das archaeologische Maseum der UnlTersität zu Halle besitzt einen Gipsabgnss als Geschenk
des Municipiimis von Bologna.
2) Ich machte auf ihn aufmerksam in Gerhards arch. Anzeiger 1867, S. 00.*
Conze Beiträge sur Gesch. der griech. PUstIk. 8. Aufl. 1
TAFEL I.
mich besonders eines Kopfes unter unserm Antikenvorrathe, der durch seine formellen
Eigenthümlichkeiten einigermaassen diesem Bologneser Jünglingskopfe nahe steht; es ist
der von Brmm besonders zu Ehren gebrachte ursprünglich farnesische, jetzt Neapler weib-
liche Kopf,^ in dem Brunn* eine Hera und zwar nach dem Vorbilde der Polykletischen
Hera im Tempel bei Argos erkennen zu dürfen glaubt. Schon in der Anordnung und
Behandlung des Haares wird man bis in Einzelheiten hinein gleichen Geschmack und ver-
wandte Hand an beiden Köpfen nicht verkennen. Dieselbe Sprödigkeit im Ausdrucke,
dieselbe Herbigkeit in der Bildung der Gesichtsformen ist beiden gemeinsam, und wenn
diese z. B. in den Augenrändern am Neapler Kopfe noch stärker ist, so muss man dafür
in Anschlag bringen, dass dieser Kopf kolossaler ist als der Bologneser. In diesen Form-
eigenthümlichkeiten wird man nun ebensowohl bei unserm Bologneser Kopfe die Abzeichen
älteren echt griechischen Ursprungs erkennen müssen, wie Brunn aus ihnen mit Recht
das Gleiche fiir den Neapler Kopf folgerte. Hierzu muss ich jedoch sogleich bemerken,
dass ich den Bologneser Kopf nicht für eine originale frühgriechische Arbeit halte, was ja
übrigens auch von dem Neapler nicht anzunehmen und nicht angenommen ist. Ich halte
ihn fiir eine das Charakteristische sehr gut bewahrende Nachbildung von antiker Hand.
Es fehlt namentlich in manchen Nebendingen ^ wie an den kleinen hinten hervorhängenden
Haarlöckchen die liebevolle und gedankenvolle Behandlung, die das Original eines Werkes
von solcher Bedeutung jedenfalls auszeichnen würde. Indem ich das Wesentliche dessen,
was auch von Friederichs* über den Neapler Kopf gesagt ist, auf den Bologneser
Jünglingskopf anwendbar finde , setze ich diesen , wohlverstanden also sein Original , vor
das Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr.
Hätte Brunn richtig in dem famesischen Frauenkopfe die Nachbildung eines
Originals von Polyklet erkannt, so würde der Bologneser Kopf, dessen Original man nach
Phidias nicht entstanden glauben wird, der von allen uns bekannten Köpfen aus der
Werkstätte des Phidias sich sehr erheblich unterscheidet, mit gutem Fug auch in enge
Beziehung zu Polyklet gesetzt werden müssen. Die Prüfung einer solchen Annahme wird
uns bei Besprechung der folgenden Tafel beschäftigen.
1) Mon. in. deU' inst di corr. arch. VIII, Taf. l.
2) Ann. delF inst, di corr. arch. 1864, S. 297 ff.
3) Berlins antike Bildwerke I , S. 106 , n. 89.
MARMOBKOPF IN KASSEL. 3
Tafel II.
Marmorkopf in Kassel.
Der auf dieser Tafel wiederam in zwei Ansichten abgebildete Kopf von parischem
Marmor gehört unter die vorzüglichsten Zierden der Antikensammlung im Museum Fride-
ricianum zu Kassel.^ Ueber seine Herkunft ist mir Nichts bekannt. Er ist leider weniger
gut erhalten als der eben besprochene Bologneser Kopf. Das Bruststück mit einem
Theile des Halses und ein grosses Stück der Nase sind moderne Ergänzungen, wie auf
der Abbildung angedeutet werden konnte. Ausserdem ist namentlich ein Stück der
rechten Seite der Unterlippe neu eingesetzt; hier und da haben die mehr vortretenden
Haare etwas gelitten, und die zwei nach seitwärts abstehenden Enden der hinten am
Kopfe geknüpften Binde scheinen abgebrochen zu sein.
Auch dieser Kopf ist der eines jungen Mannes , in dessen vollem Haare eine breite
Binde liegt ;^ auch dieser Kopf ist wahrscheinlich nur der Ueberrest einer ganzen Statue.
Auch bei ihm deutet Nichts auf eine Gottheit oder einen der bekannten mythischen
Heroen. Auch für ihn erscheint die Annahme, er habe zu einer Ehrenstatue gehört, am
wahrscheinlichsten.
Das ganze Gewicht muss bei der Betrachtung und Würdigung auch dieses Kopfes
wiederum auf die Form gelegt werden, die uns hier aber bei angestelltem Vergleiche mit
dem Bologneser Kopfe in grundverschiedener Eigenthümlichkeit entgegentritt. Zunächst
muss aber bemerkt werden, dass wir es hier in dem Kasseler Kopfe mit einer ungleich
lebensvollem Arbeit zu thun haben, in der feinen Modellirung des Fleisches, besonders
auf Stirn und Wangen , im ganzen Wurfe und in jedem Löckchen des Haars , überall zeigt
sich eine mit unmittelbarem Verständniss und Gefahl liebevoll arbeitende Hand. Diese
Vorzüge treten am Originale in dem schönen Material des parischen Steins noch ungleich
mehr hervor, als nicht nur in einer Abbildung, sondern selbst auch im Gipsabgüsse.
Ich stehe nicht an, in diesem Kopfe eine der besten uns erhaltenen Marmorarbeiten voll
Geist und Originalität zu erkennen, und zwar eine Arbeit, um das gleich auszusprechen,
von attischer Hand.
1) n. 38 in der Uebersicht der im Museum zu Kassel befindlichen wichtigsten Antiken vom J. 1843.
2) Yergl. den Dresdener Kopf: Becker Augusteum Taf. LVII, 1. [Dieser Dresdener Kopf ist in
der That eine Wiederholung. Vergl. auch Heibig im Bull, deir inst, di corr. arch. 1869; S. 75.]
1*
... . ^ ,• . ■ ■ \ r ,■,■•"■ ^•
TAFEL n.
Je mehr wir beide Köpfe, diesen Kasseler und den Bologneser, vergleichen, desto
stärker tritt uns, ganz abgesehen von dem eben betonten verachiedenen Werthe der Aus-
fahrung beider, in allem Ganzen und Einzelnen eine tiefliegende Verschiedenheit ent-
gegen, eine Verschiedenheit, die stilistischer Art ist. Die zwei Köpfe gehören verschie-
denen Zeiten, verschiedenen Schulen, verschiedenen Künstlern an, und keine Frage ist es,
dass der Kasseler Kopf den Stempel einer weit entwickelteren Kunstweise trägt. Die
grössere Leerheit der Formen von I mag theilweise auf Ilechnung des Kopisten kommen,
theüweise gehört sie aber zu der strengeren, einfacheren Art, in der jener Kopf gearbeitet
ist. Anstatt der Sprödigkeit der Gesichtsform mit ihren grossen Flächen bei I ist bei II
eine äusserst weich bis in die kleinsten Bewegungen der Form hinein durchgeführte Model-
lirung getreten; glaubten wir bei I an ein ursprüngliches Aufsetzen von Farben, so ist n
im Marmor selbst malerischer behandelt. An I ist jede Haarlocke in ihrer welligen Lage
mit grosser Zierlichkeit ins Einzelne hinein und mit sichtlichem Wohlgefallen an den
feinen Linienspielen ausgearbeitet — selbst vom Kopisten noch, während bei 11 mehr auf
die Gesammtwirkung des Haars hingearbeitet ist; die einzelnen Locken und Löckchen
machen sich nicht so ffir sich mehr geltend; dann ist an die Stelle sorg&Itiger Schei-
telung und Ordnung bei H vielmehr etwas Ungeordnetes oder doch Ungezwungeneres
getreten. Die Schwierigkeit, die Gesanuntheit des Haars in seiner Eigenthümlichkeit
plastisch darzustellen, ist bei H besser überwunden; das Haar giebt sich als solches mit
aller Naturwahrheit, man fühlt förmlich, wie die Binde sich in die weiche Lockenfulle
hineingelegt hat. Die Binde selbst ist hier nicht so leer wie bei I, sie ist wenigstens
durch zwei Saumstreifen in der plastischen Ausarbeitung geziert , während bei I vermuthlich
die Malerei dafür hatte eintreten müssen. Und nun der Gesichtsausdruck beider Köpfe!
Schon die Haltung weicht bei dem einen vom andern ab; I sieht ziemlich grade vor sich
hin, II ist sehr merklich auf die rechte Seite geneigt, und gewiss richtig hat der Ergänzer
diesen Kopf auch nach vorn gesenkt hinblicken lassen. Es ist, wie man sagt, weniger
Stimmung in I, er scheint fast gleichgültig, während durch den Kasseler Kopf ein stark
ausgesprochen gefahlvoUer Zug hindurchgeht. Dem zum Ausdrucke dient schon die Sen-
kung und Seitwärtsneigung des Kopfes, dieser Zug liegt dann aber weiter in dem leise
geöffneten Munde, der bei I einfach geschlossen bleibt, vor Allem in der zarten Hebung
der linken Seite der Oberlippe. Hier versagt leicht eine jede Abbildung. Dass ein
solches Hineinarbeiten eines, wenn auch noch so maassvollen, Anklanges an Gefühlsstim-
mung, wie es am Kasseler Kopf • stattgefunden hat, ein Schritt hinaus über die geistige
Gefasstheit und Unerregtheit des Bologneser Kopfes, der auch sonst ja alterthümlichere
Formenbehandlung zeigt, ist, hat die eingehendere Betrachtung der geschichtlichen Ent-
wickelung des Ausdruckes in den griechischen Kunstwerken wohl zu einer leicht allgemein
zugestandenen Behauptung gemacht. Ein letzter Schritt in dieser Eichtung sind die
gewaltsamer pathetisch bewegten Köpfe der Diadochenzeit z. B. der sog. sterbende
Alexander in Florenz; den Ausgangspunkt bilden die gleichmüthig starren oder nur eben
durch ein Lächeln belebten Köpfe von Statuen wie der Apoll von Tenea.
f^
.. T
MÄRMOBKOPF IN KASSEL.
Müssen wir also im Bologneser Kopfe eine ältere, im Kasseler eine entwickeltere
griechische Kunst erkennen, — denn eine Ansetzung in römische Zeit ist bei beiden ganz
ausgeschlossen — , so habe ich vorweg schon die Weise des Kasseler Kopfes kurzhin als
attisch bezeichnet und zwar würde ich an die Zeit nach Phidias bis gegen den Uebergang
zur jüngeren attischen Schule hin denken, bis in die Zeit, um an ein bestimmtes Werk
anzuknüpfen, etwa der Eirene mit dem Pliitoskinde von Kephisodotos, die wir jetzt in der
Muncheuer früher sogenannten Leukothea^ wenigstens im Nachbilde uns erhalten wissen.*
lieber den weichen seelenvollen Zug im Gesichte dieser Münchener Statue, der auch im
Kasseler Kopfe anklingt , haben Priederichs ^ und Brunn sich treffend geäussert. Mit einer
solchen annähernden Bestimmung der Entstehungszeit des Kasseler Kopfes würde es nun
sehr wohl stimmen , wenn wir den Bologneser Kopf dem von Brunn als Hera des Polyklet
gedeuteten Neapler Frauenkopfe seiner Entstehungszeit nach annähern dürften. Ich halte
in der That eine solche Zeitbestimmung beider Köpfe für die wahrscheinlichst richtige,
wenn ich auch den Beweis, dass der Neapler Kopf wirklich grade der der Polykletischen
Hera sein müsse, nicht als gefuhrt ansehen kann.
Eine neueste kunstgeschichtliche Hypothese, die auf sorgfältige Beobachtung
gegi-ündet aufgestellt und von den meisten Mitforschem mehr oder weniger ausdrücklich
als das Richtige treffend anerkannt ist, macht es mir unmöglich, mit meiner Besprechung
des Kasseler Kopfes hier inne zu halten oder mich etwa damit zu begnügen, den von mir
kurzweg behaupteten attischen Charakter dieses Kopfes noch weiter durch Vergleichungen
auch Andern zum Bewusstsein zu bringen. Ich gerathe wenigstens mit solchen Ver-
gleichungen sofort in den Bereich jener Hypothese, und der Kasseler Kopf kann kaum
als attisch oder wenigstens nicht als durchaus original attisch anerkannt werden, wenn
die Hypothese richtig ist. Ich muss desshalb etwas weitläufiger das Eine zu erweisen und
zugleich das Andere zu widerlegen suchen. Wem dabei in meinen Auseinandersetzungen
die Bündigkeit zu mangeln scheint, den bitte ich zu bedenken, dass wir uns hierin einem
noch wenig aufgehellten Dämmerlichte bewegen, in dem man noch immer halb tastend
nur erst unsichere Schritte wagt.
Die Hypothese, welche ich meine, ist die von meinem Freunde Friederichs*
zuerst öffentlich ausgesprochene und vertheidigte Zurückfuhrung einer bestimmten in
verschiedenen Exemplaren zu Neapel, Florenz (2), Rom (3),* Kassel* uns erhaltenen
1) Gerhards arch. Zeit. 1859, Taf. CXXI. CXXn.
2) Bmirn über die sog. Leokothea. Mönchen 1867.
3) Berlins antike Bildwerke I, n. 411, S. 229.
4) Der Dorypboros des Polyklet. 23. Berliner Winckelmannsprogramm. 6. 1863. — Berlins
antike Bildwerke I, S. 118 f. n. 96.
5) wenn wir zwei von Heibig im Bnll. dell' inst, di corr. arch. 1864, S. 30 angeführte Exemplare
mitrechnen.
6) Welckers Zeitschrift für Gesch. n. Ansl. der alten Kunst I, S. 186 ff. Landon annales du
masee Taf. 21 soU eine Abbildung geben.
TAFSL II.
Statae auf ein Original des PolyUet. Friederichs nimmt an, dass diese Statue, deren
Berühmtheit im späteren Alterüinme jedenfalls die vielen erhaltenen Eopieen bezeugen,
der berühmte Doryphoros von PolyUet ist, eine Statue, die bei späteren Künstlern zu
einem gewissen kanonischen Ansehen in Bezug auf ihre Körperverhältnisse gelangt sein
muss , die aber nach einer Aeusserung Plutarchs ^ ursprünglich die Statue eines bestimmten
Athleten gewesen sein kann, dessen Namen aber späterhin nicht mehr bekannt war, die
man dann also den Doryphoros schlechthin oder auch, als sie zu einem Proportionsmuster
ffir die Künstler wurde, den Kanon' nannte, so wie man also heute beispielsweise unbe-
kümmert um die dargestellte Person vom Violinspieler Baphaels spricht. Keines der
Exemplare der Statue, welche Priederichs nun für den Doryphoros Polyklets erklärt, ist
als Doryphoros mit dem Speere in der Hand erhalten: aber eine Ansatzspur am Kopfe
des Neapler. Exemplars stimmt wohl zu der Annahme, dass sie so zu ergänzen seien; die
linke Hand fehlt ihnen allen. Die müsste den Speer geschultert gehalten haben; eine
Gemme des Berliner Museums,' auf der das ganze Motiv sich findet, ist von Friederichs
nachträglich^ als Bestätigung seines Ergänzungsvorschlages geltend gemacht. Ich will
dieses als richtig zugeben; das Original der verschiedenen übereinstimmenden Statuen war
höchst wahrscheinlich ein Doryphoros.
Weiter kommen wir nun aber an einen Scheideweg. Brunn hat den Neapler
Frauenkopf für eine Kopie nach Polyklets Hera, Friederichs die Neapler Statue und
ihre Wiederholungen far Kopieen nach Polyklets Doryphoros erklärt. Man hat mehrfach
Beides als richtig angenommen. Ich muss aber die bestimmte Forderung stellen,
Eines von Beiden aufzugeben. Hat Brunn die Hera richtig erkannt, so irrt Friederichs,
hat Friederichs den Doryphoros Polyklets wieder entdeckt, so hat der Neapler Kopf
Nichts mit Polyklet zu thun. Man sollte glauben, es brauchte nur ausgesprochen zu
sein, um sofort zugestanden zu werden, dass die stilistischen Eigenthümlichkeiten des
Brunnschen Kopfes und der Friederichsschen Statuen so weit auseinandergehen, dass
an eine Entstehung beider Werke in einer Zeit oder zugleich auch aus einer Schule
oder gar von ein und demselben Künstler nicht zu denken ist.^ Wie ein im Stile zu
1) Praec. ger. reip. 27: — fiij deiaO'ai yQatf ofi(vtov TifidÜv fj nlarjofiivwv ^ xakxorvnovfi^viuv,
tv «tV x«i t6 ivdoxifjovv dlXoTQiov lari. ^EnaiviUai yä^ ov/ q} yfyov€v, akV atf ou yfyoviv 6
aalniyxtrig xal 6 doQvtpogos. Hier ist Polyklets doQV(f6QOs xttr i^o^nv gemeint; der aaljnyxrrig ist das
bei PUn. (d. h. 35, 130) mit den Worten „tubicenque inter pauca landatns** erwähnte Gemälde von Antidotos.
2) Die Identität von Doryphoros und Kanon nehme ich als nach den beiden Stellen bei
Qnint. V, 12, 21 und bei Cic. Brat. 86, 296 kaum zu bezweifeln (Blümner archaeol. Stud. zuLucian S. 23)
hier durchweg an. Dagegen kann die handschriftliche üeberlieferung bei Plinius sich nicht halten.
3) IV. Hasse, 249.
4) Berlins antike Bildwerke I, S. 551, Nachtrag zu N. 96.
5) Kekul^ (Hebe S. 64) behauptet freilich sogar mit Berufung auf diemitgetheilten Maasse, deren
Beweiskraft ich in diesem Falle aber nicht einzusehen gestehe, ausdrücklich die Uebereinstimmung des
Brunnschen Herakopfes und des Friederichsschen Doryphoroskopfes. Auch Wachsmuth (Rhein. Mus. N. F.
XXin, S. 193) nimmt beide Werke als erwiesen Polykletisch an.
MARMOBKOPF IN KASSEL.
dem Neapler sog. Junokopfe passender jugendlich männlicher Kopf etwa aussehen muss,
das zeigt unser Bologneser Kopf (Taf. I), dessen gänzliche Verschiedenheit vom Kopfe
des Friederichsschen Doryphoros die Vergleichung deutlich macht. Wenn einmal durchaus
eines von jenen beiden Werken Polyklet angehören soll, so kann das meines Erachtens nur
der Neapler Frauenkopf sein , ohne dass ich freilich, wie gesagt, auch Dieses für eigentlich
erwiesen halten könnte.
Lassen wir jetzt aber einmal den Herakopf fallen und folgen wir Friederichs in
seiner Doryphoros -Hypothese, so werden wir bei weiterer Umschau darauf aufmerksam,
und dadurch wurde uns hier diese Frage in den Weg geworfen, dass es unter den uns
erhaltenen Antiken eine grosse Anzahl zunächst von Köpfen giebt, in denen sich die Grund-
züge der Bildung des Friederichsschen Doryphoroskopfes wiederholen, die mit ihm in eine
Klasse zu setzen sind, mit ihm auf einem gemeinsamen Entstehungsgrunde ruhen müssen.
Ich nenne voran den Neapler Bronzekopf von ApoUonios, Archias Sohne aus
Athen, den bereits Friederichs ^ mit entschiedenem Eechte als eine Wiederholung des
Kopftypus seines Doryphoros angeführt hat. Es ist bekannt, dass diese athenischen
Künstler in Kom vielfach ältere Originale nachbildeten.* Auf drei zugehörige Köpfe in
Rom und Neapel hat Heibig ^ aufmerksam gemacht, zwei haben Benndorf und Schöne im
Lateran* bemerkt, verschiedene lassen sich in der Eremitage zu Petersburg* zusammen
finden , einer ist in den Specimens of antient sculpture ^ abgebildet. Die Bronzestatuette
eines nackten Epheben früher in der Privatsammlung der Königin Amalie, jetzt im
Kultusministerium zu Athen, ^ die angeblich aus dem Peloponnese herrühren soll, hat
völlig einen Kopf dieser Klasse. Ich habe mich bei gemeinsamen Betrachtungen mit
andern Studiengenossen überzeugen können, dass über die Zugehörigkeit eines Kopfes zu
der einen grossen Familie, so zu sagen, für ein einigermaassen geübtes Auge selten ein
Zweifel besteht; nur darüber gehen die Ansichten auseinander, wo der Ursprung dieser
jedenfalls auf einen Ursprung wenigstens in Bezug auf Schule und nicht zu sehr ausein-
anderliegende Entstehungszeit zurückzuführenden Arbeiten zu suchen ist. Die mehrfach
wiederholte Statue eines sich salbenden Athleten rechnet Friederichs ® zu den Polykletischen
Werken, während für mich wenigstens die Köpfe des Turiner* Exemplars und eines andern
1) Berlins antike Bildwerke I. S. 119, n. 97.
2) Brunn Gesch. der gr. Künstler I, S. 561.
3) Bull, deir inst, dl corr. arch. 1864, S. 30.
4) Die antiken Bildw. des lateranens. Mus. S. 170, n. 254. S. 349, n. 491.
5) z. B. Marmorwerke n. 83. 179. Verwandt auch n. 28.
' 6) I, taf. 30.
7) Bursian in Gerhards arch. Zeit. 1855, S. 56.* Einen Abguss derselben schenkte Benndorf
dem archaeologischen Museum der Universität zu Halle. [Jetzt abgebildet Mon. ined. dell* inst, die corr.
arch. Vm, tav. LIQ und besprochen Ton Kekul^ Annali dell' inst, di corr. arch. 1868, p. 316 ff. Sikyon
scheint der Fundort zu sein.]
8) Berlins antike Bildw. I, S. 119, n. 98.
9) Gerhards arch. Anz. 1867, S. 77,* n. 1193.
8 TAFEL n.
in Petworth^ wie die sämmtlichen bisher aufgezählten Stücke attisch sind oder, um mich
vorsichtiger auszudrücken, in ihren charakteristischen Eigenheiten mit sicher attischen
Arbeiten übereinstimmen und zwar mit attischen Arbeiten aus der Zeit von Phidias an
bis herab an die Grenze etwa der jüngeren attischen Schule.
Ein besonders charakteristisches Abzeichen der Köpfe der erwähnten Klasse liegt
in der Form des Schädels in seiner Profilansicht. Er ist von hinten nach vorn lang und
obenauf ziemlich platt, er fällt hinten ebenfalls in ziemlich grader Linie ohne sehr merk-
liche Nackeneinbiegung ab und ähnlich gradlinig setzt sich wiederum die Stirn von dem
oberen Schädelumrisse ab, so dass der ganze Schädel im Profil etwas lang Viereckiges
hat. Diese Formation zeigt nun auch der Kasseler Kopf; die Bildung wird in ihrer
Eigenart sofort noch deutlicher durch den Vergleich mit der gerundeteren Form des
Bologneser Kopfes, der dieser ganzen Klasse von Köpfen dann auch sonst durchaus fremd
ist. Ganz dieselbe viereckige Kopfbildung zeigt aber der sog. Theseus aus dem Ostgiebel
des Parthenon; danach nenne ich sie attisch.
Eine weitere Familienähnlichkeit, diese freilich nicht so einfach zu demonstriren
wie jene Schädelform, liegt bei den betreffenden Köpfen im Gesichte. Ich muss hier die
Vergleichung wo möglich an Abgüssen anheimgeben; das Aufzählen von Einzelheiten nützt
wenig; es handelt sich um den physiognomischen Gesammteindruck. Mehr oder weniger
durchgehend tritt dabei im Zusammenhange mit einer leisen Wendung des Kopfes und
einer oft ziemlich auffälligen Schiefheit in den sich entsprechenden Gesichtsth eilen jene
Anfangs bei Beschreibung unsres Kasseler Kopfes als so besonders ausdrucksvoll hervor-
gehobene weiche Hebung der Oberlippe an einem Mundwinkel hervor. Am Kopfe der
Friederichsschen Doryphorosfigur ist sie noch kaum angedeutet, am Kasseler Kopf spricht
sie sich stark aus; Benndorf und Schöne beschreiben im Lateran^ einen Kopf als ziemlich
übereinstimmend mit den „Doryphoros- Köpfen", doch mit einem trüben, beinahe schwer-
müthigen Ausdrucke. In dieser Beziehung ein Mehr und Weniger kann sonst zusammen-
gehörende Werke nicht auf verschiedenen Ursprung zurückzuführen berechtigen; es ist
sicher , dass im Hineinarbeiten dieses leisen Wehes , welches zuletzt so ungemein anziehend
wirkt, die Kunst allmälig weiterging, dass etwas so Feines das eine Mal stärker, das
andre Mal schwächer zum Ausdrucke kam. Ich muss aber diese ganze Gesichtsbildung
und -Stimmung wiederum für attisch halten, indem ich mich auf die Köpfe zahlreicher
Grabreliefs, auf den Kopf der Eirene in München als sicher attische Werke mit dieser
Eigenthümlichkeit berufe.
Im Gesichte stimmt mit dem Kasseler Kopfe noch ein in zahlreichen Wieder-
holungen uns erhaltener Kopf über ein, dessen Schädelbildung, durch einen Helm verdeckt,
sich nicht zur Vergleichung ziehen lässt. Es ist der bald Achilleus bald Mars genannte
1) Gerhards arch. Anz. 1864 , S. 239.* Zu einer zuversichtlichen Beurtheilung dieser jedenfalls wich-
tigen Figuren fehlt es noch an allen Vorbedingungen; weder Abgüsse noch Abbildungen sind vorhanden.
2) Die antiken Bildw. des lateranens. Mus. S. 170, n. 254.
MARMORKOFF IN KASSEL. 9
Kopf ,^ der wiederum übereinstimmt mit dem Kopfe der ebenfalls bald Achilleus bald Mars
genannten Borghesischen Statue im Louvi-e.^ Diese Statue im Louvre vermag ich nun
andrerseits wiederum auch ihrer Eigenthümlichkeit, ihren Proportionen* nach nicht von
den Statuen zu trennen , in denen Friederichs den Dor jphoros wiederfindet. Am wenigsten
kann ich die Borghesische Statue und damit zugleich die erwähnten Einzelköpfe, wie
Priederichs thut,* für römischen Ursprungs halten. Eömische Kopistenarbeiten sind sie,
aber nach älter griechischen und zwar attischen Originalen. Etwas Aeusserliches ist bei
diesen Köpfen wiederum attisch, der Helm, der in Form und Verzierung vom Helme der
Parthenos des Phidias abstammt , sich auch ähnlich an einem freilich ohne Grund Miltiades
genannten aber gewiss attischen Portraitkopfe ^ wiederfindet. Da ich auf attische Portrait-
köpfe gefuhrt werde, so darf ich wohl noch erwähnen, dass mir die zwei auf der Stirn-
höhe sich theilenden Haarlocken an einigen dieser Portraitkopfe mit verwandtem Geschmacke
wie an Friederichs' sogenanntem Doryphoros Polyklets angeordnet scheinen.
Wenn ich also in der von Friederichs für polykletisch gehaltenen Statue durchaus
Nichts vom attischen Stile wesentlich Verschiedenes finden kann, wenn sie mich vielmehr
nach dem Eindrucke, den mir vieljährige Betrachtung zum Maasstabe gegeben hat, rein
attisch anmuthet, so ist es mir damit unmöglich gemacht, bei ihnen weiter an Polyklet
zu denken. Ich müsste sonst vorher meine gesammte Vorstellung vom Gange der
älteren griechischen Kunstentwicklung ändern. Bis jetzt ist es mir durchaus unwahr-
scheinlich, dass Polyklet, der mit seinen Leistungen doch den Gipfelpunkt der altargivi-
schen Kunstthätigkeit gebildet zu haben scheint, von der neben der argivischen damals
zuerst auf die höchste Höhe emporsteigenden attischen Kunstweise des Phidias und seiner
Nachfolger nicht ganz wesentlich verschieden gearbeitet haben sollte. Wie scharf noch
nach den Perserkriegen die lokalen Hauptkunstschulen in grösster Verschiedenheit neben
einander, standen, wird man ermessen, wenn man die letzthin noch wieder von Brunn ^ auf
1) In Dresden (Becker Angusteam taf. 35) , in der Eremitage (Kat. n. 171), in München (Friederichs
Berlins antike Bildw. I, n. 721. Brunn Kat. der Glyptothek n. 91), im Mosernn Worsleyanum (Gerhards
arch. Anz. 1864, S. 216*), in der Blondellschen Sammlung (Specimens of ant. sculpt. II, taf. 19), im
Campo Santo zu Pisa. Siehe Stephani im Compte rendu de la coram. arch. de Tacad. de St. Petershourg
1864, S. 123. Ein Fragment in der Ambraser Sammlung zu V7ien.
2) üeber ihn zuletzt Ürlichs im Winckelmannsprogramm des Vereins von Alterthumsfr. im Kheinl.
1867, S. 34 ff. Friederichs Berlins antike Bildw. I, S. 436, n. 720. Ist er ein Ares, so kann man immer
noch an den des Alkamenes als das Original denken; Urlichs vertheidigt wieder die Benennung AchiUeus
und hält dann Silanion für den Künstler des Originals.
3) Polykletische Proportionen fand in ihr z. B. 0. Müller Handbuch der Archaeol. § 413, 2, wozu
Welcker ein Fragezeichen setzte. S. auch § 332, 2.
4) Berlins antike Bildw. I, S. 437. Die Wölfe am Helme, das Symbol des römischen Mars
werden dafür geltend gemacht. Stephani hat mir aber an dem Petersburger Exemplare des Kopfes bei
diesen Thieren deutlich Halsbänder gezeigt, so dass es vielmehr Hunde wären.
5) Visconti iconografia greca I, taf. 13. Vergl. Archaeol. Zeitung 1868, S. 1 f.
6) Sitzungsberichte der königl. bair. Akad. d. Wissensch. phüos. - philol. Kl. 4. Mai 1867.
Conse BeitrSge zur Geach. der griecb. PlMtik. 2. Aufl. 2
10 TAFEL II.
das Beste befürwortete Entstehung der Aiginetischen Giebelstatuen nach dem Siege von
Salamis zugiebt und die dann wenn auch etwas jüngeren Parthenonskulpturen mit ihnen
zusammenhält
Ich kann nicht umhin, hier auch die Analogie der allgemeinen Entwicklungs-
gesetze, die wir in der neueren Kunstgeschichte klar verfolgen können, zur Ausfül-
lung unserer lückenhaften Ueberlieferung der alten Kunstgeschichte mit herbeizuziehen.
Am Ende des 15. und im ersten Anfange des 16. Jahrhunderts, also in der der Periode
des Polyklet und Phidias analogen Zeit zeigen sich gi-ade flie fuhrenden, mit selbständiger
Genialität und Energie vorausschreitenden Künstler der einzelnen italiänischen Kantone,
wenn sie auch vielfach mit einander in Berührung kamen, dennoch ein Jeder in hohem
Grade eigenartig, so Lionardo neben Raphael, wenn auch beide durch die Florentinische
Schule gingen. In einem analogen Verhältnisse müssen auch Polyklet und Phidias gestan-
den haben; Polyklet kann meines Erachtens nicht, mag er immerhin mit Phidias in
einer Schule gelernt haben, in seinen Idealen, in seiner Formengebung dem Phidias so
gleichartig gewesen sein, dass sein Doryphoros ganz in den attischen Formen der Schule
des Phidias uns entgegentreten könnte, wie mir die von Friederichs dem Polyklet zuge-
schriebene Statue entgegentritt. Hätten beide Künstler so erstaunlich gleichartig gear-
beitet, so würde vielleicht sogar ihre epochemachende Bedeutung mit Unrecht behauptet
sein und ihr Lehrer Ageladas, wozu uns Nichts berechtigt, als ein tonangebender Meister
aus dem Dunkel hervorzuziehen sein. Um noch einen und einen etwas stärker gewählten
Vergleich aus der neueren Kunstgeschichte zu entnehmen, so scheint mir anzunehmen
zu sein, dass Polyklet neben Phidias stand, fast wie Dürer neben Raphael. Wie in den
beiden letzteren die deutsche und italiänische Weise sich auf ihre höchste Höhe erhob,
die deutsche in meisterhafter Vollendung und doch überholt und für die Weiterentwickelung
zurückgedrängt von der italiänischen, so hoben sich in Polyklet die peloponnesische Kunst
in Argos imd in Phidias die attische Skulptur zum Gipfel, wie ich voraussetze, sehr
bestimmt eigenartig eine jede, die argivische Weise dann aber überholt und für die
Weiterentwicklung zurückgedrängt von der attischen. Bald wurde attisch im Peloponnes
gearbeitet wie italiänisch nach Raphael in Deutschland. Hiermit ist zugleich zugestanden,
dass Polyklets Werke bei aller Vollendung um ein Kleines hinter dem höchsten Gelingen
in Phidias Arbeiten zurückgestanden haben werden; dem entsprechen die Urtheile der
Alten, die bald in Polyklet den grössten Meister sahen, bald doch wieder einen Schatten
von Mangelhaftigkeit auf ihn warfen.^ Ich kann mich nach dem Gesagten nicht dafür
erklären, in der Darstellung der griechischen Kunstgeschichte Polyklet, wie üblich ist,
erst hinter Phidias einzureihen.
Nur wenige Mitforscher haben sich gegen Friederichs Doryphoros - Hypothese
erklärt, Petersen in Gerhards arch. Zeitung 1864, S. 130 ff. und wenigstens zweifelnd
1) Plin. n. h. 34, 56. Quintil. inst orat. 12, 10, 7. Cicero Brutus 18, 70. Die SteUen bei
verbeck die antiken Schriftquellen zur Gesch. der bild. Künste bei den Griechen. S. 137 f.
MARMORKOPF IN KASRET.. 11
Bursian im Litterar. Centralblatt 1864, n. 15, S. 348.^ Beide haben daran Anstoss
genommen, dass eine so herkulisch ausgewachsene Gestalt wie die Florentiner Statue und
ihre Wiederholungen dann bei Plinius als puer bezeichnet sein müsste, welches Wort
vielmehr eine jugendlichere Bildung voraussetzen liesse. Ich will aber zugeben, dass
Friederichs auf diesen Einwand erledigend geantwortet hat.* Ferner hat Petersen die
mehr schreitende als stehende Stellung der vermeintlichen Doryphorosstatue als gegen eine
Zurückfuhrung auf Polyklet sprechend geltend gemacht. Hierin hat er in meinen Augen
Kecht, doch kann ich ihm nicht zugeben, dass desshalb die fragliche Statue erst in die
Kaiserzeit zu setzen sei. Ich muss hierzu noch ein Bedenken gegen die Friederichssche
Hypothese anführen. Lukian, ein Mann anerkannt feinen Blickes för Formen und dem
eine reiche Kenntniss von Kunstwerken zu Gebote stand, hat in seiner Schrift über den
Tanz * sich auf den Doryphoros des Polyklet bezogen. Er will den Körper eines Tänzers,
wie er sein soll, schildern, er soll nicht zu hoch und nicht zu klein, nicht zu fleischig und
nicht zu mager sein, in Allem die rechte Mitte halten und, um mit einem Worte zu
sagen, wie er sein soll, nennt er einfach die berühmte Polykletische Statue; so solle ein
Tänzer gewachsen sein. Wie passt das, wenn die Statue, welche Friederichs dafür hält,
jene Polykletische ist? Dieser breite schwere Körper, der in entwickelter MuskelfuUe
über gewaltigem untersetztem Knochengerüste auftritt, eine der wuchtigsten Mannes-
gestalten der alten Kunst, in seiner ganzen Erscheinung eben ein Athlet aber nie ein
Tänzer, . Es wird mir schwer einen Mann wie Lukian einer so sehr fehlgreifenden Herbei-
ziehung eines derartigen Beispiels für fähig zu halten.
Der Kasseler Kopf führte uns auf diese ganze Meinungserklärung. Ihn wie den
Friederichsschen Doryphoros stelle ich also zu den attischen Werken. Friederichs hat
selbst erwähnt,* dass es auch von Kresilas, den Brunn ^ mit gutem Grunde den attischen
Künstlern anreiht, einen Doryphoros gab. Diesen für das Original der besprochenen
Kopieen in Florenz u. s. w. zu halten ist mir das Wahrscheinlichste und ich werde durch
die Vergleichung der in mehren Exemplaren erhaltenen verwundeten Amazone des Kresi-
las® davon nicht zurückgebracht.
Ich komme zum Schlüsse noch einmal auf den Kasseler Kopf zurück. In münd-
licher Mittheilung bin ich sowohl von Launitz als auch von Benndorf darauf aufmerksam
1) Ausdrücklich zugestimmt haben Heibig (bull, dell' inst, di corr. arch. 1864, S. 29 ff.)» Miglia-
rini (ib. S. 158 f.), Eekul^ in seinem Buche über Hebe, Benndorf und Schöne im Verzeichnisse der
antiken Bildwerke des lateranensischen Museums an mehren Stellen; Schöne (bull. 1866» S. 70 f.) hat
auch die Minerva Albani zur Vergleichung herbeigezogen und in ihr das Polykletische Profil wieder-
gefunden. Die Statue wird er damit wohl nicht für polykletisch erklären wollen.
2) Gerhards arch. Zeit. 1864, S. 149 f.
3) 75.
4) Der Doryphoros des Polyklet. S. 8.
5) Gesch. der griech. Künstler I, S. 260 ff.
6) 0. Jahn Berichte der königl. sächs. Gesellsch. der V\ issensch. zu Leipzig 1850 , S. 40 ff.
2*
12 TAFEL n.
gemacht, dass die seitwärts abstehenden und wie schon angegeben abgebrochenen Enden
der hinten zusammengeknüpften Kopfbinde wohl darauf fahren können, die Statue habe
die eben umgelegte und zusammengeknüpfte Binde mit beiden Händen angefasst gehalten,
sie sei ein Diadumenos gewesen. Es war das bekanntlich ein beliebtes und in der That
sehr schönes Motiv der antiken Kunst.* Wer nun mit Friederichs die Florentiner Statue
und ihre Wiederholungen für den Doryphoros des Polyklet hält, wird bei diesem ver-
wandten Kopfe vielleicht auch an den Diadumenos des Polyklet * denken wollen. Ich kann
das nach dem Gesagten nicht. Uebereinstimmend mit der früher famesischen Statue, die
jetzt im britischen Museum ist und die man herkömmlicher, desshalb aber nicht berech-
tigter Weise noch auf Polyklets Original zurückzuführen pflegt,* ist unser Kasseler Kopf,
so weit ich mich bei freilich ungenügenden Hülfsmitteln im Augenblicke überzeugen kann,
keineswegs.* In der Antikensammlung des Baron de Janz^ zu Paris befand sich , jetzt
wohl im Cabinet des m^dailles daselbst, eine kleine Bronze eines Diadumenos, sehr ver-
wittert, aber sehr anmuthig in der Bewegung. Ich habe sie nach einer sehr ungenügenden
Vorlage in einem andeutenden Umrisse auf dem Titelblatte dieser Arbeit abbilden lassen,
weil sie den bei der Bewegung des ümbindens sich leise seitwärts und noch vom über
neigenden Kopf, so wie der Kasseler bewegt ist, zeigt. Ich erwähne endlich noch, dass
nach Benndorfs Mittheilung, der mir auch einen Gipsabguss zur Vergleichung gebracht
hat, sich in Steinhäusers Besitze ein leider im Gesichte stark verstümmelter Marmorkopf
befindet, welcher nicht genau aber doch so sehr mit dem Kasseler übereinstimmt, dass an
einem Zusammenhange beider nicht zu zweifeln ist. Eine Veröffentlichang dieses Stein-
häuserschen Kopfes und eine Verfolgung der hier sich eröffnenden Fragen dürfen wir dem-
nächst von Benndorf ^ erwarten.
1) Ich nenne nur zwei attische Darstellungen: *0 tikTs 6 uva^ov^ivog tmvU^ ttjv xeif.aX^y von
Phidias in Olympia (Paus. VI, 4, 5,) und der ^tioXIcdv (ivaöovfiivos ratvftf xriv xofirir am Arestempel in
Athen (Paus. I, 8, 5).
2) Plin. n. h. 34, 55. Lucian Philopseudes 18.
3) Overheck Gesch. der griech. Plastik I, S. 308. Triqueti (the fine arts quarterly review 1865,
S. 215) hat mit seinen nicht sehr zutreffenden Angahen keinen Beweis gefuhrt. Einige Vergleichungen
bei Benndorf und Schöne die antiken Bildw. des lateranens. Mus. S. 80 f.
4) Die mir von A. S. Murray mitgetheilten Maasse des Kopfes der ehemals famesischen Statue
stimmen nicht mit denen des Kasseler Kopfes überein.
APOLLOSTATÜE DT ATHEN. 13
Tafel TLX-\r (VT- VIII),
Apollostatue in Athen.
Die auf Taf. III — V in drei Ansichten abgebildete männliche Statue von weissem,
wahrscheinlich pentelischem Marmor ist bei der Fortsetzung der von Stark so glücklich
begonnenen Ausgrabung des Dionysischen Theaters zu Athen gefunden, sehr zertrünmiert
zwar, doch hat sich aus den Stücken die ganze Figur bis auf die Unterarme und Hände
und bis auf die Füsse und einige kleinere Schäden wieder zusammensetzen lassen. Die
verschiedenen Brüche und fehlenden Stücke der Figur hat Benndorf auf meine Bitte
folgendermaassen verzeichnet: Gebrochen ist der Hals dicht unter dem Kinne, der rechte
und linke Oberarm, der linke Oberschenkel zwei Mal, der rechte sowohl als auch der
linke Unterschenkel beide auch zwei Mal. Die Nase ist mit einem Theile des Mundes
aus dem Gesichte offenbar auf einen Schlag, wahrscheinlich beim Sturze der schweren
Statue, herausgebrochen; sonst ist der Kopf bis auf einige Lockenenden gut erhalten.
Ganz fehlen die Unterarme mit den Händen und die Füsse, wie die Abbildung es zeigt;
auch der Geschlechtstheil ist abgebrochen. Ausserdem sind noch mehre kleinere Stücke
nicht wiedergefunden, ein* Stück am linken Schulterblatte, eins unter dem linken, ein
kleineres unter dem rechten Glutaeus, eins vom am rechten, ein kleineres am linken
Oberschenkel, eins in der Höhle des rechten Knies. Bemerkenswerth für die Richtung
der verlornen Armtheile ist der erhaltene Ansatz einer Stütze unter der linken Hüfte
(s. die Abb. Taf. IV und Taf. V, n. 1) und ein gleicher unter der rechten Hüfte. Am
rechten Beine zieht sich femer seitwärts nach aussen, doch ein wenig nach hinten zu,
wie Taf. V, n. 3 besser noch als Tafel IV zeigt, ein langer schmaler abgebrochener
Ansatz hinunter, wie von einem Attribute, das die rechte Hand gehalten haben könnte,
oder von einer zu einem solchen Attribute hingehenden Stütze.^
1) Höhe der Figur die fehlenden Püsse mit veranschlagt etwa 1,76 M. Der Körper hat über
7 Kopflängen. Abstand der innem Augenwinkel 0,035, der äusseren 0,09. Mundbreite 0,042. Längs-
durchmesser des Schädels 0,21. Abstand der Ohrläppchen von einander 0,123. Abstand der Brust-
warzen 0,293. Von der Kommissur des Schlüsselbeins bis zum Nabel 0,403. Vom Nabel bis zum obem
Bande des Schamhaars 0^15. Brustbreite von Achselhöhe zu Achselhöhe c. 0,87. Vom Nabel zur linken
14 TAFEL in— V (vi — VIIl).
Die erste Nachricht vom Funde der Statiie gab Pervanoglu im Bull, dell' inst, di
corr. arch. 1862, S. 168 f.; er sagt, sie sei in elf Stacken zusammengesucht Yer-
muthungsweise f> er hinzu, dass ein auch bei denselben Ausgrabungen im Theater
gefundener Omphalos die Basis der Statue gewesen sein könne. Dieser Omphalos, mit
Binden dicht überdeckt, ist oben platt abgeschnitten und dient« sicher als Basis för eine
Statue und zwar gewiss eine stehende nackte männliche; das zeigen unzweifelhaft die auf
seiner oberen Fläche erhaltenen Ueberreste und Spuren zweier Füsse (s. Taf. V, 2). Es
lässt sich auch erkennen , dass von beiden Füssen der rechte der des Standbeins der Figur
war. Dieses und auch die .Grösse der Fussspuren auf dem Omphalos, so weit sie sich
noch messen lässt, stimmt wohl zu der gefundenen Figur.
Der zweite Berichterstatter über den, wie man gleich Anfangs in Athen sab,
interessanten Fund, U. Köhler, nimmt (Bull, dell' inst, di corr. arch. 1865, S. 134)
nach neuer Untersuchung der betreffenden Stücke Pervanoglus Vermuthung, die gefundene
Figur habe ursprünglich auf dem Omphalos gestanden, als sicher richtig an. Auch
Benndorf, der später auf meine Bitte die inzwischen in dem Theseustempel unter-
gebrachten Originalstücke darauf ansah, erklärte den Marmor von Omphalos und Statue
für allem Anscheine nach denselben und die Zusammengehörigkeit als nicht zu bezweifeln.
Ist dem nun wirklich so, so gehört der lange schmale Ansatz am rechten Beine der
Statue sicher zu keinem etwa zur Seite als Stütze angebrachten Baumstamme; denn von
einem solchen ist auf der hier unversehrten Oberfläche des Omphalos an dieser Stelle
neben dem rechten Fusse keine Spur. Die Oberfläche des Omphalos (s. die Abb. Taf. V, n. 2)
ist sonst um den linken Fussrest her durch spätere Zerstörung angegriffen; in einem
horizontalen walzenförmigen Loche soll noch der Best eines eisernen Dübels festsitzen.
Die zwei erwähnten Berichte in Bullettino des archaeol. Instituts, namentlich der
von Köhler, Hessen eine kunstgeschichtliche Wichtigkeit der gefundenen Statue nicht
verkennen. Darauf hin gelang es unter Betheiligung der Museen zu Berlin, München,
Qöttingen, Bonn, Dorpat, Breslau und Halle für alle diese Sammlungen einen Abguss der
Statuenfragmente sammt Omphalos zu erhalten.^ Bei der Zusammensetzung im Hallischen
Museum folgte ich der Annahme, dass die Statue auf dem Omphalos gestanden habe, wie
auch Taf. V, 1 zeigt. Dieser Versuch hat mir diese Annahme auch nur wahrscheinlicher
gemacht. Bei der Aufstellung des Gipses im Berliner Museum hat man dagegen Figur
und Omphalos getrennt gelassen und das ist zuzugeben, dass eine volle durch äussere
Umstände erwiesene Sicherheit für die Zusammengehörigkeit nicht vorhanden ist.
Namentlich darf Köhlers Ausdruck, der Omphalos sei nahe bei der Figur gefunden
worden,* nicht dafür geltend gemacht werden. Der Vorsteher der Alterthümer in Athen
Brostwarze 0,283. Ebenso zur rechten Brustwarze 0,264. Oberschenkel bis auf die Höhe der Kniescheibe
c. 0,55. Unterschenkel Ton da bis auf den innem Knöchel c. 0,46. Linker Oberarm c. 0,385 M.
1) Ein Abguss ist jetzt auch zu Wien im oesterreich. Museum für Kunst und Industrie.
2) a. a. 0. „easendosi rinyenuto ridno ad essa un onfalo."
APOLLOSTATUB IN ATHEN. 15
Eustratiadis hat mir vielmehr auf meine Anfrage durch Postolakkas mittheilen lassen , der
Omphalos sei ausserhalb der Orchestra zwischen den parallelen Mauern der westlichen
Parodos, die Statuenstücke dagegen seien hinter den mittleren Inschriftsesseln , beide Theile
also doch in einigem Abstände von einander, aufgegraben. Dieser Fundbericht giebt also
keinen bestimmten Grund für die Zusammengehörigkeit, aber auch meines Erachtens
keinen Grund dagegen ab. So viel steht fest, auf dem Omphalos stand aufrecht eine
nackte, männliche Gestalt mit einer Fusssetzung wie unsre Statue sie gehabt haben muss,
und das war denn doch gewiss ein ApoUon. Stand unsre Statue darauf, so haben wir für
diese ihre Bedeutung ab ApoUon durch das Stehen auf dem Omphalos besonders gut
beglaubigt. Der heilige Erdnabelstein in Delphi, mit den geknüpften Binden überdeckt,
ist jetzt längst etwas ganz Geläufiges in Eunstdarstellungen; sitzend auf ihm zeigen den
ApoUon als Delphischen Gott ausser verschiedenen Vasenbildern zwei Statuen in Neapel^
und in ViUa Albani.* Einen auf dem Omphalos stehenden ApoUon lerne ich dagegen
ausser dem hier vorliegenden Beispiele aUein erst aus dem neuen Hefte der MüUerschen
Denkmäler d. a. K. in Wieselers Bearbeitung* kennen, wo der Gott offenbar in Nach-
bUdung eines alterthümUchen Idols auf einer unter Faustina geprägten Münze der Stadt
Tarsos so erscheint. Wichtig ist es nun aber weiter, dass, auch wenn man die Zusam-
mengehörigkeit der Statue und des Omphalos als unerweissUch leugnen woUte, dennoch
die Statue ein ApoUon bleibt. Dafür spricht namentUch der umstand ^ dass auf einem
Kapitolinischen, in älterem Stile gehaltenen BeUef* unter der Götter Versammlung , die
den Thron des Zeus umsteht, sicher ApoUon gerade mit derselben auffallenden Eopftracht
wie die neugefundene Statue vorkommt. Bei einiger Ueberlegung wird man auch das
noch zugeben, dass, sobald die Statue als ApoUon an sich schon beglaubigt ist, ihre
Zusammengehörigkeit mit dem nicht aUzu entfernt gefundenen Omphalos, auf dem ein
ApoUon in übereinstimmender BeinsteUung gestanden haben muss, von welchem aber
sonst kein Stück zum Vorschein gekommen ist, nur aufs Neue wahrscheinUcher wird.^
ApoUon steht hier vor uns als das GötterbUd einer Zeit , die noch an kraftvoUeren,
aber freiUch auch weniger geistig belebten und erregten Idealen hing, als die Diadochen-
zeit, welche das Original eines belvederischen ApoUo hinsteUte. Der heute meist mehr
mit der des späteren Griechenthumes übereinstimmenden Geschmacksrichtung kommt in
dieser feierUch stiUen Gestalt wohl etwas sehr Fremdartiges entgegen; aber so eigen-
thümlich das Werk ist, so meisterhaft ist es, und dass es auch im Alterthume Berühmt-
1) Museo Borb. Xlil, taf. 41. Clarac mnsee de scnlpt 485, 937.
2) Beschr. Roms III, 2, S. 509. MüUer-Wieseler D. d. a. K. H, n. 137.
3) Koch nicht ausgegeben. Taf. H. n. 12.
4) Braun Vorschule der Eunstmythologie taf. 5. Kekule im bull, dell* inst, di corr. arch.
1866, S. 71.
5) Der Omphalos mit der eingedrückten Spur eines Fusses darauf im Lateranensischen Museum
bleibt mir ein Käthsel. Benndorf und Schone die ant. Bildw. des later. Mus. S. 305, n. 439,*
Taf. XI, 1. 2.
16 TAPEL m — V (vi— VIIl).
heit erlangte, beweisen noch zwei Wiederholungen^ desselben, die eine im Kapitolini-
schen (Taf. Vn),* die andre im britischen Museum (Taf. VI).' Die letztere ist jene
auch schon inmier als Apollo bezeichnete Statue, welche in Mitten des phigalischen
Saales steht; sie röhrt aus Choiseul-Gouffiers in Konstantinopel zusammengebrachter
Sammlung her und ist also wahrscheinlich im griechischen Osten gefunden, während die
Kapitolinische Statue doch wahrscheinlich auf römischem Boden ans Licht gekommen sein
wird. Das Exemplar in London von vortrefflichem parischem Marmor ist das beste,
von schöner Arbeit und am vollständigsten erhalten; namentlich sind an ihm die den
beiden andern Wiederholungen fehlenden und hier erstaunlich naturwahren und sehr
wohlgeformten Füsse * noch vorhanden ; auch ist im Gesichte nur die Nasenspitze ergänzt
Die Arme dagegen sind ziemlich ebenso verstünunelt wie an den beiden andern Exem-
plaren , nur der linke ist wenigstens noch bis gegen die Handwurzel hin und in seiner
Verbindung mit der hier an derselben Stelle wie am athenischen Exemplare vorhandenen
Stutze erhalten. Zur Seite des rechten Beines steht hier als Stütze ein Baumstamm.
An diesem Baumstamme nach Aussen hin läuft Etwas wie ein oben leise gekrümmter
Stab hin.^ Seitwärts unter dem linken Knie ist auch noch die Spur eines Ansatzes,^
die auf irgend ein Attribut in der linken Hand fuhrt. "^ Das dritte Exemplar im Kapito-
linischen Museum hat den geringsten Werth. Am Kopfe ist die Nase und zwar besonders
unpassend als Adlernase ergänzt, letzteres gewiss unter Einfluss der alten verkehrten
Benennung solcher Köpfe und Statuen, welche für Ptolemaeer galten. Die Arme fehlen
beide vom Ellbogen an, auch die Beine von unterhalb der Kniee abwärts. Ihre Ergän-
zung auf der Abbildung wiederzugeben schien überflüssig. Der Ergänzer hat neben das
1) Messungen des athenischen Exemplars (s. oben S. 13, Anm. 1) habe ich am Abgösse gemacht,
von dem Londoner Exemplare verdanke ich sie A. S. Mnrray und Michaelis, von dem Kapitolinischen
Heibig. Diese Messungen von verschiedenen Händen, mit verschiedenen Instrumenten gemacht, eignen
sich nicht zur Mittheilung hier, was ein Mangel bleibt. Dass aber alle drei Exemplare als Wiederholungen
desselben Originals in derselben Grösse anzusehen sind , zeigen sie jedenfalls zur Genüge.
2) Clarac musee de sculpture 862, 2189. Auf den Kopf zu Winckelmanns ges. Werken Tafel 22
machte mich zuerst Wieseler aufmerksam.
3) Specimens of antient sculpture II, taf. 5. EUis Townley Gallery I, S. 194. Waagen Eunstw.
und Künstler in England I, S. 104.
4) Der linke Fuss ist etwas länger als der rechte. Leider sind die Fussspuren auf dem Omphalos aus
Athen zu sehr zerstört, um aus den allerdings wohl ungefähr passend scheinenden Massen der Füsse des Lon-
doner Exemplars eine feste Beweishülfe für die Zusammengehörigkeit von Figur und Omphalos zu gewinnen.
5) Michaelis denkt in seinen vor der Statue genommenen und mir mitgetheilten handschriftlichen
Notizen an einen schmalen Lederriemen, vielleicht von einer Kithar. Einer solchen scheine vom an dem
Baumstamme ein leise gekrümmter Gegenstand, wie eine Schildkrötenschale etwa, als üeberrest anzu-
gehören. Das Hom wäre dann von Bronze gewesen oder mit Bronze angesetzt; wenigstens stecke noch
ein Zapfen oben in dem Ueberreste.
6) Am athenischen Exemplare nicht vorhanden.
7) Ellis a. a. 0. S. 195: The left seems to have held a bow, which has been in contact with
the leg on that side.
APOLLOSTATUE IN ATHEN. 17
rechte Bein einen Baumstamm , wie er am Londoner Exemplare alt erhalten ist, gestellt;
ob ihn dabei eine Spur an dem anstossenden alten Stücke des Oberschenkels leitete, ist
nicht zu ersehen. Ich erinnere hierbei an den an entsprechender Stelle vorhandenen
Ueberrest am Beine des athenischen Exemplars, welcher dort, wenn anders die Figur auf
dem Omphalos stand , wie wir sahen , nicht von einer Baumstammstütze herrühren kann.
Von den erhaltenen drei Wiederholungen der Statue ist vermuthlich keine das
Original , trotz aller Meisterschaft der Hand an dem athenischen und Londoner Exemplare.
Wenn man aber nach der Zeit der Entstehung des Originals fragt , um das sichtlich höchst
eigenthümliche Werk im Zusammenhange der kunstgeschichtlichen Entwickelung besser
zu verstehen — ohne das bleibt jedem Beschauer allerlei Seltsames und die befriedigende
Betrachtung Störendes — so haben gleich die ersten Berichterstatter stark ausgesprochene
alterthümliche Züge im Ganzen und Einzelnen nicht verkannt. Dabei ist die Arbeit aber
doch wieder eine meisterhafte, namentlich in Bezug auf die Behandlung des Nackten.
Alterthümlich ist die fast etwas unbeholfene Art, wie die Figur auf die Füsse gesetzt
ist, alterthümlich ist etwas Eckiges in der Formenbildung, alterthümlich die Anordnung
und Ausführung des Haars. Es fällt nämlich vom Vorderkopfe in zierlich sich windenden
Locken lang in die Stirn herab, während es hinten sehr lang gewachsen in zwei Zöpfe
geflochten ist, die, der eine rechts herum, der andere links herum, wie eine Binde um
den Kopf gelegt und vorn mit einem eingeflochtenen Bändchen sauber zusammengeknüpft
sind. Es ist für die Formengeschichte lehrreich, genau dieselbe alterthümliche Haartracht
an zwei Marmorköpfen im Berliner Museum wiederzufinden (Taf. VIII , 1 a b und 2 a b).
An dem einen ^ (1 a b) ist die Sache noch mit Verständniss , wenn auch nicht mehr mit
der auch auf das Kleine Gewicht legenden Sauberkeit und Liebe altgriechischer Technik
gearbeitet; das Gelock ist schon etwas modernisirt und gar im Gesichte ist der alter-
thümliche Typus ganz verschwunden; Letzteres ist noch mehr der Fall an dem zweiten
auf dem Aventin gefundenen ^ Kopfe (2 ab), wo auch das Gelock noch freier geworden
ist, und die Haarflechte nur mit der grossesten Oberflächlichkeit, kaum als Haar noch
gehörig zu verstehen, gemeisselt ist Es sind die letzten verhallenden Nachklänge alter
Vorbilder in den Duzendarbeiten römischer Zeit Alterthümlich ist weiter an dem Apollo
auch das in etwas steifer Begelmässigkeit gelockte und zu einer oben gradlinig abge-
schnittenen Masse zusammengehaltene Schamhaar. Entschieden alterthümlich ist endlich
das etwas todte, wenn auch in den Formen z. B. der Wangen sehr fein behandelte
Gesicht mit den schmal geschlitzten Augen. Doch ist hier zu bemerken , dass das Gesicht
des Londoner Exemplars vollendeter durchgebildet erscheint, und auch an dem Kapito-
linischen Exemplare lässt die Abbildung einige Abweichung im Gesicht veimuthen. Die
erwähnte Meisterschaft in der Darstellung des Nackten zeigt sich dagegen überall , besonders
hervorstehend aber am linken Beine des athenischen Exemplars mit den so schwierigen,
1) n. 175. Vergl. Friederichs in Gerhards arch. Anz. 1865, S. 61*.
2) Bull, dell' inst, di corr. arch. 18G6, S. 71. Heibig kaufte ihn bei Martinetti für das Berliner Museum.
Conzo Beitrftge zur Gesch. der gricch. Plastik. 8. Aufl. 3
18 TAFEL 111 — V (vi — Vin).
hier aber tadellos behandelten Formen des Knies. Hierfür hat mir Launitz noch beson-
ders die Augen geöffnet. An dem Londoner Exemplare sind die Füsse bewundemswerth.
Der ganze Körperbau ist ausserordentlich kräftig , die Schultern breit und wenig abfallend,
sondern von vom gesehen mit dem Schlüsselbeine eine ziemlich starre grade Linie
bildend, der Brustkasten ladet nach vorn gewaltig aus, stark ist die Muskulatur der
Brust wie der Arme und einzelne Hauptadern liegen mit strotzender Fülle deutlich zu
Tage. Hinten treten die Glutaeen mächtig heraus und über ihnen zieht sich der ausser-
ordentlich kräftig durchgebildete Kücken zu einem sehr hohlen Kreuze ein. Es ist durch-
aus ein Ideal männlicher Körperschöne voll gewaltiger Kraft und Mächtigkeit des Baus,
auf dem nun der verhältnissmässig nicht grosse Kopf noch um so kleiner erscheint In allen
diesen Dingen sehe ich Nichts als charakteristische Eigenthümlichkeiten altgriechischer
Kunst und ich halte das Original dieser Statuen für ein so echt altgriechisches Werk
aus der Zeit nahe vor der Entwickelung attischer Kunst zu Phidiasschen Leistungen,
wie nur die Aigineten sein können, deren Verschiedenheit in mancher Beziehung ich
darum zwar nicht verkenne, die aber zunächst doch auch dieselbe, wenn auch viel mehr
ins Einzelne gehende Meisterschaft des Wissens und Könnens in der nackten Form neben
allerlei alterthümlichen Seltsamkeiten zeigen. Da es eine grosse Wahrscheinlichkeit
hat, dass die Athener in ihrem Theater, wenn sie ein älteres Werk wiederholten, ein
attisches aus ihrem reichen Vorrathe wählten, so können wir uns so weit für berechtigt
halten, dieses Original der älteren attischen Kunst zuzuweisen. Nun trifft es sich eigen-
thümlich, dass namentlich die Art der Haaranordnung am Vorderkopfe sich ausserordentlich
ähnlich an einer Statue findet, die ich wie auch wohl Andre schon längst für die Kopie
eines altattischen Werkes gehalten habe, nämlich an der sogenannten Giustinianischen
Vesta, die freilich durchaus nicht nothwendig grade eine Vesta zu sein braucht.^ Die
ehemals Giustinianische , jetzt Torloniasche Statue theilt mit dem Apollo aus Athen und
seinen Wiederholungen auch das noch etwas gleichmässige Aufstehen auf beiden Beinen,*
was an der weiblichen ganz bekleideten Figur jenen vielbesprochenen graden Faltenfall des
Gewandes hervorruft. Wenn nun bei den Beschreibungen einer Sosandra von Kaiamis, wie sie
1) Was man für eine zum Zwecke der Charakterisirung einer Hestia vom Künstler gewählte
Kunstform halt (s. noch Friederichs Berlins antike Bildw. I, S. 97 n. 80) halte ich für den Stil der Ent-
stehungszeit. Altertliümliches Unvermögen wäre ein zu starker Ausdruck dafür ; „ der Künstler dachte sich
nur die Götter noch nicht schmeichelnd und gefällig, sondern ernst und streng." Belehrte uns irgend
ein Umstand über die Bedeutung der Statue , und müssten wir sie danach beispielsweise für eine Aphrodite
halten, so würde vielleicht Friederichs Urtheil so ausfallen, wie das über die Pallas in der Metope von
01}'mpia (a. a. 0. I, S. 131); da findet er den Charakter der Figur nicht ganz passend für Pallas, erklärt
sich ihn aber durch die Kunststufe des Werks.
2) [Ich wusste , als ich dieses schrieb , sehr wohl , was Kekule in seiner Rezension a. a. 0. S. 88
hervorhebt, dass der linke Fuss ein wenig nach hinten zurückgesetzt unter dem Gewände hervor sichtbar
gemacht ist Auch an der Apollostatue kann man ja allerdings ein Standbein und ein Spielbein unter-
scheiden; dennoch ist nicht entschieden das Gewicht der ganzen Figur auf das Standbein gelegt und das
ist auch bei der Torloniaschen Statue nicht geschehen.]
APOLLOSTATÜE IN ATHEN. 19
namentlich Lukian^ gegeben hat, mir immer sofort die Giustinianische Statue von Augen
tritt,* so darf man im Wege vermuthungsweiser Kombination wohl weiter daran denken,
dass grade Kaiamis auch eine oder mehre Apollostatuen gearbeitet hatte. Der sogenannte
ApoUon Alexikakos des Kaiamis stand im Kerameikos zu Athen, ein ApoUon des Kaiamis,
dieser aber kolossal, war von Lucullus aus ApoUonia in Pontus weggeführt und in Kom
auf dem Kapitole aufgestellt.^ Es soll nur eine Vermuthung sein, die ohne weitere Unter-
stützung vielleicht werthlos bleibt, selbst wenn sie das Richtige getroffen haben sollte,
dass jener mit einem delphischen Spruche in Verbindung gesetzte * Alexikakos das Original
der auf dem delphischen Nabelsteine stehenden im athenischen Theater gefundenen Statue
und ihrer Repliken gewesen sei. Ich betone ausdrücklich, dass wir das Recht haben,
bei einer mehrfach im Alterthume kopirten Figur an ein bedeutendes Original zu denken,
ohne darum in die früher beliebte Verkehrtheit zu verfallen, allüberall in erhaltenen
antiken Kopieen auch in der schriftlichen Ueberlieferung genannte Originale zu wittern.
Dass auf die Stellung des Kaiamis in der Kunstgeschichte die Eigenheiten wie der
Giustinianischen Statue so auch unsres Apollo nach allem, was wir wissen, wohl passen,
wird man zugeben und damit eine wenigstens annähernde Richtigkeit der versuchten
Zurückführung auf jenen Künstler. Meisterschaft mit noch nicht ganz abgestreifter Befan-
genheit werden im Kaiamis sich vereinigt haben. Er war gewiss einer von den tüchtigen,
aber beschränktem Künstlern, über die Phidias hinwegschritt, wie Raphael über Francia,
die selbst die neuen Bahnen nicht mehr aus ihrer Weise heraustretend nachfolgend
beschreiten konnten, wie Perugino aus seiner Manier durch seinen grossen Schüler nicht
mehr aufgestört vnirde.
Ich habe meine Beurtheilung der fraglichen Statuen , die jedenfalls ihren Platz in
der Kunstgeschichte verlangen, bis zur, ich gestehe es, gewagten Vermuthung ausge-
sprochen. Mögen wir nun aber einen ApoUbn nach Kaiamis vor uns haben oder nicht, das
halte ich fest, dass das Original dieser Statuen in die Region des Kaiamis gehört, dass
es ein in den Kopieen im Wesentlichen mit Treue wiedergegebenes Werk des griechischen
Quattrocento sozusagen ist. Aber auch dieses allgemeiner gehaltene Resultat wird nicht
von Allen gebilligt werden; Köhler hat bei seiner Beschreibung von einer archaistischen
Arbeit gesprochen, archalsirend habe ich sie sonst nennen gehört und Angesichts des
athenischen Originals hat man die Originalität des Stils vermisst. Hier muss ich dem
ürtheile Anderer , dem mit der Zeit sich jedenfalls noch mehr zuschärfenden Blicke die
Entscheidung lassen; so weit ich bis jetzt sehe, kann ich an eine Entstehung der bespro-
1) Imagg. 6. s. Blümner archaeol. Stadien zu Lncian, S. 7 ff.
2) In verwandter Anschauungsweise hat Friederichs (Berlins antike Bildw. I , S. 36.) bei der sog.
Penelope im Vatikan an Ealamis erinnert. Der Hermes Kriopharos in Wiltonhouse ist in keiner Weise
geeignet über den Stil des Kaiamis Aufschluss zu geben.
3) Die Stellen bei Overbeck die antiken Schriftquellen zur Gesch. der bild. Künste bei den
Griechen S. 95.
4) Paus. I, 3, 3.
3*
20 TAFEL ni — V (vi — VIIl).
ebenen Statue in spätgriechischer oder römischer Zeit als Product eines Studiums älteren
Kunststils nicht glauben. Es erscheint mir Alles echt und alt aus einem Gusse, im
Ganzen und im Einzelnen, die Wirkung der Eopistenhände natürlich abgerechnet; wollte
man Mangel an Harmonie finden, so dürfte man daraus nicht Arbeit in einem der Zeit
des Künstlers fremden Stile herauslesen wollen^ es wäre dann eben der leise Mangel
einer Zeit, die in der Kunst noch erst dicht vor der Vollendung stand. Aber Eins, so
wird mir Mancher entgegnen, ist doch unvereinbar mit so früher Datirung, Eins zeigt
doch, dass die Figur erst in der Zeit nach Alexander und nur mit Anklängen an alte
Werke gemacht wurde; das ist der verhältnissmässig so sehr kleine Kopf. An dem
Pliuianischen Satze (n. h. 35, 65) statuariae arti (Lysippus) plurumum traditur contulisse
— capita minora faciendo quam antiqui pflegte man wenigstens lange in gutem Glauben
ein jedes Werk zu messen, ob es vor- oder nachlysippisch sei. Die allerdings am
Lysippischen Apoxyomenos, am Herakles Farnese und andern spätem Werken vorhan-
denen kleine Köpfe galten für eine Bestätigung jenes Satzes und far etwas jener spätgrie-
chischen und dann der römischen Zeit ausschliesslich Eigenthümliches. Und doch hat man
ziemlich einstimmig die Wiederentdeckung* der Statuen des Harmodius und Aristogeiton
von Kritios und Nesiotes in den Neapler Kopieen gutgeheissen , Statuen, die denn doch
lange vor Lysippus entstanden und die zugleich doch zu den kleinköpfigsten Antiken
gehören. Da haben wir also, was zunächst unsern Apollo betrifft, ein Beispiel klein-
köpfiger Proportion an einem Werke altattischer Künstler, Zeitgenossen des Kaiamis.
Auch die von uns mit Kaiamis in Verbindung gebrachte „ Giustinianische Yesta'^ hat
etwa acht Kopflängen; das Kopftuch macht es nur weniger auffallend. Der Apoll von
Tenea, den man als ein sehr altes Werk nicht anfechten wird, hat ebenfalls einen sehr
winzigen Kopf, der hier nur durch die grosse Haarmasse weniger auffällt. Auf andre
Beispiele, die eben nur der kleine Kopf hat falsch chronologisch bestimmen lassen,
führt uns die Besprechung der folgenden Tafel. Ausserdem mögen hier nur noch die
beiden sehr kleinköpfigen Athleten auf dem Diskus aus Aegina im Berliner Museum'
erwähnt sein, die Niemand in nachlysippische Zeit wird herabrücken wollen und schliess-
lich ist noch Eins sehr wichtig: man mustere die älteren Yasenbilder, namentlich die
Vasen sogenannten strengen Stils mit thonfarbigen Figuren; da wird man ein entschie-
denes Vorherrschen kleinköpfiger Proportionen finden. Figuren von 8 bis 9 Kopflängen
sind auf diesen Vasen häufig ; auf der Berliner *Vase mit dem Morde des Aigisthos ' sind
sogar über 9 Kopflängen zu messen. Als auch sonst stilistisch mit unserer Apollostatue
übereinstimmend will ich noch besonders nennen den „Achill" auf einem Krater aus Gir-
1) Friederichs in Gerhards arch. Zeit. 1859 S. 65 ff. Berlins antike Bildw. I, S. 81 ff. n. 24. 25.
Benndorf Ann. dell' inst, di corr. arch. 1867. S. 304 ff.
2) Ann. delF inst, di corr. arch. 1832, tav. d'agg. B und bei Ed. Finder über den Fünfkampf
der Hellenen zu S. 96.
3) Ann. dell' inst, di corr. arch. 1853 , tav. d*agg. H. Overbeck Gall. her. Bildw. Taf. XXVm, 10.
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APOLLOSTATCE IN ATHEN. 21
geuti^ von etwa 8 Kopflängen und den Apollon auf einer grossartigen Vase mit dem
Kampfe des Gottes gegen Tityos.* Ich bin nicht der Meinung, es seien auf solchen
Vasenbildem genau bis ins kleine berechnete und beabsichtigte Proportionen dieser Art
zu suchen; auch stellt sich auf der gebogenen Fläche eines Gefässes die Sache dem Auge
etwas milder dar, als wenn die Figuren in die flachen Abbildungen übertragen sind. Aber
das ist unleugbar und sehr wichtig auch für die Untersuchung der Proportionen plastischer
Werke, dass eine Richtung auf sehr kräftige, breitbrüstige, muskelentwickelte Körper
aber mit kleinen Köpfen durch diese Vasenbilder, die in runder Zeitsumme zwischen den
persischen und peloponnesischen Krieg zu setzen sind, hindurchgeht. Wenn die Vasen-
bilder des sogenannten strengen Stils nun , wie eben gesagt , zu datiren sind , wenn sie den
Formen ihrer Inschriften nach bis gegen Ol. 86 reichen, so ist ihre stilistische Aehn-
lichkeit mit unserer Apollostatue wiederum sehr wohl im Einklänge mit unserer ver-
muthungsweise ausgesprochenen Zurückfiihrung dieser Statue auf Kaiamis oder ihrer
Datirung doch etwa um dessen Zeit
1) Mon. in. dell' inst, di corr. arch. I, Taf. 52. Vergl. Welcker alte Denkm. DI, S. 401 ff. und
Taf. 25, 1.
2) Mon. in. deU* inst, di corr. arch. I, Taf. 23.
22 TAFEL IX (X).
Tafel IX (X).
Marmorstatue in Petersburg.
Eine Marmorstatue in der Sammlung der kaiserlichen Eremitage zu Petersburg,
früher im Palazzo Soranzo zu Venedig befindlich, giebt uns neue Bäthsel auf, sei es, dass
wir deutend einen Namen für sie zu finden suchen, sei es, dass wir sie stilistisch zu
begreifen und an ihren richtigen Platz in der kunstgeschichtlichen Entwickelung zu stellen
versuchen. Für die Namengebung bleibe ich ganz rathlos; doch machen wir zunächst die
unerlässlichen äusseren Angaben.^
Die Statue ist von einem weissen, aber sehr vergilbten und fast alabasterartig
geschichteten Marmor gearbeitet. Sie ist offenbar lange vieler Unbill frei ausgesetzt
gewesen, trotz einer Menge von Beschädigungen aber doch ziemlich gut erhalten, nament-
lich ist, was besondere Erwähnung verdient, der Kopf niemals vom Bumpfe getrennt
gewesen. Verloren ist namentlich der rechte Unterarm von oberhalb des Ellbogens an;
er ist ergänzt, absurder Weise mit einem Griffel in der Hand, so dass der Ergänzer die
in die Höhe blickende Gestalt sich als einen in einer Art von poetischer Inspiration
begriffenen Schriftsteller gedacht zu haben scheint. Diese sinnlose Ergänzung habe ich
beim Formen der Statue für das Berliner und Hallische Museum wegfallen lassen und so
auch in der Abbildung. Schwierig ist es über den Zustand des linken Arms Rechenschaft
zu geben. Die Hand halte ich sicher fui antik, der Zeigefinger ist ungebrochen, die
andern vier Pinger sind sämmtlich angesetzt; im Inneren der Hand ist keine Spur von
einem Gegenstande, sei es von Marmor, sei es von Metall, den sie gehalten haben könnte.
Ist die Hand nun auch antik, so ist es doch fraglich, ob sie zur Statue gehörte. Der
Marmor hat zwar ein ähnliches Aussehen ^ aber jedenfalls ist die Hand mit einem ganz
modernen , etwas zu lang gerathenen Zwischensatzstücke (s. die Abbildung) an den antiken
Armstumpf der Statue erst angesetzt Er entsteht so die weitere Frage, ob, wenn sie
auch zur Statue gehörte, ihre etwas eckige Haltung so richtig getroffen ist. Bestimmt
1) Eopfhöhe etwa 0,19 ^' Abstand der Brustwarzen 0^205. Oberer Nabelrand bis Halsgrabe 0,33.
Von ebenda bis auf die rechte Brustwarze 0,20, bis auf die linke 0,215. Von ebenda bis auf den Ansatz
des Geschlechtstheüs 0,12. Abstand der Achselhöhlen 0,285. Oberschenkel c. 0,43. Linker Unterschenkel
bis auf den Innern Knöchel c. 0,375. Linker Fuss c. 0,22. Bechter Fuss c. 0,235.
MABHORSTATUE IM PETERSBURG. 23
in Abrede stellen möchte ich nicht, dass die Hand zugehörig und auch in richtiger
Haltung angesetzt ist. Neu ergänzt ist ferner die Nase (s. die Abbildung) und der im
Abgüsse wie in der Abbildung weggelassene Geschlechtstheil. Gebrochen war die Figur
an mehren Stellen. Der linke Arm war über dem Ellbogen gebrochen, ebenso das
rechte Bein in gleicher Höhe etwa mit dem obern Ende des Baumstamms, ferner das
rechte Bein hart unter, das linke dicht über dem Fussknöchel. Die Basis hat eine neue
Einfassung bekonmien; die Spitze des rechten Fusses und an ihr. wieder die grosse Zehe
sind angesetzt, der linke Fuss dagegen ist wohl erhalten. Die Füsse sind mit dem
antiken Mittelstücke der Basis in Eins, auch der Stamm und das rechte ünterbein, so
dass die Figur in ihrem ganzen Stande als echt alt anzusehen ist. Bei der Zusammen-
flickung sowohl des linken Arms als auch des rechten Beins ist jedesmal hinten eine
eiserne Klammer eingelassen, eingeflickt ist hinten ein grosses Stück auf der linken
Schulter, auf Arm und Schulterblatt hinüber greifend. Endlich muss die Statue einmal
hinten im Kücken mit einem Halter gegen eine Wand oder eine andre Stütze befestigt
gewesen sein; mitten im Rücken ist davon das nachher ausgeflickte viereckige Loch
geblieben. Vorn auf dem linken Schenkel, vielleicht auch am rechten, sehr deutlich aber
auf der Brust in der Herzgegend lässt der Marmor die Spuren von Kugeln , die auf die
Statue abgeschossen sind, erkennen.
Es ist zu vermuthen und auch die Kugelspuren würden damit besonders gut zu
reimen sein, dass die Statue aus dem griechischen Osten nach Venedig kam; wir wissen
aber nichts Sicheres darüber.
Dargestellt ist ein nackter Ephebe. Sein nach seitwärts in die Höhe gewandter
Blick kann auf die Annahme führen, er habe ursprünglich zu irgend einer andern Gestalt
in Beziehung gestanden. Höchst eigenthümlich ist die Haartracht; nach beiden Seiten
hängen volle Haarmassen in die Schläfen herab, hinten fällt das Haar in den Nacken,
oben auf dem Scheitel ist es nach vorn gestrichen und ganz vom zu einem Büschel
zusammengebunden, der in die Stirn herabfällt. Es ist eine von den in mannigfachen
Formen vorkonmienden reichen und zierlich zurechtgelegten Haartrachten auch des männ-
lichen Geschlechtes in altgriechischer Zeit, welche nach und nach, in Athen um die Zeit
des Perserkrieges, ausser Gebrauch kamen.
Schon diese Haartracht giebt der Statue etwas Alterthümliches , alterthümlich ist
aber auch der ganze Stil.^ Ich stehe nicht an in der Figur allerdings kein Original aus
altgriechischer Zeit — dazu ist die Arbeit zu leer — , aber eine getreue Kopie eines
Originals wiederum der älteren Kunst vor Phidias zu erkennen. Nicht mir zuerst ist
eine Verwandtschaft dieser Petersburger Statue mit jener Jünglingsstatue in Villa Albani*
1) Der Schenk auf der Vase mit Hectors Auslösung (Mon. in. deir inst, di corr. arch. VUI, Taf. 27)
und wiederum der jugendliche Mundschenk auf einer Trinkschale des britischen Museums (Otto Jahn über
Darstellung griech. Dichter auf Yasenbildem. Abh. der k. sächs. Ges. der Wiss. zu Leipzig YIII , Taf. YII)
erinnern mich immer stark an unsere Statue.
2) Ann. dell* inst, di corr. arch. 1865, tav. d'agg. D.
24 TAFEL IX (X).
aufgefallen , welche inschriftlich als die Arbeit des Stephanos , eines Schülers des Pasiteles,
bezeichnet ist. Diese Statue von der Hand des Stephanos, ausgeführt also allerdings erst
gegen Ende des letzten Jahrhunderts vor Chr. , halte ich im Widerspruche mit den meisten
ausgesprochenen Urtheilen nicht für ein nur mit Benutzung älterer Vorbilder in der Schule
des Pasiteles entstandenes Werk, sondern wie den Petersburger Epheben einfach für eine
Kopie einer altgriechischen Statue, von welcher ausser der von Stephanos gearbeiteten
auch noch eine Anzahl anderer Kopieen auf uns gekommen ist.
Diese Behauptungen verlangen eine etwas ausführlichere Darlegung. Was zunächst
die wenigen über die Petersburger Statue bisher laut gewordenen Ansichten betrifft, so
kann ich von einer früheren Besprechung derselben in der Bevue arch^ologique
(V, p. 557 ff.), wo auch ein ümriss aber ohne Angabe der Ergänzungen und stilistisch
entstellt (Taf. 101) gegeben ist, kurzweg ganz absehen. Der Katalog der antiken Skulp-
turen der Eremitage (2. Ausgab.e. 1«65. S. 37, n. 153) führt die Statue als dorischen
Epheben auf; das Haar sei das dorische Ephebenhaar. Ausserdem hat meines Wissens
nur Heibig einmal im Bull, dell' inst di corr. archeol. (1867, S. 128 f.) die Statue
erwähnt und sie für eine der Arbeiten der eklektischen Schulen erklärt, die bekannt durch
die Namen des Pasiteles, Stephanos und Menelaos im letzten Jahrhundert der Republik
und im ersten des Kaiserreichs in Thätigkeit waren. Heibig findet in der Statue die
Vereinigung archaischer und freientwickelter Elemente, welche den Werken dieser
Schulen eigenthümlich sei. Den Augen und dem Haare sei der alte Stil anzumerken,
andre Theile, wie die Kniee und der Hals Hessen das raf&nirte Naturstudium der spät-
griechischen Zeit erkennen. Hierauf will ich nur erwidern, dass die Vereinigung von
steifer Alterthümlichkeit in Haar und Gesicht und von einem nie übertroffenen Natur-
studium bekanntlich den Aigineten eigen ist, die Niemand späten eklektischen Schulen
zuweisen wird.
Es handelt sich hier nun aber um mehr als um eine Differenz der Ansichten
zwischen Heibig und mir in Bezug auf diese eine Statue; diese Differenz hat ihren Grund
weiterhin wieder darin, dass wir beide eine ganze Klasse von Kunstwerken verschieden
beurtheilen. Es ist die Klasse, welche sich für unsre Kenntniss als um einen festen
Mittelpunkt um jene Statue des Stephanos in Villa Albani schaart. Diese Albanische
Statue wird zum festen Mittelpunkte durch ihre schon erwähnte Inschrift; ^r^q^avog
IlaaiTelovg jua&rjTrjg htoEi. Kein Grund zum Zweifel, dass sie von einem Schüler des
bekannten Pasiteles, also gegen den Anfang der römischen Kaiserzeit gearbeitet wurde.
Dabei ist andererseits offenbar, dass sie in ihrer Eigenthümlichkeit sehr absticht gegen
die damals gewöhnliche Kunstweise, wie sie in der Diadochenzeit entwickelt nach Bom
übertragen war und wurde. Brunn hat in der Geschichte der griechischen Künstler
(I, S. 596 ff.) die Ansicht aufgestellt, Stephanos habe eine neue Musterfigur vielleicht
gradezu aus dem Polykletischen sogenannten Kanon , von dem die breite Brust geblieben sein
könne, aber mit Hinzufiigung der Lysippischen Proportionsänderung, der nach Maassgabe der
schon oben (S. 20) erwähnten Plinianischen Stelle der kleine Kopf entnommen sei, herstellen
MARMOBKOPP IN PETERSBURG. 25
wollen, das sei die Statue in Villa Albani oder die Statue dort sei doch wenigstens eine
Kopie nach einer solchen Musterfigur des Stephanos. Dieser von Overbeck in seine
Geschichte der griechischen Plastik (II, S. 270) aufgenommenen Ansicht wird dann
hinzugefügt, Stephanos müsse seine Absicht erreicht haben, die Figur müsse eine Muster-
figur geworden sein; denn wir besässen noch mehre Kopieen nach ihr. 0. Jahn hat
bereits mit Benutzung meiner Untersuchungen der Statue und ihrer Wiederholungen diese
Annahme zurückgewiesen (Berichte der k. sächs. Ges. der Wiss. 1861, S. 118). Es
sind bisher , von Repliken des Kopfes ^ abgesehen , fünf Wiederholungen der Statue des
Stephanos, diese selbst (A) eingeschlossen, bekannt geworden, eine im Billardo der
Villa Albani (B), eine im Lateran (C)*, eine im Museum zu Neapel (D) und eine im
Louvre (E). In Neapel ist sie mit einer weiblichen Gestalt zu einer Gruppe, die man
fiir Orestes und Elektra^ erklärt hat, zusammengesetzt, im Louvre ebenso mit einer
männlichen Figur. Das Exemplar B ist schlechter erhalten, aber besser gearbeitet und
echter altgriechisch, als das Exempljir A, wodurch wir namentlich genöthigt sind,
Stephanos einfach als Kopisten der betreffenden Statue anzusehen, ^s liegt auch über-
haupt kein Grund vor, die Entstehung des Originals anders als in wirklich frühgrie-
chische Zeit zu setzen. Was Brunn hauptsächlich bei seiner Beurtheilung der Statue
bestimmte, der sehr kleine Kopf, kann, wie schon 0. Jahn mir zugestanden hat und
wie ich bei Besprechung des Apollo aus dem athenischen Theater oben hervorgehoben
habe, nicht für eine nachlysippische Entstehungszeit geltend gemacht werden. 0. Jahn
scheint geneigt die. Neapler Gmppe als das Original anzusehen, aus dem Stephanos
seine eine Figur kopirt habe. Ich nehme als das Wahrscheinlichste an, dass die Figur
als Einzelfigur eine berühmtere altgriechische Arbeit war, die als solche von Stephanos,
der in des gelehrten Pasiteles Schule grade zu solchen Studien gefuhrt werden musste,
kopirt wurde, die auch andre Bildhauer kopirten (B C) oder sie, wie C und D zeigen,
mit andern Figuren zusamnjengesetzt zu Gruppen verwertheten. Der ursprüngliche Name
der Figur bleibt dabei ganz dahingestellt; sollte auch die Neapler Gruppe Orestes und
Elektra und die Pariser Orestes und Pylades darstellen sollen, so würden wir damit keines-
wegs genöthigt sein, für die Einzelfigur als ursprüngliche Bedeutung die des Orestes anzu-
nehmen. Es ist nun überhaupt von dieser Namenfrage abgesehen viel wahrscheinlicher, dass
ein altgriechisches Werk zu solchem Ansehen in römischer Zeit gelangte , als dass ein Pro-
duct der Schule des Pasiteles so vielbeliebt sollte geworden sein. Ich erwähne , dass auch
1) z. B. im Lateran (Benndorf u. Schöne die antiken Bildw. des Lateran. Mus. S. 95, n. 157).
Verwandte Köpfe in mehren Sammlungen müssen erst noch zusammengestellt werden. Zwei von Kekule
ann. deir inst, di corr. arch. 1865, S. 62 als Repliken genannt.
2) Benndorf u. Schöne die antiken Bildw. des lateranens. Mus. S. 29, n. 4G. Die übrigen
Exemplare bei 0. Jahn a. a. 0.
3) Genaue Wiederholungen dieser weiblichen Figur, eigentliche Kopieen, besitzen wir nicht; die
von 0. Jahn (a. a. 0.) angeführten sind nur freie Bearbeitungen des Motivs; stilistisch weichen sie alle ab.
Conze Beiträge zur Gesch. der griecb. Plastik. 2. Aufl. 4
26 TAFEL IX (x).
Friederichs ^ bereite zugegeben hat , dass Stephanos ein altes Original kopirte ; den Charakter
einer Kopistenarbeit trägt sein Werk durchaus auch an sich: Trefflichkeit im Ganzen,
Leerheit und Armuth im Einzelnen, in allen Formen wie im Gesichte. Der Vergleich mit
dem Exemplare B, welches eine Menge von ursprunglichen Schönheiten bewahrt, die
Stephanos gar nicht wiedergegeben hat, wird das bei jeder genauen Betrachtung nur
augenfälliger machen. Ich kann mich in dieser Auffassung nicht beirren lassen durch
den sorgfältigen und durchdachten Aufsatz von Kekul^ (Ann. deir inst, di corr. archeol.
1865, S. 55 ff.), welcher das Original der Arbeit des Stephanos, den auch er mit Beirath
von Künstlern nur für einen Kopisten halten kann , dem Lehrer Pasiteles zuschreiben möchte.
Ich sehe auch für diese Annahme keine Wahrscheinlichkeii Die Neapler Gruppe halte auch
ich mit Kekul^ für ein spätes Erzeugniss einer wenigstens der des Pasiteles verwandten
Kunstwerkstatt, an der weiblichen Figur in dieser Gruppe hat Stephani* die Spuren römi-
scher Kunst zu finden geglaubt, aber die männliche Figur in ihr ist nach meiner Ansicht
eine altgriechische, zu der Zusammensetzung mit der Frauengestalt hier benutzt, wie
zur Zusammensetzung mit einer männlichen Figur in der Pariser Gruppe. Ich behaupte,
es ist keine nur aus einem Vermischen verschiedener Stile erklärliche Disharmonie in
der ganzen Gestalt und in der stilistischen Eigenthümlichkeit ihrer Theile, es wäre
höchstens jenes Etwas von Disharmonie , das jede Epoche des Werdens vor der Vollen-
dung in Natur und Kunst mit sich bringt. Eine hohe nur durch die Kopistenhände
geschmälerte Meisterschaft im Nackten geht Hand in Hand mit einer gewissen Eckig-
keit der gleichsam noch nicht ganz gelösten Bewegung und mit einem wenig ent-
wickelten Gesichtsausdrucke, ganz wie auch sonst in altgriechischen Werken, die auffal-
lende Proportion des gewaltigen Baus im ganzen Torso zusammen mit dem winzigen Kopfe,
so dass die Gestalt Beides, Kraft und Schlankheit im höchsten Grade jedes einzeln aus-
gesprochen, aber noch nicht wirklich verschmolzen vereinigt, das sind, wie wir schon
sahen, grade charakteristische Züge wiederum altgriechischer Kunst. Lysippos Gestalten
sind also eigentlich keine völlige Neuerung gegenüber allem früher Dagewesenen, wie
jetzt auf Autorität der Plinianischen Stelle angenommen wird. Lysippos wird nur
den Attikern gegenüber wieder geneuert haben, aber indem er an die älteren Werke
anknüpfte. Er vereinigt Kraft und Schlankheit wie jene Alten, aber er vereinigt sie
harmonisch, er ninmit dem Torso das Eckige (quadratas veterum staturas immutando)
und bringt den bei den Attikern zur Kegel gewordenen Linienfluss durch entschiedeneres
Aufruhenlassen des Körpers auf dem einen Beine hinein. Jene alten Werke — wir können
den athenischen Apollo (Taf. IH — V), die Petersburger Ephebenstatue (Taf. IX), den
Jüngling des Stephanos und seine Repliken, femer den Apollo in Neapel^ und Mantua^
1) Berlins antike Bildw. I, S. 113 zu n. 92.
2) Corapte rendu de la comm. arch. de Tacad. de S. Petersbourg IBGOt S. 26, Anm.
3) Ann. delF inst, di corr. arch. 18G5 , tav. d'agg. 0. D. Mon. dell' inst. VIII , Taf. 13.
4) Maseo di Mantova I, Taf. 5. 6. Clarac48*2B, 933 A. Friederichs Berlins ant. Bildw. I, S. 108, n. 90.
MABMOBKOPF IN PETERSBURG. 27
als anschauliche Beispiele nehmen — haben schon das Buhen auf einem Beine , aber^noch
nicht so entschieden, dass die ganze Körperhaltung Fluss und Abwechslung dadurch
erhielte. Die Stellung ist noch nicht, wie sie später typisch wird, der Art, dass sie bei
langgewandeten Frauengestalten das Zerfallen auch des Gewandes in eine mit senkrechten
Parallelfalten stehende Hälfte über dem Standbeine und eine von dem darunter hervor-
tretenden Körper in ihrer Form bedingte Hälfte über dem Spielbeine zerlegt. Ich habe
auf Tafel X durch Zusanmienstellung eines flüchtigen Umrisses des Apollo von Tenea (1),
der Statue von Stephanos (2) und des Idolino (3), der für mich attischen Stempel trägt,
diese allmälige für die Geschichte der griechischen Kunst so wichtige Entwicklung in der
Art des Stehens statuarischer Einzelfiguren zu zeigen gesucht. Es ist das nichts Keues
und von dem auf den ganzen Körper sich erstreckenden Einflüsse der einen und andern
Art des Stehens einer Gestalt will ich als von etwas zu Bekanntem nicht weiter sprechen;
es kam mir nur darauf an zu zeigen, dass die Statue des Stephanos und ihres Gleichen
auch in dieser Beziehung als Werke einer Entwicklungsperiode sich zu erkennen geben,
dass sie einen erheblichen Fortschritt gegenüber alten Werken , wie dem Apoll von Tenea,
aufweisen, der im Idolino dann aber noch weiter verfolgt, im sog. Hermes im Belvedere
bis zum manieristischen Uebermaasse gesteigert ist. Bei Plinius* wird Polyklet als der
Neuerer in Bezug auf das Aufstellen der Figuren auf den Buhepunkt eines Beines genannt.
Wäre, um auf den Gegenstand früherer Besprechung zurückzukommen, die von Friederichs
dafür angesprochene Statue Polyklets Doryphoros, so wäre Polyklet hierin nicht der
Neuerer gewesen, womit ich mich an Petersens^ Bemerkung anschliesse, er hätte über
diese ganze Entwicklungsreihe hinaus oder neben ihr weg sozusagen seine Figuren bereits
halb im Schritte dargestellt.
Wenn ich nun unsern Petersburger Epheben ebenso wie die Statue des Stephanos
und ihre Genossen für im Wesentlichen treue Kopieen altgriechischer Werke halte, so
wird die weitere Frage an mich herantreten: welcher Zeit, genauer welcher Schule,
welchem Künstler schreibe ich sie zu? Eine mir selbst voUkommen gesichert richtig
erscheinende Antwort hierauf vermag ich nicht zu geben ; in Anschlag zu bringen ist aber
zunächst Zweierlei. Es ist bereits zur Genüge hervorgehoben, dass diese Statuen der
Herbigkeit ihres Stils nach in die Zeit vor den Aufschwung der attischen Kunst zumal
durch Phidias gehören. Das ist das Eine. Das Andre ist ebenfalls schon betont, dass
sie eine meisterhafte Beherrschung der nackten Form, so weit die Kopistenhand das nicht
zu sehr beeinträchtigt hat, erkennen lassen. Damit ist gegeben, dass die Originale dieser
Statuen dem Ende jener Periode angehörten. Damals, wie in Italien im 15. Jahrhunderte
vor den vollendenden Meistern, war die Beherrschung der Form vöUig erreicht, dass sich
aber damit wie in Italien bei Mantegna, bei den Bellinis u. A. hie und da etwas
1) n. h. 34, 53. Der Deutung von Urlichs (Chrestom. Plin. S. 319 und Arch. Zeit. ISöS, S. 111)
kann ich mich nicht anschliessen.
2) Gerhards arch. Zeit. 1864, S. 131.
4*
28 TAFEL IX (X).
Beengtes , Unfreies im Vortrage verband , bezeugen sehr handgreiflich die Aegineten , auch
wenn wir sie richtig nach den Perserkriegen ansetzen, bezeugt die durch die erhaltenen
Kopieen bestätigte Angabe, dass selbst ein Myron sich in der Behandlung des Haars von
der Tradition noch nicht ganz freigemacht hatte. Es wurde schon bei dem Versuche , den
athenischen ApoUon und die giustinianische Frauenstatue mit der Kunstweise des Ealamis
in Verbindung zu bringen, auch die Analogie der modernen Kunstgeschichte dafür geltend
gemacht, dass selbst gleichzeitig mit Phidias die übrigen Künstler sich noch mehr oder
weniger in den Fesseln der altern Weise bei ihrem Schallen bewegten.
Es giebt nun unter den meines Erachtens der Statue des Stephanos und ihren
Genossen verwandten plastischen Werken eins, nämlich die Wettläuferin in der Kande-
labergallerie des Vaticans * — sie ist für mich auch die Kopie eines altgriechischen
Originals, — welches mit grossester Wahrscheinlichkeit aus einer peloponnesischen Werk-
statt hervorgegangen ist. E. Q. Visconti * hat bereits nachgewiesen , dass ihre eigen-
thümliche Tracht fast genau die der elischen Frauen beim Wettlaufe, wie diese Pau-
sanias^ beschreibt, ist. Das macht doch für die ältere Zeit, als noch nicht attische
Künstler nach auswärts hin wie später thätig waren, die Entstehung dieser Statue in
einer peloponnesischen Werkstatt wahrscheinlich. Ich stimme hierin wörtlich mit Frie-
derichs überein.* Die peloponnesischen Schulen standen jedenfalls auf der Höhe der
griechischen Kunst, ehe in Athen die perikle'ischen Schöpfungen begannen. Dürften wir
nun diesen älteren peloponnesischen Schulen mit der Wettläuferin im Vatican auch das
Original, nach dem Stephanos arbeitete, vielleicht auch den Petersburger Epheben zuwei-
sen, so wären in jenen Schulen oder in einer von ihnen die eigenthümlichen Propor-
tionen dieser zugleich in Rücken und Hintertheil, in Schultern und Brust überkräftigen
Figuren, mit ihrem hohen Wüchse und kleinen Kopfe* zu Hause gewesen, man hätte ein
solches durchaus männlich gefärbtes Ideal dort auch auf die Behandlung der weiblichen
Gestalt übertragen. Wäre alles Dieses richtig, so würde die schon berührte Aufnahme
dieser Proportionen und ihre dem fortgeschrittenen Formgefühle entsprechende harmoni-
schere Umbildung durch Lysippos in einem neuen Lichte erscheinen. Lysippos, aus pelo-
ponnesischer Schule hervorgegangen, hätte sich dann dem Formideale der alten Pelo-
ponnesier angeschlossen, wie er sich in der Technik im Gegensatze gegen die attische
den Marmor bevorzugende Kunstübung an den Erzguss der alten Peloponnesier hielt
Mit einem solchen Verhältnisse würde die Anekdote im Einklänge sein, nach welcher
Lysippos den Doryphoros des Polyklet seinen Lehrmeister genannt haben soll. Sollten
1) Visconti museo Pio-Clem. III, Taf. 27.
2) a. a. 0. S: 125 ff. der Mailänder Ausgabe.
3) V, 16, 2.
4) Berlins antike Bildw. I. S. 110, n. 91.
5) Die sehr kurzen Proportionen auf einem altspartanischen Reliefsteine machen das nicht unmög-
lich; es ist eine sehr unbeholfene Arbeit, bei der auch der gegebene Raum beengend gewirkt haben kann»
wie letzteres auch bei den älteren Metopen von Selinus der Fall gewesen sein kann.
MARMORSTATUE IN PETERSBURG. 29
diese Kombinationen das Richtige treffen, so muss Lysippos als der Weiterbildner und
Vollender des altpeloponnesischen Stils , nachdem dieser von den Attikem seit Phidias eine
Weile in den Hintergrund gedrängt worden war, gelten.
Man sieht aus alle Diesem wieder, ich kann mir den Doryphoros des Polyklet
nicht in den Formen der von Friederichs auf ihn zurückgeführten Florentiner Statue und
ihrer Wiederholungen denken. Es hat sich mir vielmehr in Beziehung auf diesen Haupt-
punkt, den wir mit aller Gewalt aufzuklären suchen müssen, auf die jedenfalls — das
kann man nach der Berühmtheit des Werkes im späteren Alterthume mit Zuversicht
sagen — auf die jedenfalls, sage ich, noch vorhandenen Nachbildungen der Polykletischen
Musterfigur schon seit Jahren eine Vermuthung aufgedrängt, welche durch die inzwischen
von Friederichs aufgestellte bei mir nicht beseitigt ist, fTir welche sich allerdings auch
bis jetzt ein Beweis nicht geboten hat, die ich hier auszusprechen wage. Die Statue,
welche Stephanos und ausser ihm noch Andre kopirten, die zwei Mal auch in eine Gruppe
gesetzt uns erhalten ist, sie könnte grade die gesuchte Polykletische Musterfigur sein.
Dass ich sie der Zeit etwa Polyklets zuweisen muss, habe ich gesagt; dass eine leise
Spur auf Ursprung in einer peloponnesischen Werkstatt fuhrt, ebenfalls. So oft kopirt
und benutzt, wie sie ist, muss also, wenn wir auf dieser allerdings sehr schwankenden
Brücke weiter gehen dürfen, in ihr ein berühmtes Werk eines älteren peloponnesischen
Künstlers vorliegen. Das in späterer Zeit benihmteste war jedenfalls jene Polykletische
Figur, dass eine solche kanonische Gestalt häufig und grade auch in der gelehrt studi-
renden Schule des Pasiteles kopirt ward, ist auf alle Fälle sehr begreiflich und so wird
man, wenn man ein Mal so weit ist, an die Möglichkeit wohl denken können, Stephanos
habe uns eine gewiss verflachte und die vorauszusetzende feine Durchführung des
Originals verwischende Kopie des Polykletischen Doryphoros geliefert. Ein Doryphoros
kann die Statue gewesen sein; man denke an die einfach senkrecht aufgesetzt gehal-
tene Lanze des Kriegers der Aristionstele und eines andern attischen Grabsteins,*
an das auch sonst grade auf älteren Bildwerken übliche Halten der Lanzen in dieser
Weise und man wird zugeben, dass die linke an keiner der Kopieen antik erhaltene
Hand die Lanze ruhig senkrecht auf den Boden gestützt ursprünglich wohl gehalten
haben könnte. Jugendlich wie die Statue des Stephanos war der Doryphoros Polyklets.
Dass femer für eine Musterfigur, an der man die Regeln der Körperbildung abneh-
men konnte, die ruhig grade aufrecht stehende Stellung wie an der vorhandenen Statue
vorauszusetzen ist, hat wohl ein Jeder angenommen. Brunn (Geschichte der griech.
Künstler I, S. 597) hat gewiss mit Recht von der Statue des Stephanos gesagt: „die
Haltung ist durchaus streng und gemessen, wenig bewegt und, wie es scheint, grade
darauf berechnet, den ganzen Körper in seinen einfachen und normalen Verhältnissen
zu zeigen.*' Bnmn denkt dabei dann selbst auch ohne Weiteres an Polyklets Kanon;
imr die Kleinheit des Kopfes bringt ihn dazu, gleichsam eine zweite verbesserte Auflage,
1) Gerhards arch. Zeit 1860, Taf. CXXXV, 2.
30 TAFEL IX (x).
eine Bearbeitung dorcli den Stephanos — und Eekul^ setzt nur den Pasiteles als den
Bearbeiter an die Stelle — anzunehmen. Dass aber der kleine Kopf uns nicht bestimmen
darf, uns von der Zeit Polyklets zu entfernen, ist wohl zur Genüge festgestellt. Und
passt nun nicht ferner das Quadrate, was den Proportionen der Werke Polyklets und der
Aelteren überhaupt nachgesagt wird, sehr wohl auf diese Statue trotz aller Schlankheit.
Es liegt Yomehmlich in Brust und Schultern; 0. Jahn hat deren Bildung nicht besser zu
bezeichnen gewusst, als indem er das Wort quadratus anwendete. Der obere Torso
erscheint ja wie in ein Rechteck eingeschrieben und das giebt der Gestalt trotz ihrer Höhe
etwas kraftvoll Gedrungenes. Wäre die mehrfach angefahrte Stelle des Auetor ad Heren-
nium^ nur zuverlässiger überliefert, so würde ich die, wie es scheint, för Polyklet dort
besonders betonte Brust in der auffallenden Brustbildung unserer Statue wiederfinden. Ich
will noch erwähnen, dass die Art des Stehens der Statue des Stephanos, worüber schon
gesprochen ist, als ein maassvoll neu versuchtes, noch nicht recht durchgeführtes uno
crure insistere erscheint. In Lukians Schilderung eines Tänzers, wie er sein soll, wird
man, um auch das nicht zu übergehen, die Herbeiziehung einer solchen Gestalt wie diese
Statue des Stephanos durchaus passend finden müssen. Dass ich aber mit Winckelmann
und Andern im Allgemeinen eine gewisse leise Befangenheit der Arbeiten des Polyklet,
mit der sich eine äusserste Sorgfalt der Durchführung grade sehr wohl vereinigt denken
lässt, gegenüber den gleichsam mehr aus einem Gusse im Ganzen hingestellten Arbeiten
des Phidias annehme, habe ich bereits oben ausgesprochen.
Ich bin weit entfernt davon, der vermuthungsweise ausgesprochenen Zurückfahrung
der Statue des Stephanos und ihrer Repliken auf den Doryphoros oder Kanon Polyklets
mehr Werth beizumessen, als den eines nicht ganz unmöglichen Versuchs, an den man
sich beim Suchen in einer ziemlich dunkeln Region für den Augenblick einmal halten kann.
Zuversichtlicher halte ich schon daran fest, dass die Proportionen der Statue des Stephanos,
des Mantuanischen und Herkulanensischen Apollo, der Wettläuferin imVatican altgriechische
und zwar altpeloponnesische sind und dass Polyklets Proportionen ihnen in den Hauptzügen
I glichen. Dass sie gleichartig auch an einem altattischen Werke, jenem Apollo aus Athen,
1 sich finden, kann jene Annahme nicht widerlegen. Die bei Yitruv^ aufgezeichneten
I Körpermaasse , deren sich die altern Maler und Bildhauer bedient hätten, habe ich nicht
zu verwerthen vermocht; sie stimmen weder mit den Statuen, in denen Priederichs das
Polykletische Original wiederfindet, noch mit denen, in welchen ich es vermuthete. Jene
«sind gedrungener als eine Figur von den Yitruvischen Verhältnissen, diese schlanker.
1) IV, 6.
2) III, 1.
•
GRABRELIEF AUS ORCHOMENOB. 31
Tafel XI.
Grabrelief aus Orchomenos.
Den ziemlich weitgreifenden Besprechungen , zu welchen die auf den vorigen Tafeln
zum ersten Male veröffentlichten Bildwerke Anlass gaben, folge zum Schluss das Ein-
fachere und Kurze, was zu dem auf dieser Tafel zum ersten Male wenigstens getreuer^
abgebildeten Belief zu sagen ist.
Auf dem Friedhofe des kleinen böotischen Dorfes Romäiko, welches ungef&hr eine
Stunde von Skripu (Orchomenos) entfernt an der von Kapuma (Chaironea) her fahrenden
Strasse liegt, steht seit Jahren auf dem Grabe eines neugriechischen Landmanns auf-
gerichtet ein mannshoher Grabstein, antiker Arbeit. Man erzählt, dass er aus dem Dorfe
Petro-Magüla, also aus der nächsten Umgebung der alten Hauptstadt Orchomenos an
seinen jetzigen Platz gebracht sei, wo ihn die Verwendung wieder zu dem, was er
ursprunglich gewesen war, zu einem Grabsteine, wohl bisher vor Zerstörung geschützt
hat. Zwei ältere englische Eeisende haben den Stein gesehen, in ihren Eeisewerken
beschrieben und ihn auch , aber sehr ungenügend abgebildet. Sie gaben auch schon Spuren
einer Inschrift auf dem untern Bande des Steines an. Als Michaelis und ich ^ im Jahre 1860
den Stein beim Besuche von Bomäiko sahen, gelang es uns, nachdem wir den untern
Theil von Erde frei gemacht hatten, die Inschrift vollständig abzuschreiben. Einen Fehler,
den wir bei der Lesung machten, hat Kirchhofif^ berichtigt; er hat auch Becht gehabt,
gegen unsre sehr bestimmte Angabe zu behaupten, dass von der InschrifUeiste am Ende
etwas abgebrochen und so die Möglichkeit äusserlich gegeben sei, einen vollen Hexameter
zu ergänzen. Mit Ungrund wollte er dagegen voraussetzen, dass auch zu Anfang der
Inschrift ein Buchstabe verloren sei. Nachdem jetzt für das Berliner Museum die Form
des Grabsteins genommen ist und Abgüsse aus derselben zunächst in Berlin und in Halle
aufgestellt sind, lässt sich hierüber sicher urtheilen. Dadurch wurde es auch erst möglich
die hier gebotene Abbildung des Beliefs zu beschaifen.^
1) Ann. deir inst, di corr. arch. 1861, S. 81 ff.
2) Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets. 2. Auflage. S. 63 ff.
3) Höhe der Reliefplatte ohne Fuss- und Deckglied c. 1,82 M. , Breite derselben unten 0,52,
oben 0,50 M.
32 TAFEL XI.
Die luschrift ^ lautet nun also mit Ausnahme der ersten Stelle ganz nach Kirch-
hoffs Lesung unserer Abschrift:
l^X^TjVfOQ inoirjoev 6 Nu^wg' äkX faid€a[&€.
Alxenor aus Naxos hat es gemacht; seht nur!
Die selbstzufriedene Wendung am Schlüsse des Verses , wie sie Kirchhofif hergestellt
hat, kann an eine ähnliche Wendung in der Inschrift eines Thongefösses des Euthymides-
erinnern.
Mit dem epigraphischen Theile ist aber das Interesse des Grabsteins von Orcho-
menos bei weitem nicht erschöpft, auch für die kunstgeschichtliche Betrachtung ist der-
selbe von grossem Werthe, da er der Entwicklungszeit des fünften Jahrhunderts angehört
und recht wohl erhalten geblieben ist. Zwar wird der Naxier Alxenor, den wir sonst
auch nirgends genannt finden, nicht grade eine der fuhrenden Künstlergi'össen seiner Zeit
gewesen sein. Weder die Art des von ihm in Orchomenos übernommenen Auftrages, einen
Grabstein zu machen, noch die Arbeit selbst sprechen für einen hervorragenden Künstler,
' wenn auch die Inschrift eine gewisse Betonung auf ein Werk von Alxenors Hand legt.
Wir finden in seiner Arbeit aber die charakteristischen Eigenthümlichkeiten des Kunst-
zustandes seiner Zeit, wie sie sich in einem jeden auch untergeordneteren Gewerkserzeug-
nisse einer jeden Periode wiederzuspiegeln pflegen.
Alxenor hat nach der Weise des altern Griechenthums, das noch nicht alle Blumen
der Allegorie auf die Gräber streute, den Verstorbenen abgebildet , wie er im Leben war.^
Im umgeschlagenen Himation, das Haar mit einem Bande umfasst, lehnt sich der bärtige
Alte auf seinen Knotenstock; bei ihm ist sein treuer Begleiter, der Hund, der zu ihm
aufspringt • um nach einer Heuschrecke , die sein Herr in den Fingern hält , zu schnappen.
Es ist ganz die Harmlosigkeit eines alltäglichen Vorganges.* Von den Heuschrecken,
immer zumal im Orient den grossen Feinden der Saaten, mochte ein guter Hauswirth oft
genug gelegentlich eine unschädlich machen.*
Die Arbeit zeigt ein wohl fortgeschrittenes aber noch nicht ganz zur sichern
Herrschaft über Form und Darstellungsmittel gelangtes Können, hie und da ein Wollen
ohne Vermögen. Lebendige Wahrheit im Darzustellenden wird überall gesucht, aber das
1) S. (las Facsimile in den Ann. deU' inst, di corr. arch. 1861, tav. d*agg. E. n. 3, verglichen mit
unserer Abbildung der Stele , welche den im Facsimile nicht angegebenen Bruch am Ende zeigt. Michaelis
in Gerhards arch. Anz. Ib^ß?, S. 110.*
2) (OS oi'd^TTOTf Evif^ovtog B. 0. Jahn Verzeichniss der Vasens. König Ludwigs Einl. S. CVlIl.
3) 0. Jahn in den Grenzboten 1868 , S. 166. Populäre Aufsätze S. 227.
4) Sehr häufig springt auf Grabsteinen der Hund nach einem Vogel auf, den der Verstorbene
hält, auch wohl nach einer Weintraube bei einem verstorbenen Kinde. Auf einem Grabrelief aus Rhodos
im Louvre hält der Verstorbene auf seiner Hand ein Häschen, während der Hund aufspringt. Hiemach
wird das von L. Ross (Inselreisen IQ , S. 35) beschriebene Relieffragment auf Kasos auch zu einem gleich-
artigen Grabrelief gehören.
5) Eros im Begriffe eine auf einer Kornähre sitzende Heuschrecke zu fangen. Relief im Museum
zu Avignon. Eros treibt hier Kinderspiel. Vergl. fab. Aesop. 350 Halm.
GBABRELIEF AUS OBCHOMENOS. 33
Gelingen fehlt noch vielfach; man sieht die Mühe noch. Das macht das ganze Belief für
den gewöhnlichen Beschauer, der es als ein Einzelnes beurtheilt, mierfreulich, für den
auf das Werden der Kunst achtenden Forscher wird es grade durch diese Züge anziehend
und anerkennungswerth. Die natürlich bewegte Stellung ist verständlich dargestellt, am
rechten Pusse ist eine starke Verkürzung gewagt. Das Nackte ist mit Kenntniss behan-
delt, die jetzt etwas abgestossenen Hände waren namentlich gut gelungen, die Muskulatur
ist sorgfältig ins Einzelne gezeichnet, die grosse Ader am Oberarme fehlt nicht. Dagegen
zeigen sich Haar und Gewand auch hier als die Stücke, welche der griechischen Kunst
erst zuletzt gelangen und ebenso ist auch das in der Profilansicht des Gesichtes mandel-
förmig von vorn gezeichnete Auge im Einklänge mit der auch sonst in diesen Theilen am
längsten zurückbleibenden Formenentwicklung» Das Haar ist nicht mehr nach einem her-
gebrachten Schema gemeisselt, sondern mit dem nur noch unbeholfenen Bestreben einzelne
Löckchen darzustellen; über der Kopfbinde ist kein Haar angegeben.^ Das Gewand hat
sich sozusagen mit dem Körper noch nicht recht vertragen und auseinandergesetzt; unten
lässt es ihn stark durchscheinen; oben wo Alxenor den Versuch gemacht hat, die Wirkung
des Aufstützens auf den Stock in dem Paltenzuge darzustellen, ist ihm über die Beschäf-
tigung mit diesem Einzelmotiv der Zusammenhang im Ganzen verloren gegangen. Bei
der Einordnung des Bildwerks in den gegebenen Raum der Platte fehlt noch das leichte
sich Fugen in die Schranke, das keine Henunung mehr fühlen lässt, diese grosse Vir-
tuosität der fertigen griechischen Kunst , sehr merklich ; namentlich der Hund ist in seiner
aufspringenden Stellung etwas hineingequält in den Rahmen. Alle diese Eigenheiten der
Entwicklungszeit finden sich namentlich auf verwandten Vasenbildem wieder; ich führe
beispielsweise die Männer auf der grossartigen Vase aus Caere mit der Abholung der
Leiche Hektors (Monumenti in. dell' inst, di corr. archeol. VIH, Taf. 27) an, wo sich auch
dieselbe Art der Stellung sogar bis zu der Pussverkürzung wiederfindet. Auch solche Ver-
gleiche sprechen für die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. als Entstehungszeit
des Reliefs von Orchomenos, so dass also Alxenor etwa ein Zeitgenosse des Kaiamis
gewesen wäre und sein bei aller Tüchtigkeit doch noch recht beschränktes Handwerk viel-
leicht bis in die Zeit hinein ausübte, als schon Phidias Alles zu überflügeln begann.
Das Relief ist sehr niedrig gehalten, so dass es sich nicht über die Randleisten der
Stele erhebt, welche seitwärts als Pilaster oben mit einer Deckgliederung gestaltet sind,
während unten die Fussplatte als Träger der Inschrift vortritt. Diese Begrenzung in der
Höhenerhebung des Reliefs ist namentlich am Kopfe, am rechten Arme, am linken Beine
merklich , die ganz in einer Fläche abgeplattet sind , in welcher die inneren Formen mehr
linear eingezeichnet als modellirt sind. Es ist. gewiss anzunehmen, dass die ganze flache
plastische Unterlage ursprünglich durch Farbe weiter belebt war , wie es an der Aristionstele
erhalten geblieben ist. An unserm Relief ist nur an den kleinen Kapitalen der Seiten-
1) Friedericbs Berlins antike Bildw. I, n. 29, S. 30 nimmt ein glatt anliegendes Eäppchen, wie
as des Patroklos auf der Sosiasschale , an.
Conze Beltrilge zur Qesch. der griech. Plastik. 2. Aufl. 5
34 ^ -^ '* TAFEL XI.
pfeilerchen* und auf dem zwischen ihnen hingelegten Kyma die ursprüngliche Bemalung
mit einer überfallenden Blätterreihe noch in ähnlicher Weise auf dem Steine kenntlich
geblieben, wie z. B. die ursprünglich gemalten Ornamente an den Thronen im Belief des
Harpyienmonuments von Xantbos.
Meine firüheren Auseinandersetzungen über die kleinköpfigen Proportionen der Figuren
in altgriechischen Kunstwerken veranlassen mich hervorzuheben, dass auch auf diesem
doch wieder einmal recht unzweifelhaft nicht nachlysippischen Grabsteine die Gestalt des
Verstorbenen etwa acht Kopflängen hat
Schon mit Hülfe der älteren sehr unvollkommenen Abbildungen dieses Reliefs von
Orchomenos war man darauf aufmerksam geworden, dass auf einem altgriechischen Grab-
steine im Museum zu Neapel, dessen Herkunft leider nicht über die Sammlung Boi^
hinaus zu verfolgen ist, die Figur des Verstorbenen wesentlich der auf dem Orchomenischen
Steine gleicht.^ Oben auf der Neapler Stele ist die Palmettenkrönung noch erhalten, die
auch auf der von Orchomenos als ursprünglich vorhanden vorauszusetzen ist Auch die
Neapler Stele zeigt auf ihrer untern Leiste , worauf ich zuerst durch Boetticher * aufinerk-
sam geworden bin , Beste einer Inschrift , die indessen wenigstens am Gipsabgüsse in Berlin
ganz unleserlich blieben. Die üebereinstünmung der Beliefs zeigt die auf Tafel XI unter
n. 2 neben die Stele von Orchomenos gesetzte Abbildung des Neapler Grabsteins.^ Es
hat aber nur eine freie Wiederholung desselben Motivs stattgefunden. Das Gewand auf 2
ist kürzer, der rechte Fuss ist da nicht in Verkürzung gebracht, der Hund sitzt ruhiger;
endlich fehlt die Heuschrecke in der rechten Hand , wodurch deren Bewegung unverständlich
wird. Am linken Handknöchel hängt an einem gewiss ursprünglich durch die Farbe ange-
gebenen Bande oder Biemchen ein rundes Salbfiäschchen. Vom am Kopfbande ist eine
Knüpfung und eine darüber emporstehende Spitze,^ vielleicht nur das Ende der Binde zu sehen.
Von den beiden Grabreliefs macht das von Orchomenos den Eindruck grösserer
ürsprünglichkeit, ohne dass ich es bestimmt für das eigentliche Original erklären möchte.
1) 0. MüUer Handb. der Archaeol. § 96, n. 28.
2) Nachtrag zum Kataloge der Gipsabgüsse des Berliner Museums n. 280.
3) In Gips restaurirt: Nasenspitze mit Nasenflügel, die rechte Hand ausser dem Daumen und
kleinen Finger, ein Stück am rechten Arme, ein Stück des Stocks über der linken Hand, ein Stück des
Ballens und der Handwurzel, der Zeigefinger der linken Hand; von dem Ringe um die Handwurzel ist
nur ein Stückchen antik. An den Händen und am Kopfe sonst Vieles Verstössen. Die Abbildung giebt
den kleinen Quast am Gewandzipfel auf dem linken Schenkel nicht an. Hohe des Beliefs ohne Fussplatte
und Krönung 1,78 M., Breite etwa 0,58 M.
4) Gegen Friederichs Berlins antike Bildw. I, S. 29 zu n. 21 s. Gott. gel. Anz. 1868, S. 806.
Vergl. z. B. Roulez mem. pour servir ä expliquer les peintures d'une coupe de Yulci. Abb. der Brüsseler
Ak. XVI, 1842, Taf. 1. 2.
Halle, BnclidmclMrei dw WalMnluituas.
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T.af.V.
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