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oX tbc
"Ulnivereit^ ot TWftiöconein
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über das
Seelenleben des Kindes
von
Dr. Adolf Dyroff
Professor in Bonn.
Bonn,
Verlag von P. Hanstein.
1904.
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89 5e0
001271905
.1199
Meiner lieben Mutter
zum siebzigrsten Geburtstagre.
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Vom Seelenleben des Kindes.
In früherer Zeit hat man über das Wunderland der
Kindheit gerne den luftigen Schleier der Poesie gebreitet.
Warf man einen nachdenklichen Blick hinein, so fand man
nicht sehr viel zu sehen. Höchstens dass man eine grosse
Ähnlichkeit des kindlichen Lebens mit dem des Tieres^) oder
eine gewisse Verwandtschaft des Seelenlebens im Kinde mit
dem im Traume beobachtet haben wollte. Nur die Mütter
werden zu allen Zeiten den kostbaren Schatz, der auf dem klaren
Orunde der jungen Seele ruht, erkannt haben, wenn sie auch
in liebenswürdiger Voreingenommenheit seinen Wert in der
Hegel übertrieben geschätzt haben mögen.
Das gefühlsreiche Zeitalter J. J. Rousseaus hat sich
dann um den Standpunkt der Mütter angenommen. Nachdem
ein inzwischen vergessener Pädagoge, M. J. Schmid, 1772
eine angeblich empirische, tatsächlich aus allgemeinen er-
kenntnistheoretischen Sätzen heraus konstruierte „Geschichte"
der seelischen Entwicklung geliefert hatte, ist der Ruf Trapps
nach genauen Beobachtungen laut geworden und hat Tiede-
mann sein bekanntes Tagebuch geschrieben. Aber erst das
neunzehnte Jahrhundert brachte die ausgestreuten Keime zur
Blüte, vor allem die siebziger Jahre, in denen Vertreter ver-
schiedener Nationen fast gleichzeitig Kiuderstudien veröiSfent-
lichten, in Deutschland der Herbartianer L. Strümpell (1879).
Heute legt sich manche Mutter Preyers Buch in der Kinder-
stube zurecht, um an der Hand seiner Tabelle die Entwick-
lung des eigenen Kindes verfolgen zu können. Vor allem ist
die „Kindespsychologie" gegenüber der allgemeinen Psycho-
logie ziemlich selbständig geworden.
Mag auch der wirkliche Erfolg der tausendfach auf-
gewandten Mühe nicht entsprechen: das Dämmerlicht, das
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über der ersten Periode unseres Lebens lagerte, hat sich doch
merklieh aufgehellt. Das sieht man am besten, wenn man
die schematischen Zeichnungen von der kindlichen Psycho-
genese, wie man sie noch in der ersten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts — fast im Stile der antiken Hebdomaden-
theorie mit ihren Perioden von je 7 Tagen, Monaten, Jahren
— entwarf, mit den jetzt möglichen Schilderungen vergleicht^
die annähernd genaue Daten geben und das Gesetz der
Entwicklung durch den Hinweis auf eine grosse Reihe von
sorgfältigen Beobachtungen belegen*). Und so lässt sich denn^
wenn auch vielfach nur recht allgemein, eine verlässige Dar-
stellung der typischen Entwicklung des normalen Kindes aus-
fahren.
Nicht ohne alle Fähigkeiten kommt das edelste der
Lebewesen zur Welt. Ausgertlstet mit der ganzen leibUchen
Bewaffnung, die ihm eignet, tritt es auf den Plan. Man
kann sich dem Gedanken nicht entschlagen, dass die* gesamte
Sinneseinrichtung unseres Geistes dem Einzelnen überkomm^ji
und von vornherein zweckmässig in unserm ganzen leiblich-
geistigen Organismus vorbereitet ist'). Wohl von keiner
Seite bezweifelt ist, dass das eben geborene Kind schon einen
ziemlich ausgebildeten Geschmacksinn besitzt. Es ist
merkwtlrdig zu beobachten, wie bestimmt nach wenigen
Tagen die Kinder, je nach Individualität, gewisse moderne
Milchpräparate zurückweisen, andre bevorzugen. Das ursprüng-
liche Vorhandensein weiterer Fähigkeiten wird von einem an-
gesehenen Forscher geleugnet*). Ich glaube aber, die vulgäre
Ansicht, dass schon in den ersten Lebensstunden der Tempe-
ratursinn und der Sinn für Empfindungen des inneren Körpers,
wie für den Hunger, irgendwie entwickelt sein muss^
behält Recht. Wie wäre es sonst zu erklären, dass das Kind
beim ersten Bade sich ganz ungeberdig benimmt, dass es
schreit und strampelt, dass es nach dem warmen Bade, mit
kaltem Wasser überschüttet, Zeichen heftiger Unlust gibt,
dass es sich in die warmen, trockenen Windeln wohlig zu strecken
scheint, während dies bei der kalten, feuchten nicht der Fall ist.
Und all dies, ohne dass wir, wie beim Auge und Gehör, irgend
eine zeitliche Stufenfolge der Einübung dieser Akte wahr-
nehmen können. Ähnliches würde über den Tastsinn, der
Lippen wenigstens, zu sagen sein. Wenn hingegen dem Neu-
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geborenen auch schon Gern eh sinn zugeschrieben wird^ so
möchte ich behaupten, dass dieser noch nicht auf der Höhe
des Geschmacks stehen kann. Denn es dauert noch verhältnis-
mässig lange, bis das Kind bei ziemlich penetranten Gerüchen
Unruhe zeigt. Ein Grund, den man anführt, ist nicht zwingend.
Mag immerhin beim Erwachsenen der Geschmack nicht recht ohne
den Geruch funktionieren, so folgt daraus für das Kind nichts.
Man sagt weiter, Kinder weigern sich zuweilen, schon bevor
sie geschmeckt haben, Milch zu nehmen, die einen Neben-
geruch habe. Leider fügt man nicht hinzu, zu welcher Zeit
dies beobachtet wurde und beweist nicht, dass wirklich nur
der Geruch das abweisende Verhalten des Kindes bestimmte^).
Es ist eine Folgerung aus unserer Annahme, dass im Verlaufe
der Entwicklung der Geschmacksinn unter der Verfeinerung
des Geruchssinns etwas leidet. Aber diese Konsequenz haben
wir nicht zu scheuen. Bussen doch überhaupt die übrigen
Sinne unter der Vorherrschaft des Gesichtssinns allmählich
ein. So ist es eine vielbesprochene Erscheinung, dass man
im Dunkeln — wenigstens auf das erste Mal — roten Wein
nicht vom weissen, eine brennende Zigarre nicht von einer
kalten unterscheiden kann.
Sehen wir jedoch von dem Mangel des Geruchssinns ab,
so können wir den Menschen an seinem Lebensmorgen etwa
einem Taubstummblinden vergleichen; denn gerade die feinsten
Sinneswerkzeuge sind für den Neuling vorerst noch totes
Kapital^ das er Zug um Zug flüssig machen muss.
Aber nicht lange, so dringen die Boten der Sonne durch
die feine rundliche Öffnung des Auges und entzünden an der
Rückwand des Augeninnem, der Netzhaut, vor allem in dem
kleinen gelblichen Herde, der sich neben der Mitte der Netzhaut
findet, die ersten Funken der Gesichtswahmehmung. Manche
Kinder öffnen schon wenige Minuten nach der Geburt blinzelnd
die Äuglein, freilich, um sie sofort wieder zu schliessen, wie
wenn sie der grelle Schein des Lichtes blendete ^). Am vierten
Tage wird schon das eine Auge ganz, das andere wenigstens
zum vierten Teile aufgerissen; dann kommt die nicht sehr
lange Periode des Schielens'), bis die beiden Augen die
normale Stellung erhalten haben ^). Erst jetzt kann das Kind
so sehen, wie gewöhnlich der Erwachsene tut. Aber noch
haftet der Blick nicht fest auf den Dingen; er war ja zuvor
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seioer eigenen Bewegungen nicht mächtig. Anscheinend ziel-
und steuerlos kugelten die Augen in ihrem Halter umher. Nun
aber beginnen einzelne äussere Wesen Eindruck zu machen.
Zunächst sind es wohl Persönlichkeiten, die die kindliche
Seele fesseln^). Von Seele zu Seele springt aus dem leuchten-
den Auge der elterlichen Liebe der weckende Strahl. Ehe
zehn Tage um sind, werden auch glänzende auffallende Gegen-
stände sehend verfolgt, so etwa der „Schnuller'^, sei es wegen
der intensiv schwarzen Farbe des Gummis oder, was mir
wahrscheinlicher, wegen des hellen Elfenbeingriffs. Der nur
blassrötliche Finger des Vaters, der vor dem Auge in gleicher
Entfernung hin- und hergeführt wird, erregt noch keine Auf-
merksamkeit^*^). Am zwölften Tage wird aber auch der Finger
der Ehre gewürdigt, betrachtet zu werden ^i), und von da ab
schreitet die Orientierung des Gesichts langsam aber unaufhalt-
sam vorwärts. Das w.eniger Intensivere wird ebenso beachtet,
wie das höchst Intensive, und doch bleibt das Verhältnis wie
zu Anfang der Laufbahn: Das Intensive wird immer bevorzugt.
Von allen ruhenden Geräten des Kinderzimmers ist es die
schimmernde Lampe, die studiert wird, oft mit den ernstesten
Mienen; viel später ist es etwa der rotwangige Apfel, den der
Knabe dem übrigen Obst vorzieht, oder aber die verbrannte
Dampfnudel erweckt besondere Erwartungen auf Genuss, weil
sie stärker glänzt in aller Schwärze als die sanftangeröstete
bräunliche Schwester i^).
unvergleichlich zäher ist die Seele in der Auffassung
des Hörbaren. Daran trägt vor allem ein äusserlicher um-
stand schuld. Das Ohr ist zunächst teils verstopft teils noch
nicht straff genug, um Luftwellen zum Gehirn fortpflanzen zu
können. Der Säugling ist daher für recht erheblichen Lärm
unempfänglich, und die zarte Sorgfalt der Mutter, das liebe
Kind nicht durch heftiges Auftreten zu erwecken, überflüssig.
Indes bleibt das nur kurze Zeit so, und das Kind schrickt
bei Gepolter wohl zusammen. Sorgfältige Beobachter der
Äusserungen des Lebens behaupten, dass vor dem zweiten
Monate eine feinere Unterscheidung bestimmter Laute nicht
stattfindet. Wieder zieht die Stimme derjenigen Person, die
sich zumeist mit dem Kleinen abgibt, seine erste Aufmerksam-
keit auf sich. Wieder trägt das Klare, das Helle den Sieg
über das weniger Klare und Helle davon; denn .die gesungenen
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Töne, die eher zur Geltung kommen als die gesprochenen
Geräusch laute"), dürfen doch wohl mit den leuchtenden
Lichtern und Farben verglichen werden. Erst später ergötzt
sich das Kind an dem Lärm der von ihm zu Boden ge-
schleuderten Spielsachen oder dem Rasseln der hin- und her-
geführten „Klapper". Das feine Ticken der an sein Ohr
gehaltenen Taschenuhr erregt, wie man sagt, schon um das
Ende des dritten Lebensmonats Aufmerksamkeit ^*), aktiv auf-
gesucht aber wird die Uhr vielleicht erst ein Jahr danach.
Inzwischen macht auch der Geruchsinn seine Fortschritte.
Hatte die Mutter in den ersten Wochen Grund, sich über die
Gleichgiltigkeit des kleinen Erdenbürgers gegenüber recht
starken hässlichen wie lustvollen Gerüchen im stillen zu ver-
wundeiTi, so wird das allmählich anders. Dinge, die auch für
den Ei-wachsenen unangenehm riechen, machen das Kind un-
ruhig. Das Menü der kindlichen Tafel nimmt zu und das
setzt eine Entfaltung des Genichsinns voraus, der ursprünglich
einseitig auf das süsslich Duftende eingestellt zu sein scheint.
Aber trotz dem grösseren Reichtum seiner Leistungen bleibt
er noch lange ein Stiefkind. Das Anstreben von Geruchs-
quellen, das tastende Schnobbern und das behagliche Einsaugen
von Düften scheint dem Kinde fremd zu bleiben. Und wenn
im vierten oder fünften Lebensjahr Knabe und Mädchen
Küchengänger und Topfgucker werden, wissen sie die mancherlei
Geruchsunterschiede nur durch „Fein" oder „Nichtfein" wieder-
zugeben, während doch Farben und Töne mit einiger Deut-
lichkeit bezeichnet werden.
Gerade die Sinne also, auf denen der Vorzug der
höheren Tiere vor dem Menschen beruht, der Gehörs- und
Geruchssinn, sind in unserer ursprünglichen Organisation bei
der normalen Entwicklungstendenz zu kurz gekommen.
Indes an der geistigen Gesamtentwicklung vermag diese
zeitweilige Rückständigkeit nichts wesentliches zu ändern.
Ziehen wir nach Ablauf der ersten sechs Monate einen Quer-
schnitt durch das geistige Leben, so finden wir in der Seele
nicht nur Wahmehmungsbilder von einer Reihe äusserer
Gegenstände, wie sie durch die Kinderstube und durch die
Spazierfahrten in Stadt oder Dorf geliefert werden, sondern
auch Erinnerungsbilder von wahrgenommenen Dingen vor.
Nicht sehr fest und beständig zwar sind diese! Das Kind
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erkennt seine SpielBaehen nach kurzer Zeit wieder, aber es
vergisst sie eben so schnell. Es weint entschwundenen Sachen
nicht so leicht eine Träne nach. Nur die Persönlichkeiten seiner
Umgebung, die Mutter oder die Wärterin oder auch der Vater,
werden mit sichtlicher Freude begrüsst und oft unter Schmerzen
scheiden gesehen. Allmählich aber wird das Gedächtnis
fester und umfassender. Der Kreis der ihm vertrauten
Persönlichkeiten erweitert sich in einem Jahre zu etwa fünf
oder sechs, und auch die Behältnisse von Speisen oder Spiel-
gegenstände gewinnen persönliches Interesse. Das Kind sucht
sie mit dem Blicke, greift lebhaft danach oder wendet das
Köpfchen rasch nach ihnen hin^^).
Ein Hauptanteil an diesem Fortschritt kommt den
Körperbewegungen zu. So ziemlich das erste, was ein
gesundes Menschenkind ausführt, sind körperliche Evolutionen.
Als fürchte es ins Leere zu fallen, so streckt es nach der Geburt die
Ärmchen aus. In der Folge treten jedoch zweckmässige Greif-
bewegungen der Lippen und zweckvoll koordinierte Trink-
bewegungen des gesamten Mundes, endlich entsprechende Greif-
bewegungen der Arme und Hände in den Vordergrund. So zeigt
sich auch hier der leibliche Organismus auf die Lebenserhaltung ein-
gerichtet. Natürlich darf man nicht glauben, dass das Würmchen
mit Absicht tätig ist; ja, wir wissen nicht einmal ohne weiteres,
ob die Seele überhaupt an solchen Übungen ein Verdienst
hat. Es könnten ja auch bloss mechanische Auslösungen auf
einen Reiz hin — sog. Reflexbewegungen — oder blosse
organische Aktionen, wie etwa die von Pflanzen sein. Einiges
deutet aber doch auf eine psychische Mitursache. Die Greif-
und Saugbewegungen erfolgen auch, ohne dass eine Reizung
vorausgeht, können dann also keine Reflexe sein, und sie
hängen andererseits derart mit Hungerempfindungen und Hunger-
gefühlen zusammen, dass man annehmen muss, das Gehirn und
die Seele vermittele zwischen den Hungerreizen und dem Be-
wegungs-Ausd rucke. Es ist keine Frage, dass das Kind
durch solches Schnappen und Suchen seinen Körper immer
besser beherrschen lernt. Daher ist es auch kein Wunder,
dass die anfänglich vorherrschenden Reflexe des Schmatzens,
Niesens, Gähnens, Schluckens, Blinzeins mit der Zeit ver-
schwinden und geordnetere Bewegungen ihre Stelle ausfüllen.
Hat sich der Geist in die Welt hineingesehen, -gehört und -ge-
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schmeckt, so tastet er sich dsrnn, den Körper hin- und her-
rückend oder emporrichtend, in sie. Nicht mehr nur liegend^
sondern auch sitzend oder mit den Beinchen und Ftlsscben
rutschend oder mit den Fingerspitzen und den Lippen oder
der Zunge oder dem Gaumen befühlend nimmt die Seele Ein-
drücke auf und verarbeitet sie mit den Eindrücken vom Auge,
Ohr oder von der Schmeckzunge her. Schon im fünften
Monat hat man so etwas wie eine Bewegung der Händchen
unter Leitung des Auges beobachtet. Der feine Anstand kann
es den Kindern niemals verwehren, alles, was sie sehen, an die
Lippen zu nehmen und gleichsam zu kosten. Bald weiss das
Kind, was hart und weich, was fest und flüssig ist. Es
zerreisst, es zerstört, es wirft zu Boden. Es spielt mit seinem
Fttsschen und steckt es in den Mund, es leckt die Händchen,
es greift an seinen Kopf, es zerrt die Haare. Und es versucht
endlich zu gehen. Dem nicht ständig mit ihm Beschäftigten kommt
der Steh-Drang des bis dahin anscheinend so passiven Dingelchens
schier unbegreiflich vor, und doch ist das wichtige Ereignis,
wie wir sehen, von langer Hand vorbereitet. Erst nachdem
das Kind seinen Körper durch leichte Manöver in die Gewalt
bekommen hat, geht es, auch jetzt wieder schubweise, zum
entscheidenden Schlag gegen die träge Materie des Leibes über:
Es steht! Nicht ohne fremden Beistand, aber doch aus eigner Kraft.
Wenn es dann laufen kann, durcheilt es geschäftig die Nähe,
nach Jahren die Feme; Kinder mit 2^2 Jahren machen schon
Spaziergänge von »/^ Stunden. Man steigt, man klettert,
schlägt Purzelbäume und endlieh sehnt man sich nach Flügehi
und findet wie einst Alexander der Grosse die Welt zu klein.
Von einem etwa ein Jahr alten Knaben wird glaubwürdig
berichtet, dass er beim ersten Versuche festzustehen, strauchelte,
aber mit energischem Auftreten des Fusses das statische
Gleichgewicht erzwang. Das setzt Willen voraus und Absicht.
Die Absicht geht zwar nicht sehr in die Weite, sie bezieht
sich auf die gegenwärtige Tätigkeit des Stehens, indes der
Wunsch dazu geht doch zeitlich vorher und der Erfolg ist
kausal von der Willensregung abhängig.
Wie steht es, so fragen wir da, mit dem Willen im
Kinde? Die Lösung der Frage ist nicht sehr leicht; doch
wollen wir versuchen die Stufenfolge der Vorgänge kurz zu
beschreiben, die zur Ausbildung des Wollens beitragen. An
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der Pforte des seelischen Lebens stehen nicht Gesichtswahr-
nehmungen oder Denkakte, sondern wahrscheinlich Affekte.
Das Kind begrüsst mit lautem Geschrei oder leisem Gewimmer
das Licht des Tages. Der Pessimismus des Altertums und
die Sentiipentalität der Aufklärungszeit haben darin ein
Zeichen für die Schlechtigkeit der Welt oder für die Arm-
seligkeit des menschlichen Lebens erblickt. Wir haben eine
nüchternere Erklärung dafür: Durch die Geburt erfährt das
Kind einen starken Temperaturwechsel — daher auch das
Niesen der ersten Lebenstage — , ferner den Eindruck der Boden-
losigkeit der Welt — daher die Armbewegungen — , kurz
einen totalen Umschwung seiner Lage. Es wäre ein Wunder,
wenn das ohne jede Gefühlswirkung bliebe, und natürlich
wirkt das Neue, Ungewohnte unlusterregend. Das Klage-
geschrei als blossen Reflex ohne Dazwischentreten des Ge-
fühls auszugeben, verbietet schon die grosse Ähnlichkeit mit
dem sich bald daran anschliessenden Hungergeschrei. Und
eben diese Analogie spricht auch dafür, dass wir es mit einem
Unlust- und nicht etwa mit einem vermeintlichen indifferenten
Gefühle zu tun haben. Das Hungergeschrei wird sodann zum
Schmerzgeschrei, welches sich bei besonders grellem Leide
in die höchsten gurgelnden Töne hineinsteigert, bis die Stimme
überschlägt. Aber auch das Lustgefühl der Hungerstillung
erhebt nicht lange danach seine Stimme-, aus dem Schmatzen
und Grunzen entfaltet sich das lustige Krähen und Jauchzen.
Insofern sich das Unlustgefühl mit der Hungerempfindung
verbindet und zur Erinnerung an die frühere Lust der Hunger-
stillung übergeht, erhält das Gefühl eine gegenständliche
Tendenz und wird aus der passiven Reaktion ein aktiver
Trieb. Noch tappt das Streben ohne bestimmten Zielpunkt
einfach ins Dunkle, man möchte sagen, blindlings vertrauend,
dass dem Organismus zufällig die Nahrung in den Mund
fliege, wie im Schlaraffenland. Inzwischen aber haben das
Auge und das Getaste den Geist mit mehr oder minder
klaren Bildern von einzelnen Dingen erfüllt, und da diese
Bilder je nach dem Inhalte lust- oder unlustvoll oder gleich-
giltig sind, so entwickelt sich auch da bei starker Lust das
Hinstreben, bei ungewöhnlicher Unlust das Zurückscheuen.
Es sind vor allem Speisen, welche dem Kinde als Bilder er-
scheinen, ihm Gedächtnisspuren einprägen und es mit Lust
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beseelen. Wie natürlich, dass es auch da greift ganz wie bei
der Milch seiner ersten Tage. Die Macht der Gewohnheit
zwingt es dann, sich überhaupt nach allem angenehm Wirken-
den hinzubewegen. So griff ein Kindchen, das noch nicht
sprechen konnte, als es vom dritten Stockwerk aus im gegen-
überliegenden Hause etwa 15 m entfernt, einen glänzenden
Gegenstand sah, leidenschaftlich danach; fast wäre es aus dem
Fenster gestürzt. Selbstverständlich bleiben solche Wünsche
tausendfach unerfüllt, und der Geist lernt sich bescheiden.
Neben dem Greifmechanismus entsteht sehr bald auch der
Mechanismus des Zurückfahrens. Wenn das Neugeborene vor
dem grellen Lichtschein die Wimpern zuckt und die Augen
schliesst, so haben wir diesen Vorgang im kleinen. Wird
ihm die Haut mit eiskaltem Wasser übergössen, so gerät das
ganze niedliche Geschöpfchen ins Strampeln und Abwehren.
So koordiniert sich dem hohen Schmerze die Kette der Ab-
wehrbewegungen. Die Tränen bleiben nicht aus. Das Dunkle,^
das Schwarze ist, wie die Mütter längst gesehen haben, an ,
und für sich unangenehm, das Kind weint. Ebenso wirkt
das Ungewohnte schlechthin unlustig. Daher wird auch Syrup
und Honig in den allerersten Augenblicken verschmähte^). Erst
im dritten Lebensjahre mag sich das Blatt wenden. . Jetzt
wird umgekehrt das Ungewohnte lustvoll. Daher weniger die
uns allen geläufigen Naturgegenstände als die selteneren Kunst-
gegenstände — wie Puppen, Strassenbahnen, Dampfwalzen, Ma-
schinen — beachtet und begehrt werden. Da die Anwesen-
heit der Amme oder Mutter in der Regel lustvoll ist, wird
das Fehlen dieser Umgebung peinlich empfunden. Das Kind
will nicht mehr allein sein, sobald das Gedächtnis einiger-
massen fest geworden ist, also etwa um das Ende des ersten
Jahres.
Die volle Ausbildung des Wollens, d. h. das absicht-
geleitete Hinstreben zu einem Gegenstande ist aber von
dem Erwachen des Verstandes abhängig. Das aflfektvolle
Hinstreben der kleinen Leidenschaft nach liebgewordenen
Persönlichkeiten und speiseähnlichen Sachen und das aflfekt-
volle Wegstreben von schmerzverursachenden Dingen ist ja
noch nicht Wille. Wie entsteht aber der Verstand, der in
den ersten Lebenswochen sicher noch nicht da ist, am Ende
des ersten Jahres jedoch sich schon wirksam zeigt? Diese
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Frage ist die schwierigste der EJnderseeleDkunde. Vielleicht
triflft folgende Erklärung das richtige: Im Gefühle der
Lust oder Unlust werden die Dinge in gewisser Richtung
wirksam. Dadurch erhalten sie eine verschiedene Bedeutung.
Die Aufmerksamkeit des Kindes steht in der ersten Zeit
durchaus unter dem Zeichen des Gefühls, und erfahrene Mütter
gebrauchen deshalb, um einen Schmerzausbruch der Kleinen
zu unterdrücken, den Kunstgriff, ihnen süsse Speisen oder
lusterweckende Spielsachen nahe zu bringen, also seine Auf-
merksamkeit abzulenken. Es ist wohl kein Zweifel möglich,
dass sich so im Geiste Verknüpfungen zwischen den Vor-
stellungen von Dingen und der Erinnerung an ihre Gefühls-
wirkungen bilden. Sobald dies aber geschehen ist, ist ein
Vorspiel von Verständnis der Dinge da! Der leitende Ge-
sichtspunkt ist zwar sehr einseitig — nämlich der der Lust
an Speisen oder der Schmerzstillung — , aber ein fester Aus-
gangspunkt der Unterscheidung ist doch gewonnen. Das Ge
fühl hat indes nicht nur diese äussere Seite! Das Gefühl
wurzelt zugleich mehr als anderes im Ich. Der Neuling in
der Welt hat wohl noch kein Bewusstsein seiner selbst. Die
Weckung des Gefühls ist ein erster und heftiger Angriff auf
dieses gleichsam schlummernde Ich! Indem so der Geist in
die inneren Bilder der Dinge Gefühl legt, misst er sie gleich-
sam an der Wirkung, die sie auf sein Ich ausüben, und damit
ist sicher ein erstes Verständnis der Dinge erzielt. Dies
bleibt auch noch später so. Es ist mit Recht oft betont
worden, dass noch Kinder von 3 — 9 Jahren leblose Sachen
zu Personen erheben, sich mit ihnen unterhalten und sie wie
lebende, denkende, fühlende Wesen behandeln. Solche Per-
sonifikation ist im Grunde nichts anderes als ein Hineintragen
eigener Gefühle in fremde Dinge. Je mehr äussere Dinge
aber auf die Seele des Kindes einwirken, desto klarer wird
das eigene Bewusstsein. Und da ist es nun wiederum der
Einfluss anderer Persönlichkeiten, der den Haupthebel des
Fortschrittes abgibt. Was versteht das Kind zuerst? Man
darf wohl behaupten: Fremde Willensäusserungen. Die allerersten
Tätigkeiten des Kindes sind spontan, später werden sie suggestiv
durch die Erwachsenen erregt, schliesslich imponiert der Ältere
dem Kinde durch den energischen Befehl! Das „St!" oder
^,Scht" oder „Bscht" wirkt anfänglich einlullend wie monotones
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Wellengeräusch; später aber durch seine Energie auf die Auf-
merksamkeit vermittelst des Gefühls. Die Autorität ist so der
Urquell des kindliehen Verständnisses. Erst nach dem Befehl
wird die Frage verstanden! Vielleicht werden gar die ersten
Fragen als Befehl empfunden. Was aber ist es, wozu das
Kind durch „Befehl" veranlasst wird? Jedesmal eine Tätig-
keit. Tätigkeiten auch sind es, die Lust oder Unlust erregen.
Und sobald das Streben erwacht, sind daher Bewegungen,
Tätigkeiten dasjenige, was die Aufmerksamkeit fesselt. Nicht
die ruhenden, sondern die sich bewegenden Objekte machen
zuerst Eindruck. Wenn das liegende Kind dem durch sein
Zimmer gehenden Erwachsenen mit dem Blicke folgt, glaubt
mau fast etwas wie Neid in seinen Mienen zu lesen. Kurz:
es entfaltet sich der sog. „Nachahmungstrieb". Das '/Jährige
Kind ahmt wie überhaupt die Kinder besser nach als der Er-
wachsene! Das Grunzen der Schweine, das Wauwau des
Hundes, die noch unverstandene Kussbewegung, das Hände-
falten, das „Bitte-Bitte"-Machen, das „Patsch-Patsch", vor
allem die gewöhnlichen Bewegungen der Erwachsenen, deren
sein eigener körperlicher Organismus fthig ist, werden, jedes
zu seiner Zeit, nachgemacht"). Damit lernt aber das Kind auch
sich als Quelle von Tätigkeiten kennen und diese eigene an-
gestrebte Tätigkeit ist immer lustvoll. Nun fühlt sieh das
Kind nicht nur mehr in die Welt, sondern es bewegt sich als
Ursache von Tätigkeit hinein.
Die merkwürdigste Tätigkeit des Erwachsenen ist seine
Sprache!^®) Die Kindessprache gestaltet sich erst, nachdem
eine bestimmte Macht über die Laute und ein gewisses Ver-
ständnis der gehörten Worte vorhanden ist! Der Blick
des Kindes hängt oft am Munde der Mutter oder der
Wärterin. Auch da lässt sich jenes neidähnliche Interesse
bemerken! Mit den Gesichtsbildern solcher Bewegungen ver-
knüpfen sich die Eindrücke der gleichzeitig gehörten Laute
und die Gefühlsbedeutungen derselben. Kommt gar der Nach-
ahmungstrieb hinzu, so ist die Sprache des Kindes im Keime
da. Aber noch ist, auch wenn die Zähne kommen, die Sprach-
miuskulatur nicht aller der Laute Herr, die der Erwachsene
mühelos künstlich erzeugt! Einem Kinde, das laufen lernt,
ruft man wohl befehlend zu „Langsam!" oder „Obacht"; es
ahmt diese unverstandenen Laute nach mit „Magab" oder
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„Abbad"! Statt „Ja" hört man etwa „La", statt „runde
Kuchen'^ noch, bei höherem Alter „lunde Kuchen", statt
„Lehrer" „Lejejer". Es ist daher sehr einsichtig, dass Mutter
oder Amme dem Nacliahmungstriebe des Kindes entgegen-
kommen und diejenigen Laute zur Bezeichnung von Dingen
verwenden, welche das Kind beherrscht. E^s sind dies die
Laute des Schmerzes und der Lust. Jede Mutter weiss, dass
das Kind etwa nach dem 288. Tage Laute wie „erräfi" und
„ecru" ausstösst, dass das Kind, allein gelassen oder nicht
beobachtet, unabsichtliche Lauttibungen veranstaltet, aus purer
Lust am Krähen und Gurgeln (Echolalie). Zuweilen sind die
Triller, an denen sich das Kind stundenlang berauschen kann,
sogar zufällige musikalische Folgen der Akkordtöne. Mit
zunehmendem Alter nimmt die Lallfreude zu, um dann wieder
zurückzutreten. Aber die Zunge ist trotzdem in dieser
Periode geschmeidig und gelenk geworden, vor allem für die
Konsonanten b, m und d, auch w, also die Lippen- und Zungen-
laute. Noch lange fehlen Konsonanten wie „k" „z", Vokale
wie „o" „u". Das allererste Geschrei des Kindes ist ein
,,Wä" oder „üä". Die gegebenen Vokale sind demnach „a"
und „e". Ausserdem ist aber in die unwillkürlichen und nicht
etwa schon durch Nachahmungen verursachten Lautbewegungen
durch den Gefühlsgegensatz eine deutliche Differenzierung ge-
kommen: „Mamm" scheint vorzugsweise als Schmerz- und
sonach Hilferuf, „Papa" als Freudenäusserung zu dienen.
Auf den Hilferuf kommt die Mutter ; wer verdenkt ihr's, dass
sie das als ihren Namen auffasst und sich dem Kind als
„Mama" bezeichnet, und was liegt dann näher, als das „Papa"
dem Vater zu geben. Er bringt zudem später die guten
Sachen, die, wenn die gewöhnliche Nahrung als das tägliche
Brot verachtet wird, als das Seltenere wertvoller sind^^)»
Für diese Auffassung der Sache spricht folgender Fall:
Ein Kind, das den grössten Teil des Tages von einer Amme
Namens „Anna" erzogen wurde, pflegte vom 14. bis 18. Monate
nicht wie andere „Mama" für alle Nuancen von Schmerz
zu gebrauchen, sondern „Anna*^, und zwar auch dann, wenn
die Amme nicht um es war. Das „Anna" trug in solchen
Lagen den lebhaften Akzent des Befehls an die verschiedenen
Erwachsenen; wir Erwachsene würden sicher ein „Komm!"
dahinter setzen. Einmal sagte es der Mütter öfter: „Ein!",
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d. h. „Nimm mich in die Höhe!" Als die Mutter nicht hörte,
rief es kläglich: „Anna, Anna!" und streckte die Ärmchen
nach der Mutter hin in die Höhe. Vielfach war der Ruf
dann auch mit einer Lauf bewegung nach dem Erwachsenen hin
verbunden ^^). Es ist klar, dass für jenes Kind das Wort „Mama"
mehr die Bedeutung des Eigennamens einer dritten Person
hatte. Mit Recht ist auch zur Beurteilung der ersten Sprach-
worte des Kindes darauf hingewiesen worden, dass es anfäng-
lich die Lautfolgen „Papa" und „Mama" auch für essbare
Dinge und für Örtlichkeiten, an denen sich dass Essbare be-
findet, zu verwenden liebt 2^).
Femer hat man längst gefunden, dass die sogenannte
„Kindersprache" stets eine unverkennbare Verwandtschaft mit
der jeweiligen Volkssprache der regelmässigen erwachsenen
Umgebung des Kindes besitzt. So sprach ein süddeutsches
in Süddeutschland aufwachsendes Kind zuerst , jut" statt „gut'*
u. ä,, offenbar, weil es gerade in der Zeit der ersten Sprach-
bildung ein aus Cöln stammendes Kindermädchen hatte; nach-
dem diese abgegangen, verlor sich das allmählich und trat
der Ortsdialekt dauernd an die Stelle. Ein in Norddeutseh-
land lebendes Kind hatte für „Essen" den Ausdruck „Am",
das in Frankreich in der Kindersprache die gleiche Rolle
spielt; seine Amme war eine Elsässerin und hatte das Wort
nach eigener Mitteilung in ihrer Heimat oft bei Kindern
gehört.
Die Entstehung der Sprache in der Seele des Kindes
ist demnach ein sehr verwickelter Hergang, an dem Kind wie
Erwachsene ihren Anteil haben. Das Kind liefert bei den
ersten Worten das Lautmaterial, der Erwachsene macht dem
Kinde die Verbindung von bewegten oder ruhendön Gesichts-
bildern und Sprechbewegungen vor^^); infolgedessen hört das
Kind die genau bestimmten Laute zugleich, indem es be-
stimmte Dinge sieht und ahmt es deshalb wieder die näm-
lichen Laute nach, so oft es der nämlichen Dinge ansichtig
wird. Da aber das gesehene Einzelding bei dem engen Er-
fahrungskreis des Kindes sehr häufig mit andern zusammen-
gesehen wird, überträgt sich der Name sehr leicht auch auf
diese. Wenn mit der Zeit sich die Bedeutung des Namens
auf eine engere Sphäre einengt, so ist das vorzugsweise der
foi-tschreitenden ünterscheidungsfähigkeit des Kindes zuzu-
Dyroff, Seelenleben des Kindes. 2
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schreiben; aber es kann nicht geleugnet werden, dass der
Sprachgebrauch der Erwachsenen dabei die Wirkung einer
Eontrolle ausübt.
Aus dem Gesagten erklärt sich nun vielleicht die Er-
scheinung, dass trotzdem „Papa'* und „Mama*' bei den ver-
schiedensten Völkern im gleichen Sinne vorkommen und dass,
wie behaupet wurde, manche Völker die Worte auch im um-
gekehrten Sinne verwenden. Die Deutung der Gefühlslaute
„Papa" und „Mama" seitens der Erwachsenen auf sich selbst
ist zu naheliegend, und bei manchen Völkern soll nicht die
Mutter, sondern der Vater das Kindermädchen machen.
Die Worte „Papa" und „Mama" haben aber noch eine be-
merkenswerte Eigentümlichkeit. Sie bestehen aus Verdoppelungen.
Das liegt im psychischen Organismus des Menschen, vor allem
des Kindes. Einmal Erlebtes klingt gerne nach, so Bilder
im Auge, so Eindrücke im Gehör. Das Kind sagt zuerst
nicht gerade bloss das zweisilbige „Mama", sondern sprudelt
meist ein „Mama mama" hervor. Heisst die Wärterin etwa
„Anna", was das Kind ebenfalls gut aussprechen kann, so
wird sich das Kind selbst bei gelinder Aufregung überstürzen
und „Anna nana" sprechen. Ähnlich statt Grosspapa zuerst
Opapapa ^^). Erst die Sparsamkeit des Gedächtnisses schränkt
den Silbenüberfluss auf die einfache Wiederholung ein. Da-
her wird die Zweisilbigkeit regelmässig: So in „Papa", „Mama",
„Wawa" (sowohl für „Wasser" als auch für den „Wauwau"),
„Pipi" (für das Fliegende), „Hoho" (= „Allall" oder „es ist
nichts mehr da"). Auch „Hoto" (für „Pferd") und „Ada" (für
„Adieu" oder auch „Fort- gegangen") dürfen als Verdoppe-
lungsworte angesehen werden. Die Ähnlichkeit der ebenfalls
reduplizierenden Negersprache mit dieser wirklich kindlichen
Eigenschaft der Kindersprache ist unleugbar, und man darf
hierin ein Zeichen für die ßückständigkeit, aber auch für die
ürsprünglichkeit jener Sprachen, erblicken.
Ahmt das Kind später die Worte der Älteren nicht mehr
nur instinktiv, sondern mit dem Willen, es ihnen gleichzutun,
nach, so wird sich nicht selten ein Widerspruch zwischen
Absicht und Können einstellen. Das führt im Bunde mit der
Ökonomie des Gedächtnisses und manchmal wohl auch mit
einer gewissen Sprechträgheit und einem unzulänglichen An-
hören des Vorgesagten dazu, dass das noch nicht Auszu-
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«prechende durch das Aussprechbare ersetzt wird. Die un-
glaublichsten Wortverstümmelungen sind die Folge. Das gehörte
„Irene" wird zu „Ene", „lene", „Nene'*. Aus „Kirsche*' wird
„Titten", aus „Papagei" „Papabei", ja aus „Gunter" „Hadda" **)
aus „Kätchen" „Iche" *^). Aus ähnlichem Grunde erklären sich
leicht einige Sonderbarkeiten in dem Fortschritt der Laut-
erzeugung. Ein Kind sang längst: „La, la, la, la, la, la"
und gab den Namen „Adele" doch mit „Adädä" wieder,
als ob ihm „1" fremd sei. Es sprach längst ,j" aus und
reproduzierte trotzdem gehörtes „Ja" mit „La". Es vermochte
„i" zu sprechen, modelte aber „Bitte, bitte!" zu „Bade, Bade"
um. Hier wirken offenbar ältere, fest gewordene Lautver-
bindungen nach. Im 4. Jahre verkürzten Kinder aus Ab-
sicht, mit dem Worte spielend, unbequemere Wörter, so „Loko-
motiv" in „Tief", „Schmetterling" in „Ling". Dann erleiden
aber aucli Sätze das gleiche Schicksal. So soll etwa „Hast?"
bedeuten: „Hast du gegessen?" oder „Hast du geschlagen?"
Nur der Zusammenhang kann die Lösung des Rätsels geben.
Dass aber die Kinder sich Mühe geben, die Worte der Er-
wachsenen richtig aufzufassen, beweisen die in den Anfängen
der kindlichen Sprachbildung häufig vorkommenden Doppel-
formen. „Arbeiten" drückte ein Kind von 17^2 Monaten so-
wohl durch „Abeidn" als auch durch „Ebeidn", „fertig** zuerst
durch „Wedn**, dann durch „Wedid", „Erdbeere" zuerst durch
„Äben", dann durch „Äbenn", „Äbn", „Ebeidn" (Erinnerung
an „Arbeiten"), „Äwedn", endlich „Äbedn" aus.
Eine interessante Erscheinung, die in der Sprache der
Erwachsenen ihre Analogie hat, ist die der Bildung von Wort-
reihen. Verschiedene Wörter erhalten die gleiche Endung.
So hatte ein Kind von 16 Monaten „haich" (fast = „haisch")
für „heiss" (der Ofen) und am selben Tage „Baich" für „Ball"
(Spielball) angenommen. 23 Tage später hat es statt „Pipichen"
(für Hühner und Vögel) „Babaich" im Gebrauch, in der Folge
heisst es „Onkaich" für „Onkel", „Ampaich" für „Ampel".
An Stelle dieses „Aich" tritt dann etwa einen Monat später
^,ich" in „Windich" (= „windig" in fränkischer Aussprache),
„Mindich" (= Mieze, Katze), „Onkich" (= „Onka", Onkel).
Ein zweites Kind von I7V2 Monaten hatte für ihren
Bruder den Namen „Hadda". Als ihr ein Hund „Wodan"
bekannt wurde, hiess er statt „Wodda" alsbald „Wadda**, für
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sich selbst bildete es eine Zeitlang das ihm nicht mitgeteilte
Wort „Madda". Da diese Kinder solche Endungen nur an
Bezeichnungen für selbständige Dinge anfügen, kann vermutet
werden, dass es schon Dingwörter und Tätigkeitswörter zu
unterscheiden begann.
Auf die gleiche Annahme führt dann auch das Eintretea
der frühesten Satzbildung. Wenn ein Kind von H^/g Monaten
vor einem Besuch mit dem rechten Zeigefinger zuerst auf den
Vater deutet und „Papa" sagt, sodann, ebenso die Deutbewegung^
und das Wort „Mama" verbindend, sich zur Mutter wendet,
so ist es wohl nicht allzukühn, das in die Sprache der Er-
wachsenen zu übersetzen mit : „Dies ist der Papa" und „Dies
ist die Mama", zumal wenn das Kind am gleichen Tage dea
Vater zu seinem Seidenpudel mit dem Rufe: „Wawa" gelockt
und der Mutter befohlen hatte: „Mama, Aam abn" (= „Mutter,^
ich will Essen haben"). Auch „Fall" = „Ich bin gefallen" und
„Papa ada" sind solche einfache Sätzchen. Satzbildung aber
setzt eine gewisse Unterscheidung von Gegenstand und Prädikat
voraus. Nach dem früher Gesagten ist es nicht unwahrscheinlich,
dass die Tätigkeitswörter zuerst in der Form der Willensbezeich-
nungen unterschieden werden. Das eben angeführte Sätzchen :
„Aam abn" war einer der ersten gesprochenen Sätze eines
Kindes. Das Zeitwort „Haben" ist gewiss im Sinne von
„Haben wollen" der Ür-Ausdruck für das Wollen.
Auch hier schreitet, sobald die Elemente einmal gegeben
sind, die Entwicklung rasch von selbst weiter. Im 20. Monat
gibt es bei manchen schon grössere Berichte von 5 Sätzchen.
Unterdessen hat sich aber auch der Wortvorrat beträcht-
lich vermehrt. Während das Kind im 12. Monat kaum über
mehr als 5 — 6 Worte verfügt, kann es, wie man berechnete,
im 19. Monat etwa 115, am Ende des 24. Monats schon
etwa 751 besitzen. Die Zeitwörter stehen voran, dann
kommen die Hauptwörter; die Interjektionen sind gering an
Zahl, werden aber häufiger gebraucht. Eigenschaftswörter
sind sehr selten, augenscheinlich, da der junge Geist die
Gegenstände mit ihren Eigenschaften erfasst, nicht aber dazu
vorgeschritten ist, die Gesamt-Eindrücke zu analysieren. Noch
viel weniger gelangt das Kind dazu, die verschiedenen Dinge
in eine geistige Ordnung zu bringen; daher fehlen die Kon->
junktionen fast gänzlich 2^).
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Im dritten Jahre hat sich ein Geftthl für den normalen
Klang der Muttersprache festgesetzt und Fremdwörter oder
absonderliche Bildungen werden als solche unmittelbar erkannt*^).
Es gibt eine Periode, in der die sprachlichen Neuheiten als
solche Heiterkeit erregen, so etwa die Wörter „Brillenschlange",
„April", eine andre, in der etymologisiert wird — dies ungefähr
Tom 4. — 9. Lebensjahr. Die Kinder geben sich dann als ge-
borene Wortklauber und Philologen, und es ist nur ein be-
rechtigter Anschluss an die natürliche Entwicklung, wenn man
im Unterricht vorerst den Wortuntemcht vorherrschen lässt.
Letzteres hat aber noch einen andern praktischen Nutzen :
Die Wortgleichheit bei verschiedener Bedeutung macht dem
jugendlichen Verstände viel zu schaffen und führt zu tau-
senderlei, oft drolligen Missverständnissen. Die Erwachsenen
lachen und die darin liegende Kritik macht das Kind nach-
denklich. Hier kann und muss die Worterklärung der Schule
helfend eingreifen^*).
Wann aber beginnt beim Kinde die Vernunft? Hier
hat es noch bei der alten Anschauung sein Bewenden: Sie
kommt und sie ist da! Die kleinen Listen des 14 Monate
alten Kindes, um aus dem Bettchen genommen zu werden,
«ind erste Anzeichen für sie. Nach kurzer Zeit werden Ähn-
lichkeiten entdeckt! Hier muss man sich aber wohl hüten,
die Verwendung des gleichen Wortes aus Wortnot und die
Wortgleichheit auf Grund der geistig entdeckten Ähnlichkeit
zu verwechseln. Das französische Kind sagt „Am" für alles
Essbare und für verschiedenes andere; da ist das Wort in-
diflferenter Gefühlsausdruck für tausenderlei. Wenn aber das
Kind von 1^2 Jahren, das gewohnt ist, für Katze „Mindig"
2U sprechen, auch beim Anblick des gezeichneten Löwen
oder beim Schreien des eben gebomen Brüderchens „Mindig"
sagt, so muss mehr vorhanden sein. Ebenso steht es mit
„Papeich" — statt „Pipi" für alle Vögel, mit „Bume" für
Blumen und grüne Blätter. Das ganze zweite Jahr vergeht
mit dem ungewollten Aufsuchen von Ähnlichkeiten, wobei die
Assoziation der Vorstellungen eine ausserordentlich gute Hilfe
gewährt«»).
Im dritten Jahre kommen erste BegriflFsbildungen von Fi-
guren und Farben, dann massenhaft Benennungen wie:
,,Dies ist ein Vogel" auf. Diese Zeit ist durch die stereotype
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Frage: „Was ist das?*' gekennzeichnet. Das Kind will aber
damit nicht etwa dem Wesen der Dinge auf den Grund
gehen, sondern nur die konventionelle Bezeichnung für da&
ihm Auffallende erfahren'®). Unmittelbar daran schliesst das
für die Eltern halb belustigende, halb qualvolle „Warum-
Zeitalter'*. Das Kind denkt viel, merkt Widersprüche in den
Reden der Erwachsenen und macht Witze. Ein 3 V4 jähriger Junge
belegt der Reihe nach die Eltern und Hausmädchen mit Kose-
namen: „Honig- Papa, Honig-Mama, Honig-Rosa*^ Das nicht
viel ältere Schwesterchen fragt beleidigt: „Nuu, und die
Irene?" Er darauf: „Gelee-Irene**. Zwei Monate danach
fragt er seinen Vater, der ausgehen will: „Wann kommst du
wieder nach Hause?" Vater: „Um ein Uhr". „Wann ist das?"
„Wenn bald gegessen wird". „Warum kommst du wieder nach
Hause?" „Weil ich essen muss". Er: „Also bleibe da!" Vor
einem Wasserhaus stehend fragt er nach dem Namen dieses
Hauses. Auf die Antwort: „Wasserhaus" forscht er weiter:
„Schläft da das Wasser drin?"
Mit 5V» Jahren meint er, Katzen könnten keine Buch-
staben lesen, weil man ihr Schreien nicht verstehe. Sie schreien
immer nur Miau, miau ^^). Er hat früher gehört, dass Wasser
das Feuer löscht; nun erfährt er, dass die Wolken Wasser
sind und als Regen auf die Erde fallen. Sofort setzt er die
Mutter in Verlegenheit mit dem Einwurfe: „Warum löschen
die Wolken die Sterne nicht aus?" Ist hier nicht eine Art
Schlussbildung vorhanden? ^2).
Wenn das Kind die Schule betritt, ist es wohl ausgerüstet
mit allen geistigen Fähigkeiten*^). Die Schule und der soziale
Verkehr haben vorzugsweise die Fertigkeit auszubilden. Sie
führen in den unendlichen Erfahrungsstoff der älteren Gene-
rationen ein, sie leiten den Willen, sie folgen liebevoll den
Wandlungen des Phantasie- und Gemütslebens. Sie gewöhnen
das Kind vor allem, sich umfassendere Zwecke zu setzen. So
ist es schon eine viel verwickeitere Handlung als das Nach-
sprechen laut vorgesprochener Worte, wenn das fünf- oder
sechsjährige Kind seine Kleidungsstücke morgens in der richtigen
Reihenfolge anlegt. Ist dies bis zu mechanischer Fertigkeit
eingeübt, so hat das Kind eine grosse geistige Leistung voll-
bracht. Auch das Ruhigsitzen erfordert grosse innere Konzen-
tration. Die Ausführung kleiner Aufträge, das gehorsame
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Befolgen der elterlichen Gebote ist für die ihrer Natur nach
leichtlebige, rasch vom einen zum andern überspringende Jugend
nicht nur ethisch, sondern auch psychisch eine keineswegs ein-
fache Aufgabe. Die Voraussicht des Künftigen ist in der
Hauptsache auf die Erwartung einer Lust oder eines Schmerzes
unter ganz genau bestimmten Bedingungen oder auf die felsen-
feste Voraussetzung beschränkt, es werde das einmal erlebte
später in Tollständig getreuer Wiederholung von neuem ein-
treten. Sich ein Pensum zu merken, fällt den fünf- bis acht-
jährigen, unter Umständen auch noch nean- bis zehnjährigen
sehr schwer, sich selbst ein grösseres Pensum zu setzen,
gelingt sogar Jünglingen von 18 Jahren nicht allzu leicht. Der
Fuchs von 18 — 20 Jahren empfindet die Aufgabe, sich in vier
Jahren, ohne alle Anstachelung durch Zwischenexamina, auf
eine einzige Abschlussprüfung vorzubereiten und auf eigene
Faust sich eine harmonische Sphäre von allerlei Wissen zu
gestalten, viel härter als der, der etwa erst mit 22 oder
23 Jahren die Universität betritt. Persönliche Kultur ist zum
guten Teil ein Hineinwachsen in die selbständige Erfassung
und Durchführung grösserer Zwecke.
Doch all der Fortschritt, der in den Jahren zwischen 7
und 25 liegt, ist weder in seinen zeitlichen Verhältnissen, noch
in seiner Art genügend erforscht. Das Leben weiss hier mehr
als die Wissenschaft. Die ganze grosse Bibliothek von Werken
zur Kinderseelenkunde hat hauptsächlich nur die ersten zwei
bis drei Jahre zum Gegenstand. Die so überaus wichtigen
Jahre 3 — 7 sind nur von einzelnen Forschem in Angriff ge-
nommen worden. Nur wenige, wenn auch recht gründliche,
Untersuchungen haben wir über die Assoziation des Kindes-
alters und über das Gedächtnis in den Jahren 9 — 15. Man
glaubt z. B. festgestellt zu haben, dass das Gedächtnis der
Erwachsenen im allgemeinen rascher uud besser ist als das der
Kinder und dass die Mädchen sich besser auf „Gesehenes**-
erinnern als Knaben. Indes es besteht der Satz zu Recht r
Noch ist die überaus rührige Kinderpsychologie im Werden.
Soweit wir einstweilen sehen können, werden ihr gewissenhaft
und konsequent geführte Kindertagebücher, wenn auch nur
für einzelne Jahre, femer vollständige Beschreibungen einzelner
Tage des späteren Kindeslebens, endlich gute Statistiken über
den Wortvorrat bestimmter Perioden die besten Dienste leisten
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können. Feine psychologische Analyse des Beobachteten und
demnach gewisse psychologische Vorkenntnisse sind jedoch
dazu ebenso erforderlich wie genaue Zeitangaben und Mitteilung
aller Umstände.
Wird aber die Kinderforschung mit peinlicher Sorgfalt
getrieben, so kann sie überhaupt unsere Kenntnis des mensch-
lichen Seelenlebens fördern. Das seelische Leben befindet sich
während der Kindheit in vielfach anderer Verfassung als
während der reiferen Lebensjahre. Es sind dort, wenn man
so sagen will, die Elemente des Bewusstseins in etwas anderen
Verbindungen und meist auch in einfacheren Lösungen gegeben.
Wie wir das Seelenleben im Traume, in abnormen oder in
geradezu krankhaften Zuständen zur Vergleichung neben das
Seelenleben im wachen Zustande stellen, um dessen Natnr
besser kennen zu lernen, so kann auch der Vergleich des
kindlichen Seelenlebens mit dem uns besser bekannten Seelen-
leben der Erwachsenen die Einsicht in die wirklichen Gesetze
unseres natürlichen Verhaltens erhöhen.
Ausserdem hat, wo nur weniges ist, das wenige stets
besonderen Wert. Und darum dürfen wir die bisherigen Er-
gebnisse der Kinderpsychologie mit Dank entgegennehmen.
Hat sie doch vor allem klarer gemacht, als dies zuvor geschah,
dass trotz allen, man möchte sagen, selbstverständlichen indi-
viduellen Verschiedenheiten der Kinder sieh durch ihr Seelen-
leben ein gemeinsames Oesetz der Entwicklung hinzieht, welches
sich an eine wenigstens allgemein zu bestimmende zeitliche
Folge hält. Ist doch auch durch sie wahrscheinlich geworden,
dass geistige Prozesse im kindlichen Leben schon früher eine
Rolle spielen, als man sonst wohl annahm. Wenn ein hervor-
ragender Psychologe der Gegenwart vorschlug, man solle die
Kinderpsychologie und die Tierpsychologie zu einem besonderen
Fach zusammenzufassen, so vermute ich, dass eine solche Zu-
sammenstellung nicht mehr als eine Nebeneinanderstellung
werden wird, die zwar auch gewisse Gemeinsamkeiten zwischen
Kind und Tier, besonders in den ersten Lebenswochen, aber
noch mehr die tiefgehenden Unterschiede in der kindlichen
und in der tierischen Gesamtentwicklung deutlicher sehen
lassen wird.
Endlich gewinnen die Tatsachen der Kinderpsychologie
auch im Lichte eines weiteren Zusammenhanges eine besondere
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Bedeutung. Der Mensch ist und bleibt dem Mensehen der
vornehmste Gegenstand der natürlichen Erfahrung. Dies be-
zeugt das weitgehende^ oft leidenschaftliche Interesse, welches
unser naturwissenschaftliches Zeitalter an den Fragen der
Schule nimmt. Nicht ohne alle Berechtigung will man das
zwanzigste Jahrhundert prophetisch zum Jahrhundert des
Kindes stempeln. Je genauer aber unser Wissen über einen
Gegenstand ist, desto besser werden wir ihm praktisch gegen-
übertreten. Und darum wird auch der Fortschritt der wirk-
lichen Erziehung vom Fortschritt der Kinderpsychologie nicht
unberührt bleiben, da wir dann an die Stelle von blosser Em-
pirie, von Meinen und vertrauensvollem Glauben, ein genaueres
Wissen setzen können. So ist, wenn wir die Bedeutung der
elterlichen Liebe für die Entfaltung des kindlichen Geistes
richtig geschätzt haben, der alte und neue Vorschlag einer
Massenerziehung der Säuglinge durchaus verfehlt. Die beste
Form der ersten Pflege ist auf Grund unserer Beobachtungen
die natürliche: die in der Familie. Femer darf, wenn wir
recht sehen, der Erzieher das Vertrauen hegen, dass seine
Arbeit nicht fruchtlos ist. Die Natur rechnet auf ihn. Und
sie kommt andrerseits seinen Bemühungen entgegen. Sie hat
das kindliche Seelenleben trotz allen Unterschieden zwischen
Erwachsenen und Kindern doch den gleichen Gesetzen unter-
stellt, die dem Erwachsenen aus seiner eigenen inneren Er-
fahrung leicht bekannt werden:
Wahrnehmungen und Vorstellungen und Verknüpfungen
von solchen, Verbindungen derselben mit Gefühlen; Einübung
des Ungewohnten durch oftmalige Wiederholung, Ermüdung
nach zu häufiger Wiederholung finden wir da wie dort.
Der hauptsächlichste Unterschied ist der, dass dasjenige, was
beim Erwachsenen fast jederzeit zusammen auftreten kann,
beim Kinde meist getrennt und unter Bevorzugung einzelner
Lebensjahre auftritt. Daher die vornehmste Tugend des Erziehers
die himmlische Geduld und die Andacht zum Kleinen ist, die nur
den Frauen so recht eigen ist. Wenn oft auf kurze Zeiten er-
freulichen Fortschritts längere Wochen des Stillstands oder
Rückschritts zu folgen scheinen, so erfahren wir von der Kinder-
psychologie, dass die Zustände des Stillstehens periodisch ein-
treten, dass die Natur in ihnen nicht untätig ist, sondern viel-
mehr zu neuen Taten ausholt. Wir sehen nun auch besser
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ein, dass die Erziehang anfänglich Knaben nnd Mädchen
gleichmässig behandeln kann, dass aber etwa vom vierten
Jahre an merkliche Unterschiede in der Interessenrichtung ein-
treten.
Und wir erkennen endlich genauer, dass jede mechanische
Behandlung der Kindesseele verkehrt ist. Nicht Gesetze
wie die des Druckes und des Stosses, der spontanen Reaktion
auf äussere Einwirkungen, der zwangvollen Suggestion und
Dressur beherrschen die innere Entwicklung des Menschen.
Es ist vielmehr ein anderes Gesetz, welches allein in ursprüng-
licher Weise den Kontakt zwischen Geist und Geist vermittelt.
Man könnte es nennen: Das göttliche Gesetz der Liebe.
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Von der Dichtkunst des Kindes-
Die Poesie des Eindeslebens besteht nur für Erwachsene.
Wenn Dichter in den blauen Augen der Kleinen einen Himmel
von Unschuld sehen, so sind sie, die Welterfahrenen, es, die
diese Poesie hineintragen; die unschuldigen Gefühle des Kindes
selbst sind glücklicher Weise rein naiv. Und dann, wenn uns
die Poesie unseres eigenen früheren Kindeslebens aufgeht
und wir in Erinnerung daran schwärmen, gehören wir gewiss
nicht mehr zu den Jüngsten. Höchstens, dass im psychischen
Sein des Jünglings sich die wirkliche Poesie, die in der
Jugend liegt, anmittelbar mit der empfundenen Poesie berührt.
Das Kind selbst ist ein ziemlich prosaischer Geselle, auch
da, wo es, durch das Vorbild der Erwachsenen angezogen und
von einem gewisssen Verständnis fremder Leistungen getragen,
einen höheren seelischen Schwung nehmen möchte.
Indes ist Interesse an Poesie und vor allem an poe-
tischer Form vorhanden, sobald das Kind nur zu denken be-
ginnt Die Kinderreime, wie wir sie aus „Des Knaben Wunder-
horn" und anderen Sammlungen kennen, gehören zu den meist-
benutzten Zweigen der Literatur.
Der Nachahmungstrieb tut sodann bald auch auf diesem
Gebiete seine Wirkung. Ein Knabe fertigte mit 3^/4 Jahren
Verse; er träumte sogar, wie es scheint von solchen**). Um
diese Zeit (3 Jahre 4 Monate alt) stellte er sich z. B. auf
eine Steinplatte, drehte sich im Kreise und sang vier eigene
Verse, die sinnlos waren. Nicht ganz 2 Monate später sprach
er vieles, was er sagen wollte, in Versen, meist in jambischen
von der auch bei anderen Knaben beobachteten Form:
v-' -1 v_/ — V^ ^ W
Das ging so bis ins achte Lebensjahr fort, indem das
Versemachen bald zurück-, bald wieder stark hervortrat. Als
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er fünf Jahre alt war, erfasste ihn die Reimwut, die einst
auch den kleinen Goethe und seine Jugendgespielen nach oder
mit der Versewut befallen hatte. Vor neuen Wörtern, oft
greulicher, oft auch überraschend sinnvoller Art schreckte er
nicht zurück. Ein Beispiel genüge: „Semmel*' — „Gebemmel".
Einmal gefiel sein Vers: „Der Riese Goliath ging nach Haus,
Da sah er einen Nikolaus" (5 J. 5 M.) dem Kindermädchen
nicht. Dieses dichtete: „Der Riese Goliath ging nach Haus,
Da sah er eine tote Maus". Er trug die beiden Varianten
dem Vater vor und fragte, welche die schönere sei. Früher
war es ihm gleichgiltig gewesen, ob man seine Reimereien
als entsetzlich hinstellte oder nicht. Zwei Monate später be-
zeichnete er geringschätzig den Reim „Breit" — „Leib" als
„faulen Reim", und von dem reichen Reim „Fanny" — „Fanny"
meinte er, das sei ,ja wieder dasselbe". 5 J. 7 M. alt sah
er eines Morgens jubelnd vom Fenster aus dem Schneefall zu.
Plötzlich sprang er zu den Eltern ins Zimmer zurück: „Da
kann man auch sagen: Der Reiter reitet durchs helle Tal,
Auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl, Er trabt im
Schweiss durch den kalten Schnee, Will heute noch an den
Bodensee." Auf den Beifall der Eltern hin, deklamierte er
aus einem anderen Gedichte weiter: „Bitte, bitte, gib uns
Brot! Bitte, stillet unsre Not! Alle Dächer, Hecken, Wälder,
Alle Wege, alle Felder, Wo ein Fütterkörnchen steckt, Alles ist
mit Schnee bedeckt." Auch das Schwabsche Gedicht, das an-
hebt: „Urahne, Grossmutter, Mutter und Kind" wurde oft
zitiert (noch bis ins 8. Jahr). Freude am Zitieren und Dekla-
mieren wurde auch an andern Kindern gleichen Alters ent-
deckt. Schillers melodische Verse „Mit dem Pfeil, dem Bogen"
pflegen es unseren deutschen Kindeni, die sie kennen lernen,
zwischen dem 5. und 12. Jahre, besonders anzutun; die
schwerer verständliche und in der Wortform härtere zweite
Strophe des Gedichtes gefällt jedoch weniger.
Welcher Art die eigene Poesie des frühesten Alters ist,
ist an folgender Leistung eines etwa 4 Jahre lO^/g Monate
alten Mädchens ersichtlich:
„Da kommt der alte Kaspermann
Und sagt guten Tag.
Er sagt schön guten Tag
Und macht sein Kompliment. ''
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Er hat das Kindchen lieb.
Dann macht er wieders (?) auf
Und geht dann wieder nach Haus.
Dann macht er wieder ein Kompliment zu früh
Hat er kein Kaffee müh (wohl = mehr?).
Dann fängt in der Früh das Kaspartheater (an),
Da ging der Kasper nein.
Dann setzt er sein Hütchen ab.
Und einsmal, wie kam er (= er kam),
Wird der kleine Frühling
Auch das Feld auf schöner Weide
Für die Vöglein kommen.
Die Kasper nahmen ihre Hütchen ab.
Sagt der Kasper wieder guten Tag.
Schaut er auf der Uhr.
Da ist es schon viel Uhr.
Kommt ein Schuhu her
Und an den Stein am Felsen tritt.
Da sieht er einen Wagen,
Sagt Hurrah.
Da sind die Vöglein wieder da.
Da ist der Schäfer-Papa
Und die Schäfer-Mama.
Sagt der Kasper guten Tag.
Jetzt ist das Gedichtchen noch nicht aus.
Auch der kleine Nikolaus.
Da steckt Nikolaus die Zwergchen ein
Und nimmt sie mit in den Himmel hinein.
Da sagt das Zwergchen nichts.
Da kommt das Zwergchen wieder,
Sagt guten Tag und legt sich nieder
Dann macht er wieder (so? d. h. ein Kompliment
mit der Mütze?)
Geh weiter. Sagt: Böser, böser Zwerg!
Da macht er auch was (Kompliment mit der Mütze?),
Sagt: Guter Zwerg, guter Zwerg!
Da macht er Euch nichts.
Nach (= her?) ist das schon wieder fertig.
Jetzt ist das Gedichtle alles aus.
Da oben fliegt die goldne Maus.
Da kommt die Kasperpolizei
Und geht das Kind im Bett".
Zum besseren Verständnis dieser seltsamen Verse sei
einiges hinzugefügt. Das Kind spielte mit einer mtttzenförmigen
Papierdüte, indem es sie bald auf den Kopf setzte, bald wieder
— bei dem Refrain: „Guten Tag^* — vom Kopf nahm. Wir
treffen also Verbindung von Poesie und Mimik^ wie sich uns
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der genannte Knabe anfänglieh zugleich dichtend, singend
und tanzend vorstellte. Das Mädchen dichtete aus dem Steg-
reif, ohne sich beachtet zu wissen. Alles ging so schnell, dass
der Beobachter selbst stenographierend nicht mitkommen konnte.
Der Beobachtende hatte den Anfang nicht gehört. Das Ganze
ist Bruchstück.
Man sieht leicht, dass der in Kinderversen beliebte
Jambus angestrebt ist. Das Muster waren anscheinend die
Kinderreime, die beginnen:
„Es war einmal ein Mann,
Der hatte einen Schwamm.
Der Schwamm war ihm zu nass
Da ging er auf die Gass usw."
Vorstellungen aus dem Struwelpeter (der kleine Niko-
laus?), aus Märchen (Zwerge, Schuh u, Schäfer) und Gedichten
(Hanskaspar) geben in der Hauptsache den dichterischen Stoff
ab. Es ist daher zu vermuten, dass auch der Frühling mit
dem Feld „auf schöner Weide" und „der Stein am Felsen"
nur Reminiszenzen sind und zwar unverstandene, wie der
Unsinn beweist. Von den „Vöglein" ist wohl kein Aufhebens
zu machen; da ist wahrscheinlich lediglich die Wortform an-
ziehend gewesen. Und ebenso wird es mit „Hütchen" und
„Kindchen" stehen. Was bleibt aber dann? Das Kompliment,
das Kasperltheater, der Kaffee, die Uhr, der Wagen mit
dem Hurrahschreien. Ich weiss nicht, ob diese Vorstellungen
als poetische bezeichnet werden können. Der Satz: „Da ist
es schon viel Uhr" sagt mehr als alles andere. Und deshalb
ist es auch kaum glaublich, dass das Kind in der Vorstellung
des von Hurrah begrüssten Wagens eine besondere poetische
Stimmung fand. Mit anderen Worten: In dem Gedichte
schlummert auch nicht das kleinste Fünkchen von poetischer
Kraft, wohl aber einiges kümmerliche poetische Gefühl.
Das Gesagte mag noch durch wenige Mitteilungen über
die poetische Entwicklung jenes Mädchens ergänzt werden.
6 Jahre 3 Monate alt sagt sie den bekannten Kinderreim:
„Was kosten die Eier?
Einen Dreier.
Das ist mir zu teuer.
Dann nehm ein Zweer.
Das geht schon eher".
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Hierzn bemerkt sie lachend: ,,Da haben sie nicht gesagt:
Ein Zweier. Es heisst doch: Eher^ und da haben sie darans
gemacht : Zweer". Mit 8 Jahren 4 V2 Monaten tritt sie einmal voll
Stolz an die Eltern heran und trug mit abgewandtem Gesicht vor :
„Gunter hat ein Schiff gemacht
Und die Mutter hat gelacht.
Liebe Mutter, streich mir's an.
Denn ich hab' viel Freude dran."
Der Bruder verriet, dass sie die zwei ersten Verse ur-
sprünglich so gefasst hatte:
„Gunter hat ein Schiff gezimmert,
Und die Mutter hat gewimmert."
Man sieht, wie die Einsicht in das unpassende des ersten
Gedankens sie nach einem andern Reime Umschau halten
liess. Der Reim „Gelacht** lag auf der Oberfläche. Welch
hübscher Zug nun in der Freude der Mutter über das wohl-
gelungene Werk ihres Lieblings liegt, ging ihr dabei gewiss
nicht auf. Etwa 2 Monate später extemporierte sie wegen des
Keimes auch einigen Unsinn:
„Und der alte Vogelstrauss
Legt mit Gebraus
Vierzehn frische Eier 'raus."
Für die weitere Zeit mag uns Goethe aushelfen. Wir
erfahren aus seinem eigenen Munde, wie er die „Volksbücher",
„diese schätzbaren Überreste der Mittelzeit", die Bibel, den
Besuch des französischen Theaters und die höhere Literatur
seiner Zeit nach allen Seiten hin auf sich wirken liess und
wie er vor allem seine glückliche Gabe, lange Partien aus
der Literatur im Gedächtnis zu behalten und dann frei vor-
tragen zu können, mit Vorliebe ausnutzte. Auf sonntäglichen
Zusammenkünften wetteiferten er und seine Schulkameraden mit-
einander in selbständig verfertigten Versen. Gelegenheits-
gedichte, anakreontische, epische und dramatische Versuche
stellten sich in der Folge bei ihm ein. Sie fielen Alters-
genossen auf. Aber selbst die besseren Erzeugnisse seiner
Kinderzeit können sich nur durch die Form oder etwa durch eine
überraschende Pointe ausgezeichnet haben. Denn als er mit
16 Jahren die Universität Leipzig bezogen und dort durch
„Madame Böhme^^ und Professor Morus einen besseren Geschmack
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erfahren hatte, verbrannte er in einem Augenblick der Verzweif-
lung das, was er für das Beste von seinen Jugendarbeiten gehalten-
hatte; das für ihn weniger Wertvolle hatte er gar nicht mit
auf die Universität genommen. Es ist im Interesse der Psy-
chologie zu bedauern, dass Goethe sich zu dieser Tat ge-
trieben sah. Denn wir könnten sonst genauer urteilen. Ein
Etickschluss aber ist wohl gestattet. In den bekannten „Poe-
tischen Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi'* würde
wohl niemand den künftigen Goethe erkennen. Sie sind
durchaus rhetorisch gehalten und eine Nachahmung des „Jüngsten
Gerichtes*' von Joh. El. Schlegel. Zudem war Goethe bei
der' Redaktion der Verse kein Kind mehr; er zählte 15 oder
16 Jahre. Auch was er an seinem 16. Geburtstage in das
Stammbuch von Friedr. Max „Moor** schrieb (Hempel III,
S. 313), ist mehr gescheid und klug gedacht als poetisch
trefflich:
„Dieses ist das Bild der Welt,
Die man für die beste hält!
Fast wie eine Mördergrube,
Fast wie eines Burschen Stube,
Fast so wie ein Opernhaus,
Fast wie ein Magisterschniaus.
Fast wie Köpfe von Poeten,
Fast wie schöne Raritäten,
Fast wie abgehatztes Geld,
Sieht sie aus, die beste Welt.
Es hat der Autor, wenn er schreibt,
So etwas Gewisses, was ihn treibt.
Der Trieb zog auch den Alexander
Und alle die Helden miteinander.
Drum schrieb ich auch allhier mich ein;
Ich möcht nicht gern vergessen sein."
Das Hübscheste an diesem Elaborat, das so wenig dem
Stammbuchton jener Zeit entspricht, ist wohl die — kaum
originelle — Schlusswendung. Dass aber Goethe doch schon
ein innigeres Gefühl sein eigen nannte, bezeugen die in der
Diktion an Faust erinnernden, in einen Brief vom 21. Oktober 1765
(also 2 Monate später) versprengten Verse:
„So wie ein Vogel, der auf einem Ast
Im schönsten Wald sich, Freiheit atmend, wiegt.
Der ungestört die sanfte Lust geniesst,
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Mit seinen Fittigen von Baum zu Baum,
Von Busch zu Busch sich singend hinzuschwingen."
(Hempel III, S. 129.)
Was aus den folgenden Jahren erhalten ist, trägt bis
etwa 1770 hin nicht viel interessantere Züge. Die Zeitpoesie
spiegelt sich darin mehr oder weniger getreu wieder. Nur
die Oden an Behrisch (Hempel III, S. 31 ff.) ragen, obwohl
auch sie hauptsächlich nur Nachbildungen sein werden, durch
Wärme und innere Bewegung hervor, offenbar, weil der Dichter
an Behrisch mit ungewöhnlicher Liebe hing. Wohl mit das
Gelungenste ist übrigens das parodistische Lied auf den
Kuchenbäcker Hendel in Leipzig, das beginnt:
„0 Hendel, dessen Rulim vom Süd zum Norden reicht,
Vernimm den Päan, der zu deinen Ohren steigt!'*
und schliesst:
„Dein Wohl ist unser Stolz, dein Leiden unser Schmerz,
Und Hendels Tempel ist der Musensöhne Herz."
Solche parodistische Gedichte liebt das Alter von 16 bis
20 Jahren und die Jugend beherrscht auch hier leicht die
Form. Nehmen wir alles in allem, so dürfen wir wohl sagen:
Mit 16—20 Jahren bringt es Goethe nur sporadisch zu eigener,
wirkungsvoller Poesie. Seine Gedichte aus der Kindheit werden
schwerlich besser gewesen sein.
Stellen wir nun neben diese allgemeinen Behauptungen
eine Blutenlese von kindlichen Reimereien, die von den Kindern
ohne fremde Beihilfe und, von den Festgedichten abgesehen,
auch ohne fremde Anregungen ausgeführt wurden!
I.
„Zu Bieberich am Khein,
Da mag es wohl gar lustig sein.
Dort unten wohnt ein Mann,
Der gute Torten backen kann.
Er backt auch Lebkuchen.
Von denen bekamen wir zum Versuchen.
Die haben uns recht gut geschmeckt,
Als wir mit der Zunge daran geleckt.
Er ist aber auch mit uns verwandt.
Denn seine Frau war meine Tant."
Aus diesen Versen eines 9jährigen Gymnasiasten (Sex-
taners) sieht das Auge der Schule. Hier ist alles Prosa; der
Dyroff, Seelenlehen des Kindes. 3
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hnmoryolle Schlass sogar eine regelrechte logische Begrttndang.
Deshalb ist es fraglich^ ob auch die lyrische Stimmung, die
in den Versen: „Da mag es wohl gar lustig sein" für den
Erwachsenen liegt, von dem Kinde wirklich gefühlt wurde.
Von dem nämlichen rühii; aus etwas späterer Zeit, aber
noch aus dem nämlichen Jahre ein ebenso nüchternes Verse-
werk her, das die Gründung eines Korps „Viktoria" an einer
höheren Mädchenschule behandelt. Davon nur ausgewählte
Abschnitte :
,Jn der Klasse einer Schule
Sass auf seinem Lehrerstuble
Der Lehrer und ermahnte die Schülerinnen,
Sie sollten das Schuljahr ernstlich beginnen.
Er sagte auch, dass sie recht lernen sollen,
Auch solle keines dem anderen grollen.
Denn mit Zank und Streit
Kommt man nicht weit.
Allein diese Lehre half gar nicht lange.
Denn die Internen glaubten sich vom höchsten Range.
Sie zeigten auch die Externen wegen Schwätzens an,
Sie aber hätten das nicht getan.
Das kränkte die Externen sehr.
Sie sagten: Das dulden wir nicht mehr.**
Es kommt, wohl vor einer der nächsten Unterrichtsstunden,
was der Poet zu sagen vergisst, zur Gründung des Vereins Viktoria :
„Ein schönes, schlankes Mädchen, das ist der Senior.
Die übrigen, die bilden unsres Vereines Chor.
Viktoria, so heisst der Verein.
Halli, Hallo, der wird gedeihn."
Nach Beendigung des Unterichts hält „das schlanke Mäd-
chen" eine Rede an die Externen und eifert sie zum zähen Zu-
sammenhalten gegen die Internen an. Die Rede ist fast ohne allen
Schwung, rein verstandesmässig durchgeführt, wie eine Probe
zeige:
„Wie waren wir so übel draw!
Jetzt wirds übel ihnen gehen.
Das wollen wir doch einmal sehen."
Der Schluss lautet:
„Ich hörte dies und schrieb das Gedicht
Und dacht bei mir: Lang dauert das nicht.
Viktoria, flalli trara!
Wie ist dir doch ein End so nah."
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- 31 -
Auf jeden Fall hat der Kleine ühlands Gedicht „Der
weisse Hirsch" gelesen.
II.
„Beim werten Natncnsfeste dein
Will nicht die alJerletzt' ich sein
Von Nichten, Neffen nah und feru,
Die all dir gratulieren gern.
Klein ist das Angebindt von mir,
Das heut ich send' vom Spessart dir.
Es ist ja nicht einmal zu sehn.
Nun, Onkel, kannst du das verstehu?
Ich grüsse dich, ich kiL«;se dich
Vom Spessart her gar inniglich.
Das kann man doch gewiss nicht sehn.
Gelt, Onkel, jetzt kannst dn's verstehn.
Doch wenn im Sommer du kommst her,
Dann sag und geb ich dir viel mehr.
Und danken tu ich herzlich dir
Für all, was du getan an mir "
Von der Schülerin (9^/4 Jahr) einer Mädchenanstalt.
Vorher geht noch ein Glückwunsch in Prosa. Das Kind liest
sehr viel. Das metrische Gefühl ist auffallend. Die Breite,
mit der der hübsche Gedanke vom unsichtbaren Kuss aus-
gedrückt ist, ist typisch für Kindergedichte — der poetische
Gedanke ist noch nicht klar genug in der jungen Seele. Da-
her auch die verstandesmässige Gedankenführung.
III.
Die Taufe.
„Die Nacht, die Nacht verschwindet,
Es rauschet hin und her
Und leise, leise, sachte legt der Storch ein Kindlein her.
Es ist so hold, so fromm, so gut
Und wenn es einmal grösser ist.
So bleibt es doch in Gottes Hut."
Alles bis auf Überschrift, Versabteilung und Interpunktion
ist hier genau nach dem Autograph der 10jährigen Dichterin
gegeben. Schillers „Gang nach dem Eisenhammer^^ scheint
ihr geläufig gewesen zu sein. Woher die beiden ersten Verse
und der letzte stammen, ist schwer festzustellen. Vielleicht
hat Eichendorf f Pate gestanden? „So bleibt es doch in
<3ottes Hut" ist eine jedem Schulkind begegnende Redensart.
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Von den zwei noch übrig bleibenden Versen ist der eine total
verunglückt, der andere „Und wenn es einmal grösser ist"
nicht einmal im Rhythmus über das Niveau der Prosa hinaus-
gekommen. In der Komposition wird schwerlich jemand ein
Verdienst erblicken, wohl aber in der feinen Anempfindung,
durch die sich dies Mädchen wohl vor allen hier vertretenen.
Knaben auszeichnet.
IV.
Die Alpenrose.
„Einsam stehet eine Blume,
Alpenros wird sie genannt.
Bei dem hohen Alpengrase
Auf des Berges steilem Rand.
Lange Jahre ist gestanden
Sie an diesem steilen Orte.
Von der Höhe zugesehen
Hatte sie einst einem Morde,
Den ein Wildschütz an dem Jäger,
Seinem Feinde, einst begangen.
Da hört man sie leise lispeln:
„Mögest du am Galgen hangen!
Du verruchter, böser Mörder,
Keine Ruh wirst du mehr finden.
Bis du dem allmächtgen Gotte
Hast gebeichtet deine Sünden."
Dann erhob sie Klagelieder
Ob dem guten braven Jäger,
Der so früh dahingegangen
Und nicht findet einen Rächer.
Während sie so drüber denket
An die längst vergessene Tat,
Hört sie was hoch oben rauschen
Auf dem hohen Felsengrat.
Sieh, ein Jäger, schön geschmücket,
Trat aus einer Felsenspalte.
In ein Hom blies er, dass weithin
Durch die Alpenschluchten 's schallte.
Kaum war dieser Schall verklungen,
Als zu diesem Jäger traten
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Viele junge rüstige Jäger,
Haltend in der Hand 'nen Spaten.
Feierlich sprach nun der Jäger
Von der Höh zu den Genossen:
Feierlich will ich [bekennen] euch sagen,
(Wen ich drunten hab] wer den Vater hat erschossen.
Euer frührer Oberförster
Ist plötzlich eines Tags verschwunden.
Lauge habt ihr ihn gesuchet,
Doch ihr habt ihn nicht gefunden.
Ich verruchter, böser Mörder
Hab* ihn drunten dort getötet;
Zum letzten Mal war es gewesen,
Dass er drunten hat gebetet.
Ach mein Vater, ach mein Vater
War der gute, gute Jäger!
Ach, dass ich es gar nicht wusste,
[Dass] Wes ich war der schlechte Schacher.
Orabt ihn aus den treuen Vater,
Den mit Erde ich bedecket.
Grabt ihn aus, ihr treuen Jäger,
Der wohl im Morast noch stecket.
Legt ihn in die kühle Erde
Bei die schöne Alpenrose.
Setzt sie auf das Grab des Vaters
Und bedeckt es mit dem Mose.
Staunend sahn sich an die Jäger.
Doch die Kose sagte leise:
„Also hat er sich bekehret",
Und sah still sich um im Kreise."
Der Verfasser von Nr. I ist jetzt 11 Jahre alt. Er hat etwas
TOD Lenau und Geibel gelesen. Phantasie fehlt ihm nicht. Aber
sie ist noch nicht geschult. Die Jäger werden als noch Jung"
bezeichnet, während sie nach den Voraussetzungen der Fabel
älter sein müssten. Wenn sie auch jünger gewesen sein mögen als
der von dem Wilderer getötete Oberförster, so haben sie doch
seiner Zeit den Leichnam — wohl kaum als Knaben — mit-
snchen helfen, müssen also inzwischen mindestens ins gute
Mannesalter eingetreten sein. Der Verfasser hatte offenbar
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davon gehört, dass zuweilen Wilderer Jäger werden ; er nimmt
zugleich an, dass der Wilderer ein heimlicher Sohn des Ober-
försters war, und dass der „schön geschmückte" Jäger sich
freiwillig der Strafe stellt und, um seine Busse recht schwer
zu machen, die feierlichste Form des Geständnisses wählt.
Diese Voraussetzungen sind dem Knaben, der zur Zeit viele
romanhafte Erzählungen gelesen hat, selbstverständlich; daher
verschweigt er sie und verwundert sich, dass Erwachsene
sein Gedicht „dunkel'* finden. Das Versmass ist ihm offen-
bar wertvoll; er hat es später hinter seiner Niederschrift an-
gegeben:
— v^ - w — V-f — (w)
und lässt ihm zuliebe rhythmische Härten zu. Trotzdem fällt
er einmal („Zum letzten Mal war es gewesen") aus der Rolle.
Bezeichnend ist vielleicht auch der Sinn des Dichters für die
rhetorische Anaphora („Feierlich" — „feierlich"). Das in
Klammern Gesetzte gibt die ursprüngliche Fassung an.
«Lord Roberts, der grosse Held,
Will nehmen den Buren alles Geld;
Doch da geht er zu weit hinaus,
Bringt nur immer Prügel nachhaus.
Cronje, der Gefangene, spricht:
Der Engländer ist ein Taugenichts.
Sperrt er mich auf Helena ein,
Während dessen lässt er wohl sich's sein.
Olivier, der Tapfere, sagt:
Ich hab mich noch nicht zu weit gewagt,
Ich will es zeigen dem englischen Mann,
Dass er mir auf kein Meil Weg etwas anhaben kann.
Lord Methuen, der Gott der Lüge,
Telegraphiert die grössten Siege;
Und vergisst dabei sein eigen Leid
Das wuchtig tobt an seiner Seel und seinem Leib.
Chamberlain, der grosse Bazi,
Ist der zweite Esterhazy,
Darum gehört er auf die Insel nüber,
Darum schiffen wir ihn sogleich über."
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- 35 -
Der etwa 12jährige Burenfreund, dem die Verse ver-
dankt werden, war zur Zeit des Krieges Sehtller einer zweiten
Gymnasialklasse (Quinta). Die Anlage des Ganzen, vor allem
die Wortverbindung : „Olivier der Tapfere", mag durch ühlands
Gedicht: „Kaiser Karls Meerfahrt" irgendwie bestimmt sein.
Der hohe Ton, der in den Worten: „Das wuchtig tobt an
seiner Seel und seinem Leib", angeschlagen wird, erinnert in
seiner Absicht und in seiner Wirkung auf die Erwachsenen
an den dritten Vers von Nr. III.
VI.
Verse aus dem Burenkrieg.
a.
„Joubert schlug den Buller dreimal
An Tugelas warmen Fluten;
Aber statt ihn zu vernichten,
Wollte er die Streite schlichten;
Darum muss das arme Transvaal
Heute und auch allzeit bluten.
b.
Cronje, Transvaals Löwe,
So schnell wie eine Möve,
Aufgelegt zu jedem bösen Streich,
Schlug er die Angelmannen sogleich.
c.
Als die Angeln frech geworden,
Wollten sie die Buren morden;
Doch die Buren gar nicht dumm,
Prügeln alle Angeln krumm.
d.
Chamberlain, der grosse Held,
Schlägt die Buren durch das Geld.
e.
Wenn die Angeln einmal siegen,
Weiss man es bald überall;
Doch wenn sie mal Prügel kriegen,
Erfährt man nichts auf dem Weltall."
Der Dichter ist Zeitgenosse des vorigen und wohl sein
Rivale. Ob d und die beiden ersten von c und e nicht aus
der Burenliteratur des Jahres 1900 aufgelesen sind, wage ich
nicht zu entscheiden. Hier ist endlich einmal, wenn die Wort-
fügungen: „An Tugelas warmen Fluten", „Die Streite
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schlichten^'y „Wie eine Möve'^, „Das arme Transvaal", wie es
allen Anschein hat, echt sind, eine poetische Ader zu ver-
spüren. Auch die Wahl und passende Verwendung der ge-
hobenen Worte „Transvaals Löwe", „Angelmannen", „Angeln",
„Weltall" zeugt für einige Kraft der Phantasie. Doch ist
das Wort „Weltall" dem Versschmied durch die Reimart ein-
gegeben und das EOnstlerisehe zu sporadisch, um von einem
Gedicht sprechen zu können.
VII.
Die Sehnsucht nach dem Burenlande.
„Mich reisst es hin nach jenen Fluren,
Wo tapfere Männer sterben für das Vaterland,
Mich reisst es nach dem Land der Buren,
Die einig kämpfen Hand in Hand.
Mich reisst es hin nach jenem Lande,
Wo*s Panther, Leoparden gibt,
Mich reisst es fort vom Vaterlande,
In dem man nichts als Gerstensaft liebt.
Mich reisst es hin nach jenen Feldern,
Wo*s Diamanten in Mengen gibt.
Mich reisst es hin nach jenem Land mit seinen Wäldern,
Nach dem der Engländer so lüstern blickt
Mich reisst es hin nach jenen Schlachten,
Durch welche Chamberlain zur Einsicht kommt,
Dass man durch Menschenschlachten
Nicht immer auch zum Ziele kommt.
Mich reisst es hin nach jenen Farmen,
Die Kitchener so ruchlos niederbrennt.
Wodurch er sich selbst macht zum Armen,
Indem man ihn einen Mordbrenner nennt.'^
Der Verfasser war 12^/4 Jahre alt.
VIII.
Des Buren Auszug zum Kampfe.
„Am Horizont stieg die Sonne herauf,
Da ritt ein Bure aus dem Wald heraus.
Er kam aus der niedergebrannten Farm,
Zu reichen dem Vaterland seinen Arm.
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Zu rächen an den Briten die zugefügte Schmach,
Die verübt an seinem Weib und seinem Sach.
Er kam gerade zum Lager an,
Als es hiess zu Pferd, zur Fahn.
Und dahin ging's über Flur und Bach,
Nur immer, nur immer den Briten nach.
Und als man sie hatte eingeholt,
Wurden Gewehr und Patronen hervorgeholt.
Es entspann sich eine furchtbare Schlacht,
Die dauerte bis in die tiefe Nacht.
Doch brachte sie den Buren einen Sieg
Und brachte näher das Ende vom Krieg.
Es war dies die Schlacht bei Carnarvon,
In der ein Bur kämpfte mit seinem 14jährigen Sohn.
Ein deutliches Zeichen, dass geneigt sind die Buren,
Aufs äusserste zu verteidigen die heimatlichen Fluren.
Mögen bald heimkehren die Burenkrieger
Als tapfere, edelmütige Sieger.
Das ist der Wunsch der gesitteten Welt,
Die nicht nur nach dem einen trachtet, dem Geld."
Von dem 13jährigen Autor der Gedichte V und VII.
Ein Erstarken der die Vorstellungen zusammenfassenden Kraft
von V aus bis zu VII und VIII ist nicht zu verkennen. In
V hat wohl lyrische, in VII epische oder novellistische Lek-
türe auf die Komposition gewirkt, wenn nicht gar, wie häufig
in Kindergedichten, der Anfang vollständig fremdem Vorbilde
entnommen ist. Das Ethos der Biederkeit, das in VII in der
trotz aller Antipathie mitfühlenden Behandlung Chamber-
lains und Kiteheners, ähnlich wie in V in der Rücksicht auf
Lord Methuens eigenes Leid, zum Ausdruck kommt und in VIII
den angenehmen Schlussakkord bildet (vgl. auch den Dichter
von IV), wird dem Leser ebenso aufgefallen sein wie der
Makamenton der Verse von VIII: „Ein deutliches Zeichen, dass
geneigt sind die Buren*' u. s. f.
IX.
„Zum 22. Januar 1901.
Motto: 'La reine est morte; vive le roü*
Wehklagend ruft der Ir', der Britt, der Schott'
„Viktoria ist tot!'*
1. In England herrschet düstre Trauer;
Die Schmerzensbotschaft ffeht von Mund zu Mund:
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„Viktoria ist tot!^ So klagt aus Herzensgrund
Das ganze Volk vom König bis zum Bauer.
2. Sie musste seh'n mit bitterem Schmerz,
Wie tapfre Bauern schlugen ihre Heere.
Verloren ging sogar die Vormacht auf dem Meere,
Und dieses alles brach ihr treues Herz.
3. Geschlossen sind für immer nun die Lider,
Aus denen freundlich blickt' ein sanftes Augenpaar.
Und ist vergangen einst schon manches Jahr —
Viktoria vergisst man nimmer wieder."
X.
„Zu Kaisers Geburtstag.
Im ganzen deutschen Vaterland
Ertönen Jubellieder.
Vom Inn bis zu der Nordsee Strand
Allüberall hallt es wieder:
Hoch lebe Kaiser Wilhelm! Lang
Herrsch' er dem Reich zum Segen!
Es töne laut des Wunsches Klang:
Heil ihm auf allen Wegen!
Es mögen noch recht viele Jahr*
An unserm Herrscher gut vorübergehn,
D^ss der dann greise Jubilar
Den hundertsten Geburtstag könn' begehn."
Die Gedichte IX und X gehen auf den nämlichen
12VaJährigen Knaben zurück. So stark der Verdacht ist,
dass Nr. IX nicht ohne weitere Anlehnung an irgend eine
Vorlage oder doch mit gütiger Beihilfe eines Erwachsenen
zustande gekommen sei^ so muss doch betont werden, dass
der plötzlich aus der Solle fallende Schluss von IX dies nicht
beweist. Der Dichter konnte, da er beide Gedichte an zwei
aufeinanderfolgenden Tagen schrieb, beim zweiten ermüdet
sein. Dafür dass auch IX trotz aller Reminiszenzen wenigstens
in der Zusammenfügung original ist, mag angeführt sein, dass
der Verfasser mit seiner den Engländern günstigen Gesinnung
unter seinen Altersgenossen allein stand.
XL
„Dort unten im Tale ist mein Heimatland.
Dort unten im Tale ist mir alles so wohl bekannt.
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Dort unten im Freien ich mein Liebchen fand.
[Da hier droben am Berge ist alles öd und kahl]
Doch bald [mich trennte] entführte mich vom Vaterland
Eines [Zigeuners] Räubers sündige Hand.
Er führte mich hinauf in die Gletscherhöhn,
Wo alles öd ist und kahl
Nur einzeln läuft ein Zwerg
Hinüber ins blühende Haslital.
Doch kann man sie nicht sehen.
Drum bin ich ganz allein
Auf diesen kahlen Höhen.
Von der Welt ganz verlassen
Steh ich hier betrübt.
Es scheint, als wollt' mich jeder hassen.
Der sich zu mir heraufbemüht.
Hier oben ist nun Einsamkeit,
[Die das Geplätscher unterbricht,
Denn die Natur sie flieht mich nicht.]
Die der Lawin Geröll nur unterbricht.
Drum kann ich nicht mehr fröhlich sein,
So lang ich bin auf Berges Höhn allein.
[Doch wie entkomm ich wohl des]".
An diesem Punkte konnte der 13 Jahre 2 lilonate alte
Dichter nicht mehr weiter. Kaum zum Weiterdichten hatte
er auf dem Papiere. Die eingeklammerten Worte hat er
selbst durchstrichen. Wir können so seinen Genius bei der
Arbeit belauschen und zugleich erkennen, dass er trotz der
Entlehnung dichterischer Gemeinplätze in gewissem Sinne
original schafft. Der romantische Zug jenes Lebensalters^ den
wir bereits in IV kennen lernten, verrät sich in der nachträg-
lichen störenden Einfügung von der Entführung durch den
Räuber. Der Zwerg aus dem Haslital erklärt sich daraus^
dass der Knabe in der Schule ein Gedicht „Die Zwerge im
Haslital" gelernt hatte.
XII.
„Hörst du den Fluss, der entspringt den eisigen Seen
In des Karwendelgebirges steilen Höhen?
Kennst du den Fiuss^ der viele Blümlein tränkt
Und sich rasch abwärts senkt?
Die Isar ist's, der stolze Fluss,
Der sich in die Donau ergiesst mit schnellem Fuss.*
Von demselben aus gleicher Zeit. Es ist ein häufiger
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Fehler, auch erwachsener Dichter, dass sie geographische
Mitteilungen mit Naturschilderungen verwechseln.
XIII.
„Die Eroberung des Majuba-Berges.
Einige Buren schliefen nocii in ihren Wageq,
Andre wollten sich mit Speise laben.
Da waren die Engländer schon weit.
Denn sie wollten ersteigen den Majuba heut'.
Doch die Buren eroberten ihn schnell,
Ehe es ward noch hell.
Droben angekommen,
Sahen die Buren die Feinde schon.
Die schössen, was sie konnten.
Doch sahen sie immer mehr Buren kommen.
Endlich fiel auch ihr Anführer,
Viele Engländer schon früher.
Hierauf aber wandten sie sich zur Flucht.**
XIV.
„Die Boxer.
Die Boxer sind ein wildes Volk.
Sie sind den Fremden noch gar nicht hold.
Sie werfen mit ihren Lanzen
Und verstehn auch aufzuwerfen die Schanzen.
Sie werfen umher
Mit Spiessen und Speer.
Sie köpfen die Gefangnen,
Oder lassen sie alle hangen.
Nehmt euch in acht,
Reicht nicht die Hand,
Und schiesst sie nach Noten
Hinunter in den Boden.**
XV.
„Zum Geburtstag.
Heut' an deinem Burzeltage
Wünsch' ich dir, du lebest lange.
Und ich will dir gratulieren
Mit viel Äpfel und aucli Birnen.
Komm, wir trinken ein Glas Punsch,
Das ist jetzt mein nächster Wunsch.
Und wir lassen ihn uns schmecken
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— 41 —
Ohne Domen, ohne Hecken.
Und wir lassen ihn noch leben
Und wir alle wollen Dir ein Hoch dazu noch geben.*
Nr. XIII, XIV und XV entstammen der Hand eines
Knaben von I3V4 Jahren. Er scheint hauptsächlich mit eignem
Wort-Material zu arbeiten, ist aber noch nicht fähig, die
Prosa der vorher gelesenen Zeitungen zu überwinden. Durch
alle drei Gedichte geht ein Zug nüchterner Verständigkeit,
der wohl vor allem im dritten bei den Versen: „Mit viel
Äpfel und auch Birnen'' — „und wir alle wollen dir dazu
ein Hoch noch geben" hervorsticht. Nur die Stellen: „Sie
werfen umher mit Spiessen und Sper", besonders das kraft-
volle kurze: „Nehmt euch in acht. Reicht nicht die Hand'',
in XIV zeigen in Rhythmus und Gedanke, dass die Seele
des Verfassers einen höheren Flug zu nehmen vermag. Dass
der Gratulant sich den Punsch „ohne Dornen, ohne Hecken", d. h.
wohl ohne Bedenken oder ungestört, schmecken lassen will, ist wohl
dem Reime, dem Vater vieler schöner Gedanken, zuzuschreiben.
Den Reim „Wunsch — Punsch" hat sich kaum je ein jugend-
licher Gelegenheitsdichter bei einem Festcarmen entgehen lassen,
so wenig er in anderem Zusammenhang den ebenfalls assozia-
tiv nahe gelegten Reim „Mutter" — „Butter" (auch „Futter")
unterdrücken wird. Im übrigen fechten Reimschwierigkeiten
den Autor wenig an.
XVI.
Der nächtliche Posten.
;,Drau8sen ist es kühle Nacht.
Alle, alle schlafen schon.
Nur der ferne Posten wacht
Und schaut auf zu Stern und Mond.
Er denkt an Gottes Güte,
Die ihn bisher geführt.
Doch ist er auch sehr müde,
Er steht schon lange da.
Er denkt an seine Eltern
Und an die Gattin fern,
Wie sie vom grossen Weltherrn
Beschützet würden gut.
Doch wird er immer müder,
Er fängt zu schlafen an.
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— 42 -
Doch plötzlich wird er wieder
Wach und gedenkt der Pflicht.
Da sieht er plötzlich schleichen
'nen feindlichen Spion. i
Doch tut er nun nicht weichen,
Sondern er ruft mit Hohn:
„Steh still, du falscher Wicht!
Sonst geht es dir gar übel.
Ich lösch dein Lebenslicht,
So dass du nie heimkehrst.^
Da rauscht^s und raschelt's im Gebüsch.
Er streckt den Schurken gar schnell nieder.
Es stehen da vor ihm ganz frisch
Wohl hundert feindliche Soldaten.
Er feuert drauf, es falten Leichen
Aus seiner Feinde grossen Zahl.
Es kommen Brüder auf dies Zeichen,
Die finden ihn umringt von vielen vor.
Sie hauen drauf, sie werfen alle nieder,
Doch ist er nicht mehr da zu finden.
Sie suchen jetzt und suchen immer wieder.
Da endlich liegt er still am Boden.
Er liegt verwundet da und spricht:
„Ihr Brüder, bringt viel Grüsse heim
An Weib und Eltern. Lasst mich nicht
Hier sterben und begrabt mich nur daheim.
Lebt wohl!" Mit diesen Worten scheidet er,
Die Freunde tun ihm seinen Willen.
Ihn betrauert nicht ein grosses Heer.
Nur wenig Freunde von ihm sind es.
Es trauert sein Weib auch gar so sehr.
Doch macht ihn das nicht lebendig.
Er fiel für Vaterlandes Ehr.
Das ist des Ruhms genug für ihn."
Fr. Kr. (etwa 14 Jahre alt) hat den Stoff wohl selbst
ersonnen. Hie und da glaubt man den Ton des Volksliedes
zu hören. Der Schluss hat einige bedeutsame Reflexionen.
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- 43 -
XVII.
„Am Namenstag des Königs.
ünserm König rufet „Hoch!"
Der des Landes Glück ernähret.
Leicht ja ist der Herrschaft Joch,
Wenn die Liebe es verkläret.
Gross und schön ist's König sein
Und des Rechtes Schwert zu tragen,
Ihm zu walten stark und rein
In den sturmdurchwehten Tagen.
Und zu sehn des Ruhmes Licht
In der Zukunft sich erheben
Und des Dankes fromme Pflicht
Einzuernten für sein Streben.
Aber schwer ist auch die Bürde
Für die Schultern, für die müden.
Spät kommt des Erfolges Zierde,
Spät auch erst des Dankes Frieden.
Und es wächst nur eine Blume,
Die dem Throne Duft verleihet,
Lieblich lacht vorm grössten Ruhme
Und der Sorgen Wucht zerstreuet.
Das ist Liebe, die wir zeigen
Für den Fürsten treu und frei,
Die der Blum' ist zu vergleichen.
Welche duftet in dem Mai.
Sie lasst uns ihm wohlgemut
Bringen zu dem Namenstage,
Dass er sie als heilig Gut
Still in seinem Herzen trage.
Und wenn wild die Wogen rauschen,
Lasst uns ziehn das lichte Schwert,
Ihr als unsrer Losung lauschen
Und wir sind des Sieges wert.
Unserm König rufet „Hoch** usw.
Der Knabe^ der dieses Gedicht zum festlichen Anlass in
kürzester Frist herstellte, war dem vorigen ungefthr gleich-
altrig (etwa 14jährig). Die unvergleichlich straffere Kompo-
sition und die gewähltere Form sind wohl seiner nach Aussage
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sämtlicher Lehrer gauz hervorragenden Begabung und seiner
höheren Bildung zuzuschreiben. Auch der Ausdruck ist fast
durchweg angemessen und ungezwungen. Nur zwei Stellen
sind dunkel („Die Blume, die lieblich lacht vorm grössten
Ruhme'', „Ihr als unsrer Losung lauschen*') und eine Kata-
chrese (Die Blume, „die der Sorgen Wucht zerstreut'') istjast
eher geeignet den Bilderreichtum seiner Phantasie zu ent-
hüllen als einen Lieblingsfehler jugendlicher Stilisten zu illu-
strieren. Katachrese ist ohne Phantasie nicht möglich, weshalb
sie denn wohl auch in den zuvor mitgeteilten Proben nicht
erscheint. Denn wenn nach XII sich die Isar in die Donau
„mit raschem Fuss ergiesst*', so hat sich zu diesem Wider-
spruch der Dichter nicht durch seine Phantasie verführen
lassen (er konnte ebenso gut sagen: „Die hin zur Donau
eilet mit schnellem Fuss")> sondern durch Wort- und Eeimnot.
Das Gedicht kann zugleich als Muster von Gedichten
dienen, wie sie Knaben in den Jahren 14 — 17 etwa anfertigen.
An manchen Gymnasien besteht die Übung, in den obersten
Klassen „metrische Versuche'' zu veranstalten. Ich halte das
auf Grund der hier bestätigten Tatsache, dass Kinder durch
Anhören und Lektüre von Gedichten frühzeitig zur Nach-
ahmung angeregt werden können, für wohlberechtigt. Mit 16
und 17 Jahren wagen auch Knaben, die weniger begabt sind,
als Goethe war, schon Dramen oder Epen, immer unter dem
Einflüsse der Lektüre. Von einem Knaben ist mir dies schon
aus dessen 12. und 14. Jahre bekannt. Die Gabe, zu guter
Stunde einen „hübschen" Gedanken in gewandte Reime zu
stecken, ist viel verbreiteter, als man gewöhnlich annimmt.
Dass hierdurch vor allem das Verständnis für Dichtungen
gefördert wird, ist keinem Zweifel unterworfen. Was Licht-
wark vor allem von der Entwicklung des musikalischen Ver-
ständnisses mit Recht behauptet und für den Geschmack in
Sachen der bildenden Künste in Anwendung bringen möchte,
erweist sich so auch gegenüber der Dichtkunst als giltig:
Die Erziehung zum Dilettantismus ist die beste Erziehung
zum Kunstverstehen. Die meisten Gönner der dichterischen
Muse haben einmal „Verse verbrochen" und zwar nicht nur
zur Zeit der ersten Liebe. Und viele werden sogar noch
immer im stillen auf dem Altare opfern, den sie verehren.
Ich würde daher nicht einmal darin eine Übertreibung sehen.
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wenn man zu gelegentlichen metrischen Übungen möglichst
alle Schüler höherer Anstalten im reiferen Alter veranlasste ^
die poetisch Veranlagten froher, die andern später. Denn wie
genügende Fälle lehren, erwacht die Lust am Verse oft auch
noch in Erwachsenen. Aber da die Schulung in der Form
fehlt, fallen sie in die nämlichen oder ähnlichen Fehler wie
die von uns aufgeführten Kinder, und da, was in der Jugend
verzeihlich, im Alter lächerlich ist, sind solche Dichter Ziel-
scheibe des Spottes.
Die wiedergegebenen Gedichte würden für die Psycho-
logie noch höheren Wert haben, wenn feststände, dass ihre
Verfasser auch noch im höheren Alter der Muse treu blieben und
wenn etwa spätere Werke neben jene früheren zum Vergleich ge-
stellt werden könnten. Berichten kann ich einstweilen nur,
dass der Dichter von XVII noch jetzt, nach beiläufig 28 Jahren,
seine Gefühle gerne in Reime giesst und, wie ich höre, bei
allen denen, die er mit seinen Liedern bekannt macht, grössten
Beifall findet.
Bedeutenderes Material an Gedichten aus der Zeit vor
dem 15. Lebensjahre ist mir bis jetzt nicht zur Verfügung.
Einen mir zu Gebote stehenden kleinen Zyklus lyrischer
und epischer Gedichte eines Ejiaben vermag ich nicht zu
datieren. So auch nicht seine folgenden Album verse:
„Sei fromm und zufrieden.
Sei heiter und rein.
Dann wirst schon hienieden
Ein EngJein du sein."
„Durch des Lebens Pilgerreise
Wandle du auf Rosen hin,
Bis dir in dem Engeik reise
Himmelfreuden schöner blühn."
„Wahre Eintracht, wahre Liebe
Sollen unsre Herzen binden
Und die jungen Freundschaftstriebe
Sollen selbst im Grab nicht schwinden.**
Wer je einen Blick in die Stammbücher unserer Kinder
getan hat, findet hier ihre Blumensprache und ihren Gedankenkreis,
der auf das 18. Jahrhundert zurtlckgehen mag, unschwer
wieder. Die Stammbuch-Manie steht bei Kindern gewöhnlich
Dyroff , Seelenleben des Kindes. 4
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um die Jahre 10 — 14 in Blüte. Danach wird sie in der Regel
verachtet. Auch jene kurzen Verse, die zudem, weil sie der
Phantasie keinen weiten Flug zumuten, dem jugendlichen
Geiste leichter gefallen sein mögen, gewähren kein anderes
Bild als die vorausgegangene Serie. Besonders nahe stehen
sie der Nummer III unsrer Sammlung.
Es wäre natürlich, schon um ein nur ein problematisches
Urteil bilden zu können, wünschenswert, wenn die Sammlung
erweitert und besonders durch ähnliche Belege aus der kind-
lichen Poesie anderer Nationen ergänzt werden könnte.
Calderon hat, wie in seinen Biographien zu lesen steht, als
lOjähriger im Verein mit zwei Schulgenossen am Jesuiten-
gymnasium zu Madrid im zweiten Schulgange ein Drama
„Der beste Freund der Tote'* zustande gebracht; ihm gehörte
der dritte Akt des Werkes an. Im 13. Lebensjahr schrieb
er allein das Stück „Der Himmelswagen oder der heilige
Elias". Man geht wohl nicht fehl, wenn man den grösseren
Teil den poesieliebenden Jesuiten zugute schreibt. Der Geist
der Kinder amalgamiert sich aufs leichteste fremdes Eigentum,
und da sie auf das „Woher" nicht achten und darum sich
auch auf die Quelle nicht erinnern können, betrachten sie das
Entliehene ohne weiteres optima fide als ihr Eigentum. Wie
oft hört man von den Kindern (noch im 9. Lebensjahr und
wohl auch später), wenn man sie bei sicher nicht selbst-
erfundenen Versen nach jdem „Woher" fragt, die Antwort:
j^Das habe ich mir selbst herausgedacht" '^). Belehrt sie der
Erwachsene über die fremde Herkunft, so glauben sie ihm
nicht leicht. Noch der 18jährige Absolvent unserer Gymnasien
bildet sich ehrlich ein, dass er viele ihm in langem unter-
richte beigebrachte Gedanken aus sich selbst habe. Zu be-
achten ist an der Notiz aus Calderons Entwickelung, dass er
zuerst nur einen Akt zu fertigen vermag, während er drei
Jahre später sich bereits an ein ganzes Stück macht. Wenn
ich recht unterrichtet bin, sind seine Jugenddramen alle ver-
loren gegangen. Man darf in solchem Verluste bei ihm wie
bei andern, wenn auch mit Vorbehalt, ein Zeichen für den
geringen Wert der fiHhen Leistungen erblicken.
Die Summe unserer Beobachtungen und Erwägungen
lässt sich vorläufig ungefähr in folgende Sätze fassen:
Bis jetzt ist ein wirklich innerlich vollkommen ent-
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sprechendes Gedicht von Kindeshand nicht aufgezeigt worden.
Eine grosse Reihe tatsächlich nachweisbarer kindlicher Gedichte
ist wenig fruchtbar an originellen poetischen Gedanken, während
logische Gefüge in ihnen häufiger sind. Es lässt sich ver-
muten, dass das poetische Verständnis eher erwacht als die
poetische Kraft, und wohl auch, dass poetische Kunst die
Entwicklung der Vernunft zur Voraussetzung hat.
Storm meint im Nachwort zu „Pole Poppenspäler", die
guten Kindergeschichten seien ursprünglich nicht für Kinder
zu schreiben. Wenn man sich auf Goethes Mitteilungen über
«eine Jugendmärchen besinnt, könnte man daran zweifeln.
TJnd doch wird Storm Recht haben. Die Erzählungen aus Kindes-
mund, die ich beobachten konnte, waren keineswegs geist- und
kunstreich. Wollten wir dies auch von den Schriften für Kinder
verlangen, so erhielten wir eine unbrauchbare Jugendliteratur.
Andrerseits wäre aber auch die Annahme den Tatsachen
zuwider, als quelle die poetische Kraft erst im „reiferen"
Alter mit einem Male auf. Auch sie fügt sich dem Gesetze
des geistigen Wachstums und erfordert eine lange stetige auf-
steigende Entwicklung von früh auf (vielleicht schon vom 4.
oder 5. Lebensjahre an). Ist jedoch einmal die Vorbereitung
auf ihrer Höhe angelangt, so bricht die Kunst mit einem'
Schlage in tausend Blüten auf, bei dem einen früher, bei dem
andern später. Calderon hatte sich wohl schon im 20., Goethe,
bei dem jedoch auch die fortgeschrittene Gesamtkultur der
Zeit eine ausgedehntere geistige Arbeit erforderte und körper-
liche Leiden hemmend wirkten, erst im 23. Lebensjahre voll
entfaltet. Körner wurde 22, Hauff 25 Jahre alt durch den
Tod aus reichster dichterischer Tätigkeit herausgerissen.
Dass sich bei Mädchen das Formgefühl früher vervoll-
kommnet als bei Knaben, wage ich auf die wenigen von
Mädchen herrührenden Verse hin noch nicht zu behaupten.
Unsere Mitteilungen beschränken sich darauf, Tatsächlich-
keiten festzuhalten. Es ist dies begreiflich, da eine Erörterung
über das „Warum" dieser Dinge sich vorläufig nur in sehr
gewundenen Linien fortbewegen könnte. Aber freuen wollen
wir uns doch, dass das kindliche Spiel sich auch auf Verse
und Reime erstreckt! An Goethe sehen wir, dass köstliche
Früchte aus jenen wilden Blüten hervorwachsen können.
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Anmerkungen.
Allgemeine BemerkuDg. Der erste Aufsatz war ursprünglich
in Form eines „populärwissenschaftlichen Vortrags" gegeben. Der
festliche Anlass der Veröffentlichung des Büchleins möge es recht-
fertigen, wenn die leichtgeschürzte Darstellung für den Druck bei-
behalten und auch im zweiten Versuch über die „Dichtkunst" des
Rindes angewandt wurde.
S. 1. 1) S. z. B. Thomas S. Th. II 2 qu. 10, a. 12 quamdiu.
usum rationis non habet puer, non differt ab animali irrational!.
Thomas zieht daraus die praktische Folgerung, das ELind stehe sub^
cura parentis und werde durch dessen Vernunft geleitet.
S. 2. 2) Vgl. zum Vorstehenden B. E r d m a n n, Die Psychologie
des Kindes, Bonn 1901, der (besonders S. 33 ff.) ein für viele er-
lösendes Wort gesprochen hat, sowie W. Aments fleissigen und
sachkundigen Bericht „Fortschritt der Kinderseelenkunde 1895 bia
1903", Leipzig 1904. (Auch im „Archiv für die gesamte Psychologie",,
herausgegeben von E. Meumann.) Eine Geschichte der Einder-
psychologie, für die u. a. E. Egger, Beobachtungen und Betrach-
tungen über die Entwicklung der Intelligenz und der Sprache bei
den Kindern. Übersetzt von H. Gassner, Leipzig 1903, Fingerzeige
gibt, scheint mir Bedürfnis.
S. 2. 3) Das Folgende stützt sich besonders auf J. A. S i k o r s k y^
Die 8eele des Kindes, Leipzig 1902, ein Buch, in dem ein aus-
gedehntes Erfahrungsraaterial zu Rate gezogen ist. Aber auch auf
E. Meumann, Entstehung und Ziele der experimentellen Pädagogik,,
in der Zeitschrift „Die deutsche Schule", V Berlin und Leipzig 1901,
S. 66 ff., 139 ff., 213 ff., 272 ff.
S. 2. 4) Sikorsky a. a. 0. S. 14. Vgl. dagegen S. 21: ,Iii
den ersten Stunden" . . . „fühlt das Kind Wärmeunterschiede
recht schwach" usw.
S. 3. 5) Das vorstclienhe richtet sich gegen Sikorsky S. 12 f.
Eine weiter angezogene Analogie aus dem Tierleben hat natürlich
noch weniger Beweiskraft. Jederman weiss, dass die Tiere einen
schärferen Geruch als die Menschen haben. Es ist daher ganz er-
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klärlich, dass das kortikale Geruchszentrum beim Tier als der erste
kortikale Anbau über den grossen Hirnganglien erscheint. Preyer,
der nach vorausgegangener Geruchstätigkeit eine Periode der
Anosmie behauptet, drückt sich vorsichtiger aus als Sikorsky.
S. 3. 6) Nach dem Tagebuch der E.-M. — 1. 1. machte bei der
<Jeburt die Augen weit auf, hielt sie aber dann meist geschlossen,
besonders das linke. Ich gebe hier und im folgenden auch Notizen
aus einem von mir selbst geführten Tagebuche, teils um Bekanntes
zu bestätigen, teils um die eine oder andere neue Behauptung zu
belegen. Es ist natürlich, dass die Zeitangaben nur annähernd mit
den von Preyer vorgebrachten stimmen. Bekanntlich entwickeln sich
nicht alle Kinder zeitlich gleichmässig. Zudem hat meines Erachtens
Preyer selbst im Tage zu wenig Stunden dem Kinde gewidmet.
Bei höherem Alter zeigen Kinder gegenüber dem, der selten kommt,
ziemliche Scheu. Die Erwachsenen aber unterliegen ihrerseits dem
<jesetze, dass sie weniger hervortretende Eigenheiten auch des
kindlichen Seelenlebens in der Regel erst dann beachten, wenn sich
diese Eigenheiten wiederholt haben. Endlich treten neue Er-
scheinungen gerne nur einige wenige Male im Tage auf, um zu-
nächst für kürzere oder längere Zeit seltener zu werden oder zu
verschwinden. So kann es geschehen, dass, wer nicht ständig oder
häufig beobachtet, mit seinen Aufzeichnungen zu spät kommt. Aus
dem Gesagten erhellt auch, dass Aufzeichnungen sofort gemacht
werden müssen.
S. 3. 7) E.-M. am 3. Tage.
S. 3. 8) I. I. am 10. Tag: „Die Augen funktionieren jetzt
gleichmässig". E.-M. (9. Tag): „ümsichblicken nicht mehr". Also
muss sie inzwischen öfters Augenbewegungen gemacht haben, die
Tingefähr als Ümsichblicken bezeichnet werden konnten. 1. 1. schielte
aber noch häufig bis zum 18. Tage hin.
S. 4. 9) I. I. 12. Tag : Sie schaute sich heute, wie ganz deut-
lich ist, um, gleichsam verwundert und andächtig. E.-M. 10. Tag:
Sie fixiert einzelne Persönlichkeiten, und, wie es scheint, auch
Gegenstände.
S. 4. 10) E.-M. 10. Tag, 11. Tag: Sie schaut hell und klar mit
weiten Augen uns an.
S. 4. 11) E.-M. V. 5. I 03. — I. I. verfolgte am 18. Tage
meine Fingerbewegung^en unter leichtem Stirnrunzeln (Stirnrunzeln
vom 2. Tage ab beim Schreien beobachtet, noch im 2. Jahre bei
angestrengter Aufmerksamkeit oder bei der Absicht des Sprechens
vor der Ausführung zu beobachten). Als ich die Finger oberhalb
ihrer Stirn gegen die Haare hin bewegte, folgte sie ganz gut mit
l)eiden Augen, ohne zu schielen. — Die Lampe soll I. I. schon
während der ersten 9 Tage betrachtet haben; sicher geschah es
-am 20. Tag.
S. 4. 12) Aus der späteren Entwickelung des Gesichtssinnes
scheint mir Nachstehendes von Interesse. I. I. 1 Jahr 4^/2 Monate
alt: Kleine Hunde werden mit „Wogg", grosse mit „Hajagg" be-
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zeichnet Der kleinere Haushund heißst ,^lock", von ihr „Wogg**^
genannt, der grössere ,^arra8*' (= „Hajagg'O. Die Unterscheidung^
für Grössen bildet sich wohl bald ans. Dass die Kinder immer
grösser sein wollen, als sie sind, ist allbekannt. (Diese Sucht fand
sich bei einem Knaben besonders im 5. Lebensjahre ausgeprägt.)
Die bei den alten Griechen und in der Benaissancezeit nachweisbare
Wertschätzung der Grösse als eines Zugs der Schönheit oder sitt-
lichen Vorrangs ist vielleicht ein Überrest solch kindlich-natürlicher
Taxation. Wie gerne sich die Gedanken der Kinder in diesem
Kreise aufhalten, besagt folgende Frage eines 3 Vgj ährigen an seinen
Vater: „Gelt, wenn ich gross bin, dann wirst du klein?*' Der in-
haltlich gleiche Gedankengang wurde auch an anderen Kindern
beobachtet. — 5V2 «^ahr alt findet ein Knabe, dass Gott, den er sieb
als erwachsen, also räumlich gross, vorstellt, nicht in einen kleinen
Raum gehen könne. Von den „Riesen**, die ihn viel in Anspruch
nehmen, glaubt er u. a., dass sie allein auf einmaliges Hören etwas-
Schwereres lernen können. Es war ihm gesagt worden, Goethe sei
ein grösserer Dichter als Schiller. Er nennt deshalb von zwei un-
gleich hohen Türen eines Zimmers, die sich neben einander be-
finden, die höhere Goethe-, die niedere Schillertür (5 J. 8 M.). Der
Mutter und dem Vater versichert er oft, er habe sie so gerne wie
die ganze Strasse, in der man wohnte. Um etwas ganz Kleines zu
bezeichnen, gebraucht er den Vergleich einer „Nadelspitze" (Bitte,
noch eine Nadelspitze Gemüse). Dies etwa 1 Jahr später.
S. 5. 13) I. I. hatte schon am 1. Tag scharfes Gehör und
soll den Kopf auf das Sprechen der Erwachsenen hin bewegt haben.
Das mag auffallend sein. Aber das Kind blieb bis zum 9. Lebens-
jahre selbst im Schlaf für Geräusch sehr empfindlich. 2. Tag: Sie
lässt sich durch Wispern sofort begütigen. — 16. Tag: Es ertönt
aus der Wohnung über eine Stiege (in dem sehr gut akustischen
Hause) Klavierspiel. Sie lauscht mit gespanntem Ausdruck, ohne
ein Auge zu verwenden. Ebenso an den zwei folgenden Tagen. —
16. Tag: Ich sang ihr einige Studentenlieder vor; sie Hess sich da-
durch beruhigen. Als ich zu singen aufhörte, fing sie wieder zu
schreien an. Feines Pfeifen hatte keinen Erfolg. — 18. Tag: Als beim
Ttiröffnen die Klinke heftig knackte, fuhr sie heftig zusammen und
weinte. — 33. Tag: Sie schaute sich, als die Mutter sie von rück-
wärts anrief, um. — Die Entwickelung des musikalischen Verständ-
nisses beim Kinde bedürfte einer eigenen Untersuchung. Ein Kind,
das jetzt mit 8^/3 Jahren sehr musikalisch ist, zeigte bereits in
frühester Jugend Anlagen und später besonderes Interesse für Töne
und Tonfolgen. (Tagebuch I. I. 8V2 Monate alt: Sie macht, be-^
sonders wenn sie allein ist, Tonübungen und zwar zuerst die Terz
zu irgend einem Ton, dann Quart, Quint, Sext. Sie trifft immer
wieder genau den Ausgangston. Dieselbe, IOV2 Monate alt: Sie lacht
als ihr eine Melodie „Hinaus, hinaus ins grüne Feld" vorgesungen
wird). Ein anderes vermochte mit 1^/4 Jahren den ersten Takt der
Melodie „Kukuk, Kukuk, rufts aus dem Wald" mit dem Texte „La
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la, La la, La la la la^^, also das ^,La la, La la'' ziemlich getreu —
freilich etwas rauh — nachzusingen; der zweite Takt dagegen wurde
neu rhythmisch, aber nicht melodisch getroffen. Aus W. Dilthey,
Philos. Aufsätze für Zeller, Leipzig 1887, S. 402 setze ich eine Stelle
über das allgemein zu beobachtende Spielen des Kindes mit dem
Ton Wechsel hierher: „Wie dasselbe der Ausdruck überschüssiger
Kraft ist, ist es in der Morgenfrühe beim Kinde am stärksten. Höhe
und Tiefe der Töne, Stärke und Schnelligkeit in ihrer Abfolge und
selbst der Vokalwechsel stehen zu den Stimmungen des Kindes in
gesetznrässigen Beziehungen. Auf diesem Verhältnis sind dann der
Ausdruck in der Musik, gewisse natürliche Elemente aller Sprachen
(nämlich das Symbolische im Tonmaterial, das zu geistigen Vor-
gängen in festen Beziehungen steht) sowie Betonung und Ehyth-
mus in der Rede begründet". — Ein Knabe von 3 Jahren 4 Monaten
sang nachts IV2 Stunden nach dem Bettgehen sehr laut ein Lied,
dessen Text er vorher nicht gehört hatte, stellenweise Unsinn. Am
Tag danach sang er selbstgemachte Verse. Das tut er noch zwei
Monate danach morgens und abends im Bette, wie nach dem
Mittagessen. Damals nahm, wenn er etwas betonen wollte, seine
Stimme einen singenden Ton an. Mit 7 Jahren 1 Monat bittet er
bei Tisch singend, stets mit derselben Melodie, um die einzelnen
Speisen; ebenso bittet er auf der Strasse singend um dies oder
jenes. Seine musikalische Begabung ist dabei gering.
S. 5. 14) Sikorsky, S. 29.
S. 6. 15) Ein Mädchen war 4^/^ Monate nach seiner Geburt von
dem Vater getrennt worden. 4 Monate später kommt sie wieder zu
ihm. Sie ist gegen den Vater anfänglich freundlich, bald aber fremd.
Dann macht sie jedoch in der Behandlung einen Unterschied zwischen
dem Papa mit Zwicker, den sie anerkennt, und dem Papa ohne
Zwicker, gegen den sie scheu tut. Nach einer Woche hat das Kind
aber entdeckt, dass der Zwicker nicht zum Vater gehört. Denn sie
Ist auch gegen den Zwickerlosen freundlich; ja sie versucht selbst,
den Zwicker vom Gesicht wegzureissen. Die Mutter, die nur
14 Tage von ihm ferne war, wurde vom ersten Wiedersehen an
wie früher behandelt. Als das Kind 1 Jahr und fast 2 Monate alt
ist, verlassen die Eltern mit ihm auf 11 Tage das Haus. Wie es
wieder zurückkommt, begrüsst es mit grosser Freude die alten
Gegenstände. Ein Spielzeug aas Stoff, einen Hund darstellend, mit
dem es nur einmal am Tage der Abreise gespielt hatte, nennt es
sofort „Wawa". Bei dem Wort „Nelly" sucht es auf dem Boden
(der — wirkliche — Hund, der diesen Namen trägt, ist meilenweit
entfernt). — G. sieht, 5 Jahre 3 Monate alt, ein Bild von Dreyfus.
2V2 Monate später sieht er anderwärts das nämliche Bild und sagt
sofort: „Das ist der Dreyfus'*. „Woher weisst du das?" „Du hast
es mir ja selbst in A. gezeigt". — Als er 5 Jahre 5 Monate alt ist,
wird ihm ein Genrebild gezeigt mit den Worten „So ähnlich malt
der Knaus". Nach drei Wochen sieht er das gleiche Bild und
reproduzierte: „So ähnlich malt der Knaus". Um kleinere Gedichtchen
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auswendig zu lernen, braucht er etwa 6, für solche von 8 Zeilen
bald darauf 10 Wiederholungen. Ein Mädchen von 6 Jahren hörte
ein längeres Gedicht etwa 6 mal (ohne es eigentlich sich willentlich
einzuprägen) und sagt es dann von selbst auf. Mit 5 Jahre 8 Monate
hat jener selbst ein Bewusstsein davon, dass man zum Einprägen Zeit
brauche. Als ihm eine Gedichtstrophe zum Nachsagen vorgesprochen
wird, erwidert er: „So schnell kann ich das nicht, das können nur
die Riesen". Der Knabe erblickt um die gleiche Zeit die Adresse
eines Briefes. Er kann noch nichts lesen, sagt aber ohne weiteres:
„Der Brief ist von der Tante M." (wohl kaum blosse Divination). —
Von der Kraft der Einprägung im späteren Alter gibt folgender
Fall einen Begriff. Einem Knaben E. Pf. von 11 Jahren wird das
Thema: „Der Gemsjäger und die Gemse** gegeben. Er darf Hilfs-
mittel diskret benutzen, aber den Aufsatz nicht abschreiben. Die
Diktion soll durchaus von ihm ausgehen. Als er seinen Aufsatz
bringt, glaubt man, er habe doch unmittelbar abgeschrieben. Man
veranlasst ihn sofort das Thema, ohne alle Hilfsmittel, neu zu be-
arbeiten. In kürzester Zeit (etwas über 1/4 Stunde) ist er fertig.
Seine zweite Ausführung stimmt fast wörtlich mit der ersten, ist
aber doch so gehalten, dass man merkt, er hatte nicht etwa ein
gelesenes Stück mühsam auswendig gelernt. Aber auch für den
Fall, dass er es seiner Zeit auswendig lernte, ist die neue Nieder-
schrift eine Gedächtnisleistung. Denn die Aufforderung, das Stück
noch einmal niederzuschreiben, kam ihm überraschend. Der neue
Aufsatz bestand aus 166 Wörtern, von denen er etwa 100 gemerkt
haben musste, wenn er aus dem Gedächtnisse abschrieb. Die neue
Niederschrift lautete mit den wenigen Korrekturen:
„Der Gemsjäger und die Gemse. Frühling ist's. In der Ebene
haben schon längst Veilchen und Anemonien schüchtern, zwischen
den Sträuchern und Bäumen des Waldes versteckt, ihre zarten
Kelche entfaltet und üppiges Grün ziert bereits Wald und Feld.
Da beginnt auch in den Schweizer Alpen reges Leben. Ein warmer
Föhnwind weht über Täler und Almen hinweg und auch auf den
gesegneten Fluren des Hochlands zeigen sich die ersten Frühlings-
boten. In den höher gelegenen Regionen blühen Alpenrosen und
Edelweiss und Farnkräuter neigen, vom Winde bewegt, ihre breiten
Blätter zur Erde hernieder, da erwachen auch die Tiere aus ihrem
Winterschlafe. Die Hirsche ziehen wieder regelmässig zur Äsung
auf das Feld und Reinecke Fuchs schleicht [vorsichtig, spähend]
um den Hühnerstall, vorsichtig spähend, ob [ni] da und dort nicht
eine fette Gans, [und] oder ein stolzer Hahn zu stehlen sei. Die
Gemsen springen von Fels zu Fels, und so zieht auch der Gems-
jäger hinaus, den (dick) kräftigen Bergstock in der Hand und die
Büchse über der Schulter, mühsam [über die] steile Felsen und
Berge zu erklimmen, [und] um auf diese flinken Tiere zu jagen.*'
Der Knabe, der bei der ganzen Sache von einer lügenhaften
Angabe nichts zu erhoffen hatte, behauptete nicht zu wissen,
woher er das Ganze habe. Dass er es irgendwo gelesen haben
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konnte, leugnete er nicht. Er war sehr begabt. Dass viele Kinder
von 11 Jahren aus dem Gedächtnis solche Prosa-Stücke reprodu-
zieren können oder dass sie in der Weise selbst komponieren, ist
mir nicht bekannt.
S. 9. 16) Vgl. Sikorsky, S. 30.
S. 11 17) I. I. 11 Monate 1 Tag alt: Sie bläst die kalte
Vaiiillesauce an, da sie sah. dass die (heisse) Suppe oder das (ge-
kochte) Ei, cevor sie ihr gereicht wurden, zum Abkühlen angeblasen
wurden. Am gleichen Tage soll sie ein hölzernes Stopfei und ein
leeres Löffelchen, kürzlich auch kaltes Wasser angeblasen haben.
S. 11. 18) Zum Nachstehenden vgl. besonders W. Ament,
Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde. Leipzig
1899 und E. Meumann a. a. 0. (siehe Anm. 8).
S. 12. 19) Zum Vorhergehenden und zum Folgenden: I. I.
5. Tag : Man will dreimal „mamm" gehört haben. Uä, uä Ausdruck
des Schmerzes. 16. Tag: Beim Trinken behagliche Laute, meist so
etwas wie kurz abgestossenes „a" (halb in „ä" übergehend). So
manchmal auch im Schlafen („Uä" noch immer Laut des Schmerzes).
32. Tag: Sie will sich unterhalten, kein Geschrei mehr, gurgelnde
Töne. Dieselbe 1 Monat 16 Tage alt: Ihr Schreien wird immer
melodischer. Sie wollte von selbst sprechen (?). Beim Schreien
hörte ich (statt „ä") zum ersten Male reines „a". Beim Trinken
stiess sie Laute aus, die man mit „Mämä" oder besser mit „Wäwä"
(kurz abgestossen) umschreiben kann. Dieselbe 9^/2 Monate: Das
erste Mal ein ganz deutliches „Bäbä". Die Schwägerinnen wollen
schon einige Tage vorher „Papa** und „Mama" gehört haben. Es
gingen» wie auch meine Schwester D. von ihrem Sohne Hermann
berichtet, längere Übungen mit „rrrr" (sprudelnd, nach süddeutschem
Ausdruck ,4orpsend" d. h. als Gaumen-R gegeben) voraus. Dieses bä-
babäbabäbabäwa, mit wa untermischt, wird häufig geübt. Auf dem
Kücken liegend meist „rrrr". Anwendung auf ihren Vater ist noch nicht
vorhanden. Jedoch schaut das Kind auf die Frage der Erwachsenen:
„Wo ist der Papa?" auf ihn, ebenso bei entsprechenden anderen
Fragen auf Grossvatei*, Grossmutter, Tante usw. Auf die Frage:
„Wo ist Nelly?" (Hündchen) sieht sie, sich vorwärts beugend, auf
den Boden. — Einzelne Laute „Erräii", „abrrr". — Das Bäba ungemein
sanft, melancholisch. — Nächster Tag: Als ihr „Mama" deutlich
vorgesagt wird, sieht sie genau auf den Mund des Sprechenden,
bringt aber „Bäba*' heraus. Weitere Sprechversuche. Nach vier
Tagen: „Mabäba". Später: „Amämabäba", „Mabäba". Nach Aus-
sage der Grossmama übt das Kind in der Frühe, wenn es sich un-
gesehen glaubt. — Dieselbe 10 Monate 2 Tage alt: „Mama*' sagt
das Kind besonders^ wenn sie Hilfe braucht, bei Hunger oder
sonstigen unangenehmen Gefühlen. Jedoch auch sonst. „Papa",
wenn sie munter ist und plaudern will. — Dieselbe 10 Monate
4 Tage alt: Heute belauschte ich ihre alknorgentlichen Sprech-
übungen um 5V4 Uhr Vorm., „Mama" tritt in den Vordergrund,
y,Papa" hört man selten. Meist „Mamamamamama" dann „Ma",
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„Ma^' deutlich abgestossen, dann „Mab", dazwischen auch ,^am'^
und einige graphisch nicht festzustellende Laute. Dann wieder
Gurgelfibnngen mit „rrrr**. — 10 Monate 10 Tage: Heute hörte
die Mutter auch die Silben „Mämä". — 10 Monate 11 Tage: Heute
früh 5^/4 Uhr hörte ich zum ersten Male, wie sie silbenweise „papa"
sprach mitten unter „ba-ba". — E.-M. 8 Monate 18 Tage alt: Ihren
Willen drückt sie durch eigentümliche Schnarrlaute aus, so wenn
sie auf den Boden kommen oder auf dem Arm des Vaters tanzen
will. Auf Kommando sagt sie „Mama". Spontanes „Mama" vor-
zugsweise Schmerzlaut, „Papa" bei Behagen. — Die Lehre von den
menschlichen Interjektionen, für die auch die sonderbaren Trans-
skriptionen der wirklichen Gefühlsausdrücke bei Dramatikern wie
Sophokles (Philoktet), Aristopbanes und Gerhard Hauptmann heran-
zuziehen sind, Hesse sich übrigens wohl durch die von den tierischen
Ausdruckslauten zu einer Theorie der Gefühlslaute ergänzen. Ein
dem „M" ähnlicher Laut für den Schmerz scheint sich auch bei Tieren
(Katze und Kuh) zu finden. Natürlich müsste dabei die Ver^
schiedenheit der körperlichen Sprachwerkzeuge berücksichtigt
werden.
S. 13. 20) Wollte eine fremde Person sie anfassen, so strebte
sie sogar unter dem Angstrufe „Anna, Anna" vom Arme ihrer
Amme weg. — „Anna" muss natürliche Lautverbindung sein (I. L
8 Monate 29 Tage: Beim Plaudern brachte sie die Bildung „Baga"
zum Vorschein, wie schon früher gelegentlich „anna", „dada". Hier
fehlte der Bezug auf eine Persönlichkeit. Auch für das Alter von
12 Monaten 2 Tagen und 13 Monaten 8 Tagen ist „Mama" und
„Nana*' verzeichnet, diesmal wohl für Persönlichkeiten). Ebenso
„Hadda*' (I. I. 13 Monate 8 Tage: „HÄdada" als Laut des Ver-
gnügtseins), von E.-M. als Nachbildung des für sie unaussprechbaren
Namens „Gunter" verwendet. Weiter „Abuta" mit dem Accent auf
„u" (I. I. 13 Monate 24 Tage alt, aber auch andere Kinder),
S. 13. 21) Ich muss übrigens bestreiten, dass die Verwendung
der ersten Worte seitens des Kindes gar so vag ist, wie es hie und
da dargestellt wird. Eine Gleichheit des Gefühlscharakters und des
Assoziationszusammenhangs muss in jedem Falle vorhanden sein.
Für verschiedene Persönlichkeiten wird schwerlich je auch beim
jüngsten Kinde der gleiche Name auftreten.
S. 13. 22) Das Hinheften solcher Worte an die betreffenden
Gegenstände könnte als Erfahrungskomplikation bezeichnet werden.
Denn es kann auf keine Weise demonstriert werden, welcher innere
Zusammenhang zwischen der Lautfolge „Papa" und dem Gesichts-
bilde der jedesmal wieder anderen Persönlichkeit besteht. Erfahrungs-
komplikationen kommen aber wie Erfahrungsassoziationen von
aussen. Sonach ist es nicht möglich, dass das noch nicht zu ab-
sichtlicher Sprachbildung vorgeschrittene Kind seine Sprache erfindet.
S. 14. 23) Mit IV2 Jahr sag* ©i" K:ind, nachdem es zweimal
ziemlich richtig „Buddebod" nachgesprochen hatte, wohl ermüdet,
reduplizierend: „Budde-Budde". Dies mehrere Male, trotzdem sie
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von drei Erwachsenen korrigiert wird. In der Aufregung kommen
auch Verquickungen von verschiedenen Wörtern vor. So sagte
E.-M. mit 8V2 Monaten „Mampapa".
S. 15. 24) So E.-M. (eines ihrer ersten Worte).
S. 15. 25) E.-M. im 18. Monate.
S. 16. 26) Zu untersuchen wäre der Gebrauch der possessiven
Pronomina. In der Regel haben die Kinder nur „sein", auch als
weibliches Pronomen: „Der Mama sein Kleid" usw. Lange Zeit
hilft Bereden nichts. Bei einem Knaben drang der sprachrichtige
Gebrauch erst mit 5 Jahren 5 Monaten durch. Frage: „Wessen
Kind bist du?'* Er: „Dem Papa seins und der Mama ihres". —
Kindliche Wortneubildungen sind im 6. Jahre (vielleicht auch schon
früher) zu beobachten. G. (5 Jahre 5 Monate) riecht an Parfüm;
dies treibt ihm Tränen aus den Augen. Er: „Das macht mir grötz-
liche (von „kratzen"?) Augen**. Es wird ihm in einem Märchen
erzählt, wie ein böser König mit seinen Räten von Bienen jämmer-
lich zerstochen wurde, wie dann aber des Königs Tochter dem
Witzenspitzel zur Frau gegeben werden musste. „Darauf fand die
Hochzeit der Königstochter und Witzen spitzeis mit aller Pracht
und Herrlichkeit — " Er wirft ein :" „Und mit grosser Geschwollen-
heit statt*'.
S. 17 27) G. 31/4 Jahre alt, hört seinen Vater zu einem Er-
wachsenen sagen: „Die Einrichtung dieser Mühle ist zu modern**.
Er wendet sich von seiner Beschäftigung ab nach dem Vater zu
mit den Worten : „Ja, sie ist modern**. Später verwendet er das Wort
„interessant** gerne, z. B. „Dieser Möbelwagen ist höchst interessant**.
5 Jahre 5 Monate alt bittet er um ein Gemüse, das ähnlich heisse
wie „Miserabel*', aber etwas anderes sei. Es stellte sich heraus,
dass er Kohlraben meinte. Das für ihn interessantere Fremdwort
hatte sich ihm also besser eingeprägt. Um dieselbe Zeit gebraucht
er gerne „Milliard** für sehr grosse Anzahlen. 5^/2 Jahr nennt er
seine Mutter plötzlich „liebe süsse Tabernakel-Mama". „Warum?**
„Das Wort ist so schön, das habe ich so gern**. „Urahne** erscheint
ihm auch fremdartig; er nennt seine Schwester „Urane** statt
„Irene**. Solche Freude, die sich zuweilen in der lachenden Aus-
sprache zeigt, findet sich noch im 6. und 7. Lebensjahre vor. G.
sprach ursprünglich Fremdwörter nicht gerne vor anderen Personen
aus, er übte sie zunächst für sich, offenbar weil ihm die Aussprache
schwer fiel. — Ein Kind spricht sehr undeutlich. Er sagt: „Das
Kind soll nicht so französisch sprechen** (6 Jahre 8 Monate). Dass
das Sprachliche Kindern sehr nahe liegt, beweist auch die Beliebt-
heit von Wortspielereien. Ein Knabe von 8^/4 Jahren setzte gerne
in die Worte andere Vokale wie „a**, ,4", „ü** (selten e, o, u) ein,
z. B. „Da sasse Bahne mass ans Batt*' statt „Die süsse Bohne muss
ins Bett**.
S. 17. 28) I. I. 6 Jahre 4 Monate hört zum ersten Mal das
Wort „Schnurrbart**. Sie lacht und spricht: „Schnurrbart! Schnurren!
Wie die Katzen schnurren**. Ein Knabe hört, 5 Jahre 1 Monat alt, den
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Namen einer Dame Tobanius. Er sofort: Sie hat immer eine
Bahn bei sich. In dieser Zeit etymologisiert er fast fortwährend,
zuweilen aber auch noch mit 7 Jahren. Man isst bei Tisch Spinat.
Er fragt die Schwester, ob sie Spinnen essen möge. Sie ,,Nein^.
Er: „Dann darfst du auch keinen Spinat essen, Spinn-Spinat*^. Ein
Schluas a majori ad minus. MissTerständnisse. G. (3^2 Jahre
alt) hört, wie die Köchin zufällig äussert: „Alles Gute kommt von
oben^S Abends sagt er plötzlich, als er vor dem Vater auf dem
Tisch eine süsse Speise stehen sieht, in völligem Ernst: „Alles Guts
(= Bonbons, Konfekt usw.) kommt von oben". — Die Schwester
sagt: „Morgen macht die Klasse (= der Schülertrupp) einen Aus-
flug". Er, 5 Jahre 1 Monat: „Das Schulzimmer (= Schulraum) geht
fort?" Auch einem anderen Schulkinde machte gerade das doppel-
sinnige Wort „Klasse*^ Schwierigkeit.
S. 17. 29) G. bezeichnet öVj Jahre alt einen rechteckig ge-
formten, dicken Pfannkuchen als „Strasse". Auf Befragen erklärt
er, das sei Strasse, weil es glatt sei. Er hatte damit gewiss nur
einen Teil seines Eindrucks wiedergegeben. Diese Bezeichnung
behält er mehrere Jahre bei. Ein viereckig geformtes Konfektstück
nennt er (5 Jahre 5 Monat) „Pflasterstein". Ein Mädchen (6^/4 Jahr)
nennt rautenförmige Salmiakpastillen (wegen der gleichen Form)
„Fieissbillets".
S. 18. 30) Im 6. Jahre (5 Jahre 5 Monate) fragt ein Knabe
dann direkt bei jedem neuen Wort: „Was he isst das?** und unter-
schied das Sein und die Namen der Dinge.
S. 18. 31) 6V2 Jabre alt sagt der nämliche plötzUch: „Nicht
wahr, die Tiere denken anders als wir?" Auf Befragen, wie er
das meine, erklärt er zuerst, sie seien dümmer, sofort danach aber
(mit Rücksicht auf gehörte Märchen?), sie seien gescheiter. „Sie
wissen so viel*^
S. 18. 32) G., 3^/2 Jahr alt. geht an einer Residenz vorüber.
„Wer wohnt da drin?" „Der König**. „Gelt, heute wohnt er da
drin, und morgen dort drin und übermorgen dort drin**. Er deutete
auf die verschiedenen Flügel des Schlosses, das ihm als Ganzes für
einen Einzigen zu gross schien. Derselbe (4 Jahre 11 Monate):
„Warum ist der Kneissl getötet worden?** „WeU er Böses getan
hat?" „Was hat er getan?** „Er hat einen Gendarmen erschossen*'^
„Wird der Gendarm wieder lebendig, wenn der Kneissl getötet
wird?** „Nein**. „Ja, warum tötet man dann den Kneissl?** — Der-
selbe (5 Jahre 2 Monate): „Es ist sehr heiss. wenn es doch nicht
heiss würde im Sommer. Warum wird es denn heiss?** Mutter:
„Wenn es nicht heiss würde, würden wir nichts zu essen haben."
G.: „Aber wir essen doch auch im Winter und da ist es nicht heiss,
sondern kalt.** — Demselben (5 Jahre 5 Monate) wird gesagt, ge-
wisse Pflanzen dürfe man nicht essen, weil man sonst sterbe. Er:
„Woher weiss man das?** „Von früheren Leuten, die haben es uns
erzählt.** „Woher wissen es die früheren Leute?** „Aus Büchern,
da ist es aufgeschrieben.** „Wer hat es in die Bücher hinein-
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geschrieben?" „Wieder andere Leute." „Woher haben es die?" „Von
früheren". ^,Ja, einmal müssen es doch Leute zuerst ge-
wusst haben. Woher wissen es die?** ^^Die haben eben gesehen,
wie Leute von den Pflanzen assen und starben". Nun einige Zeit
Stillschweigen. Dann : „Ja, da muss es aber in viele Bücher hinein-
geschrieben worden sein, weil es jetzt so viele Menschen wissen".
Derselbe 6 Tage später: „Ist der Nikolaus erschaffen worden?"
„Ja". „Ist der liebe Gott auch erschaffen worden?" „Nein". „Ja,
aber jemand muss ihn doch erschaffen haben?" „Nein, er hat alles
erschaffen, aber er ist nicht erschaffen worden". „Ja, aber wenn,
jemand da ist, muss er doch immer erschaffen worden sein". „Er
wäre nicht lieber Gott, wenn er erschaffen worden wäre". Er hält
seinen Satz fest und schweigt erst, als ihm erwidert wird: „Du hast
neulich selbst gesagt, irgend jemand muss zuerst gewusst haben,
dass manche Pflanzen giftig sind. So muss auch jemand zuerst
alles gemacht haben, und das ist Gott". Derselbe umschreibt weitere
16 Tage danach „dumme Leute" mit „Leute, die nichts denken".
Er fragt ferner: „Wieviel Salz muss man in den Main schütten,
damit er salzig wird wie das Meer?" — Mit 5V2 Jahren beobachtet
er, wie ein Kaffeeteller, den er in der Hand dreht, bald halbrunden,
bald sichelförmigen Schatten wirft. Er fragt: „Warum wirft es
jetzt den und jetzt den anderen Schatten?** Er nimmt den Teller
nach unten und meint, der müsse doch auch einen kreisrunden
Schatten werfen können. — 5 Jahre 6 Monate: „Ist Schnee Wasser?"
Vater: „Warum meinst du das?" „Weiis versinkt" (er meint, weil
Schnee schmelzend im Erdboden verschwindet). 5 Jahr V/^ Monat:
„Papa, wie können die Bilder aus der Laterna magica farbig sein ?"
„Wie meinst du das?" „Ja pass auf! Der Vorhang, auf welchem
die Bilder sind, ist weiss. Und die Gläser in der Laterna magica
sind auch weiss. Wie können da die Bilder farbig sein?** — I. I.
6 Jahre 4 Monate: Sie macht den Vater auf einen Brosamen auf-
merksam, der an seinem Schnurrbart hängt, und fügt bei: „Nicht
wahr, du kannst das nicht merken. An den Haaren spürt man
nichts, weil sie so gross sind. An den Lippen spürt mans**. Um
diese Zeit erregt auch das den Kindern über Gott Mitgeteilte ihr
Nachdenken. Goethe fragte sich, etwa 6 Jahre 2 Monate alt,
warum Gott der Gnädige und Weise Ungerechte und Gerechte zu-
gleich beim Erdbeben von Lissabon getötet habe. — G. (6 Jahre
1 Monat) hat erfahren, dass eine Kapelle vom Blitz beschädigt
wurde. Er fragt: „Warum lässt Gott der Heilige (die Heiligkeit
Gottes hat ihn die letzte Zeit viel beschäftigt und mit tiefen Ge-
fühlen erfüllt) die Kapelle zu G. zu Grunde gehen? Das hätte der
liebe Gott nicht tun dürfen". — Derselbe 6^/4 Jahre alt: „Der liebe
Gott darf nicht böse auf mich sein, da er ja gemacht hat, dass ich
böse bin". „Warum?" „Gott hat alles gemacht**. Damit ver-
gleiche man folgendes Gespräch mit demselben aus dem 6. Lebens-
jahre (5 Jahre 4 Monate). Vater: „Das weiss alle Welt**. Er:
„Wissen es auch die Steine?** Vater: „Nein, die können es nicht
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wiftBcn". Er: „Wissen es die Blumen?" Vater: ,^ein, die können
es auch nicht wissen^. Er: ^Dn hast gemeint, alle Leute wissen
das**. Nach den Tieren fragt er gleich gar nicht mehr. — Derselbe
7 Jahre 1 Monat alt: „Gott hat manches Dumme gemacht'^ Befragt,
wie er das meine, erklärt er, manche Pflanzen und Tiere seien un-
nötig. — Einen höheren Stand in der intellektuellen Entwicklung
nimmt ein TViJähriges Mädchen ein. Sie fragt unvermittelt den
Vater: „Bekommst du auch Zeugnisse ?'* Da sie und ihre Mit-
schülerinnen solche erhalten, war ihr wohl zunächst der Schluss
gekommen: „Auch die EUtem!" Nun aber zweifelt sie an der
Bichtigkeit ihrer Folgerung. Daher die Satzfrage. Der Vater er-
widert: „Ich teile ja selbst Zeugnisse aus^S Das EJnd: „Also bist
du ein Lehrer". Hier folgert sie demnach mit aller Bestimmtheit.
Als sie 7V2 Jahre alt ist, wird ihr von einem Spassmacher gesagt,
der Bauch am Drachenfels, den sie gesehen und nach dessen Ur-
sprung sie gefragt hatte, müsse von dem Drachen auf dem Berg
ausgehen. Sie nimmt es ruhig hin, obwohl sie früher die Sieg-
fHedsage gehört hat. Nach einigen Tagen beginnt sie ohne Ein-
leitung dem Spassmacher gegenüber: ,J>er Siegfried hat doch den
Drachen auf dem Drachenfels getötet". „Ja". „Und der Drache
lebt doch noch auf dem Drachenfels. Er speit ja noch Feuer.
Das gibt es ja nicht" (sie meint wohl, dass ein (getöteter noch
Feuer speit). „Vielleicht doch, der Siegfried hat vor 2000 Jahren
den Drachen getötet, aber** — Sie : „Ach, und da ist jetzt ein neuer
Drachen gekommen". Der Vorfall bezeugt nicht nur, wie im kind-
lichen Geiste Mitgeteiltes weiterarbeitet, sondern auch, dass das
Kind leicht auf die Autorität des Erwachsenen hin Auskünfte findet
und sich mit ihnen zufrieden gibt. Vielleicht geht das Kind auch
bei den bekannten Kindersagen ähnliche Kompromisse ein, ehe es
sie ganz aufgibt. — G. (etwa 6V2 Jahre). Onkel W. hatte sich als
Biese bezeichnet. G.: „Ein Biese kann ein Haus tragen. Onkel
W. kann aber doch kein Haus tragen". Die Folgerung: „Also
ist er kein Biese" wurde weggelassen. In dieser Zeit wurden an
dem Kinde viele Schlüsse beobachtet. Es fällt in der gleichen Zeit
seitens eines Erwachsenen der Satz: „Es ist nicht schön, aber
garstig". G.: „Was soll garstig hier heissen?" Erwachsener: „Ja,
du weisst doch was garstig ist". G.: „Ja, dann kommt aber beides
zusammen". Er meint wohl: „Nicht schön" und „garstig" kommen
auf dasselbe hinaus und „aber" ist hier nicht am Platze.
S. 18. 33) Auch für das Bechnen liegen die Elemente bereit.
Ein Knabe von 5 Jahren 1 Monat hat mechanisch „6 und 6 ist 12",
„7 und 7 ist 14", „8 und 8 ist 16" gelernt (blosse Gedächtnissache.
Weiter bringt er es übrigens auch da nicht). Aber er kann zählen.
Die Mutter berechnet ein Datum: „Heute, Samstag ist der 21., morgen
Sonntag der 22., übermorgen Montag der 23., also Dienstag der 24". G.
sofort: „Also in vier Tagen." ■— Etwa oVa Jahre alt fragt er: „Wieviel
Salz muss man in den Main schütten, damit er salzig wird wie das
Meer?" „3 Säcke voll*'. „Nein Milliarden Säcke voll Salz". Das
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unendlich Grosse gibt ihm um diese Zeit viel zu denken. Milliard
wird aus seinem Munde oft gehört. Seine eigene Frage wird, ihm
etwa 2 Jahre später vorgelegt. Er, ohne sich zu erinnern: „Tausend
Säcke Salz. Nein, jedes Jahr Immerfort Salz und Salz und Salz.
Da wird es allmählich salzig. Das ist die Geschichte von der
Mühle" (welche, sagte er nicht).
S. 23. 34) Vgl. K. Groos, Die Spiele der Menschen. Jena
1899, S. 41 ff. Dass das Lieblingsversmass der Kinder das trochäische
sei, wie Groos S. 42 vermutet, kann ich nicht zugeben. Bei Kindern
von 6—7 Jahren trifft man oft ein Spiel mit den eigenen Lippen.
Sie drücken die Unterlippe rasch mit dem Finger nach unten und
lassen sie dann emporschnellen. Dazu wird deklamiert: „Bewimm
Bewamm bewasser**. Gegenüber der früher verbreiteten Meinung,
als sei das trochäische Versmass für uns Deutsche unnatürlich —
man denke an die Zeit vor A. von Haller —, ist indes die Fest-
stellung von Groos durchaus^am Platze. Es gibt ein Alter, in dem
die Kinder den Trochäus sehr gerne haben.
S. 46. 35) G. (5 Jahre 71/2 Monate) sagt die bekannten süd-
deutschen Kinderverse: „Heut hemmer (= haben wir) frei. Da
kommt die Polizei, Und führt uns alle ein In Nummer 3**. Stolz
fügt er bei: „Das haben wir, die N. und ich und der Fritz, selbst
gemacht".
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