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Full text of "Berliner Klinik Heft 103-114 1897"

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BOSTON 


MEDICAL LIBRARY 


| 8 THE Fenway. 








BERLINER KLINIK No. 103. JANUAR 1897. A 


> EEE 





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on 








Allgemeinanästhesie und Localanästhesie. 


Antrittsvorlesung, 


gehalten am 17. Juni 1896 von Dr. Egbert Braatz, Privatdocent der Chirurgie 
an der Universität zu Königsberg. 





Hochgeehrte Versammlung! 

Auf den ersten Blick erscheint die Chloroformnarkose im Ver- 
hältniss zur Operation als etwas Nebensächliches, nur als ein Mittel 
zu dem Zweck, dass der Kranke eben bei der Operation keine 
Schmerzen hat. In erster Reihe fesselt der Gang der Operation 
die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Das ist für die Zuschauer 
ganz natürlich, nicht aber für denjenigen, welcher chloroformirt. 
Dieser übernimmt mit der Leitung der Narkose eine sehr grosse 
Verantwortung, deren er sich in jedem Moment bewusst sein soll. 
Davon kann man sich erst dann recht überzeugen, wenn man sich 
mit dieser Frage etwas näher beschäftigt. 

Im Besitz einer für chirurgische Zwecke brauchbaren Narkose 
sind wir nicht länger als 50 Jahre. Der dunkle Schleier der Ver- 
gangenheit deckt uns hier die Zeiten, wo man den Kranken ohne 
Betäubung, bei vollem Bewusstsein uperirte Lüften wir ihn auf 
einen Augenblick und sehen uns so eine Operation vor 200 Jahren 
an, so glauben wir fast eine Folterkammer vor uns zu haben. So 
sagt der treffliche Lorenz Heister in seinem berübmten Lehrbuch 
der Chirurgie von 1724 (p. 657), wo von dem Bruchschneiden die 
Rede ist: „Sie legen den Patienten auf einen Tisch, so, dass der 
Kopf zurück und niedriger liege, als der Bauch, und binden ihn 
entweder darauf an, fast wie die Figur bei dem Scultet Tab. XXX VIII 
ausweiset; oder lassen den Kopf auch jeden Fuss und Arm von einem 
starcken Kerl vest halten, dass sich der Patient nicht rühren könne“ 1). 


1) Auf der Abbildung sieht man diese Figur aus dem Buche der Scultetus 
(1655), von welcher Heister spricht, entnommen der Münch. med. Wochenschr. 
1896 No. 47, einem‘. Artikel von Dr. Fuhr. Der Kranke ist auf ein Brett fest- 
gebunden, wie zur Vivisection. 

1 


Lo 
. 


Auch in unserem Jahrhundert hallten nach der Schilderung der 
Zeitgenossen die Operationsriume der Kliniken von Schmerzens- 


TAB.XX XVI! 


IN > Ooras Arnold x \ UN \ S Ml | Ii 





Delineart RI We 2 
geschrei wieder. Wir finden hier aus jenen Zeiten compacte 
massive Stühle, auf welchen die Kranken zu Operationen festgeschnallt 
wurden. Der Grösse des Schreckens der Operation selbst kam die 
Aussicht gleich, an den Folgen der Operation zu sterben, und die 
Tradition vun dem Schmerz und der Gefahr steckt sicher noch heut- 
zutage hinter der Angst vor der Hospitalbehandlung und hält manchen 
Kranken ab, sich zu einer noch so nöthigen Operation zu entschliessen. 
Und doch hat die Chirurgie so unendlich viel von ihrem früheren 
Schrecken verloren. Die Gefahr bannen wir jetzt durch die mikro- 
skopische Sauberkeit in der Wundbehandlung, die Aseptik, und den 
Schmerz besiegen wir vollständig durch unsere Anästhetica. Das 
erste Aniistheticum war nicht das Chloroform, sondern der Aether. 
Dem Aether war es beschieden, die Menschheit in einen Freuden- 
taumel zu versetzen darüber, dass fortan der Operirte keine Schmerzen 
mehr zu leiden baben, dass der unglückliche Kranke während der 
furchtbarsten Operation in einen süssen, ahnungslosen Schlummer 
liegen sollte. Keiner hat beredter und tiefer empfunden die gewaltige 


3 


Errungenschaft der Narkose gefeiert und ihr einen begeisterteren 
Ausdruck gegeben als Dieffenbach in einem eigenen Werkchen: 
„Der Aether gegen den Schmerz“, 1847, das er wenige Monate vor 
seinem Tode verfasst hat. „Wie vielen Unglücklichen“, ruft er aus, 
„an chirurgischen Uebeln leidenden, verzehrt nicht die Furcht vor 
den Schmerzen der bevorstehenden Operation die letzten Lebenskräfte, 
der sie sich endlich erschöpft hingeben. Jetzt ist es ein fröhliches 
Hinblicken auf den tragischen Moment, dessen Handlung ihnen ent- 
rückt bleibt. War der zu Operirende sonst die erste, wichtigste 
Person, so ist er jetzt eigentlich gar nicht dabei zugegen.“ 

Der Aether ist eine altbekannte Substanz. Schon 1544 wurde 
er von Valerius Cordes unter dem Namen süsses Vitriolöl be- 
schrieben, er ist aber wohl noch einige Jahrhunderte älter. Seinen 
Namen „Aether“ hat er von dem deutschen Chemiker Frobenius 
im Jahre 1792 erhalten. Von jetzt ab kümmerte man sich mehr 
um ihn. So führte ihn der Hallenser Professor Friedrich 
Hoffmann als seinen Liquor anodynus, — seine allbekannten 
Hoffmannstropfen —, 1 Th. Aether, 3 Th. Alkohol — in die Heilkunde 
ein. Als chirurgisches Betäubungsmittel wurde er jedoch erst 1846 auf 
Rath des Chemikers Jackson an dem amerikanischen Zahnarzt Morton 
angewandt und die ersten grösseren Operationen wurden unter Aether- 
narkose am 17. und 18. October 1846 im grossen Hospital zu Boston 
ausgeführt. Dieses epochemachende Ereigniss erregte im Fluge das 
Staunen der ganzen Welt. Nicht nur viele Aerzte wandten sich 
schnell der neuen Sache zu, auch das Laienpublikum nahm an der 
hochwillkommenen Entdeckung einen so grossen Antheil, dass es von 
sich aus bei Operationen die Narkose verlangte. Schon im 
Januar 1847 sehen wir in Frankreich und Deutschland Versuche 
anstellen und in einigen Monaten hatte sich bereits eine ganz un- 
gemein umfangreiche Litteratur über diesen Gegenstand angesammelt, 
Die Aerzte konnten sich in der ersten Zeit gar nicht an die neue 
Sachlage gewöhnen. Während früher eine Operation eigentlich mit 
einem fortwährenden Ringen gegen den sich sträubenden Patienten ver- 
bunden war, lag dieser jetztin einem todtenähnlichen Schlaf und merkte 
von der ganzen Operation nicht das Geringste. Diese Stille kam dem 
operirenden Arzte geradezu unheimlich und beängstigend vor. Der 


Kranke musste sich nach dem Erwachen erst erkundigen, ob er etwa 
1* 


4 


operirt sei oder nicht. Ganz anders war das früher gewesen; da 
hatte er eine so schreckliche Erinnerung an die Operation, dass sie 
ihm sein Lebelang nicht mehr aus dem Gedichtniss schwand. 
Die lebhaft gefiihrte Discussion zog damals die verschiedensten Seiten 
der Narkose in ihren Bereich, ja es wurde sogar allen Ernstes die 
sonderbare Ansicht vertheidigt, dass es ein frevelhafter Eingriff in 
den Gang der Natur sei, dem Kranken die Schmerzen, die doch 
einmal zu der Operation gehören, vorzuenthalten. Ganz besonders 
wurde diese Auffassung für die Geburtshülfe vertreten. 

Der Aether hatte für die Narkose die Bahn eröffnet, aber er 
selbst trat eben so schnell, wie er gekommen, gegen ein anderes 
Betäubungsmittel zurück. Schon im Anfang des Jahres 1848, als 
noch alles vom Lobe des Aethers voll war, berichtete der berühmte 
Physiologe Flourens der Pariser Academie der Wissenschaften 
über die Resultate seiner Thierversuche, die er mit dem 1831 von 
Soubeiran (Paris) und Liebig entdeckten Chloroform angestellt hatte. 
Er fand ebensowenig Beachtung wie Bell in London, der schon 
einige Chloroformnarkosen ausgeführt hatte. 

Durchschlagend war erst die Mittheilung von Simpson in 
Edinburg, der gleich mit einer Serie von etwa 80 gut verlaufenen 
Chloroformnarkosen in die Oeffentlichkeit trat. Als Vorzüge des 
Chloroforms vor dem Aether hob Simpson namentlich hervor: Den 
leichteren Eintritt der Narkose, die geringere Monge, die man davon 
braucht und den Ausschluss jeder Feuersgefahr gegenüber dem leicht 
entzündlichen Aether. Bis auf den heutigen Tag ist das Chloroform 
das allgemein gebräuchliche Anaestheticum geblieben, trotz der grossen 
Menge der Betäubungsmittel, welche man bei dem Suchen nach 
etwas Besserem gefunden hat. WeSwegen hat man denn immer 
weiter nach andern Mitteln gesucht, konnte man sich mit dem 
Chloroform nicht zufrieden geben? 

Wenn wir etwas aufmerksamer die ersten Berichte über den 
Segen der Narkose ansehen, so finden wir, dass sich schon sehr 
früh in jenen Jubel einzelne Misstöne mischten. Die Sache bestand 
leider nicht nur aus Lichtseiten. Schon bei dem Aether hatte man 
manche beängstigende Zufälle beobachtet, die Kranken waren unter 
bedrohlichen Erscheinungen blau geworden, hatten Krämpfe, Auf- 
regungs- und Schwächezustände bekommen, ja, man hatte dabei 





5 


sogar schon Todesfälle erlebt. Mit der Einführung des Chloroforms 
wurde es nicht besser. Gerade die Todesfälle in Folge von Chloroform 
spielten seit seiner Einführung bis auf den heutigen Tag eine 
betriibende Rolle. Nicht etwa nur bei grossen Operationen, die uns 
jetzt ohne Narkose so gut wie undenkbar sind, nein auch die 
kleinsten Operationen, wie Einschnitte in Fingerentzündungen, 
Zahnextractionen und dergl. haben schon eine grosse Zahl von Opfern 
gefordert. Es handelt sich beim Chloroform eben nicht um ein 
Einschlafen wie beim natürlichen Schlaf, sondern der Schlaf ist 
durch ein mächtiges Mittel erzwungen. „Was den Schmerz nimmt, 
nimmt auch das Leben, und das neue Mittel ist wunderbar, aber 
auch zugleich furchtbar“, sagte Flourens schon von dem Aether. 
Die Gefahr, welche mit der Narkose verbunden ist, ist auch die 
Ursache, dass wir allen Grund haben, uns auf das Sorgfältigste mit 
den Wirkungen unserer Anaesthetica, namentlich des Chloroforms 
und des Aethers zu beschäftigen. Wie gross diese Gefahr ist, 
werden wir später noch genauer kennen lernen. 

Wenn wir an eine Narkose gehen, haben wir vieles dabei zu 
bedenken. Indem ich auf die Vorbereitungen, dass der Patient 
vorher nichts gegessen haben soll, Lockern der beengenden Kleider, 
Revision der Mundhöhle auf künstliche Zähne u. dergl. nicht weiter 
eingehe, komme ich gleich zu einem Cardinalpunkt, das ist die 
Concentration, in welcher man die Chloroformdämpfe einathmen 
lässt. Es giebt eine ganze Reihe von Thierversuchen, die alle über- 
einstimmend zeigen, dass das Chloroform desto verderblicher wirkt, 
je concentrirter, je weniger mit Luft vermischt, dasselbe eingeathmet 
wird. Wenige Procente mehr oder weniger machen da schon einen 
grossen Unterschied. Diese Thatsache ist gerade für den 
ersten Anfang von allergrösster Wichtigkeit. Wenn man 
die Aufzeichnungen über Chloroformtodesfälle etwas näher ansieht, 
so findet man eine erschreckende Anzahl darunter, wo es heisst: 
Kaum hatte Patient einige Athemzüge gethan, verschwand der Puls, 
die Athmung stand still und der Kranke war todt. Oder: Nachdem 
der Kranke einige wenige Gramm Chloroform eingeathmet, wurde 
er plötzlich blass und konnte trotz stundenlanger Wiederbelebungs- 
versuche nicht mehr ins Leben zurückgerufen werden. Es spricht 
nun alles dafür, dass diese Todesfälle ganz im Anfang der 


6 

Narkose wesentlich durch zu concentrirte Chloroformdämpfe be- 
günstigt werden, grossentheils wohl durch Reflexwirkung von den 
Trigeminusendigungen in der Nasenschleimhaut auf den Vagus. Man 
hat nun verschiedene Vorrichtungen getroffen, um die Beimischung 
des Chloroformes zur Athemluft zu dosiren. So lässt der Schweizer 
Chirurg Kappeler bei Männern 14,8 gr Chloroform auf 100 Liter Luft, 
Kinder und Frauen entsprechend weniger, im Anfang der Narkose ein- 
athmen; auch der englische Apparat von Krohne und Seesemann 
gestattet eine genaue Dosirung von 3/,%/, — höchstens 5°/, und fängt 
mit 1°/, an; — aber diese Apparate sind für die allgemeine Anwendung 
leider doch noch zu complicirt und vor allem zu theuer. Sehr ver- 
wendbar sind dagegen solche Chloroformmasken, die man in sehr 
einfacher Weise so eingerichtet hat, dass der Ueberzug nicht bis 
auf das Gesicht reicht und die Luft überall gut unter die Maske 
treten kann. Ganz besonders ist da aber ein Verfahren zu nennen, 
welches seit etwa 4 Jahren viel in Gebrauch gekommen ist, und 
eine wesentliche Verbesserung bedeutet, die sogenannte Tropfen- 
narkose. Sie ist übrigens schon im Jahre 1881 oder 82 von Labbé 
empfohlen worden und seitdem hie und da schon in Gebrauch ge- 
wesen. Sie besteht darin, dass man nicht wie sonst, die Narkose 
so beginnt, dass man eine Quantität Chloroform von vorn herein 
auf die Maske giesst und sie dem Kranken vorhält, sondern dass 
man von Anfang an langsam einen Tropfen nach dem andern auf 
die Maske fallen lässt, wozu man sich eines gewöhnlichen Tropf- 
fläschchens bedient. Natürlich kommt es ganz darauf an, wie man 
es macht. Man kann auch die Tropfennarkose, wie so manches 
andere im Leben nur dem Namen nach machen und nicht dem 
Wesen nach und leider wird die Tropfennarkose oft genug 
nur dem Namen nach gemacht. Lässt man nämlich die Tropfen 
rasch hintereinander folgen, so hört der ganze Sinn des Verfahrens, 
das Chloroform reichlich mit Luft verdünnt zu geben auf und es 
giebt dann keinen Unterschied mehr von dem gewöhnlichen, dem 
Gussverfahren, wie man es auch genannt hat. Die Angaben 
über die Zabl der Tropfen in der Minute lauten selbstverständlich 
etwas verschieden, von 12 bis 60 Tropfen, 30—35 Tropfen dürfte 
für die meisten Fälle wohl das Entsprechende sein, man wird sich 
da nach dem einzelnen Fall etwas zu richten haben. 





Die Vortheile dieser Methode sind bedeutende. Die anfingliche 
Aufregung, das oft gerade so gefährliche Excitationsstadium ist ent- 
schieden geringer oder fällt vielmehr meist ganz fort. Die Reizung 
der Nasenschleimhaut mit ihren Trigeminusfasern, die auf dem Wege 
des Reflexes für das Herz so leicht verderblich werden kann, ist 
ebenfalls eine sehr geringe. Dabei verbraucht man, wie zahlreiche 
Vergleiche gelehrt haben, etwa halb so viel oder noch weniger 
Chloroform als mit dem andern Verfahren. Patienten, die mehrere 
Narkosen durchgemacht haben, erzählen es ganz aus freien 
Stücken, dass ihnen die Tropfennarkose die bei Weitem 
angenehmere gewesen, dass sie vor allem das höchst 
lästige Erstickungsgefühl nicht gehabt hätten. 

Es ist von Manchen, die in der Sache noch keine Erfahrung hatten, 
die Befürchtung ausgesprochen, dass die Tropfennarkose bei Potatoren 
versagen werde. Das ist nicht der Fall, im Gegentheil, auch bei dem Po- 
tator ist das Excitationsstadium viel geringer, ich habe in einigen Fällen 
an einem und demselben Potator gesehen, dass er das eine Mal bei 
der gewöhnlichen Narkose fürchterlich tobte und trotz gewaltiger 
Chloroformmengen kaum in eine ordentliche Narkose zu bringen 
war, und bei der Tropfennarkose war er ruhig und schlief gut. 
Selbstverständlich ist aber bei einem Potator jede Art von Narkose 
unbequemer als bei anderen Menschen. Das Wichtigste ist auch 
hier die erste Einleitung der Narkose, später kann man dann die 
Tropfen sich etwas rascher folgen lassen. Das Chloroform soll 
sich in das Nervensystem gleichsam einschleichen, mit 
möglichst geringer Anfangserschütterung. Es gehört aber 
zur Tropfennarkose, wie sehr oft von verschiedenen Seiten betont 
worden ist, dass um den Patienten Ruhe herrsche, so wie jeder 
Mensch auch sonst leichter einschläft, wenn kein Lärm vorhanden 
ist. Im Operationssaal des grossen Berliner Stadtkrankenhauses im 
Friedrichshain hängt an der Wand eine Tafel, auf welcher mit 
grossen Lettern zu lesen ist: „Während der Narkose darf nicht 
gesprochen werden.‘ Dieses schöne Memento lässt sich für ein 
Krankenhaus auch noch eher hören, aber in der Klinik lässt es sich 
mit den Zwecken der derzeitigen klinischen Unterrichter wohl nur 
schwer vereinigen, man hilft sich dort damit, dass man die Kranken 
in einem angrenzenden Raum chloroformirt. Jedenfalls soll man 


8 


aber den Patienten erst einschlafen lassen, bevor man an die Vor- 
bereitungen zur Operation geht. Giebt man z. B. einem Kinde 
einige Tropfen Chloroform und fängt es dann gleich an, am ganzen 
Körper zu waschen (kein seltenes Vorkommniss), so erhebt es natürlich 
sofort ein Geschrei und der Chloroformeur kommt dann leichter in 
die Versuchung, die Narkose durch rascheres Aufträufeln zu 
beschleunigen. 

Es gehört schon eine gewisse Unerschütterlichkeit 
dazu, um dann nicht aus dem richtigen Tropfen-Tempo 
zu fallen. 

Im Jahre 1852, also 5 Jahre nach der Einführung des Chloroforms 
sprach ein berühmter französischer Chirurg, Sedillot, das geflügelte 
Wort: „Le chloroform pur est bien employé ne tue jamais.“ Damit 
hat er aber eigentlich allen Aerzten, denen mit dem Chloroform ein 
Unfall passirt, den schweren Vorwurf gemacht, dass sie das Chloroform 
nur nicht richtig angewandt haben. Nun, wenn Jemand sogar heute 
noch bei allen den geschilderten Vorzügen der Tropfennarkose glauben 
sollte, dass die Chloroformnarkose keine Gefahren mehr hat, so 
wäre das ein schwerer Irrthum, und wenn diese Gefahr an uns 
herantritt, wenn plötzlich der Puls verschwunden ist und die Athmung 
stillsteht, dann sollen wir dieser Gefahr gerüstet gegenübertreten, 
wir sollen uns vorher zurechtgelegt haben, was in solchem Fall zu 
thun ist. Hat man hier keine bestimmten Gesichtspunkte, so kann 
das Handeln auch nur ein planloses sein. 

Man hat von jeher beim Chloroformtod zwei Modalitäten ein- 
ander gegenüber gestellt, die Chloroformsynkope und die Chloroform- 
asphyxie. Ich möchte auf diese Unterscheidung deshalb kein be- 
sonderes Gewicht legen, weil mit ihr nicht selten theoretische und 
auch practische Missverständnisse verbunden werden. Theoretisch 
insofern, als man unter Chloroformasphyxie eine Erstickung im 
gewöhnlichen Sinne versteht, während es sich hier gar nicht um 
eine solche handelt. Das Blut braucht bei der Chloroformerstickung 
keineswegs mit Kohlensäure überladen zu sein, es kann vielmehr 
ganz hinreichende Mengen Sauerstoff enthalten. Aber das Athmungs- 
centrum ist gelähmt und deswegen steht die Athmung plötzlich still. 
Auch ist der Blutdruck bei der Erstickung durch Kohlensäureüber- 
ladung erhöht, während er beim Chloroformanfall herabgesetzt ist. 


9 


Man soll also nicht etwa erwarten, dass man nur dann eine Chloroform- 
asphyxie zu fürchten hat, wenn der Patient cyanostisch wird und vorher 
nicht. Das ist eben das Tiickische des Chloroformunfalls und ver- 
langt daher eine so unausgesetzte angespannte Aufmerksamkeit von 
Seiten des Chloroformirenden, dass der Kranke manchmal seine Ge- 
sichtsfarbe nur sehr wenig verändert, wo der Athem schon still steht. 
Zuerst zieht man mit einem bestimmten Handgriff, den man gesehen 
haben muss, den Unterkiefer nach vorn, um damit die Luftwege frei 
zu bekommen. Reicht dies nicht aus, so zieht man sofort die Zunge 
vor. Dies kann man entweder mit einer besonderen Zungenzange 
oder einer Kornzange thun oder, was noch wirksamer ist, man 
greift in den Mund, über den Zungengrund hinweg nach hinten und 
drückt mit zwei Fingern den Zungengrund nach vorn. Damit diese 
nicht so leicht abgleiten, kann man sie vorher mit einem Handtuch 
bedecken. Zu gleicher Zeit drückt man mit der anderen Hand 
einigemal auch auf das Epigastrium, um die Atbembewegung wieder 
in Gang zu bringen. Geht die Athmung auch dann noch nicht 
spontan vorwärts, so muss eine regelrechte künstliche Athmung ein- 
geleitet werden, während ein Anderer die Luftwege offen erhält. 
Diese Athmung wird nach der Sylvester’s oder Schüller’s be- 
werkstelligt, also indem man entweder von oben her die Arme an 
den Ellenbogen erfasst und nach oben zieht und sie dann nach dem 
Abwärtsführen zu beiden Seiten an den Brustkorb andrückt oder 
indem man unter den Rippenbogen fasst und den Brustkorb so durch 
Aufwärtsziehen erweitert (Einathmung) und durch Zusammendrücken 
verengert (Ausathmung). Eine künstliche Athmung muss zunächst 
in jedem Fall versucht werden, einerlei, ob zuerst die Athmung oder 
das Herz still gestanden war. Will das Herz aber nicht in Gang 
kommen, so übe man gegen die Herzgegend kurze Stösse mit der 
flachen Hand aus, etwa in der Zahl der Pulsschläge in der Minute 
(Maas-König). Auf die Wichtigkeit einer solchen mechanischen 
Reizung des Herzens hat schon vor etwa 20 Jahren Rudolf Böhm 
auf Grund sehr eingehender und beweisender Thierversuche hinge- 
wiesen. Doch ist auch diese sogenannte Herzmassage keineswegs in 
ihrer Wirkung zu überschätzen. Der Weg, auf welchem das Chloro- 
form tödtet, ist so mannigfaltig und verschlungen, dass noch Fälle 
genug übrig bleiben, wo alle die beschriebenen Maassnahmen nichts 


10 


helfen. Die directe Abtödtung der Nervencentren, die Lähmung der 
Vasomotoren sind durch alle jene Maassnahmen nicht zu beeinflussen. 
Zu dem allen kommt aber noch ein Vorgang, der immer noch fast 
gar keine Beachtung gefunden hat und der dennoch eine verderb- 
liche Rolle spielt, dass ist der durch das Chloroform verursachte 
Herzkrampf, ein krampfhaftes Zusammengezogenbleiben, namentlich 
des linken Ventrikels. Wie soll man einen solchen Krampf lösen? 
Was kann es hier helfen, wenn wir das Herz unter der Herzmassage 
noch mehr zusammendriicken? Hier versagen alle unsere Mittel. 

. Als zwei weitere sehr beachtenswerthe Maassnahmen kommen 
dann ferner in Betracht: die Inversion, und die Infusion physio- 
logischer Kochsalzlösung in die Venen. Der Nutzen des Tieferlegens 
des Kopfes und des Oberkörpers ist auch experimentell gut gestützt. 
Chloroformirte Thiere (z. B. weisse Mäuse) wachten regelmässig aus 
der Narkose auf, wenn sie mit dem Kopf nach unten gekehrt wurden. 
Man wird gut thun, namentlich schwache blutarme Patienten gleich 
von vornherein mit dem Oberkörper und Kopf nicht erhöht, sondern 
vielmehr horizontal oder mit dem Oberkörper tiefer zu lagern. Dass 
die Infusion von Nutzen ist, wurde durch die Moskauer Chirurgen 
Bobroff und Diakonoff gezeigt. 

Bei der Durchsicht aller hier gemachten Vorschläge findet man 
deren noch eine ganze Menge, namentlich äusserst heftige Reize auf 
Haut und Schleimhäute, eine ganze Reihe von Medicamenten, Gegen- 
giften etc. Ich will auf alle diese Massnahmen nicht genauer ein- 
gehen, das wäre eine ebensolche Zeitvergeudung, wie es die aller- 
meisten dieser Mittel selbst sind, aber über ein Mittel muss ich noch 
einige Worte sagen, da es leider immer noch eine ziemlich grosse 
Rolle spielt. Fast jedes Jahr kann man Veröffentlichungen finden, 
welche dieses Mittel als ein Hauptmittel behandeln, trotzdem das- 
selbe nichts werth ist, das ist nämlich die Anwendung des faradischen 
Stromes. Man nimmt den faradischen Strom zu Hilfe, um künstliche 
Athmung zu machen. Hat man nun auch seinen Inductionsapparat 
in Ordnung — Sie wissen ja, wie oft der versagt — und hat man 
die Elektroden zu beiden Seiten des Halses aufgesetzt, um den 
Phrenicus zu treffen, was bekommt man dann? Eine Inspiration. 
Die Ausathmung muss man trotzdem durch directes Zusammen- 
drücken der Brust und Brustwand bewerkstelligen. Und hat denn 





11 


diese faradische Inspiration irgend einen Vorzug vor jeder anderen 
Inspiration, wie man sie durch einfaches Zugreifen mit beiden 
Händen bekommt? Doch nicht den geringsten. Viel besser nutzen 
wir diese kritischen Augenblicke der höchsten Gefahr dadurch aus, 
dass wir mit demselben Griff Einathmung und Ausathmung gleich 
hintereinander machen. Ich habe schon seit 1880 diesen Missbrauch 
des faradischen Stromes ins Auge gefasst und mehrfach darüber 
geschrieben, habe darin auch von verschiedenen Seiten Zustimmung 
gefunden, aber viele Aerzte hängen heute noch an diesem schlechten 
Verfahren und üben es ruhig weiter. Auch hat man den faradischen 
Strom zur Erregung der ausgesetzten Herzthätigkeit angewandt. 
Solche Empfehlung beweist, wie wenig leider manchmal thera- 
peutische Eingriffe sich um die Lehren der Physiologie kümmern. 
Denn wenn der faradische Strom wirklich das Herz treffen 
sollte, so giebt es kaum ein besseres Mittel, die Herzaction zu 
vernichten, als gerade der faradische Strom. Der faradische 
Strom ist ein eminentes Herzgift. Man hat hier aber mit der 
Electricität noch ärgeren Unfug getrieben. Man hat sogar, um das 
Herz besser zu treffen, in dasselbe Nadeln eingestossen, die mit dem 
faradischen Strom verbunden waren und damit das stillstehende 
Herz wieder beleben wollen. Dass diese Anordnung die lebens- 
gefährlichste sein muss, braucht nach dem vdrmorgenesuen nicht 
weiter ausgefiihrt zu werden. 

Aber wenn wir nun auch unter der grossen Zahl der Wieder- 
belebungsmittel die besten Verfahren ausgesucht haben und 
diese noch so umsichtig und richtig anwenden — von einer Sicher- 
heit, dass wir damit jedes Chloroformunglück verhindern können, 
davon kann keine Rede sein. Diese Unmöglichkeit aber, solchen 
Unglücksfällen ganz zu begegnen, hat nicht verhindert, dass sie 
auch öfter eine ernste juristische Bedeutung bekommen haben. 
Es wurden schon Aerzte, welchen ein solcher Chloroformtod be- 
gegnete, wegen fahrlässiger Tödtung auf die Anklagebank gebracht. 
Das ist nun eine sehr ernste Sache, denn schon die blosse An- 
klage, wenn auch Freisprechung erfolgt, schädigt das Ansehen eines 
solchen Arztes in empfindlicher Weise. Nach welchen Gesichts- 
punkten soll man einen solchen Fall beurtheilen. Wir befinden uns 
hier leider in einer Art von circulus vitiosus. 


12 


Das gewisse Odium, welches ganz traditionell an solchen Ungliicks- 
fillen haftet und schnell bereit ist, dem Arzt alle Schuld zuzu- 
schreiben, hat sicher viele Aerzte abgehalten, ihre triiben Erfahrungen 
mit dem Chloroform bekannt zu geben und weil eben andererseits so 
wenig davon bekannt ist, wie häufig solche Fälle vorgekommen sind, so 
betrachtet das Publikum und der Richter, der sich um die medicinische 
Litteratur natürlich nicht viel kümmern kann, einen solchen Fall 
als etwas Unerhörtes und fasst ihn so auf, als ob der Arzt geradezu 
einen Todtschlag begangen hätte. Wie complicirt, wie unberechenbar 
aber die Wege sind, auf welchen das Chloroform tödtet, haben wir 
vorhin gesehen. Und doch haben wir dabei die so sehr verschiedene 
individuelle Empfindlichkeit noch gar nicht einmal erwähnt. 
Dazu kommen aber noch andere Schwierigkeiten. Es sind auch 
vor der Aether- und Chloroformaera plötzliche Todesfälle vorge- 
kommen, rein vor Schreck. Einer der bekannteren Fälle betrifft 
indirect das Chloroform selbst. Als Simpson bei seinem Freunde, 
dem Professor Miller, zum ersten Mal einen Kranken — es handelte 
sich um eine Bruchoperation — chloroformiren wollte, stolperte 
Derjenige, der das Chloroform hereinbrachte, die Flasche zerschlug 
und das einzige Chloroform, über das man verfügte, ging verloren. 
Die Operation wurde also ohne Chloroform gemacht. Gleich nach 
dem Hautschnitt fiel der Kranke zusammen und starb. Wäre das 
nun mit Chloroform passirt, so hätte sein Todesfall wahrscheinlich 
Simpson abgeschreckt, dieses segensreiche Mittel weiter zu ver- 
suchen und wer weiss, wie weit damit die Narkosenfrage wieder an 
Feld verloren hätte. So konnte Simpson gleich mit einer Serie 
von etwa 80 gut verlaufenen Narkosen heraustreten. In einem 
andern Fall wollte man einen 40 jährigen Mann nicht chloroformiren, 
weil er so herabgestimmt war. Man wollte dies zu seiner Beruhigung 
nur scheinbar thun. Man hielt ihm weit vom Gesicht weg ein Tuch 
ohne Chloroform vor. Kaum hatte jedoch der Kranke 4 Athemzüge ge- 
than, als Herz und Athmung stockte und der Unglückliche todt war. 
Der hochberühmte französische Chirurg Desault zog mit dem Daumen- 
nagel am Damm eines Steinkranken einen Strich, um sich die Stelle des 
späteren Schnittes zu bezeichnen. Der Kranke schrie auf und war todt. 

Eine ganze Reihe von ähnlichen Fällen erzählt v. Nussbaum: 
„Chopart wollte einem nicht anästhesirten jungen Manne das Prä- 


13 


putium spalten. Bei der ersten Beriihrung stiirzte der Patient todt 
nieder. — Garengeot verlor einen nicht anästhesirten Kranken, 
als er ein Panaritium eröffnete“ Jeder Chirurg hat, wie auch ich, 
bei Gelegenheit unbedeutender Operationen an nicht anästhesirten 
Patienten höchst bedrohliche Zustände gesehen, die nicht mehr ein- 
fache Ohnmachten waren, sondern so schwere Collapse, dass sie der 
Chloroformsynkope durchaus ebenbürtig zur Seite stehen. 

Aber auch in den späteren Stadien der Operation sind ohne 
Anwendung von Chloroform solche Todesfälle vorgekommen. Sie 
stammen aus der Zeit, als man noch kein Chloroform kannte. Nach 
einem einfachen Einschnitt in einen entzündeten Finger, nach Mamma- 
amputation hat man Kranke plötzlich sterben sehen. Viel trägt auch 
das Verhalten der Verwandten des Verunglückten zur Stimmung des 
Publicums bei, und wie weit sich ein verzweifelter Vater hinreissen 
lassen kann, selbst wenn er Mediciner ist, das haben wir in jüngster 
Zeit an einem viel besprochenen Falle gesehen. Aus allen solchen 
Zweifeln weiss sich nun der Richter leicht herauszuhelfen, indem 
er sich einfach ein Gutachten von einem anerkannten Sachverständigen 
einholt. Doch hat man Beispiele genug, wo sonst hervorragend 
tüchtige Männer gerade auf dem Gebiete der Chloroformfrage ganz 
unhaltbare Ansichten haben und nicht alle Sachverständigen werden 
den Freimuth besitzen, wie einst Velpeau, der bei einer solchen 
Gelegenheit vor dem Pariser Gerichtshofe etwa Folgendes erklärte: 
„M. H., wenn Sie diesen Angeklagten verurtheilen, dann werde ich 
fortan bei meinen Operationen keinen Kranken trotz seiner Schmerzen 
mehr chloroformiren, denn sonst bin ich nicht sicher, dass ich morgen 
selbst auf dieser Bank sitze und mich gegen die gleiche Anklage 
vertheidigen muss.“ Der College wurde freigesprochen. 

Es würde uns zu weit führen, die gerichtliche Seite dieser Frage 
zu verfolgen, es liesse sich aber hinlänglich nachweisen, dass eine 
gerichtliche Verurtheilung eines Arztes wegen eines Chloroformunfalls 
noch für lange Zeiten als ungerechtfertigt angesehen werden muss. 

Nach alledem, was ich über die Gefahr bei der Chloroform- 
narkose gesagt, ist es kein Wunder, dass man unablässig nach einem 
anderen, ungefährlicheren Anästheticum gesucht hat. Aus der grossen 
Gruppe der hierher gehörigen Substanzen kommen für uns nur 
wenige in Betracht, in erster Reihe der Aether. Wie ich schon 


14 


vorhin erwähnte, wurde der Aether schnell durch das Chloroform 
verdrängt, aber vollständig war das doch nie geschehen. In Amerika, 
in Frankreich, in der Schweiz gab es immer eine gewisse Anzahl 
von Aerzten, die dem Aether treu geblieben waren, weil sie ihn fiir 
weniger gefährlich hielten als das Chloroform. Mit jedem Jahre zu- 
genommen hat aber der Aethergebrauch seit jener Sammlung der 
deutschen Gesellschaft für Chirurgie, wesentlich deswegen, weil die 
dabei gewonnenen Zahlen sehr für die grössere Ungefährlichkeit des 
Aethers sprachen. Während beim Chloroform 1 Todesfall auf 2286 
kam, kommt erst auf 6020 Aethernarkosen ein Todesfall. Zunächst 
fehlen beim Aether jene, ich möchte sagen, brüsken Todesfälle ganz 
im ersten Anfang der Narkose, und bei manchen der angeführten 
Aethertodesfälle konnte man über die Berechtigung ihrer Rubricirung 
noch sehr verschiedener Ansicht sein, so wie z. B. auch die einfach 
als Aetherpneumonien hingestellten Lungenentzündungen in ihrem 
Zusammenhang mit der Aethernarkose nicht immer sicher sind. 
Manchmal haben, wie dies Professor Nauwerck gezeigt, solche 
Diagnosen offenbar gar keine Berechtigung. Soviel steht fest: 
Der Aether ist für das Herz entschieden ungefährlicher als das 
Chloroform und wenn ein Chloroformirter einen schwachen Puls be- 
kommt, so kann man oft ein deutliches Stärkerwerden desselben 
beobachten, wenn nun anstatt Chloroform Aether weiter gegeben 
wird. Die Aethernarkose ınuss ganz anders geführt werden als die 
Chloroformnarkose, es müssen viel grössere Quantitäten Aether auf- 
gegossen werden, wenn man eine Narkose erzielen will. Nicht zu 
leugnen ist jedoch, dass der Aether manche Unbequemlichkeiten, auch 
für den Arzt hat: Die Narkose tritt nicht so schnell ein, die Aether- 
masken sind noch recht unhandlich, der Aether ist sehr leicht ent- 
ziindlich und man muss bei Licht mit ihm vorsichtig sein. Dabei 
ist es wichtig, zu wissen, dass die Aetherdünste nicht so sehr nach 
oben steigen, als nach unten fallen, so dass man sich noch mehr 
hüten muss, ein Licht tiefer zu halten als die Aethermaske. Alle 
diese Unbequemlichkeiten werden aber zum allergrössten Theil auf- 
gewogen durch die grössere Ungefährlichkeit des Aethers, namentlich 
für das Herz. Dass der Aether aber ebenfalls nicht ohne Gefahr 
ist sehen wir schon aus jener Statistik der Aethertodesfálle. Auch 
der Aether ist ein Uebel, obwohl gegen das Chloroform das kleinere. 


15 


Man hat auch, um eine weniger gefährliche Narkose zu be- 
kommen, mehrere Substanzen zusammen verwandt. So besteht die 
von Billroth gebrauchte Mischung aus Chloroform (3 Th.), Aether 
(1 Th.) und Alkohol (1 Th.). Diese Mischung ist nach der Statistik 
auch weniger gefährlich als Chloroform. 

Eine sehr gute und empfehlenswerthe Art der Narkose ist dann 
noch die Combination von Chloroform und Aether hintereinander. 
Zuerst leitet man dieselbe mit einer richtigen Chloroformtropfen- 
Narkose ein und wenn der Patient eingeschlafen ist, setzt man 
diese mit Aether fort; man braucht dann weiter nur geringe Quan- 
titäten. Die Zahlen der Gurlt’schen Statistik in der Sammlung der 
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ergiebt für diese Art der 
Narkose vorläufig: auf 10162 Narkosen 1 Todesfall. 1) 

Wie aus der ganzen, kurzen Uebersicht hervorgeht, giebt es 
aber bis jetzt kein ungefährliches Allgemein- Anästheticum. Das 
sollten wir bei keiner Narkose vergessen. In England hat sich in 
Würdigung der Wichtigkeit der Sache ein besonderer Stand heraus- 
gebildet, die ,,Anaesthetists.“ Diese sind oft frühere Heilgehilfen 
und thun nichts weiter als sich nur mit der Narkose abgeben, 
also vornehmlich mit Chloroform; sie wissen sogar kaum immer, 
was für eine Operation gerade überhaupt in der von ihnen geleiteten 


1) Für die Beurtheilung der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit eines 
Anästheticums giebt natürlich nur die Statistik den Hauptmaassstab ab. Gerade 
mit der Narkose-Statistik steht es aber ganz besonders schwach. Bis vor 6 Jahren 
war England das einzige Land, das zu dieser wichtigen Frage einen nennenswerthen 
Beitrag lieferte. Die anderen Länder betheiligten sich daran wenig oder gar nicht. 
Auch Deutschland nicht. Erst als man auch hier Zahlen zu sammeln anfing, 
wurde es immer klarer, wie erschreckend gross die Zahl der Todesfälle, namentlich 
an Chloroform sind. Die ganze Grösse der Gefahr ist aber noch lange nicht 
bekannt (bis 1890 mögen die tiberhaupt bekannt gewordenen Fälle über 400 
betragen haben, in den “5 Jahren von 1890—95 hat die Deutsche Gesellschaft für 
Chirurgie allein 88 Todesfälle gesammelt) und daher ist es dankbar zu begrüssen, 
dass das Comité der chirurgischen Section für den nächsten Internationalen 
medicinischen Congresse zu Moskau auf meinen Vorschlag eine Aufforderung an 
die Chirurgen aller Länder gerichtet hat, Zahlenmaterial zu einer internationalen 
Narkose - Statistik zusammen zu tragen und zwar für das Jahr 1896. Um die 
Sammlung leichter zu ermöglichen, sind nur einige wenige Hauptpunkte für die 
Angaben gewählt: 1) Zahl der Narkosen, 2) Art des Anästheticums, 3) Zahl der 
Todesfälle. Wenn die Chirurgen aller cultivirten Länder unserer Erde für diese 
Angelegenheit das richtige Interesse zeigen, so muss die internationale Lösung 
dieser Aufgabe ein ganz gewaltiges Ergebniss haben, wie es noch nie dagewesen ist. 


16 


Narkose im Gange ist. Sie werden so zu Specialisten, die im 
Narkotisiren eine grosse Routine besitzen. Für unsere Verhältnisse 
passt nun eine derartige Einrichtung wohl nicht, bei uns hat jeder 
Arzt selbst seinen Chloroformirten zu überwachen. Dazu ist eine 
unausgesetzte, genaue Aufmerksamkeit nöthig, die sich durch nichts 
ablenken lassen soll. Lessing hat in seiner unsterblichen Ab- 
handlung: „Wie die Alten den Tod gebildet“ gezeigt, dass der Tod 
und der Schlaf auf den alten Grabmälern als Zwillingsbrüder, einander 
zum Verwechseln ähnlich, dargestellt wurden. Diese Allegorie hat 
einen noch tieferen Sinn beim Chloroformschlaf. Möchte Jeder an 
dieses Bild denken, der eine Narkose zu leiten hat; gar zu leicht 
könnte er plötzlich in Zweifel kommen, ob sein Kranker nur schläft, 
oder — schon todt ist. — 

Wenn wir nun auch erst seit 50 Jahren im Besitze einer brauch- 
baren Allgemeinanästhesie sind, so soll man darum nicht glauben, 
dass bis dahin noch Niemand diese Idee überhaupt gehabt hat. Der 
Wunsch, einem Operirten Schmerzen zu ersparen, ist so menschlich- 
natürlich, dass er, unerfüllt, bis in die graueste Vorzeit zurück- 
reicht. 

Schon die alten Aegypter verstanden es, Tränke zu diesem Zweck 
zu mischen; die Assyrer sollen, um den Kindern bei der Beschneidung 
den Schmerz zu ersparen, ihnen den Hals zugedrückt haben. Mit 
dieser barbarischen Procedur haben sie ihren Zweck jedenfalls erreicht, 
denn die Kohlensäure, die sich bei der Erstickung oder wie dort 
im Erstickungsanfall im Blute anhäuft, ist ebenfalls ein Narkoticum 
und Anästheticum. (Das kann man besonders bei Personen sehen, 
die bei Gefahr zu ertrinken aus dem Wasser gezogen werden. Wenn 
sie dann auch schliesslich ins Leben zurückgerufen werden und 
Athmung und Puls endlich von selbst wieder weiter gehen, so kommen 
sie doch manchmal, wenn sie etwas lange unter Wasser gewesen 
sind, erst am nächsten Tage zur vollen Besinnung.) 

Im Anfange unserer Zeitrechnung haben die Chinesen bei 
Operationen Berauschungsmittel angewandt, die aus Haschisch, dem 
indischen Hanf, bestanden. Eine grosse Rolle spielte ferner nicht 
nur in den allerältesten Zeiten, sondern auch das Mittelalter hindurch 
und noch später die Alraunwurzel (Atropa Mandragora), sie wurde 
theils innerlich genommen, theils im Wasserdampf eingeathmet. Zu 


17 


a 





solchen Betäubungsmitteln mischte man fast alles zusammen, was man 
überhaupt an Pflanzengiften damals besass. Als Beispiel dafür sei es 
mir gestattet, eine Stelle anzuführen aus dem Buche der Bündth-Ertznei 
des deutschen Ordensritters Heinrich von Pfohlspeundt, das 1460 
verfasst ist. (Dieses Buch ist übrigens das älteste deutsche Buch 
über Wundarznei und nicht, wie es in dem Text zu den lebenden 
Bildern auf dem letzten Chirurgencongresse in Berlin steht, dasjenige 
des Strassburgers Brunschwig. Brunschwig hat 100 Jahre später 
gelebt als Pfohlspeundt.) Pfohlspeundt interessirt uns auch noch 
deswegen ganz besonders, weil er in unserem Osten in dem Kriege 
thätig gewesen ist, den der Deutsche Orden mit dem Könige von 
Polen geführt hat und namentlich während der Belagerung von 
Marienburg (1457) reichliche Gelegenheit hatte, seine Kunst aus- 
zuüben. Ich will das Recept nicht in dem umständlichen Urtext 
anführen, sondern nur kurz erwähnen, dass da zu dem Einschläfern 
u. A. genommen wurde: Opium, Bilsenkraut, Alraunblätter, Schirling, 
Lattich-Samen, Kellerhals-Samen u. s. w., von jedem 1 Loth, also 
15 Gramm. Das ganze wurde ausgepresst und damit ein Schwamm 
getränkt, der dann getrocknet aufbewahrt und vor dem Gebrauch in 
warmes Wasser gelegt wurde. Dieser Schwamm wurde dem Kranken 
vor die Nase gehalten, bis Schlaf eintrat. Dann wurde der Schwamm 
wieder getrocknet und zum weiteren Gebrauche aufbewahrt. Durch 
Zapfen aus Baumwolle oder Nothwerg (Charpie?), welche mit Essig 
und einigen anderen Sachen getränkt waren und in die Nase ge- 
stossen wurden, wurde der Kranke wieder zu sich gebracht. Dieses 
Recept ist übrigens noch viel älter, es stammt schon aus dem 13. 
Jahrhundert von Theodoricus de Cervia. (Haeser.) — Ein inter- 
essantes und ebenfalls durch sein Alter bemerkenswerthes Beispiel, 
welches wohl sicher hierher gehört, das Jeder von uns kennt und 
auf das doch Keiner von uns gekommen ist, hat Simpson, der die 
Chloroformnarkose eingeführt hat, herangezogen. Wir finden es — 
in der Bibel: Als Gott dem Adam die Rippe nehmen wollte, um 
daraus die Eva zu formen, versenkte er ihn dazu erst in einen tiefen 
Schlaf. 

Von jeher hat man aber zwei Wege eingeschlagen, um die 
Operationsschmerzen zu benehmen. Entweder betäubte man den 


Menschen, dass er überhaupt nichts fühlte, dass er bewusstlos war 
2 


18 

— Allgemeinanisthesie — oder man suchte die Stelle selbst, 
die man schneiden oder brennen wollte, unempfindlich zu machen, 
ohne dass das Bewusstsein in Mitleidenschaft gezogen ist — Local- 
anisthesie. Auch die Versuche mit Localanästhesie sind uralt und 
weisen mit ihrem Ursprung nach Aegypten. So wurde der Lapis 
memphites, der Stein von Memphis gepulvert und mit Essig gemischt 
aufgelegt, um die Stelle gegen den operativen Eingriff unempfindlich 
zu machen. Man hat gemeint, das sei eine Art von Marmor 
gewesen, aus dem sich unter der Einwirkung der Essigsäure Kohlen- 
säure entwickelt hätte, die dann ihrerseits anästhesirend gewirkt 
haben sollte. Mit der theoretischen Erklärung der Wirkung so alter 
Mittel ist es aber eine missliche Sache. Denn ebenso finden wir 
als locales Anästheticum die gepulverte Krokodilhaut oder eine Salbe 
aus dem Fett des gebratenen Krokodilfleisches angeführt. 

Wie will man solche Dinge theoretisch erklären ? 

Das sind eben echt ägyptische Mittel und stammen aus den 
Zeiten, wo noch der Tempel die Alma mater war, der Inbegriff 
alles Wissens, wo die Behandlung der Kranken als religiöser Act 
zum Tempeldienst gehörte und mächtig einwirkende Beschwörungs- 
formeln und Zaubersprüche als viel wichtiger angesehen wurden, 
als die dabei angewendeten Medicamente. Wo die Möglichkeit noch 
fehlte, dem Kranken durch objectiv wirkende Mittel zu helfen, da 
sehen wir, wie in voller Kraft die Suggestion in den Vorder- 
grund tritt. | 

Nach den verschiedensten Versuchen mit allen möglichen Mitteln, 
auch mit der Einwirkung der Kälte, machte die Localanästhesie den 
ersten grösseren Fortschritt vor etwa 30 Jahren durch die Einführung 
der Aetherbestäubung. Dadurch erzeugte man eine Erfrierung, welche 
die betreffende Stelle unempfindlich macht.!) Sie ist aber nur für 
oberflächliche Eingriffe verwendbar und ruft an entzündeten Theilen 
leicht einen heftigen Schmerz hervor und ist auch nicht an allen 
Körpertheilen anzuwenden, so z. B. nicht in der Nähe der Augen 
etc. Weiter kam dann das Cocain, welches wir als Anästheticum 
einem Wiener Augenarzt, Kossel 1884, verdanken und welches eine 
grosse Bereicherung unseres Arzneischatzes ist. In der Weise, wie 


') Russische Militärchirurgen kühlten z. B. für eine Empyemoperation die 
Haut durch ein aufgelegtes Eisstück ab. 


. `a ET A nn. > = 


19 


es aber namentlich friiher in der Chirurgie gebraucht wurde, als 
mehrprocentige Einspritzung unter die Haut gespritzt, ist es ein sehr 
gefährliches Mittel und es sind durch dasselbe schon manche Todes- 
fälle vorgekommen. 

Die neueste Gestalt der Localanästhesie ist dagegen als eine 
wirklich sehr bedeutende Verbesserung der Localanästhesie anzu- 
sehen. Man ist mit ihr in der That im Stande, eine ganze Anzahl 
an sich sehr schmerzhafter Operationen vollständig schmerzlos aus- 
zuführen und dabei alle Gefahren und Unannehmlichkeiten einer 
Allgemeinnarkose auszuschliessen. Sie besteht darin, dass man eine 
bestimmte, ganz schwache Cocainlösung, 2 : 1000, 1 : 1000 und 
1 : 100001) nicht unter die Haut, sondern in die Haut und in 
diejenigen Gewebe spritzt, welche man unempfindlich machen 
wil. Man schiebt die Injectionsnadel ganz flach unter die 
Haut, möglichst parallel derselben und erzeugt dadurch unter 
recht hohem Druck eine Quaddel, d. h. die Haut wird im Umkreis 
der Stichöffnung weiss. So weit nun diese Aufblähung der Haut 
reicht, ist die Haut absolut unempfindlich. Von einer solchen 
ersten Stelle aus wird dann durch neuen Einstich wieder weiter 
infiltrirt, so weit der Hautschnitt reichen soll. Hat man die Haut 
auf diese Weise schmerzlos durchtrennt, so geht man mit der 
Infiltrirung weiter in die Tiefe. Man muss sich daher stets ver- 
gegenwärtigen, dass nur diejenigen Gewebe unempfindlich sind, die 
infiltrirt sind. Dieses Verfahren, die sogenannte Infiltrationsanästhesie, 
verdankt ihre Ausbildung dem Berliner Chirurgen Schleich. Als 
Schleich damit hervortrat, wollte man von der Sache nichts wissen 
und wenn man mit Recht darauf hingewiesen hat’), dass dieselbe 


1) Schleich hat 3 verschieden starke Lösungen angegeben: 


I. Cocain. mur. 0,2 II. Cocain. mur. 0,1 
Morph. mur. 0,025 etc. ebenso wie I. 
Natr. chlorat. 0,2 III. Cocain mur. 0,01 
Aq. dest. ad. 100,0 Morph. mur. 0,005 
adde Acid. carbol. 5%, gtt, etc. wie vorhin. 


No. I wird nur bei entzündlicher Affection gebraucht, II für gewöhnlich 
und III wenn sehr viel Lösung nöthig ist. 
> Siehe Monatsschrift für Unfallheilkunde 1895 p. 389, wo Herr Sanitäts-Rath 
Thiem im Anschluss an meinen Vortrag über Lokalanästhesie auf der Lübecker Natur- 
forscher- und Aerzte-Versammlung darauf aufmerksam macht, dass Oberstabsarzt 
Albers 1889 in zwei Artikeln sagt, dass er Infiltrationsanästhesie seit 4 Jahren übe. 
2* 


20 


Art der Anästhesirung schon vor Schleich geübt worden war, so 
muss man demgegenüber nicht aus dem Auge lassen, dass Schleich 
mit sichtlichem Geschick die Technik dieser Lokalanästhesie 
herausgearbeitet hat und dass sie gerade durch die Verständniss- 
losigkeit, welche ihr gleich anfangs eine nur vorläufig gefährliche 
Opposition machte, als hinlänglich neu gestempelt wurde, um sein Ver- 
dienst um die Sache auser allen Zweifel zu setzen. Ganz besonders 
willkommen ist die Lokalanästhesie in den Fällen, wo operirt werden 
muss und der Kranke eine Betäubung nicht verträgt. So hatte ich 
einmal eine eiterige Phlegmone der Hand zu operiren, welche sich 
an einem offenen Bruch eines Fingerknochens angeschlossen hatte. 
Der Kranke, ein Tischlergesell, zeigte keinerlei Herzanomalie und 
hatte vor der Operation auch über nichts derartiges geklagt. Er 
sollte also unter Chloroformtropfennarkose operirt werden. Nach 
50 Tropfen Chloroform, die im ruhigsten Tropfentempo bei reich- 
lichem Luftzutritt gegeben waren, fing plötzlich der Puls an, auf 
jeden 4. oder 5. Schlag auszusetzen. Ich machte eine kleine Pause, 
ob sich das Herz nicht wieder beruhigen würde, aber schon nach 
einigen weiteren Tropfen wurde der Puls noch schlechter, so dass 
. wir gezwungen waren, einfach die Chloroformirung abzubrechen. 
Hier etwa mit Aether anstatt mit Chloroform fortzufahren, wäre 
ebenfalls nicht am Platze gewesen, denn wenn ein Herz erst einmal 
so weit ist, wie in diesem Fall, wird es, wie ich aus Erfahrung weiss, 
auch unter Aether nicht besser, sondern weiter schlechter. Der Kranke 
erholte sich von den wenigen Minuten minimaler Chloroformeinwirkung 
nur sehr langsam. Am nächsten Tage machte ich die Operation unter 
Lokalanästhesie und der Kranke hatte während des Schneidens und 
Ausschabens keine Spur von Schmerzempfindung, vielmehr gab er an, 
er spüre in der Hand beim Operiren eine geradezu angenehme 
Wärme. Und dennoch war die Operation eine so eingreifende, 
dass ich, trotzdem ich schon ziemliche Uebung in der Infiltrations- 
anästhesie hatte, dem Kranken die Chloroformnarkose nicht vorenthalten 
zu müssen geglaubt hatte. Ein andermal handelte es sich um eine 
stark skoliotische ältere Frau, die kurz nach einem Influenzakranken- 
lager eine harte Phlegmone am Halse bekommen hatte. Auch hier 
wäre ich nur unter grosser Sorge an eine Chloroformnarkose ge- 
gangen. Eine Aethernarkose war wegen des Zustandes der Lunge 


21 


ausgeschlossen. Unter vollständig gelungener Infiltrationsanästhesie 
operirte ich sie zweimal mit bestem Erfolg. Bei einem 73jährigen 
alten Herrn konnte ich mich besonders gut von der sicheren Wirkung 
der Infiltrationsanästhesie überzeugen. Ich entfernte ihm einen 
Hoden wegen Prostatahypertrophie. Er lag dabei ganz ruhig und 
versicherte auf die erstaunte Frage des assistirenden Collegen, der 
diese Lokalanästhesie noch nicht kannte, consequent, dass er absolut 
nichts von Schmerz spüre. Als ich aber demselben Patienten dann 
später unter grösster Schonung die paar Näthe entfernte, war er vor 
„schmerz“ ganz ausser sich, zum Beweis, dass er bei der Operation 
selbst nur dank der Localanästhesie und nicht etwa seiner Stand- 
haftigkeit so ruhig gewesen war. 

Dieffenbach erzählt uns (l. c.) wie den Chirurgen, die früher 
vor dem Aether gewohnt waren, den Kranken bei vollem Bewusst- 
sein zu operiren, es ganz ungewohnt gewesen sei, unter der Aether- 
narkose den bewusstlösen Kranken vor sich zu haben. Früher hatten 
sie die Operation unter fortwährendem Ringen mit dem Kranken 
unter tröstendem Zuspruch und vielem Reden mit ihm vollführt. 
Jetzt kam ihnen die Ruhe des schlafenden Patienten ganz unheimlich 
vor und sie mussten alle Kraft zusammennehmen, um sich an die 
ganz ungewohnte Situation zu gewöhnen. Jetzt geht es uns gerade 
umgekehrt, wenn wir z. B. eine Laparotomie unter Infiltrationsan- 
ästhesie machen. Wir suchen den Kranken durch Zuspruch zu er- 
heitern, der Kranke lacht auf, ja — aber wir lassen bald die 
Scherze, weil unter dem Lachen sich die Gedärme zur Wunde heraus 
zu drängen suchen. Auch kommt es uns ganz absonderlich vor, 
dass der Kranke während der Laparotomie sich bei uns bedankt 
und ruhige Conversation macht, als ob ihn die ganze Operation 
nichts anginge. So ist es bei ganz normalem Peritoneum. Bei ent- 
zündetem ist die Sache allerdings anders und auch schon bei länger 
bestandenem Ascites lässt die Infiltrationsanästhesie leicht im Stich. 

Sehr richtig war es von Schleich, dass er selbst für den ersten 
Nadelstich verlangte, dass die Haut vorher unempfindlich gemacht 
werde Es ist ja richtig, dass es uns nie beikommt, für eine 
Morphiumeinspritzung vorher die Haut unempfindlich zu machen. 
Der Stich ist bei diesen beiden Fällen allerdings derselbe, aber die 
Auffassung des Kranken ist eine sehr verschiedene, und während er 


ID 
ID 


dort nichts weiter erwartet als die Morphiumeinspritzung, steht er hier 
vor einer Operation. Seine Phantasie ist erregt, und manche Kranke 
fassen denselben kleinen Stich als etwas Schreckliches auf und verhalten 
sich auch darnach. Namentlich bei sehr nervösen Personen ist es 
manchmal trotz aller Kunst unmöglich, sie zur Ruhe zu bekommen. 
Sie empfinden den Schmerz entschieden in der Einbildung. Auch zeit- 
weise Geisteskranke sind für die Localanästhesie in ihren anfallsfreien 
Zeiten ein schlechtes Material. Ausserdem ist in entzündeten Geweben 
die Durchführung der Infiltrationsanästhesie manchmal recht misslich. 

Zur Unempfindlichmachung für den ersten Nadelstich wendet 
Schleich den Aetherspray an. Dieses Verfahren hat entschiedene 
Mängel, man kann es nicht überall, wie z. B. in der Augengegend, 
der Analgegend etc., anwenden, ausserdem erzeugt der Aetherspray 
an entzündeten und gewissen anderen Theilen leicht ein schmerz- 
haftes Brennen, lässt sich auch nicht genau abgrenzen. Ich habe 
daher einen kleinen Apparat!) anfertigen lassen, der von allen diesen 
Mängeln frei ist und mit welchem man im Stande ist, eine kleine um- 
strichene Hautstelle für den ersten Nadelstich unempfindlich zu machen. 
Man braucht ja nicht ganz ausnahmslos in jedem einzigen Fall für 
den ersten Nadelstich die Haut mit dem Kälteapparat zu anästhesiren, 
man wird ausnahmsweise auch Kranke finden, bei denen es dieser 
Fürsorge nicht bedarf, aber als allgemeine Regel ist es sicher zu empfeh- 
len, die Operation lieber von vornherein so einzurichten, dass der 
Kranke überhaupt nichts von Schmerz spürt. Scheitert doch bei sehr 
aufgeregten Nervösen, namentlich bysterisch Kranken schon ohnehin 
die ganze Localanästhesie, weil sie von dem Wahn nicht loszureissen 
sind, dass die Operation Schmerzen machen muss, von den entzündeten 
Weichtheilen in anderen Fällen schon gar nicht zu sprechen. Diese 
Abkühlung verzögert die ganze Procedur um ca. 2 Minuten, während 
auf die Infiltration für eine ausgiebige Incision höchstens 5 Minuten 
kommen. Ich habe das in mehreren Fällen genau controllirt. Meine 
Kältevorrichtung entspricht übrigens auch viel mehr den Anforderungen 
der Asepsis, wie die Applicirung des Aetherspray’s, men kann nament- 
lich den Theil des Apparates, der die Abkühlung auf der Haut be- 
sorgt, abkochen. Den übrigen Theil des Apparates umwickelt man 
zur Operation mit einer sterilen Compresse oder einem Stück eben- 
solcher Gaze, um sich selbst vor der Kälteeinwirrkung zu schützen. 


!) Bei Dröll, Mannheim. 


23 


Trotzdem ich einer der Ersten war, der fiir die Schleich’sche 
Infiltrationsanästhesie eingetreten ist, so sind mir schon von Anfang 
an einige zu offenbare Mängel ihrer Anwendung klar gewesen. 
Der eine Mangel war der, dass Schleich für seine Infiltration 
die Spritzen mit Hartgummifassung und mit Lederstempel überhaupt 
nur zugelassen hat. Der Hartgummi wird beim Kochen weich und 
verändert leicht seine Form, und Leder ist durch Hitze überhaupt 
nicht zu sterilisiren, also in Bezug auf Wundbehandlung ein ganz 
unmögliches Material. Eine Spritze, die man nicht auskochen kann, 
sollte man bei einer Operation nicht in die Hand nehmen. Wer 
das thut, zeigt damit, dass er an die Reinlichkeit bei Operationen 
nicht die genügenden Anforderungen stellt. Ich verwende eine 
Spritze mit einem Gummistempel, für die ich einen besonderen Griff 
angegeben habe, der die Reinigung der Spritze im Sinne der Aseptik 
nicht hindert!). Dann ist mir hier noch ein Punkt ganz unverständ- 
lich. Wir haben wohl alle E. Hahn zugestimmt, als er damals 
besonders darauf aufmerksam machte, man möchte bei Brust- 
krebs daran denken, dass wir es mit einem infectiösen Material zu 
thun haben. Er rieth daher entschieden davon ab, mit demselben 
Messer erst einen Probeschnitt in die Geschwulst zu machen und 
dann etwa damit auch die Mamma-Amputation auszuführen. Von 
anderen Seiten wurde sogar verlangt, dass man bei der Untersuchung 
carcinomatöser Achseldrüsen zart und schonend sein soll, um nicht 
durch starkes Drücken den Krebssaft in noch gesunde Gewebe hin- 
einzutreiben. Was soll man nun dazu sagen, wenn man bei der 
Infiltrationsanästhesie an der Peripherie der Geschwulst mit der Nadel 
herumsticht und die betreffende Flüssigkeit unter so hohem Druck 
in die Gewebe treibt? Wie weiss man denn immer vorher, wie tief 
die krebsige Infiltration in Fascie und Muskel hineinreicht. Sicher 
ist es unvermeidlich, auf diese Weise mit der Nadel aus Krebs- 
gewebe in normales Gewebe zu gelangen und offenbar liegt damit 
die Möglichkeit vor, dieses unter dem starken Injectionsdruck mit 
Krebsmaterial zu inficiren. 


Für mich steht es also, wie ich auch schon auf der Natur- 
forscher- und Aerzteversammlung 1895 in Lübeck betont habe, un- 


') Zu haben bei Windler, Berlin. 


24 


bedingt fest, dass die Infiltrationsanästhesie bei Krebs ab- 
solut ausgeschlossen sein sollte. Ein Kranker, der Krebs hat, 
muss auch die Gefahr der Allgemeinanästhesie mit in den Kauf 
nehmen. Wir erweisen ihm einen schlechten Dienst, wenn wir, um das 
Chloroform zu vermeiden, ihm womöglich seinen Krebs bei der Operation 
weiter „infiltriren“.!) Man soll eben nicht um jeden Preis das Chloro- 
form nder den Aether zu vermeiden suchen. Hält man sich hier von 
solchen Einseitigkeiten auch fern, so bleibt ohnedies eine ganz gross- 
artige Zabl von Operationen übrig, wo die Infiltrationsanästhesie ein 
ausserordentlich werthvolles, ja zur Zeit einziges Mittel bleibt. Man 
kann die Narkose sehr oft vermeiden, der Kranke fühlt nach der 
Operation in der grössten Mehrzahl der Fälle keine Uebligkeiten. 
Ich will aber bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass 
manche Personen, namentlich Damen, gegen Cocain doch 
recht empfindlich sind. Mir ist es mehrfach vorgekommen, dass 
nach selbst kleinen Operationen die Patienten an demselben oder 
gar noch am anderen Tage einen so starken Schwindel empfanden, 
dass das Bett mit ihnen, wie sie sagten, „in die Runde ging.“ Dies 
konnte nur vom Cocain herkommen, trotz der starken Verdünnung 
von 1:1000 und trotz der Anwendung nur einiger weniger Spritzen. 
Es ist gerathen, auf solche Vorkommnisse gefasst zu sein und bei 
ambulatorischer Behandlung den Kranken womöglich eine Begleit- 
person zum Nachhausegehen mitbringen zu lassen. 


Soviel steht jedoch fest, dass die Infiltrationsanästhesie 
einmächtiges undhochwillkommenes Mittel ist, den Schmerz 
zu benehmen. Es sollten sich daher alle Aerzte auf dieses 
Verfahren, bei welchem man erst manche technische 
Schwierigkeiten überwinden muss, eingearbeitet haben. 

So habe ich Ihnen, verehrte Versammlung, in meinen kurzen 
Ausführungen gezeigt, welche Fortschritte wir in unserer Frage bisher 
gemacht haben. Wir sind in den letzten 5 Jahrzehnten weiter ge- 
kommen, als die 5 Jahrtausende vorher. Die Hauptursache, warum 


1) Es werden sich auch noch manche andere Contraindicationen gegen die 
Infiltrationsanästhesie finden. So ist es z. B. noch sehr fraglich, wie die zum 
Absterben geneigten Gewebe eines Diabetikers die animisirende Infiltration 
vertragen werden. Bei einem jungen Manne, der an vorübergehender Glycosurie 
litt, wurden die Schnittränder nach einer Phimosenoperation z. Th. gangränös. 


25 


die friiheren Zeiten hier nichts erreicht haben, liegt darin, dass die 
Wissenschaft der Chemie erst eine Errungenschaft der Neuzeit ist. 
So arbeitet eine Wissenschaft der anderen in die Hande. 

Wie ein schönes Leitmotiv gewinnt der Wille, den Kranken 
gefahrlos vor Schmerzen zu bewahren, seit grauer Vorzeit immer 
deutlichere Gestalt. Wir haben auch jetzt das Ziel noch nicht voll- 
ständig erreicht, nach der Art jedoch, wie wir uns demselben bis 
jetzt genähert haben, können wir hoffen, dass es einst erreicht werden 
wird. Die innerste Triebfeder aber, welche unsere Heilkunst 
zu immer höherer Vollendung zeitigt, das ist die Macht der 

Menschlichkeit! 


Einige Litteratur. 


. O Kappeler: Anaesthetica. Deutsche Chirurgie 20. 1880. 

. U. v. Pfohlspeundt: Buch der Bünd-Ertznei 1460. Berlin 1868. 

. D. Lavrentii: Heisters Chirurgie, zweite Aufl, 1724. 

. Rydygier: Wie soll man Chloroformiren? Klin. Vorträge. 1893 No. 69. 

. O. Witzel: Praktische Erwägungen über das Operiren unter Anwendung 

der Narkose. 

. C. L. Schleich: Schmerzlose Operationen. 1894. 

. Johann Friedrich Dieffenbach: Der Aether gegen den Schmerz. 1847. 

. C. Binz: Der Aether gegen den Schmerz. 1896. 

0. E. Braatz: Ueber die Wiederbelebungsversuche bei Chloroformtod, insbesondere 
über die dabei angewendete Electricitát. St. Petersburg. Med. 
Wochenschr. No. 28, 29 u. 30. 1884. 

10. E. Braatz: Kann man die Gefahren der Chloroformnarkose so verringern, dass 
wir den Aether in der Chirurgie nicht brauchen? Berliner Klinik 1893. 
No. 62. 

11. E. Braatz: Ueber Lokalanästhesie. Monatsschr. f. Unfallheilkde, 1895, p. 380. 

12. E. Braatz: Zur Lokalaniisthesie. Centralbl. f. Chir. 1895, Nr. 26. 

13. W. Koch: Ueber das Chloroform und seine Anwendung in der Chirurgie. 
Volkmann’sche Samml. klin. Vortr. No. 80. 

14. U. Kiimmell: Ueber Narkose und lokale Anästhesie Leipzig, Langhammer 
1896. 

15. Nussbaum: Anästhetica, v. Pitha u. Billroth: Chirurgie Bd. I pg. 609. 

16. Gurlt: Verhandlungen der Congresse der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 

1891—1895. 


=J O) Cm O ny = 


L 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 
an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 


BEE” Goldene Medaille 1896. Tg 


BERLINER KLINIK No. 103. JANUAR 1897. 


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tischen Handgeschwüren (Ekthyma syphilitic.). In diesen 
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in verhältnissmässig kurzer Zeit, Stillstand der Secretion 
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von dieser meiner günstigen Erfahrung bezüglich des Airols 
Gebrauch zu machen, denn warum soll das wirklich Gute 
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Die Zeltchen (Pastillen), in häufiger Wiederholung genommen, ver- 
hindern, nach Beobachtung des Dr. Pfeuffer an sich selbst, den Ein- 
| tritt von Schwäche nach Blutkörperchenzerfall in Folge Influenzafieber 

und wohl auch bei anderen Fiebern. Ausgezeichnete, jetzt allgemein 
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Eucalyptol 20 °/, Salieyl 2° Menthol 25 u. 2°), etc. 
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Campher Vasogenin aeq.) bei Gicht, Rheuma, Hexenschuss 
etc. als überraschend schnell wirkendes schmerzstillendes Mittel bewährt. 
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Ueber Eparsalgie”. 
Von 
Dr. S. Sterling — Lodz (Polen). 





M. H.! Es diirfte wohl jedem von Ihnen bei Aufnahme der 
Anamnese von wenig intelligenten Patienten aufgefallen sein, wie 
sehr dieselben die vermeintliche Ursache ihres Leidens betonen. 
Meist bekommen wir von dem Kranken, noch ehe er auf die eigent- 
lichen Klagen zu sprechen kommt, zu hören: an dem und dem Tage 
habe ich mich erkältet, einen Schlag erhalten, mich erhitzt, Wasser 
getrunken, mich bei der Arbeit überhoben, und empfinde nun an der 
und der Stelle Schmerz, huste jetzt u. dgl. m. 

Ein derartiges Raisonnement verräth einen geringen Grad von 
Intelligenz; es wird hier „post hoc ergo propter hoc“ gefolgert. 
Unter den Momenten nun, denen die wenig intelligenten breiten 
Schichten einen Einfluss auf die Entstehung der mannigfachsten 
Leiden zuschreiben, figurirt gleich neben der Erkältung die Ueber- 
anstrengung, das „Sich-überhoben-haben“. Der Glaube an diesen 
ätiologischen Factor ist ein so tief eingewurzelter, dass die nämlichen 
Termini zur Bezeichnung gewisser krankhafter Zustände gebraucht 
werden; mit dem Worte „Ueberanstrengung‘‘ wird nicht allein die 
Krankheitsursache, sondern auch die durch dieselbe anscheinend er- 
zeugte Krankheit bezeichnet, Jeder von uns, der als Arzt mit der 
arbeitenden Klasse in Berührung kommt, hört nur zu oft, wie die 
Patienten die verschiedensten Leiden von dieser Ueberanstrengung 
herleiten. Gerade die Häufigkeit und stereotype Einförmigkeit, womit 
diese Klagen immer wiederkehren, haben unter den Aerzten einen 
gewissen Skeptizismus der Eparsalgie gegenüber grossgezogen ; dieser 
ist zum theil bedingt durch die Mannigfaltigkeit der Symptome, 
welche dieses ätiologische Moment verschulden soll und die in völlig 
differenten Geweben, Organen und Apparaten sich manifestiren sollen. 


1), "Erapoıs, eos = das Aufheben. 
1 % 


Zweifellos sprechen wir in der Mehrzahl der Fälle mit Recht 
diesem Factor jeden ätiologischen Werth ab. Aber andererseits 
darf man auch in der Negation nicht zu weit gehen und die Eparsalgie 
ohne weiteres aus der Aetiologie streichen wollen, wozu meiner 
Ansicht nach sehr viele Aerzte so leicht geneigt sind. 

Analysirt man nämlich eine Reihe von Fällen genauer, in denen 
eine einmalige physische Ueberanstrengung, hauptsächlich beim Heben 
von Lasten, als Krankheitsursache angeschuldigt wird, so ergiebt 
sich, dass dieses Moment immerhin eine gewisse Rolle in der 
Krankheitsätiologie der arbeitenden Klasse spielt. 

In der überwiegenden Majorität dieser Fälle sind wir ausser 
Stande, am Körper des Kranken objectiv irgendwelche Veränderungen 
nachzuweisen. Allein der Umstand, dass sich in einer gewissen 
Quote der Fälle deutlich nachweisbare Veränderungen vorfinden, 
zwingt uns, die Existenz von Uebergangsformen anzunehmen, bei 
denen der gleiche ätiologische Factor schwächer ausgeprägte Ver- 
änderungen erzeugte und die, obgleich objectiv für den Arzt nicht 
nachweisbar, nichtsdestoweniger für den Patienten ein Leiden re- 
prisentiren. Noch mehr: ein grosser Theil der unter Einfluss des 
uns hier beschäftigenden Factors vor sich gehenden, leicht nach- 
weislichen Veränderungen kann schon aus dem Grunde der Auf- 
merksamkeit des Arztes entgehen, weil man gar nicht einmal nach 
ihnen forscht und die Möglichkeit ihres Vorkommens ganz ausser 
Acht lässt. Eben dieser Umstand bot mir Veranlassung, auf die 
Krankheitserscheinungen, die sich unter der gemeinsamen Bezeichnung 
der Eparsalgie zusammenfassen lassen, näher einzugehen. 

Was legen nun unsere Kranken dieser „Ueberanstrengung“ als 
Krankheitsursache zur Last und welche krankhaften Zustände be- 
greifen sie darunter? 

Die Einen führen die Kreuzschmerzen bei beginnender fieber- 
hafter Affection, bei Unterleibstyphus oder Variole auf „Ueberan- 
strengung“ zurück; in diesen und ähnlichen Fällen, über welche der 
weitere Verlauf Klarheit bringt, lässt sich das Raisonnement des 
Patienten mühelos widerlegen, das Unzutreffende seiner Beobachtung 
darthun. 

In anderen Fällen aber hören wir von Schmerzen im Kreuze, 
im Bauche, in der Herzgegend oder sehen ein Extravasat im Auge, 


einen Vorfall des Mastdarmes, eine Hernie, Wanderniere, einen 
Bauchbruch, héren von Blutbrechen, Aborten oder finden auf dem 
Sectionstische Darm- oder Gefässruptur u. dgl. 

Gerade diese Fälle, wobei die schwereren ihrer Seltenheit wegen 
den Gros der Aerzte weniger bekannt sind, lehren uns, dass die 
Eparsalgie als ätiologisch gesonderte Krankheitsform ihre Daseins- 
berechtigung in der Pathologie hat. 

Sehen wir uns das Wesen der Eparsalgie an. 

Dieselbe ist ein durch einmalige, aber excessive phy- 
sische Ueberanstrengung, hauptsächlich beim Heben von 
Lasten hervorgerufener krankhafter Zustand!). Diese Be- 
zeichnung muss ab und zu etwas enger gefasst werden, wie sich 
aus dem Folgenden ergeben wird. 

Von vornherein also schliessen wir hier Krankheitszustände aus, 
welche durch körperliche Ueberbürdung infolge langer Dauer der 
physischen Arbeit erzeugt werden. Denn hier handelt es sich um 
ein sozusagen pbysiologisches Ermüdungsgefühl und zeitweiliges 
Darniederliegen der Function als natürliche Folge langanhaltender 
intensiver körperlicher Arbeit. Und obgleich auch unter gewöhn- 
lichen Arbeitsbedingungen die Uebermüdung krankhafte Zustände 
erzeugen kann, sehen wir doch augenblicklich von ihnen ab, indem 
wir uns nur auf solche beschränken, welche unter den oben ge- 
nannten besonderen Umständen entstehen. 

Denn ich beabsichtige einzig und allein von den Folgen ein- 
maliger Ueberanstrengung, die die Grenzen der physiologischen 
Leistungsfähigkeit der verschiedenen Organe überschreitet, und zwar 
während einer kurzdauernden, bei ganz bestimmter Körperhaltung 
geleisteten Arbeit, zu sprechen. 

Denn wie stellt sich einer an, der eine grössere Last z. B. auf- 
zuheben hat? Er giebt seinem Körper eine Haltung, die ihm er- 
laubt, mit möglichst geringem Energieaufwande die Arbeit zu leisten 
(den gegebenen Widerstand zu besiegen). Gleichzeitig setzt er re- 

1) Ein anderes selteneres ätiologisches Moment der Eparsalgie liegt z. B. in 
den nachstehenden ähnlichen Fällen: jemand, im Begriff von der Treppe zu 
stürzen, sucht hastig am Geländer sich festzuklammern und bleibt daran mit den 
Händen hängen; oder jemand sucht mit aller Kraftanstrengung einen Stier, der 
den Schädel niederbeugt, um ihn mit den Hörnern zu fassen, an denselben fest- 


zuhalten u. dgl. m. 
1* 


4 


flectorisch sämmtliche Schutzvorrichtungen in Thätigkeit, deren Auf- 
gabe es ist, den Körper vor den nachtheiligen Folgen der Ueberan- 
strengung zu bewahren. 

„Wenn die Arbeit die Entfaltung ungewöhnlich grosser Kraft 
und Energie erfordert, geräth die Körpermuskulatur in einen 
Spannungszustand; es handelt sich um eine Combination intensiver 
Muskelcontractionen, deren Grundlage eine complete oder incomplete, 
allgemeine oder partielle Immobilisirung des Brustkorbes, die von 
einer Hemmung der Respiration begleitet ist, bildet. Eben diese 
temporäre Immobilisirung des Thorax giebt den Muskeln den für 
die Entfaltung besonders intensiver Muskelkraft nöthigen Stützpunkt. 
Die Brust entfaltet sich dank der kräftigen Inspiration, Luft erfüllt 
die Lungen völlig; sie dringt in die erweiterten Lungenalveolen 
und Bronchien ein und bildet den elastischen Stützpunkt für die 
Rippen und das Zwerchfell, welcher dem Widerstande der Athem- 
muskeln und dem äusseren Athmosphärendrucke das Gegengewicht 
hält. Dieser Spannungszustand wird plötzlich oder allmählich unter- 
brochen — je nachden die Luft schneller oder weniger schnell aus 
den Lungen entweicht“ (Layet). 

In der That sieht man, dass wenn sich jemand anschickt, eine 
erhebliche Last aufzuheben, er die Füsse spreizt, um einen bequemen 
Stützpunkt zu besitzen; er spannt gleichzeitig die Bauchmusculatur 
an, wodurch der intraabdominelle Druck gesteigert wird’), macht 
tiefe Athemzüge, spannt zu gleicher Zeit sämmtliche ex- wie in- 
spiratorische Muskeln des Brustkorbes an und versucht gebeugt bei 
in inspiratorischer Stellung immobilisirtem Thorax mit den Armen 
den Widerstand zu besiegen, indem er die Last nicht nur mit Hilfe 
der oberen Extremitäten, sondern auch des ganzen vornübergebeugten 
Körpers hebt. 

Diese Bedingungen erfahren bisweilen in für den Arbeiter ganz 
und gar nicht gewünschter Richtung eine Aenderung, nämlich dann, 
wenn er zur Ueberwindung des Widerstandes, wie er sich im 
Momente der Arbeitsaufnahme darbietet, nicht vorbereitet war. In 
diesem Falle bemiilit er sich erst während der Arbeitsleistung all’ 


1) Der Arbeiter trägt, indem er, zur Bewältigung grösserer Arbeit sich 
anschickend, den Leibgurt fester anzieht, instinctiv zur Steigerung des intraab- 
dominellen Druckes bei. 


die erwähnten Factoren in Thätigkeit zu setzen!) Wie wir weiter 
sehen werden, begünstigt dieser Umstand aus mancherlei Gründen 
die Entstehung der Eparsalgie. 

Beginnen wir die Betrachtung der Symptome des uns hier be- 
schäftigenden Leidens mit der Muskulatur der Kreuzgegend. Ihre 
physiologische Aufgabe besteht darin, die Bewegungen des Rumpfes 
zu dirigiren und dem Körper eine gewisse freie Haltung zu geben. 
Weit grössere Anforderungen stellen wir an diese Muskeln, wenn 
wir z. B. etwas hinter uns her ziehen, uns im Ringkampfe messen 
oder gebeugt eine Last aufheben. Beim Heben von Lasten z. B. 
befinden sich die Muskeln des Kreuzes, die nun eine ungewöhnliche 
Arbeit leisten sollen, im Zustande hochgradiger Contraction, gleich- 
zeitig aber elongirt und dehnt der Widerstand, welchen wir beim 
Heben der Last überwinden, diese Muskeln; und obgleich der 
arbeitende Muskel sich leichter dehnen lässt als der unthätige und 
oft durch den Widerstand gedehnt wird, führt hochgradige Muskel- 
dehnung, besonders wenn sie plötzlich, brüsk erfolgt, leicht zu Ueber- 
dehnung, Zerrung und Zerreissung des im Zustande der Contraction 
befindlichen Muskels. Jeder dieser drei Grade von Störung der 
anatomischen Structur des Muskels hängt vom Zustande dieses 
letzteren, vom überwundenen Widerstande, von der Geschicklichkeit 
des Arbeitenden und der Plötzlichkeit, mit welcher die Arbeit be- 
gonnen und unterbrochen wurde, ab. 

Was den Zustand der Musculatur angeht, so wirkt der in den 
arbeitenden Klassen herrschende Alkoholismus auf sie sehr oft in 
höherem oder geringerem Grade schädigend ein, sei es unmittelbar 
oder sei es infolge Veränderungen innerhalb der Arterien. Dass hier 
die, bei gegebener Arbeit zu überwindende Widerstandsgrösse von 
der grössten Bedeutung ist, ist leicht verständlich. Nichtsdestoweniger 
spielen hier auch Geschicklichkeit und Uebung, d. h. entsprechend 


1) „Erhält ein Körper wegen der Wucht der einwirkenden Energie ohne 
vorheriges Signal — die vorauseilende Reizwelle, die dem geübten (an- 
gepassten! Organ und Organismus gewöhnlich reflectorisch, selten durch 
das Bewusstsein, die Grösse der zu erwartenden Anforderung für 
Arbeitsleistungen anzeigt — einen allzu plötzlichen und energischen Impuls, 
so müssen alle auf dieser Signalvorrichtung beruhenden zweckmässigen Maass- 
nahmen unvollkommen ausfallen: denn die Möglichkeit und Gleichmässigkeit der 
Vorbereitung ist in Frage gestellt“ (Rosenbach). 


systematisirte Anspannung der einen und Entspannung der anderen 
Muskeln sowie ihre zweckmässige Zusammenwirkung eine wichtige 
Rolle!) Doch ist hier die Uebung nicht alles; sogar beim Heben 
zweier Lasten von gleichem Gewicht und gleicher Form durch eine 
und dieselbe Person können die Folgen verschiedene sein, abhängig 
von der Plötzlichkeit der Anstrengung. Denn wenn allzubrüske 
Contraction der Muskeln an sich Ursache von Zerreissung der 
Muskeln in toto oder einzelner Bündel (Layet) sein kann, so geschieht 
dies um soviel leichter unter Bedingungen, bei welchen der rasch 
sich contrahirende Muskel eine gewaltsame Zerrung durch den in 
Wirksamkeit tretenden Widerstand erfährt. Am schlimmsten geht es 
zu, wenn schon während des Muskelzuges durch den überwundenen 
Widerstand der Arbeiter bestrebt ist, den Muskel in den Contractions- 
zustand überzuführen, d. h. z. B. dann, wenn die aufgehobene Last 
sich grösser erweist, als man bei Aufnahme der Arbeit vermuthete; 
in diesem Falle werden die beiden, in verschiedenen Richtungen 
thätigen Kräfte umsoleichter eine Schädigung des Muskels zur Folge 
haben. 

Die Veränderungen, welche der Muskel durch übermässige 
Dehnung erfährt, sind folgende: Zerreissung und Faltung des 
Sarcolemms, kleine Blutextravasate, Zerreissung der Intima und Media 
der Gefässe und der Muskelbündel. Bei der Zerrung und Zerreissung 
finden sich die gleichen Veränderungen, nur in höherem Grade. 
Bisweilen sieht man hier den sog. Muskelbruch, falls die Muskel- 
fascie einreisst und die Muskelsubstanz in Gestalt einer circumscripten 
Anschwellung aus der Rissstelle hervortritt Auch Ablösung des 
Muskels von der Insertionsstelle kommt als Symptom der Eparsalgie vor. 

Klinisch findet man in diesen Fällen Schmerz und Functions- 
störung; objectiv kann man bisweilen schon bei übermässiger Deh- 
nung einen gewissen Grad von Anschwellung constatiren, obgleich 
man dies häutiger bei der Zerrung und Zerreissung des Muskels zu 
sehen bekommt. All’ diese klinischen Symptome kommen übrigens 
auch in der Symptomatologie der sog. Lumbago traumatica vor. 


1) „Gewöhnung ist nur der Ausdruck einer bestimmten functionellen An- 
passung (W. Roux), in der die Einheitlichkeit aller Vorgänge am besten ge- 
wahrt bleibt. Sie stellt das temporäre Optimum der Arbeitsbedingungen“ 
(Rosenbach). 


7 


In’s Gebiet der Eparsalgie muss man noch eine Klage der 
Patienten, nämlich die über die sog. Muskelverrenkung einreihen. 
Es hält eigentlich schwer, des Genaueren zu sagen, was der Kranke 
darunter versteht, wenn er vom „Abzwingen der Sehne“ spricht; 
nach seiner Auffassung springt der Muskel, resp. dessen Sehne aus 
dem Lager, in dem er sich beständig bewegt, heraus — eine Mög- 
lichkeit, welche die Physiologie nicht gelten lässt. Man wird daher 
annehmen, dass der bei der vermeinten Luxation empfundene Schmerz 
nur der Ausdruck einer starken Dehnung des Muskels ist, welcher 
infolge dessen stärker als sonst die umliegenden Gewebe (Muskeln, 
Fascien, Periost) comprimirt, wodurch dem Patienten der Druck an 
einer Stelle, wo er ihn sonst nicht zu empfinden pflegte, zum Be- 
wusstsein kommt: dieses Auftreten des Druckes an einem ungewöhn- 
lichen Orte legt ihm den Gedanken an eine erfolgte Dislocation des 
Muskels, ein „Abspringen“ nahe —- so wenigstens erkläre ich mir 
diese Sache. 

Wenn die oben erwähnten Folgen einmaliger übermässiger An- 
strengung den Aerzten wohlbekannt sind, so lässt sich von den Er- 
scheinungen seitens der Kreislauforgane, die zum Bilde der 
Eparsalgie gehören, nicht dasselbe sagen. 

Wie bereits angedeutet, sind mit der Arbeit bein Heben von 
Lasten verstärkter intraabdomineller Druck, inspiratorische Stellung 
des Brustkorbes und — Dank der gleichzeitigen Anspannung der 
in- wie exspiratorischen Muskeln — erhöhter intrathoracischer Druck !) 
vergesellschaftet. Diese Unterdrückung der Athmung und Demo- 
bilisirung (gewissermassen Starrwerden) des Brustkorbes dauert 
während der ganzen Arbeitsleistung; ist diese vollendet, so treibt 
die Lunge plötzlich das gesammte, in ihr befindliche Luftquantum 
nach aussen, und die in- und exspiratorischen, die Bauch- und der 
Zwerchfellmuskel gehen plötzlich aus dem Zustande hochgradiger 
Contraction in den der Erschlaffung über. Es herrschen hier also 
andere Bedingungen als bei gewöhnlicher anstrengender Arbeit, 
z. B. während des Marsches mit Gepäck versehener Soldaten, des 
Bergsteigens, während einer längeren Arbeit in gebeugter Körper- 
stellung (Bergmannsarbeit); denn unter diesen Bedingungen ist die 





1) Die Glottis ist hiebei während der ganzen Dauer der Arbeitsleistung ge- 
schlossen -— wovon später. 


8 


Athmung entweder oberflächlich und rasch, oder tief und rasch, 
länger dauernde Athempausen giebt es hier gar nicht. Man darf 
also die Schlussfolgerungen aus den Beobachtungen, welche man seit 
den Zeiten Corvisart’s und Peacocke’s, inbetreff des Einflusses 
der Uebermüdung auf das Kreislaufsystem gemacht, nicht einfach 
auf die Eparsalgiker übertragen; die Differenz im Bewegungs- 
mechanismus des mit dem Vorgange des Blutumlaufes so eng ver- 
knüpften Brustkorbes gestattet dies nicht. 

Jede physische Anstrengung erhöht den Druck im Blutgefäss- 
system‘), d. h. steigert die Herzarbeit. Trotzdem wird diese erhöhte 
Arbeitsleistung nur selten Ursache von Störungen im Circulations- 
apparate. Diese letzteren kommen einzig und allein unter Mit- 
wirkung anderer begünstigender Momente zustande Ein solches 
ist vor allem die Aufhebung der Athmung (resp. ihre Folgen). 


Die Athmung bringt während der gewöhnlichen physischen 
Arbeit einen bestimmten regulatorischen Factor in’s Spiel, welcher 
bei Aufhebung der Athmungsthätigkeit entfällt. Bei der gewöhn- 
lichen Arbeit erfolgt nämlich, wenn wir tief und rasch athmen, 
eine Reizung der sensiblen Nerven der Lungen, die reflectorisch 
auf die vasomotorischen Nerven übertragen wird; diese letzteren 
heben die Contraction der Arterienwände des grossen Kreislaufes 
auf (Sommerbrodt). Diese Entspannung der Arterienwände stellt 
nun ein Sicherheitsventil für das Herz dar: der Blutdruck sinkt 3). 
Das Fehlen dieses Ausgleichsmechanismus während des Hebens ist 
Ursache der Entstehung von Störungen im Blutumlaufe und es 


!) Die bei grösserer Arbeitsleistung angeblich in übermässiger Menge pro- 
ducirte Co, soll Contraction der Gefässe des grossen Kreislaufs bewirken. Gegen 
diese Theorie wandte sich in letzter Zeit Jacob, der eine andere Erklärung bei- 
bringt: die Reizung der sensibeln Zweige der arbeitenden Muskeln erzeugt zu 
gleicher Zeit auf reflectorischem Wege Beschleunigung der Herzthätigkeit wie 
Contraction der Gefässe des grossen Kreislaufs. Es ist bemerkenswerth, dass der 
bei Masturbation erhöhte Blutdruck Veränderungen des Herzmuskels begünstigt. 
(Bachus.) 

7) Allerdings ist bisweilen auch diese Druckverminderung in den Gefässen, 
wenn sie die Norm iiberschreitet, Ursache von Circulationsstérungen; das Herz ist 
bestrebt, den Druck im Blutgefässsystem durch immer schnellere Bewegungen auf 
einem bestimmten Niveau zu erhalten. Ich erinnere hier z. B. an den beim 
Laufen entstehenden Schmerz in der Herzgegend oder die aus gleicher Ursache 
auftretenden Symptome von Herzschwiche. 


miissen unter so ungewöhnlichen Verhältnissen Herz und Gefiisse 
unterliegen. 

Aber noch ein Spiel wechselseitiger Einflüse zwischen den 
verschiedenen Körperapparaten ist fiir die Entstehung dieser Störungen 
bestimmend. Bekanntlich erfährt der intraabdominelle Druck eine 
Steigerung während des Hebens von Lasten; abgesehen von anderen, 
dem Grade, der Zeitdauer. der Schnelligkeit des Auftretens und 
Schwindens der Druckerhöhung proportionalen Folgen dieser letzteren 
ist die unzweifelhafte Consequenz hiervon die Verdrängung eines 
Theiles Bluts aus den blutführenden Apparaten der Bauchhöhle, 
hauptsächlich aus den, wenig elastische Wandungen besitzenden 
Venen. Das verdrängte Blut strömt in diejenigen Körpergegenden, 
wo geringer Druck herrscht, in die Haut!), das Unterhautzellgewebe, 
die Hirnhöhle; ein Zuströmen grösserer Blutmenge zum Herzen wird 
verhindert durch den Druck, den die rigiden Wände des Brustkorbes 
und die Drucksteigerung in den Lungen (infolge Glottisverschlusses 
— Marey) auf das Herz und die Gefässstämme (wieder haupt- 
sächlich die Venen) ausüben ?). 

Das Zusammenwirken all’ dieser Factoren bewirkt, dass der 
Druck im grossen Kreislaufe bei plötzlicher physischer Anstrengung 
im ersten Augenblicke eine Erhöhung erleidet.) Länger dauernde 
Compression der grossen venösen Stämme kann aber bewirken, dass 
zu wenig Blut in’s Herz einströmt, und hiedurch kann eine Druck- 
verminderung in den Arterien des kleinen wie grossen Kreislaufes 
erfolgen. Im allgemeinen also haben wir neben Fällen, in denen 
eine Drucksteigerung in den Arterien des grossen Kreislaufs vor- 
wiegt, andere mit Ueberwiegen der Druckverminderung. 





') Die in der Hals- und Gesichtsgegend entstehende venöse Starre ist z. Th. 
Folge von Contraction des Platysma und hierdurch bedingter Compression der 
Halsvenen. 

*) Wir haben hier also ganz andere Bedingungen wie sonst: statt einer Be- 
schleunigung des Blutstroms in den Venen, wie das bei der gewöhnlichen Inspi- 
ration der Fall, handelt es sich hier beim langdauerndeu Inspiriren — ent- 
sprechend den erwähnten abweichenden Bedingungen — um Behinderung des 
venösen Blutzuflusses zum Herzen. 

3) Zum Theile wirkt hier die Compression der Art. subclavia zwischen der 
ersten Rippe und dem Schlüsselbeine und der Aorta durch Contraction des Zwerch- 
fella begünstigend ein. Auch muss die Stase in vielen Venen ihre Rückwirkung 
auf die Arterien im Sinne einer Blutdrucksteigerung äussern. 


10 


ene ee 


Die Klinik bietet uns eine Reihe von Fällen, die obige physio- 
logische Erwägungen bestätigen. Wenn die Zahl der genau 
beobachteten Fälle recht klein ist, so hängt dies zum grossen Theile 
davon ab, dass das uns hier beschäftigende ätiologische Moment 
unberücksichtigt geblieben ist. Mancher, den weiter unten ange- 
führten ähnliche, Fall wurde auf Rechnung bald eines bereits be- 
stehenden Herzfehlers, bald schon weit vorgerückter pathologischer 
Veränderungen des Herzmuskels oder der Gefässe, bald auch ander- 
weitiger, oft ohne jede Berechtigung ad hoc herbeigezogenen Ursachen 
gesetzt. Man muss sich aber vor Augen halten, dass hervorragende 
Kliniker der plötzlich erfolgenden physischen Ueberanstrengung die 
Fähigkeit zuschreiben, verschiedene krankhafte Störungen zu erzeugen, 
obwohl bislang niemand sich über das Krankheitsganze derselben 
näher ausgelassen hat. Sollten auch die Symptome der Eparsalgie 
bei constitutionell veranlagten, z. B. zu Krankheiten im Gebiete des 
Circulationsapparates disponirten!) Individuen beobachtet worden 
sein, so ist nichtsdestoweniger die unter gewissen, bereits oben 
skizzirten Bedingungen vollbrachte physische Arbeit die unmittel- 
bare Krankheitsursache. 

Unter den bei Eparsalgie beobachteten Störungen seitens des 
Herzens ist vor Allem die sog. idiopathische Herzvergrösserung zu 
nennen?). Man sieht zuweilen, sagt Bauer, in Folge einmaliger 
grossartiger Ueberanstrengung Herzdilatationen höheren Grades ent- 
stehen, die sofort hochgradige Kreislaufstórungen und sogar lebens- 
gefährliche Erscheinungen in Form von Herzinsufficienz nach sich 
ziehen können. Diese ist das Resultat von Ueberanstrengung des 
Herzens, die meist infolge Erhöhung des Blutdruckes entsteht. Infolge 
der Dehnung des Herzmuskels über die Elasticitätsgrenze hinaus 
entsteht Muskelschwäche; dieser Zustand hat zur Folge, dass sich 
das Herz bei jeder Systole ungenügend entleert und, da bei jeder 
Diastole Blut zuströmt, so müssen hieraus anatomisch Herzver- 


1) Als zu Circulationsstörungen disponirende Momente: sind anzuführen: 
Alkohol- und Tabakintoxication, Blutarmuth, dürftige Ernährung, Muskelerschöpfung 
(auch des Herzmuskels) durch Arbeit. Alle diese Momente erzeugen Verlust der 
Blasticität des Herzmuskels und der Gefässe. 

?) Man darf hierunter nur jene Formen verstehen, bei denen sich weder 
anatomische Klappenfehler, noch andere primäre Organerkrankungen, z. B. Lungen- 
emphysem, Nephritis, (ausgedehnte) Arteriosklerose nachweisen lassen (Bollinger). 


11 


——— 





grösserung, physiologisch die im folgenden namhaft zu machenden, 
aus der Insufficienz sich ergebenden Störungen resultiren. 

Uebrigens kann auch die Druckverminderung in den Arterien 
des grossen Kreislaufes dieselben Folgen haben. Denn das Herz 
erschöpft sich alsdann infolge übermässiger Arbeit, mittelst welcher 
es den Druck auszugleichen sucht, und vermag mit dem Momente 
des Eintritts einer, wenn auch gerringgradigen Ermüdung nur noch 
immer kleinere Mengen Blut in einer bestimmten Zeiteinheit aus 
sich zu werfen; dann wird jedoch die Blutleere des Herzens keine 
totale, und es kommt zur idiopathischen Herzvergrösserung. 

Die Casuistik dieser Fälle ist nicht gross. Fräntzel führt 
einen Arbeiter an, der, als er einmal eine grössere Anzahl Steine 
als sonst aufhob, plötzlich einen heftigen Schmerz in der linken 
Brustseite verspürte und die Last sofort zu Boden fallen lassen 
musste. Bald traten Kurzathmigkeit, unregelmässige Herzaction und 
nach einigen Wochen Oedeme auf. Fräntzel diagnosticirte acute 
Herzerweiterung. Freudenthal citirt aus Biermer’s Klinik nach- 
stehenden Fall: ein 30 jähriger, völlig gesunder Hausknecht empfand 
beim Heben eines sehr schweren Fasses einen Schmerz im Kreuze; 
seit der Zeit fing er an, über Herzklopfen und Kurzathmigkeit zu 
klagen. Nach 3 Monaten zur Arbeit zurückgekehrt, musste er bei 
einem Versuche, einen schweren Sack aufzuheben, denselben sofort 
wegen Schmerzes in der Herzgegend, Kurzathmigkeit, Orthopnoe 
fallen lassen; kurze Zeit nachher fand sich Dyspnoe, kleiner, frequenter 
Puls, Galopprhythmus. Die Section ergab colossale Herzvergrösserung. 
Jacob führt folgenden Fall an: ein 40 Jahre zählender Arzt empfand 
unmittelbar nach dem Aufheben einer sehr schweren Last ein 
Schwächegefühl, Dyspnoe, Schwere und Kälte in den Gliedern, welche 
Symptome nach einer Stunde wichen, doch klagte der Kranke seitdem 
bei Anstrengungen über Kurzathmigkeit und hatte einen kleinen, 
harten Puls von 40—60 Schlägen. Auch hier waren die Symptome 
eine Folge von Herzerweiterung. 

Fälle, in denen sogleich nach dem ersten Symptome Störungen 
seitens des Herzens verzeichnet wurden, sind selten, weil es sich 
hierbei meist um nicht besonders schwere Erscheinungen vorüber- 
gehender Natur handelt. Wiederholen sie sich aber, und zwar mit 
zunehmender Heftigkeit, so findet der Arzt „irgendwelche über- 


12 
standene Herzkrankheiten“ in der Anamnese, welche ihn im ge- 
gebenen Falle zwingen, eine idiopathische Vergrösserung des zwar 
gesunden Herzens auszuschliessen. Denn das physische Anstrengung 
ein bestehendes Herzleiden verschlimmert, darüber brauche ich nicht 
weiter mich auszulassen und sehe aus diesem Grunde davon ab, eine 
ausführliche Casuistik dieser Fälle wiederzugeben, wo die Eparsalgie 
Ursache ernster Störungen bei Herzkranken (resp. Kranken mit ver- 
fettetem Herzmuskel, hochgradiger Gefässentartung u. dgl. m.) war. 

Eine andere Kategorie von Störungen seitens des Circulations- 
apparates als Folge von Eparsalgie bilden Aortenklappenfehler (Schluss- 
unfähigkeit. Leyden führt einen Fall von in folgender Weise 
zustande gekommener Aortenklappenruptur an: einen 54jährigen, 
kräftigen, an Paraplegie leidenden Mann besucht seine Familie; der 
Kranke hebt einen 6jährigen Knaben zu sich auf’s Bett, und diese 
Anstrengung ermüdet ihn derartig, dass er fast ohnmichtig, heftigen 
Schmerz in der Brust verspürend, zurücksinkt; mit einem Male hatte 
sich Insufficienz der Aortenklappen infolge Ueberanstrengung aus- 
gebildet. Todd sah einen Fall von plötzlicher Zerreissung der 
Aortenklappen bei einem Arbeiter einer Bierbrauerei, welcher infolge 
Ueberanstrengung plötzlich Brustschmerz und Athembeschwerden 
empfand. Foster führt zwei solche Fälle an. Ein Matrose acquirirte 
aus gleicher Ursache Insufficienz der Valv. aortae (Bestätigung durch 
Section), Ein 33jähriger Heizer verspürte beim Heben eines mit 
Kohlen gefüllten Korbes plötzlich Schmerz im Epigastrium und fiel 
bewusstlos zu Boden; bei der Untersuchung constatirte man ein 
Doppelgeräusch an der Aorta; Section nach zwei Monaten bestätigte 
die Diagnose. 

Fischer, Peacock, Lindmann führen gegen 30 Fälle von 
primärer Ruptur der Aortenklappen an „durch übermächtige Steige- 
rung des arteriellen Druckes bei einer grossen körperlichen An- 
strengung. (Heidenhain.) 

Heidenhain sagt über die Entstehung von Herzfehlern aus 
mechanischer Ursache, man müsse von durch äusseres Trauma be- 
dingter Klappenruptur die häufigere durch inneres Trauma, in- 
folge Drucksteigerung bei hochgradiger physischer Anstrengung 
unterscheiden. 

- Auch Aortenaneurysmen können physischer Anstrengung ihre 


13 


Entstehung verdanken. „Plötzliche, starke Anstrengung vermag 
ebenfalls die Entstehung eines Aorten-Aneurysmas zu begünstigen“ 
— sagt Stern. 

Acute Uebermüdung (plötzliche Anstrengung) wird als be- 
günstigende Ursache für die Entstehung von Aortenaneurysmen er- 
wähnt. (Bamberger, Lebert, Allbutt.) 

Plötzliche Drucksteigerung in den Gefässen und gleichzeitig 
damit venöse Stase ist die Ursache von im Auge zu beobachtenden 
Blutextravasaten; dieselben finden sich am häufigsten subconjunctival, 
doch kommen sie auch auf der Netzhaut, ja selbst im Glaskörper 
und Sehnerv vor. 

Extravasate infolge erhöhten Blutdruckes (bei Individuen mit 
gesunden Gefässen) können Veränderungen sehr ernster Natur im 
Magen hervorrufen, worauf Bamberger hingewiesen hat. Andere 
Forscher haben diese Beobachtung bestätigt. Bisweilen indessen ist 
der Bluterguss an der Schleimhautoberfliche anfangs geringfügig. 
Infolge seiner geringen Menge kann das Blut im Kothe (oder im 
Erbrochenen) nicht bemerkt werden; doch genügt dieses Trauma, 
die lädirte Stelle zum Ausgangspunkte eines Magengeschwüres zu 
machen. Manchmal kommt es beim Trauma nicht einmal zum Blut- 
ergusse auf die Schleimhaut; die hämorrhagische Infiltration der 
Schleimhaut und Submucosa genügen, dass die Magenwandung für 
die deletäre Einwirkung des Magensaftes zugänglich wird; kommt es 
aber zur Geschwiirsbildung, so können seine corrosiven Eigen- 
schaften zur Corrosion der Wandung eines grösseren Blutgefässes 
führen; alsdann erfolgt die Hämorrhagie in einigen Tagen oder 
Wochen nach dem die Eparsalgie veranlassenden Unfalle. 

Das Ebengesagte wird durch folgende Fälle Ebstein’s, welche 
ich ihrer Seltenheit halber ausführlich citire, illustrirt. 

I. Der 39 Jahre alte Arbeiter Hattenhauer kam den 31. X. 94 
auf die Göttinger Klinik. Er datirt sein Leiden von.dem Augen- 
blicke an, als er, bis dahin völlig gesund, einen 2 Centner schweren 
Sack aufhob; indem er ihn wieder auf den Boden fallen liess, 
empfand er plötzlich einen „Knack“ im Körper. Nach kurzer Rast 
konnte er wieder an die Arbeit gehen. Einige Tage später, 27. IX., 
erbrach er 4—5 Liter Blut, schwarzer Stuhl. 3 Tage darauf völliges 
Erblinden des rechten Auges, während er auf dem linken blos vor 


14 


dem Auge, aber nicht mehr nach rechts von ihm gelegene Gegen- 
stinde sieht. Seitdem ist er krinklich. Augenblicklich atrophisches 
Aussehen, Oedem der Beine, Erbrechen, Gelbsucht, Leibschmerzen. 
Während des Spitalaufenthaltes diagnosticirte man: Ulcus ventric. 
corros., bösartige Neubildung auf narbigem Boden, Atrophia n. optic. 
dextr. total., sin. partial Am 29. XI. Exitus. Section: Periton. 
perfor. infolge Magengeschwür, Carcinoma duct. choled., grosse Narbe 
am Pförtner, Carcinoma ventric. et peritonei. Es tritt hier also ein 
Magengeschwür als Folgezustand der Eparsalgie auf (Pförtnernarbe, 
Peritonitis mit Perforation), und es entwickelt sich auf narbigem 
Boden (nach einem Geschwür) ein Carcinom. 

II. Ein 26jähriger Steinhauer, bis dahin völlig gesund, soll 
nach Ueberanstrengung beim Heben eines Steines plötzlich erkrankt 
sein. Seit der Zeit leidet er an Verdauungsbeschwerden, besonders 
blutigem Erbrechen, zu dem in jüngster Zeit heftiger Schmerz in 
der Magengegend, fortwährendes Blutbrechen, bluthaltige Stühle hin- 
zutraten. Klinische Diagnose: Dyspepsia chron., Dilatatio ventriculi, 
chron. Herzleiden, Lungentuberculose. Die Ursachen des gegen- 
wärtigen Zustandes sieht Ebstein in der Vernarbung des Ulcus 
corrosivum, welche zu einer Verengerung des Pylorus führte — 
alles das infolge Hebens der Last durch ein Individuum, welches an 
Stase in den Gefässen des Magens (Folge des Herz- und Lungen- 
leidens) litt. Patient verlässt die Klinik ungebessert. 

Wir haben hier einen Fall von Geschwürsbildung infolge von 
Eparsalgie; derselbe unterscheidet sich von dem vorigen dadurch, 
dass sie bei einem zu Magenblutungen disponirten Individuum ent- 
stand. Diese Hämorrhagie an circumscripter Stelle der Magenwand 
bildete den Ausgangspunkt für das Geschwür und dessen Folge- 
zustände. 

III. Der 20 Jahre alte, bis dahin völlig gesunde Ch. Eisenhardt 
begann nach einer Ueberanstrengung „mit Blut zu speien“, hierauf 
zu erbrechen, an sauerem, übelriechendem Aufstossen und an Obsti- 
pation zu leiden. Die Besserung hielt ein Jahr lang an, darauf 
abermals Erbrechen (einmal wurde bis 1 Liter dunkeln Blutes er- 
brochen, zugleich schwarzgefärbter Stuhl) und Schmerz in der Magen- 
gegend. In den letzten Tagen vor Aufnahme in die Klinik: vom 
Magen in’s Kreuz hineinstrahlender Schmerz, ofte Hämatemose. Da 


1 


or 


am Respirations- und Circulationsapparate keinerlei Veränderungen 
sich nacbweisen liessen, musste auch jenes „Blutspeien“ aus dem 
Magen herstammen; die weiteren Symptome aber liessen mit fast 
absoluter Sicherheit auf ein Magengeschwür schliessen, welches auf 
der Basis eines Blutextravasates, das beim Heben der Last entstanden 
war, sich entwickelt hatte. 

Es ist schwer, die Ansichten anderer Autoren in dieser Frage 
zu verwerthen, da sich dieselben nur ganz allgemein über die Ent- 
stehungsmöglichkeit eines Magenuleus aus einem Trauma auslassen 
(Potain, Mathieu), ohne sich darüber auszusprechen, was sie alles 
unter Trauma verstehen, ob. blos ein unmittelbares Trauma der 
Magengegend oder jede Störung physiologischer Vorgänge durch 
mechanische Bedingungen. Wenn z. B. Gerhardt bei der Auf- 
zählung der Ursachen des runden Magengeschwüres neben dem 
unmittelbaren Trauma den Brechakt namhaft macht, so hat hier das 
Trauma jene weitere Bedeutung, die auch die Eparsalgie in die 
Aetiologie dieses Leidens einzubeziehen gestattet; denn beim Brech- 
akte kommt durch eben diese Drucksteigerung ein Extravasat im 
Magen zustande, die wir auch bei der Eparsalgie dafür verant- 
wortlich machen. 

Nicht jedes Blutextravasat im Magen muss zur Ulcusbildung 
führen. Daher räth denn auch Ebstein, in ähnlichen Fällen ganz 
allgemein „Blutbrechen nach Trauma“ zu diagnosticiren und die 
detaillirtere Diagnose erst auf Grund der Section zu stellen. 

Indem wir einige Worte über Hämoptoe bei Eparsalgie uns 
für später vorbehalten, wollen wir hier noch erwähnen, dass einige 
Forscher physische Ueberanstrengung als genügende Ursache der 
Suppressio mensiam gelten lassen. 

Ehe wir an die Diagnose der Krankheiten der Bauchhóhle, 
die bei Eparsalgie beobachtet werden, herantreten, soll noch der Art 
und Weise, wie die Drucksteigerung innerhalb der Abdominalhöhle 
zustande kommt, gedacht werden. 

Die Muskelwände der Bauchhöhle werden gebildet: vorn und 
seitlich durch die Bauchmuskeln, hinten durch die Lendenmuskeln, 
oben durch das Zwerchfell und unten durch die Muskeln des Becken- 
bodens. Die genannten Muskeln verringern bei ihrer Contraction 
den Umfang der Bauchhöhle, steigern also eo ipso den in ihr herrschen- 


16 


den Druck. Indem sie zweitens mechanisch, unmittelbar die Ein- 
geweide comprimiren, erhöhen sie gleichfalls den Druck, unter 
welchem diese bis dahin sich befanden. Diese Ursache wirkt gleich- 
mässig auf die Gesammtmasse des Bauchhöhleninhaltes; ihre Folgen 
werden indessen begreiflicherweise an den einzelnen Theilen dieses 
letzteren in verschiedener Weise sich geltend machen: das Blut 
innerhalb der Gefässe wird, weil beweglich, diesem Drucke am 
leichtesten ausweichen; von den Organen dagegen diejenigen, welche 
unter physiologischen, resp. pathologischen Verhältnissen der Dis- 
location unterliegen können, am leichtesten der an seinem Mesen- 
terium nur locker befestigte Dünndarm, schon weniger leicht der 
Dickdarm, und sehr schwer z. B. die durch starke Ligamente in 
ihrer Lage fixirte Leber. 

Ausser diesem, durch den Spannungszustand der Muskelwände 
der Abdominalhöhle bedingten Drucke giebt es auch einen unmittel- 
bar vom Gewichte der Därme selbst abhängigen; die höher gelegenen 
Organe der Bauchhöhle (bei gegebener Körperstellung) comprimiren 
mit dem Gewicht ihrer Masse (+ dem des jeweiligen Inhaltes) die 
tiefer gelegenen. Denn die meisten Därme hängen nicht an den 
gespannten Bändern, sondern ruhen mit ihrer Last den benachbarten 
tiefer gelegenen auf. 

Somit hängt die in einem gegebenen Augenblicke im Abdominal- 
cavum herrschende Druckgrösse von zwei Faktoren ab: vom Drucke 
infolge der Spannung der Muskeln der Bauchwand und vom Gewicht 
der auf einander lastenden Organe. Begreiflicherweise wird uns 
hauptsächlich der erstere Faktor beschäftigen. 

Die in der Bauchhöhle bei Eparsalgie beobachteten Veränderungen 
stehen jedoch in keinem ausschliesslichen geraden Verhältnisse zum 
Druckgrade. Eine sehr wichtige Rolle spielt hier die Schnelligkeit, 
mit der die Muskelcontraction den Druck in derselben steigert und 
die Muskelerschlaffung, d. h. Druckverminderung erfolgt. Man muss 
sich daran erinnern, dass die Bauchpresse bei der Defaecation z. B. 
willkürlich, beim Aufheben von Lasten dagegen meist unwillkürlich 
angewandt wird, d. h. dass im letzteren Falle sowohl Contraction 
wie Erschlaffung der Muskeln ohne die zweckmässige Abstufung 
erfolgen kann, welche beim willkürlichen und bewussten Gebrauche 
dieser Muskeln statthat. Besonders gross ist der rasch abwechselnde 


17 


Unterschied im intraabdominellen Druckgrade unter folgenden Be- 
dingungen: es biickt sich jemand, ohne zu ahnen, dass er eine un- 
gewöhnlich grosse Last werde heben müssen und trifft demgemäss 
keine entsprechenden Vorkehrungen; schickt er sich nun an, die 
Last aufzuheben, so spannt er die Bauchmuskeln an, inspirirt tief 
u. dgl. m. Schatz, der den intraabdominellen Druck in vertikaler 
Position des Körpers bei erschlafften Muskeln bestimmte, fand ihn 
gleich dem Drucke einer Wassersäule von 25—30 cm Höhe, dagegen 
bei vornübergeneigtem Rumpfe und schlaffen Bauchmuskeln fast 
gleich Null. Wenn also die Contraction der Wände der Abdominal- 
höhle im Momente des Vornüberneigens des Rumpfes erfolgt, ist der 
Sprung im Druckgrade weit bedeutender, als wenn die Muskulatur 
bei vertikaler Haltung des Körpers sich contrahirt. Man ersieht aus 
diesem Beispiele, eine wie wichtige Rolle von der Gewichtsgrösse 
unabhängige Einflüsse spielen; sie sind es, die uns zwingen, die 
Eparsalgie als selbstständigen Krankheitsprocess abzutrennen. 

Noch eine Bemerkung. Gleichzeitig mit der Contraction der 
Bauckwandung wird vor dem Heben tief inspirirt, d. h. der Rippen- 
bogen nach oben gehoben, wodurch zweifellos der Umfang der 
Bauchhöhle vergrössert wird. Doch ist diese Vergrösserung im Ver- 
gleich zu der Verkleinerung, die unter Einfluss der Bauchmuskeln 
(nebst Diaphragma) erfolgt, so belanglos, dass sie das endgiltige 
Resultat, welches in der Vergrösserung des intraabdominellen Druckes 
stets seinen Ausdruck findet, nur wenig modificirt. 

Beginnt man die Betrachtung der Folgen der Eparsalgie mit 
den Veränderungen in den Organen, welche bei der intraabdominellen 
Drucksteigerung mitwirken, so muss man hier derjenigen in den 
Lungen gedenken, da das Zwerchfell an dieser Druckerhöhung in- 
folge des langdauernden Inspirirens wesentlich betheiligt ist. Um 
nun die Luft in den Lungen möglichst lange zurückzuhalten, trotz 
Contraction der Exspirationsmuskeln, und auf diese Weise den Brust- 
korb zum möglichst geeigneten Stützpunkt für die oberen Extremitäten 
zu gestalten, schliesst der Arbeitende die Glottis. Da aber, wie wir 
wissen, sämmtliche Thoraxmuskeln im contrahirten Zustande sich 
befinden, so bietet nunmehr die Lunge eine Art mit Gas gefüllter, 
gespannter Blase dar, eine Blase, die in diesem Zustande bei einem 


Trauma, einem Stosse einreisst. Natürlich kann gar nicht die Rede 
2 


18 


davon sein, dass eine gesunde Lunge irgendwo in toto einreissen 
könnte, aber kleine Einrisse des Gewebes mit secundärer Blutung 
können unter diesen Umständen zustande kommen. Ich entsinne 
mich mehrerer Fälle aus der Praxis, in denen eine einmalige 
Haemoptoö als Folge von Eparsalgie angesprochen wurde. In 
einem Theile der Fälle (ich spreche hier selbstredend nur von solchen, 
wo alle organischen Leiden ausgeschlossen werden konnten) war sie 
vielleicht die Folge von bei Eparsalgie zu beobachtenden Circulations- 
stórungen; in manchen Fällen aber konnte ich mich des Eindrucks 
nicht erwehren, dass die Blutung die unmittelbare Folge eines 
Lungentrauma, eines Stosses wäre, den die übermässig gedehnte 
Lunge bei Glottisschluss erlitten hatte. Das Lungentrauma wirkt 
dann aber meines Erachtens von innen, nicht von aussen; das Trauma 
kam durch das Zwerchfell im Augenblicke, wo die Luft aus den 
Lungen nach Ueberwindung des Widerstandes entweicht. Vergegen- 
wärtigt man sich, mit welchem Gefühl von Erleichterung der Arbeiter 
nach anhaltender körperlicher Arbeit die Luft aus den Lungen ent- 
weichen lässt, so wird es nicht schwer sein, sich eine kleine Ab- 
normität in diesem Mechanismus vorzustellen: das Zwerchfell schnellt 
nach oben, die Inspirationsmuskeln erschlaffen früher, als die Rima 
glottidis geöffnet wird. Dann ist das Anprallen des Diaphragma 
jener „Stoss“, welcher das Einreissen des Lungengewebes zuwege 
bringt. Geringere Bedeutung vindicirt man der intrathoracischen 
Drucksteigerung, die aber eine Ruptur der Lungengefässcapillaren 
erzeugen kann; man muss jedoch alsdann eine vorausgegangene 
Affection dieser Gefässe annehmen. 


Galliard (Bibliotheque Charcot-Debove) beschreibt Fälle von 
Pneumothorax, welche zu dem Bilde der Eparsalgie gehören. 
Einen solchen Fall beschreibt auch Chauffard!): Eine 30jährige 
Mutter, vollständig gesund, erhebt, laut lachend, plötzlich mit der 
linken Hand ihr 2!/, jahriges (11 Kilo wägendes) Kind und verspürte 
dabei einen heftigen Schmerz in der linken Thoraxhälfte; starke Be- 
klemmung, welche die ganze Nacht dauert. Am anderen Tage Dia- 
gnosis: Pneumothorax sinister. Heilung nach mehreren Tagen. 

Ein anderes Lungensymptom, welches bei Eparsalgie zuweilen 


1) Du pneumothorax simple etc. Sem. Med. 1896, N. 63. 


19 


beobachtet wird, ist das temporäre Lungenemphysem infolge 
abnorm starker Erschlaffung der Lungen (Kolb)'). 

Hochgradige Contraction des Diaphragma kann circumscripten 
Schmerz im Scrobic. cordis verursachen; derselbe strahlt in der 
Regel längs dem N. phrenic. aus. Oefter jedoch hängt der hier 
empfundene Schmerz von der Enteroptose ab, von der weiter unten 
die Rede sein wird. 


Von den Bauchmuskeln ist gegen die Folgen der plötzlichen 
Muskelcontraction der M. rectus am empfindlichsten, welcher bei 
Eparsalgie nicht allein übermässig gespannt und gezerrt wird, sondern 
selbst einreisst; die letztgenarnte Veränderung wird hauptsächlich 
durch fettige Entartung des Muskels und bereits bestehende Narben 
begünstigt. 

Am längsten und am meisten hat man sich mit der Eparsalgie 
auf dem Gebiete der Eingeweidebrüche beschäftigt. Ihre Ent- 
stehung infolge körperlicher Ueberanstrengung und des sie begleitenden 
erhöhten Druckes der Bauchpresse war eine Zeit lang allgemein an- 
erkannte Thatsache; in der letzten Zeit wurde indessen die Möglich- 
keit der Entstehung der Hernien unter unmittelbarem Einflusse der 
Fparsalgie bestritten (Roser). 


König u. A. unterscheiden bei der Entstehung der Brüche 
zwei unentbehrliche, gesonderte Akte: die Bildung der Bruchöffnung, 
resp. des Bruchsackes und das Hervortreten der Kingeweide selbst, 
Von diesem Gesichtspunkte aus kann der Bruch niemals unter Ein- 
fluss des erhöhten intraabdominalen Druckes entstehen, es müssen 
vielmehr, deutlicher gesagt, andere ursächliche Momente die Oeffnung 
vorbereiten, durch welche die Eingeweide aus der Bauchhöble hervor- 
treten könnten; oftmals existirt diese viele Jahre, bevor der eigent- 
liche Austritt aus der Bauchhöhle erfolgt. Es kann also die Oeffnung 
jahrelang bestehen, ohne dass es zur Hernienbildung kommt. Diese 
Ansicht ist die heute allgemein herrschende, aber die daraus ge- 
zogenen Schlüsse sind unrichtig. Denn es beginnt die Gefahr für’s 
Individuum erst mit dem Momente des Austritts der Därme aus 


') Das bei Geburten vorkommende Unterhautemphysem in der Ober- 
schlüsselbeingegend kommt wahrscheinlich auch nach physischer Ueberanstrengung 
vor, obwohl mir ein solcher Fall nicht bekannt ist. 

Dr 


20 


dem Abdominalcavum, und dieser ist unzweifelhaft die Folge des 
Bauchpressendruckes. 

Demnach erkennt auch König, obgleich nach ihm die plötz- 
liche traumatische Entstehung eines Bruches undenkbar ist, die 
Möglichkeit des Hineindrängens der Intesta in den präformirten 
Bruchsack bei plötzlicher Contraction der Bauchmuskeln an und fügt 
deshalb hinzu: „Im praktischen Sinne ist aber dieser Vorgang der 
plötzlichen Entstehung eines Bruches durch Gewaltwirkung gleich.“ 
Nachdem er also zugiebt, dass diese vorhandene Praedisposition erst 
dank dem Austritte der Därme gefährlich wird, sie selbst aber als 
solche nichts Pathologisches darbietet, kann man diejenigen Brüche, 
welche plötzlich beim Heben in Erscheinung treten, unbedingt in’s 
Krankheitsbild der Eparsalgie einfügen '). 

Einen mittelbaren Beweis für die Bedeutung der Bauchpresse 
bei Entstehung von Eingeweidebrüchen liefert die Thatsache ihres 
häufigen Vorkommens auf der rechten Korperseite. Cloquet 
erklärt dies folgendermaassen: der (nicht linkshändige) Arbeiter spannt 
die rechte Körperseite mehr an, als die linke, oder: er neigt sich 
bei anstrengender Arbeit, des Gleichgewichtes wegen, etwas linkshin; 
infolge dessen comprimirt das Bauchfell die Eingeweide nicht blos 
nach unten und vorne, sondern bis zu einem gewissen Grade auch 
nach der rechten Seite hin. 

Es ist überflüssig, hier Beispiele für das plötzliche Zustande- 
kommen von Hernien bei Leuten, bei denen vorausgegangene Unter- 
suchungen keinerlei Disposition in dieser Hinsicht ergaben (obgleich 
entsprechend der heute maassgebenden Anschauung eine solche vor- 
handen gewcsen sein musste) beizubringen; sie sind den Aerzten 
genugsam bekannt. Doch darf man sich nicht wundern, wenn ein 
bis dahin sich völlig wohl füblender Arbeiter plötzlich nach einer 
körperlichen Anstrengung das Auftreten einer Geschwulst (Hernie) 
wahrnimmt und sie als unmittelbare und einzige Ursache seiner 
Krankheit betrachtet. 

Nicht nur sog. äussere Hernien, d. h. das Heraustreten der 
Därme aus der Bauchhöhle, sondern auch die sog. acuten Darm- 
wandbrüche können bei Eparsalgie in dieser Weise zustandekommen. 


1) Auf diesem Standpunkte steht auch das deutsche Reichs-[Unfalls-]ver- 
sicherungsamt bei Beurtheilung traumatischer Eingeweidebrüche (Kries). 


21 


Riedel äussert sich darüber, wie folgt: „Als ätiologisches Moment 
wird vielfach ... das Aufheben einer schweren Last angegeben; 
ich glaube, dass in allen Fällen eine acute Wirkung der Bauch- 
presse vorliegt.“ 

Erhöhung des intraabdominellen Druckes, besonders eine rapide, 
kann Prolaps des Mastdarmes erzeugen. Man beobachtete derlei 
Vorkommnisse bei bis dahin völlig gesunden Individuen, obgleich 
es keinem Zweifel unterliegt, dass eine gewisse Prädisposition die 
Entstehung dieses Leidens begünstigt. Im nachstehenden Falle z. B. 
ergab sich, dass der anscheinend rein eparsalgische Ursprung des Mast- 
darmvorfalles mit einem hiezu disponirenden Leiden zusammenhing. 


Prolapsus recti post eparsalgiam. Reductio. Dysuria. 
Extractio corporis alieni intest. recti. Periproctitis. 
Sanatio. 

Der 34jährige Fabrikmaschinist P. verspürt den 9. II. 96 beim 
Heben eines Kessels, der sonst von einigen Arbeitern gehoben wurde, 
plötzlichen Schmerz im Mastdarme, der ihn zwingt, die aufgehobene 
Last zu Boden fallen zu lassen. Eine Stunde nach dem Unfalle 
constatirte ich totalen Mastdarmprolaps auf einer Strecke von ca. 
6 cm., der sich mühelos reponiren liess. Tags darauf klagt der 
überaus kräftig gebaute, bis dahin völlig gesunde Pat. über heftigen 
Schmerz im Damme beim Urinlassen; derselbe nahm in den folgenden 
Tagen derart zu, dass Pat. keinen Harn zu lassen vermochte. 
Gleichzeitig war der vorgefallene Darm unter Bädergebrauch in die 
normale Lage zurückgekehrt. 13. II. 96 constatirte ich Periprostitis. 
Der hinzugezogene College M. Cohn extrahirte bei der Untersuchung 
des Mastdarmes ein, an dem einen Ende zugespitztes, 4 cm langes 
und 1 cm breites Knochenstückchen (von einer Kalbsrippe stammend). 
Der Mastdarmvorfall wurde also durch die Gegenwart des Fremd- 
körpers begünstigt, entweder dadurch, dass er die Darmschleimhaut 
reizte, oder, was wahrscheinlicher, dass er bereits vor dem Unfalle 
die Befestigung des Darmes, nach Entfachung einer Entzündung des 
perirectalen Bindegewebes, gelockert hatte. So werden der Schmerz 
und die Unmöglichkeit der Harnentleerung verständlich; dieselben 
waren die Folge der Zellgewebsentzündung und der Reizung 
der Harnröhre durch den Fremdkörper. Zwei Wochen nach Ex- 


22 


traction des genannten Fremdkörpers konnte Patient die Arbeit 
wieder aufnehmen. 

Weit ernstere Folgen von Eparsalgie sah ich in nachstehenden 
zwei Fällen, woselbst sie Darmruptur verursachte. 

I. Ruptura jejuni ex traumate indirecto (post eparsal- 
giam.) Peritonitis universalis. Mors. 

Der 18 Jahre alte Schlächtergeselle P. wurde am 22. X. 95 
ins Spital der Eheleute Poznanski') aufgenommen. Derselbe hob 
vor 4 Tagen nach reichlicher Mahlzeit ein ca. 160 Kilo schweres 
Schwein vom Boden auf, um es sich auf die Schultern aufzuladen, 
musste es aber, da er sofort einen ungemein heftigen Schmerz im 
Leibe verspürte, wieder niederfallen lassen. Seit der Zeit allgemeine 
Abgeschlagenheit, Leibschmerzen, häufiges Erbrechen. Die Unter- 
suchung ergiebt: hageres Individuum mit glanzlosen, eingefallenen 
Augen. Kein Fieber, kleiner Puls von 112 Schlägen; der Leib 
aufgetrieben, druckempfindlich, Percussionsschall überall tympa- 
nitisch. Während der Untersuchung wie der ganzen Zeit des Spital- 
aufenthaltes Brechbewegungen, zuweilen Koth- (eigentlich Chymus-) 
Brechen. 3maliger Stublgang auf Hegar’sche Einláufe. Dieser 
Zustand hält, ohne Wendung zum Besseren, bis zum 26. X. 95 an, 
an welchem Tage Pat. stirbt. Section: In der Bauchhöhle einige 
Liter Flüssigkeit von der Beschaffenheit des Erbrochenen. Diffuse 
Bauchfellentzündung; 5 cm betragender Längsriss im Jejunum, 
oberer Rand des Risses 16 cm vom Ende des Duodenum entfernt; 
der Riss ist auf die, der mesenterialen Insertion gegenüberliegenden 
Wand beschränkt; Jejunum leer, obwohl Ileum und Colon flüssigen 
Inhalt beherbergen. Offenbar handelt es sich hier um einen Fall 
von Eparsalgie. Vergegenwärtigt man sich, mit welchem Kraft- 
aufwande Pat, die schwere Last vom Boden weg auf die Schultern 
sich aufladen wollte, so begreift man, wie sehr die Bedingungen 
(der gefüllte Darm) der Entstehung der Darmruptur günstig waren. 

Im folgenden Falle gestattet der Mangel der Section (aus ri- 
tuellen Rücksichten) nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose, doch 
liessen Verlauf und Ausgang keinen Zweifel darüber, dass auch 
dieser Fall der Epersalgie zuzurechnen ist. 





') Abtheilung des Herrn Coll. L. Przedborski, dem ich an dieser Stelle 
für die freundliche Ueberlussung des Falles bestens danke. 


23 


I. Ruptura duodeni (?) e traumate indirecto (post 
eparsalgiam). Hämorrhagia. Peritonitis universalis. Mors. 

Die 22 Jahre alte Dienstmagd Z—l wurde am 20. X. 95 ins 
Lodzer Hospital der Eheleute Poznanski aufgenommen.!) Sie hatte 
vor 10 Tagen einen mit Kohlen gefüllten Korb die Treppe hinauf 
schleifend, denselben auf eine Stufe niedergestellt, um ein wenig zu 
ruhen; da bemerkt sie plötzlich, dass derselbe von der Stufe ab- 
gleitet, weshalb sie ihn mit kräftigem Rucke einige Stufen höher 
hinauf zerrt; im selben Augenblicke verspürte sie heftigen Schmerz 
in der Herzgrube und im Kreuze. Seitdem kränkelte sie beständig, 
obwohl sie nach wie vor ihre Arbeit versieht. 19. X. Verschlim- 
merung: Schmerz im ganzen Unterleibe, hochgradige Athemnoth, 
Erbrechen. Untersuchung am 20. X. ergiebt: Kräftig gebaute Person 
mit reichlichem Fettpolster und wohlentwickelter Muskulatur. Es 
fallen Livido und starke Athemnoth an ihr auf. Puls 124, klein. 
T. 37° Die Haut vom kalten Schweisse bedeckt. Bauch stark auf- 
getrieben, seine Wände enorm gespannt, hart; Percussionsschall 
dumpf tympanitisch. Untere Lungen- und Herzgrenze nach oben 
verrückt. Athemgeräusch in den unteren Lungenabschnitten ab- 
geschwächt. Herztöne etwas dumpf, keinerlei Geräusche Milz und 
Teber weder percutirbar noch palpabel. Pat. wimmert infolge Leib- 
schmerzen und Athemnoth. Stuhl seit 2 Tagen angehalten, erfolgt 
erst 21. X. auf Einläufe (Scybala). Erbrechen von gelblicher, reichlich 
und gleichmässig mit Schleim untermischter Flüssigkeit hält in der 
Folge an. 22. X. und 23. X. St. idem. 24. X. Mehrmaliges 
blutiges Erbrechen und willkürlich erfolgende blutige Stühle (mikro- 
skopische Untersuchung). Collaps bei völlig erhaltenem Bewusstsein. 
Pat. sinkt plötzlich mit durchdringendem Aufschrei todt in die Kissen 
zurück. Ä 

Der Mangel der Section gestattet eine genauere Localisation 
der Rupturstelle nicht, doch ist eine solche im Duodenum sehr 
wahrscheinlich. Der Umstand, dass Pat. noch 10 Tage nach dem 
Unfalle ihrer Arbeit nachgehen konnte, findet seine Analogie in anderen 
ähnlichen beobachteten und secirten Fällen (König, Bd. 11, pag. 127). 

Ob erhöhter intraabdomineller Druck unter disponirenden, nicht 


ı) Abtheilung des Herrn Coll. M. Cohn, dem ich für gütige Ueberlassung 
des Falles hier meinen wärmsten Dank sage. 


24 


pathologischen Bedingungen Gebärmuttervorfall erzeugen kann, 
ist nach Karczewski zweifelhaft, wiewohl manche Forscher diese 
Frage bejahen. Sehr wahrscheinlich ist dagegen, dass die Gebär- 
mutter unter Bedingungen, welche die Epersalgie begleiten, sich 
ihres Inbalts zu entledigen vermag. Dementsprechend kommt es 
meines Erachtens bei physisch arbeitenden Frauen bei plötzlicher 
brüsker intraabdoninaler Drucksteigerung leicht zu Abortus; bei 
denselben kommen andere Abort veranlassende Momente, als Ueber- 
anstrengung und Schlag kaum in Frage. Schliesst man indessen 
Alles aus, was aus dieser Einseitigkeit fliesst, so bleibt noch immer 
eine grosse Anzahl von Fällen übrig, in denen die Epersalgie 
zweifellos Abort verursachte. 

Endlich haben wir noch eines Vorganges zu gedenken, der uns 
vielleicht am häufigsten die von den Kranken der Eparsalgie zur 
Last gelegten Klagen erklärt, wenn sie ihre Leiden in die Gegend 
der Bauchhöhle verlegen — ich meine die Enteroptose. 

Zielinski sagt in seiner Arbeit über die Glenard’sche 
Krankheit: „Hat man sich einmal auf den mechanischen Standpunkt 
der Theorie gestellt, so begreift man leicht das ätiologische Moment, 
von dem die Kranken sagen, es wäre in ihnen etwas gerissen. Was 
ist einfaher als die Deutung, bei dem Kranken mit „kothüberfüllter 
rechter Curvatur sei infolge physischer Anstrengung das peritoneale 
Band dieses Darmabschnittes gerissen !)“. 

Auf die Enstehung der Enteroptose bei Eparsalgie ist nicht 
allein das von Zielinski angeführte Moment, d. h. temporäre 
Steigerung des intraabdominellen Druckes während der Arbeitsleistung 
von Einfluss, sondern auch plötzliches Absinken dieses letzteren. 
Sehen wir nämlich in Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der 
Forscher in dem andauernd niedrigen Drucke die hauptsächliche 
Entstehungsursache der Enteroptose, so müssen wir zugeben, dass 
dieselbe auch infolge plötzlichen Sinkens des bis dahin gesteigerten 


1) Ich möchte dieses Nachgeben der Ligamente als einen Schutzmechanismus 
tür die Integrität der Därme ansprechen. Es sei in dieser Hinsicht nur an das 
oben erwähnte Beispiel von Ruptur des gefüllten Darmes erinnert; wäre die durch 
intraabdominellen Druck freigewordene Energie im Stande gewesen, sich im Sinne 
einer Lockerung der Bänder zu entladen, so hätte sie die Ruptur nicht mehr 
zustandezubringen vermocht. In solchen Fällen kaun eben geringe Nachgiebigkeit 
der Ligamente verderbenbringend sein. 


25 


intraabdominellen Druckes zustandekommen kann. Nehmen wir mit 
Senator an, dass bei Drucksteigerung in der Bauchhöhle die Niere 
z. B. an die hintere Bauchwand angedrückt wird, so muss diese 
bei plótzlichem Druckabfall eine Zerrung erleiden, und zwar eine 
um so grössere, je fester sie vordem an die hintere Wand angepresst 
war. In ähnlicher Weise werden bei erhöhtem Drucke auch andere 
Intesta an einander oder an die Bauchwände gedrückt. Werden 
nun diese abwechselnd hin und her gezerrt, so müssen die Organe, 
welche locker an ihren Bändern befestigt sind, die meiste Zerrung 
erfahren. Die Folge hiervon wird nun eine Lockerung der Insertion 
resp. Dehnung der Ligamente und Enteroptosis sein. Diese Erwägung 
findet in der klinischen Beobachtung ihre Stütze (Glenard, Cuilleret, 
Contaret, Zawadzki u. A.). 

In Anbetracht des Umstandes, dass physische Arbeit bei armen, 
schlecht genährten Individuen die Peritonealbänder lockert, finden 
jene Überanstrengung und Druckschwankungen in der Bauchhöhle, 
welche die Eparsalgie verursachen, geeigneten Boden zur Erzeugung 
der Enteroptose. 

Am längsten fand dieses ätiologische Moment Beachtung bei der 
Entstehung der Wanderniere. Nach Edinger kann dieselbe beim 
Heben entstehen; doch hat schon Rollet auf diese Möglichkeit hin- 
gewiesen, und nennt Abmagerung, Schwäche und Schlaffheit des 
Peritoneums als zu diesem Leiden disponirende Momente. Landau 
erkennt die Nothwendigkeit des Bestehens einer Prädisposition gar 
nicht an: die Bauchpresse allein könne die Dislocation der Niere 
hervorrufen. 

Schon seltener findet der uns beschäftigende ätiologische Factor 
bei der Enteroptose anderer Eingeweide Berücksichtigung, vielleicht 
weil man bis jetzt der Magen- und Darmstatik wenig Aufmerksamkeit 
geschenkt hat und im Allgemeinen die Enteroptose weniger diag- 
nostizirt, als es im Interesse der Sache liegt. Zweitens sind die 
Fälle selten, in denen Enteroptose höheren Grades ganz und gar von 
der Eparsalgie abhängig wäre; gewöhnlich bestand schon vor dem 
ein gewisser Grad von Enteroptose (und deren Symptomen), der 
blos eine Steigerung durch die Eparsalgie erfuhr, oder aber um- 
gekehrt — die Eparsalgie erzeugte einen gewissen Grad von Enter- 
optose, welcher sich schwer constatiren liess und infolge weiterer 


26 


ee 





physischer Arbeit erhöht wird. Im ersteren Falle litt der Kranke 
schon vor der Eparsalgie an einer gewissen Unpässlichkeit, die sich 
jetzt blos potenzirte; im zweiten ist es schwer, einen Zusammenhang 
zwischen der Eparsalgie und den Symptomen, die erst nach einer 
gewissen Zeit auftraten, darzuthun. Auf jeden Fall aber gehört die 
Enteroptose mit ihren mannigfachen Symptomen, die zu bekannt 
sind, als dass ihre Aufzählung nöthig wäre, zum Krankheitsbilde 
der Eparsalgie. 


Die Eparsalgie, so wie ich sie auffasse, erinnert vielfach an 
„Erkältung.“ Die Erkältung stellt eine Krankheitsursache dar, be- 
zeichnet oft auch die Krankheit selbst. Hier wie dort handelt es 
sich um Störungen in verschiedenen Organen und Apparaten. Doch 
zeichnet sich der Terminus „Eparsalgie“ dadurch aus, dass er einer 
concreteren, bekannteren Thatsache entspricht, als die Erkältung. 
Muss man aber in der Pathologie mit dieser letzteren rechnen, so 
lohnte es sich, auch jener einige Worte zu widmen. Diese Erwägung 
veranlasste mich zur Abfassung der vorliegenden Skizze. 





10. 


11. 


12. 


13. 


14. 


15. 


= Benutzte Litteratur: 


. Bachus: Ueber Herzerkrankungen bei Masturbanten. Deutsch. Arch. f. kl. 


Med. Bd. 54 (1895) pag. 201. 


. Bamberger: Krankh. d. chylopoët. Systems. Erlangen 1855 pag. 247 


(nach N. 4). 


. Bauer und Bollinger: Ueber idiopath. Herzvergrösserung. Festschr. f. 


Pettenkofer. München 1893. 


. Ebstein: Trauma und Magenerkrankungen. Deutsch. Arch. f. kl. Med. Bd. 


54 (1895) pag. 442.. 


. Edinger: Wanderniere. Eulenburg's Realencycl. Bd. XXI. 2. Ausgb. 
. Eichhorst: Hdb. d. spec. Path. u. Ther. 4. Aufl. 1890, Bd. I. 
. Fraentzel: Vorl. über Krankh. d. Herzens. I. Die idiopath. Herzver- 


grösserungen. Berlin 1889, pag. 112. 


. Freudenthal: Beitr. z. Kenntniss d. idiopath. Herzerkrankung in Folge von 


Ueberanstrengung. Breslau 1889, pag. 24. 


. Gerhardt: Zur Aetiologie und Therapie d. runden Magengeschwürs. Wien. 


med. Presse 1868, N. 1 (nach N. 4). 

Heidenhain: Ueber d. Entstehung von organ. Herzfehlern durch Quetschung 
d. Herzens. Deutsch. Zeitschr. f. Chirurgie Bd. 41 (1895) pag. 286. 

Jacob: Einige Ursachen d. Herzerweiterung, der Brady- und Tachykardie, 
der Pulsformation, des Angiospasmus und die Belege ftir ein neues 
Krankheitsbild: „die angiospastische Herzerweiterung. Zeit. f. kl. 
Med. Bd. 28 (1895). 

Karczewski: Fall von totalem Gebiirmuttervorfall. Kron. lek. 1894, pag. 
197 (poln.). 

Knies: Die Beziehungen des Sehorganes und seiner Erkrankungen zu den 
übrigen Krankh. d. Körpers. Wiesbaden 1893. 

Kries: Die Rechtsprechung d. Reichsversicherungsamts m. Bezug auf Leisten- 
brüche. Aerztl. Sachverst.-Zeitg. 1895, N. 19, pag. 217. 

Kolb: Beitr. z. Physiol. maximaler Muskelarbeit. Berlin (ohne Jahresangabe), 
pag. 74. 


. Kelling: Physik. Unters. über d. Druckverhältnisse in d. Bauchhéhle. Samml. 


kl. Vortr. Neueste Folge 144. 


. Kofman: Chirurg.-topogr. Anatomie der Nieren. Diss. Jurjew 1894 (russ.). 
. König: Lehrb. d. spec. Chirurgie, 6. Aufl., Bd. II., pag. 343. 

. Krehl, Grundr. e. allg. klin. Pathologie. Leipzig 1893, pag. 9. 

. Landau: Wanderniere d. Frauen. Berlin 1891. 

. Layet: Traité d’ hygiéne et de pathologie professionelle. Russ. Ausg. 1888, 


pag. 19. 


2. Leyden: Ueber d. Herzkrankh. infolge von Ueberanstrengung. Zeit. f. kl. 


klin. Med. XI 1886. 


23. Lindmann: Z. Casuistik seltener Herzerkrankungen. Deutsch. Arch. f. klin. 


Med. Bd. 25 (1880) (nach NN. 10 u. 39). 


. Marey: La circulation du sang. Paris 1881, pag. 464 (nach N. 39). 


26. 


27 


31. 
32. 
33. 
34. 


36. 


37. 
38. 


39. 
40. 
41. 


28 


. Martius: ¡Die diagn. Verwerthung d. Herzstosses. Berl. kl. W. 1889, N. 


42, pag. 909. 
Mathieu: „Traité de méd. Charcot-Bouchard-Brissaud’s“, Bd. III. Paris 
1892, pag. 345. 


. Oertel: Ther. d. Kreislaufstórungen, 4. Aufl. Leipzig 1891. 
28. 
29, 
30. 


Potain (nach N. 4). 

Riedel: Ueber acute Darmwandbriiche. Samml, klin. Vortr., N. 147. 

Rieder: Z. Kenntniss d. Dilatation u. Hypertrophie d. Herzens in Folge von 
Ueberanstrengung u. d. idiopath. Herzerkrankungen. Deutsch. Arch. 
f. klin. Med., Bd. 55 (1895). 

Rollet: Pathol. u. Ther. d. bewegl. Niere. Erlangen 1891 (nach N. 17). 

Rosenbach: Die Seekrankheit. Wien 1896. 

Roser: Herniolog. Streitfragen. Marburg 1887, pag. 2. 

Schatz: Die Druckverhältnisse im Unterleibe. Cit. in Pitha-Billroth’s 
Chirurgie. 


. Schwerdt: Enteroptose u. intraabdom. Druck. Deutsch. med. Wochenschr. 


1896, pag. 456. 

Seitz: Die Ueberanstrengung d. Herzens. Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 
11—12 (1873/4). 

Senator: Charité-Annalen. 111, pag. 309 (nach N. 17). 

Sommerbrodt: Darlegung d. Hauptbedingungen für d. Ueberanstrengung 
d. Herzens. Berl. kl. Wochensch. 1889, pag. 85. 

Stern: Ueber traumat. Entstehung innerer Krankh. Jena 1896. 

Zawadzki: Glenard’sche Krankheit. Kron. lek. 1894, pag. 733 (poln.). 

Zarewicz: Fall von Mastdarmvorfall beim Heben. Wratsch 1895, pag. 165 
(russ.). 


. Zielinski: Glenard’sche Krankheit. Pam. tow. lek. Warsz, 1895, pag. 229 


(poln.). 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 


an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 


BERLINER KLINIK No. 104. FEBRUAR 1897. 














Wie sehr Airol sich in allen medieinischen Kreisen immer 
mehr Anerkennung verschafft, geht aus folgendem Berichte, 
welchen uns Herr Dr. Julius Fleoch, Wien, zur Zeit sandte, 
deutlich hervor. 

Derselbe schrieb uns: 

„Es ist mir eine ganz angenehme Pflicht, zum: grössten 
Theil gegen die practischen Collegen, zum Theil aber auch 
gegen Sie, über meine mit dem 


6 h Goldene 
Goldene Medaille — 
Medaille | ll. Intern. 
Genf 1896. - pharmac. 
Aussteling. 

3 g Prag 1896. 


gemachten Erfahrungen Bericht zu erstatten.“ 


Ich fasse diesen in folgenden zusammen: 


Das Airol ist ein Antisepticum par excellence. Es 
ist eminent trocknend, gut deckend, geruch- und geschmack- 
los. Namentlich rasch ist unter dieser Behandlung eine 
traumatische Trommelfellruptur verheilt. Eine 100, Airol- 
salbe hat mir gegen Acne vulg. und rosacea gute Dienste 
geleistet. Weiter habe ich Airol bei Afterfissuren und 
Hämorrhoiden sehr vortheilhaft angewendet. 


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Elix. Condurango peptonat. Immermann. 


In Orig.-Fl. Als von vorzügl. Erfolg anerkannt bei allen Arten von Magen- 
krankheit, Indigestion und Dyspepsie etc. Wichtig bei Neubildungen und zur . 
Normalisirung der Magenfunctionen während u. nach allgemeinen Erkrankungen. 7 
Herr Geheimrath Stöhr, Kissingen, schreibt: ,,... Ich bin so zufrieden mit- = 

demselben, wie noch nie mit einem neuen Mittel! Es ist von höchstem Werthe ` 

für die tägliche Praxis und hat mir — so zu sagen — schon förmlich Wunder - 
gewirkt — namentlich bei alten und chron. Leidenden.. .““ — Zu haben in den - 
Apotheken. Wo noch nicht vorräthig, bitte, ev. unliebsamer Irrthümer wegen, + 
Bezug unter gleichzeitiger Mittheilung der genauen Fabrikadresse zu veranlassen... 
(vide Gebhardt-Michaelis’sches Referat. — Drucksachen zu Diensten. Allein’ _ 
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Fabrikation nur bei Dr. med. Pfeuffer zu München. 
(Nachdruck verboten.) 








Ueber die habituelle Obstipation und ihre Behandlung. 
Von 


Prof. Dr. C. A. Ewald, Geheimem Medicinalrath 
in Berlin.') 


Unter habitueller Obstipation verstehen wir diejenigen Zustände, 
bei denen die Stuhlentleerung dauernd zu selten und nur auf künst- 
liche Nachhilfe erfolgt. Es giebt eine überaus grosse Zahl von 
Menschen, welche am sogen. trägen Stuhlgang leiden, d. h. seltener 
eine Stuhlentleerung haben, als es ihrem körperlichen Empfinden 
oder Wunsche entspricht, und wenn dieselbe eintritt, den Koth nur 
in harter Form und unter Anstrengung absetzen. Bei diesen Per- 
sonen tritt der normale Reiz, den der Uebertritt der Fäcalmassen 
aus den oberen Mastdarmabschnitten in die Cloake oder Ampulle 
des Rectum bei Gesunden in der Regel alle 24 Stunden hervorruft, 
entweder überhaupt nicht auf oder wenn er auftritt, so ist er nicht 
von dem richtigen Erfolg, d. h. es kommt zu keiner freiwilligen 
Defäcation. Bei Manchen handelt es sich nur um einen erschwerten, 
schliesslich aber doch ohne Kunsthilfe erfolgenden Stuhlgang, bei den 
Meisten aber bedarf es besonderer Mittel, um Stuhl zu bewirken. 


Daher kommt es, dass Zahl und Periodicität der Stühle an und 
für sich keinen Maassstab zur Beurtheilung, ob eine Verstopfung 
vorliegt, abgeben. Auch bei scheinbar regelmässigem Stuhlgang kann 
eine Retention von Kothmassen statthaben. Es kommt nicht so selten 
vor, dass man bei der Palpation des Leibes die Därme mit hartem 
Koth gefüllt findet, und trotzdem die Patienten versichern, täglich 
einen guten Stuhlgang zu haben. Ein tüchtiges Abführmittel för- 


1) Aus den in Kürze erscheinenden „diseases of the intestines by C. A. Ewald“ 
in der international Encyclopedia of modern medical science. New-York 1897. 
1 


2 


dert dann oft enorme Massen von alten eingedickten Brocken und 
aufgeléstem Koth zu Tage. Andere Personen haben zwar täglichen, 
ja sogar mehrmals täglichen Stuhlgang, aber derselbe ist ihrem Ge- 
fühle nach ungenügend. Zuweilen ist dies nichts als eine grundlose 
nervöse Sensation, zuweilen handelt es sich in der That um eine 
Retention in Folge träger Peristaltik. 


Ursachen. 


Die Ursachen der habituellen Obstipation sind sehr mannigfache, 
immer aber liegt dabei ein Missverhältniss der austreibenden 
Kräfte zu den von ihnen beanspruchten Leistungen vor, sei es, dass 
dasselbe in einer ursprünglichen Schwäche der Darmmusculatur, einer 
Atonie des Darms, gelegen ist, sei es, dass die Darmmusculatur 
erst im Laufe der Zeit in dem Kampf gegen ein chronisches Hemm- 
niss erschlafft. 


Es steht ausser Zweifel, dass es eine habituelle Obstipation giebt, 
welche als ein selbstständiges Leiden anzusehen ist, bei welchem 
entweder eine verminderte Erregbarkeit der Darmnerven oder eine 
gewöhnlich angeborene mangelhafte Entwickelung der Darmmusculatur 
besteht. Nothnagel fand bei genauen Messungen der Darmmuscu- 
latur respective der Dicke der Darmwand, dass es Fälle giebt, in 
welchen bei sonst kräftiger Körpermusculatur die Muscularis des 
Dickdarms statt des normalen Durchschnittmaasses von 0,5—1 mm 
nur 0,12— 0,25 mm beträgt und oft genug lässt sich auch ohne be- 
sondere Messung die papierdünne Beschaffenheit der Darmwand bei 
sonst gut genährten Individuen beobachten. 


Es lässt sich auch nicht in Abrede stellen, dass bei manchen 
Personen ein hereditäres Moment in Frage kommt. Dieselben sind 
schon vom Vater oder der Mutter her belastet und haben bereits 
seit frühester Jugend an schwerem Stuhlgang gelitten. 


_ Bei Anderen ist die Obstipation in gewissem Sinne anerzogen, 
indem die Eltern und Erzieher nicht für regelmässige Defäcation 
der Kinder sorgten, und besonders die Mädchen dann gerne den 
Stuhl unterdrücken. Solche gelegentliche Unregelmässigkeiten in der 
Darmentleerung führen mit der Zeit zu wiederkehrender Stagnation und 
damit zu einer Belastung und Erweiterung des Darmrohres, die sich 


3 


schliesslich in einer motorischen Schwäche der Musculatur und 
chronischer Obstipation äussert. 

Bei einer grossen Zahl von Patienten ist die Obstipation Folge 
einer unzweckmässigen Diät. Eine reichliche, schwer verdauliche, 
wasserarme Kost, die grössere Rückstände hinterlässt, oder eine sebr 
einseitig gewählte Nahrung, wie z. B. reine Fleischkost, oder endlich 
eine solche, die einen sehr geringen Reiz auf die Därme ausübt, 
also aus leicht resorbirbaren und wenig Rückstand hinterlassenden 
Speisen besteht, führen zur Verstopfung. Es fehlt den Därmen an 
dem adäquaten Reize und sie gerathen in einen gewissen Torpor 
ihres Bewegungsapparates. Starkes Schwitzen, z. B. bei anstrengenden 
Märschen, sportliche Anstrengungen oder andere Momente, welche zu 
Wasserverlust durch Haut, Lungen oder Nieren führen und unge- 
nügende Wasseraufnahme haben daher häufig Verstopfung zur Folge. 
Dasselbe gilt auch von einer zu starken Inanspruchnahme der Darm- 
peristaltik durch Abführmittel, auf welche ein Zustand von vorüber- 
gehender Verstopfung als Reaction der ermüdeten Muskelfaser folgt. 

Eine Obstipation wird auch hervorgerufen durch die unter- 
drückte oder unregelmässig und nicht zur gleichen Zeit herbei- 
geführte Defäcation oder durch besondere von den täglichen 
Lebensgewohnheiten abweichende Vornahmen, besonders solche, mit 
denen wenig oder gar keine körperliche Bewegung verbunden ist, 
wie längere Eisenbahnfahrten oder Seereisen. Es ist bekannt, dass 
die Obstipation zu den steten Begleitern der Oceanreisenden gehört. 
Aus diesen zunächst nur vorübergehenden Beschwerden entwickelt 
sich dann häufig eine chronische Obstipation. 

Indessen wird der Einfluss einer sitzenden Lebensweise 
und mangelnder körperlicher Bewegung besonders von den Laien | 
vielfach überschätzt: Zwar ist darüber kein Zweifel möglich, dass 
diejenigen, deren Beruf oder Neigung eine ausgiebige tägliche 
körperliche Bewegung mit sich bringt, im Ganzen seltener an 
habitueller Verstopfung leiden, wie diejenigen, die einen sitzenden 
Beruf haben, aber es kommen davon viele Ausnahmen vor. So findet 
man unter Officieren, unter berufsmässigen Reitern, Landwirthen, bei 
Personen, welche gerade aus Gesundheitsrücksichten regelmässige 
tägliche Spaziergänge und Leibesübungen machen, gar nicht so selten 


hartnäckige chronische Obstipationen. Aber soviel steht andererseits 
1* 


4 


fest, dass eine sitzende Lebensweise besonders leicht zu venúser 
Stase in den Unterleibsorganen und damit indirect auch zu einer 
Störung der Darmperistaltik führt, und dass dieselbe durch ent- 
sprechende Muskelaction activer oder passiver Natur überwunden 
wird resp. nicht zur Entwickelung kommt. 

Eine Ursache solcher venösen Hyperämieen ist auch in allen 
den Momenten gelegen, welche überhaupt eine Circulations- 
störung directer oder indirecter Natur zur Folge haben. Dahin ge- 
hören Herz- und Lungenkrankheiten, Krankheiten der grossen Drüsen 
des Unterleibs und der im kleinen Becken gelegenen Organe, also vor 
Allem des Uterus und seiner Adnexe, welche durch chronisch ent- 
zündliche Processe auch zu Stauungen und Circulationshemmnissen 
localer Natur in den Därmen Anlass geben können. 

Hier müssen wir auch gleich den mechanischen Druck an- 
führen, der durch Lageveränderungen des Uterus, der Ovarien, 
durch Neublidungen, Beckenexsudate, Prostatahypertrophieen etc. eine 
chronische Behinderung der Defäcation hervorrufen kann, die in 
gleichem Maasse wie die Neubildung selbst zunimmt. 

Ein sebr wichtiger und häufiger Anlass ist die Schwanger- 
schaft, sowohl während ihres Verlaufes als ganz besonders in ihren 
Folgen. Chronische Verstopfung gehört bei den Schwangeren 
zu den häufigsten Erscheinungen. Hier ist es zunächst das rein 
mechanische Moment, der Druck auf die Därme und die Ver- 
drängung resp. Verlagerung derselben, welches Verstopfung herbei- 
führt. Wenn aber, wie bei so vielen Frauen, die Schwanger- 
schaft der Anfang einer sich durch das ganze Leben hinziehenden 
Stuhlträgheit und eines unausgesetzten Kampfes gegen die Verstopfung 
ist, so liegen dem gewöhnlich zweierlei Ursachen zu Grunde: 

1) sind die Därme während der Gravidität in einen Zustand der 
Erschlaffung und Erweiterung gerathen, der irreparabel geworden ist; 

2) ist auch die Schlaffheit der Bauchdecken, welche ihren 
natürlichen Tonus verloren haben, Ursache des Uebels. Nicht in 
dem Sinne, als ob die Bauchpresse die Bewegung der Därme, ab- 
gesehen von dem Acte der eigentlichen Defäcation, unterstützte, 
sondern deshalb, weil die Peristaltik an den straffen Bauchdecken 
in der Norm einen gewissen Halt findet, ein Widerlager, an dem der 
Darm sich fortbewegt, wie die Schraube in ihrer Mutter. Fehlt dieser 


5 


Widerhalt, so leidet darunter auch die normale Abwickelung der 
Darmperistaltik und schliesslich bleiben die Fäcalmassen im Mastdarm 
liegen, oder werden wenigstens viel schwerer zur Entleerung ge- 
bracht, wenn die Bauchpresse bei dem Act der Defäcation in Folge 
ungeniigender Action der Bauchmuskeln gar nicht oder nur unge- 
niigend wirkt. 

Einen auffallend geringen Einfluss auf die Regelmässigkeit des 
Stuhlganges scheinen dagegen die Darmverlagerungen, besonders die 
häufig ganz unregelmässige und von der Nurm abweichende Lagerung 
des Dickdarms zu haben. 

Man findet denselben bekanntlich bald quer von rechts unten 
nach links oben bis hoch in die Excavation des Zwerchfelles und 
hinter den Magen heraufsteigend; bald findet man das Quercolon 
in Gestalt einer Uförmigen oder Wförmigen Schlinge bis zur Sym- 
physe herunterfallend, oder die Dünndärme vollständig im kleinen 
Becken gelagert, ohne dass dergl. Anomalien sich während Lebzeiten 
durch eine besondere Stuhlträgheit verrathen hätten. Auch ist zu 
bedenken, dass solche Verlagerungen nicht Ursache sondern Folge 
einer Kothstauung sein können, die durch ihr Gewicht den Darm 
nach Unten zieht. Ebenso scheint die individuell häufig recht ver- 
schiedene Länge der Mesenterien mit der Darmbewegung in keiner 
directen Verbindung zu stehen. Ob der gesammte Descensus der 
Dárme, die Enteroptose Glénard’s, direct zu Obstipation führt 
oder ob es die damit verbundenen anderweitigen Beschwerden sind, 
welche die event. Obstipation veranlassen, muss ebenfalls zweifel- 
haft bleiben. Thatsache ist allerdings, dass man Enteroptose und 
Obstipation sehr häufig gemeinsam vorfindet. Dagegen können 
Verwachsungen der Därme unter einander oder mit 
anderen Unterleibsorganen oder der Beckenwand in Folge alter ent- 
zündlicher Processe, wie leicht verständlich, gelegentlich Quelle 
hartnäckiger chronischer Obstipation sein, weil die Peristaltik durch 
diese Adhäsionen in einer kaum jemals zu beseitigenden Weise 
behindert wird. Indessen muss ich Nothnagel darin vollkommen 
beistimmen, dass diese peritonitische Fixirungen im Vergleich zu 
der grossen Häufigkeit der Obstipation doch selten sind und als 
ursächliches Moment derselben überschätzt werden. 

Uebrigens kann eine abgelaufene allgemeinc Peritonitis dadurch 


6 


zu Obstipation Veranlassung geben, dass sich die Darmmusculatur an 
dem Entziindungsprocess der Serosa betheiligt und eine dauernde 
Schädigung in Gestalt schwieliger, interstitieller Processe davonträgt. 

Auf die Rolle, welche die Nervosität xat’ e&oxnv — die Hysterie, 
Neurasthenie, nervöse Schwächezustände anderer Art — für die 
Entstehung der habituellen Obstipation spielen, einzugehen, muss 
einer besonderen Besprechung vorbehalten bleiben. | 


Symptomatologie. 


Es giebt kaum einen anderen Krankheitszustand, welcher in so 
hohem Grade zum Tummelplatz der Einbildungskraft der Laien und 
der Künste der Naturärzte und Quacksalber geworden ist, wie die 
habituelle Obstipation. Der „Malade imaginaire“ Moliére’s, der 
Proctophantast Goethe’s, der nur froh ist „wenn Blutegel sich an 
seinem Steiss ergetzen“, der „Staatshämorrhoidarius“ der fliegenden 
Blätter sind die aller Welt bekannten Typen dieser Gattung. 

Die Kranken klagen über locale und allgemeine Erscheinun- 
gen. Die ersteren beziehen sich zunächst naturgemäss auf die bestehende 
Stuhlverstopfung, deren Vorhandensein die Patienten mit der grössten 
Aengstlichkeit verfolgen und deren Bestehen oder Nichtbestehen 
häufig ihre Gedanken vollständig in Anspruch nimmt. Gross ist der 
Kummer, wenn die gehoffte Entleerung ausbleibt, fast noch grösser 
die Freude, wenn sie sich zu rechter Zeit und in ausgiebigen Quan- 
titäten einstellt! Manche Patienten haben dabei überhaupt keine 
anderweitigen localen Erscheinungen als das Gefühl einer gewissen 
Schwere und Unbehaglichkeit im Leibe, bei andern ist der Leib auf- 
getrieben, zumal in der Gegend des Colon descendens und der 
Flexura sigmoidea und lassen sich besonders bei dünnen Bauch- | 
decken einzelne gefüllte Darmschlingen durchtasten oder zeichnen 
sich schon bei der Betrachtung als wulstige Massen ab. Der Druck 
auf den Leib ist nicht besonders empfindlich, doch kommt es gelegent- 
lich zu Spasmen und kolikartigen Zuständen, welche mit heftigen 
Schmerzen verbunden sind, auch wohl die gleich zu besprechenden 
Allgemeinerscheinungen, wie Beklemmungen, Angst und Schwindel- 
gefühle im Gefolge haben. Diese Zustände gehen dann nach einer 
Stuhlentleerung oder Abgang von Gasen gewöhnlich vorüber. Zu- 
weilen kann aber dieses Symptomenbild ein besorgnisserregendes 


7 


Aussehen annehmen, indem schwerer Collaps und Erbrechen auftritt, 
und der Verdacht einer Darmverschliessung nahe liegt. Dies kommt 
besonders nach sehr langer Coprostase, bei Geisteskranken oder bei 
Personen, deren Defäcation in Folge von schmerzhaften Fissuren 
oder Hämorrhoiden am Anus längere Zeit zurückgehalten war, oder 
bei alten geschwächten Leuten vor. Eine ausgiebige Entleerung 
entweder durch innere Mittel oder Irrigation oder manuelles Eingehen 
beseitigt diese Zustände, doch gelingt dies, namentlich bei alten 
Leuten nicht immer, und ich habe 2 Personen zu Grunde gehen sehen, 
bei denen, ohne dass eigentlich ileusartige Erscheinungen auftraten, 
6—Stägige Stuhlretention bestand und der Tod im Collaps erfolgte. 
Beidemal handelte es sich um Männer, welche die Mitte der 70er 
Jahre überschritten hatten. 

Es bilden sich bei längere Zeit währender Obstipation die sogen. 
Kothgeschwülste aus, die ihren Sitz an verschiedenen Stellen des 
Darmes, besonders aber am Dickdarm haben, jedoch auch im Coecum 
vorkommen. Es ist für ihre Entstehung übrigens nicht immer eine 
vollständige Stuhlverhaltung nothwendig, vielmehr bilden sich die- 
selben auch dann, wenn die stattfindenden Entleerungen nicht aus- 
giebig genug sind, so dass mehr oder weniger beträchtliche Rück- 
stände im Darm bleiben, die sogen. cumulative Obstipation Field’s. 
Diese Kothgeschwülste können, wie schon früher angegeben, secun- 
däre Lage- und Gestaltsveränderungen der Därme und besonders 
des Dickdarms herbeiführen, zumal sie zuweilen eine ganz enorme 
Grösse erreichen und bis zu 15 Pfd. und mehr wiegen. 

In verschiedener Weise werden solche Geschwülste den Damı 
alteriren. Wir sehen von der vollständigen Verlegung des Darm- 
lumens und seinen Folgezustánden ab, die in das Capitel des Ileus 
gehören und an dieser Stelle nur der Vollständigkeit wegen 
zu erwähnen sind. Auch der Erregung von entzündlichen Pro- 
cessen auf der Schleimhaut und der Druckgeschwüre (Stercoral- 
geschwüre) und ihrer Folgen sei nur vorübergehend gedacht 
und bemerkt, dass nothwendiger Weise mit der Anhäufung so 
grosser Kothmassen eine Ausdehnung der Darmwand verbunden sein 
muss, welche nur auf Kosten einer Schwächung der Musculatur, 
d. h. einer Atonie derselben zu Stande kommen kann. Die letztere 
begünstigt wieder die Stagnation des Kothes, und so bildet sich 


8 


eine Kette ohne Ende, die nur durch gewaltsames Eingreifen getrennt 
werden kann. Eine weitere Folge ist es, dass eine Diastase der 
Muskelbündel eintritt, durch welche sich die Schleimhaut nach 
aussen wie ein Divertikel oder eine Hernie hervorstiilpt. In diesen 
taschenartigen Ausstülpungen stagnirt der Koth, trocknet ein und 
wird hart, oder zersetzt sich. Beide Male kommt es leicht zu ent- 
zündlichen oder atrophischen Veränderungen der Darmwand (sogen. 
Druckgeschwüren), welche sich bis auf das Peritoneum aus- 
breiten und eine circumscripte Peritonitis zur Folge haben 
können. Indessen sind diese Fälle, deren sich in der Literatur 
einige angegeben finden, zweifellos sehr selten. Mir ist niemals ein 
derartiger Fall zu Gesicht gekommen, obgleich ich gelegentlich kleine 
Vorstülpungen der Schleimhaut zwischen den auseinandergezerrten 
Muskelbündeln gesehen habe. Nur das Colon, und besonders das 
Colon descendens in seinem unteren Theil ist der Sitz dieser Divertikel. 

Es liegt auf der Hand, dass die Erkennung solcher Koth- 
geschwülste nicht immer leicht ist und sich häufig nur auf den 
Erfolg oder Misserfolg eines ausgiebigen Purgans und den Gesammt- 
verlauf der Krankheit stützen kann. 

Aber trotz aller Sorgfalt der Untersuchung sind oft Verwechs- 
lungen vorgekommen, die je nach der Art der fälschlich gemachten 
Annahme, d.h. je nachdem eine wahre Neubildung oder eine Koth- 
geschwulst fälschlicherweise diagnosticirt war, zu einer angenehmen 
oder unangenehmen Enttäuschung führten. 

Als eine letzte locale Folge der habituellen Obstipation treten 
oftmals Hämorrhoidalgeschwülste auf, die unter Umständen 
zu einer höchst peinlichen, ja schmerzhaften Complication werden 
können. 

Die Allgemeinerscheinungen sind in ihrer Ausdehnung 
und Stärke ausserordentlich verschieden und können die ganze Scala 
von einem leichten allgemeinen Unbehagen bis zu der tiefsten 
seelischen Verstimmung und schwerer Melancholie umfassen. Es 
giebt Personen, welche sich aus ihrer Obstipation sozusagen gar 
nichts machen. Sie nehmen ihre Abführmittel oder Clystiere Jahr 
aus Jahr ein, und wenn dieselben in den gewohnten Gaben nicht 
wirken, so wird der gewünschte Erfolg durch eine Aenderung der Dose 
oder des Mittels erzielt. Dabei stellen sich dann bei längerer Stuhl- 


9 


verbaltung sogen. Congestionen nach dem Kopf ein, etwas benommener 
Kopf, eine gewisse Trägheit und Schwere, das Bedürfniss nach dem Stuhl 
und das Gefühl, dass alles wieder gut sein wird, sowie dieser erfolgt 
ist. Bei Anderen steigern sich die Erscheinungen zu Appetitverlust, 
Kopfschmerzen, Schwindel, auch wohl Schlaflosigkeit, es kommt zu 
fliegender Hitze, die fälschlich für Fieber angesehen wird, aber ohne 
jede Temperatursteigerung einhergeht, also ein rein nervöses Symptom 
ist. Wiederum andere Patienten leiden in ihrer ganzen Leistungs- 
fähigkeit, besonders auf geistigem Gebiete. Sie können keinen klaren 
Gedanken fassen, nicht ausdauernd arbeiten, machen sich hypo- 
chondrische Vorstellungen und Grillen und bilden die Beschäftigung 
mit ihrem Stuhlgange und die Beobachtung desselben in wahrhaft 
virtuoserWeise aus, indem sie ihr gesammtes geistiges und körperliches 
Ergehen auf dieses stete Object ihrer Gedanken zurück führen. Dies 
kann so weit gehen, dass ich wiederholt Patienten getroffen habe, 
welche mir versicherten, dass sie zu Zeiten, wenn es gar nicht ge- 
lingen wollte, die Obstipation zu beheben und einen Stuhlgang 
herbeizuführen, dicht vor dem Selbstmord gestanden hätten. Glück- 
licherweise kam dann schliesslich doch immer noch die erlösende 
Entleerung! Solche Angaben mögen ein wenig übertrieben sein, 
aber sie zeigen doch, wie sehr diese Obstipationen in das Allgemein- 
befinden der Kranken eingreifen können, und jedem erfahrenen Arzt 
kommen Beispiele von Kranken vor, besonders Leute betreffend, welche 
Zeit und Musse dazu haben, deren ganzer Lebenszweck in die Er- 
zielung eines guten Stuhlganges gesetzt ist. 

Von weitergehenden Reizerscheinungen sind zu nennen: 
Unbehagen von Seiten des Magens und allerlei mehr oder weniger 
stark ausgesprochene Sensationen an demselben, Brennen im Magen, 
Empfindlichkeit bei Druck der Kleidungsstücke, Vollsein, Unbehagen 
u. Ae. Ferner Herzpalpitationen mit Angstgefühl, schmerzhafter 
Druck in der Herzgegend und gelegentlich beschleunigter und un- 
regelmässiger Puls. Gussenbauer berichtet selbst über Trigeminus- 
neuralgien und von anderen Autoren werden Neurosen im Gebiete 
des Ischiadicus, der Lumbal- und Ovarialnerven beschrieben. 

Man kann in diesen Beziehungen zwischen Obstipation und 
anderen mit Recht oder Unrecht für nervös erklärten Leiden schliess- 
lich auch zu weit gehen, und wenn Federn selbst den Morbus 


10 


Gravesii, das cardiale Asthma u. Ae. m. damit in Verbindung bringen 
will, so dürfte er damit kaum im Rechte sein. Es ist überhaupt 
fraglich, wie weit es sich in der That bei den sogen. Folge-Erschei- 
nungen der Obstipation, in so fern sie auf nervösem Gebiete liegen, um 
Ursache oder Folge und nicht vielleicht um ein gleichzeitiges Vor- 
kommen, oder gar um das umgekehrte Verhalten handelt. So hat 
schon Romberg sich mit Entschiedenheit dagegen ausgesprochen, 
dass Unterleibsstörungen die Hypochondrie hervorrufen, während 
andererseits Dunin die Hypochondrie und die Obstipation als die 
Ursache eines dritten Leidens, nämlich der Neurasthenie, ansieht. 
Diese Hypochondrie ist weltbekannt, und in ihren Auswüchsen 
seit Jahrhunderten die Zielscheibe des Spottes gewesen. Man hat 
wohl die Meinung aufgestellt (Vircbow, Nothnagel u. A.), dass 
die Hypochondrie nicht die Folge, sondern die Ursache der Obsti- 
pation ist, oder beide auf dem breiten Boden einer allgemeinen 
Neurasthenie erwachsen sind. Das ist sicherlich im Allgemeinen 
nicht richtig, und hat nur für eine kleine Reihe von Fällen Giltig- 
keit. Nichts ist leichter, als sich davon zu überzeugen, wie die Er- 
scheinungen der hypochondrischen Gemüthsstimmung im Laufe 
einer chronischen Verstopfung je länger je mehr auftreten, und 
zwar bei Individuen, welche vorher auch nicht die geringsten 
Zeichen von Neurasthenie oder Hypochondrie gezeigt haben. Dass 
nicht alle Menschen, die an Verstopfung leiden, Hypochonder werden, 
ist ebenso begreiflich, wie, dass nicht alle Schnapstrinker eine Säufer- 
leber acquiriren und Aehnliches. Sicherlich haben aber solche 
Wechselbeziehungen für die Chlorose Giltigkeit, bei der die Blutarmuth 
sowohl die Ursache der. meist vorhandenen Stuhlträgheit, als auch 
der zahlreichen nervösen Beschwerden ist. 

Man hat diese nervösen Erscheinungen mit der Aufnahme von 
Zersetzungsproducten aus dem Darm in das Blut in Verbindung 
bringen wollen. 

v. Pfungen hat gezeigt, dass bei einfacher chronischer Obstipation 
eine Zunahme der Darmfäulniss eintritt und auf die muthmaassliche 
Bildung von Ptomainen und von Schwefelwasserstoff im Darm hat 
man die Theorie einer chronischen Intoxication gestützt, welche auf 
die nervösen Centren wirken sollte. Indessen, der Schwefelwasser- 
stoffgehalt der Darmgase ist ein überaus geringer. Er beträgt weniger 


11 


als 0,1%, (Nowack und Bräutigam). Ich selbst habe oftmals den 
Versuch gemacht, Schwefelwasserstoff in den Flatus nachzuweisen, 
indem ich die Därme erst mit Luft vollpumpte und die wieder aus- 
gestossene Luft, welcher ja auch die Darmgase beigemengt sein 
mussten, durch Bleiwasser leitete. Diese Versuche hatten gewöhnlich 
gar kein Resultat, und nur ganz ausnahmsweise trat eine ganz leichte 
Reaction ein. 

Rosenheim macht auch mit Recht darauf aufmerksam, dass 
die Bildung von Ptomainen nach den Untersuchungen Bouchard’s 
an die Retention flüssigen Kothes gebunden ist, während die er- 
härteten Massen, mit denen wir es bei der Obstipation zu thun 
haben, keinen günstigen Boden für abnorme Zersetzungsprocesse 
darbieten. Nichts destoweniger dürfte die Annahme einer sogen. 
Autointoxication nicht von der Hand zu weisen sein. Vorläufig 
fehlen uns aber greifbare Unterlagen für dieselbe. 


Diagnose. 


Die Diagnose kann ebenso leicht sein und ist sie in den 
meisten Fällen, wo sie uns der Patient selbst entgegenbringt, wie 
sie unter Umständen schwierig sein kann. Es handelt sich dann 
darum, festzustellen, wieweit die habituelle Obstipation Folge eines 
anderweitigen Zustandes ist, ob etwa vorhandene Tumoren in den 
Därmen Kothtumoren sind oder nicht, ob abgehender Schleim eventl. 
Blut durch die Obstipation veranlasst sind oder umgekehrt zusammen 
mit der Obstipation Zeichen einer anderweitigen Erkrankung sind; 
das lässt sich alsdann nur durch die eingehendste Untersuchung und 
die Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Verhältnisse er- 
mitteln, ja gelegentlich trotz aller Mühe erst aus dem Verlauf bezw. 
dem Ausgang des Leidens erkennen. 


Prognose. 


Die Prognose der Stuhlträgheit und Verstopfung ist, wie 
Jedermann bekannt, quoad vitam eine günstige, quoad valetudinem 
completam eine zweifelhafte. Ernstere Zufälle bilden die grosse 
Ausnahme von der Regel, aber ebenso sicher ist es, dass kaum 
ein anderes Leiden ähnlich ungefährlicher Natur den Kranken 
so viel zu schaffen macht und ihr ganzes körperliches und geistiges 


12 


Sein derart beherrscht, wie gerade die Stuhlverstopfung. Die 
Sorge fiir die Regelung bezw. die Erzielung eines Stuhls, das 
Studium seiner Beschaffenheit und Ausgiebigkeit wird zu einem der 
Hauptereignisse des Tages, und oftmals hängt die Schaffenskraft und 
Umsicht sowie das Behagen nicht nur des Betreffenden selbst, 
sondern auch seiner ganzen Umgebung von der Art seines Stuhl- 
ganges ab. Es giebt Menschen, welche diese Dinge zu einem 
förmlichen System ausgebildet haben, und sich und Andere damit 
zur Verzweiflung bringen. 

Da aber eine grosse Anzahl von Personen nicht nur die dauernde 
Stuhlträgheit für eine Quelle ernster Besorgnisse halten, sondern 
auch fürchten, dass ihnen aus der dauernden Anwendung medica- 
mentöser Mittel ein ernster Schaden erwachse, so ist solchen 
Individuen gegenüber der Hinweis anı Platze, dass der Darm eine 
gewisse Schwäche besitzen kann, die zu ihrem Ausgleiche einer 
dauernden Nachhilfe bedarf, genau so, wie das kurzsichtige Auge 
der Ergänzung durch die Brille benéthigt. Es kommt eben nur 
darauf an, den Fehler genau zu compensiren und nicht über das 
Nothwendige hinauszugehen. 


Therapie. 


An die Spitze jeder Behandlung der Obstipation sollte man 
den Satz schreiben. „So wenig Abführmittel wie möglich“. 
Damit soll nicht gesagt sein, dass man unterschiedslos dahin trachten 
soll, überhaupt keine Abführmittel zu geben. Selbstverständlich ist 
dies der ideale Standpunkt, aber es giebt eine Anzahl und zwar 
eine sehr grosse Anzahl von Kranken, die nun einmal schlechter- 
dings ohne Abführmittel nicht auskommen, weil ihr Darm eine 
eventl. schon in der Entwickelung begründete Schwäche besitzt. 
Solche Personen bedürfen der Correctur, gerade wie, wie wir schon 
vorhin gesagt haben, ein Kurzsichtiger der Brille bedarf, und die 
Kunst des Arztes liegt darin, das Abführmittel so zu wählen, dass 
es den individuellen Bedürfnissen des Kranken entspricht 
und den physiologischen Fehler ausgleicht. Es kommt nur darauf 
an, dass es möglichst reizlos ist, d. h. lange Zeit, also Jahre hin- 
durch, in derselben Menge gebraucht werden kann, ohne sich in 
seiner Wirkung abzuschwächen. 


13 


In der Regel wird man aber alle Möglichkeiten, auf den Darm 
einzuwirken ausniitzen müssen, d. h. 1) diätetische, 2) physi- 
calisch-mechanische und 3) medicamentöse Mittel anzu- 
zuwenden haben. Kaum jemals wird man mit einem derselben aus 
kommen, sondern meist seine Zuflucht zu einer grösseren Anzahl 
derselben nehmen müssen. Hier ist es durchaus nöthig, dass der 
Arzt sein Handwerkszeug genau kennt und je nach Bedürfniss zu 
verwerthen im Stande ist. 

1) In der Diät sind diejenigen Speisen und Getränke zu bevor- 
zugen, von denen wir wissen, dass sie auf die Peristaltik erregend 
einzuwirken im Stande sind. Zu diesen gehören die meisten kalten 
und besonders kohlensäurehaltigen Getränke, zumal wenn sie gleich- 
zeitig gezuckert sind, wie Fruchtsaftlimonaden und ganz besonders 
Sect. Bei manchen Personen hat ein Glas Champagner geradezu die 
Wirkung eines Abführmittels. Das Gleiche gilt von der Mehrzahl 
der Obstarten (roh und gekocht), unter denen die sehr wasserreichen, 
wie Melonen, Pfirsiche, saftige Aepfel, Pflaumen, Stachelbeeren u. s. f. 
in erster Reihe stehen, und ebenso von den Obstweinen, soweit die- 
selben nicht adstringirende Substanzen wie z. B. die Heidelbeerweine 
enthalten. Hier sind es die Obstsäuren, die Apfelsäure, Weinsäure, 
Citronensäure, welche anregend auf die Peristaltik wirken, wie denn 
z. B. die Pflaumen bis zu 1,27 pCt. freie Säure enthalten, die 
Pfirsiche bis zu 1,58 pCt., Erdbeeren 1,06 pCt., Stachelbeeren 1,36 pCt., 
während die Birnen nur 0,07, Aepfel 0,53—1,0 pCt. freier Säure 
haben. Hierher gehören auch die meisten Gemüse, soweit sie nicht 
zu den Wurzel- oder Schotengemüsen resp. Hülsenfrüchten rechnen 
und einen hohen Wassergehalt besitzen, wie Gurken, Tomaten, Kürbis 
und die Kohlarten, die ausserdem leicht der Gährung unterliegen 
und durch Bildung saurer und gasförmiger Producte die Peristaltik 
beschleunigen. Endlich die in Fermentation befindlichen Getränke, 
als da sind junges oder nicht ausgegohrenes Bier, Most, Federweiss, 
saure Milch, Kefir und Aehnliches. Endlich dürfen die Syrupe und 
der Honig bezw. die mit Honig bereiteten Backwaaren (Pfeffer- 
kuchen), sowie das grobgebackene und gesäuerte Brod — Kleienbrod, 
Kommissbrod, Grahambrod u. s. f. — nicht vergessen werden. 
Einseitige Fleischkost oder Ueberbürdung des Darmes mit Vegetabilien, 
besonders solchen mit viel Cellulose oder geringen Wassergehalt sind 


14 


zu vermeiden, die Quantität der Speisen auf ein angemessenes Maass 
zu reduciren. Reichliche Flüssigkeitszufuhr, besonders Wasser auf 
den nüchternen Magen, ist von Nutzen, dabei aber wohl zu beachten, 
dass manche Getränke wie Thee, Rothwein, unter Umständen auch 
Milch, stopfend wirken. Beruht die Obstruction auf einer zu reiz- 
losen und gleichfórmigen Nahrung, so ist für- Abwechselung und 
etwas gröbere Kost zu sorgen. 

Aber in dieser Beziehung kommen die grössten individuellen 
Schwankungen vor, und was dem Einen nützt, schadet oder hilft 
wenigstens nicht dem Anderen. Es giebt Leute, welche im Sommer, 
wo sie viel rohes Obst essen können, guten Stuhlgang haben, die 
dagegen im Winter verstopft sind. Ich kenne Patienten, welche nur 
während der Erdbeerzeit einen regelmässigen spontanen Stuhl haben, 
während Andere Erdbeeren und rohes Obst in grossen Quantitäten 
obne jeden Erfolg zu sich nehmen. Kurzum, in dieser Beziehung 
ist jeder Organismus Selbstherrscher und will auf seine Eigenheiten 
und Launen studirt sein. Auch die Art der Darreichung, ob sie in 
den nüchternen oder vollen Magen, bei ganz intacten oder irgendwie 
afficirten Verdauungsorganen bei frischem oder geschwächtem all- 
gemeinem Körperbefinden statt hat, spielt eine erhebliche Rolle. So 
übt z. B. der Saft der Weintrauben auf viele Personen eher eine 
stopfende wie abführende Wirkung aus, während sie alsbald in 
letzterem Sinne wirken, sobald eine wenn auch nur ganz unbedeutende 
„Magenverstimmung“ vorliegt. Ganz dasselbe gilt von der Milch, 
den Zuckerarten, Syrupen, Honig, Manna, Obstkraut u. A. Ein Ess- 
_lóffel robes Sauerkraut Morgens nüchtern genommen oder einen 
Muss, welcher aus zwei Theilen Pflaumenmuss und einem Theil ge- 
trockneter Feigen gekocht ist, sind beliebte Hausmittel, die aber 
ebenso oft erfolgreich wie ohne jede Wirkung sind. 

Die hygienische Behandlung tritt da besonders in ihr Recht 
und in den Vordergrund, wo es sich um Obstipation auf Grund allge- 
meiner Neurasthenie, Chlorose, sitzender Lebensweise u. A. handelt. 
Hierher gehört auch die Hydrotherapie — kalte Abreibungen, Douchen 
auf den Leib, nasse Einwickelungen, kühle Sitzbäder u. dergl. Be- 
sonders wirksam sind nach meinen Erfahrungen die sogen. schottischen 
Douchen, bei welchen abwechselnd und in unmittelbarer Folge der 
Strahl des Wassers erst heiss und dann plötzlich kalt gegeben wer- 


15 


den kann. Die dadurch erzielte Contraction der Bauch- resp. Darm- 
musculatur pflegt eine recht kräftige zu sein. - 

2) Die physicalisch-mechanischen Heilmethoden sind die 
Massage, Electricität und die Clysmata bezw. Wassereingiessungen. 

Es ist kein Zweifel, dass eine sachgemässe Massage in vielen 
Fällen einen ausgezeichneten Erfolg hat, besonders bei mageren 
Personen, bei denen die Därme durch die Bauchdecken angreifbar 
sind. Sie muss aber wirklich „sachgemäss“, d. h. von einem gut 
ausgebildeten Masseur ausgeführt werden und darf nicht, wie dies 
so oft vorkommt, den Händen einer Person überlassen sein, die 
kaum die dürftigsten Kenntnisse dazu mitbringt. Aber häufig genug 
lässt auch die Massage in Stich und hat gar keinen oder nur einen 
vorübergehenden Nutzen aufzuweisen. Ganz dasselbe gilt von der 
electrischen Behandlung, sei es, dass man dieselbe percutan aus- 
übt, indem man beide Electroden auf die Bauchdecken aufsetzt, sei 
es, dass man die eine Electrode in den Darm einführt. Ersterenfalls 
kann man entweder eine breite Plattenelectrode (10 : 20 cm) oder die 
gewöhnlichen knopfförmigen Electroden, oder endlich die electrische 
Walze verwenden. Um den Darm direct anzusprechen, bedient man 
sich am besten eines Analrohres aus weichem Gummi, welches an 
seinem unteren d. h. dem in den Darm einzuführenden Ende ca. 10 
bis 12 stecknadelkopfgrosse Löcher hat. Durch das Rohr lasse ich 
eine stricknadeldicke Spiralfeder von Draht bis zum Ende vorschieben, 
die einen passenden Ansatz zum Anschrauben des Leitungsdrahtes 
hat. Dieser Ansatz hat gleichzeitig ein rechtwinkelig gestelltes 
kurzes seitliches Rohr, welches gestattet, Wasser durch den Schlauch 
strömen zu lassen. Nach vorausgegangenem Reinigungsclystier führt 
man die Electrode ein und füllt zunächst durch den seitlichen 
Ansatz die Ampulle des S. romanum mit einer ca. 1 pCt. Kochsalz- 
wasserlösung an. Dann kann der Strom die Darmwand in vollem 
Umfange treffen und wenn die andere Electrode auf die Bauch- 
decken aufgesetzt wird, ausgiebige Contractionen auslösen. 

Es ist übrigens ganz falsch, von der electrischen Behandlung des 
Darms einen sofortigen Einfluss auf die Darmthätigkeit erwarten zu 
wollen. Wo dies der Fall ist, wirkt die Application wesentlich wie 
ein Clystier. Vielmehr hat die Electricität die Aufgabe, die Darm- 
musculatur in ähnlicher Weise durch methodische und über längere 


16 


Zeit fortgesetzte Anwendung zu kräftigen, wie dies auch bei den 
atrophischen oder parethischen Skelettmuskeln der Fall ist. Was im 
einzelnen Falle besser ist, ob Faradisation oder Galvanisation, ist 
von vornherein nicht zu bestimmen. A priori sollte man von der 
energischen Contraction, welche der faradische Strom hervorruft, 
mehr Erfolg erwarten. Schillbach kam freilich zu dem Resultat, 
dass für die interne Anwendung der Electricitát die Wirkung der 
galvanischen Ströme im Allgemeinen die der faradischen von 
gleicher Stärke übertrifft, und giebt an, dass bei Thierversuchen an 
der Kathode meist locale Contractionen, an der Anode peristaltische 
Wellen besonders in aufsteigender Richtung auftreten, dass aber die 
Stromrichtung im Allgemeinen keinen Einfluss auf die Darm- 
bewegungen habe. Moritz und Meltzer sprechen der Electricität 
überhaupt eine erhebliche Wirkung auf Magen- und Darmcontraction 
ab, und Letzterer kam durch Versuche, die er allerdings nur an 
Kaninchen und Hunden ausführte, zu dem Ergebniss, dass die 
Schleimhaut des Verdauungstractus dem Uebergang des faradischen 
Stroms auf die Musculatur einen starken Widerstand entgegensetzt, 
welcher an der Magenschleimhaut am stärksten ist. Sowohl die 
percutane wie die directe Faradisation des Magens und der Därme 
sei daher ausser Stande, eine Contraction derselben auszulösen. 
Indessen sind die Versuche Meltzer’s zunächst noch mit manchen 
Widersprüchen behaftet, und so viel steht fest, dass man bei 
geeigneten Individuen mit dünnen Bauchdecken und gut sichtbaren 
Därmen die Contractionen derselben bei der internen Faradisation 
direct sehen kann, und dass die practischen Erfolge derselben von 
der Mehrzahl der Autoren entschieden gerühmt werden. 

Unter dem Titel „postural treatment of constipation“ hat E. T. 
Williams!) vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass 
die gemeiniglich eingenommene sitzende Stellung bei der Defäcation l 
nicht geeignet ist, die beiden Factoren, welche vornehmlich die 
Expulsion des Rectuminhaltes bewirken, nämlich die Contraction der 
Bauchmuskeln und die Action des Zwerchfells, zu voller Thitigkeit 
kommen zu lassen, Er empfiehlt desshalb, diesen Act in hockender 
Stellung (also wie im Freien!) abzumachen. Ich kann mich dieser 


— 


1) Boston Med. Journal 1888, Aug. 23. 


17 





Empfehlung auf Grund meiner Erfahrungen vollkommen anschliessen. 
Ich kenne eine Anzahl von Patienten, namentlich Damen, bei welchen 
sich, seitdem sie auf mein Anrathen den beschriebenen Modus pro- 
cedendi vornehmen, die frühere Stuhlträgheit in einen regelmässigen 
und leichten Stuhl umgewandelt hat. 

Als mechanische Einwirkung kann man schliesslich auch den 
Reiz bezeichnen, den gewisse Ingesta, wie z. B. grobes Brod, durch 
ihre grobkörnige oder stachelige Beschaffenheit auf die Darmschleim- 
haut ausüben sollen, der aber im Wesentlichen nicht mechanischer 
sondern chemischer Natur ist. Letzteres Moment fällt freilich bei 
dem vor einiger Zeit von einem unternehmenden Kopf gemachten 
Vorschlag fort, der dahin ging, Pulver von grobem Sand nehmen zu 
lassen; dafür dürften dadurch aber mit der Zeit die schönsten Koth- 
steine erzeugt werden. 

So einfach es scheint, ein Clystier zu setzen, resp. einen 
Einlauf in den Darm zu machen: es sind dabei doch gewisse Maass- 
nahmen zu beobachten, die scheinbar klein und geringfügig, eine 
grosse praktische Bedeutung haben. Altem Sprachgebrauch ent- 
sprechend unterscheiden wir zwischen einem Clystier und einem 
Einlauf. Durch ersteres bringt man verhältnissmässig kleine Mengen, 
200—309, höchstens 500 cbcm einer wässrigen resp. óligen oder 
schleimigen Flüssigkeit in den unteren Abschnitt des Dickdarms; 
durch den Einlauf versucht man, grössere Quantitäten Wasser oder 
wässriger Lösungen, ein und mehrere Liter, möglichst hoch in den 
Darm hinaufzutreiben. Ob man sich zu diesen Manipulationen eines 
Irrigators, einer compressiblen Gummibirne, eines Clysopomps, einer 
grösseren Spritze, oder was sonst für einer Vorrichtung bedient, ist 
gleichgültig, Hauptsache ‘ist, dass der Druck, unter dem die Flüssig- 
keit in den Darm einströmt, ein möglichst gleichmässiger, langsamer 
und nicht zu hoher sei, weil andererseits reflectorische Contractionen 
der Darmmusculatur erfolgen, welche zum schnellen Ausstossen der 
eingebrachten Massen führen. Die letzteren müssen sich gleichsam 
in den Darm einschleichen, und nicht stossweise und gewaltsam in 
denselben eingepresst werden. Aber viel wichtiger ist die Be- 
schaffenheit des Analrohres, welches in den Darm selbst eingeführt 
wird. Kurze Spitzen von Horn oder Hartgummi sind durchaus zu 


vermeiden. Einmal dringen sie nicht tief genug ein, um den Schluss 
2 


18 


der inneren Sphincteren zu überwinden, zweitens aber geben sie bei 
ungeschickter Handhabung, namentlich bei unruhigen und sich 
sträubenden Individuen leicht zu einer Verletzung Veranlassung, aus 
der sich eine Entzündung und Vereiterung des Zellgewebes ent- 
wickeln kann. So habe ich vor Jahren einen Kranken an einer 
Periproctitis sterben sehen, die ihm ein ungeschickter Wärter bei der 
Application eines Clysmas beigebracht hatte. Das Analrohr soll von 
weichem vulcanisirtem Kautschuck, etwa 35—40 ctm lang, klein- 
fingerdick sein und an seiner Spitze eine grössere, an den Seiten 
eine Reihe von kleineren, linsengrossen Oeffnungen haben, und muss 
selbstverständlich vor der Einführung gut eingefettet sein. Man 
braucht zu letzterer den Kranken selbst nicht zu berühren, vielmehr 
wird das schreibfederartig gefasste Rohr unter leichter Drehung 
durch den Anus in den Darm vorgeschoben, wobei es unter normalen 
Verhältnissen anstandslos gelingt, dasselbe seiner ganzen Länge nach, 
also sicher über den Sphincter tertius heraufzuschieben. Es kann 
vorkommen, dass sich das Rohr an der Ampulle umbiegt, oder sich 
in der Halbmondförmigen Duplicatur fängt, welche bei manchen 
Individuen an der Grenze von S. romanum, und dem eigentlichen 
Colon descendens wie eine starke Leiste hervorspringt. Man erkennt 
dies daran, dass man das deutliche Gefühl hat, dass das Rohr aus 
der Richtung gekommen ist und nach links oder rechts abweicht. 
Es genügt dann, dasselbe etwas zurückzuziehen und in veränderter 
Richtung vorzuschieben, um zum Ziel zu kommen. Etwas anderes 
ist es, wenn der unterste Darmabschnitt mit steinharten Kothmassen 
gefüllt ist, so dass man das Rohr überhaupt garnicht oder nur wenig 
einschieben kann. Dann muss man mit dem Finger eingehen und 
die Kothmassen herausbringen, nachdem man sie eventl. im Darm 
gegen das Darmbein zu zerdrückt hat, eine ebenso widerwärtige wie 
für den Patienten häufig schmerzhafte Prozedur. Ist der Darm mit 
zähen weichen Massen angefüllt, so verstopfen sich leicht die Oeff- 
nungen des Analrohrs, doch lässt sich dies gewöhnlich vermeiden, 
wenn man bereits während des Einschiebens die betreffende Ein- 
laufsflüssigkeit unter gelindem Druck einlaufen lässt. Kleinere 
Clystiere wird man in der Rücken- oder Seitenlage appliciren, hohe 
Eingiessungen nimmt man am besten in der Knie-Ellenbogen-Lage 
vor, weil hier schon die Körperhaltung des Patienten das Einlaufen 


19 


- erleichtert.1) Die Temperatur des Einlaufs wird bald lauwarm, bald 
kalt (Zimmertemperatur) bald eiskalt genommen. Es ist klar, dass 
in letzterem Fall die Einwirkung der Kälte theils durch Anregung 
der Peristaltik auf reflectorischem Wege, theils entzündungserregend, 
resp. schmerzstillend in Betracht kommt. 

Ueber die Frage, wie weit sich Wassereinläufe in den Darm 
herauftreiben lassen, und ob die Valvul& Bauhini für Flüssigkeiten 
und Gas durchgängig ist, besteht bereits eine umfangreiche Litteratur. 
Simon theilte?) schon vor Jahren mit, dass er bei einer Patientin 
mit einer über der lleocoecalklappe gelegenen Kothfistel das in 
den Mastdarm eingegossene Wasser schnell den ganzen Dickdarm 
durchlaufen und zur Fistel heraustreten sah. Bei Leichenversuchen 
gelingt es zwar nicht regelmässig, aber doch in der grösseren 
Mehrzahl der Fälle die Klappen zu überwinden. Dass eingeblasene 
Luft in die Dünndärme übertritt, davon kann man sich bei toleranten 
Patienten unschwer überzeugen. 

Auch für Clysmata und zwar für Kochsalz-Clystiere schien es 
nach neueren Untersuchungen von Grützner?°) möglich, dass dieselben 
durch eine auf die Randzone des Darmbeines beschränkte Anti- 
Peristaltik über die Klappe, ja bis in den Magen heraufgehen 
könnten. Dauber‘) hat die Fehlerquellen, mit denen die Thier- 
Versuche Grützner’s behaftet waren (nämlich dass die Thiere ihren 
After beleckten) vermieden und die Haltlosigkeit der betreffenden 
Angaben nachgewiesen. Auch ein Versuch dieser Art, den Grützner 
mit positiven Erfolgen am Menschen anstellte, lässt sich leicht 
widerlegen. Er hatte den Magen seiner Versuchsperson nicht gründlich 
gereinigt und so fand er in demselben alte Stärkereste vor, während er 
annahm, dass die Stärke von einem Stärkeclystier aus in den Magen 
heraufgewandert sei! Scheinbar das mildeste und dem Orga- 
nismus conformste Verfahren, hat das Clysma den Nachtheil, dass 
bald ein Zeitpunkt kommt, wo geringe Wassermengen — heiss oder 
kalt oder temperirt — nicht mehr wirken und immer grössere Quan- 
titäten, bis zu 1, 2 und mehr Liter, eingebracht werden müssen, um 


1) Hegar, Berl. klin. Wochenschr. 1874. 

2) Simon, Langenbeck’s Arch. für klin. Chirurgie Bd. XV. 
°) Grützner, Deutsche med. Wochenschr. 1894 No. 48. 

*) Dauber, Deutsche med. Wochenschr. 1895 No. 34. 


20 


Stuhl zu erzielen. Dadurch wird der Dickdarm mehr und mehr 
ausgeweitet und erschlafft, und schliesslich tritt ein Zustand ein, in 
dem auch solche Eingiessungen wirkungslos bleiben. Man soll daher, 
wo irgend angängig, die Clystiere nicht täglich, sondern mit möglichst 
langen Intervallen, also nur alle 2 Tage und seltener geben, und 
von temperirten Einläufen (16°—20° R.) allmählig auf kalte Clystiere 
(12—10° R.) herabgehen. Es kommt dann nicht nur die directe 
Wirkung der Kälte auf die Anregung der Darmperistaltik und die 
Minderung der Blutstauung in dem Dickdarm in Betracht, sondern 
nach den Untersuchungen von Röhrig!) auch eine Beschleunigung 
der Gallenabsonderung und der Circulation im Pfortadersystem, die 
indirect wieder auf die Darmbewegung wirken. 


Zwei sehr wichtige Momente für alle Obstipirten sind einmal 
Regelmässigkeit und zweitens Ausdauer. Täglich um dieselbe 
Zeit das W. C. aufsuchen und so lange auf demselben und zwar 
ohne heftig zu pressen — ein gelinder Druck der Bauchpresse ist 
nothwendig — auszuharren, bis ein Erfolg eintritt, ist eine scheinbar 
kleinliche, aber sehr wichtige Vorschrift. Wenn auch nicht gleich, 
so gelingt es doch häufig mit der Zeit, auf diese einfache Weise 
Wandel zu schaffen. 


Unterstützt sollen alle diese Maassnahmen durch eine ausgiebige 
körperliche, womöglich direct auf die Action der Bauchmuskeln 
gerichtete Bewegung — Spaziergänge, Turnen, Rudern, Lawn-Tennis, 
Reiten etc. etc. sein. Ausgezeichnete Erfolge habe ich bei habitueller 
Stuhlträgheit von dem Rudern in Race-Boten mit gleitenden Sitzen 
gesehen, bei denen eine wundervolle und lange Massage des Bauches 
zu Stande kommt. Aber bei vielen Personen sind die körperlichen 
resp. mechanischen Maassnahmen entweder von vorne herein wirkungs- 
los oder lassen sehr schnell in ihrer Wirkung nach. Man sollte z. B. 
glauben, dass ein activer Offizier genug körperliche Bewegung nach 
jeder Richtung bin hätte und doch sind die Zustände schwerer Ob- 
stipation und hypochondrischer Verstimmung bei diesen Herren gar 
nicht so selten und meist recht hartnäckig. 


1) Experiment. Untersuchungen über die Physiologie der Gallenabsonderung. 
Wien. med. Jahrb. 1873. 


21 
3) Medicamentöse Mittel. 

Jedes Abführmittel soll so selten wie möglich und in so kleinen 
Dosen wie möglich genommen werden. Das Bestreben des Patienten 
muss stets darauf gerichtet sein, den Gebrauch desselben einzu- 
schränken. 

Jedem Abführmittel gegenüber kommen individuelle Eigenheiten 
des Patienten in Betracht und in Hinsicht auf Dosis und Natur des 
wirksamen Abführmittels bedingt jeder Einzelfall ein besonderes 
Studium. Nur das ist ein gutes Abführmittel, welches ohne 
Unbequemlichkeiten (Leibschmerzen, Tenesmus, Uebelkeit) eine breiige, 
nicht wässerige, ausgiebige Entleerung verschafft. Man muss event. 
so lange im concreten Fall mit den verschiedenen Aperientien 
wechseln, bis man das der Natur des Kranken passende Mittel ge- 
funden hat. 

Contraindicirt sind die Abführmittel in denjenigen Fällen, 
in denen die damit verbundene Anregung der Peristaltik schädliche 
Folgen haben kann, d. h. sowohl bei acut entzündlichen Zuständen 
des Peritoneums als bei drohender Perforation (Ulcera, Appendicitis) 
oder bei toxischem Krampf der Därme und dadurch bedingter Obsti- 
pation (Bleivergiftung, Meningitis, gewisse Rückenmarksleiden). 

Man unterscheidet von Alters her die Abführmittel in milde 
Abführmittel (Aperientia) und starke Abführmittel (Purgantia resp. 
Drastica) und hat sich damit über die Unkenntniss, welche wir über 
die eigentliche Art der Wirkung vieler Abführmittel haben, hinweg- 
gesetzt. Rationeller ist es, dieselben in solche einzutheilen, welche 
mehr auf den Dünndarm und solche, welche auf den Dickdarm 
wirken und ferner einen Unterschied zu machen zwischen denjenigen, 
welche die Peristaltik anregen und denen, welche durch Verflüssigung 
der Darmcontenta wirksam sind. 

Eine genaue Analyse der einzelnen Abführmittel nach dieser 
Richtung gehört in die Lehrbücher der Pharmakologie. Hier kann 
es sich nur um einige Aphorismen praktischer Natur handeln. 

Der Rhabarber in Substanz (Pulver oder Pillen resp. Stücken) 
ist eins der besten Aperientien, vorausgesetzt, dass man ein gutes 
Präparat benutzt, denn nicht alle im Handel befindlichen Rhabarber- 
sorten sind gleichwerthig. Aber er hat noch mehr wie andere Mittel 
den Nachtheil, dass seiner eröffnenden Wirkung in der Regel eine 


22 

Periode mehr weniger starker Verstopfung folgt, so dass der Kranke 
gezwungen ist, immer auf’s Neue zu dem Mittel zu greifen und so 
zu sagen seine Seele dem Rhabarber verschreiben muss. Nun ist 
dies, falls man nicht nöthig hat, mit der Dosis zu steigen, kein so 


grosser Schaden, — ich kenne Personen, welche seit 20 und 30 
Jahren regelmässig täglich eine Rhabarberpille zu 0,1 gr Rad. Rhei 
nehmen und sich sehr wohl dabei befinden — in der Regel aber 


müssen die Dosen, um eine Wirkung zu erzielen, nach kurzer Zeit 
gesteigert werden und versagen bald ganz. Dasselbe gilt von den 
Compositionen, z. B. dem Pulv. Liquiritiae compositus (Fol. Sennae, 
rad. Liquirit. aa 2,0, Fruct. Foenicul. Sulf. depurat. aa 1,0, Sachari 
6,0) und dem Pulv. Magnes. cum Rheo (Magnes. carbon. 60,0 Eleo- 
sach. Foenicul. 40,0 Rad. Rhei pulvers. 15,0) u. a, von denen 
sich das erstere wegen seines Gehaltes an Fenchel besonders bei 
stärkerer Flatulenz empfiehlt. Letzterenfalls kann man übrigens 
das Oleum Foeniculi oder Oleum Carvi zu 1:3 Tropfen auch direct 
dem Pulv. rad. Rhei zusetzen.) Man thut aber besser, den Rha- 
barber von vornherein mit einem Mittelsalz zu verbinden. Hier be- 
währt sich am besten die schon im vorigen Jahrhundert unter dem 
Namen Solamen miseris angewendete und in der That ausgezeichnete, 
durch v. Leube neuerdings wieder warm empfohlene Combination 
von Pulv. rad. Rhei 20,0, Natr. sulfur. 10,0, Natr. bicarbon. 5,0. 

Hiervon kann der Kranke nach eigenem Bedürfniss messer- 
spitzen- bis theelöffelweise voll in einem grossen Glase warmen 
Wassers aufgerührt Abends vor dem Schlafengehen nehmen. Es 
erfolgt dann morgens eine ausreichende schmerzfreie Entleerung. 
Der Rhabarberaufguss eignet sich weniger zum chronischen Gebrauch, 
ist dagegen bei vorübergehenden Obstipationen namentlich in Ver- 
bindung mit Sirup. Sennae oder Sirup. Mannae, oder Sirup. Rhamni 
catharcicae u. Ae. wohl zu verwenden. Das Gleiche gilt von den 
spirituösen Lösungen resp. Extracten des Rhabarbers, von denen die 
Tinct. Rhei vinosa und das Extr. Rhei in Frage kommen, während 
das Extr. Rhei compositum (Extr. Rhei 30,0 Extr. Alois 10,0 Resin. 
Jalappae 5,0 Sapon. medicat. 20,0) durch seinen Gehalt an Aloé und 
Jalappe bereits zu den complicirteren und drastisch wirkenden 
Mitteln gehört. 

Dem Rhabarber zum mindesten ebenbürtig, ja in Bezug auf 


23 


die prompte und ausgiebige Wirkung demselben noch vorzuziehen, 
ist vornehmlich in der Kinderpraxis das Calomel, wo es ohne jede 
unangenehme Nebenwirkung je nach dem Alter des Kindes in Dosen 
von 0,01 bis 0,1 und 0,2 gebraucht werden kann. Beim Erwachsenen 
hat dasselbe, selbst das metallische Quecksilber in der Form der 
bekannten Blue Pills (2 Hydrarg. 3 Conserv. Rosar. 1 Pulv. rad. 
Liquirit. zu Pillen ä 0,06 Quecksilber formirt,) die grosse Schatten- 
seite, dass man damit eine unbeabsichtigte Quecksilberintoxication 
hervorrufen kann, und dass die einzelnen Individuen in Bezug 
darauf so ausserordentlich verschieden reagiren, dass man nie von 
Vornherein wissen kann, wie der Erfolg sein wird. Ich habe 
schon eine sehr erhebliche und das Leben gefährdende Stoma- 
titis nach einer 2maligen Gabe von 0,4 gr Calomel auftreten 
sehen, und habe es nie recht verstanden, dass man aus England 
und Amerika trotz ausgiebigen Gebrauch von Quecksilberpräparaten 
gegen Verdauungsstörung und Obstipation so wenig über die üblen 
Nebenwirkungen der betreffenden Präparate hört. 

Dem Rhabarber nahe verwandt sind die zahlreichen anderen 
pflanzlichen Abführmittel, wie die verschiedenen Rhamnus- 
arten, zu denen auch die in letzter Zeit viel verwendete Cascaca 
Sagrada (Rhamnus Purshiani) gehört, die Senna, Manna, die Tama- 
rinden, das Podophylin, die Jalappe u. s. f., von denen aber be- 
sonders die Senna eine heftige mit Schmerzen verbundene Peristaltik 
‚hervorruft, die z. Th. auf einem durch Alkohol auszuziehenden in 
den Blättern enthaltenen bitteren Princip beruht. Es empfiehlt sich 
daher, zum Aufguss die Folia Sennae cum spiritu extract. zu ver- 
ordnen und dieselben im kalten Aufguss trinken zu lassen. 

Eine Sonderstellung nimmt das Ricinusöl ein, insofern es 
sich besser zum einmaligen resp. mehrmaligen, wie zum dauernden 
Gebrauch eignet. Indessen wird es, in Emulsionen (Emulsio rici- 
nosa 30,0 : 180,0, Ol. Menth. piper. gutt III MDS. 2— 3stdl. 1 Esslöffel) 
verabfolgt, auch längere Zeit hindurch gut vertragen, ohne wie man 
leicht glauben könnte, den Magen anzugreifen. Ueberall da, wo 
eine auf Krampf der Darmmuskulatur beruhende Obstipation besteht, 
wie z. B. bei Bleikolik und bei gewissen Formen hysterischer Con- 
stipation ist das Ricinusöl in Verbindung mit kleinen Gaben von 
Opium ein oft überraschend gut wirkendes Mittel. Indessen wird 
der längere Gebrauch des Ricinusöls, mag man es nun in Kapseln 


24 


oder in Emmulsion oder in einer der anderen bekannten und be- 
liebten Formen geben, gewöhnlich dadurch vereitelt, dass sich leichte 
dyspeptische Beschwerden, namentlich ein oftmaliges fades oder öliges 
Aufstossen einstellen. 

Zu den stärker wirkenden Drasticis gehören die Aloe, Jalappe, das 
Scamonium Halepense, die Coloquinthen, das Evonymin und schliesslich 
das Crotonöl. Die meisten dieser Mittel, und ganz besonders die 
Aloe, wirken hauptsächlich auf den Dickdarm, und da in den meisten 
Fällen von Verstopfung ein Nachlass der Dickdarmperistaltik vorliegt, 
so kann man sicher sein, mit ihnen zunächst eine prompte und aus- 
giebige Wirkung zu erzielen. Aber sie haben den Nachtheil, dass 
sie einen starken Reiz ausüben und so nicht nur zu einer schnellen 
Erschlaffung und Ermüdung der gereizten Muskelfaser führen, sondern 
auch eine Congestion des betreffenden Darmabschnittes bewirken, die 
zu chronischem Catarrh führt. In den zahllosen im Handel an- 
gepriesenen Abführpillen- und Mitteln spielt die Aloé die Hauptrolle. 
Dass die stärksten Drastika, wie die Coloquinthen, das Scamonium, 
die Resina gummi guttae, das Crotonöl nur in den schwersten 
Fällen unüberwindlicher Obstipation zu geben sind, und dass sie 
überall da zu vermeiden sind, wo wie bei inneren Einklemmungen, 
Intussusception, acuten Darmentzündungen besonders der Appendicitis 
die verstärkte Peristaltik von grösstem Uebel sein kann, bedarf kaum 
der Erwähnung. Aber ich habe in einigen Fällen von hochgradigstem 
und das Leben direct bedrohenden Darmverschluss durch Kothtumoren 
von der Anwendung dreister Gaben Crotonöl (3—5 Tropfen auf eine 
Ricinusemulsion von 50,0 zu 200,0 in 3 Portionen zu nehmen) einen 
lebensrettenden Erfolg gesehen. Freilich muss man unter solchen 
Umständen der Diagnose absolut sicher sein. 

Die Mittelsalze — das Natrium sulfuricum, die Magnesia 
citrica, carbonica, sulfurica, der Tartarus depuratus, das Kalium 
sulfuricum, das Sal. thermarum Carolinense, der Tartarus natro- 
natus etc. — wirken angeblich hauptsächlich durch ihr hohes 
endosmotisches Aequivalent, indem sie eine vermehrte Transsudation 
von Wasser in den Darm bewirken und so zur Verflüssigung 
des Darminhaltes beitragen; indessen kommt dabei offenbar noch 
ein anderer Factor in Betracht, indem sie, wie z. B. das Karlsbader 
Salz (resp. Wasser) in heisser Lösung anders wie in kalter Lösung 


25 


wirken. Alle diese Salze, sowie die verschiedenen Bitterwasser 
(Friedrichshaller, Piillnaer, Ofener, Marienbader) wirken, wenn man 
so sagen darf, mehr chemisch oder physikalisch, und nehmen den 
Muskelapparat und das Nervensystem des Darms weniger in An- 
spruch, als die pflanzlichen Abführmittel. Sie wirken gleichzeitig, 
wenn sie in Form der Mineralwasser in stark verdünnter Lösung, 
d. h. in grossen Quantitäten Wasser genommen werden, umstimmend 
auf die Gesammtconstitution, und dieser Umstand, in Verbindung 
mit der in den Badeorten veränderten und auf die Hebung der 
Darmverdauung und des gesammten Körperbefindens gerichteten 
Lebensweise mag für die Erfolge derselben bestimmend sein. 
Wenigstens ist es anders nicht zu erklären, dass manche Patienten 
auf Jahre, ja für ihr ganzes Leben von einer chronischen Verstopfung 
befreit werden, gegen die sie vorher die verschiedensten pflanzlichen 
und salinischen Abführmittel vergeblich angewendet haben. 

Es darf schliesslich nicht vergessen werden des Schwefels zu 
erwähnen, der als reiner Schwefel aber ganz besonders in der Form 
der Schwefelwässer von Nenndorf, Weilbach, Baden bei Zürich, 
Alvenau, Aix les bains u. A. oftmals eine vorzügliche Wirkung aus- 
übt. In Verbindung mit anderen Abführmitteln habe ich den 
Schwefel oft in folgender Form mit gutem Erfolge angewandt. Rp. 
Sulfur. depurat. Natr. tartar. pulv. aa 10,0. Fol. Sennae 5,0. Fruct. 
Cardamm. 2,5 Sirp. Rhamn, cathartic. q. s. u. f. Electuar. spiss. 
DS. Morgens und Abends 1 Theelöffel. Ueber die Wasserklysmata 
haben wir schon oben gesprochen. Von besonderem Werth sind 
aber in vielen Fällen die Oeleingiessungen, ein in Russland seit 
langer Zeit beliebtes Verfahren, welches von Kussmaul und 
Fleiner in Deutschland besonders und mit Recht empfohlen ist. 
Man kann dazu grosse Mengen, 300—500 gr reines Oel (Leinöl oder 
Sesamöl) nehmen, und erzielt damit gleichzeitig einen Anreiz auf 
die Peristaltik und eine Schlüpfrigmachung der unteren Wege (die 
vielfach behauptete erweichende Wirkung des Oels auf die Skybala 
ist so gut wie gar nicht vorhanden. Man kann harte Skybala 
stundenlang in warmem Oel liegen lassen, ohne ein Aufweichen der- 
selben zu erzielen.) In manchen Fällen kommt man auch mit viel 
kleineren Mengen, 60—80 gr aus. Schade nur, dass die Prozedur 
durch die ohuehin nicht schöne Manipulation des Klystiersetzens mit 
dem Oel nicht gerade angenehm wird! 


26 


Kinen lebhaften Anreiz auf die Peristaltik des untersten Darm- 
abschnittes übt das Glycerin durch seine wasserentziehende Eigen- 
schaft aus, und wird deshalb nach dem Vorgang von Oidtmann 
häufig zu Einspritzungen benutzt. Gewöhnlich kommt man mit sehr 
kleinen Gaben, 10—15 cbcm, die man mit einer kleinen Glasspritze 
einbringt, aus. Doch braucht man keinen Anstand zu nehmen, die 
Menge auf 30, 50 und mehr cbem zu erhöhen. An Stelle der Ein- 
spritzung kann man auch Glycerinzápfchen verwenden. 

Selbstverständlich kann man auch andere geeignete Medicamente, 
wie Emmulsionen von Ricinusöl, Abkochungen von Senna, Auf- 
lösungen von Mittelsalzen, besonders Karlsbader Salz u. Ae. per 
rectum appliciren. Doch werden sich derartige Maassnahmen immer 
mehr auf einzelne Male beschränken als zu dauerndem Gebrauch ge- 
eignet sein. 

Schliesslich kommt man in gewissen Fällen von Obstipation 
überhaupt nicht mit Abführmitteln zum Ziel, sondern bedarf der 
calmirenden und krampfstillenden Medicamente. Das sind die Fälle 
in denen die Obstipation auf einen vorübergehenden oder dauernden 
Krampf eines begrenzten Darmabschnittes beruht, der z. B. jedesmal 
dann auftreten kann, wenn sich der Darminhalt resp. die Kothsäule 
bis an die betreffende Stelle vorschiebt. Abgesehen von der schon 
oben angeführten Bleikolik kommen hier besonders Rückenmarks- 
und Gehirnleiden, gewisse Neurosen, die mit einem krankhaften 
Reizzustande des plexus coeliacus verbunden sind und gewisse 
Formen der Hysterie in Betracht. Hier leisten, freilich nur vor- 
übergehend, die Opiate, die Belladonna, das Chloral, besonders das 
Coffein-Chloral und das Extract. fabae calabaricae überraschende 
Dienste. 

Einen hervorragenden Platz in der Behandlung der Obstipation 
nehmen die Heilquellen ein, von denen ich meiner persönlichen 
Erfahrung entsprechend nur die deutschen Quellen im weiteren 
Sinne, d. h. die von Deutschland, Oesterreich und der Schweiz 
beriicksichtige. Man kann dieselben eintheilen: in 1) reine Kochsalz- 
wässer (Wiesbadener Kochbrunnen mit 6,83 pro mille Kochsalz, 0,47 
Chlorcalcium, 0,42 kohlensaurem Kalk); 2) Kochsalzwässer mit starkem 
Kobhlensäuregehalt (Kissinger Rakoczy: Kochsalz 5,82, Chlorkalium 
0,28, kohlensaurer Kalk 1,06, gasfórmige Kohlensäure 1392 cbcm 


27 


im Liter); 3) alkalisch-salinische Quellen (Karlsbader Sprudel: Natr. 
sulfur. 2,5, kohlensaures Natron 1,3, Chlornatrium 1,0; Marienbader 
Ferdinandsbrunnen: Natr. sulfur. 5,0, kohlensaures Natron 1,2, kohlen- 
saure Magnesia 0,9, Chlornatrium 2,0 und Kohlensäure 1127 cbcm im 
Liter; Tarasp (Luciusquelle): schwefelsaures Natron 2,06, kohlensaures 
Natron 3,5, kohlensaurer Kalk 1,6, Kochsalz 3,8, Kohlensäure 3575 cbcm 
im Liter; 4) die alkalisch-muriatischen Wasser (z. B. der Emser Kessel- 
brunnen: kohlensaures Natron 1,99, Kochsalz 1,0, kohlensaurer Kalk 
0,22 und gasförmige Kohlensäure 553,2 cbem im Liter). 

Die Wirkung der Kochsalzwässer beruht wesentlich auf einer 
Erhöhung der Absonderung und der Resorption und damit auch einer 
Steigerung des Stoffumsatzes. Ihr Einfluss auf den Darm ist wahr- 
scheinlich ein directer und indirecter. Sie wirken einmal schleim- 
lösend und verflüssigend auf den Darminhalt direct ein, das andere 
Mal regen sie die Magenthätigkeit an und wirken von hier aus 
reflectorisch auf die Darmbewegung ein. Dies wird in erhöhtem 
Maasse verstärkt durch das gleichzeitige Vorhandensein der Kohlen- 
säure, wie es in dem Kissinger Brunnen statthat. Immerhin sind 
grössere Quantitäten dieser Wässer nothwendig, um eine abführende 
Wirkung zu erzielen. 

Die glaubersalzhaltigen Quellen, wie Marienbad, Karlsbad, Tarasp, 
Rohitsch, Franzensbad, Elster u. A. wirken im Wesentlichen durch 
ihren Gehalt an schwefelsaurem Natrium, äussern sich aber in ihrer 
abführenden Wirkung bei verschiedenen Individuen sehr verschieden. 
Am sichersten wirkt nach dieser Richtung Marienbad wegen seines 
hohen Gehaltes an schwefelsaurem Natrium und der niedrigen Tem- 
peratur der Quellen (9—11° C.), während die heissen Quellen von Karls- 
bad, wie bereits bemerkt, nicht selten eine direct obstipirende Wirkung 
haben und weit mehr gegen die zu Grunde liegenden catarrhalischen 
Zustände, mangelnden Gallenfluss u. s. f., ihre Wirkung entfalten, 
als dass sie direct abführen. Dasselbe gilt auch von den alkalisch- 
muriatischen Quellen. Dringend muss davor gewarnt werden, schwäch- 
liche und anämische Personen oder nervöse Individuen ohne Weiteres 
an die Glaubersalzquellen zu schicken, welche wegen ihrer verhältniss- 
mässig schweren Verdaulichkeit und wegen ihres starken Salzgehaltes 
von derartigen Patienten häufig sehr schlecht vertragen werden. 
Ueberbaupt ist die Auswahl eines passenden Badeortes nur durch 


28 








eine reiche Erfahrung und genaue Kenntniss der verschiedenen 
Badeorte möglich und die Patienten sollten in irgend zweifelhaften 
Fällen, ehe sie die Badeorte aufsuchen, eine Autorität auf diesem 
Gebiete consultiren. Alle Jahre kommt es mir zu wiederholten 
Malen vor, dass ich von derartigen Patienten wegen des zu be- 
suchenden Badeortes um Rath gefragt werde, und es sich dann 
herausstellt, dass dieselben von Hause eine durchaus irrthümliche und 
unzweckmässige Directive erhalten hatten. 

Was schliesslich die Bitterwässer betrifft, Friedrichshaller, Seid- 
litzer, Ofner, Püllnaer u. A., so wirken sie ebenfalls durch ihren 
grossen Gehalt an schwefelsauren Salzen, der z. B. im Püllnaer 
Bitterwasser 16,7 gr schwefelsaures Natron und 12,1 gr schwefel- 
saure Magnesia beträgt. Diejenigen Wässer, in denen das Magnesium- 
sulfat über das Natronsalz überwiegt, wirken angenehmer, wie wenn 
das gegentheilige Verhältniss vorhanden ist. Indessen walten auch 
hier grosse individuelle Verschiedenheiten vor. 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Drack von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 
an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 


BERLINER KLINIK No. 105. MARZ 1897. 


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Ein Beweis, dass unser Airol auch bei Ohrenerkrankungen mit 
den besten Erfolgen angewendet wurde, geht aus dem uns seitens 
des Herrn Dr. Adalbert von Hebentanz, v. d. Univ. v. Wien, 


in Caire gütigst übermachten Berichte hervor. 


„Ihr mir probeweise zugesandtes 


Goldene Medaille Goldene Medaille 
li. Internat. pharm. 
Genf 1896. Ausstellg. Prag 1896. 


habe ich dankend erhalten und habe ich dasselbe bei zahlreichen 
Ohrenerkrankungen, hauptsächlich bei acuten und chronischen 
Mittelohreiterungen in Verwendung gezogen, theils ungemengt, 
theils gemengt mit Borsäure, selbstverständlich in Pulverform, — 





Das Airol hat sich mir in meiner Ohrenpraxis als ein aus- 
gezeichnetes antiseptisches, aufsaugendes und austrocknendes 
Mittel erwiesen, und hat die Eigenschaft, dass es absolut nicht reizt.“ 


Litteratur und Gratismuster stellen wir den Herren Aerzten 


stets gern zur Verfürune. 
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F. Hoffmann-La Roche & Cie., 


vormals Hoffmann, Traub & Cie., 
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Normalisirung der Magenfunctionen während u. nach allgemeinen Erkrankungen. « 
Herr Geheimrath Stöhr, Kissingen, schreibt: „... Ich bin so zufrieden mit 

demselben, wie noch nie mit einem neuen Mittel! Es ist von höchstem Werthe 
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184] Heidelberg (Baden). . 





Zur Behandlung der beweglichen Scoliose. 
Von 


Privatdocent Dr. Egon Hoffmann 
in Greifswald. 


Zweck dieses Aufsatzes ist es, dem practischen Arzte eine kurz- 
gefasste Anleitung zu geben, in welcher Weise er mit einfachen 
Mitteln dem Anfangsstadium eines Leidens begegnen kann, das in 
seinem ausgebildeten Zustande jeder Behandlung spottet und fiir den 
Kranken von der schwerwiegendsten Bedeutung ist. 

Die Scoliose ist eine häufige Krankheit. Sie ist wohl die am 
meisten vorkommende Deformität. Gerade in den Händen der prac- 
ticirenden Aerzte, besonders der Hausärzte, liegt es, dieser Krankheit 
auf das wirksamste entgegen zu treten, da sie in der Lage sind, ihr 
in ihren Uranfängen zu begegnen, während die in Behandlung der 
Specialisten kommenden Fälle sich meist in so fortgeschrittenen 
Stadien befinden, dass es sich höchstens um Besserung, um Heilung 
gar nicht mehr handeln kann. 

Die wenigsten Aerzte jedoch haben während ihrer Studienzeit 
Gelegenheit gehabt, sich eingehender mit diesem Leiden zu beschäf- 
tigen. Dazu kommt, dass die Ansicht über das Wesen und damit 
über die Behandlung der Scoliose manche Wandlungen durchgemacht 
hat, denen der ältere practicirende Arzt nicht immer hat folgen können. 
Die Anzahl der empfohlenen Heilmethoden scheint dafür zu sprechen, 
dass sie alle zusammen nichts rechtes nützen, während dieser Vorwurf 
doch im Wesentlichen nur die Therapie der vorgeschrittenen Fälle 
trifft. Die Mehrzahl der Aerzte ist daher leider ziemlich gleichgiltig 
gegenüber diesem Leiden. Sie übersehen häufig die Anfänge desselben 
oder trösten die Angehörigen damit, dass die Sache noch nicht schlimm 


sei und später immer noch Zeit sei, dagegen etwas, z. B. durch ein 
| l 


) 


_ 





Corset, zu thun. Und wenn auch der Arzt das Leiden rechtzeitig 
erkannt hat und er von der Wichtigkeit sofortiger energischer Mass- 
regeln überzeugt ist, so weiss er doch häufig nicht, was er machen 
soll. Er wendet eventuell die richtigen Mittel aber in falscher Weise 
an, so dass sie ohne Wirkung sind, manchmal sogar schaden. Wird 
der Specialist consultirt, so ist es für ihn schwer, unter den gegebenen 
Verhältnissen dem behandelnden Arzte mit wenigen Worten oder auch 
in einem längeren Briefe die Principien und die speciellen Massnahmen 
der Behandlung so auseinander zu setzen, dass er nicht missverstanden 
wird und schwerwiegende Fehler unmöglich sind. Die vorhandene 
Litteratur ist zu umfangreich, um vom practicirenden Arzte gelesen 
werden zu können, oder zu schwer zugänglich, oder, weil ohne 
passende Abbildungen, zu schwer verständlich. Die empfohlenen 
Mittel sind vielfach für den Arzt zu complicirt resp. erfordern Appa- 
rate, die nicht jeder besitzen kann. Deshalb möge man mir ver- 
zeihen, dass ich die vorhandene so zahlreiche Litteratur über diesen 
Gegenstand noch vermehre, indem ich versuche, an der Hand von 
einigen Abbildungen Massnahmen zu lehren, wie den Anfängen jener 
Krankheit vom practischen Arzte wirksam begegnet werden kann. 
Ich habe in der Gymnastik Uebungen gewählt, die Jedem von 
Turnen auf der Schule und beim Militär bekannt sind. 

Scoliose ist bekanntlich eine Abductionsstellung der Wirbel- 
säule, bei welcher die übrigen Veränderungen an der Wirbelsäule 
sowie am Thorax klinisch und practisch wichtiger sind, als die Ab- 
ductionsstellung. 

Ich übergehe hier seltenere Scoliosenarten wie die angeborene, 
die cicatrielle, die traumatische, die nach Empyem oder Lungen- 
schrumpfung entstandene, die neuromusculäre, sogenannte Ischias 
scoliotica, und möchte nur, ehe ich mich zu meinem eigentlichen Thema 
wende, Einiges über die rachitische und statische Scoliose sagen. 

Die rachitische Scoliose entsteht zwischen dem 1. und 7. Lebens- 
jahre, am häufigsten im zweiten. Sie kommt bei beiden Geschlechtern 
gleich häufig vor. Es ist meist eine Ausbiegung der Wirbelsäule 
nach einer Seite, eine Totalscoliose, vorhanden und zwar in der Regel 
nach links. Man nimmt an, dass besonders das Tragen der kleinen 
Kinder auf dem linken Arme, sodass der Oberkörper nach links über- 
liegt, an dieser Deviation Schuld habe. Bei der Weichheit der 


3 

Knochen, der Schlaffheit der Bänder, der Schwäche der Muskeln kommt 
es dann zu einer Fixation dieses Zustandes. Characterisch für diese 
Scoliose ist weiter, dass meist starke Deformationen am Thorax be- 
sonders auch an der Vorderseite vorhanden sind. Für die Behand- 
lung kommen hauptsächlich Lagerungsapparate, bei denen auf die 
prominenten Teile ein Druck ausgeübt wird, so die Rückenplatte 
mit Keilkissen nach Vogt, der Bühring’sche Lagerungsapparat, die 
Barwell’sche Schlinge, der Wolff’sche Schweberahmen in Anwendung. 
In leichteren Fällen ist schon die Lagerung auf einer recht 
ebenen, harten Matratze von Nutzen. Die rachitischen Scoliosen 
sind die einzigen, bei denen ich von portativen corrigirenden Apparaten, 
die ähnlich dem Nyrop’schen Corset construirt sind, Erfolge und zwar 
in einigen Fällen recht gute gesehen habe. 

Die statische Scolivse entsteht durch Senkung einer Becken- 
seite, wozu Verkürzung eines Beines Anlass giebt. Solche Ver- 
kürzungen sind bekanntlich nicht selten; sie entstehen infolge von 
Beuge-Contracturen des Hüft- und Kniegelenks, von Fracturen mit 
Verkürzung, von spinalen Lähmungen, von Epiphysentrennungen 
traumatischer oder entzündlicher Art etc. Es finden sich aber auch 
angeborene Verkürzungen. Früher hielt man dieselben für ein recht 
häufiges Vorkommnis und Vogt war geneigt, ihnen den Hauptanteil 
an der Entstehung der habituellen Scoliosen zuzuschreiben. Neuere 
mit Messapparaten vorgenommene Untersuchungen haben gelehrt, 
dass diese angeborenen Verkürzungen zwar nicht selten, aber meist 
sehr minimal sind und fast ebenso häufig rechts wie links vor- 
kommen, während sie, um die typische habituelle Scoliose zu be- 
dingen, hauptsächlich links vorkommen müssten. Trotzdem spielen 
statische Momente auch beim Zustandekommen der habituellen Sco- 
liosen sicherlich eine wichtige Rolle. Wenn man eine ausgeprägte 
Scoliose von hinten betrachtet, hat man meist den Ein- 
druck, dass an der Seite der Lumbalconvexität das Becken etwas 
tiefer stinde. Man kann sich einigermassen Gewissheit über den 
Stand des Beckens verschaffen, wenn man die Hände, die Weich- 
teile eindrückend, auf die Beckenkämme legt und den Hochstand 
der Hände mit einander vergleicht. Diese Untersuchung ist jedoch 
ungenau. Nur exacte Messungen der Länge der Beine oder die 
Wasserwage geben sicheren Aufschluss. Ist nun das eine Bein, wir 


]* 
a 


4 


wollen sagen das linke, kürzer, dann muss die Lendenwirbelsäule 
eine Neigung nach links annehmen, da aber der Mensch nicht mit 
nach links geneigten Oberkörper dastehen kann, muss er den letzteren 
nach rechts überbiegen. So entsteht eine lumbale links convexe 
Scoliose. Nun würde der über diesen Wirbelsäulenabschnitt gelegene 
Teil des Oberkórpers nach rechts hiniiberliegen. Behufs Exquili- 
brirung wird nun der obere Teil der Rückenwirbelsäule nach links 
gebogen. So entsteht eine rechts convexe Dorsalscoliose und manch- 
mal noch auf ähnliche Weise eine nach links convexe Cervical- 
scoliose. 


Es ist auffallend, dass sich die statischen Scoliosen selten fixiren. 
Der Grund dafür liegt wohl darin, dass beim Sitzen immer wieder 
der Schiefstand des Beckens verschwindet und die Patienten, wie 
Jaff6 meint, meist wegen Schwäche des kürzeren, weil erkrankten, 
Beines, die Last des Körpers auf der gesunden Seite ruhen lassen 
und so einen Stand einnehmen, als wenn das kranke Bein verlängert 
wäre. Berücksichtigen muss man auch, dass bei den Patienten mit 
statischer Scoliose die das Zustandekommen der habituellen Scoliose 
begünstigenden Momente häufig fehlen. Ist die Ursache für Senkung 
der einen Beckenseite schon in früher Jugend entstanden, dann 
kommt es auch hier zur Fixirung der Scoliose. 


Die Behandlung der statischen Scoliose geschieht durch Be- 
seitigung der die Beckensenkung veranlassenden Momente, also Ver- 
längerung des kürzeren Beines durch hohe Sohle und hohen Absatz, 
Einlegen einer Sohle in den Schuh etc. In manchen Fällen wird 
man Gründe haben, die Scoliose ruhig bestehen zu lassen. 


Die häufigste und practisch wichtigste Scoliose ist die habituelle. 
Ueber die Ursachen derselben sowie über die Erklärung der ana- 
tomischen Verhältnisse bei derselben herrscht noch nicht in allen Punkten 
vollständige Klarheit. Ich übergehe die zahlreichen Theorien, die über 
die Entstehung dieses Leidens aufgestellt und wieder verworfen sind 
und beabsichtige nur das wiederzugeben, was durch Erfahrung und 
Untersuchung sich als Thatsächliches herausgestellt hat oder wenig- 
stens z. Z. als solches gilt. 


Es giebt eine grössere Anzahl die Entstehung der Scoliose be- 
günstigender Momente. Als solche sind zu nennen Erblichkeit. 


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D 
Eulenburg fand dieselbe in 25 °/,, Hoffa in 27!/, %,, Vogt in einem 
Drittel simmtlicher Fälle nachweisbar. Die Krankheit als solche ist 
dabei nicht vererbt, nur die Disposition dazu. Bei derartiger ver- 
erbter Anlage findet man zuweilen, dass das Leiden der Therapie 
ausserordentliche Schwierigkeiten macht. Ein ferneres begünstigen- 
des Moment liegt in Residuen überstandener Rachitis, welche sich 
als gewisse Widerstandsunfähigkeit der Knochen, Bänder und Muskeln 
zu erkennen giebt (hiermit ist nicht zu verwechseln die eigentliche 
rachitische Scoliose). Jedenfalls kann man bei einer grossen Zahl 
von Scoliotischen Spuren überstandener Rachitis finden und ferner 
kommt man ohne Annahme einer gewissen Weichheit und ver- 
minderten Widerstandsfähigkeit der Knochen nicht aus zur Erklärung 
der Formveränderungen an der Wirbelsäule. Diese Weichheit der 
Knochen, die Nachgiebigkeit der Bänder, Schwäche der Muskeln 
wird ausser durch die rachitische Anlage auch hervorgerufen dureh 
die in die Entstebungszeit der habituellen Scoliose hineinfallende 
gesteigerte Entwickelung des Individuums, besonders auch 
durch die Differencirung der Geschlechter, das vermehrte Längen- 
wachstum u. s. w. Esis erklärlich, dass besonders bei Mädchen die Ent- 
wickelung zur Geschlechtsreife das Gleichgewicht zwischen Kraft 
und geforderter Leistung stören wird. So ist die stärkere Beteiligung 
des weiblichen Geschlechts — Vogt beobachtete unter 300 habituellen 
Scoliosen nur 10 Knaben, Hoffa berechnet das Verhältniss auf 5 
bis 6:1 — an dieser Krankheit verständlich. Zu diesen allgemeinen 
ursächlichen Momenten kommen nun eine Anzahl specieller, die in 
unsern culturellen Einrichtungen und Verhältnissen ihren Grund 
haben. Es ist vor Allem das durch die Forderungen der Schule 
bewikte anhaltende Sitzen der heranwachsenden Kinder, eine Be- 
hauptung, mit der wohl alle Autoren übereinstimmen. Mit den 
ersten Schuljahren fällt auch die Entstehungszeit der Scoliose zu- 
sammen. Nach Eulenburg entsteht sie am häufigsten zwischen 7. und 
10. Lebensjahre. Durch das viele Sitzen kommt es zur Uebermiidung 
der Muskeln, die ja sowohl beim Gehen und Stehen wie beim Sitzen 
die Wirbelsäule im Gleichgewicht halten sollen. Ein Ausruhen durch 
Anlehnen ist vielfach wegen Mangel von Lehnen nicht möglich, 
häufig wird es auch törichter Weise von den Lehrern verhindert, 
welche ein gerades Sitzen verlangen. Die Kinder werden also, an- 


6 

statt die Muskeln dazu zu brauchen, eine passive Hemmung fiir 
die Geradhaltung der Wirbelsäule suchen. Zunächst knicken sie 
nach vorn über, sie sitzen bucklich da. Da aber nach vorne die 
Wirbelsáule ziemlich ausgiebig beweglich ist, werden sie leichter 
durch Seitwärtsbiegung und Drehung eine solche Hemmung er- 
reichen. Sie nehmen also eine scoliotische Haltung an. Begünstigt 
wird diese Hemmung durch Abduction der Wirbelsäule noch durch 
die vorhandene normale anteposteriore Krümmung der Wirbelsäule 
d. h. der Lordose im Lenden- und der Kyphose im Brustteile der 
Wirbelsäule. Wir sehen demnach, dass, wo diese normale Krümmung 
in der sagittalen Ebene schlecht entwickelt ist, die Disposition zur 
Scoliose, und zwar zu schweren Graden, gegeben ist, und dass 
andererseits die Ausbildung der Abductionsstellung der Wirbelsäule 
die in diese Zeit fallende Entwickelung der anteposterioren Krüm- 
mung verhindert oder vermindert. 

Ferner ist ausser der Benutzung der Knochen und Bänder- 
hemmung auch das durch andere Momente bedingte schlechte 
Sitzen eine Veranlassung für die scoliotische. Haltung. Hierzu ge- 
hört vor Allem das Sitzen beim Schreiben. Um den Körper 
teilweise zu entlasten, wird der eine oder der andere Unterarm in 
der ganzen Ausdehnung auf den Tisch gelegt. Dazu kommt die 
leider immer noch nicht abgeschaffte Schrägschrift, welche den 
Schreibenden zu einer Drehung des Körpers geradezu zwingt. Da 
nun das Becken auf der Bank aufruht und die Bank als solche die 
Seitwärtsbewegung der Beine hindert, wird die Wirbelsäule ge- 
dreht und dabei der Körper noch meist nach einer Seite hinüber- 
gelegt. Beim Auflegen des linken Arms wird die Wirbelsäule nach 
rechts gedreht und es kommt zu einer linksconvexen Dorsalscoliose, 
beim Auflegen des rechten Arms ist es umgekehrt. Die Kopfhaltung 
ist ebenfalls von Einfluss auf die Körperhaltung. Sie hängt nach 
Schubert ab von der Richtung der Zeilen, indem man bestrebt ist, 
die Verbindungslinie der Augen mit diesen parallel zu stellen. Nun 
wird bei der üblichen Schrägschrift das Heft schräg zur Richtung 
des Tisches gelegt und damit bewirkt, dass auch der Kopf mit Vor- 
liebe nach einer Seite gebeugt wird. Die Haltung des Kopfes hat 
natürlich aus statischen Gründen auf die Haltung der Wirbelsäule 
einen Einfluss. Hoffa erklärt das Zustandekommen der typischen 


Scoliose auf scheinbar sehr einfache Weise, indem er in seiner 
orthopädischen Chirurgie sagt: „Vergegenwärtigt man sich die normale 
anteposteriore Krümmung der Wirbelsäule — die Kyphose im Brust-, 
die Lordose im Lendenteil —, so begreift man leicht, dass sich bei 
der Drehung eines derartigen elastischen Stabes beispielsweise nach 
links, die nach vorn gerichtete Convexität des unteren Abschnittes 
ebenfalls nach links wenden, die rückwärts gekehrte Convexität des 
oberen Abschnittes dagegen nach rechts wenden muss, eine Bewegung, 
welche denselben Erfolg haben muss, wie eine Seitenbiegung im 
Lendenteil mit linksseitiger Convexität und eine umgekehrte Biegung 
im Brustteil, also genau das, was wir bei der habituellen Scoliose 
antreffen.* Wenn dies richtig wäre, müsste eine gut ausgebildete 
anteposteriore Krümmung die Scoliose begünstigen, was den That- 
sachen widerspricht, und andererseits ist ersichtlich, dass in dem an- 
geführten Falle die Wirbelkörper des Brustteils stark nach den Seiten 
der Concavität gerichtet sein müssten, was gerade umgekehrt der Fall ist. 

Jedenfalls steht das fest, dass gerade beim Sitzen und besonders 
beim Schreibact reichliche Gelegenheit zur Abduktionsstellung und 
Drehung der Wirbelsäule gegeben ist. Aber auch in aufrechter Haltung 
beim Stehen ist Gelegenheit genügend vorhanden, bei Ermüdung der 
Muskeln jene oben erwähnte Knochenhemmung in Tätigkeit treten 
zu lassen. Es kommen hinzu statische Verhältnisse, die sicher auch bei 
der habituellen Scoliose nicht ganz ohne Einfluss sind. Einmal kann 
das immerhin ziemlich häufig vorkommende Kürzersein eines Beines 
der Anlass zur Senkung der einen Beckenseite sein, oder es besteht 
die nicht seltene Angewohnheit, beim Stehen ein Bein durchzudrücken, 
das andere vorzusetzen oder gebeugt zu halten, wobei dann die ent- 
sprechende Beckenseite tiefer steht. Hierzu mag, wie Vogt meint, 
auch die Art der Unterstützung des Beckens beim weiblichen Geschlecht 
beitragen. Die Unterstützungspunkte und damit die Oberschenkel stehen 
weiter aus einander. Das Geradestehen mit durchgedrückten Knieen 
könnte nur mit abducirten Unterschenkeln stattfinden. Das vermeiden 
die meisten Mädchen, indem sie ein Bein krümmen oder vor das 
andere stellen. Auch sonst giebt es noch manche Momente, welche 
ausser den erwähnten wohl der Anlass sind, dass bei Mädchen die 
Scoliose so ungleich häufiger ist als bei Knaben. Obwohl Letztere 
doch mindestens ebenso viel bei ihren Schularbeiten sitzen wie die 


S 
Mädchen, haben die Schädlichkeiten nicht einen so anhaitenden 
Einfluss. Während die Mädchen auch ausserhalb der Schule gesittet 
einhergehen müssen, zu Haus mit Klavier- oder Mal-Unterricht oder 
Handarbeiten beschäftigt werden, haben die Knaben viel mehr 
Gelegenheit durch ihre Spiele, ihre grössere Ungebundenheit die 
Nachteile des Schulsitzens wieder wett zu machen. So wird die 
Musculatur bei den Knaben in anderer Weise geübt, wie bei den 
Mädchen, nicht allein durch ihr intensiveres Turnen, sondern be- 
sonders noch durch das Springen, Klettern, Laufen bei ihren Spielen. 
Nicht zu unterschätzen ist auch das häufig schon frühzeitige Tragen eines 
Corsets, das die Riickenmusculatur ausserordentlich verkümmern lässt. 

Wird nun in Folge der erwähnten Veranlassungen die scoliotische 
Haltung bäufig eingenommen, so tritt etwas hinzu, was ich für ausser- 
ordentlich wichtig halte, nämlich eine Alteration des Muskel- 
gefühls in der Weise, dass die Kinder allmählig das Gefühl für 
die normale aufrechte Körperhaltung verlieren. Anfangs sind sie noch 
im Stande auf ein ermahnendes Wort die richtige Körperhaltung ein- 
zunehmen, später verlernen sie es und mit diesem Momente ist eine 
wirkliche Abnormitát vorhanden, die ohne richtige Hilfe die 
Neigung zur Ausbildung grosser Deformitäten am Körper 
in sich trägt. Man macht es sich in der Regel nicht recht klar, dass 
das Gefühl für die aufrechte Körperhaltung, das uns so selbstverständlich 
erscheint,der Ausdruck sozusagen eines besonderen Sinnes ist. Bekannt 
ist, dass Tiere mit Läsion gewisser Hirnteile, so besonders der Halb- 
zirkelkanäle, das Gefühl für das Gleichgewicht, für die aufrechte 
Haltung des Körpers verloren haben. Man kann alle Tage Menschen 
sehen, die in diesem Gefühl kleine Defecte zeigen, die schwer zu 
beseitigen sind. Besonders die die Rekruten ausbildenden Offiziere 
und Unteroffiziere wissen davon zu erzählen. Da ist Einer, der 
hält unmotiviert die eine Schulter höher, ein Anderer hält den Kopf 
schief, ein Dritter hält den einen Arm zu sehr abducirt etc. Sie 
Alle glauben gerade zu stehen oder zu gehen. Sie haben das Ge- 
fühl für diese abnorme Haltung verloren. Den Erwähnten erwachsen 
keine weiteren Nachteile aus ihren kleinen Fehlern, anders ist es 
bei jenen Kindern mit scoliotischer Haltung. 

Durch die Belastung in dieser Stellung, die man als ersten 
Grad der Scoliose bezeichnet, konımt es nun zu einer Reihe von 


9 


Veränderungen am Skelett, die in Folge des verwickelten Baues der 
Wirbelsäule, ihrer Gelenkverbindungen, der Hemmungsvorrichtungen 
für die Bewegungen u. s. w. sehr complicirte sind. Meyer hat 
gezeigt, dass bei einer normalen Wirbelsäule, wenn sie in Abductions- 
stellung gebracht wird, eine Drehung eintritt. Später treten zu dieser 
Drehung eine Reihe von Umbildungen in der Gestalt der Wirbel, 
besonders ihrer Körper und Bögen, die grösstenteils den Eindruck 
der Drehung noch vermehren. Früher erklärte man alle diese Er- 
scheinungen als durch die Torsion der Wirbelsäule bedingt. 
Durch neuere Arbeiten besonders von Lorenz, Nicoladoni und 
Albert hat sich herausgestellt, dass sie der Hauptsache nach auf 
Apposition oder Schwund von Knochensubstanz beruhen. Ich will hier 
auf die Resultate dieser scharfsinnigen Untersuchungen nicht näher 
eingehen, da sie, weil hauptsächlich an ausgebildeten Scoliosen gemacht, 
für die Entstehung der Anfangsstadien der Scoliose ohne besonderen 
Wert, und deshalb auch auf unsere Therapie ohne Einfluss sind. 

Durch die primäre Drehung der Wirbelsäule um eine verticale 
Achse, die Albert als Rotation bezeichnete, und die späteren 
Veränderungen, die er unter dem alten Namen der Torsion zu- 
sammenfasste, kommt es nun zu folgenden Formveränderungen an 
der Wirbelsäule und am Brustkorb. Nehmen wir an, dass eine 
linksseitige Lendenscoliose, das primäre ist, so wird sich entsprechend 
den Gesetzen der Statik, wie wir dies bei der statischen Scoliose 
entwickelt haben, eine rechts convexe Dorsalscoliose ausbilden. Als 
Ausdruck dafür finden wir, dass die Verbindungslinie der Processus 
spinosi eine umgekehrt S-förmige Figur zeigt. Diese seitliche 
Ausbiegung der Dornfortsatzlinie ist nicht immer deutlich, ja 
fehlt zuweilen ganz, weil die Processus spinosi meist nach 
der concaven Seite der Wirbelsäule und zwar zunehmend nach 
dem Scheitelpunkt der Concavität hakenförmig abgebogen sind. 
Es wird dadurch die Abductionsstellung der Wirbelsäule verdeckt. 
In der Sammlung der Greifswalder chirurgischen Klinik befindet 
sich ein Präparat von einer derartig hochgradigen Scoliose, dass 
man sich einen stärkeren Grad kaum vorstellen kann, und doch 
liegen die Spitzen der Dornfortsätze aller Wirbel in einer 
Sagittalebene. | 

Viel auffallender wie die seitliche Abweichung der Dornfortsatzlinie 


10 


sind die durch die Rotation und Torsion bewirkten Veriinde- 
rungen. Bei dem vorhin erwähnten Beispiele der nach links convexen 
Lendenscoliose erscheinen die Wirbelkörper des Lendenteils nach 
links gedreht. Die Processus laterales erscheinen links von der 
Mittellinie weiter nach hinten zu stehen, als rechts und treiben die 
sie bedeckenden Muskeln als Wulst hervor, der sich sowohl fühlen 
als sehen lässt. An dem Brustteile der Wirbelsäule sind die Ver- 
änderungen noch auffallender. Hier erscheinen die Wirbelkörper nach 
rechts gedreht. Die rechten Processus laterales zeigen in ausge- 
sprochenen Fällen eine hakenförmige Krümmung nach der concaven 
Seite der Wirbelsäule. Durch beide Momente wird bewirkt, dass die 
hinteren Enden der Rippen eine stärker nach hinten stehende Richtung 
erhalten und, da die Rippen wegen ihrer Verbindung mit dem 
Brustbein nach vorn sich abbiegen, so müssen die Anguli costarum 
eine viel stärkere Knickung zeigen. Die hinteren Abschnitte der 
Rippen springen daher als Buckel nach hinten vor. Auf der concaven 
Seite sind die hinteren Rippenenden dagegen mehr seitlich resp. 
nach vorn gerichtet, sodass die der Concavität entsprechende Thorax- 
seite, also in unserem Beispiel die linke, flacher resp. eingefallen er- 
scheint. Diese Formveränderungen der hinteren Thoraxflächen 
bewirken, dass die rechte Scapula nach hinten abgehoben wird. Ihr 
innerer Rand besonders springt stärker hervor. Zugleich ist ihre 
Entfernung von der Mittellinie gegen links etwas vergrössert. Auch 
die vordere Thoraxseite ist meistens verändert, indem sich ent- 
sprechend dem Buckel auf der Hinterseite ein solcher diagonal 
gegenüber auf der anderen Seite vorn findet, — also in unserem 
Beispiele links vorn — während die Rippen rechts im sanften Bogen 
verlaufen. Die linke Mamma steht in der Regel tiefer als die rechte. 
In manchen Fällen findet man jedoch an der Vorderseite recht wenig 
Asymmetrie. 

Entsprechend den geschilderten Veränderungen an der Rück- und 
Vorderseite des Körpers zeigen auch die Seitencontouren Abweichungen 
von der Norm. Durch die an der J.umbalwirbelsiule vorhandene 
Convexität ist die vom Hüftbeinkamm nach oben gehende Begrenzungs- 
linie verstrichen, nicht so tief ausgebuchtet als auf der anderen Seite. 
Das sogenannte Taillendreieck, d. h. die von dem herabhängenden Arme 
und der seitlichen Begrenzungslinie des Körpers gebildete Figur 


? 


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ist auf der convexen Seite abgeflacht, auf der entgegengesetzten er- 
höht. In hochgradigeren Fällen entsteht — in unserem Beispiele 
rechts — über dem Hüftbeinkamm eine tiefe Furche, der auf der 
anderen Seite eine gleiche dicht unter der Scapula gelegene ent- 
spricht. Der ganze Körper ist dabei gegen das Becken nach rechts 
verschoben. In solchen Fällen kommt es auf der rechten Seite 
nicht zur Bildung eines Taillendreiecks, sondern der Arm pendelt 
frei herab. Auch die Nackenschulterlinie, d. h. die seitliche Be- 
grenzungslinie des Halses, die von der Ohrengegend bis nach dem 
Acromion läuft, ist verändert, besonders, wenn sich — in gleichem 
Sinne wie die Lendenscoliose — eine compensatorische Cervical- 
krümmung ausgebildet hat. Diese einen Bogen beschreibende Linie 
ist dann links flacher als rechts, ihr unterer Abschnitt steht rechts 
höher als links. 

Alle diese geschilderten Veränderungen und Erscheinungen sind 
natürlich in sehr verschiedenem Grade entwickelt je nach der Zeit 
des Bestehens der Scoliose, nach dem Alter, in welchem die 
Deformität sich zu entwickeln begann — je früher dies der Fall 
war, desto schlimmer die Veränderungen — und der Intensität 
der prädisponirenden und veranlassenden Momente. Sodann sind im 
Anfangsstadium diese Veränderungen grósstenteils noch nicht fest 
fixirt, Muskelwirkung, statische Einflüsse oder corrigirende des Arztes 
vermögen einen Teil derselben noch zu verändern oder zum Ver- 
schwinden zu bringen. Man nennt dies den zweiten Grad der 
Scoliose. Später tritt eine Fixirung derselben ein, indem die ent- 
spannten Bänder schrumpfen, die gespannten sich dehnen, die 
Knochen entsprechend den veränderten Druckverhältnissen sich 
transformiren, besonders aber indem es an den concaven Seiten 
zu knöchernen Verwachsungen zwischen den aufeinander gepressten 
Seitenteilen der Wirbel kommt. Man nennt dies den dritten 
Grad der Scoliose. Bei diesen hochgradigen fixirten Scoliosen 
werden dann meist die Organe des Thorax durch seine Gestalt- 
veränderung ungünstig beeinflusst, besonders Herz und Lunge 
comprimirt. Solche Kranke gehen dann in der Regel frühzeitig an 
Herz- oder Lungenkrankheiten zu Grunde. 

Auf Grund der geschilderten Erscheinungen ist man in der 
Lage rechzeitig eine bestimmte Diagnose auf Scoliose zu stellen und 


12 
den Grad und Character sowie die Art der Therapie festzu- 
stellen. 

Die Untersuchung geschieht in der Weise, dass der Kranke 
den ganzen Oberkörper bis unter die Hüftkämme entblösst. Diese 
Entblössung ist notwendig, ein Freimachen des Rückens allein, wo- 
bei die Arme noch in den Aermeln stecken, genügt natürlich nicht. 
Ebenso müssen die Hüftkämme jedenfalls frei sein. Die Fixirung 
der Kleider an dieser Stelle geschieht am besten durch ein kräftiges 
Gummiband, das an einem Ende mit einer Oese, an dem anderen 
mit einem Knopf versehen ist. Nun betrachtet man den Kranken 
zunächst in lässiger Haltung. Man untersucht, welchen Verlauf die 
Verbindungslinie der Processus spinosi nimmt. Man fährt zu diesem 
Zweck am Rücken mit zwei Fingern entlang, wobei die Fortsätze 
zwischen diesen Fingerspitzen bleiben. Es entsteht durch wieder- 
holtes Herunterstreichen in Folge Rötung der Haut eine rote Linie, 
die einen guten Anhalt giebt. Man kann auch die Spitzen der ein- 
zelnen Dornfortsitze mit bunter Kreide bezeichnen. Es kommt 
darauf an, den oder die Scheitelpunkte der Krümmungen festzustellen. 
Ebenso wichtig ist die Feststellung, ob die normale physiologische 
anteposteriore Krümmung der Wirbelsäule vorhanden ist, also die 
Dornfortsätze in der Sagittalebene eine Sförmige Linie beschreiben, 
ob diese Krümmung verstärkt oder abgeschwächt ist. Man achtet 
weiter auf den Stand der Schulterblätter, besonders auf das Abstehen 
des einen nach hinten: die „hohe Schulter“, ferner auf die Contouren 
der Hüften. Die Vertiefung des rechten Tailleneinschnittes, bei links 
convexer Lumbalscoliose, lässt den rechten Hüftbeinkamm höherstehend 
erscheinen — „hohe Hüfte“. Später, wenn bei stark nach rechts ver- 
schobenem Oberkörper sich höher oben links ein tiefer Einschnitt 
gebildet hat, macht es den Eindruck, als ob die linke Hüfte höher 
stände. Weiter achte man auf die Gegend neben der Lendenwirbel- 
säule, ob daselbst auf einer Seite die Muskeln stärker vorspringen, 
ferner auf den Höhenstand der Schultern, die Nackenschulterlinie. 
Dann betrachte man den Kranken von vorn, achte auf Asymmetrien 
an den Rippenknorpeln, auf den Stand der Mammae etc. 

Nun lasse man zweitens den zu Untersuchenden eine stramme, 
sogenannte militärische Haltung einnehmen. Man wird dann sofort 
sehen, ob der Betreffende im Stande ist, ohne oder mit geringer 


13 

Nachhilfe die schlechte Haltung zu corrigiren, ob es sich also noch 
um den 1.Grad der Scoliose handelt. Die sehr wichtige Feststell ung, 
ob schon bleibende Formveränderungen vorhanden sind und welche, 
gelingt am leichtesten, wenn man bei guter Beleuchtung den zu 
Untersuchenden den Rumpf nach vorn beugen und die Arme 
herunterhängen lässt. Es verschwinden dabei eventuell leichte 
Abductionsstellungen, jedoch wegen des Seitwärtsweichens der Schulter- 
blätter treten die Anguli costarum deutlich hervor, man erkennt 
den leichtesten Grad von Buckelbildungen an den Rippen. Ebenso 
präsentiren sich auch die Partien neben der Lendenwirbelsäule 
deutlicher. Man sieht und fühlt das eventuelle stärkere Hervortreten 
der Processus transversi der einen Seite nach hinten. Man kann 
ferner wahrnehmen, ob die Verstärkung der physiologischen Rücken- 
kyphose bei diesem Bücken nach vorn in normaler Weise statt- 
findet. Man beobachtet, dass bei Scoliose diese Steigerung der 
Kyphose fast immer Schwierigkeiten macht, dass „der Rücken steif 
ist“. Aehnliches gilt für die physiologische Lendenlordose. Man lässt 
zu diesem Zwecke den Kranken den Rumpf rückwärts beugen. Auch 
Seitwärtsbiegungen lässt man ausführen, um zu sehen, ob diese nach 
beiden Seiten ganz gleichmässig ausfallen. Bei diesen Untersuchungen 
stellen wir fest, welche Form der Scoliose vorliegt, ob sie eine totale 
ist oder eine partielle, oder, wie gewöhnlich, eine S-förmige, be- 
sonders auch in welcher Höhe die Scheitelpunkte der Ausbuchtungen 
liegen. 

Nun versuche man, die falsche Haltung zu corrigiren. Man 
sagt dem Kranken, welche Manipulationen er zu diesem Zwecke 
machen muss. Man hilft dabei mit den Händen nach. Bei der 
typischen umgekehrt S-fórmigen Scoliose geschieht dies, indem man 
links auf die Weiche, rechts an der Stelle der stärksten Convexität, 
also meist auf die Gegend aussen und unten vom Schulterblatt einen 
Druck medialwärts ausübt. Weiter kann man zu diesem Zwecke den 
Patienten in der Glisson’schen Schlinge suspendiren, um zu sehen, 
wie viel von den Abductionsstellungen in Folge der Schwere des 
Körpers zum Verschwinden gebracht wird. Auch die einseitige Be- 
lastung bei emporgestrecktem Arm durch ein schweres Gewicht wie 
eine Hantel oder einen Sandsack und dergleichen zeigt dem Untersucher, 
wie wir weiter unten noch genauer sehen werden, dass Lumbalscoliosen 


14 


durch derartige Belastung auf der concaven Seite leicht ausgeglichen 
werden. Schliesslich prüft man auch, ob durch statische Ver- 
änderungen, also künstliche Verlängerung oder Verkürzung eines 
Beines, eine Veränderung hervorgerufen wird. Ersteres geschieht am 
zweckmässigsten durch untergeschobene Brettchen oder Klötzchen, 
letzteres durch Krümmung eines Beines im Knie. Die gleiche Unter- 
suchung führt man auch im Sitzen aus, wobei die eine Beckenseite 
durch ein untergeschobenes Klötzchen oder Buch gehoben werden 
kann. Alle diese Manipulationen geben neben dem Aufschluss über 
die Fixirung der Scoliose zugleich einen Anhalt, in welcher Weise 
die Therapie einzuschlagen sein wird. 

Die genaue Feststellung der einzelnen Formveränderungen, be- 
sonders auch um spätere Verschlechterungen oder günstige Einflüsse 
der Therapie sicher constatiren zu können, ist nur möglich durch 
die Anwendung ziemlich complicirter Messapparate, wie sie von 
Schulthess und Zander angegeben sind. Ein einfacherer und doch 
brauchbarer Apparat ist der von Mikulicz. Der practische Arzt kann 
sich helfen mit einem Bleidraht, mit dem man einmal die Figur der 
Dornfortsatzlinie fixiren kann und dann auch die Form der Thorax- 
hälften auf Papier übertragen kann. Auch der geburtshilfliche Taster- 
cirkel lässt sich benutzen, um Asymmetrien der Thoraxhälften fest- 
zustellen. 

Die Behandlung der habituellen Scoliose hängt sowohl in 
ihrer Art wie in den zu erwartenden Erfolgen hauptsächlich davon 
ab, welchen Grad der Scoliose wir vor uns haben. Bei Scoliosen 
3. Grades können wir nichts mehr von unserer Behandlung erwarten, 
aber auch die schweren Scoliosen 2. Grades gehören in orthopädische 
Institute, wo Zeit und Hilfsmittel in ganz anderer Weise zur Ver- 
fügung stehen wie in der Behandlung des practischen Arztes. Letzterer 
aber hat als Hausarzt den Vorzug der ungleich dankbareren Auf- 
gabe, es nicht zu diesen schweren Formen kommen zu lassen, 
zugleich aber auch die Verantwortung dafür. 

Die Prophylaxe erfordert die Beseitigung aller der Schäd- 
lichkeiten, die wir als begünstigende und veranlassende Momente 
erkannt haben. Hierbei werden wir auf grosse, z. T. auf unüberwindliche 
Schwierigkeiten stossen. Wir werden nicht verhindern, dass die heran- 
wachsenden Kinder täglich stundenlang bei ihren Schularbeiten 


15 

sitzen miissen, wir werden nicht so leicht gewisse Modethorheiten 
in der Kleidung, wie das Korset, beseitigen, aber Vieles lässt 
sich doch erreichen. Durch Beschränkung der Schüleranzahl in den 
einzelnen Klassen lässt sich sicher die Stundenzahl vermindern, wenn 
man sieht, wie Kinder bei Privatunterricht mit anderen Schülern 
gleichen Schritt halten, während sie wöchentlich nur so viel Stunden 
haben wie jene täglich. Wir können weiter durchzusetzen suchen, 
dass in regelmässigen Pausen während des Unterrichts Freiübungen 
gemacht werden, dass die Kinder zwischen den einzelnen Unterrichts- 
stunden Gelegenheit haben im Freien oder gut ventilirten Räumen 
sich in ungezwungener Weise zu bewegen, sich ihren Spielen hin- 
zugeben, dass der Turnunterricht, besonders auch in den Mädchen- 
schulen, nicht wie bisher eine so untergeordnete Stelle einnimmt. 
Turnspiele, wie sie jetzt von Görlitz aus immer mehr Verbreitung 
finden, sollen das regelrechte Turnen ergänzen, und Mädchen ebensogut 
wie Knaben an solchen Teil nehmen. Auch die Schwimmkunst sollte, 
woirgend Gelegenheit dazu vorhanden ist, allgemein Verbreitung finden. 

Wir haben dafür zu sorgen, dass die Schulbänke durch richtiges 
Verhältnis der Sitz- und Pulthöhe zur Körpergrösse der Kinder, 
durch richtig angebrachte Tischplatten und eine nach hinten geneigte 
Rückenlehne eine ungezwungene, nicht zu sehr ermüdende Sitzstellung 
erleichtern. Derartige Subsellien sind für die Schule und fürs Haus 
jetzt in zweckmässiger Form und verschiedener Ausstattung zu haben. 
Sie müssen so eingerichtet sein, dass während der Schüler die 
Rückenlehne benutzt, die geneigte Tischplatte so weit dem Körper 
des Kindes genähert ist, dass das Schreiben in bequemer Weise 
vor sich gehen kann. Beim Aufstehen muss dieser Teil der Tisch- 
platte durch Hineinschieben oder Herunterklappen beseitigt werden. 
Ähnliches kann auch dadurch erreicht werden, dass der Sitz wie 
bei einem Theaterstuhl umklappbar ist. Der Schreibact muss bei 
Mittellage des Heftes derartig ausgeführt werden, dass eine Drehung 
des Rumpfes oder Neigung des Kopfes vermieden wird. Deshalb 
müssen wir mit allen Mitteln dahin streben, dass allgemein die 
Steilschrift eingeführt wird. Ein grosser Fortschritt wäre es ferner, 
wenn mehrere Male im Jahre eine Untersuchung der Kinder auf 
Beschaffenheit ihrer Wirbelsäule von besonderen Schulärzten oder 
wenigstens den Hausärzten ausgeführt würde. 


16 

Wir wenden uns nun der Behandlung des bestehenden Leidens 
zu. Beim ersten Grade desselben, der Neigung zur falschen Haltung 
ohne anatomische Veränderungen — einem Zustand, den Jaffé nicht 
zur eigentlichen Scoliose gerechnet haben will — kommt es einmal 
darauf an, die Massnahmen, die wir eben als prophylactische kennen 
gelernt haben, ganz besonders sorgfaltig durchzuftihren, also Alles 
zu vermeiden, was zur scoliotischen Haltung Anlass giebt, und Alles 
zu thun, um die Körpermuskeln zu kräftigen. Wir werden also 
eventuell den Schulunterricht teilweise oder ganz verbieten und 
werden durch allgemeines Turnen, durch Zimmergymnastik, Rudern. 
Schwimmen die Muskelkräfte zu heben suchen. Sehr wirksam zeigt 
sich hierzu die Massage und es kann manchmal durch diese allein 
eine Heilung erzielt werden. Sie geschieht in der Weise, dass die 
Kinder in dem bei der Untersuchung beschriebenen entblössten 
Zustande in Bauchlage auf einem Sofa liegen. Die Arme sind 
nach vorn ausgestreckt oder über der Brust gekreuzt. Es werden 
nun die Muskeln zu beiden Seiten der Wirbelsäule vom Hinterhaupt 
anfangend bis herunter zu den Darmbeinkämmen und seitlich bis 
an die Schulterblätter und die Seitenbegrenzungen des Unterleibes 
heran mit Klopfen und Streichen in Angriff genommen. Hieran lässt 
sich, was hierbei erwähnt werden mag, eine für die Kräftigung der 
Rückenmusculatur sehr dienliche Uebung anschliessen. Der Kranke 
versucht aus der für die Massage eingenommenen Position ohne 
Benutzung der Arme den Oberkörper nach hinten zu erheben. Durch 
Ausstrecken der Arme nach vorn wird die Uebung erschwert. Aehn- 
liches wird erreicht, wenn der Patient den Oberkörper über den 
Rand des Sofas hinausschiebt und nun, während der übrige Körper 
vom Arzt gehalten wird, den Oberkörper hebt und senkt. (Fig. 1.) 
Die Massage wird täglich ein bis zweimal ausgeführt und kann von 
den richtig angelernten Angehörigen vorgenommen werden. Die 
zweite Aufgabe besteht darin, den Kindern die Störungen im Muskel- 
gefühl zu nehmen, d. h. sie zu lehren, sich wieder richtig zu halten. 
Schon Schildbach und später Staffel haben auf die Wichtigkeit dieser 
Aufgabe aufmerksam gemacht. Bis dieselbe gelungen, nützen alle Er- 
mahnungen von Lehrern und Angehörigen an die Kinder, sich gerade 
zu halten, nichts. Wir erreichen diese Aufgabe dadurch, dass wir 
die Kinder möglichst häufig in eine corrigirte oder zunächst auch 


iibercorrigirte Stellung bringen und sie dabei lehren, dieselbe 
durch eigene Muskelkraft zu erhalten und selbstständig einzunehmen. 
Wir lassen also die Kinder mit entblösstem Oberkörper, den Rücken 
auf uns zugewendet, vor uns bintreten und geben ihnen die Auf- 
gabe, sich gerade hinzustellen, die militärische Haltung einzunehmen. 
Die Kinder werden krampfhafte Anstrengungen machen, unserem 
Wunsche nachzukommen, es wird ihnen dies aber nicht gelingen. 
Wir geben ihnen nun Hilfen, indem wir z. B. sagen: linke Taillen- 
seite mehr einziehen, rechte Schulter nach innen und unten drängen. 
Wir helfen durch Fingerdruck nach. Dabei wird in nicht seltenen 
Fällen auch die Beugung der Wirbelsäule in der Sagittalebene einer 
Correction bedürfen, indem die Kinder zugleich eine Vermehrung 
der Rückenkyphose zeigen, und zwar in der Weise, dass dabei der 
ganze Oberkörper nach hinten über das Becken hinaussteht. Vorn 
zeigt sich hierbei ein Vorspringen des Bauches und eine Abflachung 
der Brust. Die Kinder werden sich also „die Brust heraus, den 
Bauch herein“ mit dem Oberkörper nach vorn überlegen müssen. 
Dabei ist der Kopf zurückzunehmen, das Kinn anzuziehen. Wenn 
man nun diese letzteren Correctionen vorgenommen hat, werden in 
der Regel die erst erzielten wieder verschwunden sein. Es erfordert 
also im Anfang viele Mühe und Geduld von beiden Seiten. Je 
älter und anstelliger Kinder sind, desto leichter werden sie lernen, 
ihren Körper in die Gewalt zu bekommen, Knaben (vielleicht wegen 
schon erhaltenen Turnunterrichts) in der Regel leichter wie Mädchen. 
Bei letzteren kommt in der letzten Hälfte des zweiten Decenniums 
die Eitelkeit als wichtige Triebfeder hinzu. Man nimmt nun diese 
Correction möglichst oft vor. Dazwischen lässt man allerlei Frei- 
übungen machen, die neben der Kräftigung der Musculatur hier den 
besonderen Zweck haben, den Kranken bei ihrer Ausführung zu 
lehren, die corrigirte Stellung beizubehalten. Man sieht anfangs, 
dass wenn man aus der corrigirten Stellung eine Uebung machen 
lässt, die Kinder sofort in den alten Fehler verfallen. Es müssen 
also bei den Uebunger: immerfort Correcturen vorgenommen werden. 
Zwischen den Uebungen lässt man immer wieder die Grundstellung 
einnehmen. Wie im Stehen geschieht die Correction auch im Sitzen 
und Gehen. Jedes Kind muss vom Arzte für sich vorgenommen 


werden, weil es seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, 
2 


18 


Später, nach Wochen, wenn die Kinder erst einigermassen gelernt 
haben, was sie zu thun haben, kann die Ausführung dieser Uebungen 
auch von einem Angehörigen, z. B. von dem militärisch ausgebildeten 
Vater, eventuell auch von der Mutter, die wiederum sich vor jenem 
durch mehr Geduld auszeichnet, vorgenommen werden. Denn viel 
Geduld ist zu dieser Behandlung erforderlich, freilich weniger bei dem 
ersten Grade der Scoliose als beim zweiten, wo diese Behandlung 
ebenfalls, besonders in den leichteren Fällen, den Hauptteil der Therapie 
ausmacht, Hier wachsen die Schwierigkeiten, da der Patient neben 
den durch das gestörte Muskelgefühl bewirkten Fehlern auch noch 
anatomische Widerstände zu überwinden hat. 

Leider sind anatomische Deformitäten in den meisten zur Be- 
handlung kommenden Fällen schon vorhanden. So mancher nur als 
scoliotische Haltung imponirende Fall zeigt bei genauer Untersuchung, 
dass doch schon ein Rippenbuckel oder eine Vorwölbung resp. 
stärkere Resistenz neben der Lendenwirbelsäule vorhanden ist, als 
Zeichen, dass eine erhebliche Fixirung der Drehung der Wirbelsäule 
eingetreten ist oder, wie man auch sagen kann, dass zur Rotation 
eine Torsion der Wirbelsäule hinzugekommen ist. Unsere Aufgabe 
besteht nun darin, diese Drehung und zugleich die Abductionsstellung 
dadurch zu beseitigen, dass wir zunächst eine Lösung der Fixationen 
vornehmen und dann den Kranken, ähnlich wie bei der scoliotischen 
Haltung, in den Stand setzen, selbst die Correction vorzunehmen und 
zu erhalten. Die Mobilisirung wird dadurch zu erreichen gesucht, 
dass man durch manuelle, maschinelle oder statische Kräfte um- 
formend auf Wirbelsäule und Thorax einwirkt. Die Correction durch 
Maschinen lasse ich hier aus der Besprechung fort, da sie nur 
in besonderen Anstalten ausgeführt werden kann und nur bei den 
schweren Formen notwendig ist. 

Ferner wenden wir einzelne Uebungen an, welche mobilisirend, 
und corrigirend wirken und die zugleich sowohl die Muskeln 
kräftigen als auch den Kranken lehren, wie er selbst die Correction vor- 
zunehmen hat: gymnastische Behandlung der Scoliose. 

Die manuelle Redression geschieht in der Weise, dass der 
Patient auf einer gleichmässig gepolsterten Unterlage auf dem Bauche 
liegt, wie bei der Ausübung der Massage, an die man diese Mani- 
pulationen in zweckmässiger Weise anschliessen kann. Nun übt man 


19 


auf den vorstehenden Buckel in der Richtung nach vorn und innen 
einen Druck aus, also bei rechts convexer Dorsalscoliose rechts von 
aussen und hinten nach innen und vorn, während man zugleich an 
der Vorderseite links einen Gegendruck nach hinten zu ausübt. 
Besteht zugleich eine linksconvexe Lumbalscoliose, so muss man 
auch auf diese corrigirend wirken. Man verfährt dann so, dass man 
abwechselnd die Correction am Brustteil und am Lendenteil der 
Wirbelsäule ausführt — letztere geschieht, indem man links neben 
der Wirbelsäule einen Druck nach vorn, rechts von vorn nach hinten 
ausübt. — Man kann jedoch auch so verfahren, dass man mit der 
rechten Hand auf den rechten Dorsalbuckel drückt, diesen zugleich 
nach links drängend, und mit der linken Hand durch Druck auf 
die linke Taillengegend die Lumbalkrimmung zu beseitigen sucht. 
Mit Unterstützung eines Gehilfen gelingt es leichter und besser 
zu gleicher Zeit Lumbal- und Dorsalscoliose zu redressiren. Auch 
diese Manipulationen können von einem Heildiener, oder günstigen- 
falls von einem der Angehörigen erlernt und ausgeübt werden 
und werden am besten zweimal am Tage ausgeführt. 

Ein anderes wirksames Verfahren bei starken Dorsalscoliosen 
ist von Lorenz empfohlen und besteht darin, dass man den 
Körper über eine gepolsterte etwa zwischen den Thürpfosten an- 
gebrachte Stange so legt, dass der Buckel aufliegt und die Last der 
zu beiden Seiten herunterhängenden Körperteile einen Druck auf 
die Prominenz ausübt. Der Körper muss dabei in einer derartigen 
Mittelstellung zwischen Rücken- und Seitenlage sich befinden, dass 
der Druck, wie bei dem vorhin beschriebenen und auch bei jeder anderen 
Art von Redressement, nicht nur nach vorn, sondern auch nach der 
anderen Seite hin stattfindet. 

Dieselbe Wirkung kann auch in der Weise erreicht werden, dass 
man zur Correction der Dorsalscoliose den Kranken soweit in der 
Seitenlage auf ein Sofa legt, dass die Kante dem Scheitel der Convexität 
entspricht, und dann mit der einen Hand auf den oberen Teil des Rumpfes 
einen Druck ausübt, der nebst der Schwere umformend auf die 
Krümmung einwirkt, während die andere Hand den übrigen Teil 
des Körpers auf das Sofa niederdrückt (Fig. 2). Das analoge 
Verfahren für die Lendenwirbelsäule (Fig. 3) ist noch wirksamer, 
da die Schwere des Körpers hier mehr in Wirksamkeit tritt. 

or 


20 


Ein weiteres Verfahren umkrümmend auf die Brustwirbelsäule 
einzuwirken, wird durch Figur 4 illustrirt. Der sitzende Arzt 
nimmt den Patienten zwischen die Kniee, sodass die concave Seite 
ihm zugewendet ist, drückt mit der einen Hand, die er auf die 
Höhe der Convexität gelegt hat, das Kind an sich und mit der 
anderen den Oberkörper von sich ab, wobei der Kranke durch eigene 
Muskelkraft mitwirkt. 

Auch durch Lagerungsapparate kann man in manchen 
Fällen redressirend einwirken. Man lässt Patienten mit totaler oder 
partieller einseitiger Scoliose auf einem Wolff’schen Schweberahmen 
oder in einer Barwell’schen Schlinge liegen, und zwar in der 
Mittellage, wie sie bei dem Lorenz’schen Verfahren beschrieben ist. 
Die Wirkung dieser Lagerungsapparate ist deswegen eine nachhalti- 
gere, weil sie während der ganzen Nacht einwirkt. 

Eslag daher nahe diese Wirkung durch portative Apparate auch 
tagsüber andauern zu lassen. Leider haben diese Bestrebungen, die zur 
Construction einer grossen Anzahl mit Federkraft und elastischem 
Zug versehener Bandagen und Apparaten Veranlassung gaben, 
zu keinem erwünschten Ziele geführt. Einmal ist es ausser- 
ordentlich schwer, Apparate so zu construiren, dass sie in ähnlichem 
Sinne und gleich exact und kräftig wie die menschlichen Hände 
wirken. Ferner würde, wäre die corrigirende Kraft wirklich so gross, 
dass sie redressirend wirkte, die Haut den Druck nicht vertragen. 
Hierzu kommt, dass die Apparate fast ausnahmslos auf die Rücken- 
muskulatur einen ungünstigen Einfluss haben, indem sie die Thätigkeit 
derselben hindern und so Atrophie herbeiführen. Man sieht daherin den 
Scoliosenapparaten die Deformität immer schlimmer und schlimmer 
werden. Nur fürzwei Fälle halteich die portativen Scoliosenapparate für 
nützlich, einmal, wie schon erwähnt, bei der rachitischen Scoliose 
kleiner Kinder und zweitens bei Scoliosen dritten Grades, um den 
Druck der verkrümmten Knochen auf die Weichteile des Riickens 
und die Organe der Brusthöhle zu vermindern. Man sieht, dass 
manchmal neuralgische Beschwerden, vielleicht hervorgerufen durch 
Druck auf die Intercostalnerven, ferner Compressionserscheinungen von 
Seiten des Herzens bedeutend durch ein Corset gebessert werden. 

Anders steht es mit einem anderen Correctionsmittel, nämlich 
der Benutzung der statischen Kräfte. Ein gewisser Teil der 


21 

habituellen Scoliosen hat sicher als statische seinen Anfang genommen, 
indem entweder ein angeborenes Kürzersein eines Beines vorhanden 
ist, oder die Gewohnheit vorliegt, beim Stehen ein Bein gekriimmt 
zu erhalten. In diesen Fällen wird natürlich ein künstliches Ver- 
längern des Beines durch erhöhte Sohle und erhöhten Absatz von 
Nutzen sein. Wir prüfen also, ob wir den Tiefstand einer Becken- 
seite vor uns haben und ob bei gestreckten Beinen durch unter den 
einen Fuss geschobene Brettchen die Scoliose gebessert oder aufge- 
hoben wird. Dies wird auch in manchen Fällen geschehen, wo ein 
Schiefstand des Beckens mit Sicherheit nicht vorliegt. Es ist dem- 
nach die künstliche Verlängerung des einen Beines ein Mittel zur 
Correction der habituellen Scoliosen, freilich bei weitem nicht in 
allen Fallen. Man wird vielmehr genau die Wirkung prüfen müssen, 
ehe man die Verordnung trifft, und von Zeit zu Zeit eine Nach- 
prüfung vorzunehmen haben. Bei der typischen umgekehrt S-förmigen 
Scoliose wird man entsprechend der linksconvexen Lendenkrümmung 
die Erhöhung der Sohle links vornehmen lassen. Wie für das 
Gehen und Stehen gilt der obige Satz auch für das Sitzen der 
Patienten, eine Thatsache, die schon lange erkannt worden ist und durch 
den von Volkmann angegebenen schiefen Sitz ihre practische Verwertung 
gefunden hat. Auch hier musseinegenaue Prüfung der Wirkung erfolgen, 
ehe man den schiefen Sitz verordnet, der sich durch ein unter die 
eine Beckenseite untergeschobenes Buch leicht improvisiren und 
ersetzen lässt. Erwähnen möchte ich noch, dass durch genaue 
Untersuchung auch die Höhe eruirt werden muss, um die man die 
eine Beckenseite zu heben hat. 

Wir kommen nun zur Beschreibung von Übungen, welche eben- 
falls mobilisirend und corrigirend wirken, zugleich aber auch die 
hierzu erforderlichen Muskeln kräftigen und den Patienten in Stand 
setzen sollen, seine Stellung selbst zu korrigiren resp. die Correction 
zu erhalten. Diese Übungen können sehr mannigfacher Art sein. 
Ich habe solche gewählt, deren Ausführung dem Arzte oder seinen 
Stellvertretern und dem Patienten leicht fällt, weil sie ihm als Frei- 
übungen aus den Turnstunden oder eventuell von der militärischen 
Dienstzeit her bekannt sind. 

Liesse man nun diese Übungen, die der Hauptsache nach aus 
Rumpfbewegungen bestehen, in der gewöhnlichen Weise ausführen, 


spe) 


dann würden sie nicht mobilisirend und corrigirend wirken und 
demnach für den Kranken ohne besonderen Nutzen sein. Man muss 
um dies zu erreichen ganz bestimmte Hilfen geben. Lässt man einen 
Scoliotischen die Wirbelsäule nach vorn biegen, also das Kommando 
ausführen: Rumpf vorwärts beugt, so wird in Folge grosser 
Steifigkeit der Wirbelsäule die gewünschte Vermehrung der 
Kyphose, wie ich oben schon erwähnt habe, nur eine geringe 
sein. Man wird weiter, besonders bei Patienten mit hoch- 
gradiger aber ziemlich beweglicher Scoliose, bemerken, dass ein Teil 
der Zunahme der kyphotischen Krümmung nur eine scheinbare ist, 
indem vielmehr eine Beugung nach der concaven Seite also eine 
Verschlimmerung der Scoliose bewirkt wird. Man wird also beim 
Rumpfvorwärtsbeugen eine Hilfe geben müssen, die diese Abweichung 
von der Beugung in der Sagittalebene verhindert. Man lässt zu diesem 
Zweck die Beugung machen, während man die Scoliose manuell corrigirt 
(Fig. 5), und lässt bei hochgradigeren Fällen dieselbe mehr nach 
vorn und nach der Seite der Convexität also in unserem Falle nach 
vorn rechts ausführen. Die Correction geschieht, wie die Abbildung zeigt, 
in der Weise, dass der rechte Arm des Arztes die rechte Schulter- 
gegend nach links drängt, während die linke Hand einen Gegendruck 
in der linken Taille ausübt. In leichteren oder schon in der Be- 
handlung vorgeschrittenen Fällen kann der Kranke auch selbst die 
Correction vornehmen, indem er, wie in Fig. 10, mit der einen 
Hand auf den Rückenbuckel einen Druck, mit der anderen Hand 
oberhalb des Beckenkamms der anderen Seite einen Gegendruck ausübt. 

Bei der Beugung nach hinten sind die Verhältnisse ähnliche. 
Hierbei wird neben der Lordose die seitliche Concavität der Lenden- 
wirbelsäule vermehrt. Wir lassen also auch das Rumpfrückwärts- 
beugen unter entsprechenden Hilfen ausführen (Fig. 6). 

Beim Seitwärtsbeugen ohne Hilfe wird fehlerhafterweise nur die 
Cuncavitát vermehrt, also — die typische umgekehrt Sfórmige Krümmung 
vorausgesetzt — beim Linksbeugen die Rückenkrümmung, beim Rechts- 
beugen die lumbale. Wir werden nun folgende Hilfen geben müssen : 
Beim Rumpflinksbeugen unterstützen wir mit unserer linken Hand 
den linken Hüftbeinkamm des Patienten und lassen nun die Wirbel- 
säule möglichst als Ganzes nach links beugen, sodass vor Allem an 
der Lendenwirbelsäule die Beugung stattfindet, und vermehren diese 


ait 
Beugung noch durch den Druck unserer rechten Hand (Fig. 7). 
Beim Beugen nach rechts bilden wir mit der rechten Hand an dem 
Scheitel der Convexität ein Hypomochlion und üben zugleich auf den 
linken Hüftkamm einen Gegendruck aus (Fig. 8. Man kann dies 
(was unsere Figur nicht zeigt,) so weit treiben, dass während der 
Umkrümmung der oberen Scoliose die untere corrigirt bleibt. 

Beim Drehen des Rumpfes wird wiederum fehlerhafterweise für 
gewöhnlich die vorhandene Rotation vermehrt. Wir suchen dies dadurch 
zu verhindern, dass wir beim Drehen nach rechts einen Druck auf 
den Buckel in der Richtung nach vorn und links (Fig. 9), beim 
Rumpfdrehen nach links in der Gegend der linken Processus laterales 
sinistri einen Druck ausüben (Fig. 10). In beiden Fällen wird zu- 
gleich mit der anderen Hand das Becken fixirt. 

Verstärken kann man die Wirkung dieser Uebungen dadurch, 
dass man sie mit erhobenen Armen ausführen lässt. Beim 
Seitwärtsbeugen wird nur der der Richtung der Bewegung entgegen- 
gesetzte Arm erhoben gehalten, also beim Beugen nach links | 
der rechte und umgekehrt. Noch mehr erreicht man, wenn man 
die erhobenen Arme mit Hanteln oder dem Largiadére’schen Muskel- 
stärker belastet, wie in Fig. 7 u. 8. Wenn man letzteren benutzt, 
werden die Handgriffe mit ausgestreckten Armen ungefähr soweit aus- 
einander, als das die Verbindungsschnüre zulassen, über dem Kopfe 
gehalten und so die Beugungen ausgeführt. Die Schwere der Hanteln 
und der Gewichte des Largiadére darf bei Anfängern nur gering sein. 

Wir lassen nun diese gymnastischen Uebungen, bei welchen 
der Oberkörper des Kranken natürlich entblösst sein muss, in der 
Weise ausführen, dass zwischen dieselben einzelne Erholungspausen 
kommen und einzelne Exercitien, die andere Muskeln be- 
schäftigen, um auch diese zu kräftigen und jene sich erholen 
zu lassen. Solche Uebungen sind z. B. Armbewegungen mit 
und ohne Hanteln oder Largiadöre, Kniebeuge und dergleichen. 
Bei jeder Uebung wird streng darauf gesehen, dass sie bei möglichster 
Correction der Deformität ausgeführt wird und ebenso wird vor jeder 
die Grundstellung in möglichst redressirter Stellung eingenommen. 

Man kann natürlich anstatt der geschilderten Uebungen eine 
ganze Reihe anderer anwenden, wie Ausfallsstellungen, Liegen im 
Seithang, Uebungen an der schrägen Leiter, an Schweberingen etc., 


24 





wie sie von den verschiedensten Seiten beschrieben und empfohlen 
sind, das Eine aber muss bei Allen beachtet werden, und 
darauf möchte ich grossen Wert legen, dass immer die 
richtigen Hilfen im Sinne der Correction gegeben werden. 
Es giebt keine gymnastischen Uebungen zur Behandlung der Scoliose 
die diese Hilfen entbehren können. Die beschriebenen Uebungen 
jedoch haben, wie ich meine, ausser dem Vorzug der Ein- 
fachheit und leichten Erlernbarkeit, noch das für sich, dass 
bei ihnen durch die in der beschriebenen Weise ein- 
wirkende Hilfe des Arztes oder seinesStellvertreters Wider- 
stände geschaffen werden, deren Ueberwindung gerade 
diejenigen Muskeln kräftigt, die zur Correction der Scoliose 
die wirksamsten sind. Im Uebrigen möchte ich bei dieser Ge- 
legenheit nochmals betonen, dass man sich bei Ausführung 
derselben, wie überhaupt bei Behandlung der Scoliose, vor 
Schematisiren aufsSorgfältigstehüten muss. Jedereinzelne 
Fall muss individualisirt werden. Wir müssen ausprobiren, 
welche Hilfsmittel den besten Erfolg geben, und werden damit vielfach 
mehr erreichen, wie durch Raisonnements, denn wir können nicht 
leugnen, dass über die Ursachen der habituellen Scoliose in vieler 
Hinsicht noch nicht volle Klarheit herrscht. 

Seit einem halben Jahre etwa verwende ich zur Behandlung 
der Scoliose auf die Empfehlung von Jacob Teschner in New-York 
(The New-York Medical Journal, May. 23, 1896) Belastung mit 
Hanteln oder ähnlichen schweren Gewichten. Teschner behauptet, 
dass durch gewisse Schwungübungen mit schweren — er spricht 
von 80 und 111 Pfd. wiegenden — Gewichten eine Umformung 
auch schwerer Scoliosen in einigen Wochen eintráte. Ich verwende 
nur Hanteln bis zu 8 und 10 Pfd., weil meine Patienten schwerere 
nicht recht regieren können und ich mit leichteren dasselbe zu er- 
reichen glaube, und habe gefunden, dass sich am sichersten 
eine Umformung der Lendenkrümmung erreichen lässt 
und zwar wenn auf der der Lendenconvexität entgegen- 
gesetzten Seite der beschwerte Arm in die Höhe gehalten 
wird. (Fig. 11.) Sitzt die Brustkrümmung hoch, so wird sie durch eine 
Belastung auf derselben Seite günstig beeinflusst, sitzt sie tief, durch 
eine Belastung auf der concaven Seite. Auch hierbei habe ich gefunden, 


25 


dass man manuelle Correction nicht entbehren kann und dass die 
Scoliosen sehr verschieden auf diese Belastung reagiren. — 


Jedenfalls möchte ich dies Verfahren für die Umkrümmung der 
Lendenwirbelsäule nicht gern entbehren. Ich lasse möglichst schwere 
Hanteln, so lange als es die Kranken gut aushalten, auf der Seite der 
Lendenconcavität mit gestrecktem Arm in die Höhe halten, während 
in der anderen Hand als Gegengewicht die andere Hantel ruht. Erhöht 
man nun noch das Becken auf Seite der Convextiät durch unter die 
Fusssohle gelegte Brettchen oder dergleichen, so ist die Wirkung eine 
sehr eclatante. Auf Seite der Convexität entsteht eine tiefe Furche, wie 
sie früher auf der anderen Seite vorhanden war. Besteht neben der 
Lendenkrümmung, wie bei der typischen Scoliose, eine entgegenge- 
setzte Dorsalkriimmung, so wird bei dem beschriebenen Acte manuell 
diese Krümmung verringert. Bei hochsitzenden Dorsalscoliosen ist 
diese Hilfe nicht erforderlich, wie ich schon erwähnte. Um durch 
Hantelbelastung auf die Brustscoliose einzuwirken, empfehlt es sich, 
die Hantel auf Seite der Concavität hochhalten, dabei aber Kopf 
und Oberkörper etwas nach der anderen Seite beugen zu lassen. 
Die vorhandene Lendenkrümmung muss zugleich manuell möglichst 
corrigirt erhalten werden. Zweckmässig ist es hierbei ebenfalls, die 
der Convexität entsprechende Beckenseite durch künstliche Ver- 
längerung des betreffenden Beines zu heben. 


Ich will nun eine practische Zusammenstellung geben, in welcher 
Reihenfolge etwa man die beschriebenen Redressirübungen anstellt. 
Nehmen wir dabei eine umgekehrt S-förmige Scoliose als Beispiel. 


1. Grundstellung d. h. Füsse gleichmässig gestellt u. z. entweder 
Hacken zusammen oder bei schwächlichen Patienten mit etwas 
gespreizten Beinen, Knie durchgedrückt, Brust heraus, Bauch 
herein, Kopf in die Höhe, Kinn angezogen. Möglichste Cor- 
rection der Scoliose in dieser Stellung durch den Arzt. Versuche 
des Kranken diese Stellung zu erhalten. 


2. Selbstcorrection des Kranken mit Hüften fest d. h. rechte Hand 
auf den Scheitel der Rückenconvexität eingesetzt, linke Hand 
über dem linken Hüftkamm. 

3. In letzterer Stellung: Rumpf vorwärts beugt, Rumpf rückwärts 
beugt, jede Übung 3—6 mal ausgeführt. 


26 


4. In derselben Stellung: Rumpf linksseitwärts, Rumpf rechtsseit- 
wärts beugt, ebenfalls 3—6 mal ausgeführt. 

5. Mit schweren Hanteln: rechten Arm aufwärts streckt, während 
unter die linke Sohle ein Klötzchen zu liegen kommt. 
Verharren in dieser Position so lange, als es der Kranke bequem 
aushält und während der Arzt mit seiner rechten Hand corri- 
girend auf die Dorsalscoliose wirkt. Linken Arm aufwärts hebt. 
Verharren in dieser Stellung, während der Arzt durch Druck 
in die linke Taille und Gegendruck auf uen rechten Hüftbein- 
kanım die Lumbalscoliose möglichst corrigirt zu erhalten sucht. 

6. Mit Hüften fest und unter Beihilfe des Arztes, wie oben be- 

schrieben, Rumpf links dreht, Rumpf rechts dreht, beides 6 
mal ausgeführt. 

. Mit ausgestreckten Armen, die durch Hanteln beschwert wer- 

den können, Armrollen 6 bis 10mal. 

8. Mit Hüften fest kleine oder grosse Kniebeuge. 

9. Rumpfbeugen nach vorn, hinten und seitwärts mit ausgestreck- 
ten Armen, die durch Hanteln oder den Largiadére beschwert 
sein können. Beim Beugen nach links ist der rechte, bein 
Beugen nach rechts der linke Arm erhoben. 

10. Noch einmal Grundstellung wie 1. 

Einzelne Uebungen können auch im Sitzen ausgeführt werden, 
so z. B. die Rumpfdrehungen, bei welchen so die Fixirung des 
Beckens leichter fällt. Das Einüben der Correction der Deformitáten 
auch im Sitzen ist jedenfalls empfehlenswert. 

Nach jeder Uebung eine kleine Erholungspause. 

Neben diesen corrigirenden Uebungen muss natürlich auch im 
Uebrigen Alles geschehen, was die Musculatur, insbesondere die des 
Rückens, kräftigen kann ausser Massage: Rudern und Schwimmen, 
allgemeine Turnübungen, und alles vermieden werden, was auf die 
Scoliose fördernd wirken kann. Man wird aus letzterem Grunde 
zweckmässig den Schulunterricht für Monate oder länger aussezten. 

Nun noch einige Worte über die Prognose der habituellen 
Scoliose. Sie hängt einmal ab von dem Grade der Deformitit. 
Scoliosen ersten Grades lassen sich wohl immer heilen, vielfach auch 
leichtere Scoliosen zweiten Grades. Doch ist bei diesen in der Regel 
nur eine Besserung oder das Aufhalten des Processes, das Verhüten 


=~] 


27 


der Verschlimmerung zu erreichen. Bei den schweren Scoliosen 
zweiten Grades ist es zweifelhaft, ob sie, wenigstens ausserhalb 
einer Anstalt, in ihrem Fortschreiten aufgehalten werden können. 
Bei solchen dritten Grades kann es sich nur um eine ge- 
wisse, den inneren Organen und dem Allgemeinzustand zu Gute 
kommende, Mobilisirung der Wirbelsäule handeln. 

Weiter hängt die Prognose ab vom Alter der Patienten. Haben 
dieselben bald das Ende ihrer Wachstumszeit erreicht, dann wird die 
Scoliose nicht mehr Zeit haben, sich in schlimmer Weise auszu- 
bilden, dagegen wird bei recht früh erkrankten Kindern die Erzie- 
hung zur Selbstcorrection auf Schwierigkeiten stossen und ferner wird 
die Möglichkeit der Verschlimmerung sich auf die lange Zeit bis 
zur Beendigung des Wachstums erstrecken. 

Dass weiter die Geduld des Arztes und der Patienten, die Zeit 
und Sorgfalt, die sie der Behandlung widmen können, die socialen 
Verhältnisse auf den Erfolg der Behandlung einen grossen Einfluss 
haben, ist klar. Die Behandlung muss oft jahrelang fortgesetzt werden 
und nach der Heilung resp. Besserung noch bis zur Beendigung des 
Wachstums eine Überwachung stattfinden. 

Zum Schluss möchte ich noch einmal im Hinblick auf die gute 
Prognose der Scoliose in ihren Anfängen, auf die schlechten Aus- 
sichten und die mühevolle und langwierige Behandlung der vor- 
geschrittenen Fälle den Herren Kollegen zurufen: 

Principiis obsta! 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direet 
an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 





Fig. 3. 


. 6. 


~ 
5 


š 
il | 


Fig. 8. 





Fig. 10. 


9. 


Fig. 














-sto 

















Ueber die Abort-Behandlune. 
Von 
R. Kossmann 


in Berlin. 


Unter Abort!) verstehen wir die Ausstossung der Frucht, wenn 
sie vor deren Lebensfähigkeit, im allgemeinen also vor Ablauf der 
28. Schwangerschaftswoche erfolgt. ?) 

Zwar kann jede vorzeitige Geburt, ganz wie die rechtzeitige, 
spontan verlaufen, sodass ein ärztlicher Eingriff zar Wiederherstellung 
der Gesundheit der Gebärenden nicht notwendig wird; doch ist ein 
solcher Verlauf wesentlich seltener, als bei der rechtzeitigen Geburt. 
Dies hängt offenbar teils damit zusammen, dass krankhafte Zustände 
oder ungewöhnliche Einwirkungen den Abort verursachen?), teils 
damit, dass die anatomischen Verhältnisse von denen am Ende der 
Schwangerschaft einigermassen verschieden sind. Die Trennungs- 
schicht in der Decidua ist noch nicht in der Weise ausgebildet, dass 
die Lösung leicht erfolgen kann, und die Grösse der Gebärmutter 
sowie die Entwickelung ihrer Muskulatur lassen noch keine so 
kräftigen und wirksamen Contractionen zustande kommen. Daraus 
folgt, dass die Ausstossung der Frucht und der Eihüllen sich häufig 
über einen längeren Zeitraum verschleppt, dass wohl gar Teile davon 
zurückbleiben und ohne Kunsthülfe überhaupt nicht mehr nach aussen 
gelangen können. Die Folgen von beidem sind erstlich Blutungen, 
die bis zur Erschöpfung, ja sogar bis zum Tode der Abortierenden 
führen können, ferner entzündliche Erkrankungen, die teils auf 
den Reiz der in der Gebärmutter als Fremdkörper zurückbleibenden 
Eireste, teils auf eine Infection, die in letzteren einen besonders ge- 
eigneten Nährboden findet, zurückzuführen sind. 

Es tritt somit bei Abort verhältnismässig häufig an den Arzt 





die Notwendigkeit eines therapeutischen Eingriffes heran, und bei 
der ausserordentlichen Verbreitung, die der Abort in allen Klassen 
der weiblichen Bevölkerung — keineswegs nur in grossen Centren, 
sondern auch in kleinen Ortschaften und auf dem Lande — hat, kann 
diese Therapie nicht dem Specialisten vorbehalten bleiben, sondern 
jeder practische Arzt, mit Ausnahme etwa Derjenigen in den Gross- 
städten, kommt oft in die Lage, sie anwenden zu müssen. 

Ungeachtet dieser Häufigkeit und allgemeinen Verbreitung sind 
jedoch die Ansichten über die zweckmässigste Art der Abortbehand- 
lung ausserordentlich geteilt und es kommt fortwährend noch, selbst 
unter den Specialisten, zu Discussionen darüber, die oft einen einiger- 
massen erbitterten Character annehmen. Demnach erscheint eine 
kritische Behandlung des Gegenstandes, auch ohne dass eine wesent- 
liche Bereicherung der Therapie damit verbunden wird, an dieser 
Stelle nicht überflüssig. 

Um festzustellen, ob überhaupt eine Behandlung des Aborts in 
einem gewissen Falle angezeigt ist, muss der Arzt zunächst erkennen, 
ob er es überhaupt mit einem Abort, sei es mit einem erst drohenden, 
sei es mit einem unvollkommenen, sei es endlich mit einem kürzlich 
abgelaufenen, zu thun hat. Zu dieser Feststellung gehört vor allen 
Dingen der Nachweis sicherer Symptome der noch bestehenden oder 
kürzlich beendigten Schwangerschaft. 

In vielen Fällen wird sich bereits aus der Anamnese die 
Wabrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft 
ergeben. Hat die Menstruation bei der Blutenden in früherer Zeit 
die gewöhnliche Regelmässigkeit gezeigt, ist sie in den letzten 
Monaten ein oder mehrmals fortgeblieben und nunmehr wieder ein- 
getreten, so ist bereits mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Schwanger- 
schaft zu vermuten. Auch die bestimmte Angabe, dass Fruchtwasser 
oder die Frucht selbst abgegangen ist, sind in diesem Sinn zu ver- 
werthen. Jedoch darf nicht vergessen werden, wie oft der Arzt bei 
der Aufnahme der Anamnese absichtlichen Täuschungsversuchen 
begegnet. Daher sind im allgemeinen Angaben der Schwangeren 
und deren Angehöriger mit grossem Misstrauen aufzunehmen, wenn 
sie nicht durch Beweismittel oder durch Zeugnis a de ein- 
wandsfreier Personen bestätigt werden. 

Aber auch die objectiven Symptome der Schwangerschaft lassen 


3 

uns nicht selten im Stich. Schon in den ersten Wochen der 
Schwangerschaft kann sehr wohl ein Abort drohen oder eintreten, 
zu einer Zeit also, wo die Frucht selbst weder durch Auscultation 
noch durch Palpation nachgewiesen werden kann und die Verände- 
rungen am Körper der Schwangeren noch fast unmerkliche sind. 
Es können solche an den Brüsten noch vollständig fehlen; die Ver- 
färbung der Linea alba und die der Vulva und der Portio können 
ganz unbedeutend, können auch auf irgend ein anderes, Hyper- 
ämie verursachendes, Leiden zurückführbar sein; die Vergrösserung 
der Gebärmutter endlich kann noch gering sein oder kann nach 
Abgang des grössten Teiles der Frucht wieder unauffällig geworden 
sein. Es bleibt dann wohl gelegentlich kein anderes Kennzeichen 
zurück, als eine gewisse lockere Beschaffenheit der Cervix, ins- 
besondere eine grosse Weichheit der Gegend um den inneren Mutter- 
mund, auch eine für den ganz Geübten kaum zu verkennende 
Schlaffheit des Gebärmuttergrundes. Andererseits sind Verwechse- 
lungen dadurch möglich, dass bei entzündlichen Zuständen der 
inneren Genitalorgane sowie bei Myomen ebensowohl atypische 
Blutungen, als auch eine Vergrösserung der Gebärmutter, Auflockerung 
der Cervix, und selbst einige entferntere Symptome, wie die livide 
Verfärbung der Schleimhaut, die Pigmentirung der Linea alba, dic 
Colostrumsecretion der Brüste vorkommen. 

Die Gelegenheit zu Irrtümern bei der Diagnose ist also eine 
recht grosse. Immerhin wird sie dadurch praktisch ziemlich be- 
deutungslos, dass in fast allen Fällen, wo wegen der kurzen Dauer 
der Schwangerschaft ein Zweifel über deren Bestehen obwalten kann 
und dennoch die Aufforderung zu einem Eingriff an den Arzt 
herantritt, ein Symptom die Situation beherrscht: nämlich eine 
atypische Blutung. Die Kranke sucht den Arzt auf, oder der 
Arzt wird zur Kranken gerufen, weil sie, sei es zu unerwarteter 
Zeit, sei cs in ganz ungewöhnlicher Menge, Blut verliert. In den 
seltenen Fällen aber, wo Blutungen nicht zur Heranziehung des 
Arztes die Veranlassung gegeben haben, handelt es sich um cinen 
stinkenden, oft mit Fieber verbundenen Ausfluss. 

In beiden Fällen ist natürlich ein lokaler therapeutischer Eingriff 
gerechtfertigt, auch wenn die Frage, ob Schwangerschaft vorhanden 


ist, nicht sicher beantwortet werden kann. Die Regel ist dann nur 
1* 


4 


die, so zu handeln, als wäre die Schwangerschaft nachgewiesen. Ein 
Irrtum in dieser Hinsicht wird sich im Laufe der Behandlung auf- 
klären, und zwar sicher, bevor etwas versäumt oder ein Schaden 
angerichtet ist. | 

Viel wichtiger jedoch, und geradezu bestimmend für die Art 
unserer Therapie ist die Entscheidung darüber, ob die Schwanger- 
schaft sich noch erhalten lässt, oder nicht, d. h. ob der Abort nur 
ein drohender oder ein unaufhaltsamer ist. Sie wird zunächst 
nach der Anamnese, nach der Beschaffenheit des Muttermundes und 
der Form der Cervix zu treffen sein. Ergiebt die Anamnese mit 
voller Sicherheit, dass Fruchtwasser bereits abgeflossen ist, oder zeigt 
die Untersuchung, dass der innere Muttermund das Eindringen eines 
Fingers, wenigstens der Kuppe des Fingers, gestattet‘) oder ist bei 
Erstgebärenden die Portio verstrichen, oder setzt sich endlich die in 
der Mitte ihrer Länge verdickte Cervix in der Gegend des inneren 
Muttermundes durch eine Einschnürung gegen den Gebärmutter- 
körper scharf ab, so ist ohne weiteres anzunehmen, dass die Schwanger- 
schaft nicht mehr erhalten werden kann. Ist dagegen der Muttermund 
noch geschlossen, ein Abgang von Fruchtwasser oder von Frucht- 
teilen nicht festzustellen, und jene Einschnürung in der Gegend des 
inneren Muttermundes nicht vorhanden, so darf die Blutung allein 
nicht Massnahmen rechtfertigen, durch die die Schwangerschaft 
beendet, das Leben der Frucht vernichtet werden würde. In solchen 
Fällen giebt es eigentlich nur eine Verordnung: das ist die der 
absoluten Bettruhe, die etwa noch durch die Verabreichung von 
Narcoticis zu erleichtern und zu unterstützen ist. Narcotica, ins- 
besondere Opium, in ansehnlichen Dosen ermöglichen nicht nur 
oder erzwingen sogar die Bettruhe, sondern sie sind zugleich im- 
stande, die begonnene Wehenthätigkeit in der Gebärmuttermuskulatur 
zum Aufhören zu bringen. Eine etwa vorhandene Retroflexion des 
Uterus muss natürlich sofort beseitigt werden. 

Allerdings wäre theoretisch der Fall ja denkbar, dass, ungeachtet 
der Anwendung dieser Mittel und ohne dass die auf unaufhaltsamen 
Abort deutenden Symptome auftreten, die Grösse des Blutverlustes 
an sich einen weitergehenden Eingriff rechtfertigen könnte; der Er- 
fahrung nach pflegt jedoch, wenn die Blutung in wirklich gefahr- 
drohender Weise fortdauert, sehr bald auch eine Erweiterung des 


QU 


inneren Muttermundes einzutreten, sodass der Arzt, auch abgesehen 
von der Verblutungsgefahr, die Ueberzeugung gewinnt, dass die 
Schwangerschaft nicht mehr zu erhalten ist. Sobald er zu dieser 
Ueberzeugung gelangt ist, liegt ihm nun die Pflicht ob, solche Blut- 
stillungsmittel anzuwenden, die eine Beschleunigung des Aborts 
herbeiführen. 

Die Wirksamkeit der meisten unter ihnen ist jedoch abhängig 
davon, ob noch das ganze Ei im Uterus zurückgehalten wird oder 
bereits Eiteile abgegangen sind. Oft genug wird zwar diese Frage 
für den Arzt gar nicht sicher zu beantworten sein; in solchen Fällen 
aber wird er berechtigt sein, zunächst so zu handeln, als wäre das 
ganze Ei noch im Uterus. Er wird dazu um so mehr berechtigt sein, 
als die für diesen Fall verwendbaren Mittel der Therapie die minder 
eingreifenden sind. 

Am harmlosesten von solchen Mitteln würden Medicamente sein, 
wenn es deren gäbe, die zuverlässig und prompt wirken. Dies war, 
wenigstens bis vor kurzem, nicht der Fall. Die sonst bei Uterus- 
blutungen angewendeten Mittel, wie Salipyrin und Hydrastis, können 
auf die Abortblutungen, die ja traumatischen Ursprungs sind, über- 
haupt nicht wirken, da sie kaum Uteruscontractionen herbeiführen. Die 
älteren Abortiva, Crocus, Herba Cannabis indicae, Summitates Sabinae, 
Chinin, Borax, Pilocarpin, Terpenthin?) sind sämmtlich in ihrer Wirkung 
ganz zweifelhaft. Das Secale ruft zwar Uteruscontractionen hervor, 
aber nur ausnahmsweise nehmen diese einen der normalen Geburts- 
thätigkeit ähnlichen Verlauf, sodass eine Geburt des ganzen Eies 
bezw. aller Eireste erfolgen könnte. Vielmehr zieht sich dabei ge- 
wöhnlich gerade auch die Cervix zusammen, sodass selbst die operative 
Entfernung der Eireste, wenn sie sich schliesslich als erforderlich 
darstellt, durch die vorgängige Anwendung des Mittels erschwert 
wird. Neuerdings freilich hat Jacoby (Strassburg), wie er auf der 
Naturforscherversammlung 1896 berichtete, in einem aus dem Mutter- 
korn hergestellten Präparate, dem Chrysotoxin, ein Medicament 
gefunden, das, wenigstens bei Tierversuchen, nach subcutaner Appli- 
cation den Abort sicher herbeiführte. Sollte sich durch Versuche 
beim Menschen herausstellen, dass das Präparat auch hier eine gleiche 
Wirkung ausübt, so würde sich weiter fragen, ob man damit nur bei 
noch vollständigen Ei den Zweck erreicht, oder ob es selbst zur 


6 


Herbeifiihrung einer Ausstossung kleinerer Eireste verwendbar ist. 
Eine unzweifelhafte Anregung von Uteruscontractionen lässt sich 
auch durch die heisse oder die sehr kalte Scheiden-Irri- 
gation ") erzielen. In manchen Fällen, insbesondere wieder bei noch 
vollständigem Ei, kann man in der That einen glatten und schleu- 
nigen Ablauf des Aborts durch dieses einfache Mittel erreichen. 
Erstlich jedoch ist dessen Anwendung für die Schwangere keines- 
wegs angenehm, sodann aber wird die Blutung nicht unmittelbar 
dadurch gestillt; der Arzt kann also die Abortierende nicht verlassen, 
bevor der Abort beendigt ist. Er verurteilt sich dadurch oft zu 
einer langen abwartenden Unthitigkeit und muss schliesslich vielleicht 
doch noch zu sicherer wirkenden Mitteln greifen. 

Dem gegenüber hat die Scheiden-Tamponade’) den Vorzug, 
dass der Arzt, wenn er sie richtig ausgeführt hat, die Kranke stunden- 
lang verlassen kann, ohne einen weiteren Blutverlust während seiner 
Abwesenheit befürchten zu müssen. Es scheint wenigstens bisher 
nur ein Fall bekannt geworden zu sein, in welchem die Abortierende 
nach der Scheiden- Tamponade sich in das Cavum uteri verblutet 
hat (Klotz) $). Dies kann wohl auch nur bei Aborten in späteren 
Schwangerschaftsstadien nach Abgang des Fruchtwassers geschehen 
und es würde die Aufmerksamkeit einer gewöhnlichen Wärterin oder 
einer Hebamme vollständig genügen, um die Gefahr rechtzeitig zu 
erkennen, da der Uterus eine rasche und beträchtliche Grössenzunabme 
bei der Füllung mit Blut erfährt. 

Was die Technik der Scheiden-Tamponade anbetrifft, so besteht 
diese darin, dass man den oberen Teil der Scheide, insbesondere 
des Scheidengewólbes, mit Watte oder Gaze fest ausstopft. Die 
Gaze hat den Nachteil, den allerdings auch die hydrophile (entfettete) 
Watte besitzt, dass sie beim Aufsaugen von Blut und Schleim zu- 
sammenfällt und dass infolgedessen der Druck, den sie auf die 
Cervix ausübt, sich rasch vermindert. Das ist bei nicht entfetteter 
Baumwolle in viel geringerem Grade der Fall und es ist daher diese 
vorzuziehen. Neuerdings hat Schaeffer (Heidelberg)?) für die Uterus- 
Tamponade eine mit Guttapercha präparierte Gaze empfohlen, die 
ebenfalls ein sehr viel geringeres Imbitionsvermögen besitzt. Möglicher- 
weise leistet diese auch für die Scheiden-Tamponade besonders gute 
Dienste. Wendet man die nicht entfettete Watte an, so kann man 


o 7 

die einzelnen Watte-Tampons in mehrere Schichten von antiseptischer 
Gaze einwickeln, um eine etwaige Infectionsgefahr zu verringern. 
Mit welchem Antisepticum die Gaze getränkt sein soll, ist ziemlich 
gleichgültig; Jodoformgaze ist, wenn von einer zuverlässigen Firma 
bezogen, durchaus zweckentsprechend bis auf den unangenehmen 
Geruch; wer solche nicht zur Hand hat, kann gewöhnliche Gaze in 
eine antiseptische Flüssigkeit einen Augenblick eintauchen und aus- 
drücken. Ich wende für alle diese Zwecke Chinosollósung an. 
Nützlich ist es, jeden einzelnen Tampon mit einem kräftigen Faden 
zu versehen, um das Herausziehen zu erleichtern. Die Einführung 
erfolgt am bequemsten bei Seitenlage der Abortierenden, wobei das 
unten liegende Bein mässig, das oben liegende stark flectiert wird. 
Hat man ein Sims’sches Speculum bei sich, so legt man dieses ein 
und schiebt die Tampons einen nach dem anderen mittelst eines 
Tampon - Halters, einer langen Pincette oder einer Kornzange auf 
dem Speculum bis in das Scheidengewölbe hinauf. So wichtig es 
ist, den oberen Teil der Scheide sehr fest zu tamponieren, so über- 
flüssig und lästig für die Kranke ist es, auch den unteren Teil aus- 
zustopfen. Es verursacht ihr Schmerzen und erschwert die spontane 
Harnentleerung. 

Ob man vor der Tanıponade die Scheide disinficiren soll oder 
nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Da Verletzungen 
in der Scheide nicht vorhanden zu sein pflegen und eine Ver- 
schleppung etwaiger pathogener Keime aus der Scheide in den Uterus 
bei diesem Verfahren garnicht vorkommen kann, so halte ich die 
Disinfection für überflüssig und unterlasse sie um so lieber, als das 
Einführen der Tampons nach Ausreibung der Scheide wesentlich 
schwieriger und schmerzhafter ist. Bei einem blossen Ausspülen 
der Scheide mit einem schlüpfrigen Antisepticum, wie Lysol und 
ähnlichen, fällt dies allerdings fort, doch ist dadurch eine wirkliche 
Disinfection der Scheide nicht zu erreichen und die ganze Manipulation 
demnach überflüssig. 

Höchstens dürfen die Scheiden-Tampons 24 Stunden liegen bleiben, 
es empfiehlt sich jedoch, sie womöglich schon nach 12 Stunden zu 
entfernen. 

Statt der Tamponade mit Watte oder Gaze kann auch wohl die- 
jenige mit einer Blase (Colpeurynter)'°) in Betracht gezogen werden. 


8 


Im allgemeinen regt auch diese kräftige Wehen an, sie ist jedoch 
erstlich etwas schmerzhafter als die Watte-Tamponade, schon weil 
es nicht möglich ist, sie auf den oberen Scheidenteil zu beschränken, 
sodann ist sie auch nur ausnahmsweise geeignet, die Blutung prompt 
zu stillen. Dies liegt einmal schon daran, dass sich das Blut 
zwischen den glatten Oberflächen der Scheide einerseits, der Gummi- 
blase andererseits hindurchdrängen kann, sodann wird in allen jenen 
Fällen, in denen die Portio noch kegelförmig oder knollenartig in 
die Scheide hineinragt, der Colpeurynter das Scheidengewölbe nicht 
ausfüllen können, und da sich die Portio schräg stellt, wird auch 
der Muttermund selbst, aus dem das Blut hervorquillt, nicht von der 
Wand des Colpeurynters verschlossen werden. 

Ist der Abort durch die Tamponade nicht herbeigeführt, so kann 
in der Regel die Tamponade wiederholt werden und man sollte sich 
hiermit in allen Fällen begnügen, in denen nicht besondere Gründe 
zu einer schneller wirkenden Massregel nötigen. 

Neben der Tamponade existieren allerdings noch einige andere 
Mittel zur Beschleunigung des Aborts; sie sind zwar nicht ganz so 
einfach, als die bisher geschilderten, können jedoch in solchen Fällen 
recht wohl in Betracht kommen, wo durch jene ein genügender 
Effect, insbesondere eine spontane Erweiterung des Muttermundes, 
nicht hat erreicht werden können. 

Unter diesen Mitteln erwähne ich zunächst die Einspritzung von 
Glycerin in den Cervicalkanal, wie ich sie zur Einleitung der künst- 
lichen Frühgeburt bereits anderweitig +!) empfohlen habe. Es genügt 
ein sehr geringes Quantum, wenige Gramme, um Uteruscontractionen 
auszulösen. Leider hört diese Wirkung jedoch meist schon nach 
kurzer Zeit auf, wenn man nicht noch andere Mittel anwendet, und 
da die Contractionen überhaupt nicht andauernd sind, sondern mit 
Pausen abwechseln, so bleibt auch die Blutung einstweilen bestehen. 
Es ist daher nicht angezeigt, sich auf die Anwendung des Glycerins 
zu beschränken, sondern man wird sie stets mit der Scheiden-Tam- 
ponade verbinden müssen, um neben der Beförderung des Aborts 
auch die prompte Blutstillung zu erzielen. 

Wenn das Glycerin einen specifischen Reiz auf die Muskulatur 
ausübt, so genügt doch auch der rein mechanische Reiz eines in den 
Cervicalkanal eingeführten festen Fremdkörpers, um stärkere Uterus- 


y 





contractionen zu bewirken. Als solche Fremdkórper sind insbesondere 
Stifte aus gepresstem Schwamm 1), aus Stengeln der Laminaria 
digitata*” und aus Tupelo!*) (Nyssa aquatica) angefertigt worden, 
die alle drei die Eigenschaft haben, in Berührung mit Feuchtigkeit, 
in diesem Falle also mit dem Cervicalschleim, stark zu quellen. Von 
ihnen ist der Pressschwamm fast allgemein aufgegeben worden, da er 
sich nicht genügend sterilisiren lässt und somit eine grosse Infections- 
gefahr mit sich bringt, sich auch mit der Cervixschleimhaut verfilzt, 
sodass beim Herausnehmen frische Wunden entstehen. Die beiden 
pflanzlichen Präparate dagegen werden noch vielfach angewandt, und 
zwar giebt man meist der Laminaria wegen ihres zwar langsameren, 
aber stärkeren Quellungsvermögens den Vorzug 5). Es ist keine 
Frage, dass bei der Anwendung dieser Stifte der Gedanke an die 
mechanische Erweiterung -des Muttermundes durch die Quellung selbst 
vorwiegt; jedoch erweitert sich der Muttermund thatsächlich auch 
activ durch die Wehenthätigkeit, die ihrerseits eine Folge der Reizung 
ist, welche die Cervicalganglien von der Cervicalschleimhaut her er- 
fahren. Das Quellungsvermögen der Stifte hat seine Bedeutung 
daher mehr darin, dass auch bei fortschreitender Erweiterung des 
Cervicalkanals der mechanische Reiz von seiten des dicker werdenden 
Stiftes fortdauert. 

So erklärt es sich, dass auch die Wirkung einer Gaze-Tam- 
ponade des Cervicalkanals!*) nicht erheblich hinter der der 
Laminariastifte zurückbleibt. 

Was die Technik bei der Anwendung der Laminariastifte an- 
betrifft, so ist sie sehr einfach. Man bringt die Abortierende am 
besten in Steiss-Rückenlage auf einen Tisch, lässt den Damm durch 
einen hinteren Scheidenhalter herabziehen, fasst die vordere Mutter- 
mundlippe mit einer Kugelzange, zieht die Portio bis in den Scheiden- 
gang vor und schiebt nun den Stift so hoch hinauf, dass er durch 
das über dem inneren Muttermund liegende, etwas stärker quellende 
Ende am vorzeitigen Herausschlüpfen gehindert ist. Man nimmt 
dann die Kugelzange ab und legt Tampons vor den Muttermund, 
die den Zweck haben, ein Zurückgleiten des Stiftes vor seiner 
Quellung zu verhüten. Da das nur sicher geschehen kann, wenn 
die Tampons selber festliegen, und da ja, wie wir gesehen haben, 
die feste Tamponade der Scheide an sich den Abort befördert, so 


10 


ist es zweckmässig, sich nicht nur mit einem oder einigen wenigen 
Tampons zu begnügen, sondern die Tamponade ganz kunstgerecht 
auszuführen. 

Die Gaze-Tamponade des Cervicalkanals ist in ganz ähnlicher 
Weise auszuführen. Nachdem man die Portio ebenfalls angehakt 
und vorgezogen hat, führt man das Ende eines etwa 5 cm breiten 
Streifens von Jodoformgaze oder einer sonst antiseptisch behandelten 

Gaze mittelst einer Sonde oder eines Uterusstupfers 
(Fig. 1, vgl. S. 21) ein und schiebt nun möglichst viel von 
dem Streifen nach, ohne jedoch erheblich über den inneren 
Muttermund emporzugehen. Es ist nötig, dabei sorg- 
fältig darauf zu achten, dass der Streifen nur mit völlig 
sterilitierten Instrumenten oder Körperteilen in Berührung 
komınt, da bei der Dehnung des Cervicalkanals immerhin 
kleine, mikroskopische Zerreissungen entstehen, durch 
welche eine Infektion der Abortierenden statt- 
finden könnte. Man lässt nur ein kurzes 
Stückchen des Streifens aus dem inneren 
Muttermunde hervorstehen, und schneidet das 
etwa Überflüssige mit der Scheere ab; denn 
die Gaze wirkt nach Art eines Dochtes drai- 
nierend und könnte noch nachträglich Ent- 
zündungserreger aus der Scheide in den Cer- 
vicalkanal hinaufbefórdern. Auch bei der 
Fig. 1. . _ Gaze-Tamponade empfiehlt es sich, eine Schei- 
a)das ganze In- b)dasobere Enue 5 A i a 
o Cin eal trina den-Tamponade anzuschliessen, jedoch ist sie 
in diesem Falle nicht so unbedingt notwendig, weil ein spontanes 
Herausgleiten des Gazestreifens aus dem Cervicalkanal nicht zu be- 
fürchten ist. 

Eine zweifellos noch mehr beschleunigte Wirkung erlangt man, 
wenn man die Gaze-Tamponade der Cervix mit dem Glycerinver- 
fahren combiniert, also den Gazestreifen vor dem Einführen in 
Glycerin tränkt. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass hierzu 
reines Glycerin zu verwenden und dieses vorher durch Hitze zu 
sterilitieren ist. Nachteilige Wirkungen sind von dem Glycerin 
weder bei dieser, noch bei der vorher geschilderten Anwendung zu 
befürchten; nur bei der Einspritzung grösserer Mengen (100 ccm 





11 





und mehr), wie sie von Pelzer!”) und Anderen zur Herbeiführung 
der künstlichen Frühgeburt angewendet worden ist, treten Schädig- 
ungen der Niere auf. 

Ein anderes Verfahren, das E. Schwarz '*) vorgeschlagen hat, 
besteht darin, dass man 2—3 | einer sehr kalten Bor-, Salicyl- oder 
Sublimatlösung über den inneren Muttermund in das cavum uteri 
spritzt (unter sorgfältigster Vermeidung eines Mitreissens von Luft). 
Die Ablösung des Ei’s in weiter Ausdehnung fördert ungemein die 
Wehen und mit ihnen die Eröffnung des Muttermundes und die 
Ausstossung des Eis. Andererseits ist mancherlei gegen die Methode 
einzuwenden. Aus mechanischen Gründen wird sie meist nur bei 
intactem Ei und, wenig erweitertem Muttermunde wirksam sein; dann 
aber liegt die Gefahr vor, dass sich die Blutung zunächst noch (durch 
Vergrösserung der blutenden Fläche) steigert, ohne dass das Ei ab- 
gehen kann. 

Ganz ähnliche Bedenken erheben sich gegen die Sprengung der 
Blase. Dieses Verfahren zieht zwar den Abort unbedingt nach sich, 
aber man kann kaum sagen, dass es den im Gange befindlichen 
Abort beschleunigt. Andererseits wird durch den Abfluss des Frucht- 
wassers Raum für Blutansammlung geschaffen und eine weitere Ab- 
lösung der Eihäute gefördert, die Erweiterung des inneren Mutter- 
mundes aber verlangsamt. 

Diesen Uebelständen kann man freilich abheifen, wenn man 
den durch Ablauf des Fruchtwassers gewonnenen Raum mit Gaze 
oder mit einer intrauterin eingeführten Gummiblase füllt. Damit 
stellt nian jedoch nur den Zustand künstlich wieder einigermassen 
her, den man durch Sprengung der Blase gestört hatte. Es sind 
also beide Methoden wohl nur nach spontanem Wasserabfluss als 


rationell anzuerkennen. 


* * 
* 


Wenn die bisher genannten Mittel den gewiinschten Erfolg 
haben, so pflegen die eintretenden wehenartigen Schmerzen von der 
Abortierenden als solche erkannt zu werden, und zwar um so deut- 
licher, je weiter die Schwangerschaft bereits vorgeschritten war, und 
selbstverstándlich auch besonders, wenn die Abortierende bereits 
früher geboren hat. Jedenfalls aber empfindet auch die Erstgebärende 
kolikartige Schmerzen und Ziehen im Kreuz. Bei etwas vor- 


12 


geschrittenerer Schwangerschaft kann die Thatigkeit der Uterus- 
Musculatur so energisch auftreten, dass der gesaminte Gebärmutterinhalt 
mit den vorgelegten Tampons aus der Scheide ausgestossen wird und 
der Arzt bei der Rückkehr zu seiner Hilfsbefohlenen den Abort 
vollständig beendet findet. In diesem Falle, d. h. wenn er sich 
durch genaue Besichtigung der ausgestossenen Teile von deren 
Vollständigkeit überzeugt hat, verzichtet er am besten auf jede weitere 
innere Untersuchung oder Vornahme therapeutischer Eingriffe und 
begnügt sich damit, die für das normale Wochenbett üblichen Vor- 
schriften zu erteilen. 

In früheren Schwangerschaftsstadien kommt es zwar nicht leicht 
zu einer völligen Ausstossung bis vor den Scheideneingang, wohl 
aber kann auch hier der Arzt nach Entfernung der Tampons den 
gesammten Uterusinhalt vor dem äusseren Muttermund in der Scheide 
liegend finden, oder das Ei steckt in dem eröffneten Cervicalkanal derart, 
dass man es durch einen geeigneten Druck exprimieren kann. Um 
letzteres zu thun, führt man 2 Finger der einen Hand in das vordere 
Scheidengewölbe und verstärkt zugleich mit der anderen Hand von 
den Bauchdecken her die Proversion des Uterus. Indem man so 
die Fingerspitzen beider Hände einander kräftig zu nähern sucht, 
presst man das Ei aus dem Cervicalkanal oder, soweit es noch im 
Uterus selbst steckt, auch aus diesem heraus!”). Falls der Uterus 
retroflectiert ist, empfiehlt es sich, die Finger in das hintere Scheiden- 
gewölbe zu führen und die Retroversion zu verstärken ?°); jedoch ist 
in diesem Falle das Gelingen der Expression weniger gesichert. 
Misslingt sie, so kann man wohl auch das Ei, soweit es sichtbar ist, 
mit der Kornzange fassen und die Eihäute, indem man sie schnur- 
förmig zusammendreht, extrabieren. 

Ueberaus selten einmal wird man bei noch vollständig zurück- 
gehaitenem Ei triftige Gründe haben, die Ausstossung nicht der 
Thätigkeit der Uterusmuskulatur zu überlassen, sondern den Uterus- 
inhalt selbst, sei es mit den Fingern, sei es mit Instrumenten, aus- 
zuräumen ?!), Unter diesen Gründen kann sich Blutverlust nicht 
wohl befinden, vorausgesetzt, das die Tamponade fest genug war, 
um ein Durchbluten nach aussen zu verhindern, und dass nicht 
etwa der so überaus seltene Fall einer Blutung ins Uteruscavum 
eintritt. Vielmehr sind es jauchig riechender Ausfluss, Schiittelfriste 


13 


und Fiebertemperatur oder unerträglicher Schmerz, die ein längeres 
Abwarten schädlich oder grausam erscheinen lassen. Dass bei 
Jauchung und Infektionskrankheiten der Heerd der Infection, das 
abgestorbene Ei, so schnell als möglich zu entfernen ist, liegt auf der 
Hand, und wenn auch eine Reihe mit Tamponade behandelter 
derartiger Fälle glücklich verlaufen ist, so beweist das gewiss nichts 
für die Richtigkeit der Behandlung. Was den Schmerz anbetrifft, 
so bin ich erstaunt darüber, dass dieser Punkt in so vielen Er- 
örterungen der Abortbehandlung ganz mit Stillschweigen oder mit 
wenigen Worten übergangen wird. Es giebt Frauen genug, die 
während einer Uterus- oder Cervicaltamponade ununterbrochen 
furchtbare Schmerzen empfinden ??), und selbst die Scheidentamponade 
ist bei nicht zu alten Entzündungen des Beckenperitoneums so 
schmerzhaft, dass die Patienten sich in ihrer Qual winden und vor 
Jammer stundenlang schreien. Hat aber der Arzt nur die Aufgabe, 
das Leben seiner Patienten zu erhalten, ohne jede Rücksicht auf die 
Linderung der Qualen? würde er selbst sich von einem Collegen 
nach solchen Grundsätzen behandeln lassen? Die übermässige 
Schmerzhaftigkeit ist sicherlich eine Indication für ein activeres 
Vorgehen; und auch die Lebensverhältnisse der Abortierenden können 
ein solches notwendig machen, wie z. B. die Unmöglichkeit, die auf 
ihr lastenden Arbeitspflichten abzuwälzen, oder die zu grosse Entfernung 
vom Wohnsitze des Arztes und dergleichen mehr, was im speciellen 
Falle zu würdigen Sache des gesunden Menschenverstandes ist, 

Was nun die Art der Ausräumung anbetrifft, so kommt es 
darauf an, ob der Muttermund bereits für einen Finger durchgängig 
ist, oder nicht. 

Ist er für einen Finger durchgängig, so können wir diesen zur 
Ausräumung benutzen. Diese Ausräumung gestaltet sich verschieden, 
je nach dem Alter der Schwangerschaft. Während der ersten drei 
oder vier Monate wird man womöglich ohne Sprengung der Frucht- 
blase das Ei in möglichster Ausdehnung von der Uteruswand loszu- 
schälen und dann durch Druck auf den Fundus von den Bauch- 
decken her zu exprimieren suchen. Platzt dabei die Fruchtblase, so 
vollendet man die Losschälung, streift möglichst die ganze entleerte 
Fruchtblase durch den Muttermund nach aussen oder zieht auch 
zunächst den Fötus an einem Bein heraus, um dann die Fruchtblase 


14 


nachfolgen zu lassen. Gewöhnlich erweitert sich der Cervicalkanal 
durch diese Manipulation noch mehr, so dass die Entleerung keinen 
besonderen Schwierigkeiten begegnet. 


Vom 4. oder 5. Monate an kann ein für einen Finger zugäng- 
licher Muttermund weder die Frucht, noch die ganze Placenta durch- 
lassen. In diesem Falle hat man also mit dem Finger die Frucht- 
blase zu sprengen, einen Fuss des Fötus herunterzuleiten und die 
Hüfte in den Cervicalkanal herabzuziehen; eventl. schlingt man 
diesen Fuss auch noch an und sorgt dafür, dass ein constanter Zug 
daran ausgeübt wird. Es pflegt dann die weitere Eröffnung des 
Muttermundes rasch voranzuschreiten, die Frucht wird geboren, und 
man kann die Nachgeburt mittelst des Credé'schen Handgriffes 
exprimieren. 


Ist der Muttermund nicht für einen Finger durchgängig, so 
kann man ihn mit Dilatatorien (vergl. unten S. 18) in wenigen 
Minuten genügend erweitern. Doch hat man bei Aborten in den 
ersten zwei bis drei Monaten der Schwangerschaft auch die Möglichkeit, 
ohne vorgängige Erweiterung die gesamte Frucht zu entfernen; indem 
man nämlich mit einer schmalen Curette in den Cervikalkanal ein- 
dringt und die Eihäute teilweise losschält, eröffnet sich der Mutter- 
mund genügend, um die Fruchtteile passieren zu lassen. Die Technik 
ist ganz dieselbe, wie bei unvollständigem Abort; bei dessen Be- 
sprechung wird sie sogleich eingehender erörtert werden. Zu- 
weilen (vornehmlich aber, wenn noch das ganze Ei im Uterus 
zurückgehalten ist) kommt es bei dieser instrumentellen Ausräumung 
zu einer sehr starken Blutung, die erst nach Beendigung des Ein- 
griffs steht. Man wird daher diese Art der Ausräumung nicht ohne 
Not wählen; hat man sie aber gewählt, so darf man sich durch die 
Blutung nicht beirren lassen, sondern muss die Operation ohne Über- 
stürzung und ohne Zaudern durchführen. Sobald der letzte Eirest 
aus der Gebärmutter entfernt ist, pflegt die Blutung spontan zu 
stehen. Höchstens bedarf es noch einer heissen Ausspülung und 
Massage, um auch ein letztes Nachsickern von Blut zu unterdrücken. 
Die Zuhilfenahme der Kornzange in der oben geschilderten Be- 


schränkung ist auch bei dieser Ausräumung zulässig. 


x x 
* 


15 


Ungemein häufig erzielt man mit allen den bisher geschilderten 
Massnahmen überhaupt keine vollständige Entleerung der Gebär- 
mutter; es gehen nur einzelne Bestandteile des Eies ab, oft selbst 
ein sehr grosser Teil, aber selbst die spärlichsten im Uterus ver- 
bliebenen Reste) genügen, um die Blutung zu unterhalten. Nun 
kann man zwar, wenn die Blutung eine mässige ist, durch immer 
wiederholte Anwendung von Secale, heissen Ausspülungen, Uterus- 
Reibungen oft ohne operativen Eingriff auskommen, indem schliesslich 
die Eireste necrotisieren und in kleinen Partikelchen abgehn, jedoch 
gereicht eine solche exspectative Therapie meist zum Nachteil der 
Kranken. So klein der Blutverlust ist, so führt er doch allmählich 
zu Anämie; die unaufhörliche Behandlung des Unterleibes macht 
die Kranke nervös; event. stellt sich durch den zu grossen Ver- 
brauch an Mutterkorn Ergotismus ein; in jedem Falle aber kommt 
es zu einer chronischen Hyperämie der Gebärmutter, aus der 
schliesslich eine hyperplastische Metritis und Endometritis wird. 
Aber nicht nur die therapeutischen Eingriffe wirken in solcher 
Weise als Reize, sondern die zurückgebliebenen Eireste selbst ver- 
grössern sich häufig durch Anlagerung von Blutgerinnseln, die sich 
organisieren, und werden endlich zu sogenannten Placentar- 
Polypen, die eine sehr beträchtliche Grösse erreichen und die Gebär- 
mutterhöhle beträchtlich erweitern können. Es ist dann schliesslich 
nicht mehr die beim Abort entstandene Wundfliche, sondern die 
krankhaft entartete Gebärmutterschleimhaut, aus welcher die Blutungen 
stammen, und wenn diese nun auch mehr und mehr wieder die men- 
struelle Periodicität annehmen, so werden sie dafür um so profuser 
und langwieriger, sodass die Anämie der Leidenden mit allen ihren 
Folgeerscheinungen sich dauernd steigert. 

In anderen Fällen bleibt der Blutverlust ein mässiger, aber die 
zurückgehaltenen Eireste verfallen der Jauchung, die nicht nur durch 
den unerträglichen Gestank, sondern auch durch Intoxications- 
erscheinungen zum Eingriffe zwingt. 

Es ist daher unbedingt notwendig, bei jedem unvollständigen 
Abort für baldige Entfernung der zurückgebliebenen Eireste Sorge 
zu tragen, und es fragt sich nur, in welcher Weise dies geschehen soll. 

Das nächstliegende Mittel, zumal wenn man den Muttermund 
für einen oder gar für zwei Finger durchgängig findet, ist, mit dem 


16 


sorgfältig disinficierten**) Finger in die Gebärmutterhöhle einzu- 
dringen, das cavum uteri auszutasten, die dort gefundenen Eireste, 
wenn sie noch festsitzen, abzulösen und zu entfernen. Bei Aborten 
in früheren Schwangerschaftsstadien macht dies meist keine be- 
sonderen Schwierigkeiten. Gelingt es nicht immer, die Eireste mit 
dem zuriickgehenden Finger herauszubefördern, so kommt man, wenn 
sie nur gelöst sind, oft mit der bereits oben geschilderten Expression 
zum Ziele, oder man spült die gelösten Fetzen mit einer antisepti- 
schen Flüssigkeit aus der Gebärmutterhöhle heraus.?4) Die Technik 
ist eine sehr einfache. Es empfiehlt sich auch hierbei die Narcose; 
die Portio ist mittelst einer Kugelzange bis in den Scheideneingang 
herabzuziehen, hier noch einmal mit einem in antiseptische Flüssigkeit 
getauchten Gazebausch abzureiben, und nun der Finger einzuführen, so 
dass er mit der Scheidenwand garnicht in Berührung kommt. Dann erst 
nimmt man die Kugelzange ab, dringt mit einem Teile der Hand in 
die Scheide ein, sodass der Uterus ungefähr in seine normale Lage 
kommt, und drückt nunmehr mit der durch die Bauchdecken wirken- 
den Hand die Wand der Gebärmutter allenthalben dem innen wir- 
kenden Finger entgegen. Man kann auf diese Weise ziemlich sicher 
die gesammte Innenfläche der Gebärmutter austasten. 

In den späteren Schwangerschaftsmonaten besteht der unvoll- 
ständige Abort meist in dem blossen Abgang von Fruchtwasser mit 
partieller Ablösung der Placenta oder in dem Abgang der Frucht 
mit Retention der Placenta. In dem ersteren Falle ist zunächst die 
Extraction der Frucht zu bewirken. Ist der Muttermund noch nicht 
für den Finger durchgängig, so ist es meist leicht, ihn durch die 
sondenförmigen Dilatatorien oder durch den Barnes’schen Dilatator 
(s. u.) so weit zu dehnen, dass man einen Finger einführen und den 
Fuss der Frucht herabholen kann, worauf in der Regel die Fehlgeburt 
spontan fortschreitet. Ist die Frucht abgegangen und nur die 
Placenta zurückgeblieben, so ist diese nach dem Credó'schen Ver- 
fahren zu exprimieren, sofern die Weite des Muttermundes genügt, 
sie durchzulassen. Wenn dies nicht gelingt, geht man mit ein oder 
zwei Fingern in die Gebärmutterhöhle ein, schält die Placenta los 
und sucht sie mit einer schraubenartigen Bewegung der eingeführten 
Finger unter gleichzeitiger Wiederholung der Cred é'schen Expression 
herauszubefördern. 


1? 





Es fragt sich zunächst, ob das digitale Verfahren in jeden 
Falle zu empfehlen ist, in welchem der Cervicalkanal fiir den Finger 
durchgängig ist. Dies kann im Grossen und Ganzen bejaht werden, 
jedoch mit Ausnahme der Fälle, in denen der Arzt nicht lange 
zuvor seine Finger mit stark septischen Stoffen in Berührung 
gebracht hat. Wir dürfen eben nicht übersehen, dass in der Land- 
praxis ein Abtreten des Falles an einen anderen Kollegen selten 
möglich ist; wer aber innerhalb der letzten 48 Stunden etwa ein 
Panaritium eröffnet und seine Finger dabei mit dem ausfliessenden 
Eiter beschmutzt hat, oder wer einen Abscess mit den Fingern 
exploriert, oder wer gar eine fiebernde Wöchnerin untersucht hat, 
würde eine schwere Verantwortung auf sich laden, falls er mit 
denselben Fingern, auch nach móglichster Reinigung, einen Uterus 
wegen Abort austasten wollte, denn ein sicberes Verfahren für die 
Disinfection der Hand ist augenscheinlich noch nicht entdeckt. Es 
liegt also auf der Hand, dass man in solchen Fällen gern zu anderen 
Mitteln greifen wird. 

Eine andere Frage jedoch ist die, was wir thun sollen, wenn 
zwar die eben erwähnten Gründe gegen eine digitale Ausräumung 
nicht vorhanden sind, dagegen der Muttermund zu eng ist, um den 
Finger durchzulassen. Dieses ist insbesondere häufig bei sehr früh- 
zeitigen unvollständigen Aborten der Fall, da dann ein grosser Teil 
der Eihäute recht wohl durch einen ganz mässig erweiterten Cervical- 
kanal durchschlüpfen kann. Aber auch sonst findet der Arzt den Cervix- 
kanal oftmals für den Finger unpassierbar, weil jener sich nach Aus- 
stossung des grössten Teiles des Uterusinhalts rasch wieder 
zusammenzieht. In diesen Fällen zu erwarten, dass sich der Cervical- 
kanal lediglich durch eine Wiederanregung der Wehenthätigkeit spontan 
genügend erweitern könnte, wäre meist vergeblich. Es bleibt also, 
wenn wir die Ausräumung mit dem Finger ermöglichen wollen, nur 
eine wirklich mechanische Dilatation der Cervix übrig: die An- 
wendung der Scheiden-Tamponade ?5), der Cervix-Tamponade, der 
Glycerineinspritzung ist unzweckmässig und es kommen nur in 
Betracht die Quellmittel, die Einschiebung von Dilatatorien in stei- 
gender Dicke, die Einführung und Aufblähung einer Kautschukblase 
oder endlich die blutige Spaltung der Cervix. Jedoch ist auch nicht 


zu vergessen, dass eine für den Finger scheinbar nicht durch- 
9) 


o_ 


18 





gängige Cervix in der Narcose oft noch durch den eindringenden 
Finger gentigend gedehnt werden kann. 

Unter den erwähnten drei Erweiterungsmitteln sind die Quell- 
stifte und die Cervical-Tamponade insofern die unvollkommensten, 
als in den hier betrachteten Fällen, wo eine irgend erhebliche Wehen- 
thätigkeit nicht mehr zu erzielen ist (wenigstens nicht, wenn die 
zurückgehaltenen Eireste nicht sehr erheblich sind), eine ganz be- 
trächtliche Zeit mit ihrer Anwendung verloren geht und sich durch 
ihr langes Verweilen in der Cervix, deren Schleimhaut doch immerhin 
dabei mindestens mikroskopische Verletzungen erfährt, die Infections- 
gefahr beträchtlich steigert. Der sogenannte Barnes’sche Dilatator, 
eine geigenförmige Kautschukblase, die man leer, eng zusammen- 
gefaltet, in den Muttermund einführt und dann durch Luft oder durch 
eine eingespritzte Flüssigkeit aufbläht, leistet in manchen Fällen ganz 
prompte Dienste, jedoch ist die Kraft, die man mit ihm ausüben 
kann, nur eine mässige, und nicht geeignet, einen stärkeren Wider- 
stand der Cervix-Muskulatur zu überwinden. Die von Busch, Sims, 
Scanzoni, Ellinger, Schultze u. A. 2°) angegebenen Dilatatoren, 
deren Wirkungsweise auf der Spreizung von zwei (Sims) oder drei 
(Scanzoni) Branchen nach Art eines Handschuhweiters beruht, sind 
fast völlig aufgegeben worden, da sie nicht gleichmässig wirken und 
selten die Durchlässigkeit für einen Finger herbeiführen. Mit der 
Kornzange erreicht man ungefähr dasselbe und mag sich deren be- 
dienen, wenn die anderen Mittel nicht zur Hand sind. Die besten 
Erfolge erzielt man fast immer mit der Anwendung einer Serie von 
cylindrischen Sonden in steigender Dicke, den Dilatatorien, wie sie 
von Hegar, Schröder, Fritsch u. A. angegeben sind. Die ge- 
ringen Unterschiede in der Form dieser Instrumente sind unwichtig. 
Was das Material anbetrifft, so sind sie aus Glas, Hartgummi oder 
Metall gearbeitet und vielleicht sind unter ihnen die metallnen (nach 
Schröder) vorzuziehen, teils wegen der grösseren Sicherheit der 
Sterilitierung, teils wegen der grösseren Dauerhaftigkeit. Beginnt 
man mit der dünnsten Nummer und lässt man die stärkeren Nummern 
eine halbe Minute bis einige Minuten im Cervicalkanal liegen, so 
gelingt es fast stets, innerhalb ganz kurzer Zeit bis zu derjenigen 
Nummer vorzugehen, die der Dicke eines mässigen Zeigefingers ent- 
spricht, und man kann nunmehr die Ausräumung in der bereits 


19 


geschilderten Weise vornehmen. Auch bei der Einführung dieser 
Dilatatorien empfiehlt es sich natürlich, die Abortierende in Steiss- 
Rückenlage zu bringen und die Portio mit einer Kugelzange in’s 
Gesichtsfeld vorzuziehen. Die Narcose erleichtert das gesammte Ver- 
fahren ausserordentlich. 

Immerhin giebt es nun aber auch Fälle, in denen das Gewebe 
der Cervix derartig starr ist, dass eine Dilatation des Kanals bis 
zur Durchlässigkeit für einen Finger mit den genannten Mitteln 
schlechterdings nicht gelingt. In diesen Fällen wird man wohl meist 
auf die digitale Ausräumung verzichten und sich der Instrumente 
bedienen; jedoch können die zurückgebliebenen Eiteile so gross sein, 
dass sie durch einen so wenig erweiterten Cervicalkanal überhaupt 
nicht herauszubefördern sind, weder mit dem Finger, noch mit 
Instrumenten. Zuweilen mag die sogen. blutige Dilatation, bei der 
man mit irgend einem sinnreich erfundenen Instrument (Simpson, 
Greenhalgh, White, Aveling,°%), oder auch nur mit einem 
geknöpftem Messer?) den inneren Muttermund mehrfach ein- 
schneidet, die Manipulation erleichtern. Bedeutendes leistet sie 
aber gegenüber der unblutigen Dilatation sicher nicht, während sie 
mit den frischen Wunden, die sie setzt, entschieden neue Gefahren 
mit sich bringt. Anders steht es um die vollständige Spaltung der 
Cervix. Schon von Martin?) ist sie für solche Fälle vorgeschlagen 
und ausgeführt worden, in denen eine ausreichende Dilatation nicht 
zu erzielen ist, und zwar empfahl er, in dem einen seitlichen 
Scheidengewölbe durch eine tiefe Umstechung die Aeste der Arteria 
uterina provisorisch zu unterbinden und die Cervix nach dieser 
Seite zu bis in den inneren Muttermund aufzuschneiden. Vorteilhafter 
dürfte es jedoch sein, in der Weise, wie bei einer vorderen Elytro- 
tomie, die Schleimhaut des vorderen Scheidengewölbes median zu 
spalten, die Blase bis über den inneren Muttermund hinauf stumpf 
empor zu schieben und nunmehr die vordere, eventuell auch noch die 
hintere Wand der Cervix median aufzuschneiden. In beiden Fällen 
muss man natürlich die Schnitte sorgfältig wieder durch die Naht 
schliessen und bei dem Martin’schen Verfahren nachher noch die 
provisorische Umstechung der Arteria uterina lösen. Das eine wie 
das andere Verfahren sollte von keinem Arzte ausgeführt werden, 
der es nicht wenigstens schon einmal von sachverständiger Hand 
hat ausführen sehen. > 


20 





Ist einerseits die digitale Ausräumung nicht möglich, anderer- 
seits die Spaltung der Cervix nicht durch die Grösse der zurück- 
gebliebenen Eiteile notwendig gemacht, so kann noch das Verfahren 
der Uterus-Tamponade in Betracht kommen. Der ursprüngliche 
Vorschlag, den Vulliet?") gemacht hatte, dass man sterile Watte 
in die Gebärmutterhöhle einführen solle, bezog sich nur auf diag- 
nostische Zwecke. Er erreichte dadurch, dass er von 48 zu 48 
Stunden eine immer steigende Anzahl kleiner Jodoform-Watte-Tampons 
in das Cavum einführte, innerhalb 9 Tagen bis 5 Wochen eine voll- 
ständige Erweiterung des Muttermundes, so dass er die Innenfläche 
des Uterus photographieren konnte. 

Für den hier betrachteten Zweck haben wohl Dührssen **) 
und Landau!) den Uterus zuerst tamponiert, und zwar nicht all- 
mählich, sondern in einer Sitzung. Auch haben beide sich dazu 
statt der Wattebäusche eines Jodoformgazestreifens bedient. Dieser 
bietet unzweifelhaft den Vorteil, dass man ihn bei Ausbleiben der 
spontanen Ausstossung leichter und vollständiger entfernen kann, 
als die Watte. Ihre Hauptbedeutung hat die Uterustamponade meines 
Erachtens für den Abort in späteren Schwangerschaftsstadien, ins- 
besondere bei starker Blutung, und zwar, wenn man die digitale 
Ausräumung aus Furcht, dass der Finger infiziert ist, nicht wagen 
möchte. Was die Technik anbetrifft, so macht es, wenn der Cervical- 
kanal nicht vollständig geschlossen ist, keine besonderen Schwierig- 
keiten, mit einer langen Pincette oder einer Kornzange ein Ende 
des Gazestreifens bis an den Fundus uteri emporzuschieben und 
allmählich mehr und mehr nachzustopfen, wobei man allerdings vor- 
teilhaft mit der einen, durch die Bauchdecke wirkenden, Hand den 
Fundus uteri zu umgreifen sucht, um einen Widerstand zu schaffen 
und die Gefahr einer Perforation der Gebärmutter zu verringern. 
Es ist also, schon um die Erschlaffung der Bauchdecken herbeizu- 
führen, eine Narcotisierung der Abortierenden dringend zu empfehlen. 
Ist der Cervicalkanal fast völlig geschlossen, so kommt man mit 
Kornzange und Pincette entweder garnicht hinein, oder doch nicht 
hoch genug hinauf. In diesem Falle muss also entweder wieder eine 
Dilatation des Cervicalkanals in der bereits beschriebenen Weise vor- 
ausgeschickt werden, oder man bedient sich eines sogenannten Uterus- 
stopfers, Das von Landau vorgeschlagene Instrument (Fig. 1, S. 10) 


21 





stellt einen leicht gekrümmten, ziemlich dicken Draht dar, dessen Ende 
in vier Knöpfchen ausläuft; diese Gestaltung des Stopfers erschwert 
ein Durchbohren der Gaze insofern, als die vier kleinen Spitzen in 
verschiedene Maschen des Gewebes eindringen. Es giebt noch eine 
ganze Anzahl anderer Modelle von Uterusstopfern, jedoch kann der 
Landau’sche wohl als der zweckmässigste bezeichnet werden. 

Wie dem auch sei: schon der Zweck des Instrumentes, die Gaze 
durch einen ganz engen Cervicalkanal hindurch zu befördern, bringt 
es mit sich, dass es möglichst schlank sein muss und demnach bei 
einigermaasen unvorsichtiger Anwendung leicht eine Perforation der 
Gebärmutterwand verursachen kann. Es wäre ein grosser Irrtum, 
wenn man diese Gefahr verkennen wollte, weil etwa die wenigen 
geübten Specialisten, die sich des Uterusstopfers gewohnheitsmässig 
bedienen, bisher noch kein Unheil damit angerichtet haben. Keines 
der zur operativen Beendigung des Aborts angewandten Instrumente, 
sei es ein Abortlöffel, eine Zange, eine Curette, ist an seinem oberen 
Ende so gestaltet, dass es die Gebärmutterwand leichter zu durch- 
bohren vermöchte, als ein Uterusstopfer; und der Gedanke, dass die 
mit dem Uterusstopfer eingeführte Gaze die Perforation etwa ver- 
hindern könnte, kann uns auch nicht beruhigen, da man ja in der 
Regel das Instrument nur bei ganz engem Cervikalkanal anwenden 
wird und in diesem Falle natürlich nur eine einzige Schicht Gaze 
mit der Spitze des Instrumentes einführt; andererseits wird eine 
Perforation mittelst eines Uterusstopfers insofern nachteiligere Folgen 
haben, als eben mit dem Instrument gleichzeitig die Gaze, nachdem 
sie sich im Cervikalkanal und in der Gebärmutterhöhle mit den dort 
vorhandenen Flüssigkeiten vollgesogen hat, in die Bauchhöhle gebracht 
wird. Ein glatt poliertes Metallinstrument, das durch die Gebärmutter- 
wand in die Bauchhöhle dringt, wird in der Regel die Flüssigkeit, 
mit der es vorher benetzt war, an den Geweben, die es durchbohrt, 
abstreifen und demnach nur ausnahmsweise die Bauchhöhle inficieren; 
dies ist bei dem getränkten Gazestreifen ausgeschlossen; er wird 
sicher einen Teil der Flüssigkeit, die er aufgesogen hat, ın die Bauch- 
höhle mitnehmen und, wenn man ihn zurückzieht, dort zurücklassen. 
In allen Fällen also, wo der Cervicalkanal oder gar die Gebärmutter- 
höhle bereits pathogene Organismen enthielten, ist eine schwere 
Peritonitis als Folge einer solchen Perforation mit grösster Sicherheit 


vorauszusagen. Es sei daher Demjenigen, der die Methode überhaupt 
anwenden will, dringend empfohlen, die Dilatation der Cervix vor- 
auszuschicken und sich zur Füllung des Uterus eines möglichst 
stumpf endigenden Instrumentes zu bedienen. 

Hat man die Uterus-Tamponade ausgeführt, so pflegt allerdings 
fast immer eine Ausstossung des Uterusinhalts nach einigen Stunden 
zu erfolgen; jedoch ist auch so diese Tamponade nicht als ganz un- 
gefährlich anzusehen. Die Blutungen bei unvollständigem Abort 
setzen eine Wundfläche voraus, und die mit dieser Wundfläche in 
Berührung kommende Gaze kann, auch wenn sie vor jeder Berührung 
mit ungenügend sterilisierten Körperteilen und Instrumenten sorgfältig 
bewahrt wird, sich im Cervicalkanal selbst mit pathogenen Organismen 
tränken, die sie nun auf die Wundfläche verimpft. In jedem Falle 
sich vorher zu vergewissern, ob solche Organismen in den Falten 
der Cervicalschleimhaut vorhanden sind oder nicht, ist in der Praxis 
kaum möglich und man wird daher, selbst wenn eine augenfällige 
eitrige Secretion in der Cervix nicht wahrzunehmen ist, immerhin 
noch ein gewisses Risico laufen. Es ist ja nicht zu leugnen, dass 
dieses auch bei der Einführung von Instrumenten vorhanden ist, aber 
jedenfalls gilt auch hier das schon oben Gesagte, dass nämlich die 
Gaze sich bei dem Passieren der Cervix in viel reichlicherem Maasse 
mit den dort vorhandenen Flüssigkeiten belädt, und dass sie diese 
viel ausgiebiger und dauernder mit der Wundfläche im Uterus in 
Berührung bringt. 

Ganz besonders steigern sich diese Bedenken, die in jedem 
Falle gegen die Uterus-Tamponade erhoben werden können, in solchen 
Fällen, wo wir nicht sicher sind, ob schon andere Personen Mani- 
pulationen an der Gebärmutter vorgenommen haben. Lässt sich auch 
in kleinen Ortschaften die Frage, ob bereits ein Kollege oder eine 
Hebamme zugezogen waren, mit Sicherheit entscheiden, so gilt dies 
kaum noch von grösseren Städten; dort können wir fast niemals 
die Möglichkeit eines durch Kunsthilfe herbeigeführten Aborts mit 
Sicherheit ausschliessen. Wie aber die Verhältnisse heute liegen, 
werden criminelle Aborte nur höchst selten unter antiseptischen 
Cautelen eingeleitet, und der Procentsatz der dabei stattfindenden 
Infectionen ist ein ausserordentlich hoher. Selbst abgesehen nun 
davon, dass durch das Einlegen von Gaze in einen bereits septisch 


23 


inficierten Uterus die Gefährlichkeit der Infektion höchst wahr- 
scheinlich gesteigert wird, kann es jedenfalls für den behandelnden 
Arzt nicht angenehm sein, wenn er bei einem unglücklichen Verlauf 
des Falles unsicher darüber bleibt, inwieweit sein eigener Eingriff 
diesen Verlauf verschuldet oder verschlimmert hat. 


Das alles sind Gründe, die wohl geeignet sind, uns die Uterus- 
Tamponade, wo sie lediglich die Entleerung des Uterus herbeiführen 
soll, höchst bedenklich erscheinen zu lassen. Diese Bedenken haben 
aber naturgemäss nichts zu thun mit der Frage, ob man nach voll- 
ständiger Entleerung des Uterus diesen wegen atonischer 
Blutung tamponiren soll. 


Es bleibt nun schliesslich noch die instrumentelle Ausräumung 
zu besprechen. Es giebt Fälle, in denen der Muttermund so erweitert 
ist, dass man, sobald die vordere Muttermundslippe angehakt und in 
den Scheidenausgang herabgezogen ist, Eiteile in der Cervix oder 
unmittelbar über dem inneren Muttermunde liegen sieht. In diesem 
Falle steht selbstverständlich nichts im Wege, mit einer Kornzange*?) 
die vorliegenden Eiteile zu fassen und sie unter drehender Be- 
wegung, die das Abreissen des gefassten Teiles verhindern soll, 
herauszuziehen. Sehr häufig ist es dabei von grossem Vorteil, zwei 
derartige Zangen zur Hand zu haben und den Uterusinhalt.in der 
Weise allmählich zu extrahiren, dass man abwechselnd eine der 
Zangen öffnet und oberhalb der anderen wieder anlegt. Dies wird 
erleichtert, wenn die Zangen Cremaillören haben, weil man dann die 
Portio mit der Kugelzange selber halten und die Kornzangen mit 
der anderen Hand abwechselnd an- und ablegen kann. Andernfalls 
lasse man die Portio durch die Assistenz hervorziehen und nehme 
in jede Hand eine Kornzange. Das beschriebene Verfahren eignet 
sich nicht nur für Placentarteile und Eihäute, sondern in vielen 
Fällen auch für die Extraktion des Fötus selbst. Sehr oft kann 
man in dieser Weise die ganze Frucht unter Controlle des Auges 
aus der Gebärmutter herausziehen, ohne dass die Instrumente mit 
der Wundfläche in der Gebärmutter überhaupt in Berührung kommen. 
Die Besichtigung der hervorgezogenen Massen einerseits und die 
alsbaldige kräftige Contraktion der Gebärmutter sammt dem Aufhóren 
der Blutung andererseits zeigen uns alsdann, dass eine weitere Aus- 


24 





tastung der Gebiirmutter oder die Anwendung anderer Instrumente 
überflüssig ist. 

Jedoch auch wenn der Cervicalkanal nur eben den Finger und 
die Kornzange zugleich passiren lässt, kann man häufig in der 
soeben geschilderten Weise verfahren, da der Finger es ermöglicht, 
die Branchen der eingebrachten Kornzange so zu decken, dass eine 
Perforation ausgeschlossen bleibt, und da er zugleich eine Controlle 
darüber, ob wir Eiteile oder die Uteruswand fassen, auch dem 
Ungeübteren gestattet. Oft genug ist, wenn wir in dieser Weise 
nur erst den Eirest an irgend einer Stelle gefasst und bis in den 
Cervicalkanal herabgezogen haben, ein Herausziehen im Ganzen in 
der bereits oben geschilderten Weise ausführbar, ohne dass wir noch 
einmal mit der Kornzange einzugehen brauchen. 

In der Olshausen’schen Klinik wird statt der Kornzange eine 
(von Winter angegebene) Zange mit löffelartigen Branchen ange- 
wendet, von der ich glaube, dass sie in den allermeisten Fällen 
weniger zweckmässig, als die Kornzange, ist. Zunächst lässt sie 
sich mit dem Finger zugleich nur in einen recht weiten Cervical- 
kanal einführen; sodann aber wirken die Ränder der löffelförmigen 
Branchen, wiewohl abgestumpft, immerhin etwas kneifend, und es 
wird daher mit diesem Instrument viel seltener gelingen, eine 
jüngere oder gar eine macerierte Placenta im Ganzen herauszuziehen. 
Die oben empfohlene abwechselnde Anlegung zweier Zangen ist bei 
dem beträchtlichen Volumen dieses Instrumentes wohl niemals möglich. 
Nur wenn es sich darum handelt, das Köpfchen oder allenfalls den 
Steiss einer kleinen Frucht zu fassen und zu extrahieren, dürfte 
allerdings diese Abortzange von Vorteil sein, doch habe ich immer 
gefunden, dass derartige Extraktionen mit der Kornzange ebenfalls 
ohne besondere Schwierigkeiten ausgeführt werden können. 

Mit solchen Zangen, mag es die eine oder die andere sein, ohne 
Leitung des Auges oder des Fingers in dem Cavum uteri herum- 
zutasten und blindlings zuzugreifen, kann man wohl ohne weiteres 
als einen ärztlichen Kunstfehler bezeichnen. Leicht genug fasst 
man dabei eine Falte der schlaffen Wand und quetscht oder reisst 
sie ein, oder man perforiert den Uterus und fasst eine Darmschlinge, 
die man als solche erst erkennt, nachdem man sie bis vor den 
Muttermund gezogen hat. Bedenkt man überdies, dass auch nicht 


25 


ganz selten eine Perforation bereits vorher von anderer Seite bei 
crimineller Einleitung des Aborts hergestellt sein kann, so wird man 
einsehen, dass selbst ein geschickter Spezialist dazu kommen kann, 
bei solcher Handhabung der Kornzange eine Darmschlinge herab- 
zuziehen, und er ist dann in der traurigen Lage, nicht einmal sich 
selbst, geschweige denn Anderen, den Beweis dafür liefern zu können, 
dass er an der Perforation uuschuldig ist. 

Nächst den Zangen kommen für die Ausräumung des Aborts 
noch die schlingen- und die löffelförmigen Instrumente in Betracht. 
Solche hatten bereits Récamier*?) für die Behandlung der fungésen 
Endometritis und Simon für die des Uterus- Carcinoms längst 
empfohlen. Für die Therapie des Aborts empfahl dann Weikert*) 
zuerst eine federnde Metallschlinge, mit der man wesentlich nur 
gelöste Eireste aus der Gebärmutter entfernen konnte. Bald darauf 
schlug Thomas?) die Anwendung des Simon ’schen scharfen Löffels 
zur Ausräumung von Molen, Spiegelberg**) zur Beendigung des 
unvollständigen Aborts vor. Dem Beispiel des letzteren folgten 
Schede*’) und Mund&.?) Dieser wandte auch neben dem Löffel 
cine Schlinge aus biegsamem Kupferdraht, wie sie Thomas*5) zur 
Behandlung der fungösen Endometritis benutzte, an. Fehling?!) 
dürfte der erste gewesen sein, der auch die Récamier’sche Curette 
für die AbortbehandInng empfahl, die ebenfalls eine Art Schlinge 
darstellt, aber statt aus cylindrischem Draht, aus einem Metallbande 
mit mehr oder minder scharfer Kante gebogen ist. 

Es ist im Grunde nicht besonders wichtig, welche der beiden 
Formen man anwendet, ob Löffel, ob Schlinge, denn die Ablösung 
der Eiteile erfolgt immer nur durch den mehr oder minder scharfen 
Rand des Instrumentes, und wenn auch bei dem schlingenförmigen 
Instrument die losgeschabten Eiteile durch die Schlinge durchgehen, 
so ist doch auch bei dem löffelförmigen die Concavität niemals so 
beträchtlich, dass sie den gesammten Uterusinhalt aufnehmen und 
herausbefördern könnte. Zuweilen fangen sich gerade in dem 
schlingenförmigen Instrument grössere Stücke derartig, dass man sie 
herausziehen kann; dies kann befördert werden, wenn man dem 
Fenster des Instrumentes eine gegen das Ende hin spitz zulaufende 
Form giebt, sodass sich die in das Fenster geratenden Fetzen in 
dessen spitzem Winkel festklemmen. Sonst werden sie durch die 


schabende Bewegung selbst dem Muttermunde genähert und durch 
den Cervicalkanal hindurchgeschafft; soweit dies nicht der Fall ist, 
pflegt eine auf die Ausschabung folgende Ausspülung der Gebiir- 
mutterhöhle alles bereits Gelöste herauszubefördern. 

Wichtiger, als das Fehlen oder Vorhandensein eines Fensters, 
ist die Form des Löffels, die Beschaffenheit seines Randes, die Stellung 
seiner Schneide zu der Längsaxe und endlich die Starrheit oder 
Biegsamkeit des Stieles. 

Was die ersten drei Punkte anbetrifft, so ist es zweckmässig, 
in seinem Instrumentarium wenigstens einen Löffel zu haben, der 
völlig stumpf und breit endigt, und dessen Ende völlig rechtwinkelig 
gegen den Stiel gebogen, ja sogar ein wenig vorwärts umgerollt ist. 
Dieser Form entspricht der Abortlöffel, der in dem Kataloge der 
Firma Chr. Schmidt, Berlin N., Ziegelstr., — wie ich höre, irr- 
thiimlich — als Winter’scher Abortlöffel bezeichnet ist. Durch eine 
etwas andere Gestaltung des Fensters habe ich seine Brauch- 
barkeit noch zu erhöhen gesucht. (Siehe Figur 2a u. b.) 

Mit diesem Instrumente kann man eine Perforation 
kaum zu stande bringen, wenn man nicht ungewöhnlich 
roh verfährt, und es ist vorzüglich geeignet, um durch 
einen ziemlich weiten Muttermund grössere Eireste her- 
auszubefördern. Nur bei bereits weit vor- 
geschrittener Schwangerschaft ist die Ge- 
fahr einer Perforation ziemlich gross, nicht 
wegen der geringeren Consistenz der 
Uteruswand, sondern wegen ihrer grossen 
Schlaffheit ausserhalb der Wehen. Es 
wird sich daher fragen, ob nicht in 
solchem Falle der Tamponade oder der digi- 
LEN A men Ausriumung der Vorzug zu geben 
a Das ende atiri. Grösse, St, letzterer ev. selbst dann, wenn man 
kurz vorher mit Eiter oder Leichenteilen zu thun hatte. Eine sehr 
griindliche Bearbeitung der Finger mit Schleich’scher Marmorseife 
und Disinficientien kann die Infektionsgefahr doch immerhin soweit 
reduzieren, dass sie geringer wird, als die Gefahr einer von un- 
geübten Händen ausgeführten instrumentellen Ausräumung in einer 
so weit vorgerückten Schwangerschaftsperiode. 


SCHMIDT BERLIN 





31 


Was nun die übrigen Formen von Ausräumungsinstrumenten 
anbetrifft, so ist der Simon’sche Löffel nicht unzweckmässig, doch 
wendet man statt seiner lieber die sogenannte Roux’sche Curette 
an, die eigentlich auch ein Löffel ist, nur dass dieser ausserordent- 
lich lang gestreckt ist und gerade Seitenränder hat. Ein Fenster ist 
an dem Originalmodell nicht vorhanden; in den von mir benutzten 
Instrumenten (s. Fig. 3) habe ich ein spindelförmiges Fenster 
ausschneiden lassen, in dessen spitzen Enden sich Zottenbündel und 
Eihautfetzen leicht fangen. Die Roux’sche Curette wird meistens 
so gearbeitet, dass ein Stiel an seinen beiden Enden Löffel von ver- 
schiedener Grösse trägt; bedeutend bequemer für die Handhabung ist 
es jedoch, wenn man jeden dieser Löffel mit einem besonderen Stiel 
versehen lässt; ich benutze drei Nummern von 6, 8 und 10 mm Breite. 
Für die Ausräumung des Aborts genügt es vollständig, wenn die 
Ränder des Löffels stumpf sind, während allerdings für die Behand- 
lung der Endometritis ein etwas schärferer Löffel Vorteile bietet. 
Den äussersten Schnabel des Löffels ein wenig emporzubiegen, wie 
diesan dem Originalmodell der Fall 
ist, halte ich für überflüssig und 
glaube, dass dadurch die Perfora- 
tionsgefahr etwas erhöht wird. Der 
Vorteil, den dieses Instrument 
gegenüber anderen bietet, besteht 
darin, dass man die langen Seiten- 
ränder des Löffels zum Losschälen 
der an der Uteruswand fest haf- 
tenden Eiteile benutzen kann. Es 
ist natürlich ganz unmöglich, hier- 
bei den Uterus zu perforiren oder 
auch nur durchzuschaben, und man 
löst mittelst einer einfachen drehen- 

2 den Bewegung verhältnismässig 
aa a 6 Yn x A sehr grosse Flächen ab. Nur für 
das ganze In- das obere Ende in natirlicher die Auskratzung des Fundus und 

strument Gıösse. N 

verkleinert. der Uterusecken muss man sich 
des äussersten Endes des Löffels bedienen und dabei ist natürlich 
die Perforationsgefahr genau so gross oder so gering, als bei irgend 







SCHMIDT BERLIN 





28 


einer anderen Curette, vorausgesetzt, dass der Durchmesser der End- 
kriimmung bei beiden Instrumenten gleich gross ist. Das Schaben 
mit dem Seitenrande des Löffels kann zwar nicht mit der gleichen 
Kraft ausgeführt werden, wie das ziehende Schaben mit dem Löffel- 
ende, indessen ist ein besonderer Kraftaufwand bei der Abort- 
ausräumung in der Regel auch nicht notwendig und es ist vielleicht 
sogar besser, wenn die Form des Instrumentes einen solchen. Kraft- 
aufwand verhindert. 

Die Récamier’sche Curette 3?) ist, wie gesagt, eine Schlinge aus 
einem schmalen Metallbande, das in etwa schaufelförmiger Gestalt 
gebogen ist; die eine Kante dieses Metallstreifens ist ziemlich scharf. 
Bei der Anwendung des Instrumentes streift diese scharfe Kante 
annähernd senkrecht auf der Uterusfliiche stehend über diese hin, 
und schabt dabei die anhaftenden Eireste los. Die Bewegung erfolgt 
in der Regel in der Richtung der Liingsaxe. Aus diesem Grunde 
kommt immer nur ein verhältnismässig kurzer Teil der Schneide mit 
der Uteruswand in Berührung und kann bei zu starkem Druck und 
bei grosser Weichheit der Uteruswand leicht eine Rinne und selbst 
ein Loch herausschaben, allerdings auch nicht leichter, als dies mit 
der Roux’schen Curette möglich ist, wenn man deren Ende statt 
des Seitenrandes zum Schaben benutzt. Dies gilt, wenn der Stiel 
und die Schlinge der Récamier’schen Curette genau in derselben 
Ebene liegen und das Metall- 
band, das die Schlinge formt, 
genau senkrecht auf dieser 
Ebene steht (Fig. 4a) ; sobald je- 
doch, wie es leider hiiufig der Fall 
ist, die Stellung der Schlinge 
(Fig. 4 b, c), oder innerhalb 
der Schlinge die Stellung des 
Metallstreifens (Fig. 4 d) von der 
eben gegebenen Norm abweicht, 
gräbt sich die Schneide beim 
Zurückziehen nach Art eines 
Pfluges in die Uteruswand ein, 
und kratzt einen immer stärker 
und dicker werdenden Streifen 
Muskulatur aus der Uteruswand heraus, so dass schliesslich nicht 





a 


Fig. 4. 
Rocamier's Curette, a richtige Form, 
b, c, d falsche Formen. 


29 


etwa nur eine einfache Perforation, sondern ein langer spitzwinkeliger 
Lappenriss zu Stande kommen kann. Gilt dies auch nur fiir einen 
schlaffen, zum Teil schon in fettiger Riickbildung begriffenen Uterus, 
so haben wir es doch gerade bei der Abortbehandlung mit einer 
solchen Beschaffenheit der Gebärmutterwand so häufig zu thun, dass 
in der That der geschilderte Fehler in der Form der Curette als ein 
sehr wichtiger bezeichnet werden muss. Ein weiterer Fehler ist 
meines Erachtens die Biegsamkeit des Stieles dieser Curette. 
Hierüber besteht allerdings bei sehr bekannten Autoritäten die 
durchaus entgegengesetzte Ansicht); ich kann aber nicht umhin, 
bei der meinigen zu bleiben. Ein Instrument dieser Art, dessen 
Stiel biegsam ist, verbiegt sich bei der Benutzung überaus leicht 
und oftmals in mehrfachem Sinne; man weiss dann also beim Schaben 
nicht einmal sicher, wo sich die Schlinge befindet und welche 
Stellung sie einnimmt. Eine systematische Abschabung der ge- 
samten Innenfläche wird dadurch sehr erschwert. Ein mehrfach 
wiederholtes Herausziehen des Instrumentes behufs Orientierung 
über seine Form oder Wiederherstellung derselben, ist der Patientin 
auch nicht nützlich. Vor allen Dingen aber ist gar nicht zu 
vermeiden, dass bei der Verbiegung auch jene fehlerhaften Formen 
entstehen können, über die ich soeben gesprochen habe, bei 
denen nämlich die Schneide der Curette nicht mehr senkrecht 
auf der Ebene des Stieles steht und sich deshalb in die Muskulatur 
pflugartig eingraben kann. Schliesslich sei auch noch daran erinnert, 
dass ein gerader starrer Stiel die Vorstellung von der Form und 
Beschaffenheit des Uterusinnern unserem Tastgefühl bei weitem 
korrekter übermittelt. Dass die Biegsamkeit des Stieles irgend 
welchen Nutzen brächte, der diese Nachteile aufwiegt, muss ich 
bestreiten. Sie mag vielleicht einer Übertreibung des Kraftaufwandes 
insofern hinderlich sein, als sich das Ende der Curette bei gar zu 
starkem Druck rückwärts biegt, indessen liegt es ja auf der Hand, 
dass Niemand eine solche Operation vornehmen soll, der nicht im- 
stande ist, seinen Kraftaufwand mit eigenem Willen und Bewusst- 
sein zweckentsprechend zu regulieren. Auch dass man die Curetto 
vor ihrer Anwendung der Uterusform entsprechend biegen kann, 
bietet keinen Nutzen. Der abortierende Uterus ist so weich, dass 
er den Formen der Curette vollständig folgt, zumal da man ja auch 


30 


nach Bedarf den Griff des Instruments heben und senken kann; und 
eine Biegung, die das Instrument fiir die Ausschabung der einen 
Uteruskante etwas geeigneter machen soll, wiirde es um so un- 
geeigneter fiir die Ausschabung der anderen Uteruskante oder des 
Fundus oder der Vorder- oder Hinterwand machen. Man wiirde 
also dazu gelangen, fiir eine einzige Auskratzung das Instrument 
wenigstens fiinfmal in eine andere Form zu bringen. Aus allen diesen 
Griinden bin ich also entschieden dafiir, das Instrument aus einem 
unbiegsamen Material herzustellen. 

Was nun die Technik der Anwendung betrifft, so hat man die 
Abortierende wieder in Steiss-Rückenlage mit emporgezogenen Knieen 
zu bringen, den Damm durch einen Scheidenhalter herabzuziehen, 
die vordere Muttermundlippe mit einer Kugelzange zu fassen und 
bis in den Scheideneingang hervorzuziehen, und die Portio mit einer 
antiseptischen Fliissigkeit abzureiben, bevor man das Instrument 
einführt. Auf das Entschiedenste rate ich, die Abortierende zu 
narkotisieren, wenn nicht im Einzelfalle besondere Gründe dagegen 
sprechen. Der Schmerz der Operation ist zwar meist ein sehr 
geringer, aber eine unwillkürliche plötzliche Bewegung, ein Husten- 
stoss, ein Niesen der Abortierenden, können bewirken, dass durch 
die Bauchpresse selbst dem Operateur der Uterus förmlich auf die 
Curette getrieben wird und die Perforation entstanden ist, ehe selbst 
der geschickteste und aufmerksamste Spezialist sich der plötzlich 
entstandenen Gefahr bewusst wird. 

Es ist stets ratsam, die Ausräumung mit einem möglichst breiten 
Instrument vorzunehmen, da sich die Perforationsgefahr dadurch 
erheblich vermindert. Dem setzt aber natürlich der Zustand des 
Muttermundes gewisse Schranken. Es giebt Fälle, in denen selbst 
für die schmälste Nummer der Curette der Cervicalkanal nur mit 
Mühe zu passieren ist. Mit Recht hat man darauf aufmerksam 
gemacht, dass gerade, wenn man die Curette mühsam durch einen 
derartig engen Muttermund durchzwängt, das Instrument leicht in 
dem Augenblick, wo es den Widerstand überwunden hat, in die 
Tiefe fährt und eine Perforation hervorbringt, ehe noch das Aus- 
schaben begonnen hat. Dies kann man nun vermeiden, indem man 
die Curette sehr kurz, etwa 4—5 cm oberhalb ihres äussersten Endes, 
fasst, solange dieses den Muttermund nicht passiert hat. Fährt sie 


31 





nun hinein, so kann sie nicht weiter kommen, als bis die Finger, 
die sie halten, an die Portio stossen, und es ist unmöglich, dass ihre 
Spitze dann die gegenüberliegende Uteruswand erreicht oder gar 
durchbobrt, Nun erst lässt man los und fasst das Instrument etwas 
höher am Stiel, um es weiter einwärts zu schieben. Sehr häufig 
sieht man nun, dass schon nach den ersten schabenden Bewegungen 
infolge des Reizes, den diese auf die Gebärmutter ausüben, der 
Cervicalkanal sich spontan erweitert; man kann die Curette mit 
Leichtigkeit wieder herausziehen und ohne die geringste Mühe 
eine wesentlich grössere Nummer einführen. Diese Erfahrung 
legt es also nahe, vor der Anwendung besonderer Dilatatoren 
erst die Einführung der kleinsten Nummer der Roux’schen 
Curette zu versuchen; nur wenn dieser Versuch nicht gelingt, 
oder wenn er zwar gelingt, aber ein spontanes Weiterwerden 
des Cervicalkanals ausnahmsweise nicht erfolgt, greife man zu den 
Dilatatorien; wendet man diese einmal an, so gehe man gleich 
soweit, dass die Einführung ganz grosser Curetten möglich ist. Eine 
stehende Regel für die Benutzung der Curette ist die, dass man 
beim Aufwärtsschieben das Instrument überaus lose zwischen den 
Fingern halte, sodass es bei jedem Widerstande, den es trifft, zwischen 
den haltenden Fingern gleitet; erst bei dem seitlichen oder rück- 
wärts ziehenden Schaben fasse man es etwas fester, im allgemeinen 
aber soll man es niemals fester halten, als unbedingt nötig ist. Ein 
zu häufiges Herausziehen und Wiedereinführen ist durchaus zu ver- 
werfen, da der Cervicalkanal, den die Curette jedesmal wieder 
passieren muss, in keinem Falle völlig unverdächtig ist und somit 
die Infektionsgefahr dadurch gesteigert wird. Hat die Curette im 
Innern des Uterus Alles losgeschält, so kann die Entleerung nach- 
träglich erfolgen, sei es, dass ein einziger Zug der Curette die ganze 
zusammenhängende Masse herausbefördert, sei es, dass man die 
Gebärmutter in der bereits beschriebenen Weise exprimiert, sei es 
endlich, dass man sie ausspült. Damit soll natürlich nicht gesagt 
sein, dass nicht unter Umständen einmal ein mehrmaliges Ein- und 
Ausführen des Instruments doch von Vorteil oder gar notwendig 
sein wird. 

Eine solche Ausspülung der Gebärmutterhöhle folgen zu lassen, 
halte ich für durchaus wünschenswert: vor allem eben auch zur 


32 


Entfernung der letzten kleinen Eireste. Sie bietet aber noch den 
weiteren Vorteil, dass ein Zusatz eines Antisepticums zu der Flüssigkeit 
immerhin geeignet ist, solche Keime noch herauszubefördern oder 
abzutöten oder wenigstens in ihrer Entwickelungsfähigkeit zu 
schwächen, die etwa bei der Operation in den Uterus gelangt, aber 
noch nicht in die Gewebe verimpft sind. Es kommt dazu, dass 
einige dieser Antiseptica zugleich eine leicht adstringierende Wirkung 
ausüben, und endlich, dass man durch Anwendung einer heissen 
Spülflüssigkeit von 50°C. kräftige Contractionen der Muskulatur 
und ein promptes Aufhören der Blutung begünstigt. Wie bei jeder 
intrauterinen Ausspülung, muss auch hier die Vorsicht geübt werden, 
die Flüssigkeit ohne jede Beimischung von Luftblasen einlaufen zu 
lassen, da sonst eine Luftembolie die Folge sein könnte Für 
genügenden Rücklauf des Wassers muss ebenfalls gesorgt sein; man 
bediene sich entweder eines der zahlreichen Uteruskatheter, die zu 
diesem Zwecke konstruiert sind, oder man führe die Schlauchspitze 
in kurzen Zeiträumen mehrmals abwechselnd eine kurze Strecke 
in den Cervicalkanal ein und ziehe sie wieder heraus; eine eigene 
Spülvorrichtung an den Curetten, wie Freund und Rheinstädter 
sie angegeben haben, erschwert die Handhabung des Instrumentes. 
ohne gegenüber der vorgängigen und nachfolgenden Spülung Vorteile 
zu bieten. Carbol- oder Lysolzusatz zu der Spülflüssigkeit ist nicht zu 
empfehlen, da zuweilen heftige Intoxikationserscheinungen danach auf- 
treten. Auch Sublimat ist in dieser Hinsicht nicht ganz unverdächtig, 
es dürfte überdies oft unwirksam sein, weil es mit den in der 
Uterushöhle liegenden eiweisshaltigen Massen sofort unlösliche Ver- 
bindungen eingeht. Sehr zweckmässig habe ich den Zusatz von 
Formalin oder Chinosol gefunden. Formalin wende ich ins- 
besondere stets an, wenn der Verdacht oder die Sicherheit der 
Sepsis vorliegen. Ich habe dann sogar in der Regel schon vor der 
Auskratzung eine Formalin-Einspritzung (2%, Formaldehyd) vor- 
genommen. Die keimtótende Kraft dieses Mittels ist eine ausser- 
ordentlich grosse, und es dringt auch, ohne unlösliche Verbindungen 
einzugehen, in ziemlich beträchtliche Tiefe. Seine Anwendung ist. 
wonn man nicht gar zu schwache Concentrationen nimmt, schmerzhaft, 
sodass es sich nur für Operationen in Narcose eignet. Die An- 
wendung von Eisenchlorid, sei es als Zusatz zur Spülflüssigkeit, sei 


33 


es in Form des unverdünnten Liqu. ferri sesquichlorati zum Aus- 
spritzen oder Auswischen der Gebärmutterhöhle, halte ich für durchaus 
verwerflich. Nach einer regelrecht durchgeführten Ausräumung 
ist sie überflüssig, nach einer unvollständig durchgeführten täuscht 
sie uns durch augenblickliche Stillung der Blutung über die Gefahr, 
die durch Abstossung der Gerinnsel nachträglich wieder eintreten kann. 
In jedem Falle sind diese Gerinnsel der Jauchung sehr zugänglich. 

Nach Beendigung der Operation eine Scheidentamponade anzu- 
schliessen, halte ich für durchaus unnötig, da wir uns dadurch nur über 
eine etwa fortdauernde Blutung eine zeitlang täuschen lassen können, 
ohne dass der Tampon diese dauernd zu stillen vermag. Blutet die Gebiir- 
mutter nach der Ausräumung ungeachtet einer heissen Ausspülung 
fort, so ist fast ausnahmslos noch ein Eirest zurückgeblieben, und 
es empfiehlt sich durchaus, unter Anwendung aller vorher geschilderten 
Vorsichtsmassregeln nochmals mit dem Instrument einzugehen und 
diesen Eirest zu suchen. Unter Umständen, d. h. wenn nicht 
überhaupt Gründe gegen die Anwendung des Fingers sprechen, 
würde man natürlich auch diesen in solchen Falle zur Austastung 
der Gebärmutter anwenden können. Immerhin ist es für den 
einigermassen Geübten nicht schwer, bei einer nochmaligen sorg- 
fältigen Umherführung der Curette im Uteruscavum die Sicherheit 
zu gewinnen, ob noch irgendwo ein Eirest sitzt oder nicht, und ihn 
im ersteren Falle zu entfernen. 


* * 
xk 


Ist der Abort, sei es spontan, sei es mit Kunsthülfe, wirklich 
beendigt, d. h. sind sicher keine Eireste zurückgeblieben, so bleibt 
für die Nachbehandlung meist sehr wenig zu thun. Ueberzeugt man 
sich danach, dass der äussere Muttermund wieder ziemlich fest 
geschlossen ist, so wird man zweckmässig eine Scheidenausspiilung 
mit einem schwachen Desinficiens. vornehmen, da doch immerhin 
die Tampons und die manuelle Untersuchung pathogene Keime in 
die Scheide getragen haben können. Findet man dagegen den 
Muttermund noch klaffend, so ist es besser, auf die Scheiden- 
ausspülung zu verzichten, da diese gar zu leicht Keime aus der 
Scheide in die Gebärmutterhöhle und auf die dort befindlichen Wund- 
flächen verschleppen könnte. Höchst selten einmal wird eine atonische 


Blutung fortbestehen oder nach kurzer Pause wieder eintreten. Ist 
3 


34 

man sicher, dass keine Eireste zuriickgeblicben sind, so mache 
man heisse Scheidenausspülungen (etwa 31 von 50° C.) und unter- 
breche diese mehrmals, um die Gebärmutter zu massieren. Diese 
Massage nelme man ganz in derselben Art vor, wie das oben 
geschilderte Ausstreichen oder Exprimieren, und vermeide dabei, 
das Organ gar zu kräftig auf die Symphyse zu drücken, da hierbei 
leicht Hämatome in der Vorderwand und Sugillationen in der Blasen- 
schleimhaut entstehen. Kumpf?°) empfiehlt bei atonischen Blutungen 
post partum die „Zitterdrückung“, die man wohl auch nach Abort 
in späteren Schwangerschaftsstadien versuchen könnte. Die Methode 
besteht darin, dass man die Fingerspitzen mit steifgestreckten Arm 
über den Fundus uteri auf die Bauchdecken aufsetzt und möglichst 
rasche Drückungen ausübt. Auch Secale ist nach wirklich voll- 
ständiger Entleerung des Uterus ein vorzügliches Mittel. Ich 
bevorzuge das Extr. secal. corn.-sphacelin. in Suppositorien (0.25 
zwei- bis dreimal täglich. Will dies alles nicht helfen, so würde 
die Ausstopfung der Gebärmutter mit Judofurmgaze auszuführen sein. 
Jedoch muss ich gestehen, dass mir .ein Fall, indem diese nötig 
gewesen wäre, noch nie zu Gesicht gekommen ist, und ich möchte 
fast glauben, dass in allen Fällen solcher hartnäckigen Atonie noch 
kleine Eireste übersehen worden sind. Die übrige Nachbehandlung 
unterscheidet sich nicht von der des normalen Wochenbetts, ausser 
dass man bei Aborten in früheren Schwangerschaftsmonaten die 
Bettruhe kürzen und die Arbeit wesentlich eher wieder aufnehmen 
lassen kann. 


Anmerkungen. 


1) „Abortus“ in dieser Bedeutung bereits bei Terentius, „abortio‘ zweimal 
bei Cicero (Client.). 

?) Gewisse Schulen (Gusserow, Dührssen, Runge) unterscheiden einen 
Abortus im engeren Sinne (bis zum 3. Schwangerschaftsmonate einschl.) von einem 
Partus immaturus (vom 4. Schwangerschaftsmonate bis zur 28. Schwangerschafts- 
woche einschl.). 

$) Ein näheres Eingehen anf die Ätiologie liegt nicht im Rahmen dieser 
Erörterung. 

4) Dohrn (Über Behandlung der Fehlgeburt, in: Volkmann's Samml. klin. 
Vortr. No. 42, Gyn. No. 14, p. 352) vertritt die von den meisten Autoren nicht 
geteilte Ansicht, dass ein für den Finger durchlässiger Cervical-Kanal für die 
Unaufhaltsamkeit des Aborts nicht beweisend sei. 


5) Cordes, de la rétention du placenta après l’avortement, in: Annales de 
gynécologie, VI, 1876, p. 247. 

8) Kiwisch, Beitr. z. Geburtsk. X, 1, 1846, p. 117. 

> Schöller, der Tampon, ein neues Verfahren z. Veranst. d. ktinstl. Früh- 
geburt, Berlin 1841; hier ist nicht sowohl auf die blutstillende, als auf die wehen- 
erregende Wirkung des Scheidentampons hingewiesen. 

*) Diese Angabe ohne näheren Nachweis der bez. Publikation entnehme ich 
dem „Geburtshülflichen Vademecum“ von Dührssen, 5. Aufl., p. 95. 

*) O. Schäffer, Bekämpfung der post partum- und parenchymatösen Höhlen- 
Blutungen mittelst nicht drainierender imprägnierter Gaze (nach einem Vortr. auf 
d. 68. Naturforscher-Vers. zu Frankf. a./M. 24./9. 96) in: Münchener Med. Wochen- 
schrift, 1896, No. 40, p. 945. 

1°) Zuerst hatte Hüter eine Tierblase vorgeschlagen; an deren Stelle setzte 
C. v. Braun die Gummiblase (Colpeurynter); zunächst sollten beide Mittel nur 
die ktinstliche Frühgeburt anregen, und wurden erst später auch in die Abort- 
Behandlung eingeführt. 

1) Kossmann, Glycerin zur Einleitung der Geburtsthätigkeit, in: Therapeut. 
Monatshefte 1896, Juni. Die Einspritzung grösserer Mengen in das Uteruscavum 
war bereits von Pelzer, Arch. f. Gyn., Bd. 42, Heft 2, empfohlen worden, hat 
sich aber als gefährlich erwiesen. 

12 Simpson, Monthly Journ. of med. science, Aug. 1841, p. 734. 

— On the complete evacuation of the uterus after abortion, 
Edinburgh med. journal, May 1876, p. 961. 

13) Sloan, Glasgow medical journal 1862, Oct. 

144 Sussdorf, New-York Medic. Record 1877, Oct. 27th. 

1) Landau, Uber Erweiterungsmittel der Gebärmutter, in: Volkmann's 
Samml. klin. Vortr., No. 187 (Gyn. No. 55), tritt warm ftir die Tupelo-Stifte cin. 

16) Von Hofmeier empfohlen, vgl. Dölger, Münch. med. Wochenschr. 1889, 
No. 13, und Nebel, Centralbl. f. Gyn. 1889, S. 888. 

13) Pelzer, Archiv f. Gyn. Bd. 42, Heft 2, 

18) E. Schwarz, Zur Behandlung der Fehlgeburten, in: Volkmann's Samml. 
klin. Vortr., No. 241 (Gyn. No. 66). Zur Einleitung der kiinstl. Frithgeburt 
schon ähnlich von Cohen (Neue Zeitschr. f. Gebh. Bd. 21, 1846, p. 116) 
ausgeführt. 

:N Höning, Scanzoni’s Beiträge, Bd. VII, p. 213 (empfiehlt auch, den 
Fundus auf die Symphyse zu dritcken). 

Ahlfeld, Über bimanuelle Placentar-Expression, in: Schmidt's Jahrbiichern, 
1877, Bd. 174, p. 43. 

20) Diese Handstellung hat Fritsch (Klinik d. geburtshülfl. Operationen, 
4. Aufl., p. 286) ebenfalls empfohlen. | 

1?) Seit langer Zeit währt der Streit um die Berechtigung eines rein ex- 
spektativen oder eines mehr aktiven Vorgehens. Für das letztere sind besonders 
Fehling (Uber d. Behandl. d. Fehlgeburt, Arch. f. Gyn. XII, 1878, p. 222 ff), 
Spöndly (Über d. aktive Einschreiten bei Abortus, Zeitschr. f. Gebh. u. Gyn. 
IX, p. 91), v. Weckbecker (Über d. Anw. d. scharfen Löffels, in: Arch. f. Gyn. 
XX, p. 236 ff., 1882), Dührssen (Zur Path. u. Ther. d. Aborts, in: Arch. f. 
Gyn. XXXI, 1887, p. 161 ff., behauptet, dass in den ersten 2 Monaten der 
Schwangerschaft die Decidua vera stets zurückbleibe), gegen dasselbe besonders 


36 





—— 


J. Veit (Über d. Behandl. der Fehlgeburt, in: Zeitschr. f. Gebh. u. Gyn. IV, 
1879, p. 180) eingetreten. 

22) Kreis, Der Pressschwamm, ein Mittel zur spontanen Ausstossung etc., 
in: Berl. klin. Wochenschr. 1872, No. 26, p. 309, berichtet auch über einen solchen 
Fall, in dem die Pat. erklärte, bei rechtzeitiger Geburt nie so gelitten zu haben. 

23) Ich benutze zur Reinigung und Disinfektion der Hand zunächst die 
Schleich’sche Marmorseife (zu beziehen von der Belle-Alliance-Apotheke zu Berlin, 
SW., Belle-Alliancestr. 12), die erst ohne Wasserzusatz auf der Haut gründlich 
verrieben, dann mit Wasser weiter verarbeitet wird. Nachdem sie abgespiilt 
worden, bürste ich noch mit einer 1 °/,, Chinosol-Lisung. 

24) Schon Levret empfahl, Eireste (auch ohne vorgängige digitale oder 
instrumentelle Lösung durch einen mittels einer Spritze injizierten kräftigen Stralıl 
warmen Wassers) zu entfernen. 

25) Dieser Meinung ist auch Schwarz (l. c., cf. 12a). 

20) Man findet diese obsolet gewordenen Instrumente in den Katalogen 
grisserer Instrumentenhandlungen abgebildet; vgl. auch Landau (Anmerk. 31). 

27) Breslau, Zur Lehre vom unvollkommenen Abortus, in: Wiener med. 
Presse, 1866, No. 40—42. 

2) Martin, Pathologie und Therapie der Frauenkrankheiten, III. Aufl., 
1893, p. 26 (auch schon in fritheren Auflayen). 

2) Vulliet, Sur un nouveau moyen de dilatation permanente de la matrice, 
Revne med. de la Suisse Romande, V, 1885, p. 682. 

8%) Dührssen, Zur Pathol. und Therapie des Aborts, Arch. f. Gyn. XXXI, 
1887, p. 161 ff. 

81) Landau, Zur Erweiterung der Gebärmutter, Zeitschr. f. Gebh. u. Gyn. 
XIV, p. 580 (28./10. 87). 

st) Levret hatte bereits eine gefensterte Zange für diesen Zweck an- 
gegeben. 

82) Récamier, L'Union médicale, 1850, No. 66 u. 77. 

$) Weikert, Gesellsch. f. Geburtshülfe in Leipzig, Sitz. am 18. März 1872. 

85) Thomas, A practical Treatise on the diseases of women, 4th ed., 1874, 
p. 569 u. 609. (In der deutschen Ubersetzung stimmt die Abbildung nicht mit 
der des Originals überein.) 

s#, Spiegelberg, Lehrbuch der Geburtshülfe, 1876. 

27) vgl. Böters, Zur Behandlung der Blutungen nach Abort, in: Centralbl. 
f. Gyn. 1877, p. 353. 

*) Munde, Zur Behandlung der Blutungen nach Abort, in: Centralbl. f. 
Gyn. 1878, p. 121. 

*) z. B. Olshansen, Sitzung d. Berliner medizin. Gesellschaft, 31. Oct. 
1894, Uber intrauterine Behandlung. 

19% Kumpf, Uber ein einfaches Verfahren gegen post partum -Blutungen ex 
atonia uteri, in: Centralbl. f. Gyn. 1897, No. 11. 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 
an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 























Uber Morbus Basedowii 


und seine operative Behandlung. 
Von 
Dr. J. Schulz, 


früheren Assistenzarzt der chirurg. Abteilung des Marien-Krankenhauses Hamburg, 
d. Z. Oberarzt Dr. Kümmell. 


Im Jahre 1884 lenkte Kocher auf dem Kongress der deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie die Aufmerksamkeit auf eine Erkrankung, 
die er nach totaler Entfernung der Schilddrüse auftreten sah und 
als Cachexia strumipriva bezeichnete. Als auf Grund physiologischer 
Forschung ein klares Bild dieser Cachexie gewonnen war, kam man 
zu der Überzeugung, dass das Basedow’sche Symptomenbild in 
vieler Hinsicht gerade das Gegenteil jener Störungen darstellt, die 
nach Entfernung oder Schwund der Schilddrüse beobachtet wurden. 
Durch die neueren Untersuchungen über die Funktion der Schilddrüse 
trat nun die Pathologie der Basedow’schen Krankheit in ein neues 
Stadium, und der Therapie wurde dadurch eine bestimmtere Richtung 
angedeutet. | 

Mit dem gesteigerten Interesse, welches diesen Beobachtungen 
allseitig entgegengebracht wurde, wuchs auch die Litteratur derartig 
an, dass es heute gewagt erscheinen könnte Weiteres hinzuzufügen. 
Bedenkt man aber, wie weit wir trotzdem noch von der vollständigen 
Erkenntnis der Aetiologie dieser Krankheit und des inneren Zu- 
sammenhanges ihrer Symptome entfernt sind, wie ferner die thera- 
peutischen Eingriffe bisher immerhin noch gewissermassen auf dem 
weiten Felde des Versuches sich bewegten, so scheint es doch wohl 
gerechtfertigt, an der Hand eines grösseren Materials die praktisch 
wichtigste Frage der Art der Behandlung einer kurzen Erörterung 


zu unterziehen. 
1 


2 


Genau beschrieben und speziell charakterisiert durch die 
Symptomentrias von gesteigerten Herzbewegungen, Struma und 
Exophthalmus, wurde die Krankheit bekanntlich im Jahre 1840 von 
dem Merseburger Arzte von Basedow, nach dem sie auch benannt 
wurde. Emmert reklamiert zwar die Priorität für Parry, der schon 
1825 über 8 Fälle unter dem Namen „Vergrösserung der Schild- 
drüse in Verbindung mit Vergrösserung und Palpitation des Herzens“ 
referierte, wobei sich allerdings nur einmal Exophthalmus fand und 
Galezowski teilt sogar Demours die Ehre der ersten Beschreibung 
des Morbus Basedowii zu, jedoch haben weder dieser Letztere noch 
Parry vollständige Kenntnis der Krankheit gehabt. Harsh und 
Graves folgten von Basedow mit der Publikation weiterer Fälle, 
und wollten diese Autoren schon länger das bezeichnete Krankheits- 
bild als etwas Zusammengehöriges und von einer gemeinschaftlichen 
Ursache Abhängiges gekannt haben. Daher nahm man auch in 
England Veranlassung, die Glotzaugenkrankheit nach Graves „the 
Graves diseace“ zu benennen. In Deutschland und Amerika erschienen 
zahlreiche weitere Arbeiten, deren Wert aber zu der Anzalıl in 
keinem Verhältnisse stand. In Frankreich beschäftigte man sich, 
wenn auch erst recht spät, dafür aber um so eifriger und eingehender 
mit der Basedow’schen Krankheit. 

Wurden nun schon durch diese theoretischen Erörterungen und 
praktischen Versuche unsere klinischen Kenntnisse bedeutend be- 
reichert, die seltneren Symptome uns besser bekannt, so wuchs 
auch das Verständnis für die Natur der Krankheit und den 
Zusammenhang der Symptome. Ungleich gering blieb allein unser 
therapeutischer Einfluss; erst den neueren Forschungen blieb es 
vorbehalten, Sitz und Ursache der Erkrankung genau zu lokalisieren 
und die bis dahin mit so geringem Erfolge behandelten Kranken 
der Chirurgie zu überweisen. 

Zur Ätiologie des Morbus Basedowii sei kurz bemerkt, dass 
das Geschlecht unstreitig dabei eine bedeutende Rolle spielt. Wie 
bei dem endemischen Kropf so sind es auch hier die Frauen, die bei 
weitem am häufigsten von der Krankheit befallen werden. Buschan 
stellte 980 Fälle aus der Litteratur zusammen und fand unter diesen 
805 Weiber, 175 Männer = 4,6 : 1. 

Was das Lebensalter anlangt, so scheinen die Jahre der 


3 


beginnenden resp. eben vollendeten Pubertät entschieden mehr 
Disposition für diese Erkrankung zu bieten als das Kindes- und 
Greisenalter. Von unseren weiter unten veröffentlichten 14 
Fällen, die wie ieh schon hier bemerken will, alle weiblichen 
Geschlechts sind, standen 8 im Durchschnittsalter von 21, die übrigen 
in einem solchen von 39 Jahren. Wird so also der Krankheit eine 
ausgesprochene Vorliebe für bestimmte Lebensjahre im Allgemeinen 
zugeschrieben, so soll der Ausbruch derselben wiederholt nach 
schweren Wochenbetten, langer Lactation, profusen Menses, forcirten 
Cohabitationen etc. beobachtet sein. Zwei unserer Patientinnen be- 
schuldigen ebenfalls eine Geburt, eine dritte eine Frühgeburt als 
Grund ihrer Erkrankung. Heredität spielt als ätiologisches Moment 
sicherlich eine Rolle und es scheint, als ob zarte Constitution, be- 
sonders aber neuropathische Belastung zu Morbus Basedowii prädis- 
ponieren. Familien, in denen Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie, 
Chorea, Epilepsie oder wirkliche Psychosen herrschen, stellen das 
grösste Contingent. Ein eklatantes Hereditätsbeispiel haben wir an 
unseren 12. Fall, wo der Vater Potator strenuus, die Mutter und 
3 Geschwister (Mädchen) an Morbus Basedowii leiden. Die älteste 
Tochter, die nebenbei bemerkt nicht erkrankt ist, soll ein 10 Jahre 
altes Basedow krankes Kind haben. Charcot nimmt 2 Arten von 
hereditärer Anlage an, einmal eine gleichartige direkte, d. h. Morbus 
Basedowii erbt sich durch mehrere Generationen fort, oder eine 
heterologe, d. h. die neuropathische Disposition wird vererbt, wobei 
andere Erkrankungen des Nervensystems vorherrschen können. Für 
beide Arten haben wir neben dem oben angeführten noch eine 
ganze Reihe trefflicher Belege, die alle aufzuzählen uns zu weit 
führen würde. Viele Autoren geben Aufregung, heftigen und 
plötzlichen Schrecken, Gemütsbewegungen andauernder Art, Sorgen, 
Überanstrengungen als Ursache des Morbus Basedowii an. Andere 
stellen neben diese Momente besonders schwer einsetzende Er- 
krankungen, wie Typhus, Pneumonie, Cholera, schwere Anämie und 
Chlorose beruhend auf vasomotorischer, sympathischer Störung. Aus 
einer Mitteilung von Gowers entnehmen wir, dass nach dem 
deutsch-französischen Kriege in Elsass-Lothringen sich die Be- 
obachtungen von Morbus Basedowii gehäuft haben sollen; er be- 


richtet, dass dem Affecte zuweilen eine akute Entwicklung der 
1* 


4 


` 


Krankheit, zuweilen der gewöhnliche chronische Verlauf folgte. Engel- 
Reimers bemerkte, dass beim Auftreten der sekundären Syphilis- 
erscheinungen bei jungen Weibern sehr oft Anschwellung der 
Schilddrüse eintrat und Basedow-Symptome nicht selten sie 
begleiteten. In neuerer Zeit ist besonders von Charcot und anderen 
auf die Beziehung zwischen Morbus Basedowii und Rheumatismus 
Gewicht gelegt. Interessant sind auch die Beobachtungen von Hack 
Bobone und Hopmann, die den Morbus Basedowii reflectorisch, 
ähnlich wie Asthma bronchiale, von einer Erkrankung der Nasen- 
schleimhaut hervorgerufen sahen. 

Von den drei Kardinalsymptomen der Basedow 'schen Krankheit, 
Herzpalpitationen, Struma und Exophthalmus ist das erste wohl als 
das constanteste zu bezeichnen. Es eröffnet gewöhnlich die Symp- 
tomenreihe, tritt nur selten an zweiter oder gar an letzter Stelle auf. 
Charcot sagt daher mit Recht: Ohne Steigerung der Herzthätigkeit 
keine Basedow’sche Krankheit, ohne Nachlassen der Palpitationen 
keine wahre Besserung, bei Beruhigung des Herzens aber ent- 
schiedene Wendung zum Besseren. Die Frequenz der Herz- 
contractionen schwankt zwischen 100 und 200 in der Minute; dabei 
ist die Herzaktion überaus kräftig, der Spitzenstoss verbreitert und 
von vermehrter Resistenz. Die ganze vordere Thoraxwand und das 
Epigastrium wird derart in Erschütterung versetzt, dass dieselbe, 
wie ich bei 2 unserer Fälle beobachten konnte, durch die Kleider 
sichtbar ist. Neben der Herzvergrösserung sind verschiedentlich 
Geräusche am Herzen wahrgenommen worden, systolische an der 
Herzspitze, diastolische an den Klappenapparaten. Traube erklärt 
sie durch ungenügenden Spannungsgrad der Arterien und Klappen 
infolge Herzmuskelschwäche, Friedreich durch relative Insufficienz 
der Ostien und durch unregelmässige Wandvibration der erweiterten 
grossen Gefisse. Der Radialpuls ist im Gegensatz zu den lebhaften 
erschütternden Herzaktionen meist klein, weich, von geringer Spannung. 
Bezüglich der anderen Teile des Gefässystems würde vor Allem ein 
starkes Pulsieren der Halsgefässe, namentlich der Carotiden beobachtet. 
Bei einer unserer Kranken sah man auf grössere Entfernung schon 
die Äste der Art. temporalis und Max. ext. sowie die Art. thyreoidea 
sup. pulsiren. Fall 9 und 13 zeigten uns deutliche Pulsation der 
Bauchaorta und das von Kahler erwähnte „peinliche Pulsations- 


5 


gefühl.“ Die von Becker beobachtete Pulsation der Netzhaut- 
arterien konnte bei keinem unserer Fälle festgetellt werden, wohl 
aber eine Erscheinung an den Capillargefässen der Haut derart, dass 
sowohl spontan wie auch auf leichte mechanische oder auf psy- 
chische Reize hin eine lebhafte Rötung des Gesichtes und eine 
ebenso schnell folgende Blässe auftrat. 

Das zweite bei keinem unserer Fälle fehlende Symtom ist die 
Vergrösserung der Schilddrüse, die Struma; ich beschränke mich auf 
die Fälle, bei denen die Struma sich mit oder, wie am häufigsten, 
nach den übrigen Erscheinungen entwickelt. Als solche wechselnd 
in ihrer Grösse, hat sie meistens einen vasculären Charakter. Fluc- 
tuierende Cysten oder einzelne festere Knoten scheinen präexistierende 
Veränderungen oder später hinzutretende Complicationen zu sein. 
Somit erklärt sich die Thatsache, dass diese Strumen im Anfang 
wenigstens eine pulsatorische Erschütterung zeigen oder bei der 
Auscultation ein in den meisten Fällen mit der Herzsystole, in 
anderen mit der Diastole gleichzeitiges Schwirren vernehmen lassen. 
Mehr oder weniger rasches An- und Abschwellen der Drüse spricht 
ebenfalls für die vasculäre Form. Ueber die pathologisch-anatomische 
Veränderung der Drüse liefert uns W. S. Greenfield eine sorgfältig 
ausgeführte Beschreibung. Er fand in 6 Fällen eine starke Hyperplasie 
des absondernden Drüsengewebes und Wucherung der Epithelzellen. 
Anhäufung desquamirter Epithelien in den drüsenschlauchartig 
verlängerten Acinis. Er vergleicht das Verhalten der erkrankten 
Schilddrüse zur gesunden mit der milchenden Brustdrüse zu der im 
Ruhezustande. O. Hetzel fand bei mikroskopischer Untersuchung 
der Schilddrüse die Blutgefässe strotzend gefüllt, die meisten Acini 
erweitert und unregelmässig gestaltet. In den Drüsenräumen war 
nur wenig colloide Substanz, das Epithel war teilweise normal, teil- 
weise gewuchert, viele Epithelzellen waren vergróssert. Die Unter- 
suchungen Emil Reymonds fanden die Drüsenräume erweitert 
und ganz mit desquamirten Zellen angefiillt. In Ziegler’s Beiträgen 
zur pathologischen Anatomie beschreibt L. R. Müller 4 Struma- 
Befunde bei Morbus Basedowii. Er fand, dass die Basedow- 
Struma sich von den übrigen Krópfen durch vorwiegend zellige 
Hyperplasie mit Bildung grosser, unregelmässig gewucherter Epithel- 
schläuche, sehr geringe Colloidbildung und spärliche Gefässentwickelung 
auszeichnet. 


6 


Auch das dritte Kardinalsymptom des Morbus Basedowii, 
der Exophthalmus, findet sich bei all unseren Fallen. Wir ver- 
stehen unter Exophthalmus ein auffälliges, starkes Hervortreten des 
Bulbus aus der Augenhöhle Die weit geöffneten starren Augen 
bekommen einen „glotzenden“ Ausdruck. Der Grad der Protrusio 
bulbi ist in allen Fällen ein verschiedener und wechselt auch bei 
den einzelnen Fällen. Er erreichte eine derartige Grösse, dass, wie 
berichtet wird, die Sehnenansätze der Augenmuskeln sichtbar wurden 
und die geringste Berührung des Bulbus eine Luxation desselben 
hervorrief. Für die frühe Diagnose des Morbus Basedowii wichtig 
ist das Auftreten des sogenannten Gräfe’schen Symptomes, ein 
Zuriickbleiben des oberen Augenlides beim Senken des Blickes. 
Dabei traten in einem unserer Fälle bei häufiger Lidbewegung 
Schmerzen im Augeninnern, in einem anderen Falle leicht Ermüdung 
der Augen auf. Die neuerdings als Stellwag’sches Symptom 
beschriebene Veränderung, eine ungewöhnliche Erweiterung der Lid- 
spalte und seltener Lidschlag wurde schon früher beobachtet und 
als Teilerscheinung des Exophthalmus betrachtet. Stellwag stu- 
dierte dieses Symptom genauer und wies auf sein konstantes Auf- 
treten hin. Gerade dieses Symptom bewirkt im Verein mit dem 
Gräfe’schen und dem Exophthalmus den charakteristischen, physiog- 
nomischen Gesichtsausdruck dieser Kranken. Sie haben einen 
glänzenden, staunenden Blick, oder es ist derselbe unheimlich, starr; 
man glaubt Zorn, Wut und Schreck in ihm zu lesen. Wie die 
Freude das Auge verklärt, und Sorge umgekehrt den Blick ver- 
finstert, so erklärt man den Glanz des Auges durch verminderte 
Beschattung, die Starre des Blickes durch den fehlenden Lidschlag 
und das unheimlich Staunende durch den Exophthalmus. Moebius 
beschreibt das nach ihm benannte Symptom, die Insufficienz der 
Konvergenz: „Alle sonstigen Bewegungen der Augäpfel sind frei, 
soll aber der Kranke auf einen nahen Gegenstand sehen, so blicken 
die Augen nach rechts oder links und nur ein Auge sieht den 
Gegenstand. Am deutlichsten ist das Zeichen, wenn man den 
Kranken erst nach der Stubendecke und dann auf seine eigene 
Nase sehen lässt. Nähert man den Finger allmählich, so konvergieren 
zunächst die Augen, bei einem Nahepunkte aber, dessen Abstand 
vom Auge bei verschiedenen Kranken und bei demselben Kranken 


7 


zu verschiedenen Zeiten verschieden ist, hört die Konvergenz auf 
und die paralell gewordenen Augenachsen wenden sich seitlich, so 
dass nur das nach Innen gedrehte Auge noch fixiert. Die Kranken 
wissen von dem Vorgange nichts, haben keine Doppelbilder, klagen 
nur über ein Gefühl von Spannung, so lange die Augen konvergieren.“ 
An mehreren unserer Kranken konnte ich dieses interessante Zeichen 
beobachten. Neben den drei Hauptsymptomen nun wurde im Laufe 
der Zeit eine ganze Reihe neuer Zeichen entdeckt und beschrieben. 

Ich erinnere ‚hier an das Heer der nervösen Störungen von der 
einfachen Schlaflosigkeit und dem leichten Tremor bis hinauf zur 
Epilepsie und den den Geisteskranken verwandten Zuständen. Von 
Seiten der Haut beobachtet man sowohl abnorme Schweissbildungen 
wie auch absolute Trockenheit, daneben juckende Erytheme und 
sclerotische Veränderungen. Schwere Verdauungsstörungen rufen 
lästige Diarrhoeen und quälende Obstipationen hervor. Auch die ge- 
samte Muskulatur, die Drüsen und Gelenke werden gelegentlich in 
Mitleidenschaft gezogen; die schönen Körperformen schwinden unter 
einer rapid verlaufenden Abmagerung. Ich verweise hier auf die 
vorzügliche Arbeit von Moebius, der in klarer und ausführlicher 
Weise eine Beschreibung des gesamten Krankheitsbildes giebt. 

Bei der Vielseitigkeit des Symptomenkomplexes nun fehlte es 
nicht an Versuchen das Wesen der Krankheit zu ergründen. 

Manche Theorieen sind aufgestellt und als unzulänglich wieder 
verlassen worden. 

Des historischen Interesses wegen sei erwähnt, dass v. Basedow 
das Wesen der Krankheit in einer veränderten chlorotisch-anämischen 
Blutmischung suchte, welche durch übermässige Drüsenvegetation 
Struma, durch Hypertrophie des Zellgewebes hinter dem Bulbus 
Exophthalmus bedinge. Es spricht Manches für diese Auffassung, 
besonders, wie schon erwähnt, das häufige Vorkommen beim weib- 
lichen Geschlecht, die Menstruationsstörungen, speziell die Oligo- und 
Amenorrhoe im Beginn der Krankheit. So nimmt auch in neuerer 
Zeit Eulenburg an, dass chlorotische Veränderung des Blutes die 
Ursache der Erkrankung sei. Das Verdienst, zuerst auf den Sym- 
pathicus hingewiesen zu haben, also auf den nervösen Charakter 
des Morb. Basedowii, gebührt Koeben. Er führt die Krankheit auf 
die Folgen einer Compression des N. sympathicus durch die Struma 


8 


zurück und erklärt die Symptome des Morb. Basedowii als Störungen 
dieses Nerven. Als nun bei Erörterung dieser Sympathicustheorie 
sich später ergab, dass einzelne Erscheinungen mehr für Lähmung, 
andere aber für Reizung sprachen, ging man so weit, eine Doppel- 
wirkung, Reizung und Lähmung des gleichen Nerven im Verlauf 
derselben Krankheit anzunehmen. Nach Gross und Sattler sollte 
auch der Vagus mit dem Sympathicus zusammen Schuld an der 
Erkrankung sein. Der nächste Forscher Filehne verlegte den Sitz 
des Leidens in die Medulla oblongata, in die corpora restiformia und 
in die vasomotorischen Centren. Er ist mit diesen Ansichten nicht 
weit über seine Tierexperimente hinausgekommen. Einfach und be- 
quemer war die Erklärung des Morb. Bas. als Neurose, als eine Er- 
krankung des Nervensystems ohne nachweisbare anatomische Läsionen. 

Eine überraschende Wendung in der Auffassung der Erkrankurg 
trat nun ein, als in neuerer Zeit die Chirurgen mit ihren Operations- 
erfolgen den Physiologen auf die Struma als alleinigen Urheber des 
ganzen Krankheitsbildes hinwiesen. Und in der That scheint es der 
physiologischen Chemie vorbehalten zu sein, endlich Licht in die 
dunkele Ätiologie des Morb. Basedowii zu werfen und eine end- 
gültige Lösung der Frage herbeizuführen. 

Dem Gedanken, dass die Basedow’sche Krankheit auf cine 
Hyperactivität der Schilddrüse resp. auf Hypersecretion beruhen 
dürfte, wie die Cachexia thyreopriva auf mangelhafte Thätigkeit und 
Ausfall des Drüsensekrets, gab zuerst Moebius im Jahre 1886 
Ausdruck. Die Beobachtungen Kochers, der, wie schon oben er- 
wähnt nach Exstirpation der Schilddrüse einen dem Myxöden 
ähnlichen Zustand, die Cachexia strumipriva, auftreten sah, dass 
ferner sowohl das Myxödem als die Cachexia strumipriva durch 
Fütterung roher oder chemisch verarbeiteter Schilddrüse wieder auf- 
gehoben werden konnte, brachte Moebius zu obiger Schluss- 
folgerung. Er stellte nunmehr den Satz auf: Die Basedow’sche 
Krankheit ist eine Vergiftung des Körpers durch krankhafte Thätig- 
keit der Schilddrüse. Wird uns nun durch dies Erkenntnis manches 
früher Rätselhafte verständlich, so fehlt doch noch Vieles zur Er- 
klärung der Ursache der primären Schilddrüsenerkranknng. Viele 
behaupten, dass es sich beim Myxödem sowohl wie beim Morb. Base- 
dowii um eine Giftwirkung handele, derart, dass die durch den 


9 


Stoffwechsel entstandenen giftigen Stoffe durch die Secretion der 
Schilddriise unschiidlich gemacht werden, indem entweder dieselben 
zur Schilddrüse gelangen oder der Schilddriisensaft in die Körper- 
organe auswandert. Demnach nimmt man bei ersterem einen Schild- 
driisenmangel, bei letzterem eine übermässige Ausscheidung der 
Drüse, eine Überschwemmung des Körpers mit dem Drüsensafte an. 

Horsley glaubt dass die Schilddrüse die Umwandlung von 
Albuminaten in Zersetzungsstoffe controliert; diese Albuminate bleiben 
bei einer Funktionsstörung der Drüse in einem mucinoiden Zustand. 
Lanz nennt die Gland. thyreoidea eine Blutdrüse, die nicht wie die 
Milz der morphologischen Beschaffenheit des Blutes, sondern seiner 
chemischen Beschaffenheit dient. Murray sprach sich neuerdings 
für die Möbius’sche Theorie aus. Er sah bei einem Myxödem- 
Kranken, den er mit Schilddrüsensaft behandelte, dass Symptome des 
Basedo w (Pulsbeschleunigung, Zittern, Kopfschmerzen etc.) auftraten, 
sobald zuviel dieses Extraktes gegeben wurde, umgekehrt aber rasch 
wieder verschwanden, wenn man die betreffende Dosis verminderte. 

Greenfield fütterte einen gesunden Menschen versuchshalber 
mit Täfelchen aus getrocknetem Schilddrüsenstoff und erzeugte bei 
demselben Tachycardie, Temperatursteigerung und grosse Reizbarkeit. 
Interessant sind die Beobachtungen, die von Eiselsberg an Tieren 
machte, bei denen die Thyreoidektomie vorgenommen war. Die 
Carnivoren, so berichtet er, reagieren auf die Totalexstirpation der 
Schilddrüse fast immer mit tötlicher Tetanie. Es gelang ihm, diesen 
Ausfall durch Transplantation von Schilddrüse auszugleichen. Er 
brachte 2 Schilddrüsen eines ganz frischen Kaninchenembryos in der 
Bauchhöhle einer erwachsenen Katze zur Einheilung, die anscheinend 
die Rolle der später excidierten Halsschilddrüse übernahm. Auch an 
Pflanzenfressern, wie jungen Lämmern, Ziegen und Ferkeln wurde 
die Thyreoidektomie vorgenommen. In den ersten 3 —4 Wochen war 
kein Unterschied sichtbar, dann aber blieben die operierten Tiere so 
zurück, dass nach 6 Monaten das Controlltier schwerer war, als 
beide operierten zusammen. Die Wachstumsstörungen (besonders an 
den langen Röhrenknochen) wurden immer hochgradiger und ver- 
banden sich mit einem schweren frühzeitigen, aber dem senilen 
ähnlichen Marasmus, sowie mit mehr oder weniger hochgradiger 
Idiotie. v. E. bezeichnete diese Erscheinung als Zwergwuchs, ver- 


10 


bunden mit Idiotie oder besser als Kretinismus. Das Knochen- 
wachstum der Versuchstiere verhält sich ganz wie dasjenige des 
Kretins. Auf dem. III. internationalen Physiologenkongress konnte 
Q. Lanz zu denselben Versuchen berichten: Das Ei eines thyreoidek- 
tomirten Huhnes hat die Grösse eines Taubeneies und wiegt 5 gr, 
während ein mit Schilddrüse überfüttertes Huhn zahlreiche und 
grössere Eier legt als die Controllhühner. Thyreoidektomirte Kanin- 
chen erkrankten an chronischer Kachexie, überfütterte Tiere leiden 
an Pulsbeschleunigung mit anfänglichem Steigen, späterem Sinken 
des Blutdrucks, Abmagerung etc. Während thyreoidektomirte trächtige 
Tiere abortirten, blieben die jungen überfütterten Muttertiere in 
ihrem Wachstum zurück. 

Notkin’s eingehende Studien über die Pathogenie der Cachexia 
strumipriva benutzt Revilliod zur Erklärung der Intoxikations- 
theorie. Er schreibt den beiden von Notkin in der Schilddrüse 
nachgewiesenen Substanzen, von denen die eine dem Typus Basedow, 
die andere dem Typus Myxödem entspricht, eine antagonistische 
Wirkung zu. Das Thyreoproteid, ein Stoffwechselprodukt, dessen sich 
der Organismus dadurch erledigt, dass es in der Gland. thyreoidea 
aufgespeichert wird, wird durch die zweite Substanz, das Thyreoidin 
neutralisirt. Die beiden Körper müssen sich im physiologischen 
Gleichgewicht befinden; ein Überfluss von Thyreoproteid oder ein 
Mangel von Thyreoidin bewirken Cachexia thyreopriva, ein Mangel 
an Thyreoproteid oder ein Überfluss an Thyreoidin haben Basedow 
Erscheinungen zur Folge. In seiner höchst interessanten weiteren 
Besprechung vergleicht er die Blutgefässdrüsen zu einander, bringt 
die Schilddrüse zur Hypophysis in Beziehung. Die pathologische 
Veränderung letzterer habe die Akromegalie zur Folge, während die 
Osteomalacie einer übermässigen ,Secretion interne“ der Ovarien 
zugeschrieben wird. Er bringt damit eine neue pathologische Auf- 
fassung vieler Erkrankungen, die bisher als mit Unrecht auf nervöser 
Grundlage beruhend angesehen wurden. Soweit wir diese Auffassung 
verfolgen können, hat sie etwas sehr Bestechendes für unsere Schild- 
driisentheorie, und wenn der Autor auch sagt, dass sich seine 
Folgerungen zum grossen Teile auf hypothetischem Boden bewegen, 
so werden sie nicht an letzter Stelle dazu beitragen, eine Klärung 
in dem gegenwärtigen Streite herbeizuführen. 


11 


Die Hauptstütze findet die Schilddrüsentheorie an den Er- 
fahrungen, welche die Chirurgen mit der operativen Behandlung 
des Morbus Basedowii, der Strumectomie gemacht haben. Es sei 
mir gestattet, in Kürze hier diejenigen Fälle aus der Litteratur an- 
zuführen, die der Beschreibung nach als wirkliche Basedow-Er- 
krankungen anzusehen sind und durch teilweise längere Beobachtung 
post operationem einen Wert für die Beurteilung des Erfolges haben. 
Zum Schluss dann lasse ich die auf der chirurgischen Abteilung 
des Marien-Krankenhauses Hamburg von Herrn Dr. Kümmell 
operierten Fälle ausführlicher folgen. 

Wohl den ersten Versuch, den Krankheitsverlauf des Morb. Bas. 
durch einen chirurgischen Eingriff zu beeinflussen, hat Tillaux 
1860 gemacht. Er berichtet über vollständige Heilung nach Kropf- 
exstirpation. 

Genauere Mitteilungen über die beiden folgenden Operationen 
fallen in die Jahre 1872 und 1877. Im August, 72 brachte Mac- 
naughton Jones bei einer 27jähr. weiblichen Patientin, die an 
ausgesprochenen Symptomen des Morb. Basedowii litt, durch Cauteri- 
sation und Ätzung nach vorhergegangener Durchführung eines Haar- 
seiles eine hochgradige Struma und mit ihr die übrigen Symptome 
des Basedow zum Schwinden. Nach Fraser’s Angaben machte 
Lister die dritte Strumectomie im Jahre 1877. Der Puls vor der 
Operation 130—140 sank am 5. Tage nach derselben auf 72; der 
Exophthalmus bildete sich in wenigen Wochen zurück, und auch 
die übrigen Krankheitssymptome besserten sich wesentlich. 

Einen gleichen Erfolg erzielte Ollier in demselben Jahre bei 
cinem 21jährigen Mädchen mit Cystenkropf. Er spaltete die Haut 
und eröffnete die Cyste durch Ätzung. Durch eine eingelegte Canüle 
machte er Jodinjektionen und erreichte auf diese Weise, dass der 
Puls nach 3 Wochen von 160 auf 70 Schläge sank und die Patientin 
beschwerdefrei wurde. Im Mai 1879 bestand nur noch geringer 
Grad von Exophthalmus. 

Tillaux exstirpierte im Jahre 1880 die ganze Struma bei einer Pa- 
tientin, bei der seit Jahren alle Symptome des Morbus Basedowii 
bestanden hatten, mit gutem Erfolge. Es wurde diese Operation 
wegen ihres eklatanten Erfolges als erste genauer publiziert und 
längere Zeit irrtümlich für die erste Strumectomie gehalten. Der- 


12 


selbe Operateur entfernte 1881 ein ausgedehntes Sarkom der Schild- 
drüse, wobei ausgesprochene Basedow-Symptome vor der Operation 
bestanden hatten. 

Die ersten Mitteilungen aus Deutschland über den Kropf und 
seine operative Behandlung stammen von L. Rehn, der am 2. Juli 
1883 im ärztlichen Verein zu Frankfurt a. M. über 4 von ihm ge- 
machte Strumectomieen bei Morbus Basedowii berichten konnte. 
Fall 1. 22jährige Patientin, seit Jahren zu jeder Arbeit untauglich. 
Atemnot und Angstgefühl bei starken Palpitationen. Beide Caro- 
tiden pulsieren lebhaft. Struma weich compressible, laute sausende, 
accidentelle Geräusche. Puls 120—160. Bulbi leicht prominent, 
Verschlechterung während der Menses. Rehn exstirpierte eine 
rechtsseitige mannesfaustgrosse sehr gefässreiche Struma. Am 10. 
Tage p. op. sank die Pulsfrequenz auf 88, kein Herzklopfen mehr. 
11/, Jahr nachher konnte noch völlige Heilung konstatiert werden. 
Fall 2. Bei einer 36jährigen Frau bestand seit 8 Jahren Struma, 
starker Tremor, Menstruationsstórungen und Exophthalmus leichten 
Grades. Puls 140 sehr arythmisch. Entfernung einer rechtsseitigen 
faustgrossen, derben Struma. Am 2. Tage p. op. schlief Patientin 
wieder zum ersten Male seit 5 Monaten. Am 6. Tage ist der Puls 
nahezu normal, keine Atemnot; Exophthalmus bildet sich langsam 
zurück. In der 5. Woche Wiederkehr der Menses, völlige Heilung. 
Fall 3. Strumectomie und zwar des rechten Seiten- und Mittel- 
lappens bei einer mit deutlichen Symptomen des Morbus Basedowii 
behafteten Frau, die ihren Kropf von ihrer Jugend an bemerkte und 
in den 3 letzten Jahren ante op. sehr unter Herzpalpitationen, 
Schlaflosigkeit, hochgradiger Nervosität zu leiden hatte. Fall 4. 
Völlige Heilung eines 30jährigen Patienten mit ausgesprochenem 
Exophthalmus und Stenokardie, Tremor und Schwindelanfällen, konnte 
4 Monate nach der Strumectomie constatiert werden. Den 5. Fall 
beschreibt F. Hahn ausführlich. Er sagt: Noch bevor die Kocher- 
schen Mitteilungen über Cachexia strumipriva bekannt waren, ge- 
langte Rehn durch eine Beobachtung gelegentlich der Operation 
einer Kropfcyste zu der Überzeugung, dass durch Resorption von 
Kropf- resp. Schilddrüsengewebe ganz ausserordentlich heftige Er- 
scheinungen ausgelösst wurden, welche in bedeutender Pulsbeschleu- 
nigung, starkem Herzklopfen, hochgradiger Atemnot und Beängsti- 


13 


gung, Schwindel und Ohnmachtsanfällen bestanden. Es handelte sich 
um einen 38jährigen Mann mit einer Kropfcyste von kolossalem 
Umfang, die sich im Verlaufe mehrerer Jahre entwickelt hatte und 
dem Träger bedeutende Atembeschwerden verursachte. Sie wurde 
durch bilaterale Incision geöffnet und drainirt. Nach günstigem 
Wundverlauf wurde Patient nach 31/, Woche mit einer kleinen 
Fistel an der rechten Seite des Halses entlassen. Eine Woche später 
bekanı Patient Anfälle von Herzklopfen mit Atemnot und Beängsti- 
gung. Die Anfälle steigerten sich, neben hochgradiger Pulsbeschleu- 
nigung trat Dilatation der Pupillen ein, Schwindel, Ohnmachtsanfälle, 
Blässe des Gesichts; Rehn dilatierte die von der Operation her noch 
vorhandene Fistel und entfernte mortificierte Kapselreste, worauf die 
alarmierenden Erscheinungen bald vollständig verschwanden. Wenn 
dieser Fall, so heisst es weiter, auch nicht als Typus des Morbus 
Basedowii aufzufassen ist, so zeigt er doch, dass von der Schild- 
drüse oder einzelnen Teilen derselben ein schweres Krankheitsbild 
hervorgerufen werden kann, das mit dem Basedow eine ausser- 
ordentliche Ähnlichkeit hat und dass dieser schwere Symptomen- 
komplex mit Entfernung der Geschwulst schwinden kann. Rehn 
kam durch diese Beobachtung zu dem Schlusse, dass es sich nur 
um eine und zwar sehr akute Giftwirkung von Schilddrüsensubstanz 
handelte und vertritt auch jetzt vollständig die Ansicht, dass es sich 
beim Morbus Basedowii um eine Intoxikation ausgehend von der 
Struma handelt. 

Aus dem Augustahospital Berlin teilt Weidemann einen Fall 
von Kropfexstirpation mit bei einem 14jáhrigen Mädchen, das an 
Morbus Basedowii litt. Mit der Operation verschwanden alle Be- 
schwerden und Erscheinungen die auf Basedow’sche Krankheit 
deuteten. 

Einen weiteren Fall finden wir bei Dubreuil, der einen rechts- 
seitigen apfelgrossen Cystenkropf durch Enukleation der Cyste, nach- 
dem er dieselbe vorher punktirt hatte, entfernte. Exophthalmus, 
Pupillenerweiterung und gesteigerte Herzthätigkeit schwanden all- 
mählich und konnte Patient nach 6 Wochen als völlig geheilt mit 
80 Pulsen entlassen werden. | 

Josipovici berichtet über 2 von J. Wolff operirte Fälle In 
dem einen Falle verschwand der Exophthalmus vollständig, die Puls- 


14 


frequenz sank auf 80, stieg aber später bei Anstrengungen wieder 
an. In dem 2. Falle, bei dem die Operation eine vollständige Heilung 
erzielte, trat die Struma !/, Jahr nach einer schweren Entbindung 
auf. Ihr folgten nervöse Aufregungen, Angstgefühl und Exophthalmus 
in kurzer Zeit. Bei Wölfler finden wir Fälle von Morbus Basedowii, 
bei denen Pean, Bickel, Billroth, Bristowe Jones mit Erfolg 
die Strumectomie ausführten. l 

Frank zählt unter seinem Kropfmaterial vom Friedrichshain 
4 Fälle von Morbus Basedowii: 1 Heilung, 1 Misserfolg, 1 Exitus 
durch Operation, 1 unbekannter Ausgang. 

Rupprecht entfernte ein Adenom, welches an der hinteren 
Seite des linken Schilddrüsenlappens innerhalb der Kapsel lag und 
dem Patienten, einem 35jährigen Bäcker, seit 8 Jahren erhebliche 
Beschwerden verursacht hatte. Neben einer starken Struma, die 
sich zeitweise verkleinerte, bestand hochgradiger Exophthalmus, Er- 
brechen, Schweisse, Ohnmachten und eine Pulsbeschleunigung von 
140, an der Herzspitze systolisches Blasen. Von dem Tage der 
Operation an war das Herzklopfen verschwunden; der Kranke schlief 
ruhig, hatte weder Schwindel noch Ohnmachten, Puls regelmässig 
80—100. Bei der Discussion dieses Falles berichtet Ganser, dass 
Stelzner bei 2 Basedow-Kranken die Totalexstirpation der Struma 
ausgeführt habe, die in einem Falle Tetanie und Schwachsinn, in 
dem andern Tetanie zur Folge hatte. Möbius schreibt über 
diesen letzteren Fall: post op. habe er denselben mit allen 
Zeichen einer schweren Basedow’schen Krankheit gesehen. Zu 
obiger Discussion bringt Sprengel noch eine Mitteilung, wonach 
er einen Basedow mit Stenosenerscheinungen operirte, die Herz- 
beschwerden und Stenose zwar beseitigte, den Exophthalmus aber 
nicht beeinflusste. 

Genaue und fortgesetzte Beobachtungen seiner entlassenen 
Patienten teilt Lemke mit. Der erste Fall betraf einen jungen 
Gewerbeschüler, bei dem sich eine starke Trachealstenose entwickelt 
hatte. Nach Entfernung der grösseren Strumahälfte besserte sich der 
Zustand schnell. Ein, Jahr post. op. machte Patient einen 
geistig normalen Eindruck und besucht wieder mit Erfolg die Ge- 
werbeschule. Atembeschwerden und frühere Prominenz der Bulbi 
ganz verschwunden. Bei dem zweiten Falle wurde cin äusserst 


15 


kachektischer, schwer leidender Mann durch die Strumectomie wieder 
völlig lebensfroh und arbeitsfáhig. Er wie auch der erste Patient 
driickten wiederholt ihre Dankbarkeit und volle Zufriedenheit mit 
dem Behandlungsresultate aus. Im Fall 3 handelt es sich um eine 
46jährige Frau, bei der wegen hochgradiger Dyspnoe die Tracheotomie 
gemacht werden musste. Die Trachea zeigte sich dabei durch rechts- 
seitige Struma seitlich comprimiert und schlauchférmig degeneriert. 
3 Wochen nachher Strumectomie, die die bestehenden Symptome 
des Basedow teilweise zum Schwinden brachte Patientin starb 
später an intercurrenter Influenza. Fall 4 bot ein ausgesprochenes 
Bild des Morbus Basedowii dar. Die 20jährige Patientin befindet 
sich 1/, Jahr post op. wieder im Dienst und ist frisch und arbeits- 
fähig. Im letzten Falle bestand nur ein starkes Struma und Herz- 
klopfen. Nach Strumectomie völlige Heilung. 

Bei drei weiteren etwas später von Lemke operierten Fällen 
handelte es sich um 3 weibliche Patientinnen mit typischem Morbus 
Basedow und teilweise sehr schweren Symptomen. Bei allen 
Fällen brachte die Strumectomie dauernde Heilung. Lemke erklärt 
im Anschluss an obige Mitteilungen das Delirium Cordis und den 
vibrirenden Tremor der Muskulatur als Hauptstütze der Diagnose 
und betrachtet alle anderen Symptome als consecutiver und secun- 
därer Art, die nur die Diagnose bestätigen. Die Ursache der 
Erkrankung sucht auch er in „einer fehlerhaften chemischen Beein- 
flussung des Blutes von Seiten der Schilddrüse.“ 

Wette berichtet über 4 von Riedel operierte Fälle von Morbus 
Basedowii. 1.20jähr. Mädchen mit rechtsseitiger parenchymatöser 
Struma, deren Exstirpation einen regelmässigen Puls von 80, eine 
Erhöhung des Kórpergewichts von 41 auf 671/, kg und vollständigen 
Rückgang des Exophthalmus bewirkte. Bei Fall 2 erzielte die 
Operation ebenfalls bei einem 23jähr. Manne völlige Heilung wie 
die Nachuntersuchung 11/, Jahr post op. ergab. Fall 3 im August 
1891 operiert, ein exquisites Bild von Morbus Basedowii, bot ein 
Jahr nach der Operation keine Zeichen von Basedow mehr dar. 
Patientin war wieder frisch und lebensfroh und erzählte in sehr 
vergnügter Weise, dass sie um 20 kg p. op. an Körpergewicht zu- 
genommen. In dem 4. Falle war eine bedeutende Besserung 
durch die Strumectomie erzielt. 


16 





Aus der Strassburger Klinik beschreibt Sickinger einen Fall, 
der als Ursache stetige Aufregungen, Schrecken und sehr unerquick- 
liche Familienverhältnisse beschuldet. Influenza erhöhte die nervösen 
Erscheinungen beträchtlich, daneben traten die 3 Cardinalsymptome 
deutlich hervor. Am 28. November 1892 wird die beiderseits etwa 
hühnereigrosse Struma entfernt und schon 3--4 Stunden nach der 
Operation entwickelte sich ein derart beängstigender Zustand wie 
ihn Rehn und auch wir bald nach vorhergegangener Strumectonie 
beobachteten. Patientin erholte sich zwar nach einigen Tagen, das 
Krankheitsbild des Basedow wurde in der nächsten Zeit nicht 
wesentlich durch die Operation beeinflusst. 3 Monate p. op. stellte 
sich die Patientin wesentlich gebessert wieder vor. 

Determeyer stellte in der freien Vereinigung Berliner Chirurgen 
einen von Rotter operierten Fall vor, der neben starkem Exoph- 
thalmus die verschiedensten Symptome aufzuweisen gehabt. 6 Monate 
post op. bestand nur noch leichter Exophthalmus. Puls war von 
140 auf 80 gesunken. Er sagt: Es handelte sich um einen su 
typischen Fall von Morbus Basedowii, bei dem die Beschwerden 
der Patientin in ihrer grossen Mehrzahl fast so unmittelbar nach 
der Exstirpation der einen Strumahälfte geschwunden sind, dass ein 
Zusammenhang der Operation mit der Besserung wohl nicht be- 
stritten werden kann. 

Unter 200 Kropfoperationen führt Sulzer 3 Fälle bei Basedow’ 
scher Krankheit an. Bei einer 35jähr. weiblichen Patientin besteht 
seit 3 Jahren eine hufeisenfórmige, weiche Struma. Excision des 
Istmus bleibt ohne Einfluss auf die Erkrankung. Die zweite Patientin, 
18 Jahre alt, mit einer Struma mittlerer Grösse, befand sich in einem 
äusserst deprimierten Gemiitszustand. Neben Exophthalmus bestand 
starkes Herzklopfen, unregelmässiger frequenter Puls, Tremor der 
Hände. Bald nach der Operation April 1894, wobei die rechte 
Strumahälfte entfernt wurde, verschwand auch die übrige Struma; 
der Exophthalmus ist geringer, der Gemütszustand zur Norm gehoben 
und der Puls regelmässig. Im dritten Fall wurde wesentliche Besse- 
rung durch die Exstirpation der rechten Hälfte der nicht sehr ver- 
grösserten Schilddrüse herbeigeführt. | 

Über weiteres günstiges Operationsresultat berichten Neumann 
und J. Putnam in je einem Falle. Stockmann unterband bei einer 





1 


26jährigen an Morbus Basedowii leidenden Patientin zuerst die 
Art. thyreoidea; nach 4 Wochen schwoll ohne sonstige Verschlimme- 
rung des Leidens der linke Lappen wieder an. Es folgte «dann 
Exstirpation und damit völlige Heilung des vorher deprimierten und 
arbeitsunfähigen Mädchens. 

Booth teilt einen Fall mit, wo durch Entfernung des rechten 
Lappens der Struma neben Verschwinden der übrigen ausgesprochenen 
Basedow-Symptome auch die linke Hälfte sich verkleinerte. 

Drei Fälle von chirurgisch behandeltem Morb. Basedow ver- 
öffentlicht Mattiesen aus der Erlanger Universitätsklinik. Der erste 
schon von Strümpell erwähnte endete letal. Es wurde der rechte, 
stark vergrösserte Schilddrüsenlappen, sowie ein medianer Kropf- 
xnotenenucleiert. Der Exitus erfolgte unter stürmischen Erscheinungen. 
Fall 2, den wir bei Mattiesen sehr ausführlich beschrieben finden, 
verlief ebenfalls ungünstig. Patientin wurde 8 Monate lang ohne 
Erfolg auf der internen Abteilung behandelt, wünschte dann operiert 
zu werden. Am 15. 8. 95 wurde unter Cocaininjectionen, sie ver- 
trug des schlechten Pulses wegen kein Chloroform mehr, der rechte 
sowie der grösste Teil des mittleren Drüsenlappens entfernt. 
11/, Stunden p. op. trat der Exitus letal. ein. Die Section und 
mikroskopische Untersuchung führte zu keinem nennenswerten Re- 
sultate. Der dritte Fall wurde durch die Operation günstig beeinflusst 
nnd zur vollständigen Heilung gebracht. Auch bei dieser Patientin 
stellten sich nach der Operation beängstigende Symptome ein, die 
nach einigen Tagen schwanden. 11/, Jahre nach der Operation ist 
sie gesund und arbeitsfähig gefunden. 

Briner führt in „Beiträge zur klinischen Chirurgie“ 8 Fälle von 
Morb. Based. an, die auf der Züricher Klinik von Krönlein operiert 
wurden, und unterwirft die Operationserfolge einer eingehenden 
Kritik. Die Diagnose war in fast allen Fällen durch längere Be- 
obachtung auf der internen Abteilung gesichert. Auch er hält es 
für wichtig, durch wiederholte persönliche Nachuntersuchung der 
Patienten das bleibende Resultat der Operation festzustellen, wie 
solche bei obigen Fällen in Zwischenräumen von 1—5 Jahren aus- 
geführt wurde. Weit deutlicher, so heisst es da, zeigte der per- 
sönliche Eindruck eine unverkennbare bedeutende Besserung als jede 
Beschreibung der Symptome. 


u ia 


Auf dem Chirurgencongress 1895 referierte Mikulicz über 
11 von ihm ausgeführte Operationen, zu denen 10mal die Struma, 
imal ein Lymphangiom Veranlassung gab. Die Nachuntersuchung 
des ersten Falles wurde 9 Jahre, die der übrigen 5 bis !/, Jahre 
nach der Operation vorgenommen. Er fand in 6 Fällen völlige 
Heilung, 4 wurden wesentlich gebessert, welch letztere er aber als 
in Heilung begriffene bezeichnete, da die Beobachtungszeit sich erst 
auf 2—12 Monate erstreckte. Ein Fall zeigte keine wesentliche 
Veränderung. 

Neben diesen mehr oder weniger ausführlichen Mitteilungen 
finden wir in der Litteratur noch eine ganze Reihe weiterer Berichte 
über operativ zur Heilung gebrachte Fälle von Morb. Basedowii, 
so von Cohn, Dolbau, Hahn, Herskind, Lavisé, Moebius, 
Nunneley, Schmidt, Schuchard, Schuler, Trendelenburg 
u. A., auf die näher einzugehen uns zu weit führen würde. 

Bevor ich jedoch dazu übergehe unsere eigenen Beobachtungen 
zu veröffentlichen, sei es mir noch gestattet die reichen Erfahrungen 
jenes Autoren anzuführen, der vor Allen berufen erscheint, ein end- 
gültiges Urteil in vorliegender Frage abzugeben. Es ist dieses 
Kocher, dessen Mitteilung ich Folgendes entnehme: Er operierte 
wegen Morb. Basedowii 34 Mal. Von diesen Kranken sind drei 
gestorben, aber nur ein Fall in unmittelbarer Folge der Operation, 
und zwar eine Frau mit sehr grosser Struma, wo hochgradige Atem- 
not die dringlichste Indication zum Einschreiten abgegeben hatte. 
In den zwei anderen Todesfällen erfolgte der Tod durch Embolie, 
ist also einem Zufall zuzuschreiben, welcher als Complication jeder 
Operation auftreten kann. In allen anderen Fällen ist stets Besserung 
oder Heilung nach einiger, oft längerer Zeit eingetreten. Leider 
fehlt zur Zeit noch eine eingehende Publication dieser Fälle. 

Zu einem äusserst günstigen Resultate führten auch die auf 
der chirurgischen Abteilung des Marien-Krankenhauses in Hamburg 
von Herrn Dr. Kümmell vorgenommenen Strumectomieen. Die 


Krankengeschichten dieser 14 Fälle sind folgende: 

Fall I. J. O., Dienstmädchen, 24 Jahre alt, aufgenommen am 20. VIII. 1889. 
Dieselbe will als Kind stets gesund gewesen sein, später vorübergehend an Chlo- 
rose gelitten haben. Seit 6 Jahren menstruiert sie regelmässig. Gegen Ende des 
vorigen Jahres bemerkte sie ein zunehmendes Schwiichegefiihl im ganzen Körper, 
so dass ihr die nicht besonders schwere Arbeit als Dienstmädchen grosse Mühe 


19 


bereitete. Patientin magerte mehr und mehr ab; ein nervöses Zittern, lebhaftes 
Herzklopfen und Angstgefühl nahmen im Frühjahr dieses Jahres mehr und mehr 
zu, zugleich will Patientin eine Zunahme der vorderen Halspartieen bemerkt haben. 
Seit 3 Jahren besteht Exophthalmus, der aber in der letzten Zeit stärker geworden. 
Eltern und Geschwister sind angeblich gesund. 

Status. Bei der Aufnahme in das Krankenhaus bietet Patientin das aus- 
gesprochene Bild des Morbus Basedowii dar. Neben hochgradigem Exophthalmus 
ist eine Struma mittlerer Grösse vorhanden, der rechte Drüsenlappen mehr ver- 
grössert als der linke. Lebhafte Herzaktion, ohne auf ein organisches Herzleiden 
schliessen lassende, abnorme sausende Geräusche an der Herzbasis. Pulsfrequenz 
ist auf 140 Schläge gesteigert, bei Aufregung 160—180; die Pulswelle ist schwach. 
Die ausgestreckten Hände zittern lebhaft, Patientin klagt über grosse Schwäche 
und Angstgefühl, über anhaltende Schlaflosigkeit und Schmerzen in den Beinen, 
besonders in beiden Kniegelenken. Da sie eine Zeit lang intern behandelt und 
alle gegen das Leiden angewendeten Mittel, wie Brom- und Jodkali, Arsenik, Eisen 
und manches andere gar keinen Erfolg hatte, riet man zur Operation, die am 
5. X. 89 ausgeführt wurde. Die Narkose musste mit grosser Vorsicht ‘geleitet 
werden, da eine hochgradige Cyanose des Gesichtes und kaum noch zäblbarer 
Puls Besorgnis erregte. Die Struma wurde ın der üblichen Weise entfernt, die 
Operation bot keine besonderen technischen Schwierigkeiten, der linke Lappen der 
Driise wurde nur teilweise entfernt. Die Wundhóhle wurde durch versenkte fort- 
laufende Catgutnähte vollständig geschlossen. Der Wundverlauf war ein normaler, 
Patientin hatte nur während der ersten Tage über Beschwerden beim Schlucken 
zu klagen und erholte sich dann rasch. Die subjectiven Beschwerden und Klagen 
über Schwäche uud Angstgefühl schwanden bald und 6 Wochen post op. ist der 
Puls vollkommen gleichmässig und ruhig mit einer Frequenz von 70—80 Schlägen. 
Der Exophthalmus besteht noch, ist aber, wie ihre Angehörigen selber angeben, 
geringer geworden. Der Kräftezustand ist ein weit günstiger und hat Patientin 
in jeder Woche an Körpergewicht zugenommen. Ich bemerke hier, dass dieser 
Fall schon im November 1889 im ärztlichen Verein zu Hamburg von meinem 
Herrn Chef vorgestellt und veröffentlicht wurde. Eine Nachuntersuchung, die ich 
im November 1896 also 7 Jahre nach der Operation anstellte, ergab folgendes 
Resultat: Aus dem damals arbeitsunfähigen Dienstmädchen war eine kräftig und 
blühend aussehende Hausfrau geworden. Vor 3 Jahren verheiratet, hatte sie ein 
gesundes 2jähriges Mädchen und war jetzt wieder im 5. Monat gravide. Er- 
scheinungen von Seiten des Herzens hat Patientin nicht mehr gehabt. Der Puls 
ist voll und kräftig bei 75—80 Schlägen in der Minute. Der Herzspitzenstoss ist 
kaum sichtbar, am Herzen selbst keine Geräusche wahrzunehmen. Tremor und 
Angstgefühl seit 1889 nicht wieder aufgetreten, der Exophthalmus ist ganz ver- 
schwunden. Unter der quer verlaufenden kaum auffallenden Narbe ist links ein 
etwa kirschgrosser Knoten als harte und derbe Resistenz zu fühlen. Patientin 
spricht wiederholt während der Untersuchung ihren Dank für den so günstigen 
Ausgang der Operation aus. 

Fall II. Bertha P., 20 Jahre alt, Näherin, wurde am 8. III. 1894 in das 
Krankenhaus aufgenommen. Die Mutter der Patientin starb im Irrenhaus, den 
Vater hat sie nicht gekannt, Geschwister sind nicht vorhanden. In der Jugend an 
Masern und Scharlach erkrankt, trat in ihrem 16. Lebensjahre mit Eintreten der 
Menstruation „ein allgemeiner Verfall“ des Körpers angeblich ein. Sie ermüdete 

2* 


2() 


leicht, bekam Kopfschmerzen und schon nach kurzem Treten ihrer Nähmaschine 
derartiges Herzklopfen, dass sie ihre Arbeit ganz aufgeben musste. Zu der Zeit 
sollen die Augen allmählich stark hervorgetreten, starke Nachtschweisse sich ein- 
gestellt haben. Dysmenorrhoe, Anschwellung des Halses trat vor einem Jahre auf. 

Status, Patientin, in einem sehr dürftigen Ernährungszustande sich befindend, 
bietet mit ihren stark hervortretenden „Glotzaugen“ einen unheimlichen, starr- 
zornigen Gesichtsausdruck dar; Gráfe'sches und Möbius’sches Symptom ausgeprägt 
vorhanden. Schmerzen im Augeninnern bei normalem Augenhintergrund, Puls 
180 in der Minute, dabei klein und unregelmässig. Die Carotiden pulsieren deutlich 
und geben ein sausendes Geräusch. Dasselbe Geräusch findet sich an der Art. 
pulmonal. Die übrigen Herztöne sind rein, der Spitzenstoss ist im ganzen Bereiche 
der vergrösserten Herzdämpfung deutlich zu sehen. An der rechten Halsseite eine 
etwas über die Medianlinie hinausragende, gut apfelgrosse, sich weich anfühlende 
Kropfgeschwulst, die bei geringer Senkung des Kopfes durch Druck auf die Trachea 
ein stridorähnliches Atemgeräusch verursacht. Die Gesichtsfarbe ist gelblich-fahl, 
anämisch, die Haut feucht. P. klagt über schlechten Appetit und Schlaflosigkeit. 
Operation am 20. III. 1894 in Chloroformnarcose, die trotz des schlechten Pulses 
ungestört verläuft. Bogenschnitt von der Medianlinie über der Höhe der Geschwulst 
nach rechts und unten verlaufend. Nach Durchtrennung der Halsmuskeln, die 
wegen der Grösse des Tumors nicht zur Seite gedrängt werden können, kommt 
derselbe frei zu Tage. Die Art. thyreoidea sup. wird unterbunden, sowie die aus 
den Muskeliisten blutenden Gefásse. Der rechte Drüsenlappen wird zum grössten 
Teile stumpf herausgelöst, der linke etwa wallnussgrosse nicht entfernt. 

Mässige Blutung. Catgutnaht, Glasdrain. Trockener Deckverband, der den 
Kopf mit einschliesst. Bei der Entfernung des Drains am 2. Tage p. o. quillt aus 
der Drainstelle eine geringe Menge schwarz-braun verfärbter Flüssigkeit hervor. 
Patientin bleibt bis zur Abnahme dieses Verbandes (8. Tag) fieberfrei. Reactions- 
lose Heilung. Patientin schlief 2 Tage nach der Operation zum ersten Male die 
ganze Nacht durch und verlangte mehr wie die flüssige Nahrung, kein Stridor 
mehr. Pulsfrequenz blieb 110—120. Bei ihrer Entlassung am 20. IV. 94 waren 
verschwunden: das Zittern der Arme und Füsse, das Angstgefühl, die Schlaflosigkeit 
und das Herzklopfen. Der Exophthalmus ist wenig beeinflusst. Nachuntersuchung 
am 5. V. 96. Patientin arbeitet wieder den ganzen Tag an der Maschine, sie ist 
in den 2 Jahren p. o. rund und dick geworden. Der Puls ist mittelkräftig bei 
80—90 Schlägen in der Minute. Kopfschmerzen kennt Patientin nicht mehr. Der 
Exophtbalmus ist zwar noch in geringem Grade vorhanden, jedoch stetig nach 
Aussage zurückgegangen. Die linke Halsseite tritt etwas stärker hervor, wie die 
rechte, eine stärkere Anschwellung des linken Drüsenlappens jedoch nicht vor- 
handen, eher fühlt er sich verkleinert und härter an wie bei der Operation. 

Fall III. Emma B., Schäferstochter, 21 Jahre alt, wurde aufgenommen am 
8. V. 1894. Dieselbe giebt an in ihrem 18. Lebensjahre einen schweren Gelenk- 
rheumatismus dadurch aquiriert zu haben, dass sie in Ausübung der väterlichen 
Geschäfte häufig vom Regen durchnässt mehrere Stunden noch im Freien zuge- 
bracht habe. Auch ihre jetzige Erkrankung führt sie auf dieselbe Ursache zurück. 
Eltern und 4 Geschwister leben und sind gesund. Im Mai 1893 fühlte sie sich 
zuerst von heftigem Herzklopfen und Kopfschmerzen belästigt, dem nach einigen 
Monaten Zittern in Händen und Füssen sowie Schmerzen in den Knie- und 
Schultergelenken folgten. Der dortige Landarzt machte sie auf die Prominenz der 


21 


Bulbi aufmerksam und gab ihr verschiedene Arzneien. Als dann im Februar und 
Marz des folgenden Jahres eine Anschwellung des Halses mit nachfolgenden Atem- 
beschwerden eintrat, wurde sie von dem betr. Arzte unserem Krankenhause 
überwiesen. 

Status. Bei der Aufnahme bot die Patientin bei ihrem sonst wohlgenährten 
und gutem Aussehen das typische Bild des Morbus Basedowii dar. 

Der Exophthalmus wurde durch das. Gräfe’sche und Stellwag'sche Symptom 
besonders gekennzeichnet. Links von der Medianlinie des Halses trat die vom 
Zungenbein bis hinab zum Sternum reichende Struma als feste derbe Geschwulst 
in gut Faustgrösse hervor. 

Die lebhafte Herzaction war im Liegen durch die Kleider sichtbar und stieg 
die Frequenz bei Erregung auf 160—3170 Schläge. Nervöse Erscheinungen traten 
nicht besonders in den Vordergrund, vor allem nicht die sonst so regelmässige 
Angst und Unruhe. Ihre Hauptklagen bestanden in Muskelschmerzen, Waden- 
krämpfen und Kopfschmerzen. An der Herzspitze fand sich ein lautes systolisches, 
blasendes Geräusch, wohl eine Folge des früher überstandenen Gelenkrheumatismus. 

Operation am 10. 5. 94. Bogenschnitt. Nach Unterbindung der Art. 
thyreoidea sup. und einiger oberflächlicher Venenstämme gelang die Enucleation 
des Strumaknotens ohne Verletzung der Halsmuskulatur. Bei der kaum nennens- 
werten Blutung wurde die ganze Wunde geschlossen und kein Drain eingelegt. 
Die Heilung erfolgte glatt und reactionslos in 10 Tagen. 4 Tage post. op. bereits 
hatte Patientin das Bett verlassen und einen Spaziergang durch den Garten gemacht. 

Mit der Operation waren auch die Beschwerden von Seiten des Herzens 
geschwunden. Am 2, Tage p. o. betrug der Puls 120, am 4. 100, am 12. 80, und 
bei der Entlassung der Patientin am 21. Tage stand die Pulscurve auf 75 iu der 
Minute. Der Herzspitzenstoss blieb noch deutlich sichtbar, eine Erschütterung der 
Brustwand aber war nicht mehr vorhanden. Das systolische Geräusch an der 
Herzspitze bestand fort. Der Exophthalmus war wesentlich verkleinert, Kopf 
und Muskelschmerzen verschwunden. Patientin wurde als geheilt am 2. Juni in 
ihre Heimat entlassen. 

Am 20. 5. 96, also nach 2 Jahren konnte die Heilung auch noch durch das 
vollständige Verschwinden des Exophthalmus bestätigt werden. Das Herzspitzen- 
geräusch war kaum noch deutlich vernehmbar, der Puls schwankte zwischen 70 
und 80 Schlägen in der Minute. Patientin ist sehr vergnügt und zufrieden mit 
dem Operationsresultate und arbeitsam wie zuvor. 


Fall IV. Minna P., 45 Jahre alt, Ehefrau, aufgenommen am 26. VIII. 1894. 
Dieselbe ist 15 Jahre verheiratet und Mutter von 5 Kindern, von denen 2 an 
Rhachitis leiden sollen. Die Mutter der Patientin starb am ,,Nervenfieber*, der 
Vater war starker Potator. Im September 1871 im 2, Monat ihrer letzten Gra- 
vidität litt sie häufig an Blutandrang zum Kopfe. Mit Vorrücken der Gravidität 
fiel das Vortreten ihrer Augäpfel auf; eine Schwellung der Beine und starkes 
Herzklopfen brachten grössere Belästigung. Bald bemerkte sie eine Anschwellung 
des Halses, und kurz vor der Geburt des Kindes traten derartig nervöse Störungen, 
Angst und Beklemmung auf, dass sie für geistesgestört gehalten wurde. Mit dem 
Partus gingen alle genannten Erscheinungen bedeutend zurück, bis eine Influenza 
im Frühjahr 1894 das alte Leiden mit gesteigerter Vehemenz einsetzen liess. 

Am 26. VIII. 1896 ergiebt sich folgender Befund: Anämische, abgemagerte 
Frau mit dogstlichem Blick und erheblicher Prominenz der Bulbi. Das Schliessen 


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der Augen geschieht mit sichtlicher Anstrengung, dabei bleibt ein Abstand der 
Augenlider von 3—4 mm rechts sowohl wie links. Patientin schläft mit offenen 
Augen, die Conjunctiven erscheinen glänzend und feucht. An den Gefässen der 
Retina wird keine Pulsation bemerkt. Die Struma ist rechts stärker als links 
bei einem Halsumfange von 39 cm. Die Venae jugulares sowie ein beträchtlich 
erweiterter Venenstamm über der Struma pulsiren deutlich. 

Der Herzspitzenstoss deutlich sichtbar, liegt 2 Finger breit links von der 
Mammilla. An allen Ostien systolisches Blasen. Der Puls 130 in der Minute ist 
weich und schnellend. Patientin klagt über Hitzegefühl im Kopf und den Extre- 
mitäten, Angst und Beklemmungserscheinungen. Der Tremor der Hände ist so 
stark, dass sie ihren Namen nicht annährend leserlich schreiben kann. Operation 
am 28. Sept. 1894. Chloroformnarcose. Querschnitt etwa 10 cm. lang über der 
Höhe der Geschwulst, starke Blutung aus den erweiterten Hautvenen. Stumpfes 
Loslósen des rechten Strumaknotens ist sehr erschwert und veranlasst wiederholt 
stärkere Blutung. Die Verbindung des so hervorgezogenen Strumaknotens mit der 
l. Drüsenhälfte wird abgeklemmt und nach Durchschneidung vernäht. 

Nach weiterer sorgfältiger Blutstillung, bei welcher man die Carotis und 
auch den Nerv. recurrens zu Gesicht bekommt, wird die Wunde fortlaufend mit 
Catgut vernäht bis auf eine kl. Öffnung für das Glasdrain. Deckverband. Am 
Abend zeigt sich der Verband von Blut durchtränkt, wird aber nicht gewechselt, 
sondern durch Auflagen etwas fester angezogen. Keine weitere Blutung. 


Etwa 8 Stunden nach der Operation tritt ein Collaps ein, der aber durch 
Campherinjectionen und Einflössen von Portwein gehoben wird. Der Puls war 
in dem Stadium kaum zählbar aber gut zu fühlen. Patientin stierte mit weitgeöff- 
neten Augen zur Zimmerdecke und redete unverständliche Worte. Am folgenden 
Morgen besserte sich der Zustand bedeutend; P. wurde vollständig klar, der Puls 
sank auf 150, es stellte sich ruhiger Schlaf ein. Die Temperatur die am Abend 
auf 39,4 gestiegen war betrug 36,8 und blieb auch die folgenden Tage normal. 
Der Verband wurde erst am 3. Tage gewechselt, das Drain entfernt. Es zeigte 
sich nirgends eine Störung in dem Wundverlaufe. Collodiumverband. Heilung 
p. prim. Es sei hier bemerkt, dass weder Schluckbeschwerden noch auch Er- 
scheinungen von Seiten der Atmungsorgane an dem ersten Tage auftraten. Der 
Erfolg der Operation war auch in diesem Falle trotz des Zwischenfalles ein über- 
aus eklatanter. 14 Tage p. op. betrug die Pulsfrequens nur noch 85—90; das 
Gefühl des Herzklopfens, Angst und Unruhe waren verschwunden. Der Exoph- 
thalmus ging langsam zurück, ja das ganze Krankheitsbild hatte sich derart ver- 
ändert, dass ihr Mann bei einem Besuche äusserte, er kenne seine Frau kaum 
wieder. Im Mai 1896 stellte sich die Patientin wieder vor und versichert uns, 
dass sie in früherer Rüstigkeit jetzt wieder ihrem grossen Haushalte vorstände. 
Und in Wirklichkeit machte sie einen so vollkommen gesunden Eindruck, dass 
man ihr die erst vor 1, Jahren überstandene schwere Erkrankung nicht mehr 
ansah. Der Puls betrug jetzt 70—80 Schläge in der Minute, war etwas klein 
aber regelmässig. Der Herzspitzenstoss war in die l. Mammillarlinie gerückt, am 
Herzen selbst keine Geräusche mehr zu hören. Die Psyche zeigt sich normal, 
am Halse ist über der kaum sichtbaren Narbe der etwa taubeneigrosse Rest des 
linken Drüsenlappens fühlbar. 

Fall V. Ida H., Gärtnersfrau, 31 Jahre alt, wurde aufgenommen am 26. IX. 
1894. Hereditär nicht belastet, will sie bis vor 2 Jahren stets gesund gewesen 


sein. Seit 10 Jahren verheiratet, gebar sie 4 gesunde noch lebende Kinder, 
abortirte 4 mal, zuletzt Januar 1893 im 3. Monat. Im Anschluss an diesen Abort 
traten Erscheinungen von Morbus Basedowii auf. Patientin verspürte zuerst eine 
grosse Ermüdung nach den leichtesten Arbeiten, dazu gesellten sich Schwindol- 
anfälle und äusserst heftige Diarrhoeen. Die Menses sistierten vollständig; starker 
Tremor der Hände, sowie Krämpfe in Armen und Beinen führten die Patientin 
endlich in’s Krankenhaus, nachdem eine 2 monatliche Schilddrüsenfütterung eher 
eine Verschlimmerung als Besserung des Zustandes herbeigeführt. 

Status. Anämische, abgemagerte Frau, die einen ganz menschenscheuen 
Eindruck macht. Die Gesichtshaut zeigt sclerotische Veränderung, am Rücken 
einzelne etwa handtellergrosse, flechtenartige Hautausschläge. Starke Prominenz 
beider Bulbi mit ausgesprochenem Gräfe’schen Phänomen. Die Glandula thyeroidca 
tritt zu beiden Seiten des Halses als derber auf Druck schmorzhafter Tumor her- 
vor, über dem Pulsation nicht vorhanden. Leichter Stridor zeigte eine Beeinträch- 
tigung der Trachea durch den Tumor an. Die Herzthätigkeit war eine unrogel- 
mässig beschleunigte, der Puls schwankte zwischen 100 und 130. Herztöne waren 
rein, der Spitzenstoss an normaler Stelle deutlich sichtbar. Patientin klagt über 
anhaltende Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit, von oben erwähnten Diarrhoeen 
wird sie tags über 8—10 mal geplagt bei absoluter Appetitlosigkeit. Das Körper- 
gewicht betrug 40 kg, früher will Patientin 65 kg gewogen haben. 

Am 28. September 1894 wird in derselben Weise wie in vorigem Falle der 
rechte, sowie ein Teil des vergrösserten linken Schilddrüsenlappens entfernt. Die 
Operation war verhältnissmässig leicht, indem sich der rechte etwa kleinapfel- 
grosser Strumaknoten stumpf her auslösen liess, und eine nur minimale Blutung 
auftrat. Die Trachea hatte Säbelscheidenform angenommen. Schluss der ganzen 
Wunde mit Catgut, keine Drainage. Bei normalem Wundverlauf konnte am 10. 
Tage jeglicher Verband entbehrt werden. Es wurde an dem Tage vermerkt: das 
völlige Verschwinden der Diarrhoeen, obschon Patientin seit 3 Tagen wieder reich- 
liche Nahrung, auch feste Speisen, mit gutem Appetit zu sich nahm. Ferner 
fehlte der frühere Kopfschmerz und die Schlaflosigkeit. Die Zuckungen in Händen 
und Beinen waren verschwunden, es bestand nur noch Zittern der ausgestreckten 
Hände geringen Grades. Exophthalmus noch nicht beeinflusst. 

Nachuntersuchung am 15. April 1896. Völlig verschwunden ist der früher 
hochgradige auch 3 Wochen p. op. noch vorhanden gewesene Exophthalmus. 

Am Halse eine nicht auffallende Narbe, der linke Strumarest scheint etwas 
geschrumpft. Der Puls ist regelmässig und zählt 70—80 Schläge in der Minute. 
Ibr Körpergewicht hat beinahe die frühere Höhe erreicht 60 kg, und arbeitet 
Patientin seit einem Jahre wieder frisch und munter in der Gärtnerei sowohl wie 
auch im Haushalte. Auch der Tremor ist verschwunden, an Stelle der Hautflechte 
eine dunkelbraune Pigmentierung. 


Fall VI. H. v. S., Putzmacherin, 40 J., aufgenommen am 22, Januar 1895. 
Aus gesunder Familie stammend giebt sie an, dass eine ihrer Schwestern nach 
mehrjáhrigem Aufenthalte im Auslande an derselben Erkrankung gestorben sei. 
Seit 16 Jahren menstruirt, stellte sich im 18. Jahre im Anschluss an eine schwere 
Chlorose Amenorrhoe ein, die etwa °’, Jahre anhielt. Bis zu ihrem 20. Lebens- 
jahre unregelmässige und schwache Menstrualblutungen. Nervöse Störungen, Auf- 
geregtheit und Angstgefühl, vor Allem Schlaflosigkeit sollen schon in dieser 
chlorotischen Periode aufgetreten sein. Ja ihre Umgebung habe behauptet, dass 


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zeitweise die Augen stärker hervorgetreten seien ; das Verschwinden dieses Symptoms 
sei dann gewöhnlich mit Auftreten der Menstruation zusammengefallen. 
Patientin blieb ledig. Mit 38 Jahren setzten die oben erwähnten Erscheinungen 
plötzlich und ohne nachweisbare Ursache wieder ein, und der sie behandelnde 
Arzt konnte auf den ersten Blick, wie er mir persönlich mitteilte, etae 
typische Basedow’sche Erkrankung diagnostizieren. Interne Medicamente wie Brom, 
Jodkali etc. blieben ebenso wie (Wohnungswechsel) Landaufenthalt ohne Erfolg. 
Als auch der letzte Heilungsversuch, eine langdauernde Verabreichung von Thy- 
reoidintabletten fehlschlug, wurde Patientin zwecks chirurgischer Behandlung dem 
Marien-Krankenhause iiberwiesen. 

Status: Mittelgrosse Person mit atrophischer Musculatur; das Knochengerüst 
tritt überall durch die schlaffen welken Hautdecken scharf hervor. Die ganze 
Haut sowie die Conjunctiven zeigen eine leicht icterische Verfärbung, die an ein- 
zelnen Stellen der Brust und des Halses einen mulattenartigen Ton angenommen. 
Die Stimme ist vibrierend, die Hände zittern stark beim Ausstrecken der Arıne. 
Gräfe’s und Moebius's Symptom bei starker Prominenz der Bulbi deutlich vorhanden. 
Der auf 130—140 Schläge in der Minute beschleunigte Puls ist bei Aufregung 
kaum zu zählen. Die linke Brusthälfte befindet sich über die Grenze der ver- 
grösserten Herzdämpfung hinaus in fortwährender Erschütterung, die schon auf 
einige Entfernung hin durch die Kleider deutlich sichtbar ist. In der Mitte des 
Halses tritt die nach rechts sich herüberziehende Struma als gut faustgrosser 
weich sich anfühlender Tumor hervor; die aufgelegte Hand kann deutliche Pulsa- 
tion der ganzen Struma constatieren. Ueber beiden Carotiden lautes blasendes 
Geräusch, welches auch auf der Höhe der Struma zu hören. Patientin macht einen 
ängstlich aufgeregten Eindruck, klagt über halbseitigen Kopfschmerz und absoluter 
Schlaflosigkeit. Nach längerem Gehen treten Schmerzen in den Kniegelenken und 
Schwellung der Knöchelgegend auf. Urin ist eiweissfrei. Menstruation unregel- 
mässig und schmerzhaft, Genitalien ohne Befund. 

Operation am 23. Januar 1895. Rechtsseitiger Bogenschnitt über der Hohe 
der Geschwulst. Die sich als Gefässkropf präsentierende rechte Hälfte wird stumpf 
gelöst und aus der Wunde hervorgewälzt, der Stiel unterbunden und vernaht. 
Die Operation bot einige Schwierigkeit, da die Geschwulst sich bis unter das 
Sternum erstreckte. Die Blutung war gering. Nach Schluss der Wunde wurde 
die Atmuag ruhiger, da die seitlich etwas eingedrückte und nach links verschobene 
Trachea sich nun wieder ausdehnen kounte. Der Wundverlauf war ein vollständig 
normaler. Nach Entfernung des Drain am 2. Tage trat des Abends eine Temperatur- 
steigerung von 38,4 auf, sank aber am folgenden Tage zur Norm zurück. Patientin 
wurde am 12. Tage p. op. aus dem Krankenhause entlassen. Bei ihrer Entlassung 
konnten wir eine erhebliche Abnahme der nervösen Symptome constatieren. Der 
Puls betrug 120. Die Nachuntersuchung am 9. 2. 96 ergab vollständige Heilung. 
Herzklopfen fehlte, der Puls betrug 70—75 in der Minute. Keine Spur von 
Exophthalmus mehr. Ihr Aussehen ist ein frisches und gesundes, der Kräfte- und 
Ernährungszustand hat sich wesentlich gehoben. Sie erzählt, dass sie mit Lust 
und Freude jetzt wieder ihre Berufsgeschäfte verrichten könne. 

Fall VII. Elise K., Näherin, 18 Jahre alt, aufgenommen am 10. IV. 95. 
Die Eltern starben beide an Lungentuberculose, ebenfalls 2 Brüder; eine Schwester 
ist gesund. Sie menstruirt seit 3 Jahren unregelmässig, und will seit einem 
Jahre an Blutarmut gelitten haben. Auf der internen Abteilung unseres Kranken- 


25 


hauses vom 10. III. 95 bis 10. VI behandelt, wird sie mit der Diagnose Morbus 
Basedowii zur Vornahme einer Operation auf die chirurgische Abteilung verlegt. 

Status. Anämisches sonst kräftiges Mädchen, das einen etwas „beschränkten“ 
Eindruck macht. Sie ist schwerhörig auf beiden Ohren. Neben hochgradigem 
Exophthalmus besteht eine besonders links hervortretende Vergrösserung der Schild- 
drüse. Ihre Stimme ist heiser und findet sich bei der laryngoskopischen Unter- 
suchung eine vollständige Lähmung des linken Stimmbandes. An der Herzspitze 
lautes systolisches Blasen von wechselnder Intensität, Herzdämpfung nicht ver- 
grossert. Der Puls ist unregelmässig, klein, wechselnd zwischen 100—140 Schlägen 
in der Minute. Die Haut fühlt sich feucht, kleberig an. Starker Tremor der aus- 
gestreckten Hände. Diarrhoeen und Appetitlosigkeit. An den Lungen ist Krank- 
haftes nicht nachzuweisen. ` 

Am 11. 1V. 95 wird in Chloroformnarcose der linke etwa hühnereigrosse 
Kropfknoten, sowie ein Teil des rechten Drüsenlappens enucleirt. Eine starke 
Blutung während der Operation wird durch Umstechungen gestillt. Drainage. 
Aseptischer Deckverband. 

Heilung per primam. Der Erfolg der Operation war insofern kein voll- 
ständiger, als bei Entlassung der Patientin sich zwar die nervésen Erscheinungen 
gebessert, der Exophthalmus und die Pulsbeschleuniguug aber noch bestanden. Fin 
Jahr nach der Operation sah ich die Kranke wieder. Ihr Gesichtsausdruck ist 
nicht mehr so stupide wie vor der Operation. Beim Hervorstrecken der Arme 
kein Tremor. Appetit ist gut, die Diarrhoen sind nicht mehr aufgetreten. Der 
Puls zählt 100 Schläge in der Minute. Am wenigsten durch die Operation be- 
einflusst ist der Exophthalmus, derselbe ist nur in geringem Grade zurückgegangen. 
Können wir nun diesen Fall nicht als völlig geheilt bezeichnen, so ist doch eine 
wosentliche Besserung der Kranken durch die Operation herbeigeführt. Die links- 
seitige Recurrenslähmung besteht fort und ist wohl anzunehmen, dass der Druck 
der Struma eine dauernde Läsion dieses Nerven hervorgerufen. Eine lange fort- 
gesetzte Faradisation blieb erfolglos. 


Fall VIII. Amalie B., Bickersfrau, 38 Jahre alt, aufgenommen am 16. V. 95. 
In zweiter Ehe verheirathet, ihr erster Mann starb an Delirium tremens, hat sie 
4 gesunde Kinder geboren. Die letzte Geburt vor 1'/, Jahren war eine schwere 
und musste angeblich künstlich beendet werden. Im Anschluss an diese Geburt, 
sie will früher nie ernstlich krank gewesen sein, machten sich bei ihr allerhand 
nervöse Störungen bemerkbar. Namentlich fiel ihr auf eine gewisse Schwäche 
und Schwerfälligkeit der Arme, ein Gefühl von Eingeschlafensein der Hände. Die 
Nervosität steigerte sich immer mehr, es stellte sich Herzklopfen ein, welches 
sowohl bei Bewegung, wie auch im Liegen und Sitzen sie störte. Im Februar 95 
bemerkte sie eine Anschwellung an der vorderen Halsgegend, die rasch grösser 
wurde. Zugleich litt sie viel an Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen und 
will etwa 18 Pfd. an Körpergewicht abgenommen haben. 

Status. Patientin von gracilem Körperbau und mässig gutem Ernährungs- 
zustande, bietet einen ängstlichen Gesichtsausdruck dar; es besteht leichte Cyanose 
der Lippen, deutlicher Exophthalmus, Grife'sches Phänomen. An der strotzend 
gefüllten Vena jugularis externa sah man beiderseits deutliche von den Carotiden 
fortgeleitete Pulsation. An der Vorderseite des Halses trat zu beiden Seiten der 
Cartilago thyreoidea eine den vergrösserten Seitenlappen entsprechende sicht- und 
fühlbare Geschwulst hervor, die sowohl gegen die äussere Haut, wie gegen die Unter- 


26 


lage leicht verschiebbar war. An sämtlichen Ostien der Herzgefiisse hörte man 
ein blasendes systolisches Geräusch. Der Puls war mässig kräftig, Frequenz 130 
in der Minute. Patientin macht einen hochgradig nervösen Eindruck und ist auf- 
fallend hastig in ihren Bewegungen. 

Operation am 18. V. 95. Nach vorheriger Unterbindung der zuführenden 
Gefiisse wird der rechte sowohl wie auch der linke Strumaknoten unter Zurück- 
lassung eines geringen Drüsenrestes vor der Trachea enucleirt. Die Operation 
sowohl wie auch die Nachbehandlung verlief ohne Zwischenfall. Schon am dritten 
Tage p. op. ging die Pulsfrequenz auf 90 herab. Vom 14. Tage bis zur Ent- 
lassung schwankte dieselbe zwischen 65 und 75 in der Minute. Herzklopfen ist 
nicht wieder aufgetreten. Bei der Nachuntersuchung, die genau ein Jahr nach der 
Operation angestellt wurde, zeigt sich Patientin frei von Beschwerden und fühlt 
sich vollkommen gesund. Sie hat an Körpergewicht zugenommen und beschäftigt 
sich wieder den ganzen Tag im Haushalte. Der Exophthalmus ist vollkommen 
verschwunden; unter der kaum sichtbaren Narbe nur noch ein geringer Drüsenrest 
fühlbar. Die Pulsfrequenz beträgt 68 in der Minute. 

Fall IX. AnnaB., Dienstmädchen, 17 Jahre alt, aufgenommen am 3. VIII. 95. 
Patientin, hereditär nicht belastet, erkrankte ohne bestimmte Ursache allmählich 
mit Hitze- und Frostgefühl vor etwa einem Jahre. Starkes Herzklopfen machte 
ihr schlaflose Nächte. Das Klopfen zog sich von der Brust zum Rücken, Hals 
und Abdomen hin. Dabei bestand Beängstigung. Vor etwa 10 Monaten traten 
die Augen hervor, unter gleichzeitigem Dickwerden des Halses. Der Appetit war 
wechselnd, der Stuhl angehalten. Menses noch nicht eingetreten. 

Status: Die Prominenz der Bulbi ist beiderseits stark ausgesprochen, ebenso das 
Gräfe’sche und Stellwag'sche Symptom, Der Puls ist beschleunigt, mássig gefüllt, leicht 
zu comprimiren; seine Frequenz beträgt 140 in der Minute. Die Zunge ist trocken, be- 
legt und zittert beim Hervorstrecken. Die Schilddrüse ist mässig geschwollen, besonders 
im mittleren Lappen; sie pulsiert überall und über derselben ist ein lautes systolisches 
sausendes Geräusch zu hören. Der Herzspitzenstoss weit links von der Mammillar- 
linie zu fühlen. Auch am Epigastrium deutliche Pulsation sichtbar. Sonstige 
nervöse Symptome, wie Tremor, Angstgefühl etc. sind nicht vorhanden und befindet 
sich Patientin in einem guten Ernährungszustande. Operation am 4. VIII. 95. 
Durch den oben schon beschriebenen Querschnitt wird der etwa orangengrosse 
rechte über die Mitte hinausragende Strumaknoten herausgelöst. Es handelt sich 
um eine Struma parenchymatosa. Die Chloroformnarcose bewirkt zu Ende der 
Operation eine starke Cyanose des Gesichts und Steigerung der Pulsfrequenz, Er- 
scheinungen, die mit Aussetzen des Chloroforms wieder verschwinden. 

Auch in diesem Falle war der Erfolg ein guter. Die Heilung verlief glatt 
olıne Zwischenfall. 14 Tage nach der Operation waren verschwunden: Herzklopfen 
und abnorme Pulsation der grossen Gefässe, der Exophthalmus verkleinert, der 
Puls zählte 80—90 in der Minute. 

Am 30. XI. 96 sah ich die Patientin wieder in ihrer vollen Thätigkeit als 
Dienstmädchen in einer bekannten Familie, der sie wiederholt ihre Freude über 
den Operationserfolg ausgedrückt hatte. Exophthalmus war gänzlich zurückgegangen ; 
der Puls betrug 70 in der Minute; am Halse eine glatte kaum sichtbare Narbe. 

Fall X. Anna L., 26 Jahre alt, Näherin, aufgenommen am 2. VIII. 95. Vater 
und eine Schwester der Patientin starben an Phthise, 2 Brüder sind gesund. In 
der Jugend will sie an Scharlach uud Diphtherie schwer erkrankt gewesen sein. 


Im Anschluss an eine Influenza im Miirz 95 trat angeblich starkes Herzklopfen und 
Atemnot auf. Zudem wurde sie von ziehenden und reissenden Schmerzen in Armen 
und Beinen geplagt. Die Gelenke blieben frei, jedoch bemerkte Patientin bei Beweg- 
ungen Zittern in Armen und Beinen. Die Menses traten vom 17. Jahre ab nur un- 
regelmässig 6—8 wöchentlich auf und sistierten von September bis November 94 voll- 
ständig. Schwellung der Schilddrüse und Hervortreten der Augäpfel seit dem 
Influenzaanfalle. 

Status. Patientin ist eine mittelgrosse Person von kräftigem Körperbau 
und reichlichem Fettpolster. Die Haut ist feucht und glatt und zeigt ein der Urticaria 
ähnliches Exanthem. Puls auf 130 beschleunigt. Erschütterung der linken 
Thoraxhälfte bei deutlicher Hebung der gut entwickelten Mamma. Aus- 
gesprochener Exophthalmus, Griife’sches Symptom, die Conjunktiven glänzend. Der 
rechte Drüsenlappen ist bedeutend vergrössert, kleinapfelgross, weich, nicht 
fluctuierend. Tremor in Händen und Füssen. P. macht einen sehr verstimmten 
Eindruck und klagt über starke Kopfschmerzen. Operation am 5. VIII. 95. Quer- 
schnitt wie oben. Enucleation eines apfelgrossen parenchymatösen Kropfknotens. 
Keine wesentliche Blutung. Narkose verläuft gut. Aın Tage nach der Operation 
steigt die Temperatur auf 38,6, am folgenden Morgen auf 38,9, begleitet von 
leichtem Schüttelfrost. Bei Abnahme des Verbandes und Entfernung des Drain 
quillt aus der Drainöffnung dunkles mit Eiter vermischtes Sekret hervor. Es werden 
die unteren Ligaturen gelösst und ein Jodoformgazestreifen in die Wundhöhle ein- 
geschoben. Temperatur am Abend 38,4. Beim Verbandwechsel am folgenden 
Tage reichliche Sekretion, keine Verhaltung. Die Temperatur fällt zur Norm. 
Nach 10 Tagen gute Granulationsbildung in der Tiefe und am 22. Tage p. op. 
schliesst sich die Wunde ohne wieder Reaktionserscheinungen hervorgerufen zu 
haben. Bei der Entlassung zählt der Puls 90—100 Schläge in der Minute. Die 
stürmischen Herzpalpationen sind fast verschwunden. Tremor nur gering. Exoph- 
thalmus nicht beeinflusst. Im Mai 96 sah ich die P. wieder. Ihr Aussehen war 
zwar gut, der Exophthalmus aber unverändert. Der Puls schwankt zwischen‘ 90 und 
100 Schlägen. Die linke Halsseite ist etwas geschwollen, der 1. zurückgebliebene 
Drüsenlappen fühlt sich etwas vergrössert an. Patientin macht einen hochgradig 
hysterischen Eindruck und befindet sich wieder in interner Behandlung. 

Fall XI. Dora E., 44 Jahre, Lehrersfrau, wurde aufgenommen am 8. VIII, 
1895. Seit 20 Jahren verheiratet, hat sie 5 mal geboren, zuletzt im Januar 1885. 
Ein Kind, Mädchen von 14 Jahren, soll ebenfalls eine Anschwellung des Halses 
und ,,Glotzaugen“ haben. In der Familie des Vaters soll Neurasthenie verbreitet 
sein. Ihr jetziges Leiden begann vor etwa 6 Jahren, zu einer Zeit, als Ärger und 
Verdruss in der Familie ihr das Leben verbitterten. Allgemeine Nervosität, Zittern 
am ganzen Körper, Angstgefühl und Schlaflosigkeit hatten etwa °/, Jahr bestanden, 
als ein schwerer Typhus sie befiel. Nach Ablauf dieser Erkrankung erholte sie 
sich nicht, sondern wurde von Tag zu Tag hinfälliger. 

Die Augen traten allmählich weit aus dem Kopfe hervor; am Halse begann 
eine etwa faustgrosse Geschwulst ernstere Atembeschwerden zu verursachen. 
Patientin unterzog sich dann einer Kneipp'schen Kur, wanderte zu allen möglichen 
Kurpfuschern, liess auch von dem damals „berühmten Wunderdokter Schäfer Ast“ 
sich die Diagnose Unterleibsleiden stellen, und kam endlich in elendem Zustande 
zur operativen Behandlung in's Krankenhaus. 

Status: Mittelgrosse Person in einem äusserst schlechten Ernährungszustande. 


28 





Haut ist welk und fahl, Schleimhäute blass, die Konjunktiven etwas icterisch ver- 
färbt. Doppelseitiger Exophthalmus, gleichmässig und hochgradig. Gräfe’sches 
und Stellwag’sches Symptom vorhanden, das Sehvermögen nicht herabgesetzt. 
Zu beiden Seiten der Trachea unterhalb des Larynx eine bedeutende Anschwellung 
der Gland. thyreoidea: Der linke Lappen etwa faustgross, der rechte um die 
Hälfte kleiner, der Isthmus ist kaum zu fühlen. Die Atmung ist bebindert und 
lässt bei Inspiration ein lautes stridorartiges Geräuch vernehmen. Die Herzaktion 
ist in grosser Ausdehnung sichtbar, der Puls regelmässig, 130 Schläge in der 
Minute. Patientin klagt über starken Durst. Sie fühlt sich verfolgt und hört in 
der Nacht laute Stimmen in der Nähe ihres Bettes. Die Nachtwache bestätigt, 
dass sie keine Nacht geschlafen. Starker Tremor der Hände und Füsse, Flüster- 
stimme. Die laryngoskopische Untersuchung ergiebt keine Veränderung am 
Kehlkopfe. Operation am 10. VIII. 95. Chloroformnarcose. Etwa 15 cm langer 
Querschnitt über der Höhe des linken Lappens, Unterbindung der Art. thyreoidea 
sup. und inferior. Das Herauspräparieren des Kropfes ist schwierig, derselbe 
liegt der Trachea dicht an und hat letztere nach rechts herübergedrängt. An der 
Druckstelle muldenförmige Vertiefung in der Trachealröhre. Die Drüsensubstanz 
wird am Isthmus umschnürt, durchtrennt, und der Stumpf vermäht. Leichte 
Blutstillung. Es fand sich eine Struma parenchymatosa von Faustgrösse. 

Naht von Catgut, Glasdrain, Deckverband. Primäre Heilung. Patientin hatte 
die ersten 3 Tage p. op. unter einem starken Brechreiz und quälendem Durst zu 
leiden. Sodann erholte sie sich rasch, verliess am 7. Tage das Bett und fühlte 
sich „sehr erleichtert“. Sie hatte die letzten 2 Nächte je 7 Stunden vorzüglich 
geschlafen. Unruhe und Angst ist verschwunden, ebenfalls der Stridor und spricht 
Patientin mit deutlicher Stimme. Puls schwankt zwischen 90 und 100 Schlägen 
bei der Entlassung am 10. IX. 95. Exophthalmus mittleren Grades noch vor- 
handen. 1'/, Jahr nach der Operation ist auch dor Exophthalmus vollständig 
verschwunden. Der Ernährungszustand hebt sich noch fortwährend, sie hat bis 
jetzt 35 Pfd. an Körpergewicht zugenommen. Die fahl gelbe Gesichtsfarbe ist 
einem frischen Rot gewichen. Der Puls kräftig bei konstant 75 Schlägen in der 
Minute. Zwei sic begleitende Töchter erzählen, dass die Mutter nunmehr zufrieden 
und gesund wie früher wieder gerne vergnügte und fidele Feste mitfeiere. 

Fall XII. Elise Sp., 15 Jahre alt, ledig, aufgenommen am 9. X. 1895. Es 
ist dieser Fall eines jener klassischen Beispiele, die mit Sicherheit eine Vererbung 
des Morbus Basedowii nachweisen. Patientin giebt an, dass der Vater, Potator 
strenuus, wiederholte Anfälle von Delirium tremens überstanden habe. Die Mutter 
leidet seit ihrem 24. Jahre an Basedow’scher Krankheit, ebenfalls 2 verheiratete 
Schwestern. Die älteste Schwester, die nebenbei bemerkt nicht erkrankt ist, hat 
ein etwa 10 Jahre altes, uneheliches Basedow krankes Kind. Patientin will seit ihrer 
Kindheit schwächlich und blutarm gewesen sein. Krank war sie bis dahin nicht, sie 
weiss weder eine Ursache noch auch den Beginn des jetzigen Leidens genau anzugeben. 

Bei der Aufnahme in das Krankenhaus ergiebt sich folgender Befund: kleines 
schwächliches Mädchen von gracilem Bau und dürftig entwickelter Muskulatur. 
Ihr blasses, wachsartiges Gesicht bekommt durch die starke Prominenz der beiden 
Bulbi ein scheues, ängstliches Aussehen. Lippen und Ohren sind etwas cyanotisch. 
Die Haut ist feucht, während der Untersuchung am ganzen Körper reichliche 
Schweisssekretion. Der Puls ist klein, 130—134 in der Minute. Am Herzen ` 
keine abnormen Geräusche, Herzgrenze normal. Es besteht eine bedeutende, 


29 








gleichmässige Anschwellung der Schilddrüse. Die Hände zittern beim Hervorstrecken 
lebhaft. Müdigkeit und Schmerzen in den Beinen, Schlaflosigkeit und Diarrhoeen 
sind seit 2 Jahren ständige Klagen der Patientin gewesen. Die Menses sind noch 
nicht eingetreten. 

Am 12. October 1895 wurde in Chloroformnarcose die Exstirpation der 
rechten Strumahälfte ausgeführt. Dieselbe ging auf stumpfem Wege glatt von 
statten. Ein Fortsatz der Struma reichte bis unter das Sternum herab. Bei der 
lösung derselben waren sehr viele Ligaturen notwendig. Blutung mássig. Durch 
eine tiefere Muskel- und oberflächliche Hautnaht wird die Wunde geschlossen und 
ein Glasdrain eingelegt. Die Heilung erfolgte nicht primär. Unter mässigen Fieber- 
bewegungen trat eine Eiterung der tieferen Wundpartieen ein, bei der verschie- 
dentlich grössere nekrotische Fetzen abgestossen wurden. 8 Tage nach der 
ersten Tamponade erfolgte gute Granulationsbildung in der Tiefe und Ende der 
3. Woche schloss sich die Wunde per granulationem. 

Schon während dieser Zeit ist eine merkliche Besserung in dem Befinden 
der Patientin eingetreten. Früher scheu und zurückgezogen, spielte sie jetzt ver- 
gnügt mit den Kindern auf ihren Krankensaal. Der Exophthalmus wurde merklich 
kleiner, Schlaflosigkeit und Diarrhoeen waren verschwunden. Bei der Entlassung 
am 20. XI. 1895 zählte der Puls 76; der Exophthalmus ist verschwunden, das 
Körpergewicht um 15 Pfund erhöht. Patientin kam dann in ihre häuslichen 
gerade nicht glänzenden Verhältnisse zurück. Während dieser Zeit nun, es ist 
jetzt 1 Jahr seit der Operation vergangen, hat sich ihr Zustand trotz der immerhin 
dürftigen Pflege weiter stetig gebessert. Sie sieht jetzt frisch und blühend aus, 
hat weitere 20 Pfund an Körpergewicht zugenommen; ja ihre Mutter und eine 
der leidenden Schwestern erklärten mir nach diesem Erfolge sich auch einer 
Uperation unterziehen zu wollen. Menses seit */, Jahre schwach aber regelmässig 
4wochentlich. Der Exophthalmus ist ganz geschwunden, die linke Gland. thyreoidea 
auf ihr normales Volumen zurückgegangen. Der Puls zählt constant 70 Schläge 
in der Minute. Patientin will in 4 Wochen die Stelle eines Dienstmädchens annehmen. 

Fall XIII. Luise L., 40 Jahre, Bäckersfrau, aufgenommen am 14. X. 95. 
Vom März bis Mai 95 wurde sie in einem anderen Krankenhause intern an derselben 
Krankheit erfolglos behandelt, erfuhr dann von einer bei uns operierten Patientin 
deren Heilung durch den chirurgischen Eingriff, und liess sich darauf hier 
aufnehmen. Seit 14 Jahren verheiratet, hat sie 3 ausgetragene Kinder geboren, 
zweimal abortiert im zweiten Monat, Menses seit 6 Jahren regelmässig. Früher nie 
krank gewesen, will sie sich in dem Bäckerladen häufig erkältet und an permanentem 
Schnupfen gelitten haben. Sie ass mit Vorliebe das frische, warme noch dampfende 
Weissbrot, bis sie vor 1'/, Jahren nach Einnahme eines grossen Quantums plötzlich 
kolikartige Schmerzen im ganzen Leib und einen mehrere Wochen andauernden 
schweren Magen-Darmkatarrh davontrug. Zunächst mit Opiumpräparaten behandelt, 
kostete sie dann die ganze Serie der künstlichen Abführmittel durch um schliess- 
lich von dem schwersten Geschütze, den Einläufen, den ausgiebigsten Gebrauch zu 
machen. Eine vollständige Darmatonie war die Folge und auch wohl der Anfang 
des jetzigen Leidens. Zunächst sistirten die Menses vollständig, dann trat Müdigkeit 
in den Beinen, Schlaflosigkeit und eine Erregtheit auf, die sie zu jeder Arbeit 
unfähig machte. Es folgten Schluckbeschwerden zugleich mit einer Anschwellung 
am Halse. Eine hereditäre Belastung liegt nicht vor. 

Status: Patientin von mittlerer Grösse aber kräftigem Knochenbau zeigt nur 


30 


geringes Fettpolster und eine atrophische Muskulatur. Die Gesichtsfarbe ist blass- 
fahl, die Haut feucht und schuppend. Es besteht hochgradiger Exophthalmus und 
unvollkommener Lidschluss. Deutliches Möbius’sches Symptom. Struma von 
Apfelgrösse lässt unverkennbares Schwirren durch die aufgelegte Hand erkennen, 
nicht druckempfindlich. Lungenbefund normal, auch die Rhinoskopie ergiebt keine 
krankbafto Veränderung. Der Puls mittelkráftig und schnellend hat eine Frequenz 
von 130—140 in der Minute. Am Herzen keine Geräusche, starke systolische 
Erschütterung der Brustwand und deutliche epigastrische Pulsation. Auch bei 
leichterem Auflegen zittern die Hände. Grosse nervöse Unruhe und Schlaflosigkeit. 
Bei absoluter Appetitlosigkeit seit 4 Tagen angeblich keine Stuhlentleerung mehr; 
Abdomen mässig aufgetrieben. 

Am 15. X. 1895 Enucleation eines etwa giinseeigrossen rechtsseitigen Cysten- 
kropfes in Chloroformnarkose. Beim Einleiten der Narkose stellte sich grosse 
Aufgeregtheit und kaum zu zählender Puls ein, der weitere Verlauf aber war wie 
auch die Operation selbst, glatt und ungestört. Drainage, leicht comprimirender 
Verband. Am Nachmittage und am Tage nach der Operation starke Schluck- 
beschwerden und leichte Cyanose des Gosichts. Die Cyanose verschwand nach 
Lockerung des Verbandes, die Schluckbeschwerden hielten bis zum 3. Tage an. 
Die Heilung erfolgte primär. Am 8. Tage p. op. erfolgte zum ersten Male wieder 
spontane Stublentleerung, sic hatte im Krankenhause kein Abführmittel mehr 
bekommen. 

Nach Ablauf von 4 Wochen hatte sich der Stuhl vollkommen geregelt. Will 
man diesen Erfolg als einfach mechanische Wirkung erklären, so war doch durch 
die Operation nach anderer Richtung eine wesentliche Besserung der Patientin 
erfolgt. Der Tremor der Hände, die Erregtheit und Unruhe fehlten. Der Appetit 
war gut, die Pulsfrequenz auf 90—100 Schläge in dor Minute herabgesetzt. Die 
Erschütterung der Brustwand, sowie abdominale Pulsation waren verschwunden. 
Unbeeinflusst geblieben war nur der Exophthalmus. 

Im Novemver 1896 suchte ich die Patientin wieder auf und konnte nunmehr 
konstatieren, dass in dieser Zwischenzeit auch die Prominenz der Bulbi bedeutend 
verkleinert war. Der Puls kräftig und voll, zählte 85 in der Minute. Die ner- 
vösen Symptome fehlten vollständig. Patientin war wieder in ihrem Geschäfte 
thätig und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, Abführmittel brauchte sie nicht mehr. 

Wollen wir nun diesen Fall nicht als „völlig geheilt“ bezeichnen, so ist doch 
eine bedeutende Besserung nicht zu verkonnen, und es ist anzunehmen, dass auch 
der Exophthalmus als letztes Symptom des bestandenen Morb. Basedowii gar bald 
vollständig verschwinden wird. 

Fall XIV. Emma N., 40 Jahr, Arbeiterin, ledig, wurde aufgenommen am 
21. XI. 95. Ueber ihre Familienverhältnisse giebt sie an, dass die Mutter gesund, 
der Vater 1892 an Cholera gestorben sei. Von 3 Geschwistern leidet ein Bruder 
an Epilepsie, eine Schwester ist schwachsinnig, die dritte gesund. Vor 3 Jahren 
aquirirte Patientin angeblich nach Genuss von ungekochtem Elbwasser Typhus, 
ein Jahr darauf nach Durchnässung bei ihrer Feldarbeit eine schwere Lungen- 
entzündung. Sie menstruirt seit ihrem 17. Lebensjahre regelmässig. Ihre jetzige 
Erkrankung, die vor einem Jahre begann, führt sie auf die beiden früheren Er- 
krankungen zurück. 

Befund am 22. XI. 95. Ausgesprochener Typus eines Morbus Basedowii. 
Patientin ist ein leicht erregbares Wesen in leidlichem Ernährungszustande. 


31 


ies oe u m 





Gesichtsfarbe und Schleimhäute sind blass, anämisch. Auffallende Prominenz der 
Bulbi mit Gráfe'schem Symptom. Es besteht eine mittelgrosse sich derb anfühlende 
Struma, die keine Druckerscheinung von Seiten der Trachea hervorruft. Ueber 
der Struma, sowie über der pulsierenden Jugularis sausendes, systolisches Geräusch. 
An der Herzspitze dasselbe Geräusch. Der Puls ist regelmässig, seine Frequenz 
auf 120 erhöht. Schlaflosigkeit besteht seit etwa 4 Wochen. Des Nachts be- 
sonders treten starko Kopfschmerzen, gefolgt von häufigem Erbrechen gallig ge- 
färbter Schleimmassen auf. Ihr Kassenarzt verordnete Brom und verschiedene 
andere Narcotica ohne Erfolg, und schickte sie schliesslich mit obiger Diagnose 
zwecks chirurgischer Behandlung ins Krankenhaus. Operation am 23. XI. 95. 
Querschnitt über der Struma von etwa 12 cm Länge. Enucleation eines klein- 
apfelgrossen Kropfknotens. Linker Drüsenlappen nicht vergrössert. Blutung gering. 
Tiefe Muskel und oberflächliche Hautnaht von Catgut. Glasdrain. Abends treten 
Schluckbeschwerden und eine gewisse Unruhe der Patientin auf. Temperatur 37,2, 
Puls 140. — 24. XI. Schluckbeschwerden verschwunden, Puls 120, Temperatur 36,8. 
Starker Tremor der Hände. 25. XI. Erregungszustand verschwunden. Patientin 
nimmt mehrmals einen Teller Suppe und schläft die Nacht gut. Auch die 8 folgen- 
den Tage bleibt die Temperatur normal, Patientin erholt sich rasch. Kopfschmerzen 
und Erbrechen verschwindeb. Der Puls zählt 80 bei ihrer Entlassung am 22. XII. 
95. Der Exophthalmus ist fast ganz zurückgegangen. Der Schlaf gut. Das 
Aussehen frischer. Ich salı die Patientin seit der Zeit nicht wieder, sie ist in 
die Heimat zu ibrer alten Beschäftigung zurückgekehrt. 


Am 20. I. 97 teilt mir der dortige College in liebenswürdiger Weise brieflich 
Folgendes mit: Am 18. I. 97 untersuchte ich auf Ihren Wunsch die im November 
1895 im Marien-Krankenhause wegen Morhus Basedowii operierte E, N. Von den 
früheren Symptomen der Erkrankung ist nichts mehr vorhanden. Unter der glatten, 
kaum sichtbaren Narbe ist links ein kleiner Knoten von Haselnussgrösse zu fühlen. 
Der Puls giebt 65—75 Schläge in der Minute. Das Aussehen der Patientin, die 
das ganze vorige Jahr hindurch sich rege an den Feldarbeiten beteiligt hat, ist ein 
frisches, blühendes. Ich freue mich um so mehr, Ihnen diesen äusserst günstigen 
Erfolg mitteilen zu können, als ich s. Z. lange und vergeblich eine Besserung des 
Zustandes herbeizuführen versuchte. 


Das Resultat dieser 14 Strumectomieen zeigt zur Genüge, wie 
berechtigt der Eingriff in einem jeden unserer Fälle gewesen. 
Handelte es sich doch in ihrer Mehrzahl um Kranke, denen die 
schwersten Symptome des Basedow die Gesundheit erschüttert, das 
Leben unerträglich gemacht hatten. Zwölf davon vollständig geheilt, 
konnten in verhältnismässig kurzer Zeit ihre frühere Arbeit und 
Beschäftigung in vollem Umfange wieder aufnehmen. Bei zweien 
ist eine erhebliche Besserung eingetreten und ich zweifele nicht, 
dass auch bei einer dieser Patientinnen das letzte Symptom der 
überstandenen Krankheit, der Exophthalmus in nicht zu ferner Zeit 
zum endgültigen Verschwinden gebracht wird. Dass die Kranken 
ohne Ausnahme das typische Bild eines Morbus Basedowii präsentierten, 


32 


braucht wohl nicht besonders hervorgehoben werden, selbst der 
schärfste Kritiker wird unsere Diagnose bestätigen müssen. Als vor 
mehreren Jahren die Franzosen Marie und Charcot den wahren Morb. 
Bas. von den sogenannten „Formes frustes“ getrennt wissen wollten, 
suchte man besonders von neurologischer Seite manche durch die 
Operation zur Heilung gebrachte Erkrankungen als „falschen Morb. 
Bas.“ hinzustellen. Ja Buschan geht so weit, die operativen Erfolge 
als Suggestion hinzustellen und führt als Beleg ein einziges Beispiel 
aus der Litteratur an. Solche Wirkung kann man doch wohl der 
Suggestion nicbt beilegen. Ist es vielleicht gelungen, anstatt der 
Scheinoperation sichtbare pathologische Veränderungen wie die stark 
prominenten Bulbi durch eine hypnotische Sitzung in ihre richtige 
Lage zurück zu suggeriren? Ich bemerkte schon, dass die Mehrzahl 
unserer Fälle äusserst schwere waren; dass dieselben aber durch 
sorgfältige Nachprüfung des Zustandes als bis jetzt geheilt oder 
gcbessert gefunden wurden und nach Jahren mit Genugthuung uns 
ihrer Dankbarkeit versicherten, hat wohl eher seinen Grund in der 
erlangten Heilung als in blosser Suggestion. 

Diese regelmässigeÜberwachung und Nachuntersuchung in bestimm- 
ten Zwischenräumen ist nun unserer Meinung nach ein wichtiger Faktor 
in der Beurteilung des operativen Erfolges. Hat man einen Kranken 
Wochen oder Monate lang nicht zu Gesicht bekommen, wird einem 
viel eher jede Veränderung in der Constitution wie in dem ganzen 
Wesen auffallen als bei den regelmässigen Visiten im Krankenhause. 
Macht man sich gar die Mühe, die Operirten in ihrer eigenen 
Häuslichkeit aufzusuchen, so wird man dazu in den meisten Fällen 
von competenten Angehörigen und Verwandten genauen Bericht 
über den Unterschied zwischen früher und jetzt erhalten. Nur ein 
geringer Teil der veröffentlichten Strumectomieen giebt nach dieser 
Richtung hin völligen Aufschluss. Man begnügte sich teilweise 
damit, den bald nach der Operation gewonnenen Befund zu vermerken, 
im übrigen aber die Patienten ihrem Schicksale zu überlassen. 
Es gilt eben hier eine feste Norm und Regel zu schaffen, und durch 
den Nachweis von operativen Heilungen, welche nach Jahren noch 
anhielten, mehr und mehr den Wert der chirurgischen Behandlung 
zu sichern. 

Über das Verhalten des Kropfrestes nach der partiellen Strum- 


33 


ectomie waren bis vor Kurzem die Meinungen noch sehr geteilt. 
Einige der älteren Autoren, worunter auch Rose, nahmen an, dass 
so lange ein Rest der Struma zurückgelassen würde, man Aussicht 
habe, alle paar Jahre ein Recidiv zu bekommen, und zwar stützte 
sich diese Ansicht auf die Tierexperimente von Horsley und 
Wagner. Dieselben wollten nach Exstirpation der einen Hälfte 
Hypertrophie der zurückgelassenen beobachtet haben. Als J. Wolff 
an seinem Kropfmaterial nachwies, dass der Kropfrest sich nach- 
träglich teils verkleinert, teils so weit zusammengeschrumpft war, 
bis „ein dem normalen entsprechendes Volumen“ erreicht war, zog 
man die Beurteilung der Grössen- resp. Schrumpfungsverhältnisse in 
Frage und behauptete, durch die Vernarbung könnte der Rest soweit 
nach der operierten Seite herübergezogen werden, dass durch diesen 
„Ausgleich“ sowohl wie auch durch abnorme Spannungsverhältnisse 
ein Irrtum in der Schätzung der Grösse und des Umfanges des 
zurückgebliebenen Drüsenlappens entstánde. Wir haben bei unseren 
Nachuntersuchungen auch auf diesen Punkt unser besonderes Augen- 
merk gerichtet und gefunden, dass es nicht gar so schwer ist, sich 
durch die teilweise recht bewegliche und unbedeutende Narbe 
hindurch zu orientieren, zumal die palpabele Trachea stets eine genaue 
Grenze der rechten und linken Halspartieen abgab. Ein Recidiv ist 
bei einem unserer Fälle aufgetreten, bei allen anderen konnten wir 
ohne Ausnahme nach teilweise 2—7 jähriger Zwischenzeit eine deutliche 
Verkleinerung des bei der Operation zurückgelassenen Kropfrestes 
constatieren. In zwei Fällen, wo die eine aber auch stark vergrösserte 
Drüsenhälfte zurückgelassen wurde, fanden wir dieselbe im deutlichen 
Rückgange begriffen und als harten derben Knoten an der Stelle 
ihres normalen Sitzes. 

Was die Technik der Strumectomie betrifft, so stellen wir uns 
auf den Standpunkt Mikulicz’s, der sagt: „Jede Operationsmethode 
die zur Verkleinerung der vergrösserten Schilddrüse führt, beeinflusst 
die Basedow’sche Krankheit günstig.“ Unter diesen gebührt wohl 
der bei allen gutartigen Kröpfen ausführbaren intraglandulären 
Enucleation, wie sie von Socin eingeführt wurde, der Vorzug. Sie 
wurde in der Mehrzahl unserer Fälle in Anwendung gebracht. Die 
Operation ist im Grossen und Ganzen meist nicht sehr schwierig. 


Von Wölfler wieder zu Ehren gebracht wurde statt der Strum- 
3 


34 


ectomie die Ligatur der Schilddriisen-Arterien. Dieselbe wurde bei 
unseren Fällen nicht angewandt und es finden sich in der Litteratur 
noch zu wenig Mitteilungen um zu einem Urteil über ihre Brauchbarkeit 
zu gelangen. Uns scheint dieselbe erheblich schwieriger wie die 
Strumectomie besonders bei sehr grossen oder gefässreichen Kröpfen. 
Soll schon die Unterbindung der inferior wegen ihrer grossen Dünn- 
wandigkeit und daraus folgenden Brüchigkeit eine gefahrdrohende 
Blutung herbeiführen können, so ist die leicht mögliche Verletzung 
des Sympathicus ein weiteres Schreckmittel. Von kosmetischer Seite 
betrachtet, liefert der bei der Strumectomie von Kocher empfohlene 
Quer- oder Bogenschnitt eine tadellose, kaum auffallende Narbe, 
während hier vier Hautschnitte notwendig werden. Da dazu der 
Erfolg der Ligatur ein sehr langsamer sein soll, so haben wir keinen 
Grund, die so einfache und schnell ausführbare Strumectomie zu 
verlassen, sondern halten dieselbe für die geeignetere Methode des 
operativen Eingriffes gerade bei Morbus Basedowii. 

Mit der Vervollkommnung der Operationstechnik sowohl wie 
der ganzen Wundbehandlung, schwanden die Gefahren und Unglücks- 
fälle bei oder kurz nach der Operation derart, dass auch die Ent- 
fernung eines Kropfes wegen Basedow’scher Krankheit sehr wohl 
berechtigt und meist geboten erscheint. Die operative Behandlung 
des Morbus Basedowii ist Gemeingut chirurgisch geschulter Ärzte 
geworden, das beweisen die Resultate auf diesem Gebiete. Wollen 
wir eine summarische Aufstellung der uns in der Litteratur begegneten 
und teilweise oben schon angeführten Fälle operativ behandelter 
Basedow’scher Krankheit machen, so ergiebt sich mit Einschluss 
unserer 14 die Gesamtzahl 128, von denen 

95 als geheilt = 73%, 

25 „ erheblich gebessert = 200, 

4 „ Misserfolg = 3,59%, 

4 ,, tötlich verlaufen = 3,5%, 
verbürgt sind. Auf eine eingehende Besprechung und statistische 
Verwertung dieser Zahlen gehen wir aus dem Grunde nicht ein, 
weil, wie schon oben bemerkt, nur ein Teil derselben uns genaueren 
Aufschluss über das spätere Befinden und die dauernde Heilung 
giebt. Wir sind überzeugt, dass noch eine ganze Reihe der als 
„erheblich gebessert“ bezeichneten Fälle nach Verlauf von mehreren 


35 


Jahren als definitiv geheilt vorgefunden worden wäre. Ausser allem 
Zweifel aber ist der Beweis erbracht, dass der chirurgische Eingriff 
das Übel an der Wurzel gefasst, eine Krankheit zur Heilung zu 
bringen im stande ist, die bis dahin ihrem Träger ein jammervolles 
Dasein, dem behandelnden Arzte aber viel Mühe und Enttäuschung 
bereitet hat. 

Es liegt uns fern, jetzt alle Basedow-Kranke dem Chirurgen 
überweisen zu wollen; in den leichten Fällen ist ein Versuch mit 
der internen Behandlung zunächst geboten; wenn die einzelnen 
Symptome weniger ausgeprägt sind, kann geistige und körperliche 
Ruhe, gute Diät und Ortswechsel im Verein mit den üblichen 
Medicamenten sehr wohl noch eine Heilung herbeiführen. Tritt 
bei genauer Überwachung nach Ablauf von Wochen oder Monaten 
keine Besserung eher eine Verschlimmerung ein, dann ist die Indikation 
zur Operation gegeben. Ein zu langes Abwarten würde den Zustand 
herbeiführen, in dem mangelhafte Herzthätigkeit, Arythmie und 
Schwäche des Pulses und beginnende Oedeme auf eine Degeneration 
des Herzmuskels hinweisen, und ein alsdann im Anschluss an die 
Operation eintretender Unglücksfall uns nicht überraschend erscheinen 
würde. Selbstverständlich werden wir jene schweren Fälle, die dem 
allmählichen Verfalle preisgegeben, nicht von der Operation aus- 
schliessen, halten es aber für ratsam den Kranken vorher auf das 
Gefährliche seiner Lage aufmerksam zu machen. Auch unter unseren 
Patientinnen finden wir solche mit Erfolg operiert. 

Wollen wir im Anschluss an obige Erörterungen uns ein Urteil 
über den günstigen Einfluss der operativen Behandlung des Morbus 
Basedowii erlauben, so stimmen wir denen zu, die den primären 
Sitz der Erkrankung in der vergrösserten Schilddrüse suchen, und 
nehmen an, dass die in ihren Funktionen gestörte Drüse nicht nur 
im Übermass secerniert, sondern dass auch bei der gesteigerten 
Produktion ein direkt schädlicher Stoff geliefert wird, der die All- 
gemeinintoxikation des gesamten Organismus einleitet. 


14. 
15. 
16. 
17. 
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Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 


an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 








Die Pathologie der Lepra.') 
In Kürze dargestellt 


von 
Dr. Jessner, Königsberg i. Pr. 





Der Aussatz, der Jahrtausende hindurch fast die ganze Welt 
in einer furchtbaren Weise heimsuchte, er schien der gegenwärtigen 
Generation, wenigstens in den Kulturstaaten, ein Schreckgespenst 
aus längstvergangener Zeit zu sein, das nur noch ein historisches 
Interesse beanspruchte. Doch mannigfache Beobachtungen aus den 
letzten Jahrzehnten, und besonders Vorgänge in unserem Ostpreussen 
zeigten gar zu deutlich, dass das Schreckgespenst noch nicht der 
Vergangenheit angehört, wieder in ernste Bedenken, wenn auch wohl 
kaum Furcht erregender Weise auch in den civilisierten Staaten 
herumzuspuken beginnt. Die Ausbreitung der Lepra ist wiederum 
eine Frage geworden, die aktuelles Interesse beansprucht, allenthalben 
in wissenschaftlichen Kreisen auf das lebhafteste discutiert wird. Da 
sber die Kenntnis dieses Leidens auch in Aerztekreisen noch nicht, 
oder richtiger gesagt, nicht mehr sehr verbreitet ist, folge ich gerne 
einer mir seitens unseres verehrten Herrn Vorsitzenden gegebenen 
Anregung, Ihnen einen Abriss des Krankheitsbildes zu geben. Bei 
der ausserordentlichen  Vielgestaltigkeit desselben werde ich Ihnen 
aber in der kurzen Zeit, für welche ich Ihre Aufmerksamkeit in 
Anspruch nehmen darf, eben nur eine knappe Schilderung, eine 
Skizze geben können, ohne auf die zahlreichen, den Gegenstand 
wissenschaftlicher Differenzen bietenden Streitfragen, welche sich an 
dieses Leiden knüpfen, näher eingehen zu können, wenn ich auch 
nicht unterlassen werde, kurz auf dieselben hinzuweisen. Am Schlusse 
werde ich Ihnen dann macroscopische Diapositive und microscopische 
Präparate mit dem Projectionsapparat vorführen. Mein Wissen 
auf diesem Gebiete schöpfe ich teilweise aus der grossen Lepra- 


1) Nach einem Vortrage in dem Verein für wissenschaftliche Heilkunde zu 
Königsberg i. Pr. 
1 


2 


Litteratur, teilweise aus einem Besuche, den ich im Herbst dieses 
Jahres dem Leprosorium von Riga unter freundlicher Führung des 
Herrn Dr. v. Reissner abstattete. Bei diesem Besuche hatte ich 
Gelegenheit, 65 Leprakranke zu sehen und die verschiedenen Formen 
derselben in den verschiedenen Stadien in ausreichendem Masse 
kennen zu lernen. 

reg dor Bevor ich auf die Pathologie des Leidens eingehe, gestatten Sie, 
dass ich einiges über die Geschichte desselben Ihnen kurz mitteile: 

Man nimmt allgemein an, dass die Ursprungsstätte der Lepra 
in Aegypten zu suchen ist und die ersten historischen Nachrichten 
aus dem Papyros-Brugsch, dem Papyros-Ebers und der Bibel stammen. 
Es scheint aber in doppelter Hinsicht fraglich, ob diese Annahme 
richtig ist. Erstens scheint es keinem Zweifel zu unterliegen, dass 
schon in den ältesten Zeiten verschiedene Lepraherde neben dem 
ägyptischen vorhanden waren, und zwar in Asien, speciell in Indien 
und China, ohne dass man über den Zusammenhang dieser Krank- 
heitsherde Genaueres wüsste, da es sich um prähistorische Zeiten 
handelt. Zweitens aber ist es sehr strittig, ob die Schilderung, wie 
wir sie in den genannten ägyptischen Urkunden und in der Bibel 
finden, wirklich der Lepra entspricht. Professor Muench in Kiew 
bestreitet das in sehr energischer Weise und hat seine Gründe hierfür 
in einer ausgezeichneten Studie niedergelegt. Vornehmlich scheint 
es mehr als zweifelhaft, ob der biblische Zaraath, der ja immer 
mit Aussatz übersetzt wird, wirklich die Lepra betrifft. Man gewinut 
aus den biblischen Schilderungen dieser Hautaffection durchaus nicht 
den Eindruck, dass es sich dabei um ein so furchtbares, so lang- 
dauerndes, unheilbares Leiden handelt. Vielmehr scheint es, dass 
relativ leichtere Leiden es waren, welche in der mosaischen Gesetz- 
gebung eine so eingehende Beachtung fanden. 

Muench nimmt an, dass es sich um Krankheiten handelt, die 
unserem Herpes tonsurans und der Vitiligo entsprechen. Wenn 
man nun aber mit Recht fragt, warum gegen so leichte Leiden so 
ernste Massnahmen in der Bibel vorgeschrieben wurden, so kann 
man darauf nur antworten, dass man die Dinge in damaliger Zeit 
nicht mit den Augen der jetzigen betrachten darf. Man muss sich 
zurückversetzen in die damals herrschenden, von rein theokratischen 
Gesichtspunkten geleiteten Anschauungen. Man muss sich erinnern, 


3 


dass die Hautleiden als Brandmarkungen Gottes angesehen wurden 
und den von ihnen heimgesuchten Menschen daher den Stempel 
der Unreinheit aufdriickten, wodurch die strenge Isolirung und die 
mannigfachen andern Vorschriften verstindlich werden. Meiner 
Ansicht nach hat Muench mit seiner Behauptung, wenigstens soweit 
sie die Bibel betrifft, vollkommen Recht. Weniger gesichert würde 
mir Muench’s Anschauung erscheinen, dass auch die Schilderung, 
welche Hippocrates von der Lepra, allerdings unter dem Namen 
„Elephantiasis“, giebt, sich nicht mit der Lepra deckt. Als erste 
sichere Darstellung dieses Leidens .sieht Muench diejenige an, 
welche Celsus, der berühmte, ärztliche Zeitgenosse Christi, von der 
Lepra giebt. Aus dieser spricht zweifellos eine genaue Kenntnis 
dieses Leidens. Die weitere historische Erforschung desselben wird 
unendlich erschwert durch ein noch heute fortbestehendes Moment, 
durch die ausserordentlich verschiedene Benennung der Krankheit. 
Jede Zeit und jedes Volk hatte für dieselbe. eine andere Bezeichnung, 
sodass man die Namen derselben nach Hunderten zählen kann. 
Ich brauche in dieser Beziehung nur hinzuweisen auf die verschie- 
dene Anwendung des Namens „Elephantiasis“. Was die Griechen 
darunter verstehen, entspricht unserer heutigen Lepra, ein Name der 
am consequentesten von den ausserordentlich tüchtigen arabischen, 
meistens jüdischen Aerzten des 9.—14. Jahrhunderts festgehalten 
wird, von welchen wir auf diesem, wie auf allen andern medicini- 
schen Gebieten die gediegensten Arbeiten überliefert bekommen 
haben. Die Griechen kannten auch den Namen „Lepra“, aber sie 
verstanden darunter eine mit starker Schuppenbildung einhergehende 
Affection, wahrscheinlich Psoriasis vulgaris. Andererseits war der 
Name Eiephantiasis den Arabern geläufig als Bezeichnung des 
Leidens, das sich auch heute mit diesem Namen deckt. Aus dierem 
Hinweise können Sie also schon ersehen, wie gross die Confusion in 
der Litteratur sein muss, wie schwer es ist, sich da zurecht zu finden. 

Verlassen wir nun die Litteratur — auf die der Neuzeit 
werden wir ja gelegentlich noch zurückkommen — und betrachten 
wir kurz den Gang, den die Lepraepidemieen zumal in Europa, 
genommen: Von Aegypten aus gelangte die Lepra nach Griechenland, 
von hier durch das Heer des Pompejus anno 63 a. Chr. nat. nach 


Italien. .Die römischen Truppen brachten den Aussatz nach West- 
1* 


4 


europa, von wo sie sich dann schnell über das übrige Europa ver- 
breitete, sodass sie bald zu einem pandemischen Leiden wurde, das 
viele Jahrhunderte alle Lander heimsuchte. Man suchte sich aller- 
orten nach Kräften gegen dasselbe zu wehren, indem man ausserhalb 
bewohnter Orte gelegene Leprosorien für die Kranken errichtete. 
Im 13. Jahrhundert zählte man in Europa allein 19000 solcher 
Heimstätten oder vielmehr Verbannungsstätten für Leprakranke, 
darunter allein in Frankreich 200. Wie verbreitet die Lepra 
gewesen, kann man beispielsweise auch daraus ersehen, dass ein 
eigener Orden Lepröser bestand, dessen Meister ein Leprakranker 
sein musste. In allen Volksschichten, in allen Ständen wütete das 
Leiden. In Frankreich bestand ein besonderes Leprosorium für 
Adlige, ein anderes für Leute vom Hofe. — Es liegt bei den damals 
doch immer mangelhaften diagnostischen Kenntnissen nahe anzu- 
nehmen, dass auch viele mit anderen Leiden, die äusserlich sicht- 
bare Erscheinungen machen, behaftete Menschen als Lepröse ange- 
sehen und zu Insassen der Leprosorien gestempelt wurden; das fällt 
aber bei der riesenhaften Ausbreitung der Lepra kaum ins Gewicht. 

Die sociale Lage der Leprakranken war eine höchst traurige, 
ihre Behandlung eine nichts weniger als humane. Man betrachtete 
sie als vom Teufel besessen, schob ihnen alle Unthaten, die vor- 
kamen, in die Schuhe, nötigte sie an vielen Orten besondere Klei- 
dung zu tragen, ihr Herannahen an von Menschen bewohnte 
Stätten durch‘ Klappern anzukündigen, kurz stellte sie den Ver- 
brechern, in manchen Orten in ihren Rechten den verachteten Juden 
gleich. In Frankreich betrachtete man jemand, der an Lepra erkrankt 
war, in manchen Bezirken als gestorben. Alle Bande der Familie 
waren mit der Diagnose gelöst; der Kranke wurde in effigie beerdigt 
und existierte fortan nicht mehr für die Welt. 

Bis zum 15. Jahrhundert dauerte diese pandemische, ungeheure 
Verbreitung der Lepra, dann begann sie abzunehmen, und zwar 
ziemlich schnell. Wunderbarer Weise fiel die Abnahme zusammen 
mit dem Siegeszuge, den eine andere furchtbare Geissel der Mensch- 
heit, die Syphilis, antrat. Es ist begreiflich, dass lange Zeit beide 
Leiden vielfach durch einander geworfen wurden. Ein directer Zu- 
sammenhang zwischen beiden Leiden besteht nicht, wenn es manche 
Autoren bis in die Neuzeit hinein auch behaupten. — Im 16. Jahr- 


5 


hundert war die Zahl der Leprösen bereits relativ eine sehr geringe, 
sodass ein Leprosorium nach dem andern wieder aufgehoben wurde. 

Seitdem ist dann die Lepra stetig zurückgegangen, wenn sie 
auch in einigen Ländern niemals ganz erloschen ist. In Europa 
wusste man, auch in wissenschaftlichen Kreisen, nur noch wenig 
von ihr, bis in der Neuzeit ein, wenn auch im Verhältnis zu 
früheren Jahrhunderten, bescheidenes Aufblühen auch in Europa 
festgestellt werden musste. Die wissenschaftlichen Studien der Lepra 
wurden immer reger, bis die gediegenen Arbeiten der norwegischen 
Lepraforscher Daniellssen und Boeck aus dem Jahre 1848 die 
Regsamkeit in einer Weise anspornten, dass bereits aus der Neuzeit 
allein heute eine Riesenlitteratur über die Lepra vorhanden ist, die 
die Erkenntnis des Leidens ganz erheblich gefördert hat. 

Nun noch einiges über die zeitige geographische Verbrei- yoga. dor 
tung der Lepra, die weit grösser ist, als man gewöhnlich anzunehmen Lepra. 
pflegt. In Afrika ist zunächst Aegypten sowohl an der Seeküste wie 
an den Nilufern reich an Leprakranken. Ebenso die ganze Ostküste 
einschliesslich der Inseln Madagaskar u. s. w. Die Länder an der 
Südspitze enthalten alle, wenn auch nicht grade sehr viele Lepröse, 
während die Westküste fast ganz frei ist, nicht aber die an derselben 
gelegenen Inseln (Madeira u. s. w.) und die Nordküste. Zahlreiche 
Lepröse leben in Arabien, Syrien, Palästina, noch mehr in Persien 
und Turkestan, stets mit Bevorzugung der Küstenstrecken. In weit 
höherem Masse aber noch ist in Ostindien, besonders in Vorder- 
indien, heute wie in urdenklichen Zeiten, die Lepra heimisch, welche 
sich von hier aus auch auf die Insel Ceylon, die grossen und kleinen 
Sundainseln, Molucken etc. verbreitet hat. 

Schwer ist es natürlich, den Grad der Ausbreitung der Lepra 
in China festzustellen. Zweifellos ist dieselbe aber eine sehr grosse, 
und zwar auch seit undenklicher Zeit. Grade die Chinesen sind 
auch diejenigen, welche nachweislich vielfach die Lepra nach andern 
Ländern und Erdteilen verschleppt haben. Wahrscheinlich ist in 
China auch die Quelle der Lepra für Japan zu suchen, wohin dieses 
Leiden erst spät im Mittelalter gelangt ist. Sie hat hier einen sehr 
ergiebigen Boden gefunden und ist heutzutage dort eine sehr ver- 
breitete Krankheit. — Mit Bestimmtheit sind Chinesen die Vermittler 
für eine sehr interessante, gut studierte Endemie auf den im stillen 


6 


Ocean gelegenen Hawaii- oder Sandwich-Inseln gewesen. Diese sind 
nachweislich erst im vierten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts durch 
Chinesen inficiert. Seitdem hat das Leiden dort eine so ungeheure 
Verbreitung gefunden, dass nach den Beobachtungen der dortigen 
Aerzte und Arning’s jetzt dort auf 33 Menschen 1 Lepréser kommt. 
Das dortige Leprosorium beherbergt allein über 1100 Lepröse, eine 
furchtbare Zahl, wenn man bedenkt, dass die Inseln im Ganzen 
44 000 Einwohner haben. 

Nur mässig verbreitet ist die Lepra in Australien, nur einzelne der 
zahlreichen Inseln sind stärker inficiert. — In Amerika finden wir 
Lepröse besonders in einer Reihe von Staaten Süd-Amerika’s und 
Mittel-Amerika’s, so in Brasilien, Venezuela, Westindien, wenn auch 
bis auf einzelne Ausnahmen nicht in sehr grosser Zahl. Die meisten 
Leprakranken enthält Mexico, während die Vereinigten Staaten nur 
sehr wenige beherbergen, die besonders aus China und aus Nor- 
wegen eingewandert sind und kleine Herde etabliert haben. 

Auf dem Uebergange nach Europa ist noch ein bedeutender 
Lepraherd hervorzuheben, der in jüngster Zeit den Gegenstand eifriger 
Studien gebildet hat, derjenige in Island. Ehlers hat interessante 
Arbeiten über die dortige Lepra veröffentlicht. — England ist, wenn 
man von einigen eingewanderten Leprakranken absieht, frei von 
Lepra, was eigentlich auffallend ist, da ja ein ausserordentlich leb- 
hafter Verkehr mit den doch meistens durchseuchten Kolonieen besteht. 
Mehr Lepröse, als man bis vor kurzem annahm, scheint nach neueren 
Beobachtungen Frankreich zu beherbergen. Sie sind zum Teil im 
ganzen Lande, besonders im Süden, zerstreut, zu einem bei weitem 
grösseren Teil sind sie in Paris ansässig. Mässig ist die Zahl der 
Leprösen in Spanien und Portugal, wenn auch Lissabon ein Lepro- 
sorium besitzt, noch mässiger in Italien. Ein kleiner Herd in St. 
Remo hat viel Aufsehen gemacht, ist aber augenscheinlich im Er- 
löschen. In geringem Grade inficiert sind alle Mittelmeerinseln, 
Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Oesterreich-Ungarn, in viel 
höherem das türkische Reich. Hier werden besonders Juden und Tür- 
ken Opfer der Lepra, während die christliche Bevölkerung fast frei ist. 
— Wenden wir uns nun dem Norden Europa’s wieder zu, so ist zu- 
nächt von grösster Bedeutung die Lepra in Norwegen, denn hier ist es, 
wo, wie erwähnt, die wissenschaftlichen Studien von Boeck, Hansen 


7 


der Neuzeit ausgegangen sind. Ihnen stand ein grosses Beobachtungs- 
material zur Verfiigung, da in Norwegen die Lepra noch sehr 
verbreitet ist, wenn sie auch in den letzten Jahrzehnten stark zuriick- 
geht. Auffallenderweise ist das benachbarte Schweden dagegen fast 
leprafrei; man zählt dort noch nicht 100 Leprése. — Kommen wir 
zu dem gewaltig grossen russischen Reich, so war bis vor wenigen 
Jahrzehnten dort nicht viel über die Lepra bekannt. Nur gerücht- 
weise verlautete, dass im asiatischen Russland zahllose Lepröse 
dahinsiechten. Die Nachrichten, die über den grausamen Zustand, 
in dem die armen Leprösen als ausgeschlossene Mitglieder der 
menschlichen Gesellschaft dort leben, in die Oeffentlichkeit drangen, 
bewogen eine Engländerin Kate Marsden zu dem kühnen Unter- 
nehmen, die Lebensverhältnisse der Aussätzigen an Ort und Stelle 
zu studieren. Mit unbeschreiblichem Opfermut führte sie es auch 
durch. Was sie dort an Elend und Jammer fand, spottet jeder 
Beschreibung. Seitdem hat man diesen Verstossenen bessere Fürsorge 
angedeihen lassen. Aber auch das europäische Russland enthält in 
sehr vielen seiner Gouvernements zahlreiche Leprakranke, wie sich 
mit den fortschreitenden diagnostischen Kenntnissen herausgestellt 
hat. Besonders inficiert sind der Süden Russland’s und die Ostsee- 
provinzen, die nun schon 5 Leprosorien besitzen. Hier ist wohl 
auch sicher die Quelle des Lepraherdes zu suchen, der vor wenigen 
Jahren in dem äussersten Nord-Osten Deutschland’s, im Kreise 
Memel, entdeckt wurde. Es ist über diesen soviel in letzter Zeit in 
der Fachlitteratur und in den Tagesblättern geschrieben worden, 
dass es übrig ist, hier näher auf diesen Herd einzugehen. Ist es 
auch an sich berechtigt, dass diese Entdeckung in ganz Deutschland 
viel Aufsehen und Aufmerksamkeit erregt hat, so kann ich doch 
nicht umhin zur Beruhigung allzu furchtsamer Gemüter hervor- 
zuheben, dass die Zahl der Leprösen im Memeler Kreise sichtlich 
im Riickgange begriffen ist und zur Zeit nur etwa zehn beträgt. 
Im übrigen Deutschland giebt es nirgends Lepraherde, wenn auch 
hier und da, besonders im Westen, Leprakranke auftauchen. Stets 
handelt es sich um Kranke, die sich lange in andern, mit Lepra 
inficierten Ländern aufgehalten und dort Lepra acquirirt haben, sei 
es dass sie dort oder erst hier zum Ausbruch kam resp. diagnosticiert 
wurde. Soweit von der gegenwärtigen geographischen Verbreitung 
der Lepra. Wenden wir uns nun zur 


8 


Pathologie der 
Lepra. 


Pathologie der Lepra. 

Die Polymorphie der Lepra, das klinisch die allerdifferentesten 
Krankheitsbilder darbietet, hat von jeher dazu gefiihrt, dass man 
mehrere Krankheitsformen der Lepra unterschied. Wir wollen, wie 
jetzt allgemein üblich, deren zwei getrennt betrachten, die Lepra 
tuberosa s. cutanea und die Lepra nervosa s. anaesthetica. 

Die Lepra tuberosa s. cutanea (Knotenlepra) hat eine Incu- 
bationsdauer, die mindestens auf etliche Jahre veranschlagt wird. 
Bei der langen Dauer der Incubation und bei der Geringfügigkeit, 
die oft den initialen Symptomen eigen ist, ist es schwer, genaue 
Zahlen zu gewinnen. Jedes Lebensalter mit Ausnahme des frühen 
Kindesalters kann von der Lepra ergriffen werden; ob, wie einzelne 
berichten, auch lepröse Kinder im 1.—3. Lebensjahre gesehen worden 
sind, ist zweifelhaft. Bei der langen Incubationsdauer sind diese 
Angaben, selbst wenn schon eine hereditäre Infection angenommen 
werden sollte, nicht wahrscheinlich. — 

Das Prodromalstadium, das Monate oder Jahre lang dauern 
kann, geht auch oft unbeachtet vorüber, da es keine besonders auf- 
fallende subjective oder objektive Beschwerden macht. In andern 
Fällen klagen die Patienten über Mattigkeit, Verdauungsstörungen, 
über zeitweilige unbestimmte Schmerzen, ein ausgesprochenes Kälte- 
gefühl. Bemerkenswerter sind schon Fieberattaquen von unbestimm- 
tem Typus und prodromale Flecken-Erytheme, die gleich den toxischen 
Symptomen bald wieder schwinden und keine Verwandtschaft mit 
der eigentlichen Hauteruption der Lepra tuberosa haben. Diese 
wird charakterisiert durch die Bildung von Knoten und Infiltraten 
von verschiedenster Grösse. Um die pathologische Identität der Haut- 
eruptionen zum Ausdruck zu bringen, spräche man eigentlich besser 
von knotigen und flachen Lepromen. Die knotigen Leprome bilden 
meist über die Umgebung erhabene, breitbasige, halbkuglige oder 
auch kegelförmige, zuweilen aber auch tief sitzende ziemlich derbe 
Tumoren, welche gewöhnlich von braunroter, glatter, zuweilen sogar 
glänzender, oft auch schuppender Haut überzogen sind. Sie sind 
weder spontan noch auf Druck empfindlich, nur besteht zuweilen 
im Beginne eine leichte Hyperästhesie der Haut, hin und wieder wohl 
auch etwas Jucken. Mitunter sieht man besonders an der Nase die 
Haut über den Knoten ein ekzematoides Aussehen annehmen; sie 


Lepra tuberosa 
5. cutanea. 


9 


násst und bildet Borken. Neben diesen knotigen, oberfláchlich ge- 
legenen Leprumen giebt es, wenn auch selten, auch tiefer gelegene, 
welche die Haut nicht empordrängen, mehr platt sind und erst 
mit der heriiberstreichenden Hand palpatorisch gefunden wer- 
den. Die flachen Leprome, die Infiltrate, stellen umschriebene 
meistens auch braunrote Verfärbungen der derben zuweilen etwas 
flach erhobenen Haut dar; zuweilen — an der Stirn — bilden sie 
längliche Wiilste. — Der Ausbruch dieser Bildungen kann ein so 
schleichender sein, dass der Patient wegen Mangels subjectiver Er- 
scheinungen zuweilen erst durch Zufall auf das Vorhandensein der- 
selben aufmerksam wird. In anderen Fällen aber gehen lebhafte 
Fiebererscheinungen mit starker Prostation der Eruption voraus. 
Das Gebiet, in dem dieselbe erscheint, zeigt oft vor derselben eine 
erysipelatoide Rötung. Die gleichen Allgemeinerscheinungen können 
auch jeden Nachschub begleiten. — Das Schicksal der Leprome ist 
ein sehr verschiedenes. Die Knoten vergrössern sich durch peripheres 
Wachstum sehr sehr langsam und können dann, wenn sie eine ge- 
wisse Grösse erreicht haben, selbst Jahre lang stationär bleiben. 
Sie nehmen dann an Consistenz zu; dabei wird ihre Färbung eine 
dunklere, schieferähnliche; die Hyperaesthesie geht allmählich in eine 
Anaesthesie über. Sie können aber auch jeder Zeit wieder resorbiert 
werden, nichts weiter als eine dunkelpigmentierte, etwas atrophische 
Haut zuriicklassend. Es kann diese Resorption ohne alle Allgemein- 
erscheinungen vor sich gehen, es kann aber auch dieselbe sich 
abspielen unter denselben Symptomen, unter welchen, wie eben ge- 
schildert, stürmische Eruptionen erfolgen. Es tritt lebhaftes Fieber, 
erysipelatoide Rötung einzelner Körperteile ein; sobald Fieber und 
Rötung nachgelassen, sind in dem Gebiete der letzteren die Knoten 
-abgeflacht, in lebhaftester Resorption begriffen. — Eine dritte Mög- 
lichkeit ist der ulceröse Zerfall der Knoten. Derselbe hängt aber 
immer ab von traumatischen Einflüssen, da das lepröse Gewebe an sich 
keine Neigung zu necrobiotischer Umwandlung besitzt. Man trifft 
deshalb lepröse Geschwüre besonders an exponierten Körperteilen, 
Händen, Unterschenkeln, Füssen, Nase, Lippen etc. — 

Die leprösen Geschwüre, durch Erweichung und Zerfall der 
Knoten-Leprome entstanden, sind sehr indolent, zeigen scharfe, glatte, 
oft callöse Ränder, secernieren einen dünnen Biter und haben eine 


Schicksal der 
Leprome. 


10 


re ee 


ausserordentlich geringe Heilungstendenz. Bei schonender Behand- 
lung heilen sie allerdings schliesslich und hinterlassen anaesthetische 
Narben. — 

Die Infiltrate, die oft den Boden fiir das Hervorspriessen der 
Knoten abgeben, sind auch stets von ausserordentlich langem Be- 
stande. Sie können sich durch peripheres Wachstum sehr ver- 
grössern, confluieren und grosse Hautflächen einnehmen. Aber auch 
sie sind im Laufe der Zeit der Resorption zugänglich und hinter- 
lassen eine atrophische, pigmentierte Haut. Geschwüriger Zerfall ist 
ihnen nicht eigen. ` 

Von grosser Bedeutung für die Erkennung der Lepra ist die 
me Localisation der Leprome. Können auch die ersten am Rumpfe 
oder an den Extremitäten auftreten, so ist doch der Lieblingssitz der- 
selben das Gesicht, wo sie sich fast stets in den frühesten Stadien etab- 
lieren. An der Stirn ordnen sie sich gewöhnlich parallel den Stirn- 
falten an, längliche Wülste bildend. Besonders springen die Augen- 
höhlenränder wulstartig hervor, während die Augenbrauen schwin- 
den. Man hat dieses Schwinden der Augenbrauen, ein sehr ins 
Auge fallendes Symptom, als pathognomonisch für Lepra hiu- 
gestellt. Das ist aber nur cum grano salis zu nehmen. Einerseits 
ist dieser Haarschwund gebunden an die lepröse Infiltration des 
margo suspraorbitalis, die aber in vereinzelten Fällen tuberöser Lepra 
selbst in vorgeschrittenen Stadien fehlen kann. Andererseits kommt 
es auch vor, dass kleinere Knoten den Boden der Augenbrauen 
durchsetzen, ohne dass eine Alopecie eintritt. — An der Nase sind 
es vornehmlich die Nasenflügel und die Nasenspitze, welche knotig 
durchsetzt werden. Die Nase erhält dadurch eine Gestalt, welche 
an ein bedeutend entwickeltes Rhinophyma erinnert. Die Wangen 
zeigen entweder einzelne Knoten, oder — und das ist häufiger — 
sie sind stark und derb infiltriert, erhalten ein polsterartiges Aussehen, 
während die Nasolabialfalten verstreichen. Ober- und Unterlippe 
sind oft knollig durchsetzt, dabei ektropioniert. Die Ohrmuscheln ver- 
lieren die muschelförmige Gestalt, erhalten ein unförmliches Aussehen, 
während die Ohrläppchen als kleine Tumoren herabhängen. Alle diese 
Veränderungen drücken dem Gesicht einen ganz charakteristischen 
Typus auf, welcher als pathognomonisch bezeichnet werden kann. 
Dasselbe, braunrot oder schiefrig verfärbt, erscheint gedunsen, 


11 


plump, ausdruckslos, starr, denn durch die leprösen Infiltrate ist die 
Bewegung der Gesichtsmuskeln in so hohem Masse beeinträchtigt, dass 
von einer Mimik kaum die Rede ist (Facies leontina). Es ist, wenn 
dazu noch ulceröse Prozesse vorhanden sind, ein schrecklicher Anblick. 
— Nächst dem Gesicht sind an der Körperoberfläche anı häufigsten er- 
griffen die Streckseiten der Extremitäten. Auch hier findet man 
isolierte Knoten und diffuse, starre Infiltrate. Da die Gelenkgegenden 
bevorzugt sind, ist die Bewegungsfähigkeit der Gelenke aus rein mecha- 
nischen Gründen oft sehr beeinträchtigt. Eine diffuse Schwellung und 
starke Verfärbung zeigt meistens der Unterschenkel. — Der Rumpf 
wird auch nicht von den Lepromen verschont, wie überhaupt wohl 
kein Körperteil gegen dieselben immun ist, vielleicht mit Aus- 
nahme der palma manus. Die früher vielfach aufgestellte Behauptung, 
dass das capillitium und die glans penis von Lepromen nicht ergriffen 
werden, ist durch neuere Beobachtungen widerlegt. 

Wenden wir uns nun den sichtbaren Schleimhäuten zu, so finden 
wir dieselben in schwerster Weise von der Lepra heimgesucht. Im 
Munde schlagen die Leprome an Lippen, Zahnrand, besonders aber 
an Zunge und Gaumen mit Vorliebe ihren Sitz auf. Die Schleim- 
haut wird von leprösen Infiltraten durchsetzt, ist meist empor- 
gewölbt; dass hier leicht die Möglichkeit zu traumatischen Zerfall 
gegeben ist, leuchtet ohne weiteres ein. Selten sind Leprome 
an der hinteren Rachenwand, sehr häufig aber in allen Teilen des 
Larynx, wo besonders die Epiglottis eine unförmliche Gestalt be- 
kommen kann. Die Infiltrationen, die durch Zerfall derselben ent- 
stehenden Narbenbildungen rufen die bedeutendsten Formverän- 
derungen hervor. Ganz frei ist der Larynx bei einem irgend vor- 
geschrittenen Fall fast nie. — Die Nase zeigt besonders in ihrem 
vorderen Abschnitte sehr oft Leprome und lepröse Ulcerationen. 
Eine Zerstörung des Knorpels, ein entsprechendes Einsinken des 
Nasengerüstes ist nicht selten. — Die Symptome dieser Schleimhaut- 
leprome sind keine sehr bedeutenden, da dieselben alle sehr indolent 
sind. Sie sind nur insoweit von Bedeutung, als sie die Kau- 
bewegung, die Stimme und die Luftzufuhr beeinträchtigen. Eine 
normale Stimme hat der an Lepra tuberosa Leidende eigentlich nur 
in frühen Stadien; bei den meisten klingt sie eigentümlich belegt 
und rauh (vox rauca). Relativ oft ist die Atmung durch Formverände- 


12 


rungen des Larynx so beeinträchtigt, dass die Tracheotomie nötig 
wird, die allerdings prompt wirkt. Ich sah im Rigenser Leprosorium 
unter 65 Kranken 4 Tracheotomierte. 

Eine sehr schwere Heimsuchung der Leprösen bedeutet das 

Lepra des Auges. Ergriffensein des Auges, ein leider gar sehr häufiges Ereignis. 
Sehen wir ab von den Lidlepromen mit ihren Folgen, Anschwellung 
der Lider, Entropium, Trichiasis, Ectropium, so ist in der Conjunctiva 
bulbi selten etwas zu finden. Manche haben kleine, orangegelbe 
Flecke in derselben beobachtet, die aber nicht conjunctivale, sondern 
episklerale Infiltrate darstellen. Sehr oft und schwer ergriffen ist 
die Cornea, und zwar kann dieses in zwiefacher Weise der Fall sein. 
Entweder es entstehen glatte, fleckförmige Trübungen, die sich aus- 
breiten, confluieren und schliesslich zur Bildung eines undurchsichtigen 
Leukoms führen. Oder es bildet sich eine knotige Keratitis. Ausgehend 
von einer leprösen Episkleritis am Cornealrande wachsen Knoten 
hervor, die allmählich die ganze Cornea durchwuchern, sich oft von 
dieser auf Iris, processus ciliaris, Choroidea ausbreiten und mit oder 
ohne Verschwärung zu einer Phthisis bulbi führen. In beiden Fällen 
fehlen alle subjektiven Beschwerden und alle entzündlichen Erschei- 
nungen, in beiden Fällen ist das traurige Endergebnis völlige Er- 
blindung, da die Affektion stets beiderseitig auftritt. Ein sehr er- 
heblicher Teil aller Leprösen verfällt erbarmungslos diesem beklagens- 
werten Schicksal. 

Bisher haben wir stets nur von den an der Körperoberfläche 
sich abspielenden Vorgängen bei der Lepra tuberosa gesprochen. 
Wie steht es nun mit den inneren Organen? Sehen wir von dem 
Eintreten regionärer Drüsenschwellungen, wie sie in Folge von 
cutaner Lepra gesehen werden, ab, so ist das Vorkommen einer 

Viscerale Lepra.yjgceralen Lepra lang bestritten und steht auch heute noch nicht 
in seinen Einzelheiten fest. Der Grund hierfür ist einerseits zu 
suchen in der klinischen und anatomischen Aehnlichkeit lepröser 
und tuberkulöser Prozesse, eine Aehnlichkeit, die noch heutzutage 
trotz der Entdeckung der betreffenden Krankheitserreger eine genaue 
Abgrenzung beider Prozesse zu einer schwierigen, nicht immer 
lösbaren Aufgabe macht; andererseits in der feststehenden Thatsache, 
dass die Tuberkulose sich gerne zur Lepra hinzugesellt. Letzteres 
ist allerdings lange nicht so häufig, als man früher annahm, da es 


13 


doch wohl heute keinem Zweifel mehr unterliegt, dass die früher 
als tuberkulös angesehenen Prozesse Lepröser meistens nicht als 
solche, sondern wirklich lepröse angesehen werden müssen. Wir 
werden auf diese Frage bei der Besprechung der pathologischen 
Anatomie zurückkommen müssen, hier sei nur einiges Klinische 
hervorgehoben. Die hervortretendsten Symptome macht die Lungen- 
affektion Lepröser; dieselben decken sich im ganzen mit denjenigen 
der Phthisis pulmonum, sodass nicht näher darauf eingegangen zu 
werden braucht. Die Lungenerscheinungen gesellen sich erst in 
vorgeschrittenen Stadien hinzu und bilden oft die eigentliche Todes- 
ursache. — Vom Verdauungstractus ist nur zu erwähnen, dass 
Störungen der Defäcation, die auf Darmgeschwüre deuten, bei 
Leprösen auch beobachtet sind, wiederum aber nur bei vorgeschrit- 
tenem Leiden. 

Die Milz findet man fast regelmässig, die Leber oft geschwollen; 
letztere kann aber auch wie bei Cirrhose verkleinert sein. Häufig 
ist Albuminurie vorhanden, die auf nephritische Affectionen deutet. 
Von Interesse ist die bei längerem Bestande des Leidens sich ein- 
stellende Impotenz, die auf Veränderungen des Hodens zurück- 
zuführen sind, deren Vorkommen ein fast regelmässiges ist. 

Nun noch einige Worte über das Allgemeinbefinden. Relativ "ran an- 
genommen ist dasselbe auch bei sehr ausgebreiteter tuberöser Lepra 
ein sehr gutes. Die Kranken haben zuweilen unbestimmte Schmerzen 
in den Gliedern, fühlen sich zeitweilig sehr mitgenommen, bleiben 
aber im ganzen genommen viele Jahre ausserhalb des Bettes und 
sogar arbeitsfahig. Dieses gute Allgemeinbefinden wird nur gestört 
durch die oben erwähnten Fieberattaquen, die als Eruptions- 
fieber und Resorptionsfieber auftreten und die Kranken ungeheuer 
mitnehmen, niemals aber an sich den Tod herbeiführen. Ausserdem 
giebt es auch Fieberanfälle, die weder mit Eruption — wenigstens 
an Haut und Schleimhaut — noch mit Resorption etwas zu thun 
haben. Sie sind wohl der Ausdruck von Metastasierung in innere 
Organe. Der Tod tritt fast nur dann in Folge der Lepra tuberosa 
an sich ein, wenn Erscheinungen stark ausgeprägter, visceraler Lepra 
(Nieren, Lunge) vorhanden sind. Meistens sind es intercurrente 
Leiden, welche die mit der Zeit cachektisch gewordenen Kranken 
dahinraffen, nachdem sie 10, 15 und mehr Jahre von ihrer Lepra 


14 


gequält sind. Hinzufügen möchte ich nocb, dass psychische 
Störungen in Gestalt von Melancholie gesehen worden sind. Der 
Ausbruch der Manie bei einem hier beobachteten Falle ist kein 
irgendwie häufiges Vorkommnis. 

en Die zweite Lepraform ist die Lepra nervosa s. anästhetica. 
Diese schafft ein Krankheitsbild, welches klinisch toto coelo von dem 
eben geschilderten verschieden sein kann, sodass es auf den ersten 
Blick kaum denkbar erscheint, dass wir es hier mit einer ätiologisch 
einheitlichen Krankheit zu thun haben. Und doch handelt es sich 
um dieselbe Noxe, um dieselben pathologischen Veränderungen, nur 
dass diese sich vornehmlich an anderen Organteilen abspielen, als 
diejenigen der Lepra tuberosa. Während diese vorzugsweise eine 
cutanea ist, d. h. die Haut in besonders hohem Masse ergreift, 
deponiert diese Form ihre pathologischen Producte vornehmlich in 
den Nerven, ohne allerdings — und das ist ein wichtiger Berührungs- 
punkt beider Formen — die Haut ganz zu schonen. Aus der 
folgenden Schilderung des Krankheitsbildes wird sich das leicht er- 
geben. Es handelt sich allgemein gesagt um eine multiple, lepröse 
Neuritis. Diese setzt pach vieljähriger Incubation langsam mit einer 
Reihe von Symptomen ein, welche man gewöhnlich als prodromale 
bezeichnet. Es scheint dieses nicht correct, da diese Symptome 
schon als directe Aeusserungen der Erkrankung bestimmter Nerven- 
stämme aufgefasst werden müssen. Es stellen sich zunächst inter- 
mittierende Schmerzen ein, welche einen lancinierenden Charakter 
haben, daneben Hyperästhesie mancher Hautbezirke, Parästhesien, 
wie Ameisenlaufen, Kribbeln etc. Diese Beschwerden kommen und 
vergehen, spielen sich vornehmlich im Gebiete einzelner Nerven ab, 
des Ulnaris, des Medianus, des Peroneus, des Facialis, die überhaupt 
Prädilectionssitze der Lepra sind, ohne dass aber die andern Nerven 
gegen die Lepra immun wären. Daneben bestehen vage Störungen 
des Allgemeinbefindens, wie dyspeptische Zustände, Schlaflosigkeit 
u. S. W. Im Laufe der Zeit stellt sich auch eine Druckempfindlichkeit 
der ergriffenen Nerven ein, die sich dann allmählich etwas ver- 
dicken. Diese Verdickung ist bald eine gleichmässige, bald mehr 
spindelförmige, oder auch eine knotige. Besonders an dem Ulnaris 
und Medianus tritt diese Veränderung deutlich hervor und ist leicht 
palpabel. Bei manchen Patienten stellt sich in diesem Initialstadium 


15 

zeitweise wie bei der Lepra tuberosa eine Fieberattaque ohne be- 
stimmten Typus mit starker Störung des Allgemeinbefindens ein. 

Ganz schleichend entwickelt sich dann das charakteristische 
Krankheitsbild, indem einerseits die Folgeerscheinungen der Nerven- 
erkrankung hervortreten, andererseits besonders auf der Haut, sich 
mehr oder weniger unabhängig von den Nerven lepröse Ver- 
änderungen entwickeln. Betrachten wir dieselben an der Hand der 
verschiedenen Organe und beginnen wir mit dem Körperüberzug, 
mit der Haut, die hier wie bei Lepra tuberosa wieder sehr 
charakteristische Erscheinungen zeigt. Eine Hauptgruppe derselben 
ist sicher zurückzuführen auf die Neuritis. Es sind dieses zunächst 
Sensibilitätsanomalien. Die oben erwähnte, meist symmetrische 
Hyperisthesie, wie die mannigfachen Parästhesien schwinden, 
statt dessen stellt sich eine Hypästhesie ein, die schliesslich in 
Anästhesie übergeht. Diese erstreckt sich nicht immer, ja nicht 
einmal häufig auf alle Gefühlsqualitäten. Verhältnissmässig lange 
bleibt die Empfindung für tactile Reize erhalten. Die Kranken 
fühlen die feinsten Nadelstiche als Berührung, aber ohne Schmerz- 
empfindung, d. h. es besteht Hyp- resp. Analgesie. Parallel der 
Schmerzemptindlichkeit pflegt die Temperaturempfindlichkeit abzu- 
nehmen, sodass heiss und kalt nicht unterschieden, als differente 
Reize empfunden werden. Der Kranke kann sich eine ausgedehnte 
Brandwunde zuziehen, ohne es zu merken, ein nicht seltenes Vor- 
kommnis. Dieses Missverhiltnis in der Abnahme der verschiede- 
nen Gefühlsqualitäten bezeichnet man als dissociirte Sensibili- 
tatsstérung. Wir begegnen derselben bekanntlich bei dem als 
Syringomyelie bezeichneten Symptomencomplex. Bei der Erörterung 
der Diagnose werden wir auf die daraus erwachsenden diagnostischen 
Schwierigkeiten zurückkommen müssen. Neben dieser Sensibilitäts- 
störung begegnet man oft noch einer Verlangsamung der Leitung, 
d. h. ein äusserer Reiz braucht längere Zeit als in der Norm, um 
zur Perception zu gelangen. — Von Wichtigkeit ist die Lo- 
calisation der Sensibilitätsstörungen und ihre Ausbreitung. Die- 
selben sind zum Teil gebunden an die gleich zu beschreibenden 
Flecken, zum Teil sind sie ganz regellos, ohne sich scharf an die 
Gebiete der erkrankten Nerven zu halten. Sie spotten aller 
anatomischen Grenzen der einzelnen Nervengebiete, ergreifen regel- 


Hautverände- 
rungen. 


Sensibilitäts- 
störungen. 


16 


los kleinere und grössere Teile der Körperoberfläche, ohne dass an 
diesen Teilen andere Erscheinungen einer gestörten Innervation 
vorhanden wären. Beispielsweise finden wir an den Armen oft 
ausgesprochene trophische Störung im Gebiete des Ulnaris, und nur 
des Ulnaris, die Sensibilitätsanomalie aber greift weit über dieses 
Gebiet hinaus auf weite Strecken des Armes und zeigt dabei eine 
ganz un-anatomische (sit venia verbo!) Begrenzung, schliesst gar mit 
einem quer zum Lángsdurchmesser des Armes verlaufenden Kreise ab, 
sodass peripher von diesem Anästhesie, central normale Sensibilität 
besteht. Es giebt eigentlich nur ein Leiden, das eine ähnliche 
irreguläre Verteilung von Sensibilitätsstörungen bietet, das ist die 
Hysterie, bei der bekanntlich alles möglich ist. Es ist auch diese 
Eigenschaft der Hautsensibilität von Wichtigkeit für die Abgrenzung 
der Lepra von Erkrankungen des Centralnervensystems. 

An die Sensibilitätsstörungen der Haut schliessen sich dann 
solche vasomotorischen Ursprungs, lepröse Angioneurosen. Es 
werden als solche zunächst Blasenausbrüche aufgefasst, welche in 
frühen Stadien, oft unter Fiebererscheinungen am ganzen Körper 
auftreten, der sogenannte Pemphigus leprosus. Es sind schlappe, 
grosse Blasen, ähnlich wie beim Pemphigus vulgaris. Dieselben 
trocknen gewöhnlich ein, es bilden sich Borken, unter denen die 
Haut excoriirt ist. An manchen Stellen, wo die Läsion tiefer 
geht, oder wo traumatische Einflüsse, wie kratzende Finger- 
nägel, hinzukommen, können Narben aus den Blasen resultieren. 
Andere angioneurotische Hautefflorescenzen sind erythematische Flecke 
und Ringe, welche hervortreten und nach kürzerem oder längerem 
Bestande gewöhnlich spurlos verschwinden. Unna bezeichnet diese 
Erytheme als angioneurotische Lepride. Daneben unterscheidet 
er — das sei hier eingeschaltet — noch papulöse, kleinknotige 
Lepride, die er scharf abgrenzt von den eigentlichen Lepromen der 
Lepra tuberosa, da ihnen kein lepröses Gewebe, sondern nur Embo- 
lieen von Leprabacillen in angioneurotischen Lepriden zu Grunde liegen. 
Die Berechtigung der Abgrenzung dieser Neurolepride von den 
Lepromen ist noch angefochten. — 

Neben diesen Erythemen, Papeln und Blasen finden wir bei 
re der Lepra nervosa aber noch als die wichtigste anatomische Ver- 

Haunt, änderung der Haut die leprösen Flecken (maculae), deren Er- 


Angeoneurosen 
der Haut. 


17 


ee ee 


scheinen fast als pathognomonisch bezeichnet werden muss. Es 
stellen sich diese in ganz verschiedenen Gestaltungen dar. Da sieht 
man kleinere oder grössere braunrote Flecken, wenig oder gar nicht 
erhaben, mit einem spurweise wallartigen Rand, mit glatter oder 
schuppender Haut. Andere Flecken zeigen nur einen schmalen 
bräunlichroten Rand, während das Centrum abnorm stark pigmentiert 
oder auch umgekehrt ganz pigmentfrei, auffallend weiss und atrophisch, 
narbenähnlich, etwas eingesunken erscheint. Andere wiederum lassen 
den bräunlichroten Rand vermissen, haben nur einen Pigmentsaum, 
eine dunkle pigmentierte Umgebung oder heben sich überhaupt nur 
gleich der Leucopathie durch ihre auffallend weisse Beschaffenheit, 
ihr etwas atrophisches Aussehen, oft sogar nur sehr wenig ab. Dieses 
gilt übrigens von weissen Rassen ; bei den schwarzen sind die Unter- 
schiede schärfer, da dort die Abnahme des Pigments sich viel deut- 
licher documentiert. — Haben wir schon hierdurch ein sehr buntes 
und verschieden gestaltetes Bild, so kommt noch hinzu, dass die 
Flecken bei ihrem peripheren Wachstum confluieren können und so 
landkartenähnliche Bilder hervorrufen, die sich über grosse Haut- 
gebiete, z. B. über den ganzen Rücken erstrecken können. Alle 
gefleckten Stellen zeigen Hyp- oder Anaesthesie. Die Zahl der 
Flecken, die Zeit ihres Auftretens, ihre Entwicklungsdauer ist ausser- 
ordentlich verschieden. Es kann ein einzelner Fleck jahrelang be- 
stehen, ohne sich auszubreiten oder wesentlich zu verändern, es 
können zahlreiche Flecken sich schnell entwickeln, bevor die anderen 
Erscheinungen hervorgetreten. Letztere Fälle hat man vielfach als 
besondere Lepraformen betrachtet, als Lepra maculosa bezeichnet, 
was aber wohl kaum berechtigt ist, da meistens andere Erscheinungen 
der Lepra nervosa vorhanden sind resp. mit der Zeit sich einstellen. 
Den Sitz der Flecken kann jede Körperstelle bilden, Gesicht, Rumpf 
und Extremitäten. Die Behauptung, dass in der planta pedis und 
palma manus keine Flecken vorkommen, ist unrichtig. Ich habe an 
diesen Stellen Flecken bei einem Kranken des Rigenser Leprosoriums 
gesehen. Im allgemeinen scheinen aber die stärker secernierenden 
Hautstellen (Achselhöhle, Gelenkbeugen) weniger häufig afficiert. 
Die Anschauungen über die Natur dieser maculae leprosae 
haben sehr gewechselt. Früher sah man sie alle als Folgezustände 


der Neuritis an, d. h. man betrachtete sie als angioneurotische oder 
9 


de 


18 


trophische Stérungen, die durch die Nervenanomalie erst hervorgerufen 
werden. Das ist für die meisten Fälle sicher unrichtig. Genauere 
Untersuchungen haben gelehrt, dass meistens flache, lepröse In- 
filtrationen vorliegen, die nicht die Folge, sondern der Ausgangspunkt 
der Neuritis sind. Indem diese unbedeutende Infiltration die peri- 
pherischen Nervenendigungen ergreift, geht die Erkrankung in den 
Nerven ascendierend vorwärts, bis sie die grossen Stämme schliesslich 
afficiert. Die verschiedenen klinischen Bilder, die wir haben, sind 
nur verschiedene Grade und verschiedene Stadien des unbedeutend 
leprösen Infiltrationsprocesses, welcher central zum Pigmentschwund 
und zur Atrophie führt, die wiederum allmählich centrifugal fort- 
schreitend, auf die ganze ergriffene Hautstelle sich erstreckt. Dieses 
ist jedenfslls der pathologische Vorgang, der bei den weitaus meisten 
Fällen zu Grunde liegt. Ob daneben noch die einfachen Leuko- 
pathieen secundär nach Erkrankung der Nerven als trophische 
Anomalieen entstehen, sei dahingestellt. 

Dass solche trophischen Störungen der Haut vorkommen, lehrt die 
oft eintretende Alopecie im Gebiete der Sensibilitätsstörungen, die beob- 
achtete diffuse Atrophie der Haut in Gestalt der „Glossy skin“, die 
Anomalien der Nägel, die zuweilen gesehen werden, wobei die Nägel 
glanzlos, rissig, uneben werden und abbröckeln, vor allem aber auch 
die tiefgehenden Zerstörungen derjenigen Form der Lepra nervosa, 
die man als Lepra mutilans bezeichnet. Wir kommen auf dieselbe 
bei der Besprechung der Knochen- und Gelenkerkrankungen zurück. — 

Bevor wir die Haut verlassen, sei noch erwähnt, dass dieselbe 
besonders an Unterarmen, Händen, Unterschenkel und Füssen auch 
ohne Fleckenbildung ein atrophisches Aussehen erhält, stark pigmen- 
tiert ist und eine fast regelmässige Herabsetzung der Schweiss- 
secretion erkennen lässt. Die Haut fühlt sich meistens sehr trocken 
an. Bedingt ist dieselbe wohl nicht durch Zerstörung der schweiss- 
erregenden Nervenfasern, sondern durch Atrophie der Schweiss- 
drüsen selbst. — 


Veränderungen Kommen wir nun zur Besprechung der sehr wichtigen 
des motorische oe a e 
spparates, Schädigungen, welche der motorische Apparat bei der Lepra nervosa 


erleidet. Sehr frühzeitig merken oft die Kranken eine Schwäche in 
den Extremitäten, besonders in den oberen. Die motorische Kraft 
hat zweifellos abgenommen. Es handelt sich dabei aber nicht um 


19 


er nn nn 


eine eigentliche Parese resp. Paralyse, sondern um eine Atrophie 
des Muskels und dadurch abnehmende Muskelkraft, wie wir es in 
ähnlicher Weise bei aus anderen Gründen eintretenden trophischen 
Muskelstörungen, z. B. der central bedingten progressiven Muskel- 
atrophie finden. Es ist die Abnahme der Kraft stets proportional der 
Atrophie, eine vollkommene Lähmung tritt erst ein, wenn die 
Muskelsubstanz vollkommen geschwunden. Es ist das eine hervor- 
hebenswerte Eigenschaft der leprösen Neuritis, dass sie eine Auswahl 
unter den Fasern in demselben Nerven trifft. Während sie die 
trophischen, sensiblen und secretorischen Fasern bald afficiert, die 
vasomotorischen oft sehr alteriert, schont sie die motorischen bis in 
die spätesten Stadien hinein. Eine weitere Eigentümlichkeit ist 
auch hier, wie bei den sensibeln Störungen zu verzeichnen, es ist 
die Auslese, welche das lepröse Virus unter den Nerven und dem- 
entsprechend unter den von ihnen versorgten Muskeln trifft. Be- 
sonders betroffen sind stets die Muskelgebiete des Ulnaris, des 
Medianus, des Intercostohumeralis, Musculocutaneus, Peroneus, 
Facialis. Dementsprechend sehen wir am häufigsten an den Händen 
die M. interossei schwinden, Thenar und Hypothenar sich abflachen, 
die Exsensoren an Umfang abnchmen, ein sehr charakteristisches Bild. 
Mit der Zeit überwiegen dann die Antagonisten, sio geraten in Con- 
tractur und es bildet sich die typische Krallenstellung aus, Dorsalflexion 
der ersten Phalangen mit Volarflexion der andern. Der Deltoideus 
flacht sich ab, so dass der Arm nur schlecht gehoben werden kann. 
Die Streckung des Unterschenkels wird erschwert, da der Quadriceps 
femoris atrophiert; die Wade nimmt an Umfang ab. Der Gang wird 
dadurch ein schleppender mit schleifender Fussspitze, zu völliger 
Unfähigkeit zum Gehen kommt es aber selten. — Typische Verände- 
rungen sehen wir im Gesichte durch die beiderseitige Atrophie des 
Facialis, denn diese Muskelatrophieen treten meistens symmetrisch auf. 
Wir haben gesehen, dass die Facies leontina bei der Lepra tuberosa 
etwas durchaus Charakteristisches hatte; dieses gedunsene, knotige, 
plumpe Gesicht ohne jeden Ausdruck, weil ohne jede Mimik. Auch bei 
der Lepra nervosa leidet letztere in hervorragender Weise. Während 
aber bei der Lepra nervosa das Spiel der Gesichtsmuskeln versagte 
unter dem mechanischen Einflusse der verdickten, infiltrierten, starren 
Haut, bleibt dasselbe bei der Lepra nervosa aus in Folge der 


Ox 
ra 


Knochen- 
affoctionen. 


20 


motorischen Schwäche der atrophischen Gesichtsmuskeln. Das Bild 
ist eine Abschwächung desjenigen, welches wir bei beiderseitiger, peri- 
pherer Facialislahmung sehen. Die meistens dünnen, mageren Wangen 
sind schlaff, die Mundwinkel hängen herab, die Nasolabialfalten sind 
verstrichen, Unterlippe und das untere Augenlid sinken herunter, 
letzteres ist oft ganz ectropioniert, was traumatische Cornealgesclwüre 
zuweilen zur Folge hat. Das Gesicht erhält dadurch einen apathischen, 
geistlosen, tieftraurigen Ausdruck. Nur bei besonderen Anregungen 
beleben sich die Gesichtszüge etwas, da doch immer noch ein Teil 
Bewegungsfähigkeit in den atropbischen Muskeln zurückgeblieben 
ist, um aber bald wieder in den früheren, stumpfen Gesichtsausdruck 
zu verfallen. Dieser Gesichtstypus ist für die Diagnose von Bedeutung, 
zumal noch oft die geschilderten Flecken dem Gesicht einen weiteren 
Stempel aufdrücken. — Betreffs der electrischen Erregbarkeit der 
Muskeln will ich nur noch hinzufügen, dass bisher meines Wissens 
das Verhalten derselben noch keiner gründlichen Untersuchung 
unterzogen ist. 

Weitere Folgezustände der menschlichen Affection machen sich 
an den Knochen geltend, aber nur an den Mittelhandknochen und 
Mittelfussknochen, sowie an den Phalangen der Hände und Füsse. 
Hier tritt eine trophische Veränderung ein, welche zur Verdünnung, 
zum Schwunde der Knochen wird; ohne jede Entzündungserscheinung, 
ohne jeden Schmerz werden die Knochen allmählich resorbiert. 

Viel grössere Verwüstungen an den Knochen richtet ein anderer 
Vorgang an, das Auftreten von ulcerösen Zerstörungen, welche in 
der Haut, besonders in den Gelenkgegenden von Fingern und Zehen 
beginnen. Im Gegensatz zu den Geschwüren, die aus den Knoten 
der Lepra tuberosa hervorgehen, handelt es sich hier um einen rein 
trophischen Zerfall der Haut. Es bilden sich Ulcerationen sehr indolenter 
Natur, die immer tiefer dringen, bis zum Knochen gelangen, die 
Gelenke anfressen und zerstören, bis schliesslich das betreffende vor dem 
Gelenke gelegene Glied -— meistens handelt es sich um Phalangen — 
einfach abfällt. Das ganze geht ganz schleichend von statten ohne 
Störung des Gesamtbefindens. Das Resultat ist schliesslich, dass 
an Fingern und Zehen einige Phalangen ganz verloren gehen und die 
Hände resp. Füsse dadurch eine sehr bedeutende Vestümmelung 
erleiden, was übrigens die Gebrauchsfähigkeit der Gliedmassen relativ 


21 


in nicht sehr hohem Masse beeinträchtigt. Ähnliche tieffressende 
Geschwiire sieht man oft in der Fusssohle, ohne dass es aber hier 
gleich zu Mutilationen kommt. Diese Plantargeschwüre (Ulcus 
perforans pedis) sind auch der Heilung fast uuzugánglich. Man 
bezeichnet diese Gestaltung des Krankheitsbildes als Lepra mutilans Pm mutilans. 
und sieht die ulzerösen Zerstörungen meistens wie erwähnt, als 
neurogene, trophische an. Ich will aber nicht unerwähnt lassen, 
dass manche Autoren die trophische Natur dieser Zerstörungen 
leugnen, dieselben vielmehr auf traumatischeEinflüsse bei anästhetischer 
Haut zurückführen, ein Erklärungsversuch, der ja auch, wohl mit 
Unrecht, für andere trophische Mortificationen, z. B. Decubitus centus, 
in’s Feld geführt wird. — Neben diesen Mutilationen giebt es aber 
auch Sequestrationen von Knochenstiicken, die unter dem Bilde einer 
Osteomyelitis verlaufen. Ein Fingerglied schwillt an, allmählich tritt 
Erweichung, Perforation und Abstossung necrotischer Knochenstücke 
ein, was übrigens auch bei der Lepra tuberosa vorkommt. 

An den Gelenken sind Schwellungen beobachtet, die sehr an 
Tuberculose erinnern; ob wirklich eine solche vorlag, ist unentschieden. 
Einzelne Autoren wollen ferner an den Gelenken auch Veränderungen 
gesehen haben, wie man sie bei der Tabes und Syringomyelie findet, 
d. h. ein gleichzeitiges Abspielen von atrophischen und hyper- 
trophischen Vorgängen. Während auf der einen Seite die Gelenk- 
knorpel und dann der darunter liegende Knochen usuriert wird, 
treten auf der anderen Seite Knochenwucherungen ein, welche eine 
Verdickung der Gelenke bewirken. Es ist zweifelhaft, ob da nicht 
eine Verwechselung mit Syringomyelie vorliegt, die, wie später er- 
örtert werden soll, nicht unmöglich ist. 

Fassen wir nochmals kurz die Symptome der Lepra nervosa 
zusammen, so sind es etwa folgende: Beginn mit lancinierenden 
Schmerzen, Hyperästhesie der Haut, Verdickung und Schmerzhaftig- 
keit der Nerven. In der Haut entwickeln sich dann die geschilderten 
Flecke, lepröse Infiltrate, die allmäblich sich in hyperpigmentierte oder 
pigmentlose, atrophische, anästhetische Hautstellen verwandeln. Gleich- 
zeitig geht die Hyperästhesie über in eine Anästhesie, die meistens 
lange Zeit den Charakter einer dissociierten Sensibilitätsstörung be- 
wahrt, vornehmlich in bestimmten Nervengebieten sich abspielt, ohne 
aber sich an die von ihnen versorgten Hautgebiete zu binden. Die 


Lepra mixta. 


Leprabacillus, 


22 


Schweisssecretion nimmt ab. Das weitere Krankheitsbild wird dann 
beherrscht von den Muskelatrophien, der durch dieselben bedingten 
motorischen Schwäche und den Formveränderungen besonders im Ge- 
biete einzelner Extremitätennerven und des Facialis. Dazu können dann 
die mutilierenden Verstümmelungen, die ulcerativen Processe (Ulcus 
perforans), die Neurosen, Knochen- und Gelenkveränderungen treten. 

Das ist ein Krankheitsbild, welches klinisch zweifellos sich von 
demjenigen der Lepra tuberosa toto coelo unterscheidet. Wenn 
dennoch auch die klinischen Beobachter die pathologische Identität 
beider Lepraformen von jeher erkannt haben, lange bevor die 
ätiologische und histologische Einheit erforscht war, so liegt das 
vornehmlich daran, dass die beiden Formen gar oft in einander 
übergehen und eine Lepra mixta zu den häufigsten Vorkommnisser 
zählt. Fälle von Lepra tuberosa, die lange genug beobachtet werden, 
zeigen früher oder später fast stets einige oder viele Folgeerscheinungen 
einer leprösen Nervendegeneration. Bei Fällen von Lepra nervosa 
sieht man im Laufe der Jahre sehr oft, zumal auf dem Boden der 
Flecke Knoten hervorspriessen, was ja im Grunde sehr begreiflich 
ist, wenn man in den Flecken lepröse Infiltrate sieht, die ja nur 
graduell sich von den Knoten unterscheiden. Die viscerale Lepra 
kann bei der Lepra nervosa sich entwickeln, ebenso wie bei der 
cutanen Form. — In den Leprosorien gebören Fälle von Lepra mixta 
nichts weniger als zu den Seltenheiten. 

Aetiologie der Lepra. 

Es wird wohl jetzt nur von Wenigen noch bezweifelt, dass in 
dem von Hansen 1871 entdecktem, von Neisser, Unna und andern 
eifrigst studiertem Bacillus der microbiäre Erreger gefunden ist. 
Allerdings sind einige Bedingungen, die man an die feste ätiologische 
Zusammengehórigkeit zwischen einem Microorganismus und einer 
Krankheit vom streng wissenschaftlichen Standpunkte aus stellen 
muss, durchaus nicht erfüllt. Es fehlt noch die gelungene Kultur, 
es fehlt deshalb auch die erfolgreiche Impfung mit dieser. Dennoch 
dürfte in Analogie mit anderen Infectionskrankheiten das regel- 
mässige Vorkommen des Bacillus in den Lepraheerden bei allen 
Formen und in allen Ländern in diesem Falle genügen, um seine 
Specificität zu beweisen, wenn auch deshalb das Bestreben, die Be- 
weiskette zu schliessen keineswegs als entbehrlich hingestellt werden 


23 


soll. Morphologisch ähnelt der Leprabacillus sehr dem Tuberkelbacillus; 
es sind kleine 4—6 u lange Stäbchen, die sich nicht immer gleich- 
mässig färben, sodass sie oft an einer oder mehreren Stellen unter- 
brochen erscheinen. Wie diese Unterbrechungen aufzufassen sind, 
darüber gehen die Ansichten sehr auseinander. Während Neisser 
in den ungefärbten Stellen den Ausdruck einer Sporenbildung sieht, 
glaubt Hansen, dass es sich um Körner in dem Bacillus handelt, 
die die Folge eines Zerfalls desselben sind. Andere Autoren wieder 
erklären diese ganze Formation als ein Kunstprodukt, als eine 
Folge der eingreifenden präparatorischen Massnahmen. Einen ganz 
abweichenden Standpunkt nimmt Unna ein, der dieses körnige 
Aussehen als das normale betrachtet und dieses körnige Stäbchen 
für einen Faden an einander gereihter Coccen erklärt, den Cerco- 
thrix Leprae. Wer Recht hat, möge die Zukunft entscheiden. 
Bemerkt sei nur, dass nicht bei allen Tinctionsmethoden diese Forma- 
tionen in gleicher Weise deutlich hervortreten. Besonders sind die- 
jenigen, welche mit einer Jodbehandlung verbunden sind, hierzu 
geeignet. Es tritt übrigens auch bei derselben Färbung nicht bei 
allen Bacillen die Körnung in gleicher Weise hervor. 

In Bezug auf die Färbung besteht leider auch eine grosse 
Analogie mit den Tuberkelbacillen. Ich sage „leider“, weil durch 
diesen Umstand die Schwierigkeit der Unterscheidung der leprösen 
Veränderungen von tuberculösen, die besonders bei visceraler Lepra 
in Hinsicht auf die Complication der Lepra mit der Tuberculose 
sehr schwierig ist, oft geradezu zu einer Unmöglichkeit werden 
kann. Man färbt gewöhnlich die Leprabacillen wie die Tuberkel- 
bacillen mit Carbolfuchsin, Entfärbung durch Salpetersäure und Nach- 
färbung mit Methylenblau, wobei die Leprabacillen schön roth gefärbt 
werden. Ein schönes Bild giebt die Doppelfärbung mittels Hämatoxylin 
und Carbolfuchsin; Entfärbung durch salzsaures Anilin. Jedoch genügt 
bei den Leprabacillen zum Unterschiede von Tuberkelbacillen auch 
einfache wässrige Fuchsinlósung an Stelle des Carbolfuchsins. Man hat 
sich vielfach bemüht Differentialfärbungen gegenüber den Tuberkel- 
bacillen zu finden, aber diese Bemühungen waren niemals von vollen 
Erfolge gekrönt. Man hat ja Differenzen gefunden, es handelt sich 
aber stets mehr um graduelle, als um principielle Unterschiede. Näher 
auf diese einzugehen, würde hier zu weit führen. Wo man im Zweifel 


24 


ist, wo nicht die Massenhaftigkeit der Leprabacillen, ihre noch zu er- 
örternde Anordnung eine endgültige Entscheidung fällen lassen, da 
bleibt nur übrig zur Cultur und zur Impfung zu greifen, denn in 
diesen beiden Punkten ist der Unterschied ein radicaler. Wie 
bereits erwähnt ist es trotz der Benutzung der allerverschiedensten 
Nährböden noch niemand in einwandsfreier Weise gelungen Lepra- 
bacillen zu züchten. Die Nährböden bleiben nach den Ergebnissen 
der zahllosen bisherigen Versuche, sofern nicht Verunreinigungen 
vorhanden sind, steril. Man hat viel nach der Ursache dieser 
negativen Culturversuche geforscht, ohne sie bisher zu finden. Es 
könnte ja dieselbe eine doppelte sein. Erstens könnte man noch 
immer nicht den adäquaten Nährboden gefunden haben, wie ihn die 
Lebensbedingungen der Leprabacillen verlangen. Zweitens könnten 
aber letztere in den leprösen Gebilden schon im abgestorbenen 
Zustande vorhanden sein, wofür manches zu sprechen scheint. — 
Ebensowenig erfolgreich sind bisher Tierimpfungen gewesen, — 
von Menschenimpfungen sprechen wir später bei der Erörterung der 
Contagiosität. Von sich reden gemacht haben die Experimente von 
Melchers und Ortmann, die durch Ueberimpfung von leprösem 
Material auf das Kaninchenauge Leprome in demselben erzeugt haben 
wollten. Aber auch diese Experimente werden von den gewiegtesten 
Lepraforschern nicht als vollgültig anerkannt. Es scheint, als ob hier 
eine Verwechslung mit Tuberculose oder einer andern Tierkrankheit vor- 
gelegen hat. Es werden wohl die Tiere gegen die Lepra ebenso immun 
sein, wie gegen die Syphilis. In diesem negativen Verhalten der 
Leprabacillen gegen Kultur und Tierimpfung sind entscheidende 
Unterschiede gegenüber den Tuberkelbacillen gegeben. Jedoch lässt 
auch diese Differenz bei positivem Ergebnis oft noch Zweifel auf- 
kommen, da Tuberkelbacillen gleichzeitig mit Leprabacillen vor- 
handen sein können; der Nachweis der ersteren lässt die letzteren 
nicht endgültig ausschliessen. 

Auf die Verbreitung der Leprabacillen in den verschiedenen 
Organen und in den Lepraprodukten, sowie auf ibre anatomische 
Anordnung will ich bei der pathologischen Anatomie erst näher ein- 
gehen. Hier will ich nur noch erwähnen, dass ihr Nachweis bei 
der Lepra tuberosa besonders leicht ist. Es genügt gewöhnlich, einen 
Knoten anzustechen, um in dem erhaltenen Blutstropfen Leprabacillen 


25 


in grosser Zahl zu finden. In dem Blute des Blutkreislaufs sind 
sie seltener zu finden, eigentlich nur zur Zeit acuter Fieberattaquen, 
in denen eine Disseminierung und Metastasierung der Bacillen statt- 
findet. — Auffallend ist auch der Befund zahlreicher Bacillen im 
Nasenschleim, in Fällen, bei denen die Schleimhaut keine leprösen 
Anomalien entdecken lässt. In Geschwürssekreten sind die Bacillen 
gewöhnlich leicht nachweisbar, ebenso in dem Inhalte von Blasen. 
Nach Auflegen eines Vesicans gelingt es oft, Bacillen in der ex- 
sudierten Flüssigkeit zu finden. 

Mit der Entdeckung der Leprabacillen waren all die zahllosen 
Theorien, die man früher über die Entstehungsursachen der Lepra 
aufgestellt hat, natürlich hinfällig geworden. Dennoch darf man sie 
nicht für bedeutungslos erklären, da es ja möglich ist, dass be- 
stimmte Momente, wenn sie auch nicht die Lepra hervorrufen, doch 
den Leprabacillen die Wege ebnen, d. h. die Prädisposition für die 
Lepra schaffen. Es sind da besonders drei Gruppen von Autoren 
zu unterscheiden, die eine, welche in klimatischen und Bodenver- 
hältnissen, die andere, welche in ungünstigen hygienischen Zuständen, 
die dritte, welche in einer bestimmten Ernährungsweise die Lepra- 
ursache suchten. Die erste Gruppe ist damit schnell abgethan, dass 
Lepraherde in den verschiedensten Klimaten, bei den verschiedensten 
Bodenverhältnissen gefunden werden, ohne dass man eine gemeinsame 
Noxe in dieser Richtung entdecken konnte. Was den Einfluss 
schlechter hygienischer Zustände, schlechter Wohnungen, schmutziger 
Lebensweise etc. betrifft, so ist derselbe nicht zu leugnen, da 
die Lepra vornehmlich eine Krankheit armer Leute, armer 
Volksstámme ist. Aber nur vornehmlich, denn wie sie nach den 
historischen Ueberlieferungen in Frankreich früher sogar Lepro- 
sorien für Adlige und Hofleute hatten, die doch gerade nicht zu 
den Armen zu zählen pflegen, so kommen auch heute Erkrankungen 
wohlhabender Patienten vor, sie sind aber doch bei weitem in der 
Minorität. Meistens sind es in Armut und Elend dahinlebende 
Menschen, die leprös werden. Weniger Halt haben die Nahrungs- 
theorieen insofern, als dieses oder jenes Nahrungsmittel als lepra- 
erzeugend beschuldigt wurde. Hervorheben will ich hier nur die 
Theorie, dass die Lepra erzeugt wird durch überreichen Genuss von 
Fischen, besonders von gesalzenen und längere Zeit aufbewahrten. 


Lepra tuberosa. 


26 


Diese Theorie wird heute noch von Hutchinson und einigen andern 
mit Energie verteidigt. Dennoch scheint sie falsch zu sein. Richtig 
ist ja, dass hauptsächlich Küstenbewohner an Lepra erkranken, die 
ja meistens von Fischen leben, aber man hat auch Lepra bei Volks- 
stammen gefunden, die weit vom Meere entfernt abwohnen und 
überhaupt Fische als Nahrungsmittel gar nicht oder in keineswegs 
nennenswerter Weise gebrauchen. Andererseits giebt es Küsten- 
strecken genug, in denen die Einwohner trotz reichlicher, ja fast aus- 
schliesslicher Fischnahrung frei von Lepra geblieben sind, dieselbe 


‘gar nicht kennen. Mit der Beschuldigung anderer Nahrungsmittel 


steht es noch schlechter; man kann sie unerörtert lassen. Nur soviel 
wird man wohl anerkennen, dass die Ernährung in soweit ein prädis- 
ponierendes Moment ist, als sie eine ungenügende und unpassende ist. 

Erwähnt sei noch, dass manche als Ueberträger der Lepra 
bestimmte Insecten bezeichnet haben, andere wieder annehmen, dass 
das bacterielle Agens eines Zwischenwirts bedarf, um toxisch zu 
werden, d. h. erst einen Tierleib passiert haben muss, wie man es 
von Eingeweideparasiten genau kennt. 

Es bliebe nur noch übrig an dieser Stelle über die sehr 
wichtigen Fragen der Heredität und Curtagiosität der Lepra zu 
sprechen. Aus praktischen Gründen sollen diese Punkte aber erst 
bei der Erörterung der Prophylaxe ihre Erledigung finden. 

Pathologische Anatomie. 

Die lepröse Neubildung ist ein sehr resistentes, wenig zu re- 
gressiven Metamorphosen neigendes, gut vascularisiertes Granulations- 
gewebe. In diesem Granulom fallen nun besonders grosse Ge- 
bilde auf, teils rund, teils von abenteuerlicher Form mit Fortsätzen 
mannigfacher Gestalt, die im Innern zuweilen einen hellen, kern- 
artigen, aber schwer oder gar nicht tingibeln Körper enthalten und 
aus Massen von Bacillen bestehen. Ueber die Auffassung dieser 
Gebilde ist ein heftiger wissenschaftlicher Streit entbrannt. Virchow, 
der zuerst das lepröse Gewebe einer gründlichen anatomischen Unter- 
suchung unterzog, als die Bacillen noch nicht bekannt waren, be- 
zeichnete diese Gebilde als „Leprazellen“. Neisser, der sie 
„globi“ nannte, fasst sie in gleicher Weise als Zellen auf, deren 
Protoplasma ersetzt ist durch Bacillen, die ausschliesslich oder fast 
ausschliesslich intracellulär gelegen sind. Diese Bacillen aber be- 


finden sich nach ihm meist in einem Stadium der Degeneration, 
sie bilden eine Zoogloeamasse, welche das Protoplasma ersetzt. — 
Charakteristisch fiir diese Leprazellen ist nach Neisser eine ,,Vacuo- 
lisation“, ebenso charakteristisch wie die Verkäsung bei Tuberculose 
oder die Coagulationsnecrose bei anderen Granulomen. — 

Ganz anders fassen Unna und Leloir die Sachlage auf: 

Diese nehmen an, dass die genannten Gebilde durchaus nichts 
mit Zellen zu thun haben. Die mächtig wuchernden Leprabacillen 
sitzen vielmehr in den Saftspalten der Haut, in den Lymphbahnen. 
Hier degenerieren, „verschleimen“ sie, blähen sich mächtig auf und 
drängen die zelligen Elemente des Granulationsgewebes immer mehr 
zurück. Was sich als „Leprazellen“ im Schnitte darstellt, sind nur 
Durchschnitte von mit Bacillen und Bacillenschleim erfüllten Saft- 
kanälchen. Die sogenannten „Vacuolen“ sind vorgetäuscht durch 
central verschleimte Teile in denselben. Die nicht färbbaren, als 
Zellkerne angesehenen Stellen sind Lymphreste, die in colloider 
Umwandlung begriffen sind. — Welche von dieser gegnerischen 
Auffassung Recht hat, mag ich hier nicht entschieden aussprechen. 
Meines Wissens glaubt man in beiden Lagern Sieger in dem Kampfe 
geblieben zu sein. Wahrscheinlich haben beide Parteien Recht; es 
liegen die Bacillen sowohl in Zellen, wie in den Saftkanälchen. 
Letzteres auszuschliessen, ist jedenfalls nicht möglich; microscopische 
Präparate, die ich gesehen, geben in dieser Hinsicht ganz zweifellose 
Bilder, zeigen dass viele sogenannte Leprazellen nur Bacillenhaufen 
sind, die in mit Endothel ausgekleideten Kanälen liegen. — Nicht uner- 
wähnt will ich auch lassen, dass Unna und Leloir in jüngster Zeit 
eine bedeutende Stütze in Bergengrün und Gerich gefunden haben, 
welche auf Grund von Untersuchungen an dem sehr lymphgefiiss- 
reichen Larynx Lepröser sich ihnen vollkommen anschliessen. — 

Fest steht, dass die lepröse Granulombildung sich an die Blut- 
bahnen anschliesst, sich auf Cutis und Subcutis beschränkt und den 
obersten, an die Epidermis angrenzenden subepithelialen Teil des 
Corium freilässt; die Epidermis bleibt ganz intact. Fest steht ferner, 
dass man häufig in leprösem Gewebe Riesenzellen findet, wie in tuber- 
culósem, und deshalb der Befund von Riesenzellen nicht mehr, wie 
man früher annahm, als entscheidend für die Diagnose auf tuberculöse 
Erkrankung angesehen werden darf. — In Talgdrüsen und Schweiss- 


Lepra nervosa. 


28 


drüsen findet man keine Bacillen eingelagert. — Jüngst will ein 
Verfasser auch in der Epidermis Leprabacillen häufig gefunden haben. 

Schliessen wir hieran gleich den Befund bei der Lepra nervosa, 
in Haut, Nerven, Muskeln und Knochen: 

Den verschiedenen Anschauungen, welche über die Pathogenese 
der Hautflecken bestehen, entsprechen natürlich auch verschiedene 
Auffassungen des anatomischen Befundes. Die Meinung, dass alle 
Hautflecke trophischen Ursprungs sind, ist sicher nicht haltbar. Die 
trophische Entstehung kann nur für die besopders an den Unter- 
armen und Unterschenkeln sich zuweilen zeigende eigenartige an 
Glossy skin erinnernde Beschaffenheit der Haut, vielleicht auch für 
manche Depigmentierungen in Frage kommen. Bei den meisten 
charakteristischen Flecken aber, mögen sie klinisch sich als rotbraune 
Verfärbungen, als graue, schiefrige, braune Pigmentflecke darstellen, 
findet man stets deutliche Entzündungserscheinungen im Corium. 
Die kleinzellige Infiltration derselben entspricht nach der herrschenden 
Ansicht derjenigen initialer Leprome. Es sind eben die Flecke 
nichts anders als Andeutungen lepröser Neubildungen, nur graduell 
von den Lepromen verschieden. Jedoch muss da hervorgehoben 
werden, dass ein grosser Unterschied vorhanden ist in Bezug auf 
den Bacillenbefund. Während die dichte Durchsetzung der Cutis 
mit Unmassen von Bacillen und deren Degenerationsproducten die 
Leprome im Gegensatz zu den Granulomen characterisiert, ist in den 
Lepraflecken der Bacillenbefund eine Rarität. Der Leiter des Rigenser 
Leprosoriums, Dr. v. Reissner, erzählte mir, dass er in diesen 
Flecken niemals Bacillen gefunden. Mag dieses auch ein Zufall 
sein, — andere Untersucher sind bei dieser Bacillenjagd in den 
Flecken glücklicher gewesen, — so ist doch zweifellos, dass diese 
leprösen, Hautflecken sehr bacillenarm sind. Der Auffassung der- 
selben als minimale lepröse Infiltrate steht dieses aber nicht ent- 
gegen, wissen wir doch auch, wie verschieden sich die tuberculösen 
Hautaffectionen in Bezug auf Tuberkelbacillen verhalten. Während 
die eigentlichen tuberkulösen Geschwüre sehr reich an ihnen sind, 
findet man bei Lupus oft erst nach langer Jagd einen vereinsamten 
Bacillus. Ja wie oft gelingt es bei Lupus auch nicht einen Bacillus 
zu finden, sodass man bei zweifelhafter Diagnose zur Impfung 
greifen muss! 


29 


Eine abweichende Auffassung hat Unna, wie erwähnt, der die 
Hautflecke als angioneurotische Entzündungen betrachtet, d. h. 
Entzündungen, die zurückzuführen sind auf eine Affektion der angio- 
neurotischen Fasern in den Nerven, der das betreffende Gebiet 
versorgt. Er fand bei einem frischen Flecken „Neuroleprid“, 
eine zellige Hyperplasie des Gefässbaums und zum Teil des Papillar- 
gewebes, die zusammenhing mit einer bindegewebigen Hyperplasie 
des hyperdermalen, weniger der dermalen Nerven ohne Bacillen. 

Ein solches Neuroleprid kann nun nach Unna sekundär mit 
Bacillen embolisiert werden; dann erhält man papulöse Lepride, die 
von den Lepromen durchaus verschieden sind und nur sehr selten in die- 
selben übergehen. Die embolisierten papulösen Lepride werden definiert 
als perivasculäre, strangförmige Leprome ohne Atrophie der binde- 
gewebigen Teile, welche ja bei den eigentlichen Lepromen durch 
den Druck der wuchernden Bacillenmassen atrophisch werden. 

Die Wichtigkeit der verschiedenen Auffassungen über die Lepra- 
flecke liegt darin, dass nach der einen dieselben sekundär der Nerven- 
erkrankung folgen, nach der andern aber gleich den Lepromen der 
Lepra tuberosa die Initialaffekte darstellen, von denen aus die Nerven 
ihrerseits sekundär ascendierend erkranken. Letztere Auffassung ist 
wohl die herrschende. Hervorzuheben ist hier besonders die Arbeit 
Gerlach's!). Durch eingehende microscopische Untersuchung stellt 
er folgendes fest: 

1) In den jüngeren Stadien der Hautfleckenbildung bei der 
Lepra nervosa sind konstant nur die peripheren Enden der zugehö- 
rigen Nerven durchwuchert; die gröberen Aeste sind meist, der 
Stamm stets frei. 

2) Lepröse Herde an grösseren Verzweigungen sind jünger als 
peripher gelegene. | 

3) Ein Ergriffensein des Stammes bei freiem, peripherem Ende 
kommt nicht vor. 

Es handeit sich also nach Gerlach um eine wahre, in den 
peripherischen Zweigen beginnende Neuritis, was auch den klinischen 
Beobachtungen wohl entspricht. Diese Neuritis ascendiert und ist 
um so weniger ausgesprochen, je mehr sich der Nerv von der Peri- 
pherie entfernt und dem Centralnervensystem nähert. Was die ana- 


1) Virchow’s Archiv, 125. Band. 


30 


tomischen Veränderungen in den Nervenstämmen betrifft, so handelt 
es sich um eine der Granulombildung in der Haut entsprechende 
zellige Infiltration in dem Perineurium und zwischen den Nerven- 
fasern. Auch hier sind es massenhafte Bacillenwucherungen, welche 
die lepröse Neubildung hervorrufen; in reichlicher Anzahl kann man 
sie in den afficierten Nerven finden. Diese erfahren gewöhnlich 
eine oft sehr erhebliche Verdickung, die bald eine ganz diffuse, bald 
eine ungleichmässige spindelförmige ist. Diese perineuritische und 
interstitielle Zellwucherung wirkt deletär auf die Nervenfasern, Mark 
und Achsencylinder gehen, wie die Weigert'sche Färbung lehrt, 
zu Grunde. Wahrscheinlich geschieht dieses auf rein mechanischem 
Wege einfach durch Druck. 

Dieser Prozess in den Nerven kann einen Abschluss erlangen, 
indem Bindegewebsneubildung eintritt, was eine Art Heilung 
bedeutet; eine Wiederherstellung der einmal zerstörten Nervenfasorn 
findet dabei natürlich nicht statt. — Was nun das centrale Nerven- 
system betrifft, so existieren eine Reihe von Mitteilungen über 
pathologische Befunde in demselben. Es ist ja auch a priori ver- 
ständlich, dass die Neuritis ascendierend sich bis zu demselben und 
auf dasselbe fortpflanzen kann. Die Befunde haben aber, soweit 
sie bisher erhoben sind, weder einen einheitlichen Charakter, noch 
bieten sie irgend welche specifische Veränderungen. Ich will auf 
die verschiedenen, mitgeteilten Anomalien des Centralnervensystems 
deshalb hier nicht eingehen. Betonen will ich nur, dass wir in 
keinem Falle die Erkrankung desselben als die Grundlage der 
klinischen Erscheinungen anerkennen können. Letztere erklären 
sich vollkommen ausreichend durch die periphere Neuritis und sind 
auch durch diese bedingt, selbst wenn centrale Anomalieen vor- 
handen sind. Diese könnten nur weitere accidentelle Symptome 
zuführen. -- Nur eine Mitteilung aus der jüngsten Litteratur muss 
ich hier erwähnen, weil sie, wenn der berichtete Befund wirklich 
ganz eindeutig wäre, von weittragender Bedeutung sein würde. 
Bei einem unter dem klinischen Bilde der Syringomyelie, fanden 
Pestana und Bettencourt!) eine ausgedehnte Gliomatose des 
Bulbus und der Medulla und in der Gliommasse Bacillen, die 
sie für Leprabacillen halten, weil sie sich schon mit wässriger 


1) Centralbl. f. Bakteriologie etc. 1896. 18/19. 


31 


Fuchsinlösung gut fárbtén, gegen die entfärbende Wirkung der 
Salpetersäure widerstandsfihig waren, und die Impfung mit dem 
Material in einem Falle keine Tuberculose erzeugte. Ueber den 
Befund an peripheren Nerven sagten sie nichts, trotzdem ihnen 
solche zur Verfügung standen. — Wäre dieser Befund eindeutig, 
dann würde eine Lepra nervosa centraler Natur vorliegen. Dass 
der Befund aber nicht eindeutig ist, geht schon daraus hervor, dass 
die tinctorielle Abgrenzung der Leprabacillen von den Tuberkel- 
bacillen eine wenig zuverlässige ist. Auf das negative Impfergebnis 
in einem einzigen Falle kann man aber doch nicht solch’ weit- 
tragende Schlüsse bauen. 

Der Befund in den Muskeln hat nichts Specifisches, es ist 
derjenige einer einfachen Atrophie. Die Auffassung, dass diese 
Atrophie eine directe Folge von Bacilleninvasion und dadurch 
bedingte Bindegewebswucherung ist, dürfte kaum discussionsfähig 
sein. — | 

Die Veränderungen in den Knochen ist nicht so rein passiver 
Natur, wie man früher annahm. Es ist in einwandsfreier Weise 
nachgewiesen, dass auch in das Knochengewebe eine Bacilleninvasion 
stattfindet und sich eine lepröse Entzündung im Knochenmark ent- 
wickelt, die einerseits in Sequestration, andererseits in Resorption 
enden kann. Letztere kann aber wahrscheinlich auch ohne Osteo- 
myelitis als einfach trophischer Vorgang eintreten. Bei den Muti- 
lationen verhält sich der Knochen passiv, er wird einfach durch 
Zerstörung der Gelenkverbindungen abgelöst. 

Ueber anatomische Befunde in den Gelenken ist wenig Sicheres 
bekannt; die Beobachtungen sind mehr klinischer Natur. 

Kommen wir nun zur pathologischen Anatomie der Veránder- Lepra visceralis. 
ungen der Atmungsorgane, so will ich auf die Affectionen von 
Nase, Rachen und Larynx nicht näher eingehen. Die Befunde ent- 
sprechen im Ganzen denjenigen bei der Lepra tuberosa der Haut, 
nur sind hier bei der grösseren Empfindlichkeit der Schleimhaut 
ulzeröse Zerstörungen und in Folge dessen narbige Schrumpfungen 
häufig, welche zu erheblichen Verengungen der Atmungswege führen 
können. — Fast die meisten Schwierigkeiten bietet die Beurteilung 
der Lungenveränderungen. Dass diese oft- sehr bedeutend sind, 
haben schon frühere Autoren erkannt und vor Allem auch 


32 


Danielssen und Boeck beschrieben. Die Entscheidung aber, ob 
sie tuberculöser oder lepröser Natur sind, kann macroscopisch wie 
microscopisch eine sehr schwere Aufgabe werden. Die eben ge- 
nannten Autoren gaben eine viscerale Lepra der meisten andern 
Organe ja zu, die hochgradige Lungenveránderung schrieben sie 
aber der Complication mit Tuberculose zu. Dennoch scheint dieses 
nicht richtig zu sein. Arning, der sehr eingehend die Frage der 
visceralen Lepra an in Honolulu erworbenen Präparaten studierte, 
giebt als macroscopische Kennzeichen der visceralen Lepraknoten 
gegenüber den Tuberkelknoten an, dass erstere undurchsichtiger, 
gelbweiss erscheinen, härter sind, keine eigentliche centrale Verkäsung 
zeigen. Die histologische Differenzierung der Veränderung als 
Tuberculose wurde früher stets dadurch begründet, dass man typische 
Riesenzellen findet. Seitdem man aber letztere bei leprösen, ebenso 
wie bei luetischen constatiert hat, liegt in dieser Beziehung kein 
Grund vor, die gefundenen Veränderungen der Tuberculose zuzu- 
schreiben. A priori ist es ja viel wahrscheinlicher, auch bei dem 
Lungenbefunde an Lepra zu denken, als noch eine Complication mit 
Tuberculose heranzuziehen, wenn dieselbe auch nicht geleugnet 
werden kann. Esist denn auch jetzt wohl allgemein das Vorkommen 
einer Lungenlepra anerkannt. Für manche Fälle wird dieselbe 
durch den Befund der Bacillen in einer Massenhaftigkeit, wie sie die 
Tuberculose niemals zeigt, auch leicht sichergestellt werden können. 
Näher auf die macroscopischen und microscopischen Lungenanomalieen 
einzugehen, kann ich bei der Aehnlichkeit mit Tuberculose unter- 
lassen. Auf der Pleura wie auf anderen serösen Häuten, Pericard, 
Peritoneum, findet man neben Bildung dicker Auflagerungen oft die 
mit Bacillen vollgepfropften Lepra-Knötchen. Dieselben zeigen die 
oben erwähnten, von Arning angegebenen Eigenschaften, unter- 
scheiden sich ausserdem noch dadurch von tuberculösen, dass sie 
mehr über die Oberfläche hervortreten, weniger eingelagert als auf- 
gelagert sind. 

Das Vorkommen lepröser Geschwüre im Darm ist sicher fest- 
gestell. Es sind zerfallene Infiltrate ohne Verkäsung, mit steilem 
Rand und Einlagerung massenhafter Bacillen in den Wandungen. 
Diese Ulcerationen heben sich von tuberculösen sehr scharf ab, 
welche aber auch bei Lepra vorkommen können. — Leber und 


33 


Milz sind regelmässig vergrössert, von derber Beschaffenheit, im 
interstitiellen Gewebe durchsetzt von knötchenförmigen leprösen 
Granulomen, die unzählige Bacillen enthalten. Auch Abscesse hat 
Arning gesehen. — 

Sehr häufig verändert ist die Niere. Meistens ist sie ver- 
grössert. Typische Wucherungen in derselben sind selten, ebenso 
wurden fast nie Bacillen in ihnen gefunden. Ein nicht seltener 
Befund ist bei vorgeschrittener Lepra die amyloide Degeneration 
der Nieren. 

Eine fast constante Anomalie bei Lepra ist die Hodenaffection, 
und zwar ist dieselbe specifisch lepröser Natur. In den Gefässen, 
aber auch in den Hodenkanälchen findet man Bacillen. Diese führen 
zu einer Infiltration des interstitiellen Gewebes, die mit Bindegewebs- 
wucherung einhergeht. Dadurch geht das secernierende Gewebe zu 
Grunde, der Hode enthält eine derbere Consistenz. Wo der Neben- 
hoden erkrankt, geschieht das secundär. 

In den geschwollenen Drüsen findet man lepröse Infiltration. 
Man will auch neben diesen tuberculöse Veränderungen in derselben 
Drüse constatiert haben. 

Zum Schluss sei hier noch erwähnt, dass lepröse Wucherung 
in der Cornea und den übrigen Augenabschnitten histologisch ganz 
derjenigen der Haut entspricht. 

Diagnose. 

Ein typischer Fall von Lepra tuberosa auf der Höhe der Er- 
krankung ist leicht zu erkennen. Besonders sind es die Deformationen 
des Gesichtes, wie wir sie oben geschildert, mit den Knoten und 
Infiltrationen, den meist fehlenden Augenbrauen, dem starren Aus- 
druck etc., welche auf den ersten Blick fast die Diagnose stellen 
lassen. Aber auch beginnende Fälle mit vereinzelten Knoten bieten 
genug Charakteristisches. Die braunrote Verfärbung, die herabgesetzte 
Sensibilität, die Consistenz, die geringe Neigung zum Zerfall etc. 
werden den Verdacht der Lepra leicht erregen. Zu einer Verwechslung 
könnten wohl nur Gummata der Haut Veranlassung geben; dieselben 
sind aber nicht von solcher Beständigkeit. Entweder sie ulcerieren 
oder sie werden resorbiert. Ausserdem dürften sonstige Syphilis- 
erscheinungen, die Wirksamkeit der Antiluética die Entscheidung leicht 


herbeiführen. Noch einfacher ist aber die bakterielle Untersuchung 
3 





des durch Anstechen gewonnenen Blutes oder eines excidierten Stiicks. 
Bacillen findet man so sicher. — Bei ulcerösen Prozessen, zumal 
der Schleimhäute kämen neben Lues noch die Tuberculose in Frage. 
Hier werden einerseits Veränderungen auf der Körperdecke die Diag- 
nose erleichtern, andererseits ist auch das Aussehen lepröser (ie- 
schwiire doch ein anderes. Es fehlen der Tuberculose gegen- 
über die unterminierten Ränder, während andererseits der Grund 
stärker infiltriert ist. Auch sind lepröse Geschwüre auffallend wenig 
schmerzhaft. Die Massenhaftigkeit der Bacillen wird auch zu denken 
geben. 

Grösser schon sind die Schwierigkeiten bei der Diagnose der 
Lepra nervosa, zumal die Hautanomalieen derselben keine oder sehr 
wenige Bacillen enthalten. Der Bacillennachweis fällt hier deshalb 
fort; einen erkrankten Nerven blosszulegen, indem sie allerdings 
leichter zu finden wären, dürfte man sich wohl kaum entschliessen. 
Aber auch ohne dieses Beweismittel werden wohl die Hautflecken, 
sofern sie gefunden werden, durch ihre Beschaffenheit diagnostische 
Handhaben genug bieten. Ein vereinzelter Fleck könnte wohl in 
seiner Bedeutung übersehen werden, eine Reihe derselben aber 
schon deshalb nicht, weil ibre Polymorphie sehr bezeichend ist. Von 
der frischeren braunroten, etwas resistenten, meist ein wenig schil- 
fernden, mit etwas erhöhten Wall versehenen, fleckförmigen Infiltration 
bis zu der etwas eingesunkenen, pigmentlosen, oft nur bei scharfem 
Zusehen sich abhebenden atrophischen Hautstelle giebt es eine ganze 
Skala von Flecken, die das Hervorgehen der letzteren aus den ersteren 
durch centrifugales Erblassen, Uebergehen des Infiltrationsrotes in 
das Pigmentgrau oder Pigmentbraun, schliesslich wiederum centri- 
fugal fortschreitenden Schwund des Pigments erläutern. Dazu kommen 
noch die Sensibilitätsstörungen. Wenn auch bei frisch entstandenen 
Flecken sogar Hyperästhesie bestehen kann, die etwas älteren sind 
stets deutlich anästhetisch. 

Wo sich Hautflecken mit sonstigen Erscheinungen an den 
peripheren Nerven, zumal denjenigen, für die die Lepra eine Prädi- 
lection besitzt, combinieren, wo die Nerven verdickt, auf Druck schmerz- 
haft sind, oder wo gar schon trophische Anomalien als Folgezustände in 
den vom Ulnaris etc. versorgten Muskeln gleichzeitig mit Hautflecken 
bestehen, wobei dann auch die Sensibilitätsanomalie nicht mehr fehlt. 


35 


erwachsen der Diagnose keinerlei Schwierigkeiten. Das ist ein zu 
typisches Bild. Dahingegen können die Schwierigkeiten unendlich 
grosse werden, wo die trophischen und Sensibilitätsstörungen allein 
bestehen ohne Hautflecken. Allerdings sind diese Fälle nicht häufig. 
Bei genaueren Suchen wird man oft doch am Körper in kleineren 
und grösseren anästhetischen Bezirken wenigstens umgrenzte Depig- 
mentationen mit einer fast gar nicht auffallenden Hautatrophie 
entdecken, wenn man nur in jedem Falle ohne Rücksicht auf etwaige 
negative Angaben des Patienten sich zur Pflicht macht, den ganzen 
Körper genau zu betrachten, wie es ja überhaupt jede dermatologische 
Untersuchung eigentlich erheischt. In Fällen aber, in denen man 
keine Andeutungen lepröser Hautflecke findet, wird die Abgrenzung 
gegenüber manchem peripheren und centralen Nervenleiden allen 
diagnostischen Scharfsinn herausfordern. Von peripheren Leiden 
käme eigentlich nur die multiple degenerative Neuritis in Frage. 
Der ganze Verlauf, die motorischen Lähmungen etc., bei letzterer 
lassen dieselbe aber leicht ausschliessen. Dagegen ist für die 
Diagnose von Bedeutung eine centrale Erkrankung, d. i. die Syringo- 
myelie resp. die ihr verwandte oder auch mit ihr identische 
Maladie du Morvan (Parése-Analgésie de extremités supe- 
rieurs). Diese Krankheit, oder vielleicht correcter gesagt, dieser 
Symptomencomplex bringt eine Reihe von Störungen, welche an 
diejenigen der Lepra nervosa sehr anklingen. Wir haben da eine 
Herabsetzung der Sensibilität, fast ausschliesslich in Form dissociirter 
Sensibilitätsstörung: Verminderung der Schmerz- und Temperatur 
und Schmerzempfindung bei erhaltener Tastempfindung. Ferner 
finden wir eine Reihe trophischer Anomalien: zunächst Atrophie 
der Muskeln, dann Pemphigus-ähnliche Ausschläge, Hautgangrän, 
Vitiligo-ähnliche Flecke, ödematöse Verdickungen der Haut (Tumor 
dorsalis carpi), Panaritien, abnorme Knochenbriichigkeit, trophische 
Gelenkstérungen etc. 

Auf die Verwechslungsmöglichkeit dieses Krankheitsbildes, dessen 
Zeichnung recht jungen Datums ist, mit der Lepra nervosa, hat 
Zambaco Pascha, ein bedeutender Leprakenner, zuerst hin- 
gewiesen. Er reiste aus Konstantinopel nach Paris, beobachtete 
dort die mit der Diagnose Syringomyelie belegten Krankheitsfälle 


und stellte dann die Behauptung auf, dass die Syringomyeliefälle 
3* 


36 


—  —————— 


nichts anderes seien als Fälle von Lepra nervosa. Damit schoss er 
dann allerdings weit über das Ziel hinaus. Wenn er auch zweifellos 
feststellen konnte, dass wirklich in einer Reihe von Fällen die 
‘ Diagnose Syringomyelie, d. h. anatomisch Gliomatosis des zentralen 
Röhrengrau’s eine irrtümliche war und Lepra nervosa vorlag, so 
ging er sicherlich zu weit, wenn er nun die Syringomyelie als selbst- 
ständige Leiden streichen wollte. Ohne Zweifel existiert neben der 
Lepra nervosa peripherica eine Syringomyelie zentralen Ursprungs, 
die oft eine klinische Aehnlichkeit mit ersterer aufweisen mag, aber 
doch nichts mit ihr zu thun hat. Wir werden deshalb auf die 
Differentialdiagnose hier näher eingehen müssen. 

In den Sensibilitätstörungen herrscht insofern eine Ueber- 
einstimmung, als auch bei der Lepra nervosa meist, wenn auch 
nicht so regelmässig wie bei der Syringomyelie, besonders in der 
ersten Zeit, dieselben einen dissociirten Charakter haben. Grosse 
Differenzen weist aber die Ausdehnung der Anästhesie auf. Bei 
der Lepra nervosa ist sie eine regellose, an keine bestimmten Nerven- 
gebiete gebundene, über den ganzen Körper zerstreute, bei der 
zentralen Syringomyelie hält sie sich ziemlich scharf an die Nerven, 
die von der erkrankten Stelle ausgehen, ist an den Extremitäten 
eine streifige, an dem Rumpf eine giirtelfórmige. Man findet bei 
der Syringomyelie auch nicht die Verdickungen der entziindeten 
Nerven und ihre Druckempfindlichkeit, wie man sie besonders am 
Ulnaris bei der Lepra meistens konstatiert. Im Gegenteil die Nerven 
bei Syringomyelie sind auf Druck auffallend unempfindlich, was bei 
centraler Erkrankung ja leicht erklärlich ist. 

Die für Lepra charakteristischen Hautflecke fehlen natürlich 
bei wahrer Syringomyelie; die bei letzterer betrachteten Vitiligo- 
flecke sind einfache Leukopathieen, die kaum mit den leprösen 
Flecken verwechselt werden können. Uebrigens sind Vitiligoflecke 
bei Syringomyelie grosse Raritäten. 

Die Haut Lepröser ist gewöhnlich an den Streckseiten der Ex- 
tremitäten grau, schiefrig, oder bräunlich verfärbt und wegen der 
Anhidrosis trocken, die Haut bei Syringomyelie ist feucht, oft sogar 
wegen Hyperhydrosis auffallend feucht. 

Ein wichtiger Unterschied liegt in der Ausbreitung der Muskel- 
atrophieen. Die Extremitäten sind bei beiden Leiden vorzugsweise 


37 


ergriffen, jedoch. hat die Syringomyelie nicht die Vorliebe für be- 
stimmte Nerven, wie sie der Lepra eigen ist und befällt auch viel 
häufiger allein die oberen Extremitäten oft an dem proximalen Ende 
beginnend. Während aber bei Lepra der Facialis früh. afficiert 
ist, geschieht das bei der Syringomyelie gar nicht oder in seltenen 
Fällen ganz spät. In diesen Fällen liegt stets ein Uebergreifen der 
Gliomatosé auf den Bulbus medullae vor, und bestehen daher gleich- 
zeitige ausgesprochene Schlingbeschwerden etc. - Zu solchen kommit 
es bei der Lepra nervosa, soweit sie nicht etwa durch zerfallene 
Leprome der Mund-Rachenhöhle bedingt sind, überhaupt niemals. 
Aber auch sonst ist der Charakter der Atrophie ein anderer, 
als derjenige der syringomyelitischen Muskelatrophieen. Diese, weil 
zentralen Ursprungs, gehen gleich der Atrophie bei Poliomyelitis 
anterior mit fibrillären Muskelzuckungen und Muskelzittern einher, 
an den unteren Extremitäten treten auch spastische Erscheinungen 
ein. Der Lepróse geht schleifend, der Syringomyelitische mehr 
stampfend. Die Reflexe sind bei dem cervico-dorsalen Typus der 
Syringomyelie oft gesteigert, was nie bei Lepra vorkommt. ‘Ueber 
Differenzen der elektrischen Erregbarkeit, die mit grösster Wahr- 
scheinlichkeit bestehen. werden ; sind mir ‚keine Senne 
bekannt.. 

Nehmen. wir nun noch’ hinzu; dass EN Enochenatrophio 
bei der Syringomyelie selten ist, wihrend hypertrophische, schmer2- 
lose Gelenkaffectionen relativ haufig vorkommen, dass bei ihr — 
niemals bei Lepra — Blasén und Mastdarmistörungen auftreten 
können, dass eine syriigomyelitische Kyphoscoliose zu den häufigen 
Vorkommnissen zählt, dass endlich .die Syringomyelie iin Verhältnis 
zur Lepra schnell fortschreitet und zwar stetig fortschreitet, bis sie den 
Tod herbeiführt, — nehmen wir dieses alles hinzu, dann werden wir bei 
der Differentialdiagnose zwischen Syringomyelie und Lepra nervosa 
wohl nur in den seltensten Fällen fehlgehen. — u © 

Prognose. 

Die Lepra tuberosa führt nach nein: über 10—20 
Jahre sich erstreckenden Leiden zum Tode. ` Die. Todesursache ist 
entweder die mit Zeit sich einstellende Cachexie, der allmähliche 
Kräfteverfall oder die lepröse Erkrankung edler Organe, : besonders 
der Lunge, wobei natürlich nochmals auf die Möglichkeit hingewiesen 


38 


werden muss, dass in letzteren die Tuberkelbacillen die Veränderungen 
auslösen können. Während dieses Verlaufes kann der Zustand sehr 
wechseln. Zeitweise tritt mit oder ohne Fieberattaquen und erysi- 
pelatoide Rötungen eine relativ schnelle Rückbildung ein. Die 
Knoten schwinden, nur pigmentierte, leicht atrophische Hautstellen 
zurücklassend, die Kranken halten sich für genesen. Aber leider 
hält diese Besserung niemals an, es folgen stets neue Ausbrüche, 
die alle Hoffnungen zu Schanden machen. — Während der lang- 
jährigen Dauer der Krankheit bleiben die Kranken meistens bis in 
die letzte Zeit hinein mehr oder minder arbeitsfähig, da im ganzen 
die Knotenbildung der Haut und Schleimhaut dieselben wenig be- 
einträchtigt. Nur die in einem grossen Teil der Fälle früh eintretende 
Erblindung macht dieselben erwerbsunfáhig. — Die Prognose der 
Lepra nervosa ist insofern eine bessere, als dieselbe an sich eigent- 
lich nicht zum Tode führt, selbst wenn die ausgedehntesten Muskel- 
atrophien und Mutilationen vorhanden sind. Intercurrente Krank- 
heiten, das Hinzutreten der Lepra tuberosa und Lepra . visceralis, 
Complication mit Tuberculose sind die gewöhnlichen Todesursachen. 
Das Los dieser Kranken ist aber ein weit traurigeres. Die mit den 
trophischen Störungen abnehmende, wenn auch nicht ganz schwindende 
Kraft legt ihre Arbeitsfähigkeit bald lahm, sie können nichts er- 
werben, sie werden dabei mit der Zeit hilflos, bedürfen fremder 
Unterstützung bei allen Handreichungen und beim Gehen, werden 
bettlägerig, kurz sie sind bejammernswerte Geschöpfe, für die der 
Tod oft eine wahre Erlösung ist. — Von einer auch nur temporären 
Besserung ist hier nicht zu reden. — Dieses die allgemeine Prognose. 
Im Einzelfalle wird natürlich dieselbe eine verschiedene sein je 
nach den socialen Verhältnissen des Kranken, je nach der Resistenz- 
fähigkeit des Kranken und je nach dem Charakter des Leidens. 
Therapie. 

Ueber dieselbe ist wenig gutes zu sagen. Zahllose. Heilmittel 
sind im Laufe der Jahrhunderte gegen Lepra angewendet und als 
„Specifica“ gepriesen. Alle haben sich als dieser Bezeichnung un- 
würdig erwiesen. Allerdings hat man von diesem oder jenem 
Medicament bei diesem oder jenem Falle auffallende Erfolge gesehen; 
aber sie erwiesen sich schliesslich stets leider nur als scheinbare. 
Die spontane, zeitweilige Rückbildungsfähigkeit hatte stets die 


39 


Therapeuten irre geführt. So ging es mit allen Mitteln bis zum 
Tuberculin, Ichthyol (Unna), Europhenöl (Goldschmidt), Gurjun- 
balsam, Chaulmograöl, so wird es wohl auch mit dem Airol 
gehen. Das Specificum zu finden, ist eine schöne Aufgabe der 
Zukunft. Möglicherweise wird es ein Serum sein, dessen Ge- 
winnung aber doch das Gelingen der Cultur der Leprabacillen 
vorausgehen müsste. Die Versuche mit Tierserum scheinen doch 
wenig Erfolg zu haben. — Die Therapie wird deshalb bis auf 
weiteres eine symptomatische sein müssen. Man wird die Kranken 
unter günstige hygienische Lebensbedingungen bringen, gut ernähren, 
etwaige Geschwüre sorgsam verbinden, was an sich schon ihre 
Heilung begünstigt, eventuell bei Laryngostenose die Tracheotomie 
machen, bei Mutilationen, wenn nötig, operativ eingreifen. Innerlich 
resp. subcutan kann man die obengenannten Mittel versuchen. 
Ichthyol giebt man als Salbe zu Einreibungen (10—30°/,), Europhen- 
öl 5°/, subcutan und äusserlich, Gurjunbalsam (cave Nierenreizung) 
2,0—3,0 pro die äusserlich und Chaulmograöl 5—60 Tropfen pro 
die innerlich, Airol wird als Salbe eingerieben. — Die Neuritis 
leprosa soll durch Nervendehnung günstig beeinflusst werden. Ein 
Autor hat in einem Falle die Nerven blossgelegt und N 
darnach trat vorübergehende Besserung ein. — 

Vielfach empfohlen ist ein Klimawechsel als heilsam für Lepra- 
kranke. Eine Wirkung ist wohl nur in der Richtung wahrscheinlich, 
als die Kranken in bessere hygienische Verhältnisse kommen. Für 
die meisten Leprösen sind solche Verordnungen der Pharmacopöa 
elegans an sich ausgeschlossen. — 

Bei der Aussichtslosigkeit der Therapie ist ein um so grösserer 
Wert zu logen : auf die 

Prophylaxe. 

Zu präcisen, wissenschaftlich begründeten Regeln für die 
Prophylaxe wird man nur kommen können, wenn man die Fragen 
beantwortet hat: | 

1) Ist die Lepra contagiös? 
2) Ist die Lepra hereditär? 

‘An diese beiden wichtigen Fragen werden wir deshalb jetzt 
herantreten. müssen. Vorausschicken muss ich aber noch, was ja 
eigentlich selbstverständlich ist, dass die Bejahung der einen Frage 
durchaus nicht. die Verneinung der andern nach sich .zieht... Wenn 


40 


man die Litteratur überblickt, dann scheint es so, als ob diese 
Anschauung zuweilen obwaltet. Die Anhanger der Contagiositat 
leugnen die Heredität, die Gegner der Contagiosität suchen durch 
letztere ausschliesslich die Verbreitung der Lepra zu erklären. Und 
doch schliessen sich Heredität und Contagiosität ja keineswegs 
aus, beruhen ja im Grunde genommen überhaupt auf demselben 
Vorgange. Sehen wir nur auf die Syphilis, so ungeheuer contagiös 
und dabei so leicht hereditär übertragbar, wie keine andere Krank- 
heit, auch die Lepra nicht! Dieses vorausgeschickt! 

Wenn man in der älteren Litteratur bis zu Daniellssen und 
Boeck nach den Vorstellungen forscht, die sich die Autoren über 
die Verbreitungsweise der Lepra machten, so findet man, dass sie 
meistens die Heredität in die erste Reihe stellten. Das war die 
Theorie. Aber wie stand es in der Praxis? Trugen sie dieser An- 
schauung Rechnung? Keineswegs! Sie bauten Leprosorien, trafen 
alle möglichen Massnahmen, um ja jeden Leprakranken von den 
Gesunden fernzuhalten und zu isolieren. Dabei verboten sie 
gewöhnlich nicht nur nicht die Ehen Lepröser oder behinderten 
sie auch nur, sondern begünstigten sogar die Verheiratung lepröser 
Männer mit leprösen Frauen. Sind das nun praktische Folgerungen 
aus einer Theorie, die so viel auf die Heredität giebt? Sicherlich 
nicht. Durch die Isolierung tritt man keiner Familienkrankheit 
entgegen und durch die Ehen Lepröser erst recht nicht; dieselben 
sind ja bei einem leicht hereditär übertragbaren Leiden die wahren 
Zuchtanstalten. Also die Sache liegt so, dass man viele Jahr- 
hunderte in der Theorie nur auf die Vererbung Wert legte, aber 
nach. den Grundsätzen, die für contagiöse Krankheiten massgebend 
sind, praktisch handelte. Nun das ist nicht schlimm. Besser eine 
falsche Theorie und eine richtige Praxis, als umgekehrt. 

In den letzten Jahrzehnten ist man nun aber mit der fort- 
schreitenden theoretischen Erkenntnis und mit Besserung der 
statistischen Registrierung dazu gekommen, einen erheblich geringeren 
Wert auf die Heredität zu legen. Natürlich darf man aber nicht 
das Kind mit dem Bade ausschütten und dieselbe auch ganz 
leugnen. Man muss nur zugeben, dass die Heredität wenig für 
die Verbreitung der Lepra thut, und zwar schon deshalb, weil 
ja der grössere Teil der Leprösen durch die geschilderte Hoden- 
affection die Potentia. generandi mit der Zeit einbüsst. . 


41 


Kin lebhafter Streit ist aber gerade in den letzten Jahrzehnten 
liber. die zweite oben aufgestellte Frage entbrannt, diejenige der 
Contagiosität. Contagionisten und Anticontagionisten kämpfen 
mit grösster Begeisterung für ihre Anschauung. Letztere sind noch 
nicht zu überzeugen, trotzdem das Heer der ersteren nach Ent- 
deckung der Bacillen naturgemäss unendlich gewachsen ist. Meiner 
Ueberzeugung nach kann man die Contagiosität nicht mehr in Ab- 
rede stellen. Dafür sprechen abgesehen von den analogen Ver- 
hältnissen bei andern bakteriellen Krankheiten zunächst eine Reihe 
von epidemiologischen Beobachtungen. Es ist zweifellos für eine 
Reihe von Lepraherden festgestellt, dass sie durch Einschleppung 
entstanden, auf einen eingewanderten Leprafall zurückzuführen sind, 
und dass zunächst mit diesem in inniger Berührung lebende 
Menschen leprös wurden. Es lehrt auch das Studium der geo- 
graphischen Verbreitung, dass dieselbe den Verkehrswegen folgt, wie 
alle contagiösen Krankheiten. Noch beweisender ist eine grosse 
Reihe von Einzelbeobachtungen, wie sie besonders in den letzten 
Jahren gemacht sind. Es gelang mit absoluter Sicherheit bei 
scheinbar ganz vereinzelten Leprafällen in absolut leprafreier Gegend 
bei genauester Nachforschung sehr oft schliesslich den genauen Zu- 
sammenhang mit einem andern Leprafall nachzuweisen. Es ist das 
oft sehr schwer, da die Anamnese bei der langdauernden Incubation 
meistens sehr im Stich lässt. Von grossem Interesse sind in dieser 
Richtung die Ergebnisse der eingehenden Prüfung,. welche in Riga 
über die in den Armenhäusern vorgefundenen Leprafälle angestellt 
worden sind. Man konnte da meistens mit Sicherheit constatieren, 
wie ein Insasse eine Reihe von Stubengenossen inficierte. Ich kann 
auf die Détails dieser epidemiologischen und Einzelfeststellungen 
hier nicht eingehen, ohne den Rahmen dieser Arbeit zu überschreiten. 
Nur zwei Fälle, die ich im Rigenser Leprosorium sah, möchte ich 
anführen. Sie betreffen die Erkrankung von Mutter und Tochter, 
an schwerer Lepra. Dass aber nicht Heredität, sondern contagiöse 
Uebertragung vorlag, war sicher, denn die Tochter war viel früher, schon 
als erwachsene Person durch ihre Schneiderin inficiert und hatte 
hinterher erst die Lepra auf die sie pflegende alte Mutter übertragen. 

Nun noch kurz einige Einwände der Anti-Contagionisten! Ein 
solcher stützt sich auf den negativen Ausfall der wiederholten Selbst- 
impfungen von Daniellssen und seinen Schülern, die sie in, fast 


42 


möchte man sagen, unverzeihlich heroischer Weise angestellt. Be- 
weisen können solche negativen Ergebnisse gar nichts, zumal bei 
einem Leiden, dem sicher nicht jeder zugänglich ist, wie wir noch 
sehen werden. Diesen Impfungen kann mit Recht die positive Impfung 
gegenübergestellt werden, die Arning 1884 an einem Verbrecher 
in Hawaii vorgenommen hat, der unter der Bedingung von der ihm 
zudiktierten Todesstrafe begnadigt wurde, dass er sich zu diesem 
Experiment hergab. Dieser vielgenannte Keanu erkrankte relativ 
schnell an Lepra, die in wenigen Jahren einen ausserordentlich 
bösen Verlauf nahm. Unangefochten und deshalb einwandsfrei ist 
auch diese positive Impfung nicht, da Swift später nachgewiesen, 
dass Verwandte des Verbrechers, allerdings nur in Seitenlinien, auch 
leprös waren. | 

Grosses Gewicht legen ferner die Anti-Contagionisten auf die 
angeblich sehr seltene Infektion des gesunden Mannes durch 
seine lepröse Frau und umgekehrt. Aber diese Thatsache ist 
durchaus nicht so notorisch, sie beruht auf keineswegs sicheren 
Beobachtungen. Es erscheint durchaus fraglich, ob genaue Studien 
sie bestätigen werden. Dies wird wohl ebensowenig der Fall sein, 
wie die Angaben sich als richtig erwiesen haben, dass das Pflege- 
personal von Leprosorien resp. von einzelnen Leprösen nicht er- 
krankte. Es liegen eine grosse Reihe von zweifelloser Infektion 
von Krankenpflegern, Missionaren und Aerzten vor. 

Wenn wir nun die Contagiosität der Lepra zugeben müssen, so 
liegt es uns doch fern, dieselbe als eine sehr bedeutende zu bezeichnen. 
Das ist sie zweifellos nicht. Es gehört zur Uebertragung ein längeres 
intimes Zusammenleben und auch eine gewisse Disposition, die 
gegeben wird einerseits durch ungesunde hygienische Verhältnisse, 
Leben in Schmutz und Elend, andererseits durch nicht näher definier- 
bare individuelle Verhältnisse. 

Wir haben die beiden oben aufgestellten Fragen bejahend be- 
antwortet, die Lepra für sicher contagiós und für möglicherweise 
auch hereditär übertragbar bezeichnet, was ergiebt sich nun daraus 
für die Prophylaxe? Vor allem die Bestätigung der Richtigkeit 
dessen, was man seit Jahrtausenden immer, ich möchte sagen, in- 
stinctiv gethan, d. h. die Notwendigkeit der Isolierung, die Gründung 
von Leprosorien. Bei der Ausgestaltung derselben wird man aber 
nicht nur der hygienischen Prophylaxe, der Rücksicht auf die ge- 


43 


sunden Menschen Rechnung tragen müssen, sosdern auch der Hu- 
manität, welche die armen, schwer geprüften, dabei aber jahrelang 
oft noch arbeitsfihigen Kranken zu beanspruchen das volle Recht 
haben. Ein Leprosorium darf ‘kein Krankenhaus im gewöhnlichen 
Sinne, es darf auch kein Gefängnis sem, es muss eine Heimstätte 
sein, in der die Kranken alle Freiheit geniessen, sich nach Gut- 
dünken bewegen und auch sich durch Arbeit beschäftigen können. 
Selbst das Muster des üblichen Siechenhauses ist nicht acceptabel; 
es darf nicht nur ein Haus da sein, wo die Leprösen unthätig Jahre 
lang dahinleben und Zeit haben, über ihr trauriges Loos nachzu- 
denken. Es müssen Ländereien, es müssen Arbeitsräume für Hand- 
werker da sein, kurz eine kleine Kolonie; kein Leprahaus, sondern 
ein Lepraort. Die Frage, ob die Unterbringung der Leprösen in 
diesen Leprosorien zwangsweise erfolgen soll, verneint sich ganz 
von selbst. Wer sie bejaht, der denkt nur an die, allerdings in der 
Mehrzahl befindlichen Leprösen aus den unteren Volksschichten, 
die aber schliesslich als Menschen nicht ein Atom weniger Rechte 
haben, als etwaige Lepröse aus reichen Familien. Einer Freiheits- 
beraubung darf die Unterbringung in einem Leprosorium nicht gleich 
kommen. Man gestalte dasselbe nur so, dass die Kranken sich in 
ihm wohl, womöglich wohler als zu Hause fühlen, wozu gewöhnlich 
bei den armen Leuten nicht viel gehört, und sie werden gewiss 
gerne hingehen und die ihnen gebotene sorglose Existenz dankbar 
annehmen. 

Man baut die Leprosorien in einiger Entfernung von den 
Lepraherden, damit die Kranken nicht zu weit den Ihrigen ent- 
rückt werden. Man kann den Leprösen auch gestatten die Ihrigen 
zu besuchen resp. Besuche zu empfangen; solch kurzdauernde Be- 
rührungen dürften kaum irgendwie bedenklich sein. Besonderer 
Beaufsichtigung bedürfen Kranke, die Secrete abscheiden, welche 
Leprabacillen enthalten. Also alle mit Geschwüren, alle mit 
ulceröser Schleimhautlepra behafteten, die bacillenhaltiges Spytum 
auswerfen oder im Nasensecret Bacillen aufweisen, was ja, wie er- 
wähnt, auch bei normaler Nasenschleimhaut vorkommt. Bei diesen 
werden eine Reihe von Vorsichtsmassregeln nötig werden, auf die 
ich einzeln hier nicht eingehen kann. 

Die Pflicht der Unterhaltung der Leprosorien liegt natürlich 
der Gesamtheit der Bürger ob, d. h. dem Staate. Dabei ist es 


44 


nicht ausgeschlossen, dass wohlhabende Lepröse zu den Kosten, 
die sie verursachen, herangezogen werden. Es dürfen aber deshalb 
diejenigen Leprösen, die nichts beitragen können, nicht eine 
minder gute Behandlung erfahren, wenn man auch bei der Ver- 
pflegung, soweit sie dieselbe nicht selbst durch Arbeit verdienen 
und beschaffen, den Gewohnheiten der einzelnen Menschen Rechnung 
tragen wird. Ä 

Der Heredität ee steht die Prophylaxe viel hilfloser da. 
Das Heirathen kann man den sich wohl fühlenden Kranken selbst 
mit gesunden Personen nicht verbieten, sofern letztere den Mut 
dazu haben. Soweit es möglich ist, wird man aber durch wohl- 
meinenden Rat es zu verhüten suchen. Die Kinder. Lepröser 
thäte man ja am besten ganz von ihnen zu entfernen und in Erziehungs- 
häusern unterzubringen. Wenn man die Zustimmung dazu von 
den Eltern nicht erreichen kann, dann wird man wenigstens innerhalb 
desselben Leprosoriums getrennte Schlafstätten für die Kinder schaffen 
und sie möglichst vor zu inniger Berührung mit den Eltern bewahren 
müssen. Die Ernährung des Säuglings wird eine künstliche sein 
müssen, keinesfalls darf eine lepröse Mutter ihr Kind nähren. Bei 
der Lepra liegt die Sache anders, als bei der Syphilis, wo wir er- 
fahrungsgemäss wissen, dass die Mutter das Kind nicht inficiert, weil 
es entweder syphilitisch oder immunisiert is. — Dag wären die 
Grundzüge einer von humanem Geiste durchwehten und doch den 
- hygienischen Anforderungen genügenden Prophylaxe, durch die wir 
- wohl mit Sicherheit das vielleicht jetzt übermässig gefürchtete 
Schreckgespenst einer an das Mittelalter erinnernden Lepraausbreitung 
fernhalten können. Mögen die dazu berufenen Organe dieselbe, wo 
sie nötig ist, energisch ins Werk setzen, und mögen die Aerzte sich 
mit dem Krankheitsbilde gut vertraut machen, um durch rechtzeitiges 
Erkennen jedes Leprafalles diesen Organen durch obligatorisch zu 
machende Anzeige zu Hülfe kommen zu können. 


o» 
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Tract Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 

Zuschriften und Zusendungen für die liner Klinik“ werden ¡ba 
an den oben genannten Redacteur, Berlin „Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 














Die Krankheiten des behaarten Kopfes. 
(Nach einem Vortrage im Osterferiencurse fiir Aerzte.) 
Von 


Dr. Max Joseph in Berlin. 


M. H.! Bei einer früheren Gelegenheit (Berl. Klinik, April 1895) 
hatte ich bereits Veranlassung genommen, in Ihrem Kreise iiber 
Haarkrankheiten zu sprechen. Heute möchte ich Ihnen in gedrangter 
Kürze eine Übersicht über die Dermatosen geben, welche sich auf 
der behaarten Kopfhaut lokalisieren. Dieselben bieten zwar keine 
besonderen Eigenschaften dar, welche sie aus dem Rahmen der 
klinischen Pathologie der Hautkrankheiten überhaupt herausheben, 
aber gerade durch ihr Auftreten an jener Stelle treten doch für den 
Arzt häufig genug Schwierigkeiten bei der Diagnose und Therapie 
dieser Affektionen ein. Daher schien es mir wünschenswert, Ihnen, 
bevor wir uns trennen, eine Zusammenstellung der auf dem behaarten 
Kopfe vorkommenden Hautkrankheiten zu geben und daran einige 
Winke für deren Behandlung zu knüpfen. Am häufigsten tritt uns das 


Ekzema capillitii 


entgegen. Der Definition entsprechend, welche ich Ihnen bereits 
früher für die Ekzeme an den übrigen Körperstellen gegeben habe, 
wird es Sie nicht wundern, wenn ich auch das Ekzem am behaarten 
Kopfe als einen Flächenkatarrh mit vorwiegend seröser Exsudation 
auffasse. Als den Typus dieser katarrhalischen Affektionen können 
wir die durch äussere Reize hervorgerufenen arteficielle Dermatitis 
betrachten. Hebra war der erste, welcher auf diese Congruenz der 
klinischen Erscheinungen aufmerksam machte und nachwies, dass 
eine durch Crotonöl, einem unserer stärksten Reizmittel, hervor- 


gerufene Hautentzündung im wesentlichen dem Typus der akuten 
1 


Ekzeme entspricht. Indessen haben spätere Beobachter hieran riitteln zu 
sollen geglaubt und vor allem hat Unna sowie seine Schüler immer 
wieder betont, dass beide Prozesse doch wesentliche Unterschiede von 
einander darbieten. Vor allem sei ein Punkt massgebend, dass eine 
artificielle Dermatitis abklinge, sobald der die Schädlichkeit ver- 
ursachende Reiz aufgehört habe. Beim Ekzem dagegen sei dies 
nicht der Fall, sondern hier mache der Krankheitsprozess eine vielleicht 
im Wesen des von uns noch nicht gekannten ätiologischen Momentes 
liegende fortschreitende Ausbreitung durch. Indessen trifft dies im 
wesentlichen nicht zu. Auch eine arteficielle Dermatitis heilt nicht 
ab, sobald die Krankheitsursache aufgehört hat. Gerade bei den 
durch gewerbliche Beschäftigung hervorgerufenen arteficiellen Derma- 
titiden, den Krankheitsprozessen, welche in den verschiedensten 
Berufsarten durch Einwirkung äusserer Schädlichkeiten zu Stande 
kommen, sehen wir, dass noch lange Zeit, oft Wochen, ja Monate 
nach Entfernung der Schädlichkeiten und trotz aller Schonung eine 
Heilung nicht zu Stande kommt. Im Gegenteil der Prozess schreitet 
weiter vor. | 

Es ist allerdings richtig, dass zuweilen die arteficielle Dermatitis, 
welche nach der Anwendung äusserer Reizmittel entsteht, aufhört, 
sobald der Reiz nicht mehr einwirkt. Indessen gar nicht selten 
hinterlässt der gleiche Reiz bei anderen Individuen ein veritables 
Ekzem mit all den Charakteren, welche wir bei einem spontan aus 
uns unbekannter Ursache entstehenden Ekzem auftreten sehen. 
Einerseits ist dieses die Folge eines verstärkten Reizes, welcher auf 
die Haut des ekzematös gewesenen Individuums einwirkt, anderer- 
seits müssen wir aber doch eine besondere Prädisposition jener 
Individuen annehmen, da wir bei einer Anzahl anderer Menschen 
nach der Einwirkung der gleichen äusseren Reize kein Ekzem auf- 
treten sehen. Wir gestehen ein, dass dieses Wort Prädisposition 
nur unsere Verlegenheit in der Erkennung der Ätiologie des Ekzems 
ausdrücken soll, indessen müssen wir uns vorläufig damit begnügen, 
bis uns weitere Forschungen mehr Aufklärung über diesen Punkt 
geben werden. Dass hierbei in der Constitution des Individuums 
gelegene Momente mitspielen mögen, soll nicht bestritten werden. 
Daher erklärt sich auch die Annahme einzelner Autoren von 
dem Vorkommen einer Diathese (Gicht, Asthma etc.) gewisser 


Ekzeme. Indessen scheinen diese konstitutionellen Momente nach 
meinen Beobachtungen doch immer nur eine untergeordnete Rolle 
zu spielen. Ich habe sie nur selten bei Ekzematösen finden können. 

Gerade auf dem Kopfe aber stellt eine bestimmte Art von 
arteficieller Dermatitis den Typus des akuten Ekzems dar, das ist 
das pedikulöse Kopfekzem. An das Erscheinen von Pediculi capitis 
schliessen sich akute Hautentzündungen an, welche nicht aufhören, 
sobald die Pediculi beseitigt sind. Wochen, ja sogar Monate lang 
haben wir zu thun, bis die ekzematösen Eruptionen auf dem be- 
haarten Kopfe und die sich hieran anschliessenden Veränderungen 
im Gesichte oder an anderen Körperstellen beseitigt sind. Ebenso 
sehen wir auch andererseits, dass die akuten, nennen wir sie einmal 
idiopathischen Kopfekzeme, deren Ursache wir nicht kennen, nicht 
nur den gleichen Verlauf nehmen, sondern auch ein identisches 
klinisches Aussehen zeigen. 


Eine klinische Beschreibung der Ekzeme‘ auf der behaarten 
Kopfhaut ist nicht leicht, da die entzündlichen Erscheinungen je 
nach der Stärke des einwirkenden Reizes und der Beschaffenheit der 
Haut in ihrer Qualität wechseln. Im wesentlichen kann man hier 
leichte, mittlere und schwere Ekzemformen unterscheiden, aber auch 
das Alter spielt eine nicht unwesentliche Rolle. 


Am häufigsten treffen wir Kopfekzeme bei Kindern an, und 
hier bilden sie in der frühesten Jugend für die Angehörigen wie 
für den Arzt geradezu eine Calamität. Die ersten Erscheinungen 
bei den Kindern, oft schon acht, vierzehn Tage oder einige Monate 
nach der Geburt, gehen unbemerkt vor sich und da von Seiten der 
Umgebung wenig hierauf geachtet wird, so entwickeln sie sich manch- 
mal zanz akut in Form eines starken Nässens und Borkenbildung über 
den ganzen Kopf, ja vielleicht schon über das Gesicht. . Zuerst 
wird auf irgend einer umschriebenen Stelle des Kopfes nur eine 
geringe Rötung bemerkt. Dieselbe hebt sich bei der geringen Be- 
haarung gut von der Umgebung ab und bedeckt sich in einigen 
Stunden mit einer gelblich fettigen Auflagerung („Gneis“). Entfernt 
man täglich vorsichtig mit reinem Olivenöl diese fettige Auflagerung, 
ein Gemisch von abnorm verhornten und deshalb fettig degenerierten 


Epidermiszellen, sowie Talgdrüsensekret und belegt die ganze Stelle 
qe. 


4 


mit einer indifferenten Salbe (5prozentiges Borvaseline), so wieder- 
holen sich die Erscheinungen kurze Zeit noch in geringem Grade, 
es bleibt der entziindliche Prozess auf eine cirkumscripte Stelle be- 
schränkt, und in kurzer Zeit tritt Heilung ein. 

Meistens aber wird der Prozess dadurch verschlimmert, dass 
man durch zu häufiges Waschen für eine gehörige Reinigung des Kopfes 
sorgt, und gerade in diesem Reize liegt dann der Grund zu einer 
akuten Ausbreitung des Ekzems. Ich stehe nicht an zu behaupten, 
dass durch das zu häufige und intensive Waschen bei ganz jungen 
Kindern ein grosser Teil der Ekzeme in diesem Lebensalter erzeugt 
wird. Bei uns zu Lande werden die Kinder morgens in toto ge- 
waschen, dann am Vormittag noch einmal gebadet und Abends 
wieder gewaschen. Das verträgt die zarte Haut des Kindes nicht, 
und gar nicht selten treten Ekzeme ein, welche durch den Reiz 
dieser Waschungen hervorgebracht werden. Jedenfalls sehen wir 
ausserordentlich häufig unter dem Gebrauche von indifferenten Salben 
und bei striktem Verbote des Waschens die Ekzeme abheilen. Ich 
muss hierauf ausdrücklich hinweisen, weil vielfach die entgegen- 
gesetzte Meinung nicht nur unter dem Publikum, sondern vor allem 
auch unter den Aerzten und speciell einigen unserer Fachkollegen 
herrscht. Sie empfehlen gerade das Wasser, sei es nun kalt oder 
warm bei ekzematösen Erscheinungen der Haut. Indessen lehren 
mich meine Erfahrungen immer wieder und wiederum, dass bei jeder 
akuten ekzematósen Hauteruption Wasser eine Schädlichkeit, vielleicht 
sogar die grösste für die kranke Haut ist Es vergeht fast keine 
Woche, wo ich nicht in meiner Poliklinik Kinder mit derartigen 
akuten Ekzemen sehe, die von mir eine einfache indifferente Salben- 
therapie empfohlen erhalten und deren Eltern mir dann sagen, das 
hätten sie alles längst gemacht, aber es hätte nichts geholfen. Auf 
meine genauesten Anweisungen, dass die Kinder aber zweimal täglich 
ihr Ekzem mit Salbe bestrichen, und darauf einen regulären Verband 
erhalten sollen und bis zur Abheilung des Ekzems durchaus nicht 
gewaschen werden dürfen, erhalte ich dannn die Erwiderung, das 
hätten sie allerdings früher nicht befolgt. Mit dieser einfachen 
Therapie und dem absoluten Verbot des Waschens sehe ich alsdann 
bald eine Heilung eintreten. Ich glaube jeder Arzt, welcher an sich 
selbst einmal eine akute oberflächliche Entzündung der Haut, z. B. 


an den Händen, durchgemacht hat, wird mir Recht geben, dass 
hierbei das Waschen ausserordentlich unangenehm ist. Die Haut 
wird gespannt, es werden Schmerzen verursacht und die Entziindung 
klingt nicht ab. 

Meist aber bekommen wir die Kinder nicht in diesem frühen 
Stadium, sondern mit den weiter vorgeriickten Charakteren: eines 
akuten Ekzems zu sehen. Der ganze behaarte Kopf ist bedeckt 
mit dicken gelblich schmutzigen Borken, die Haare sind verfilzt 
und ein unangenehmer Geruch kennzeichnet solcbe Kinder schon von 
weitem. Hebt man mit einer Sonde die Borke mit grossen Schwierig- 
keiten ab, so sielt man darunter die Kopfhaut diffus gerótet und 
stark nässend. Grosse Eiterpusteln, Impetigines werden durch die 
massenhaft auf der normalen Kopfhaut schon wuchernden und bei 
diesen Entzündungsprozessen üppig sich entwickelnden Mikroorga- 
nismen erzeugt, als deren Folgen sich dann starke Borken präsen- 
tieren. Ein solches akutes diffuses impetiginöses Ekzem stellt den 
Typus einer oberflächlichen durch äussere Reize hervorgerufenen 
und unterhaltenen Dermatitis dar. Ob dieser Reiz in dem Auftreten 
von Pediculi capitis oder in dem zu häufigen Waschen oder in dem 
Gebrauch von stark irritierenden Medikamenten entsteht, stets ist der 
Effekt der gleiche, es entsteht ein akuter mit starker Exsudation 
einhergehender Catarrh. Im Kindesalter bis zur Pubertät etwa sehen 
wir denselben häufig durch Pediculi capitis hervorgebracht, und man 
vergesse bei der Nachforschung nach der Ursache der Kopfekzeme 
niemals diese Möglichkeit zu berücksichtigen. Selbst in Familien, in 
welchen die grösste Sauberkeit herrscht, kommt doch einmal eine 
derartige Übertragung, sei es durch Verkehr in der Schule oder 
gemeinschaftliches Spielen vor. Gerade in den fortgeschrittenen 
Fällen, in welchen das Ekzem schon monatelang besteht, und wo im 
Anschluss an die entzündlichen Erscheinungen auf der Kopfhaut sich 
sekundär eine Lymphadenitis der benachbarten Cervical- und occi- 
pitalen Drüsen eingestellt hat, welche nun als oft pflaumengrosse 
Geschwülste imponieren und auch gar nicht selten zur Suppuration 
kommen, wird jenes ätiologische Moment übersehen. Häufig wird 
hier Skrophulose in Betracht gezogen, während man bei genauerem 
Zusehen die Ursache in Pediculis capitis findet und demgemäss bei 
geeigneter Therapie schuclle Heilung erzielt. 


6 





Im späteren Lebensalter tritt dieses ätiologische Moment 
zurück und wir sehen überhaupt um diese Zeit weniger häufig akute 
nässende Ekzeme auf der behaarten Kopfhaut. Ob hier der Nähr- 
boden, i. e. die Kopfhaut nicht mehr so geeignet ist für das Auf- 
treten derartiger Entzündungen oder ob jetzt die äusseren Reize 
seltener werden, lasse ich dahin gestellt. Indessen zuweilen beobachtet 
man sie doch auch, und gerade diese Erfahrungen haben mich immer 
wieder zu der Überzeugung gebracht, dass weder parasitáre Ein- 
flüsse, noch konstitutionelle Ursachen, sondern allein artefizielle Mo- 
mente solche akuten Kopfekzeme hervorrufen. Vielleicht aber ge- 
hört noch dazu eine besondere Prädisposition, da wir nicht bei allen 
Individuen trotz der Einwirkung der gleichen Reize dieselben Schäd- 
lichkeiten entstehen sehen. Ich habe es gar nicht selten beobachtet, 
dass Männer oder Frauen im mittleren und höheren Lebensalter, 
denen zur Beseitigung eines Haarausfalles stark reizende Waschungen 
oder Salben empfohlen waren mit dem gleichen akuten Ekzem zur 
Beobachtung kamen, wie es oben als durch Pediculi hervorgebracht 
geschildert wurde. Das Gleiche gilt für jene Fälle, wo Haarfärbungen 
mit zu stark reizenden Medikamenten versucht wurden. Ja die 
Ähnlichkeit ging hier so weit, dass nicht die Dermatose beendigt war, 
sobald der äussere Reiz beseitigt und die Schädlichkeit suspendiert 
wurde, sondern genau so wie bei Ekzemen an anderen Körperstellen 
verbreitete sich auch hier der entzündliche Prozess von der zuerst 
affizierten Stelle, sei es per continuum über die Gesichtshaut aus, 
oder er sprang auf dem Wege der reflektorischen Gefässalteration 
auf weitere Entfernung über. Hier also galt nicht der alte Satz: 
cessante causa cessat effectus, sondern der in dem Hautgewebe ge- 
setzteentzündlicheReiz machte seinen typischen cyklischen Verlauf durch, 
unbekümmert um das weitere Fortdauern der Reize oder das Aufhören 
derselben. Wenn man diesen cyklischen in typischer Art immer wieder 
sich zeigenden klinischen Verlauf betrachtet, so glaube ich, wird 
man zu keinem anderen Urteile gelangen, als dass diese artifiziellen 
Dermatitiden in der That vollkommen dem Bilde entsprechen, welches 
wir seit Alters her unter dem Begriffe des Ekzems zusammenfassen. 
Will man aber an diesem Begriffe des Ekzems rütteln und eine 
neue Definition geben, etwa der Art, dass wir unter Ekzemen nur 
bestimmte, oberflächliche, parasitäre Prozesse verstehen, welche durch 


bestimmte pathogene Mikroorganismen hervorgerufen werden, so fehlt 
uns dafiir bis jetzt noch jede positive Unterlage. 

Gerade bei diesen eben geschilderten akuten nässenden im- 
petiginösen, borkigen Ekzemen feiert die Therapie ihre Triumphe. 
Während man früher vorschlug und es heute noch zuweilen hört, 
dass in einem solchen Falle zunächst die Haare abgeschnitten werden 
müssen, setzen wir jetzt gerade unseren Stolz darin, solche Ekzeme 
zur Abheilung zu bringen, ohne dass die betreffenden Individuen 
durch das abgeschnittene Haar auf Monate entstellt werden. Das 
erste ist jegliches Verbot des Waschens mit Wasser und Seife. Eine 
Auflösung der Borken durch Öl ist, wenn dieselben nicht gerade 
sehr hochgradig aufgelagert sind, meist überflüssig, und wir beginnen 
sofort mit der Anwendung einer von Biett zuerst empfohlenen 
Zinnober-Salbe, um deren weitere Verbreitung sich Lassar ein 
grosses Verdienst erworben hat. 

Rp. Hpydrarg. sulfur. rubri 1,0 
Sulf. sublim. 24,0 
Ol. Bergamott. gutt. XXV 
Vaselini flavi ad 100,0. 

Dieselbe wird mit einem Borstenpinsel morgens und abends 
dick auf alle ekzematösen Partien mehrere Tage lang, ohne sie jedes- 
mal wieder zu entfernen, aufgestrichen. Erst nach 4—5 Tagen ver- 
sucht man zuerst mit einem in Öl getränkten Flanelllappen die 
Salben und Borkenmassen zu entfernen, worauf dann eine Waschung 
mit lauwarmem Wasser und einer indifferenten, nicht reizenden 
Seife, z. B. Heine’s zentrifugierter Kinderseife erfolgt. Ist hierdurch 
der krankhafte Prozess noch nicht beseitigt, so muss man die Prozedur 
wiederholen. Meist kommt man selbst bei dem schwersten Ekzem 
mit einem derartigen zwei- bis dreimaligen Turnus aus. Alsdann 
bat das Nässen aufgehört, die Borken sind abgefallen und es liegt 
nun noch eine diffus gerötete Fläche vor, auf welcher eine geringe 
Desquamation sichtbar ist. Diese wird beseitigt durch abendliches 
Einfetten mit Olivenöl oder 5prozentigem Borvaseline oder einer Salbe 
folgender Zusammensetzung, welche die oberflächliche Schuppung 
auflöst. Rp. Acid. salicyl. 1,0 

Tinct. Benzoes 3,0 
Vaselin. flavi ad 30,0 


Statt dessen empfiehlt* sich auch folgende kompliziertere Ver- 
ordnung: 


Rp. Medullae bovis 10,0 
Vaselini flavi 60,0 
Ol. Amygd. dulc. 50,0 
Liquef. leni calore et admisce 
Extract. chinae 0,25 
Cort. chinae reg. pulv. 
Balsami peruviani aa 1,0 
Ol. Caryophyll. 0,5 
Ol. Rosarum gutt. I. 
M. f. ungt. 


Wem an wohlriechenden Ölen liegt, rate ich folgende Verordnung: 
Rp. Ol. Amygd. 45,0 
Ol. Jasmin. 20,0 
Ol. Rosar. gutt. I. 
M. f. ungt. 

Erst nachdem die Entzündung der Kopfhaut ganz geschwunden 
und keine Neigung zu einem erneuten Nässen sich gezeigt hat, 
kann man die Kopfhaut waschen lassen und muss noch häufig ein- 
fetten, um Recidive zu verhüten. 

Sind aber Pediculi die Ursache des Kopfekzems gewesen, so 
wird man natürlich vor der eben genannten Behandlung des Ekzems 
diese erst beseitigen. Das geschieht am einfachsten durch Gebrauch 
von Sublimatessig (Sublimati 1,0, Aceti communis 200,0). Der Essig 
löst den Chitinpanzer auf, mit welchem die Nisse an den Haaren 
befestigt sind, und Sublimat tötet die Pediculi. 

Im Gegensatze zu diesen akut auftretenden und mit erheblichen 
Beschwerden einhergehenden entzündlichen Erscheinungen tritt im 
mittleren und höheren Lebensalter, selten in den früheren 
Jahren, eine chronische Erkrankung der Kopfhaut auf, welche, 
schleichend einsetzend, jahrelang allmählich sich entwickelnd, zunächst 
nur zu einer kleienförmigen Abschuppung führt und erst später 
einen Haarausfall, die frühzeitige Glatzenbildung, bedingt. Dieser 
von Hebra als Seborrhoea sicca capitis mit nachfolgender Alopecia 
pityrodes bezeichnete Krankheitsprocess hat gerade in den letzten 
Jahren sehr viel Interesse erregt, und es ist das grosse Verdienst 


9 


Unna’s, uns neue Anregung zu weiterem Studium auf diesem 
Gebiete gegeben zu haben. Wenn ich auch nicht mit ihm in Allem 
übereinstimmen kann, so lässt sich doch nicht leugnen, dass seine 
Anschauungen zur Vertiefung in der klinischen Erkenntnis dieser 
Krankheitsbilder geführt haben. Er wählte als neuen Begriff die 
Bezeichnung des seborrhoischen Ekzems. Ich finde, M. H., dass Sie 
und viele andere Ärzte so häufig diesen Begriff gebrauchen, ohne 
sich darüber klar zu werden, was Unna darunter versteht, und auch 
gewiss nicht im Sinne Unna’s diese Bezeichnung viel zu sehr ver- 
allgemeinern. Mir scheint es, als ob viele Ärzte zur Verschleierung 
einer nicht ganz sicheren Diagnostik mancher Hautkrankheiten von 
dem Ausdruck „seborrhoisches Ekzem“ einen viel zu grossen Gebrauch 
machen. Daher- verlohnt es sich wohl der Mühe, heute einmal ein- 
gehend die Grundanschauungen Unna’s zu beleuchten und an 
unserem Krankenmaterial sich die Frage zu überlegen, welche von 
den neuen Anschauungen Unna’s können wir acceptieren, welche 
sind zweifelhaft und welche müssten wir vorläufig als nicht stich- 
haltig zurückweisen. Die oben angedeutete von vielen Ärzten heute 
beliebte Verallgemeinerung, als ob es nur seborrboische Ekzeme und 
gar keine andere Form des Hautkatarrhs gebe, liegt keineswegs im 
Sinne Unna’s, er spricht häufig genug (z. B. Volkmann’s Sammlung 
klinischer Vorträge, Seite 680) davon, dass er gewöhnliche Ekzeme 
von den Ekzemen mit seborrhoischer Signatur unterscheidet. 

Auch ich erkenne die Existenz eines seborrhoischen Ekzems auf 
der Kopfhaut an, wie man es Unna zu Liebe wohl nennen kann, 
und wie es andere als Ekzema folliculare oder psoriatiforme be- 
zeichnen. Nur ist letzteres nach meiner Erfahrung nicht so häufig, 
wie Unna annimmt, und davon sondere ich streng das Hebra’sche 
Bild ab. Daher unterscheide ich eine Seborrhoea sicca, welche oft 
zu einer frühzeitigen Glatzenbildung, der Alopecia pityrodes, führt 
und ein seborrhoisches Ekzem der Kopfhaut, welches viel weniger 
leicht Haarausfall bedingt und auch schneller als jenes beseitigt 
werden kann. 

Bei der Seborrhoea sicca der Kopfhaut handelt es sich zu- 
nächst um eine reine Hypersekretion der Talgdriisen, zu welcher 
sich später noch eine abnorme und übermässige Verhornung der 
Oberhaut, wie es Unna nennt, eine Parakeratose hinzugesellt. Leider 


10 





bekommen wir diese Patienten immer erst in einem späteren Stadium 
ihrer Erkrankung zu sehen; besonders Männer haben schon jahre- 
lang die Spuren ihrer Erkrankung in Form enormer Abschuppung 
der Kopfhaut mit sich herumgetragen, bis sie ein beginnender Haar- 
ausfall nötigt, zum Arzte zu gehen. Viel frühere Stadien bekommen 
wir bei den Frauen, resp. jungen Mädchen zu sehen, die schon 
ziemlich früh den Arzt aufsuchen, bevor die Epidermisabschilferung- 
grosse Dimensionen angenommen hat. Die Anschauung, welche ich 
mir über den als Folge einer lange bestehenden Seborrhoe beginnen- 
den Haarausfall gebildet habe und die hiergegen einzuschlagende 
Therapie habe ich bereits genauer in einem früheren Vortrage 
(Berliner Klinik April 1895 S. 4—9) auseinandergesetzt. | 
Heute möchte ich lieber mit Ihnen etwas ausführlicher auf das 
Ekzema seborrhoicum der Kopfhaut eingehen. Hierbei finden 
wir den Ekzemcharakter, den entzündlichen Oberflächenkatarrh im 
Gegensatz zu der reinen Hypersekretion, der Seborrhoea sicca aus- 
geprägt. Auf geröteter Basis, welche oft im Centrum der Affection 
nicht so stark ausgeprägt ist, wie an der Peripherie, und an ersterer 
. Stelle in Folge des aufgelagerten Talgdrüsensekrets leicht über- 
sehen werden kann, zeigen sich dicke fettige Schüppchen, welche 
noch deutlich die Entstehung aus Bläschen erkennen lassen. Be- 
sonders prägnant wird das Bild an der Haargrenze im Nacken und 
an der Stirn, wo eine häufig in Kreissegmenten angeordnete Rötung 
sich scharf gegen die gesunde Haut abgrenzt und hier ebenfalls 
deutlich die mehr oder weniger starken Zeichen der Exsudation 
trägt. Mit diesem Bilde stimmt ungefähr der klinische Charakter 
überein, welchen Unna seiner dritten Varietät der von ihm be- 
schriebenen Kopfaffektionen beimisst, und welcher wir allein das 
Epitheton des Ekzema seborrhoicum beilegen möchten. Nach Unna 
(conf. u. a. Besnier und Doyon, Traduction des maladies de la 
peau etc. de Kaposi, 2. Auflage Band I Seite 682) stellt sich ge- 
wöhnlich auf der behaarten Kopfhaut in der Schläfengegend nahe 
dem Ohre Nässen ein, welches auf eine einfache mit Jucken, 
Spannung und Rötung einhergehende Pityriasis folgt. Wenn man 
die Fettschuppen ablöst, so findet man darunter, wie immer beim 
Ekzem, die basale Hornschicht feuchtglänzend und dunkelrot. Wird 
das Nässen stärker, so kann man sogar an einigen Stellen Erosionen 


11 


derart sehen, dass die Stachelschicht freigelegt ist. Später werden 
die Krusten immer dicker, bröckelicher, feuchter und zugleich fett- 
haltiger. Beinahe stets sind die Ohren an ihrem äusseren Rande, 
und ich möchte hinzufügen, besonders an der Furche, welche den 
Übergang von Kopfhaut zur Ohrmuschel bildet, stark afficiert. Hier 
zeigen sich Rötung, geringes Ödem und eine Reihe von subjektiven 
Beschwerden, welche jedes Ekzem begleiten. Diese Form braucht 
nicht immer den ganzen Kopf einzunehmen, sondern beschränkt sich 
auf den Scheitel, das Hinterhaupt oder die seitlichen Teile des 
Schádels. Wir bezeichnen also nur diesen rein katarrhalischen mit 
allen Zeichen der Entzündung und zugleich einer starken Talgdrüsen- 
sekretion einhergehenden Krankheitsprozess auf der Kopfhaut als 
Ekzema seborrhoicum, während Unna auch die oben erwähnte 
Seborrhoea sicca mit der danach sich einstellenden Alopecia pityrodes 
zu dem Ekzema seborrhoicum hinzurechnet. 

Unna (das seborrhoische Ekzem. Volkmann’s Sammlung klini- 
scher Vorträge No. 7 of Sept. 1893) charakterisiert das seborrhoische 
Ekzem durch vier Momente, 1) eine Porakeratose der Oberhaut, 
2) eine Epithelwucherung (Akanthose), 3) eine mehr oder weniger 
tiefreichende Entziindung der Cutis und 4) eine Vermehrung des 
Hautfettes, sowie Anzeichen von vermehrter Thatigkeit der Knäuel- 
driisen. Mit diesem letzteren Punkte stimmen wir nicht überein, 
und hier besteht eine wesentliche Differenz nicht nur zwischen 
Unna und mir, sondern auch einer grossen Reihe anderer Forscher. 
Unna nimmt als wesentliches Moment eine Erkrankung der Knäuel- 
drüsen an und das Knäuelfett spielt in seinen Deduktionen eine 
grosse Rolle. Er bleibt durchaus immer und immer wieder bei 
seiner Behauptung stehen, dass von den Knäueldrüsen Fett abge- 
schieden wird. Beweise hiefür hat er aber nicht erbracht, im 
Gegenteil häuft er Theorien auf Theorien ohne dass er bier fest 
auf dem Boden der Thatsachen steht. Unna gibt selbst zu, dass 
der histologische Nachweis der Fettsekretion aus den Knäueldrüsen 
bisher nicht geführt worden ist, ja ihm erscheint es ebenfalls auf- 
fallend, dass man in den zugehörigen Gängen der Knäueldrüsen 
kein freies Fett antrifft. Trotzdem glaubt er aus gewissen sekun- 
dären Anzeichen eine vermehrte Fettsekretion aus den Knäueldrüsen 
ableiten zu können. Dazu rechnet er unter anderem auch eine 


12 





Erweiterung des Lumens der Knäueldrüsen und das Auftreten 
vieler Mitosen in den Drüsenzellen. . Den letzteren Befund habe 
ich auch bei der Porakeratosis (Archiv für Dermatologie und 
Syphilis, Band XXXIX) erhoben, ohne dass es dort je zu einer 
abnormen Fettsekretion gekommen wire. Endlich glaubt aber 
Unna auch, dass bei dem seborrhoischen Ekzem ein vermehrter 
Fettansatz im Hypoderm eine Rolle spielt, und speziell der seborrho- 
ische Haarschwund des Kopfes von einer Verdickung des Paniculus 
daselbst begleitet ist. Auch dieses Phänomen führt er auf eine 
starke Fettsekretion in den Knäueln zurück durch das Bindeglied 
einer im ganzen an Fett abnorm reichen Lymphe! 

Ich glaube es ist besser sich an Stelle dieser Theorien auf den 
Boden der Thatsachen zu begeben und diese lehren uns, dass der 
alten Anschauung entsprechend aus den Talgdrüsen der Talg, 
Schmerfluss der Haut, aus den Schweissdrüsen der Schweiss ge- 
liefert wird. Es war vielleicht nicht einmal mehr nötig hiefür noch 
experimentelle Beweise zu liefern, ich glaube sie aber durch meine 
an Katzen angestellten Untersuchungen (Archiv für Anatomie und 
Physiologie, physiologische Abteilung 1891) geliefert zu haben. 
Wenn Unna das dem Schweisse beigemengte Fett in der Vola 
manus immer als für seine Theorie sprechend erwähnt, so muss 
doch darauf hingewiesen werden, dass die Erklärung hiefür uns in 
anderer Weise gegeben ist. Liebreich hat die Umwandlung von 
Cholesterinfetten aus Keratinsubstanzen nachgewiesen und so liegt 
es nahe den fettigen Schweiss in der Hohlhand auf das durch 
Abstossung der Epithelien freigewordene Cholesterinfett, welches 
dem Schweisse an dieser Stelle beigemischt ist, zurückzuführen. 

Indess auch ätiologisch und klinisch können wir mit Unna's 
Definition des seborrhoischen Ekzems nicht übereinstimmen. Während 
Unna annimmt, dass alle seborrhoischen Ekzeme im Zusammenhang 
stehen mit solchen des behaarten Kopfes, hat uns die Erfahrung 
gelehrt, dass dies bei Weitem nicht immer der Fall ist. Gewiss 
kommt dies zuweilen, oder wenn man will — dies wird sich nach 
dem verschiedenen Material der einzelnen Beobachter richten — 
auch häufig vor. Aber die Regel ist es nicht. Wir finden gar 
nicht selten follikuläre oder wenn man will seborrhoische Ekzeme 
auf der Brust, zwischen den Schultern etc., obwohl die Kopfhaut 


13 


vollkommen normal ist. Andererseits soll aber nicht geleugnet 
werden, dass in vielen Fällen ein Zusammenhang der follikulären 
Ekzeme des Körpers mit Erkrankungen der Kopfhaut besteht. Diese 
letztere Form möchte ich nur als Ekzema seborrhoicum (Unna) 
bezeichnen, und davon jene anderen Ekzemformen abtrennen, welche 
ohne Zusammenhang mit Kopferkrankungen unzweifelhaft sehr 
häufig vorkommen. Mir scheint, dass Unna die Bedeutung des 
von ihm aufgestellten seborrhoischen Katarrhs überschätzt hat. 
Wenn auch anerkannt werden muss, dass dieser Forscher uns neue 
Bahnen gezeigt hat, so ist doch die Zeit gekommen, wo man das 
von Unna aufgestellte Krankheitsbild auf einen engeren Rahmen 
beschränken und absondern muss, was hiezu nicht gehört. Hierauf 
kann ich heute M! H! nicht weiter eingehen und werde an einer 
anderen Stelle Gelegenheit nehmen, ausführlich darauf zurückzu- 
kommen. | 

Ist das seborrhoische Ekzem ein infektiöser Katarrh? Es ist 
möglich, doch besitzen wir hiefür noch keine sicheren Beweise. 
Unna glaubt, die von ihm beschriebenen Coccen von maulbeer- 
förmigem Aussehen, Morococcen, als Ursache ansprechen zu dürfen. 
Indessen ist es müssig, hierüber zu streiten, da vollgültige Beweise 
hiefür noch nicht vorliegen. Auch die neuesten Arbeiten Sabou- 
raud’s, welcher als ätiologisches Moment der Seborrhoe einen Mikro- 
bazillus beschreibt, nötigen noch zu einer grossen Reserve und wir 
werden erst Kontrolluntersuchungen abwarten müssen, bis wir uns 
ein definitives Urteil in dieser Frage erlauben können. 

Die Beseitigung des Ekzema seborrhoicum gelingt uns bei einiger 
Ausdauer verhältnismässig leicht. Ich lasse den Kopf allabendlich 
waschen mit: 

Rp. Tinctur. cantharid. 4,0 
Spiritus lavand. 
Spiritus Rosmar. aa 50,0 
und danach mit folgender Pomade die Kopfhaut einfetten: 
Rp. Resorcin. 1,0 
Sulf. praecip. 4,0 
Vaselini flavi ad 50,0 


14 


In der Haufigkeitsskala folgt dem Ekzem die 


Psoriasis capitis. 

Die Diagnose dieser Affektion auf dem behaarten Kopfe macht 
oft nicht geringe Schwierigkeiten, und viele Arzte haben sich daran 
gewöhnt, alsdann zur Unterstützung ihrer Meinung den übrigen 
Körper nach Symptomen der Schuppenflechte zu untersuchen. In 
der Mehrzahl der Fälle findet man in der That irgendwo am Körper 
u. a. an den typischen Lokalisationsstellen (Knie, Ellenbogen etc.) 
Psoriasisefflorenscenzen, welche die Diagnose erleichtern. Es giebt 
aber eine ganze Reihe von Kranken, welche sich uns entweder nur 
mit der Eruption auf dem Kopfe präsentieren und erst später einmal 
auf dem Körper mehr oder weniger zahlreiche Psoriasisausbrüche 
zeigen, oder welche niemals an irgend einer anderen Stelle als nur 
auf dem Kopfe Efflorescenzen haben. Aber auch in diesen letzteren 
Fällen ist die Diagnose nicht schwierig und muss bei einiger Auf- 
merksamkeit in jedem Falle gelingen. Sie ist aber gerade für den 
praktischen Arzt von grosser Wichtigkeit, weil er auf Basis dieser 
Diagnose schnell einen Erfolg mit unseren bewährten Medikamenten 
erzielen kann. 

Mag die Psoriasis nur an wenigen Stellen des behaarten Kopfes 
vorhanden sein, oder sich um die ganze Circumferenz desselben aus- 
gebreitet haben, stets wird man irgendwo an einer Stelle noch eine 
einzelne isolierte Plaque finden, welche die Kennzeichen der Schuppen- 
flechte in typischer Weise gewährt. Ein kleines Büschel von Haaren 
scheint in einen oft nur stecknadelknopf-, manchmal etwa 5-Pfg.-Stück- 
grossen geröteten mit dicken weisslichen Schüppchen bedeckten Fleck 
eingepflanzt. Derselbe ist meist scharf umschrieben und hebt sich 
von der gesunden Kopfhaut, sowie den umliegenden Haaren gut ab. 
Entfernt man mit dem Nagel die Schüppchen, so folgen die Haare 
nicht nach, dagegen entleeren sich eine Anzahl punktförmiger Bluts- 
tropfen, welche aus den einzelnen hypertrophischen Kapillargefässen 
zu Tage treten. Gerade diese Art von Blutung ist ein wichtiges 
diagnostisches Moment. Solche kleinen Flecke sind nun entweder 
in ein- oder mehrfacher Zahl auf dem behaarten Kopfe vorhanden 
und bleiben hier jeder für sich isoliert bestehen oder es fliessen 
deren eine Anzahl zu einer grossen Scheibe zusammen, welche zu- 
weilen sich sogar über den ganzen Kopf ausdehnend, auf die Stirn 


15 


und den Nacken übergehen und hier den Eindruck erzeugen, als 
ob auf die Kopfhaut eine rote Kappe gestülpt wäre. 

Fälle der letzteren Art erzeugen dem Patienten, abgesehen von 
der kosmetischen Verunzierung, lebhafte subjektive Beschwerden, 
während diese bei Erkrankungen geringer oder mässiger Ausdehnung 
nicht erheblich sind. Zwar besteht oft ein geringes Jucken, indessen 
ist dasselbe nicht bedeutend. Viel belästigender ist die starke 
Schuppung, wodurch die Kleider stets wie beschmutzt erscheinen. 
In diesen Fällen ist die Diagnose nicht leicht und eine Verwechslung 
mit einem Ekzem der Kopfhaut recht häufig. Während indessen 
bei einem Ekzem zu irgend einem Zeitpunkt dieser Erkrankung 
Nässen auftritt, fehlt dieses bei der Schuppenflechte. Als Zeichen 
der Exsudation beim Ekzem findet man Bläschen und Krusten, solche 
fehlen bei der Psoriasis. Auch die subjektiven Beschwerden sind 
beim Ekzem stärker als bei der Psoriasis. 

Die Prognose ist eine günstige insofern als uns die Abheilung 
bald gelingt. Freilich können wir Recidive nicht verhüten und vor 
diesen bleibt ein Psoriatiker Zeit seines Lebens nicht sicher. Indessen 
da solche Schübe immer wieder leicht zu beseitigen sind, so kann 
die Prognose als günstig hingestellt werden. Haarausfall tritt selbst 
bei sehr lange bestehender Psoriasis nicht ein als Zeichen des ober- 
flächlich verlaufenden pathologischen Prozesses. 

Die Therapie der Psoriasis capitis feiert glänzende Triumphe, 
sofern der Arzt nur einigermassen hiermit Bescheid weiss. Zunächst 
gilt als wichtige Regel genau wie bei der Behandlung der Psoriasis 
des Körpers: man entferne die Schuppen, da bei deren oft sehr 
erheblicher Dicke eine Permeabilität der Medikamente natürlich un- 
möglich ist. Zu diesem Zwecke empfehlen sich gründliche Waschungen 
mit alkalischem Seifenspiritus oder Natrium carbonicum. Auch Öle 
empfehlen sich zum Zwecke, z. B. das von Neisser empfohlene: 

Rp. Acid. salicyl. 10,0 
Ol. Oliv. 
Ol. Ricini aa ad 100,0 

Erst nachdem hierdurch die Schuppen aufgelöst sind, kann man 
durch Salben auf den Krankheitsprozess selbst einwirken. Leider 
können wir das auf dem Körper als bestes Mittel sich bewährende 
Chrysarobin wegen seiner Verfärbung der Haare nicht verwenden. 


16 


Statt dessen verordnen wir eine Pyrogallussäuresalbe (10°/,), mit 
welcher man bei allabendlichem Einfetten noch immer recht schnelle 
Resultate erzielt. Viel milder, deshalb langsam zum Ziele führend, 
ist die 10°/,ige weisse Pricipitatsalbe. Ihr kommt gleich, resp. 
übertrifft sie vielleicht in etwas in der Schnelligkeit der Wirkung 
eine 10°/,ige Gallanolsalbe Das letztere Medikament (Gallussäure- 
anilid) habe ich vor einigen Jahren (Berliner klinische Wochenschrift 
1895 No. VIII) von guter Wirkung gerade bei der Psoriasis capitis 
gefunden. Der innerliche Gebrauch von Arsen wird sich ebenfalls 
empfehlen, um kein Mittel zur schnellen Beseitigung der Schuppen- 
flechte unversucht zu lassen. Das Hauptgewicht lege ich aber auf 
die lokale Behandlung. 

Von grösster Wichtigkeit zur Verhinderung eines erneuten Auf- 
tretens der Psoriasis auf dem Kopfe zeigt sich hier gerade eine 
sorgfältige Hygiene. Fleissiges Waschen des Kopfes teils nur mit 
Wasser und Seife oder mit alkalischem Seifenspiritus oder mit irgend 
einem andern der schuppenauflösenden Waschwässer verhindert das 
Recidivieren mitunter für lange Zeit. Auch der Einfluss des warmen 
Klimas, in welchem die Psoriasis nicht so häufig recidiviert als in 
unseren nördlichen Gegenden, ist nicht zu unterschätzen, und Bulkley 
(Clinical notes on psoriasis, Transactions of the medical society of 
New-York 1895) berichtet sogar von Patienten, welche frei von der 
Eruption blieben, solange sie in den Tropen lebten. Dagegen scheint 
mir, dass der Einfluss der Nahrung nicht sehr hoch anzuschlagen 
ist. Zwar kenne ich korpulente Patienten, welchen eine starke 
Entfettungskur angeraten wurde und die dann bei starker Abnahme 
des Körpergewichts sowie allgemeinen Schwächezuständen auch ihrer 
Psoriasiseruptionen verlustig wurden, indessen kehrte doch die 
Affektion wieder, sobald die Patienten ihrer alten Lebensweise nach- 
gingen. Damit in Analogie wissen wir ja auch, dass bei dem zu- 
fälligen Einsetzen fieberhafter Krankheiten die Psoriasis verschwindet, 
um nach Überstehen der interkurrenten Affektion wiederzukehren. 
Wenn einzelne Ärzte glauben, durch vegetabilische Nahrung die 
Psoriasis heben zu können, so habe ich davon keinen Nutzen gesehen 
und rate wegen des ungünstigen Einflusses auf den Allgemeinzustand 
hiervon ab. 


17 


Kine Affektion, welche meiner Erfahrung nach ebenfalls sehr 
häufig auf dem Kopfe lokalisiert ist, dort oft verkannt und mit Lues 
verwechselt wird, ist die 


Akne varioliformis capitis. 


Es zeigen sich hierbei zunächst kleine, meist nur etwa hanfkorn- 
grosse, bisweilen aber auch bedeutend grössere Knötchen, welche, 
dunkelblaurot verfärbt, flach in der Haut liegen und meist in engem 
Connex mit dem Haarfollikel stehen. Sie erscheinen zwar auch 
unabhängig von dem Haarfollikel, z. B. an der Stirn, aber ihre 
Prädilektionsstelle bilden doch die Follikel. In milden Fällen sind 
sie nur an der Stirnhaargrenze lokalisiert, um dieselbe nach beiden 
Richtungen, sowohl nach unbehaarter wie nach der behaarten Kopf- 
haut mehr oder weniger weit zu überschreiten. In ersteren Fällen 
nehmen sie aber ungefähr den ganzen behaarten Kopf mit den an- 
grenzenden Teilen ein und gehen sogar auf die Ohrmuscheln über. 
Die Dauer dieser Knötchen als solcher ist nur eine sehr geringe. 
Bald aber stellt sich ein Vorgang ein, welcher diesen Prozess zu 
einem typischen stempelt, es bildet sich in der Mitte der Knötchen 
eine Kruste, und wenn dieser oberflächliche Nekrotisierungsprozess 
abgelaufen ist, so zeigt sich als Endausgang des ganzen patho- 
logischen Vorganges eine Narbe. Diese hat*am meisten Ähnlichkeit 
mit der Pockennarbe. Daher hat man der Krankheit den Namen 
der Akne varioliformis verliehen. 

Die Diagnose ist unter diesen Umständen nicht schwierig, und 
doch werden in der Praxis sehr häufig Fälle dieser Art mit Syphilis 
verwechselt. Ich habe eine ganze Anzahl Patienten, unter denen 
sich sogar einige Ärzte befanden, kennen gelernt, bei welchen diese 
Erkrankung, die immer und immer wieder recidivierte, als Lues 
diagnostiziert wurde. Und doch gehört nur eine geringe Auf- 
merksamkeit dazu, um die Unterscheidung dieser beiden Prozesse 
durchzuführen. Bei der Akne varioliformis sehen wir als Einzel- 
effloreszenzen die typischen Knötchen und den ebenso typischen 
Endausgang der Narbenbildung. Wo immer auch der Patient an 
seinem Körper die gleiche Krankheit haben mag, was mitunter nicht 
ausgeschlossen ist, da zeigen sich immer die gleichen Primär- 
effloreszenzen. Anders bei der Lues. Hier ist das Exanthem stets 


9 


w 


18 





ein gemischtes, d. h. neben der pustulösen Syphilis auf dem Kopfe, 
welche ja hier allein in Frage kommen kann, zeigt der Patient noch 
auf dem Körper makulöse oder papulöse Effloreszenzen, Condylome, 
Schleimhautaffektionen, Alopecie, Driisenschwellungen und anderes 
mehr. Die Schwierigkeit wächst aber, wenn der Patient früher 
einmal syphilitisch inficiert war und nun nach mehr oder weniger 
langer Zeit nach dieser Infektion eine Akne varioliformis acquirierte. 
Dann ist zuerst ein gewisses Schwanken gerechtfertigt, indessen nach 
kurzer Zeit der Beobachtung wird man hier zu einem richtigen 
Urteil gelangen, und entscheidend wird vor Allem sein, dass eine 
gründlich durchgeführte allgemeine antisyphilitische Kur keinen 
Heilerfolg gegenüber der Akne varioliformis zeigt. 

Die Therapie ist eine ausserordentlich einfache Wir lassen 
jeden Abend weisse Präcipitatsalbe etwa messerrückendick auf 
sämtliche kranke Stellen aufstreichen und morgens mit einer in- 
differenten Seife, z. B. Heine’s centrifugierter Kinderseife abwaschen. 
Hierunter sieht man nach mehr oder weniger langer Zeit eine Ab- 
heilung eintreten und ich habe stets beobachtet, dass die Narben- 
bildung unter dieser Art von Behandlung viel weniger entstellend 
ist, als wenn man den Prozess sich selbst überlässt, wo er ja 
schliesslich auch spontan zur Abheilung gelangt. Innerliche Mittel, 
z. B. das so häufig dagegen verordnete Arsen, haben nach meiner 
Erfahrung gar keinen Einfluss auf die Erkrankung. Wie lange es 
dauert, bis die Abheilung der Akne varioliformis erfolgt, lässt sich 
im einzelnen Falle nicht sagen. Oft nach Tagen, manchmal - erst 
nach Wochen oder Monaten, tritt ein Erfolg ein, ein Misserfolg ist 
aber nie zu verzeichnen. Freilich kann dem Patienten nichts 
Sicheres darüber gesagt werden, ob nicht Recidive eintreten. Die- 
selben sind sogar ausserordentlich häufig, aber selbst in den hart- 
näckigsten Fällen wirkt weisse Präcipitatsalbe, wie mir scheint, 
nicht nur heilend auf den Ahlauf des Prozesses ein, sondern der 
fortgesetzte Gebrauch dieser Medikation verhütet sogar das häufige 
Recidivieren. Besonders fiel mir dies unlängst bei einem 34 jährigen 
Patienten auf, der seit circa 18 Jahren an einer enormen Akne 
varioliformis des ganzen behaarten Kopfes, der Stirn, des Nackens 
und beider Ohrmuscheln litt. Hier war alles Mögliche, äusserlich 
und innerlich, versucht worden, bis weisse Präcipitatsalbe nicht nur 


Heilung brachte, sondern sogar jetzt schon 3 Jahre lang das 
Recidivieren der friiher selten einmal lange ausbleibenden Affektion 
verhinderte. 


Leicht zu erkennen ist die Lokalisation der 
Lues capillitii, 

obwohl dieselbe in ihren Äusserungen ausserordentlich vielgestaltet 
ist. Gerade der behaarte Kopf wird aber sehr häufig nicht nur im 
frühen, sondern auch im späten Stadium der Infection betroffen. 

Ein sehr auffälliges und schon aus einer gewissen Entfernung 
nicht zu übersehendes Symptom ist die Alopecia syphilitica. 
Dieselbe zeigt sich im Eruptionsstadium der Lues, sobald der gesamte 
Körper mit dem Virus überschwemnt wird. Nicht selten klagen die 
Patienten schon über einen mässigen Haarausfall in dem sogen. 2. 
Inkubationsstadium der Lues, bevor noch die Zeichen der konsti- 
tutionellen Erkrankung in Form einer Roseola auf dem Körper sicht- 
bar sind. Meistens aber stellt sich dieses Defluvium capillorum erst 
zugleich oder sogar später als der erste Ausbruch der Intoxikations- 
erscheinungen ein, und der Haarausfall kann nun verschiedene Inten- 
sitätsgrade erreichen. Gewöhnlich aber sieht man am Hinterhaupt 
und an den Schläfen oder nur an einer von beiden Stellen ein 
Schütterwerden der Haare, als ob hier durch einen starken Griff die 
Haare buschweise ausgerupft wären. Bei genauerem Zusehen er- 
kennt man an den scheinbar kahlen Stellen noch eine ganze Anzahl 
feiner Haare. Steht man daher einige Schritte von einem solchen 
Kranken entfernt, so sieht diese Alopecie deutlicher aus, als wenn 
man sich ganz in der Nähe befindet. In einzelnen schweren Fällen 
ist der Haarausfall aber so hochgradig, dass man auf grossen Flächen 
kaum noch einige Haare bemerkt. Nach Sigmund’s Beobachtungen 
(östreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde 1859) kommt das 
Ausfallen der Haare am häufigsten bei den Kopfhaaren, sonst aber 
auch bei den Haaren des Bartes, der Augenbrauen, Wimpern, der 
Achselhöble, der Geschlechtsteile vor und ist mit einer Seborrhoe 
verbunden. Mir scheint es fraglich, ob diese Seborrhoe nicht meist 
schon lange bostanden hat. Ich beobachte, dass die Alopecie immer 
auftritt, ohne dass man auf dem Haarboden irgend eine Eruptions- 


erscheinung sieht. Daher wird man kaum fehlgehen, wenn man sie 
gx 


20 
ais eine wahre Intoxikationserscheinung ansieht nach Analogie des 
Haarausfalls, wie er sich bei Einsetzen anderer Infektionskrankheiten 
z. B. dem Typhus nicht selten einzustellen pflegt. Indessen nicht nur 
schwächliche, sondern gerade kräftige Personen werden von einem 
bedeutenden Haarausfall heimgesucht. Ich habe vor kurzem einen 
33 jährigen, ausserordentlich kräftigen Herrn behandelt, der 5 Monate 
nach der Infektion zugleich mit einer Psoriasis syphilitica palmarum 
manus einen foudroyanten Haarausfall bekam, wodurch in 14 Wochen 
der ganze Kopf fast kahl wurde Hier war kein allgemeiner 
Schwächezustand des Patienten mit dem Haarausfall in Verbindung 
zu bringen, im Gegenteil der Kranke befand sich ausserordentlich 
wohl. Es hat sehr viel Verlockendes in Analogie mit den Theorien 
Sabouraud’s über die Alopecia areata viel mehr bei der Syphilis 
als bei jener Erkrankung anzunehmen, dass Toxine einen deletären 
Einfluss auf die Haarpapillen erzeugen, wodurch der Haarausfall 
bedingt wird. Dieser Einfluss ist aber nur vorübergehend, denn der 
Haarersatz vollzieht sich unter dem Einfluss einer antisyphilitischen 
Therapie und der damit einhergehenden Abtötung des Syphilisvirus 
auffällig schnell. Darin liegt die beste Widerlegung der alten Ansicht, 
dass die Alopecia syphilitica durch den Quecksilbergebrauch herbei- 
geführt werde. Aber gerade im Gegensatze zur Alopecia areata 
kommt es bei der Alopecia syphilitica nach meiner Erfahrung nicht 
vor, dass jemals ein Recidiv auftritt, oder am Körper die Flaum- 
haare ebenfalls ausfallen. Freilich kann auch bei schweren Lues- 
formen besonders der Lues maligna sive galoppans ein enormer Haar- 
ausfall erscheinen, der sich sogar auf die Augenbrauen, die 
Wimpern, den Bart, die Achselhóblen und Geschlechtsteile erstreckt. 
Indessen gehört dies zu den allergrössten Ausnahmen und kommt 
nur bei marastischen, durch Alkoholmissbrauch stark herunter- 
gekommenen Individuen zugleich mit pustulösen Syphiliden vor. 
Fournier salı besonders oft den Haarausfall an den Augenbrauen 
auftreten und hält ihn für verdächtig auf Lues besonders bei Frauen. 
Im Gegensatze zu diesem mithin durch Fernwirkung zu erklärenden 
Haarausfalle behauptet Giovannini (Monatshefte für praktische 
Dermatologie Band XVI Nr. 4, 1893) das Vorhandensein eines peri- 
vaskulären Leukocytenexsudats, welches vorzugsweise die Haarfollikel 
an ihrem unteren Teile befalle. Nur in den Fällen schwerer 


21 
syphilitischer Alopecie sei auch der obere Teil des Haarfollikels 2u- 
weilen von der Exsudation betroffen. Selten treffe man Leukocyten 
in der Papille an, und wenn dies der Fall stets in ganz geringer 
Zahl. Nie aber finde man Leukocyten zwischen den unmittelbar um 
diese herumliegenden Zellen des Haares. 

Es werden jedenfalls noch weitere Untersuchungen abzuwarten 
sein, ob diese Befunde für alle oder viele Fälle von Alopecia 
sypbilitica zutreffen. Auffällig wäre immerhin in schwer zu er- 
kennender Übereinstimmung mit diesen hochgradigen anatomischen 
Befunden der leichte Haarersatz, der sich in verhältnismässig ausser- 
ordentlich kurzer Zeit bei diesen Patienten vollzieht. Die Prognose 
ist stets eine günstige, es stellt sich niemals eine dauernde Alopecie 
ein. Ausser einer allgemeinen Therapie ist besonders der lokale 
Gebrauch von weisser Präcipitatsalbe oder Sublimatwaschungen zu 
empfehlen. 

Als Begleiterscheinung dieser Alopecia, aber oft genug auch 
unabhängig davon erscheint auf dem behaarten Kopfe als Zeichen 
der konstitutionellen Lues eine Roseola. Dieselbe zeigt genau den- 
selben Typus wie das vulgäre auf dem Körper verbreitete makulöse 
Syphilid. Viel häufiger aber beobachtet man ein kleinpustulöses 
Syphilid, die Akne syphilitica. 

Die Patienten haben gewöhnlich selbst schon auf dem Kopfe 
ein Exanthem bemerkt und machen den Arzt auf dasselbe aufmerk- 
sam. Man findet meist erst bei genauerem Zusehen nur wenige, 
stecknadelkopf- bis hanfkorngrosse Pusteln, welche von einem braun- 
roten Hofe umgeben sind und eine spezielle Vorliebe für die Gegend 
der Follikel zeigen. Diese Pusteln sitzen meist isoliert und in ge- 
ringer Zahl verteilt, nur selten konfluieren mehrere und es zeigen 
sich als Resultat dieser gruppenförmigen Zusammensetzung grössere 
Krusten. Die Pusteln entwickeln sich langsam und bleiben unbe- 
handelt wochenlang stationär. Nach der Abheilung hinterlassen sie 
kleine punktförmige auf die Follikel beschränkte Narben, welche 
aber meist so unscheinbar sind, dass sie leicht übersehen werden. 

Vom diagnostischen Standpunkte hat diese Akne syphilitica ein 
grosses Interesse. Sie fügt sich vollkommen in die Symptomatologie 
der Lues ein, wobei wir vor Allem die syphilitischen Hautaffektionen 
als Exanthemata mixta betrachten müssen. Während z. B. beim 
Ekzem, bei der Psoriasis, bei der Akne varioliformis und vielen 


anderen Dermatosen das Exanthem des behaarten Kopfes genau dem 
entspricht, welches wir auf dem übrigen Körper konstatieren können, 
ist dieses bei der Syphilis nicht der Fall. Wir haben auf dem Körper 
ein makulopapulöses und auf dem Kopfe finden wir bereits ein 
kleinpustulöses Syphilid, eine Akne syphilitica, wozu dann als unter- 
stützendes Moment Schleimhauterkrankungen etc. kommen. Es leuchtet 
ein, welch ein wichtiges diagnostisches Moment diese Art der Be- 
urteilung der Exantheme für den Praktiker hat. 

Während dieses kleinpustulöse Syphilid in der Regel, ja man 
kann sagen fast immer, in dem Friihstadium der Lues den behaarten 
Kopf befällt, bleibt diese Körperstelle in dem weiteren Verlaufe der 
konstitutionellen Lues meist von Eruptionserscheinungen verschont. 
Die vielfach recidivierenden Hautaffektionen, wie sie oft genug den 
Patienten und auch den Arzt zur Verzweiflung bringen, lassen 
gewöhnlich den behaarten Kopf frei. Nur im Spätstadium der Lues, 
oft 2:-—3 Jahre nach der Infektion, nicht selten aber auch bedeutend 
später, beanspruchen gummöse Erscheinungen auf der Kopfhaut eine 
energische Behandlung. Ebenso wie an anderen Körperstellen 
haben wir auch hier die in die Fläche und die in die Tiefe sich 
erstreckenden Infiltrationen zu unterscheiden. Bei den ersteren 
zeigen sich teils annuläre, teils in guirlandenform ausgebreitete 
oberflächliche derbe Knoten, die an vielen Stellen bereits pustulös 
zerfallen sind. Da sie dem Patienten nur geringe Beschwerden 
verursachen, so bekommt sie der Arzt meist erst nach längerem 
Bestande zu sehen und findet nun an der Haargrenze, oft aber auch 
am Hinterkopfe oder jedem beliebigen anderen Teile der Kopfhaut, 
die typischen derben tuberösen Syphilide, welche wir auch an 
anderen Körperstellen als immerhin gutartige Formen der gummösen 
Lues kennen. Sie fallen nach einer specifischen Behandlung einer 
Resorption anheim und hinterlassen keinen Haarausfall. Im Gegen- 
satze dazu stellen die gummösen in die Tiefe sich erstreckenden 
Infiltrationen die schwereren Formen des Krankheitsprozesses dar, 
weil sie sehr leicht zum Zerfall neigen und nach der Abheilung 
mit Narbenbildung natürlich ein dauernder irreparabler Haarausfall 
folgt. Diese letzteren Formen zeigen durch spontane Vernarbung 
im Centrum und peripherisches weiteres Fortschreiten der Infiltration 
den Typus der ulcerösen, serpiginösen Syphilide an. Die Tiefen- 
ausdehnung dieser Zerfallserscheinungen geht gewöhnlich nicht bis 


23 

auf den Knochen, wenn nicht noch eine selbstindige syphilitische 
Knochenaffektion hinzutritt. Meist wird nur die Haut mitsamt der 
Fascie und den Muskeln bis auf das Periost afficiert und als End- 
resultat stellen sich dann tiefe eingezogene Narben ein, in welchen 
natürlich die Haarfollikel einbezogen sind, wodurch dauernder Haar- 
verlust die Folge ist. Diese Affektion verursacht dem Patienten 
erhebliche Beschwerden und verunstaltet ihn nicht unwesentlich. 

Die Diagnose ist leicht. Es giebt keinen andern Prozess, welchen 
man mit diesen auf sypbilitischer Grundlage beruhenden Ulcerationen 
verwechseln kann. Weder in der Anamnese, noch in den objektiven 
Erscheinungen des übrigen Körpers braucht irgend ein Anhalt zur 
Unterstützung der Diagnose der ulcerösen Syphilide auf der behaarten 
Kopfhaut vorzuliegen. Ganz allein aus dem ebengeschilderten Be- 
funde der geschwürigen Zerfallsflächen, welche in der Mitte schon 
spontane Abheilung zeigen und in der Peripherie mit einer erheb- 
lichen Infiltration fortschreiten, liegt eine genügend gesicherte Diag- 
nostik. Subjektive Beschwerden brauchen während des Verlaufes 
der Affektion nicht zu bestehen. Zuweilen stellen sich Kopfschmerzen 
ein, welche aber nach geeigneter Therapie bald verschwinden. Nicht 
selten recidiviert der ulceröse Prozess gerade an den schon früher 
betroffenen Stellen, und an den narbigen Partien bildet sich nach 
mehr oder weniger langer Zeit wieder von Neuem ein ulceröses 
Syphilid, welches zu einer weiteren spezifischen Behandlung auffordert. 

Bei allen Formen der Lues ist neben der spezifischen Behandlung 
niemals die lokale Therapie zu verabsäumen. Weisse Präcipitatsalbe, 
bei den ulcerösen Formen Sublimatumschläge (1,0:500,0) oder Auf- 
puderung von Calomel beeinflussen oft ganz rapide den Ablauf der 
Erkrankung. 

Für heute, m. H.! habe ich Ihnen die wichtigsten Affektionen 
der behaarten Kopfhaut zusammengestellt. Ich hoffe, recht bald 
einmal Gelegenheit zu haben, in einem Schlussvortrage die übrigen 
Dermatosen, welche sich auf der Kopfhaut lokalisieren, mit Ihnen 
ebenso ausführlich besprechen zu können. 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. u 
Druck von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 
an den oben genannten Redaktenr, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 





Die erworbene Immunitat bei den Infections- 


krankheiten des Menschen. 


Von 
Dr. Adolf Gottstein, Arzt in Berlin. 





Es ist ein eigenthümlicher, für unsere gesammte Zeitströmung 
charakteristischer Zug, dass auf allen Gebieten selbstständiger Be- 
thátigung, bei welchen es sich um die Förderung unserer Leistungs- 
fähigkeit handelt, die Gewinnung neuer thatsächlicher Feststellungen 
bedeutend höher geschätzt wird, als die Prüfung des schon vor- 
handenen Materiales auf seine Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit. 
Nicht blos in der Tagespolitik ist das Schlagwort herrschend, dass 
etwas Positives geleistet werden müsse; fast alle die berechtigten 
Bestrebungen auf dem Gebiete der ärztlichen Standesfragen, welche 
augenblicklich die Mediciner auf das Lebhafteste beschäftigen, kranken 
an diesem Zuge nach positiven Leistungen. Denn die berufenen 
Vertreter der ärztlichen Interessen haben eine merkwürdige Scheu 
davor, ihre mit Scharfsinn und Sachkenntniss durchgeführte Prüfung 
von Missständen, die im Laufe der Jahrzehnte hervorgetreten sind, 
damit abzuschliessen, dass sie einfach deren Beseitigung fordern; sie 
glauben ihre Aufgabe erst dann erledigt zu haben, wenn sie 
irgend einen kleinen, der erst geleisteten kritischen Aufgabe gegen- 
über ganz nebensächlichen und oft überflüssigen Verbesserungs- 
vorschlag hinzugefügt haben. 

Es liegt eine gewisse einseitige Ueberschätzung in diesem Zuge 
der Zeit, einer jeden noch so unwesentlichen positiven Thatsache den 
Vorzug vor der oft viel wichtigeren kritischen Revision des alten 
Bestandes unserer Anschauungen zu geben, und doch beginnt diese 
Anschauung jetzt auch auf dem Gebiete unserer Wissenschaft 
herrschend zu werden. Bezeichnend für diese Richtung ist es, dass 
z. B. Soltmann seine sehr sorgfältige Arbeit „Ueber die Erfolge 
mit Diphtherieheilserum‘ aus dem Jahre 1896 nicht treffender 


schliessen zu können glaubt, als mit dem Citate: 
l 


2 


„Das ist die richtigste Kritik von der Welt, 
Wenn neben das, was ihm missfällt, 
Einer etwas Eigenes und Besseres stellt!“ 

Bei aller Hochachtung vor den thatsächlichen Errungenschaften 
fleissiger Forschung wird dieser Standpunkt des einseitigen Gelten- 
lassens positiver Errungenschaften durch die Geschichte der Wissen- 
schaft nicht als berechtigt hingestellt Man braucht nicht nur auf 
Thatsachen ersten Ranges hinzuweisen, wie die Umstossung der Lehre 
von der Bewegung der Sonne um die Erde oder den Beweis, dass 
ein Perpetuum mobile nicht möglich sei, um darzuthun, dass zuweilen 
die Beseitigung herrschender Anschauungen einen grösseren Fort- 
schritt in der Erkenntniss herbeiführen sollte, als die meisten 
positiven Leistungen. Schon unsere ganze moderne praktische Städte- 
Hygiene ist ein lebendiges Beispiel für den Werth, welchen oft 
ausschliesslich negative Maassnahmen besitzen. Die modernen 
Städteerbauer reissen ganze Häuserviertel ab, um Licht und Luft in 
die mittelalterlich engen Strassen eindringen zu lassen, und hüten 
sich wohl, die entstandenen Lücken durch provisorische Bauten sofort 
wieder auszufüllen; und der Brand der Stadt Kopenhagen im Jahre 
1728 hat mehr zur Verminderung der Seuchengefahr beigetragen, als 
je eine frühere positive Maassnahme. Man darf sich daher nicht 
scheuen, eine directe Förderung der Wissenschaft auch darin zu 
finden, dass man durch sichere Beweise die Unhaltbarkeit einer alten 
Anschauung darthut. Die Nothwendigkeit eines solchen Vorgehens 
kann nicht bestritten werden, wenn man sich vergegenwärtigt, auf 
welch’ unsicherem Boden oft solche grundlegenden Theorieen ihrer 
ganzen Entstehungsweise nach ruhen. Irgend eine merkwürdige 
thatsächliche Beobachtung, deren Erklärung der augenblickliche Stand 
unseres Wissens noch nicht zulässt, findet immer wieder Bestätigung; 
es knüpfen sich mannigfaltige Begründungsversuche experimenteller 
Natur an sie an, analoge Beobachtungen von oft ganz äusserlicher 
Aehnlichkeit werden mit ihr in Verbindung gebracht, die Tradition 
von Geschlecht zu Geschlecht führt zu einer ungerechtfertigten Ver- 
allgemeinerung; die Ueberzeugungskraft, welche das Alter der immer 
wieder überlieferten Lehre verleiht, selbst in ihrer durch Nichts be- 
gründeten Verallgemeinerung, macht gegen jede Kritik blind, und so 
ist ein Dogma entstanden, dessen Beweis von Niemand mehr für er- 


3 


forderlich gehalten wird, welches aber die Grundlage fir weitest- 
gehende Folgerungen abgiebt. 

In sehr interessanter Weise lässt sich diese Erscheinung an einer 
der ältesten Thatsachen der menschlichen Pathologie betrachten, welche 
im Laufe der Jahrhunderte merkwürdige Verallgemeinerungen erfuhr, 
welche in neuester Zeit mit zwei der interessantesten Theorien ver- 
knüpft wurde und welche heute noch so unerklärlich für uns ist, 
wie je zuvor. Es ist dies die Thatsache, dass gewisse Infections- 
krankheiten den Menschen in seinem Leben nur einmal befallen und 
dass ein Mensch, welcher eine dieser Krankheiten durchgemacht hat, 
selbst bei der ausgesprochensten Gelegenheit, sie später wieder 
zu erwerben, doch nicht ein zweites Mal erkrankt, während andere 
Individuen in gleicher Lage fast regelmässig Gefahr laufen, die 
Krankheit zu bekommen. Diese Thatsache ist der Beobachtung ent- 
nommen, und es ist nur die Aufgabe der prüfenden Nachunter- 
suchung, festzustellen, in wie weit diese Beobachtung richtig ge- 
wonnen ist, um sie dann in Form der Bestätigung anzuerkennen. 
An diese Thatsache wurde aber sofort ein Schluss angeknüpft, dass 
es nämlich der Vorgang der überstandenen Krankheit selbst sei, 
welcher die Wiedererkrankung verhindere. Dieser Schluss ist nahe- 
liegend und vielleicht im Einzelfall richtig, er braucht es aber nicht 
zu sein; denn, wie ich an anderer Stelle als Beispiel anführte, ist 
es schwer, in einer Lotterie mit ungünstigen Chancen zweimal das 
grosse Loos zu gewinnen und doch schliesst Niemand aus diesem 
Ereigniss, dass die Erlangung des Hauptgewinns gegen eine 
zweite Gewinnaussicht immunisire, sondern man findet in dieser 
Thatsache eine natürliche Folge der Wahrscheinlichkeitsgesetze. Der 
obige Schluss muss also in Bezug auf seine Richtigkeit noch be- 
sonders für jeden Fall bewiesen werden. Später hat man dann jene 
thatsächliche Beobachtung mit zwei anderen wissenschaftlichen Er- 
rungenschaften in Verbindung gebracht. Zuerst nämlich verknüpfte 
man die ganze Frage mit der Jenner’schen Entdeckung der 
Vaccination, welche mit Hilfe der erworbenen Immunität nach spon- 
taner Erkrankung erklärt werden sollte. Der innere Zusammenhang 
lag nahe, er wurde durch das vorher sehr verbreitete Verfahren der 
Variolation, der Einimpfung echter Pocken zur Erzeugung einer 


milderen Form der Krankheit abgegeben. Denn die mittelalterliche 
1.* 


4 


Anschauung, dass jeder Mensch drei Krankheiten zu überstelien 
habe, die Pocken, die Masern und die Krätze, galt für Europa unter 
den verheerenden Pockenepidemien des 18ten Jahrhunderts wenigstens 
noch bei den ersten zwei Seuchen als sicher und schaffte der von 
Lady Montague dort eingeführten Methode der Pockeninoculation 
bis zur Entdeckung Jenner’s ein weites Feld. Die prophylactische 
Wirksamkeit der Kuhpockenimpfung ist durch so sichere epidemio- 
logische und ‚klinische Beobachtungen dargethan, als zu erbringen 
überhaupt möglich; aber es wird Niemand bestreiten können, dass 
bei der Schutzpockenimpfung und bei der durch Ueberstehen einer 
echten Pockenerkrankung erzeugten Unempfänglichkeit zwei durchaus 
verschiedene pathologische Vorgänge auftreten, deren einer durch 
den anderen nicht ohne weiteres erklärt wird. 

An die Erfahrungen mit der Kuhpockenimpfung knüpfte nun 
zweitens Pasteur zielbewusst seine berühmten Versuche der speci- 
fischen Immunisirung an; diese waren zuerst bei der Hühnercholera 
von Erfolg begleitet und der enge Zusammenhang mit der Jenner’schen 
Entdeckung wird am besten durch die Thatsache gekennzeichnet, 
dass Pasteur selbst auf die zur Schutzimpfung dienenden Stoffe, 
ursprünglich künstlich abgeschwächte Culturen, den noch heut in Frank- 
reich üblichen Namen der »Vaccins« einfach übertrug. Welche 
Wandlungen im Laufe der nächsten 15 Jahre die Lehre von der 
experimentellen specifischen Immunität erfuhr und wie vicle ver- 
schiedene Formen derselben aufgestellt wurden, darf als bekannt 
vorausgesetzt werden. Als besonders bezeichnend für die Wandlungen 
der Forschung kann die Thatsache gelten, dass diejenige Krankheit, 
an welche Pasteur zuerst heranging, die Hühnercholera, nach den 
neuesten Versuchen von O. Voges gar keine specifische Immuni- 
sirung beansprucht, sondern dass die gleiche Wirkung, welche 
Pasteur zuerst durch abgeschwächte identische Culturen erzielte, 
auch durch Einspritzung des Serums beliebiger, niemals an Hühner- 
cholera erkrankter Thiere herbeigeführt werden kann; es liegt daher 
nach der Bezeichnung von Voges dieser experimentell erzeugten 
Form der Immunität nur eine nicht specifische Resistenzwirkung 
zu Grunde. Die Thatsache der spontan erworbenen Immunität bei 
menschlichen Infectionskrankheiten mit dem Umwege über die 
Jenner’sche Entdeckung bildet nun die theoretische Grundlage, von 


5 


welcher die Forscher über experimentelle Thierimmunität die Be- 
rechtigung zu ihren Forschungen herleiten. So sagt z. B. Paul 
Ehrlich: „Eine der vornehmsten Aufgaben der Medicin besteht in 
der Lösung der Frage, wie der thierische Organismus gegen die 
Infectionen geschützt werden kann ...... Hat ja doch die Natur 
selbst durch das seit uralten Zeiten bestehende Räthsel, wonach ein 
Organismus, der einmal von einer bestimmten Infectionskrankheit 
befallen, vor der gleichen für längere Zeit, sogar für immer geschützt 
war, den Weg vorgeschrieben, der dem erwünschten Ziele 
zufiihrt.1)“ 

Wenn nun der Nachweis gelänge, dass dieses „uralte Räthsel 
der Natur“ in seiner Gesetzmässigkeit gar nicht besteht, so wären 
damit die Ergebnisse der experimentellen Immunitätsforschung selbst- 
verständlich nicht gefallen, aber einfach deshalb nicht, weil beide 
Erscheinungen überhaupt nichts mit einander zu thun haben, weil 
sie nur durch den geschichtlichen Gang der Forschung willkürlich 
in einen Zusammenhang gebracht worden sind. Man kann die Frage 
von dem Eintreten einer erworbenen Immunität des Menschen nach 
der spontanen Ueberwindung einer Krankheit ganz losgelöst von der 
Frage der experimentellen specifischen Thierimmunität und auch ohne 
Berücksichtigung der verschiedenen Erklärungsversuche an der Hand 
der geschichtlichen Ueberlieferung und der klinischen Prüfung unter- 
suchen. 

Die erste Frage ist die nach den Krankheiten, von welchen 
überhaupt die Beobachtung festgestellt haben will, dass deren ein- 
maliges Ueberstehen gegen das Wiedererkranken schiitze. Bei der 
Durchsicht der Litteratur ist man überrascht, wie verschiedenartig die 
Angaben sind. Nur über den einen Punkt besteht Einheit, dass 
einer bestimmten Anzahl von Infectionskrankheiten diese Eigenschaft 
des Schutzes gegen Wiedererkrankung durchaus abgeht. Diese Krank- 
heiten sind Lungenentzündung, Gelenkrheumatismus, Erysipel, Gonor- 
rhoe, Malaria. Für eine zweite Gruppe steht die Frage aus äusseren 
Gründen ganz abseits jeder Discussion. Der Tetanus, der Milz- 
brand des Menschen, stellen immerhin so seltene und schwere Er- 
krankungen, die Tuberculose und Lepra so unheilbare und chronische 
Seuchen dar, dass die Entscheidung überhaupt unmöglich und auch 


1) Zeitschrift für Hygiene. Bd. XII. S. 183. 


gleichgiltig ist. Wenn wir aber aus der Litteratur, um nur den 
Widerspruch der Ansichten zu verzeichnen, einige vereinzelte An- 
gaben machen, so sagt Lotze?): „Während Typhus (exanthematicus?), 
Pest u. s. f. den Menschen mehrmals befallen können, kommen 
wiederholte Erkrankungen an Scarlatina, Masern, Blattern höchst 
selten vor, wenn auch die Meinungen von ihrer gänzlichen Unmöglich- 
keit, die man sonst hatte, durch neuere Krfahrungen erschüttert und 
widerlegt worden sind.“ Wagner’) nennt Masern, Scharlach, Keuch- 
husten, Gelbfieber, vielleicht auch Sypbilis. Bei anderen Krankheiten 
schütze das einmalige Ueberstehen viel weniger vor neuer Erkran- 
kung; am meisten bei Abdominaltyphus, weniger bei Pocken und 
Diphtheritis, am wenigsten bei Recurrens. Von neueren Autoren 
sagt Gartner‘), dass das Ueberstehen von Pocken, Masern, Schar- 
lach, Flecktyphus vor abermaliger Erkrankung schütze; Baum- 
garten?) führt ausser Masern, Scharlach und Pocken nur die Syphilis 
an, C. Fränkel) in seinem Grundriss Masern, Scharlach, Pocken 
„und Andere“, während Rubner’) ausser den drei acuten Exan- 
themen noch Typhus und Cholera erwähnt, die Syphilis aber sogar 
zu den Krankheiten rechnet, welche, wie Tuberkulose, Erysipelas, 
Gonorrhoe, den Organismus selbst noch empfänglicher für die 
gleiche Schädlichkeit machen. M. Gruber spricht in einem vor 
Laien gehaltenen Vortrag ganz allgemein davon, dass zwar nicht bei 
allen, aber bei vielen Infectionskrankheiten erworbene Immunität be- 
stände und Maiselis®), der neueste Autor speciell auf diesem Ge- 
biete, ist sogar der Ansicht, ganz auf die Experimente am Thier 
gestützt, dass die erworbene Immunität wahrscheinlich bei allen In- 
fectionskrankheiten des Menschen zu Tage trite. Für die von den 
anderen Autoren ausser Wagner nicht genannte Diphtherie nimmt 
Baginsky an, dass die einmalige Erkrankung nicht ganz vor der 
Wiedererkrankung schütze, doch träte, namentlich nach erstmaliger 
schwerer Erkrankung, die Wiedererkrankung meist nur leicht auf. 


7) Pathologie und Therapie 1848, S. 585. 
») Uhle und Wagner 1876, S. 191. 

1) Leitfaden der Hygiene, II. Aufl., S. 327. 
5) Pathol. Mykol. I 87. 

® IH. Aufl., S. 195. 

1) IV. Aufl., S. 926. 

8) Virch. Arch., Bd. 137. 


7 


Andere Autoren sind auf Grund ihrer Einzelerfahrungen für die 
Diphtherie zu einem entgegengesetzten Schluss gekommen, ein Be- 
weis, wie unzuverlässig hier das subjective Ermessen und die Einzel- 
beobachtung für die Entscheidung der Frage ist. Wenn wir zu- 
sammenfassen, so werden von allen Autoren Pocken, Masern und 
Scharlach als immunisierende Krankheit bezeichnet, von einzelnen 
anderen noch die beiden Typhen, Keuchhusten, Gelbfieber, Syphilis, 
Recurrens, Cholera asiatica und Diphtherie. Die zweite Frage, 
die entsteht, ist diejenige nach den Beweisen auf dem Wege der 
Beobachtung, welche den Satz von der erworbenen Immunität er- 
härten sollen. Diese Beweise sind nun überraschend dürftig und für 
die Verallgemeinerung nicht gerade günstig. Soweit mir die Litte- 
ratur bekannt geworden, liegen nur vier Gruppen von Thatsachen 
vor. Zunächst ist bei den Pocken trotz deren grosser Verbreitung 
in der Bevölkerung und trotz der Häufigkeit der Epidemien, 
welche ein Irregehen sehr schnell corrigirt hätte, die Ueberzeugung 
von dem Schutz, welchen das einmalige Ueberstehen verleihe, eine 
so allgemeine und durch Jahrtausende überlieferte, dass es schwer 
fällt, Zweifel an dieser Annahme zu begründen. Denn wenn auch 
zugegeben werden muss, dass zahlreiche Fälle von Wiedererkrankung 
mitgetheilt werden und dass bei dem unerschütterten Glauben an 
die Theorie viele dieser Annahme widersprechende Fälle nicht ge- 
nügend gewürdigt worden sind, so war bis zu diesem Jahrhundert 
die Seuche eine zu verbreitete und schwere, die Beschränkung auf 
die Kinder als vorzugsweise noch nicht befallene Individuen im Gegen- 
satz zu späteren Zeiten des Impfschutzes eine zu häufige Er- 
scheinung, als dass die Lehre von der erworbenen Immunität nach 
Ueberstehung der Pocken hätte Bestand haben können, wenn nicht 
sehr zwingende Thatsachen für diese gesprochen hätten. Die 
zweite Gruppe von Thatsachen, welche ebenso beweisend erscheint, 
betrifft die Masern und zwar gerade in solchen Gebieten, welche 
durch Abschluss von der Aussenwelt jahrzehntelang vor der Ein- 
schleppung bewahrt geblieben waren. Auch an solchen Orten verlieren 
die Masern, genau wie die Pocken nach Einführung der Impfung, 
ihren Character als ausschliessliche Kinderkrankheit, die Erwachsenen 
besitzen die gleiche Empfänglichkeit, deren Fehlen in unserer Gegend 
also nur in der Durchseuchung ihre Erklärung findet; und trotz 


der Länge der Epidemie und der Kürze der Krankheit wurde auf 
dem Faroerinseln unter den von Panum beobachteten Erkrankten 
nicht einer zweimal von den Masern befallen, bei einer Ausdehnung 
der Epidemie, welche von 7182 Einwohnern über 6000 ergriff. 

Ungleich viel werthloser ihrer Beweiskraft nach sind die beiden 
letzten Thatsachen, welche für die Theorie ins Feld geführt werden. 
Hierher gehört zunächst die berühmte Stelle aus dem Thucydides, 
in seiner Schilderung der atheniensischen Pest des Jahres 430 v. Chr. 
Bei dieser sehr ausgedehnten und tödtlichen Seuche, über deren 
Natur noch heute die Meinungen getheilt sind, welche aber wahr- 
scheinlich typhösen Charakters war, nahmen sich die von der Krank- 
heit Genesenen der Leidenden an, weil sie sich selbst in Sicherheit 
befanden. Diese Stelle wird vielfach, so auch von Hueppe, als 
Beweis für die erworbene Immunität citirt. Bei der Einsicht in das 
Original bekommt sie aber eine ganz andere Bedeutung. Thucydides”) 
sagt wörtlich: ,,dic yao tov avróv, Gate xal xtElvery, o0x 
Eidußavev.‘ Es kam also ohne Weiteres vor, dass Jemand zwei- 
mal erkrankte, aber die Krankheit verlief das zweite Mal ebenso 
wenig tödtlich, wie das erste Mal. Wer bei dieser mörderischen 
und dabei nicht lange anhaltenden Seuche eine so hohe Widerstands- 
kraft besessen, dass er nicht starb, fiihlte sich sicher genug, der 
Ansteckungsgefahr zu trotzen, denn er hoffte auch ein zweites Mal 
jeue Krankheit zu überstehen und er galt, wie Thucydides aus- 
drücklich hinzugefügt, einmal einer solchen Gefahr entronnen, nicht 
nur in seinen Augen, sondern auch in denen seiner Umgebung als 
gefeit gegen diese und selbst gegen alle Seuchen. Haeser hat die 
Stelle daber durchaus richtig aufgefasst, wenn er aus ihr geradezu 
den Schluss herleitet, dass die Seuche des Thucydides nicht die 
Pocken gewesen sein können, denn „dann hätte das Ueberstehen der 
Krankheit für eine weit längere Zeit Schutz gewährt.“ 10) 

Beweisend für die erworbene Immunität ist jene Stelle also nicht. 

Noch werthloser sind einige epidemiologische Notizen aus der 
Seuchengeschichte des Mittelalters. Da wird z. B. erzählt, dass in 
einer Stadt von 10,000 Einwohnern dreiviertel durch den schwarzen 
Tod oder andere Seuchen dahingerafft wurden und nur wenige ver- 


% Thucydides II, Cap. 51 Par 6. 
1°) Geschichte der Medicin. III, 14. 


y 


schont blieben; die Bevólkerung ergiinzte sich aus der Umgebung, 
und wenn die Seuche im nichsten Jahr wiederkam, ergriff sie grade 
die Zugezogenen und nur wenige von denen, die auch das erste 
Mal verschont geblieben waren. Oder die Seuche befiel in dem 
einen Jahre das eine Stadtviertel, im nächsten aber einen vorher 
verschont gebliebenen anderen Stadttheil. Solche Beobachtungen 
sind zu vieldeutig und uncontrollierbar, um als Beweise zu dienen. 

Es bleibt daher nur für Pocken und Masern der durch die 
Beobachtung mit grosser Ueberzeugungskraft geführte Beweis übrig, 
dass diese Seuchen den Menschen im Allgemeinen nur einmal be- 
fallen und es wird dieser Schluss durch die sicher festgestellte That- 
sache nicht erschüttert, dass vielfach auch einzelne Menschen zweimal 
und noch häufiger Masern und Pocken erworben haben. Für die 
sämmtlichef andern, von den Autoren angeführten Krankheiten ist 
aber, für jede besonders, der Beweis zu liefern, dass deren Erkrankung 
im Allgemeinen bei jedem Menschen nur einmal zum Ausbruch 
gelange. Es kann nicht bestritten werden, dass in vielen Fällen die 
Beobachtung den Beweis für die Behauptung zu liefern gar nicht in 
der Lage ist. Wenn für die Pocken und Masern, bei der allgemeinen 
Empfänglichkeit für diese Seuchen, es Jedem auffallen musste, dass 
die Durchseuchten trotz ergiebigster Gelegenheit zur Ansteckung und 
trotz innigster Berührung mit Leidenden von der Wiedererkrankung 
doch verschont blieben, so kann dieser selben Thatsache in den 
Fällen von Scharlach, Abdominaltyphus, Cholera und selbst von Stick- 
husten nicht die mindeste Beweiskraft zugesprochen werden. Denn 
dass ein der Ansteckung ausgesetzter Mensch von jenen Seuchen 
trotzdem nicht befallen wird, selbst wenn eine Ersterkrankung nicht 
vorausgegangen ist, ist auch sonst nichts ungewöhnliches. Direct 
trügerisch ist aber die Stütze der „grossen persönlichen Erfahrung“. 
Auf die Thatsache, dass ein Arzt selbst mit sehr grossem Kranken- 
materiale selten oder nie Gelegenheit hatte, an denselben Individuen 
zweimalige Erkrankungen an Abdominaltyphus oder Diphtherie zu 
sehen, dürfen doch nicht weittragende Schlüsse aufgebaut werden. 
Die Beobachtungszeit ist selbst bei jahrzehntelanger Berufsthätigkeit 
keine so lange, um dem Einzelnen die Entscheidung zuzubilligen, 
besonders bei Krankheiten, welche mit Vorliebe an ein bestimmtes 
Lebensalter gebunden sind, und bei Patienten, welche im Laufe der 


10 


Jahre Aufenthalt und Arzt wechseln. Wenn ein Mensch im Laufe 
von zwanzig Jahren zweimal den Abdominaltyphus erwirbt, was an 
sich schon selten genug sich ereignen wird, so wäre es ein merk- 
würdiger Zufall, dass beide Male gerade derselbe Arzt die Behandlung 
übernimmt; und ein Arzt, welcher die zweite Erkrankung sieht, wird 
eher geneigt sein an eine frühere falsche Diagnose zu glauben, ehe 
er an dem Dogma der durch die Erkrankung erworbenen Immunität 
zweifelt. Wenn trotzdem immer wieder bei der Entscheidung wichtiger 
Probleme, deren Lösung über das Vermögen eines Einzelbeobachters 
einfach hinausgeht, als Beweismittel die subjective persönliche Er- 
fahrung ins Feld geführt wird, so liegt hierin nur ein neuer Beweis 
für die in der Medicin so häufige Verkennung der Methodik und die 
unmathematische Denkweise vieler Aerzte. 


Es giebt, wie ich schon früher betont habe!!), zur Entscheidung 
dieser Frage nur eine einzige brauchbare Methode, diejenige der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn man die Wahrschein- 
lichkeit irgend eines Ereignisses ermittelt hat, eine Grösse, welche 
durch einen echten Bruch ausgedrückt wird, und wenn die Wahr- 
scheinlichkeit eines zweiten Eintreffens den gleich günstigen Voraus- 
setzungen unterliegt, so ist die Wahrscheinlichkeit dieses zweiten 
Eintreffens das Quadrat der ersten Wahrscheinlichkeit, also viel ge- 
ringer. Darum ist es, wie Gläser sagt, selbstverständlich sehr selten, 
dass Jemand zweimal denselben Fuss bricht, obgleich ein Unterschied 
für die Wahrscheinlichkeit des wiederholten Vorgangs nicht besteht. 
Bei den Infectionskrankheiten aber ist aus drei Gründen die Wahr- 
scheinlichkeit der zweiten Erkrankung niemals so gross, wie die der 
ersten. Denn viele Infectionskrankheiten sind an ein bestimmtes 
Lebensalter gebunden, wie die Diphtherie, und wenn der erstmalig 
Erkrankte zum zweiten Male nach ‘Jahren Gefahr läuft, sich zu in- 
ficieren, ist er oft dem disponierten Alter schon entrückt. Andere 
Erkrankungen wieder, wie die Cholera, Flecktyphus und Recurrens, 
treten in so seltenen, kurz dauernden Epidemien auf, dass vielleicht 
nie wieder dem Einzelnen Gelegenheit geboten ist, mit der Seuche in 
Berührung zu gelangen. Aehnlich liegt auch die Frage für Ab- 
dominaltyphus, dessen Morbidität in den letzten zwei Jahrzehnten 


11) Epidemiologische Studien über Diphtherie und Scharlach, Springer 1895. 


11 


in unseren Grossstädten erheblich gesunken ist. Drittens vor Allem 
raffen doch besonders mörderische Seuchen, wie Diphtherie, Cholera 
und Pest, gerade die Widerstandslosen in so grosser Zahl hinweg, 
dass die nach der ersten Erkrankung Ueberlebenden häufig gerade 
die Widerstandsfähigeren, die »Durchgesiebten« bilden, für welche 
an sich die Wahrscheinlichkeit wieder zu erkranken oder gar der 
zweiten Erkrankung zu erliegen, beträchtlich sinkt. 


Für solche Erkrankungen, welche in Epidemien die Bevölkerung 
nur für eine kurze Periode heimsuchen und hierbei, wie bei Fleck- 
typhus, Cholera und Recurrens, überdies noch einen ganz geringen 
Procentsatz der Bevölkerung befallen, ist die Wahrscheinlichkeit 
einer Wiedererkrankung an sich so gering, dass die Feststellung nur 
weniger gut beobachteter Fälle genügt, um das Dogma von der durch 
Ueberstehen erworbenen Immunität zu widerlegen. Man kann sich 
dies leicht zahlenmissig an der Hamburger Choleraepidemie des 
Jahres 1892 klar machen, welche, so schwer sie war, doch nur 
wenige Wochen anhielt und nur rund 3°/, der Einwohner befiel. 
Da von den Erkrankten rund die Hälfte starb, so hatten die Ueber- 
lebenden 1!/, °/, höchstens die Wahrscheinlichkeit, wieder zu 3 °/, 
befallen zu werden; es konnten also nur etwa rund 250 Einwohner 
von Hamburg die Aussicht haben, ein zweites Mal zu erkranken. 
Da aber von diesen 250 ein Theil schnell fortgezogen sein wird, wie 
Rumpel!?) ausdrücklich hervorhebt, ein anderer erheblicher Bruch- 
theil wegen veränderter Lebensbedingungen niemals wieder Gefahr 
lief, zu erkranken und da von den Erkrankten doch nur ein be- 
stimmter Bruchtheil den staatlichen Krankenanstalten zuging, so boten 
bei dieser minimalen Wahrscheinlichkeit schon die wenigen in den 
Staatsanstalten zur Beobachtung gelangten Fälle von sicheren Neu- 
erkrankungen einen zwingenden Beweis gegen die Annahme einer 
erworbenen Immunität bei Cholera asiatica, Rumpel führt (l. c.) 
vier solcher Fälle an, welche, nachdem sie 1892 Cholera durch- 
gemacht, in der Nachepidemie 1893 von Neuem erkrankten. Er be- 
merkt hierzu: „Danach schützen weder die sog. Kommainfectionen 
ohne klinische Folgen, noch selbst schwere Erkrankungen gegen eine 
neue Infection. Dass die letztere eine besonders leichte Form der 


12) Berl. klin. Woch. 1894. S. 757. 


12 


Erkrankung zur Folge gehabt hätte, lässt sich nicht behaupten. — 
Rechnet man die Zahl derjenigen, welche im Jahre 1892 Cholera 
überstanden, auf 10000, so ist es im höchsten Grade überraschend, 
dass von diesen bereits im Laufe eines Jahres 4 Personen zum 
zweiten Male erkrankten, bei der ersten Gelegenheit zu einer neuen 
Infection, welche trotz allgemeiner Verbreitung doch nur 0,025 pCt. 
von der Gesamnitbevölkerung befiel (d. i. auf 4000 Einwohner eine 
Erkrankung). 


Schwieriger wird der Beweis für endemische Krankheiten, wie 
die indische Cholera, den einheimischen Abdominaltyphus, die Dipbthe- 
rie, den Keuchhusten, den Scharlach und die Syphilis. Wenn wir 
an die einzelnen Krankheiten herangehen, so lehrt für diejenigen 
Seuchen, bei denen die Aufführung auch nur einiger sicher gestellter 
Fälle zur Widerlegung des Dogmas genügt, die Geschichte folgendes. 
Für die bei uns nur epidemische asiatische Cholera liefern die 
in Hamburg durch Rumpel zur Mittheilung gelangten Fälle von 
Neuerkrankung den allen Anforderungen genügenden Beweis, dass 
eine erworbene Inımunität nicht besteht. Aber, um dies gleich hier 
hervorzuheben, auch für die endemische Cholera Asiens scheinen 
die Erfahrungen, welche Erni Greifenberg!'?) in Atjeh sammelte, 
die gleiche Thatsache zu stützen. Er sagt: »Dass nur wenige Per- 
sonen bei einer hohen Choleramortalität in den Fall kamen, zum 
zweiten Mal zu erkranken, ist begreiflich. Indessen gab es in Atjeh 
nicht wenig Leute, die gesund die Epidemien von 1882 und 1883 
durchgemacht hatten, indessen doch noch in der dritten Epidemie 
starben.« Es muss allerdings betont werden, dass die Fassung dieses 
Satzes durchaus unklar ist und Missverstándnisse herausfordert. 
Man wird schwer beweisen können, was der Verfasser mit dem Aus- 
druck »die Epidemie gesund durchmachen« eigentlich gemeint hat, 
ob die Genesung von cinem wirklich überstandenen Anfalle, wie die 
früheren Worte andeuten könnten, oder vielmehr im Gegensatz zu 
diesen Worten die Unempfänglichkeit zu erkranken überhaupt, die 
nicht in jeder Epidemie Stand hielt. 

Bei der Beulenpest, deren Ausbruch in Indien im Jahre 1897 
von besonderem Interesse ist, liegt aus dieser jüngsten Epidemie 


1%) Pettenkofer, Hygienische Tagesfragen. 1889. S. 72. 


13 


noch kein Material vor; von der Pest des Justinian aber um die 
Mitte des sechsten Jahrhunderts, welche mit der Beulenpest zweifel- 
los identisch ist, sagt Evagrius 4) ausdrücklich: »Mehrere, welche 
ein oder zwei Mal ergriffen gewesen und genesen waren, starben, 
wenn sie von Neuem befallen wurden.e Auch von dem jetzt ver- 
schwundenen englischen Schweiss wird wiederholt hervor- 
gehoben, dass mehrfache Erkrankungen nicht zu den Seltenheiten 
gehörten. Recurrens ist eine so selten bei uns auftretende und 
dann nur gewisse Schichten der Bevölkerung befallende Seuche, dass 
es schon als ein Curiosum erscheint, wenn Jemand zweimal Gefalır 
läuft zu erkranken. Und dennoch sagt B. Spitz!5) in seiner be- 
kannten kleinen Monographie über die Breslauer Recurrensepidemie 
im Jahre 1879: »Dass das einmalige Bestehen der Recurrens nicht 
vor einer Erkrankung während derselben Epidemie schützt, ist eine 
bekannte Thatsache, für die ich auch aus dem diesjährigen Material 
ein Beispiel anzufiihren vermóchte. Ebenso kamen einige wenige 
Erkrankungen vor von Individuen, die früher, z. B. im Jahre 1868, 
Recurrens durchgemacht.« Der Flecktyphus wird vielfach als eine 
der Krankheiten angeführt, welche den Menschen nur einmal be- 
fallen. Die Epidemien sind nicht gar so häufig und unter den be- 
troffenen Bevölkerungsschichten auch schwer genug, um gerade die 
Widerstandsunfähigsten hinwegzuraffen. Indess ist es bezeichnend, dass 
gute Beobachter Fälle von Doppelerkrankungen ganz exact fest- 
gestellt haben und dass sie trotz der beweisenden Kraft, welche bei der 
geringen Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses in dem Auf- 
treten mehrfacher Erkrankungen liegt, lieber solche Fälle als Aus- 
nahme bezeichneten, als dass sie das Dogma für hinfällig ansahen. 
So sagt Julius Becher, welcher die Epidemie des Typhus exanthe- 
maticus im Jahre 1868 in Ostpreussen als Arzt durchmachte, wört- 
lich: »Einmaliges Ueberstehen der Krankheit sicherte durchgehend 
vor einer zweiten Erkrankung; College Heymann hat indess 2 
Fälle beobachtet, die, nachdem sie vom Typhus geheilt, entlassen 
waren, kurze Zeit darauf wieder in das Lazareth unter den aus- 
geprägtesten Symptomen der Krankheit gebracht wurden. Einer 


'*) Haeser III. $. 47. 
15) Breslau. Schottländer 1879. $. 5. 


id 


dieser Fälle endete letal!*).“ Also in einer Epidemie von kurzer 
Dauer kamen bei wenig mehr als 300 Lazarethfällen 2 Doppeler- 
krankungen zur Beobachtung, ein Fall auf 160 Menschen. Dass 
es sich hierbei nicht um einfache Recidive gehandelt haben kann, 
geht aus den Beobachtungen Virchows während seiner Thitigkeit 
in Oberschlesien hervor1”). Virchow führt an der genannten Stelle 
mehrere zuverlässige Beispiele von Wiedererkrankung an Flecktyphus 
an, bei welchen der Zwischenraum zwischen den Erkrankungen 
Monate oder Jahre umfasste; einer dieser Fälle endete tödtlich, so 
dass auch von einer Abmilderung durch die Ersterkrankung nicht 
die Rede war. Ein anderer Fall betraf einen Arzt, der schon in 
Prag vor einigen Jahren durchseucht worden war und nun, wie 
jene Krankenpfleger des Thucydides, die sich gefeit glaubten, den 
oberschlesischen Seuchenherd von Berlin aus aufsuchte: »Jetzt er- 
krankte er wieder in Chelm, Plessner Kreis, und hatte eine sehr 
schwere und späte Reconvalescenz.« 

Bei Cholera, Pest, Recurrens, Flecktyphus ist also aus epidemio- 
logischen Gründen die Wahrscheinlichkeit einer Wiedererkrankung 
an sich so gering, dass die obigen sicher festgestellten Fälle von 
Wiedererkrankung ausreichen, um die Annahme der nur einmaligen 
Erkrankungsmöglichkeit dauernd unhaltbar zu machen. Anders steht 
die Frage für unsere einheimischen Endemieen, Keuchhusten, Ab- 
dominaltyphus, Scharlach, Diphtherie und Syphilis. 

Bei Keuchhusten ist bedauerlicherweise die Entscheidung auf 
statistischem Wege nicht möglich, da zuverlässige Morbiditätszahlen 
durchaus fehlen. Ich selbst habe ebenso oft Kinder nicht wieder- 
erkranken sehen, die schon vor Jahren durchseucht waren und 
später Gefahr liefen, von jüngeren Geschwistern inficiert zu werden, 
wie ich trotz der grossen Contagiosität des Keuchhustens auch nicht 
durchseuchte Kinder in gleicher Lage von Ansteckung freibleiben 
sah. Die Frage kann hier nur durch die Individualmethode an einen 
grösseren Materiale entschieden werden; dieser Aufgabe hat sich Julius 
Ritter!®) in verdienstvoller Weise unterzogen. Unter 1163 Fällen 
von Keuchhusten, die sich auf 498 Familien vertheilten, blieben 


16) Berliner medic. Gesellschaft 1868. Verhandl. S. 171. 
17) Gesammelte Abhandl. zur Seuchenlehre I 273. 
18) Berlin. klin. Woch. 1896. S. 1041. 


15 


-122 Kinder trotz der Gelegenheit zur Ansteckung von der Krankheit 
durchaus verschont, während Ritter allein, ein einziger Arzt, in dem 
kurzen Zeitraum von fünf Jahren von fünf Kindern zweifellos fest- 
stellen konnte, dass sie zweimal im Verlauf von drei bis vier Jahren 
an Keuchhusten erkrankt waren und zwar jedesmal durch die 
Gelegenheit der Ansteckung von ihren inzwischen geborenen jüngeren 
Geschwistern. Wir wissen nicht, wie gross die Durchseuchung einer 
Generation von Kindern durch den Keuchhusten ist, dessen Ansteckung 
nur durch die denkbar persönlichste Berührung vermittelt wird; nach 
meiner Schätzung erkranken höchstens 10°/, aller Kinder während 
ihrer Jugend am Keuchhusten, von denen die Mehrzahl nie wieder 
in die Lage kommt, sich anzustecken. Wenn also ein einziger Arzt 
bei sorgfältiger Beobachtung in fünf Jahren fünf sichere Fälle beob- 
achten konnte, so darf auch für den Keuchhusten die Lehre des nur 
einmaligen Befallenwerdens als endgiltig abgethan betrachtet werden. 

Ganz exactes Beweismaterial steht uns für den Abdominaltyphus 
und die Diphtherie zur Verfügung, weil wenigstens für die Gross- 
städte die Morbiditätsstatistik leidlich zuverlässiges Material abgiebt. 
Man darf aber hier zur Feststellung der Durchseuchungszahl und der 
Erkrankungswahrscheinlichkeit nicht so verfahren, wie es vielfach 
geschieht, dass man bei Beobachtung eines bestimmten Zeitraumes, 
etwa von 10 Jahren, einfach die Zahl der in den 10 Jahren beob- 
achteten Erkrankungsfälle durch die Zahl der durchschnittlichen 
Einwohnerschaft dividirt. Dann bekommt man unrichtige und zu 
hohe Zahlen, weil die beobachtete Altersklasse von Jahr zu Jahr 
vorrückt und damit meist in ein Alter geringerer Empfänglichkeit 
gelangt, und weil ferner die Gesammtbevölkerung nicht constant ist, 
sondern in jedem Zeitdifferential ein Bruchtheil durchseuchter 
Individuen ausscheidet und durch einen etwas höheren Bruchtheil 
nicht durchseuchter Individuen ersetzt wird. Man darf nur die Zahl 
der gerade lebenden Individuen einer Altersklasse in Betracht ziehen 
und muss deren Veränderungen, wie bei dem Aufbau einer Sterbetafel, 
von Jahr zu Jahr weiter verfolgen. Ich habe in meinen „Epidemio- 
logischen Studien“ die Formel für die Wahrscheinlichkeit einer zwei- 
maligen Erkrankung, wenn die Bedingungen für die zweite Erkrankung 
ebenso günstig sind, wie die der ersten Erkrankung, entwickelt, und 
verweise wegen der Begründung auf diese Arbeit. Die Formel lautet, 


16 


wenn b die Zahl der durchschnittlich während des n-jährigen 
Zeitraumes jedes Jahr Erkrankten, c die Zahl der durchschnittlich 
jedes Jahr an derselben Krankheit Sterbenden bedeutet und wenn a die 
Zahl der zu Beginn Lebenden, u diejenige der nach Ablauf von 
n Jahren nach der Sterbetafel noch vorhandenen Individuen ist: 
bb— co) 
(a + u): 
Wenn man berücksichtigt, dass in Berlin seit dem Jahre 1884 
durchschnittlich jährlich etwas über 1000 Erkrankungen an Abdominal- 
typhus mit durchschnittlich 190 jährlichen Todesfällen gemeldet 
worden sind, 30 ergiebt sich mit Hilfe obiger Formel sowie der An- 
gaben des Berliner statistischen Jabrbuches und der daselbst an- 
gegebenen Sterbetafel die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen, 
welcher im Jahre 1880 15 Jahre war, bis zur Erreichung des 30. 
Lebensjahres zweimal an Unterleibstyphus zu erkranken, nur höchstens 
gleich 1:100000, unter der Voraussetzung, dass für die zweite Er- 
krankung die Bedingungen ebenso günstig wären, wie für die erste. 
Auf die Zahl der vorhandenen Lebenden dieses Alters bezogen, ergiebt 
sich, dass jedes Jahr in ganz Berlin höchstens etwa 10 Fälle von 
Typhus zur Beobachtung kommen werden, bei welchen der Er- 
krankte schon vorher an der gleichen Krankheit gelitten. Diese 
10 Fälle vertheilen sich aber auf die Beobachtung von mindestens 
500 thätigen Aerzten, so dass jeder Arzt durchschnittlich alle 50 Jahre 
in die Lage käme, einen solchen Fall zur Kenntniss zu nehmen. 
Wenn also die Behauptung, dass der Abdominaltyphus den Menschen 
nur einmal befalle, damit begründet wird, dass erfahrenste Aerzte 
niemals oder höchst selten in die Lage kommen, sichere derartige 
Beobachtungen zu machen, so beweist dies nur, dass in dieser Frage 
das Urtheil der Einzelnen trügt, nicht aber, dass die erstmalige 
Erkrankung gegen ein erneutes Befallenwerden schützt. Der Arzt, 
welcher einen solchen Fall beobachtet, wird geneigt sein, die Diagnose 
anzuzweifeln, oder er theilt seine Beobachtung als Curiosum mit. 
Es sind aber nicht alle Aerzte zur Veröffentlichung bereit; umsomehr 
fällt es ins Gewicht, dass Maiselis in seiner schon genannten 
Arbeit allein 208 Fälle wiederholter Erkrankung an Abdominaltyphus 
aus der Litteratur zusammenstellen konnte, darunter Beobachtungen 
von zuverlässigen Autoren, wie Eichhorst u. s. w. Genau so liegt 


Wahrscheinlichkeit der zweimaligen Erkrankung = 


17 





die Frage für die Diphtherie, bei welcher nach meiner Rechnung 
bis zur Erreichung des 15. Lebensjahres die Wabrscheinlichkeit der 
Doppelerkrankungen in Berlin wie 1:2000 ist, also jährlich etwa 
120 solcher Fälle beobachtet werden könnten, wenn nicht gerade 
durch den Tod der Hinfälligsten und die steigende Widerstandskraft 
mit den zunehmenden Jahren diese Zahl in Wirklichkeit viel zu hoch ge- 
griffen wäre. Aber selbst bei Zugrundelegen dieser Maximalzahl würden, 
da an der Diphtheriebehandlung viel mehr Aerzte sich betheiligen, 
in Berlin auf einen Arzt alle 10 Jahre noch nicht 1—2 solcher Fälle 
kommen; und diese Zahl entspricht nach meinen eigenen Erfahrungen 
und den in der Litteratur, namentlich der jüngsten Zeit, veröffent- 
lichten Beiträgen ganz und gar der Wirklichkeit. Man könnte sogar 
fast versucht sein, einen geringen Grad von Steigerung der Em- 
pfänglichkeit durch die Erkrankung anzunehmen, wenn man die grosse 
Zahl der in den letzten Jahren mitgetheilten Fälle von Wieder- 
erkrankungen betrachtet. Auch trifft es durchaus nicht zu, dass 
spätere Erkrankungen etwa leichter aufträten; es wird dies häufig 
genug der Fall sein, weil die Befallenen inzwischen älter und wider- 
standsfibiger geworden; aber recht oft trat auch bei der zweiten 
und dritten Erkrankung die Nothwendigkeit der Tracheotomie und 
sogar der Tod ein. 

Schwer liegt die Entscheidung der Frage für Scharlach, weil 
bei dem Fehlen der Anmeldepflicht zuverlässige Morbiditátsziflern 
nicht zu haben sind. Nimmt man aber mit Johannessen schätzungs- 
weise an, dass die durchschnittliche Sterblichkeit, gewonnen aus 
mehreren Epidemien, 10—12°/, beträgt, so war in Berlin im letzten 
Vierteljahrhundert die durchschnittliche Erkrankungszahl 4500 Fälle 
im Jahr. Für ein im Jahre 1880 geborenes Kind würde die Wahr- 
scheinlichkeit bis zum 15. Lebensjahre zweimal Scharlach zu erwerben, 
gleich 1:3750 sein. In Berlin würden jährlich 50-60 solcher 
Fälle zu erwarten sein, bei 1000 Aerzten also auf jeden alle 20 
Jahre ein solcher Fall kommen. Die hier gewonnene Zahl beruht 
nur auf ungefährer Schätzung und giebt nur einen Anhaltspunkt 
dafür, dass die Wahrscheinlichkeit einer zweimaligen Erkrankung 
doch recht gering ist, um so mehr als ein beträchtlicher Bruchtheil 
aller Menschen überhaupt nie Scharlach erwirbt und der Umfang 


des empfänglichen Alters recht gering ist. Immerhin hat Henoch 
2 


18 


sicher das wiederholte Auftreten von Scharlach beobachtet und 
Maiselis hat in der Litteratur 33 Fälle finden können. Ich selbst 
erlebte folgenden Fall. Ein Schulmädchen erwarb im Februar 1895 
einen typischen Scharlach; die ältere Schwester ward aus dem Hause 
gegeben und blieb, ebenso wie die jüngste, im Haus verbliebene 
Schwester frei von der Erkrankung. Im Juni 1896 brachte die 
älteste Schwester aus der Schule Scharlach mit; die beiden andern 
wurden fortgegeben und in der vierten Woche, nach erfolgter Des- 
infection der Wohnung, wieder in das Elternhaus aufgenommen. 
Drei Tage nach der Rückkehr erkrankte die mittlere Schwester und 
wenige Tage später das jüngste Kind an typischem leichten Scharlach. 
Die erste Gelegenheit zur Ansteckung liess also nach Jahresfrist die 
mittlere Schwester zum zweiten Male erkranken. Die erworbene 
Immunität bei Scharlach ist demnach zum mindesten nicht erwiesen, 
sie besteht wahrscheinlich überhaupt nicht und ist nur durch die 
geringe Wahrscheinlichkeit der Wiedererkrankung und die geringe 
Empfänglichkeit vieler Individuen für das Scharlachcontagium vor- 
getäuscht. 

Sehr interessant liegt die Frage für die Syphilis, für welche 
wir ganz bestimmte Zahlen besitzen. Dio Thatsache, dass ein Indi- 
viduum, welches an florider Syphilis leidet, selbst bei Einimpfung 
des specifischen Giftes keine Primirsclerose mehr bekommt, ist 
patbologisch-anatomisch von hohem Interesse, hat aber selbstver- 
ständlich mit dem vorliegenden Problem nichts zu thun. Von der 
Syphilis wissen wir aus der preussischen Heeresstatistik und aus der 
interessanten Arbeit von Blaschko!?), dass durchschnittlich in der 
letzten Zeit etwa 7,70/,, des gesammten Heeres und etwas über 9°/,, 
der Berliner Garnison syphilitisch inficirt waren. Die Wahrschein- 
lichkeit sich zu inficiren war also nicht ganz = 1:100 und die 
Wabrscheinlichkeit einer Reinfection würde etwa 1: 10000 sein, 
wenn die Gefahr der Infection in spätem Alter gleich gross wäre, 
wie zur Zeit des Militárdienstes. Es fehlt freilich an jeder Statistik, 
wie schnell die Gefahr der syphilitischen Infection mit dem 25. 
Lebensjahre absinkt; aber es ist gar kein Zweifel, dass nicht nur 
die 1°/, erkrankten Soldaten, sondern auch die 99°/, verschont 
gebliebenen nach Beendigung ihrer Dienstzeit und bei Erreichung 


19) Die Verbreitung der Syphilis in Berlin, Karger 1892. 


19 





—_ 


des heiratsfähigen Alters ausserordentlich viel gesicherter vor einer 
Infection waren als früher. Schätzen lässt sich das nicht; aber so 
häufig bedauerlicher Weise auch in Berlin der Fall der extrama- 
trimonialen Syphilisinfection von Ehemännern vorkommt, so ist gar 
kein Zweifel daran, dass die überwiegende Zahl der in ihrer Jugend 
inficiert gewesenen Individuen später durch veränderte Lebensver- 
hältnisse tiberhaupt nicht mehr in die Gefabr einer Ansteckung 
kommt. Wenn man nun demgegenüber die Zahl der thatsächlich 
beobachteten Fälle von wirklicher Reininfection betrachtet, von 
welchen’ allein Köbner 45 zusammengestellt hat, so wird die An- 
nahme, dass die Syphilis nur einmal einen Menschen befallen könne, 
durchaus umgestossen. E. Rose berichtet in seiner eben erschienenen 
Monographie über den Tetanus auch einen Fall von Reinfection, bei 
welchem man ursprünglich die Sklerose gerade auf Grund der Anam- 
nese für Carcinom hielt, nur deshalb, weil die Möglichkeit einer 
Zweitinfection schwer glaublich erschien. Den stärksten Beweis für 
das Nichtvorhandensein einer durch Ueberstehen der Syphilis ent- 
standenen Immunität giebt aber das Verhalten der hereditären 
Lues ab. Solche Kinder können, so lange sie krank sind, andere 
Menschen inficieren; sind sie aber genesen und erwachsen, so können 
sie, wie Hutchinson feststellte, und Köbner bestätigte, sich wie 
jeder Andere syphilitisch inficieren. 

Es besteht also auch bei Syphilis keine erworbene Immunität. 
Für Gelbfieber fehlt es mir an jedem Materiale, die Richtigkeit 
der Angabe zu prüfen. 

Das Ergebniss der vorliegenden Betrachtung führt dahin, dass 
mit Ausnahme von Pocken und Masern für keine derjenigen In- 
fectionskrankheiten, welche angeblich den Menschen nur einmal be- 
fallen und deren Ueberstehen Immunität gegen die Wiedererkrankung 
verleihen soll, der Beweis für diese Behauptung geliefert ist. Diese 
willkürliche Annahme ist nur durch die Benutzung unzulänglicher 
Methoden und die Nichtberücksichtigung der geringen Wahrschein- 
lichkeit vorgetäuscht worden, sie lässt sich für keine der ge- 
nannten Krankheiten beweisen, für die meisten derselben aber wider- 
legen. Aber selbst für Pocken und Masern liegen die Verhältnisse 
eigenartig; denn eine mehrmalige Erkrankung ist nicht nur nicht 


ausgeschlossen, sondern überraschend häufig beobachtet worden; so 
2% 


20 


konnte Maiselis 514 Fälle wiederholter Pockenerkrankung aus der 
Litteratur zusammenstellen. Dass er nur 37 Fille von wiederholten 
Masern aufland, liegt einfach an der Häufigkeit dieser Erscheinung, 
welche die Veröffentlichung meist nicht lohnend erscheinen lässt. 
Trotzdem sprechen einige gewichtige epidemiologische Gründe dafür, 
dass an diesen beiden Krankheiten der Mensch im Allgemeinen nur 
einmal erkrankt. Die Schlussfolgerung aber, dass es die specifische 
Erkrankung selbst sei, welche durch die von ihr gesetzten Ver- 
änderungen die erworbene Immunität bewirke, bedarf, so wahr- 
scheinlich sie sein mag, erst des Beweises, der noch vollständig %ussteht. 
Es ist begreiflich, dass eine so merkwürdige Lehre, wie diejenige 
von der erworbenen Immunität durch einmaliges Ueberstehen einer 
Krankheit, zur Aufstellung von Theorien geradezu herausforderte. 
Es würde zu weit führen, alle oder nur die Hauptansichten der 
Vergangenheit anzuführen. Von besonderem Interesse ist aber die 
Hervorhebung zweier Erklärungsversuche, welche der neueren Zeit 
entstammen und welche das Ergebniss geradezu diametral entgegen- 
gesetzter Grundanschauungen darstellen. 

Die erste dieser Theorien knüpft an die Lehre von der spe- 
cifischen Serumimmunität an; von besonderem Interesse ist für deren 
Verständniss eine Arbeit von Wassermann.?% Diese Untersuchung 
bezieht sich ausschliesslich auf das Verhalten der Diphtherie des 
Menschen und will zunächst nur die Erscheinung der persönlichen 
Unempfänglichkeit vieler Menschen gegen die Diphtherie erklären; 
erst in zweiter Linie und indirect berührt diese Arbeit, welche in 
den Einzelheiten consequent aufgebaut und in den Schlussfolgerungen 
vorsichtig und zurückhaltend abgefasst ist, die Frage der erworbenen 
Immunität. Wassermann fand, dass das Blutserum sehr vieler 
Menschen, von Kindern, wie namentlich von Erwachsenen, welche 
nachweislich niemals Diphtherie durchgemacht haben, stark schützende 
Eigenschaften gegenüber dem Diphtheriegifte bei Meerschweinchen 
besitzt. Für Menschen, welche Diphtherie durchgemacht haben, war 
diese Erscheinung schon durch frühere Untersuchungen von Esche- 
rich und Klemensiewicz, sowie von Abel festgestellt worden. 
Diese Erscheinung kann aus experimentellen Gründen keine an- 
geborene, sie muss eine erworbene Eigenschaft sein; wie sie zu 





20) Zeitschrift für Hygiene Bd. 19. 


21 


Stande kommt, ist vorläufig noch unbekannt; immerhin ist es nach 
Wassermann nicht ausgeschlossen, dass deren Ursache in der Selbst- 
immunisirung durch echte Diphtheriebacillen zu suchen sei, da diese 
ja auch ohne Krankheitserscheinungen zu erzeugen, in der Mund- 
höhle ganz gesunder Menschen recht häufig gefunden werden. Die 
Thatsache nun, dass das Blut ganz gesunder Menschen, welche an- 
scheinend niemals Diphtherie durchgemacht haben, dass sogar 
nach Forschungen von Fischl und Wunschheim das Blut einer 
grossen Mehrzahl Neugeborener das Diphtherietoxin neutralisirt, sollte 
eigentlich davor zurückhalten, die biologisch so interessanten Er- 
gebnisse der Thierimmunisirung durch specifisches Serum mit der 
Theorie der erworbenen Immunität des Menschen in Zusammenhang 
zu bringen. Denn wir wissen zwar durch die Beobachtungen von 
Lazarus und Anderen, dass das Serum von Cholerareconvalescenten 
Meerschweinchen gegen das Choleragift immunisirt, ebenso wie 
das Gleiche, wie oben angeführt, für das Serum von Diphtherie- 
Reconvalescenten gilt, wir kennen die Erscheinung der in 
quantitativen Grenzen specifischen Agglutinierung des Serums von 
Typhus-Reconvalescenten, nicht blos von Typhuskranken. Wir 
müssen aber schon stutzig werden, wenn jene Erscheinung der 
Giftneutralisirung bei solchen Krankheiten zur Beobachtung gelangt, 
bei denen, wie bei Cholera und Diphtherie, eine erworbene 
Immunität gar nicht besteht. Wenn aber die gleiche Erscheinung 
auch bei zahlreichen Individuen zur Beobachtung gelangt, welche 
überhaupt niemals Diphiherie gehabt hatten, so liegt genügender 
Grund vor, jeden Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen 
abzulehnen. Eine letzte Stütze erhält der Schluss, dass die speci- 
fische an das Serum gebundene Immunität zur Erklärung der er- 
worbenen Immunität durch Ueberstehung einer Krankheit nicht 
herangezogen werden darf, durch das Verhalten der Pocken. Denn 
gerade für diese Krankheit, deren mikroparasitären Begleiter wir 
überhaupt nicht kennen, für welche aber eine durch einmaliges 
Ueberstehen erworbene Immunität eine grosse Wahrscheinlichkeit 
besitzt, haben geradezu zahlreiche Versuche der letzten Jahre gelehrt, 
dass eine nennenswerthe an das Serum gebundene Toxinimmunität 
überhaupt nicht vorliegt. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen 
der erworbenen Immunität nach überstandener Krankheit bei Menschen 


22 


und zwischen jenen merkwiirdigen, durch dic Erkrankung hervor- 
gerufenen Veränderungen des Blutserums ist also mit grosser Wahr- 
scheinlichkeit zu verneinen. Um so auffallender ist es daher, wenn 
C. Fränkel?!) in seiner Kieler Rede »Bekämpfung der Diphtherie« 
das Vorhandensein von Schutzstoffen im Serum bei gesunden Menschen 
nicht nur, wie Wassermann, zur Erklärung der persönlichen Un- 
empfänglichkeit, sondern sogar zur Begründung der Familien- 
disposition und Familienimmunität heranziehen will. Dieser 
Annahme liegt direct ein grosser systematischer Fehler zu Grunde. 
Erworbene Eigenschaften sind nach der Weismann’schen Theorie 
überhaupt nicht vererbbar. Diese noch nicht allgemein angenommene, 
aber sehr gut gestützte Lehre hat nun gerade durch die Forschung 
über Serumimmunität eine gewichtige Stütze erhalten. Denn Ehr- 
lich hat??) sehr exact nachgewiesen, dass die active Serumimmunität 
erblich nicht übertragbar ist; er selbst hat diesen Beweis für Ricin 
und Tetanus, Wernicke noch speciell für das Diphtheriegift geliefert. 
Wo die Neugeborenen eine erworbene Immunität zeigen, ist diese 
nach Ehrlich nur eine passive, durch den Placentarkreislauf und die 
Lactation übertragen, welche nur so lange vorhält, als jene Schutz- 
stoffe noch im Körper kreisen. Eine erbliche Uebertragung der er- 
worbenen aktiven Serumimmunität von der Mutter auf das Kind ist 
aber ausgeschlossen. Das Serum von Natur immuner Rassen besitzt 
aber niemals specifische an das Serum gebundene Schutzstoffe, deren 
Auftreten vielmehr fast immer der Ausdruck einer in Kampf mit 
der Krankheit erworbenen Eigenschaft ist. 

Die angeborene Unempfänglichkeit also kann niemals auf dem 
Wege entstanden sein, welchen C. Fränkel annimmt; sie ist in 
allen Fällen, wie auch Ziegler??) schon hervorgehoben hat, eine 
Folge der Auslese und Naturzüchtung, bei welcher im Laufe der 
Generationen stets die Empfänglichen ausgetilgt werden und die Un- 
empfänglichen übrig geblieben sind. Auf diese Weise erklärt sich 
die Resistenz der Eingeborenen und Neger für Gelbfieber und 
Malaria, die schon von Pettenkofer betonte geringere Empfänglich- 


21) Vierteljahrschr. für öffentl. Gesundheitspfl. Bd. 29. 

22) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. XII u. XVIII. 

**) Ziegler. Können erworbene pathologische Eigenschaften vererbt werden? 
Jena, Fischer 1886, S. 33. 


23 


keit der Nativeregimenter Indiens für Cholera gegenüber der grösseren 
Sterblichkeit der englischen Regimenter. Auf diese Weise erklärt 
sich auch höchst einfach die bisher räthselhafte Thatsache, dass die 
Hausmäuse immun gegen den Tuberkelbacillus, die Feldmäuse höchst 
empfänglich sind. Denn die ersteren haben eine Jahrhunderte lange 
Auslese der schwächeren Varianten hinter sich, die letzteren sind 
niemals in den Kampf mit dem Tuberkelbacillus eingetreten. So er- 
klärt es sich ferner sehr einfach, dass unser empfänglichstes Versuchs- 
thier für das Diphtheriegift das Meerschweinchen ist, welches spontan 
nie an Diphtherie erkrankt und also niemals Gelegenheit hatte, sich mit 
jener Krankheit auseinanderzusetzen. Und so erklärt es sich schliess- 
lich, dass jeder Versuch, die Beobachtungen an der Meerschweinchen- 
Diphtherie auf die gleichnamige Krankheit des Menschen übertragen 
zu wollen, aus rassenhygienischen Gründen schwere Bedenken erweckt. 
Die Forschungen über specifische Immunsera, so interessant sie 
biologisch sind, haben jedenfalls mit der angeborenen und erworbenen 
Immunität des Menschen nichts zu thun. Wenn nun auch die Er- 
fahrung gelehrt hat, dass die specifische, erworbene Immunität nach 
dem Ueberstehen einer Infectionskrankheit entgegen dem herrschenden 
Dogma nur in engen Grenzen besteht, so kann doch zugegeben 
werden, dass für gewisse Vorgänge auch der Mensch eine Unem- 
pfänglichkeit durch das Ueberstehen von Krankheiten erwerben kann. 
Nur ist diese Eigenschaft nicht an sich specifisch und ihre Ursachen 
sind in anatomischen Veränderungen der Eingangspforten zu suchen; 
diese anatomischen Veränderungen, welche meist die Folgen reactiver 
entzündlicher Vorgänge sind, erschweren die Aufnahme für Krank- 
heitserreger und Krankheitsgifte. In dieses Gebiet gehören schon 
die Wirkungen der Uebung und Abhärtung von Haut und Schleim- 
haut, welche die individuell erworbene Empfänglichkeit herabsetzen. 
In besonders geschickter Weise ist diese Theorie der nicht specifisch 
erworbenen Immunität, welche durch örtliche Veränderungen der 
Eingangspforten zu Stande kommt, von C. L. Schleich?) entwickelt 
und durch zahlreiche chirurgische und toxikologische Erfahrungen ge- 
stützt worden. 
° Es ist ja bekannt, dass Narben von Phlegmonen, dass das 
chronisch entzündete Bauchfell, dass chronisch veränderte Tonsillen 


%4) Gottstein und Schleich, Immunität etc. Springer 1895. 


24 


aus rein mechanischen Griinden der Allgemeininfection cin meist un- 
iiberwindliches Hinderniss entgegenstellen. Aber es hat sich sogar 
herausgestellt, dass, wo im Thierversuche eine erworbene Immunität 
von der einen Eingangspforte aus bestand, wie z. B. bei der Haut- 
impfung gegen Milzbrand, sie nur gegenüber dieser Art der Ein- 
verleibung des Krankheitserregers zur Geltung kam, aber bei der Ver- 
fütterung der Bacillen sofort im Stiche liess. Für diese örtliche 
mechanische Auffassung der erworbenen Immunität, wenn sie auch 
nicht für alle Fälle gelten mag, lassen sich zahlreiche Belege auf- 
führen. Einer der neuesten ist die interessante Mittheilung von 
Arning über das Eczem der Vanillearbeiter. Neulinge dieses 
Berufs bekommen fast regelmässig ein Eczem der Hände, welches 
schwer heilbar und nur durch Abstinenz von dieser Beschäftigung 
zu heilen ist. Sobald aber einmal die Haut wieder normal geworden. 
so besteht dauernde Immunität gegen Neuerkrankung, auch bei 
Wiederaufnahme der Thätigkeit. Soll hier vielleicht ein „Antivanilin“ 
im Blute kreisen oder sind vielmehr die Lymphwege so verändert, die 
Haut so „abgehärtet“ ‘worden, dass nunmehr die Beschäftigung 
mit den Noxen nichts mehr schadet? Vielleicht liegen auch für 
‘Pocken und Masern, welche die Haut und die Schleimhäute in 
weiter Ausdehnung betheiligen und im ersten Falle auch schwer 
verändern, die Verhältnisse ganz ähnlich, dass nur eine örtliche 
mechanische Veränderung der Eingangspforten die Empfänglich- 
keit für eine spätere Neuinfektion herabsetzt. Ist diese Theorie 
richtig oder auch nur wahrscheinlich, so liegt noch weniger 
Grund vor, die Thatsache der erworbenen Immunität bei Pocken 
und Masern mit den Versuchen über experimentelle Serum- 
immunität in irgend welchen Zusammenhang zu bringen. Im 
Uebrigen werden die genannten beiden Menschenkrankheiten auch 
nach der Ansicht von R. Koch?) nicht durch Bakterien hervor- 
gerufen, sondern wahrscheinlich durch Mikroparasiten ganz anderer 
Beschaffenheit. Vielleicht eröffnet uns die jüngste Entdeckung von 
Nencki?*) über die Mikroparasiten der Rinderpest eine neue Methode 
der Forschung, die uns mit ganz anderen Bedingungen der 
Immunität vertraut machen kann. Bis dahin aber empfiehlt es sich 


25) Ueber bakteriologische Forschung. Berlin. 1590. 
26) Berlin. klin. Woch. 1897. No. 24. 


25 





in unseren Schlussfolgerungen Zurückbaltung zu üben entsprechend 
den Worten von Lóffler?”): 

„Nicht durch nivellirende Theorieen, welche von einem mehr 
oder weniger einseitigen Beobachtungsmaterial hergeleitet sind, 
sondern allein durch sorgfältiges Studium jeder einzelnen Krankheit 
kann das über den Infektionskrankheiten lagernde Dunkel gelichtet 
werden.“ 


27) Mittheil. aus dem kais. Gesundheitsamt. 1881. I. $. 187. 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 
an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 














Die Therapie infizierter Wunden. 
Vortrag, gehalten am 23. August in der chirurgischen Sektion des 
XII. internationalen medizinischen Kongresses zu Moskau. 


Von 


Privatdocent Dr. Egbert Braatz in Königsberg i. Pr. 


we eee 


Hochgeehrte Versammlung! 

Als ich von unserem verehrten Komité die ehrenvolle Auf- 
forderung bekanı, iiber die Therapie infizierter Wunden das einleitende 
Referat zu übernehmen, war ich mir der Schwierigkeit dieses Themas 
voll bewusst. Und wenn ich diesen Auftrag dennoch gern über- 
nommen habe, so geschah das wesentlich in der Überzeugung, dass 
die Frage der Wundbehandlung zu den wichtigsten Gegenständen 
der Chirurgie gehört und sehr wohl wert ist, auf einer Weltver- 
sammlung von Ärzten zur Sprache zu kommen. Denn seit Lister 
und durch Lister wissen wir, dass die operative Chirurgie in ihrer 
Allgemeinheit nur in dem Masse in ihrer Entfaltung vorschreitet, 
als die Wundbehandlung sich vervollkommnet. Und wenn wir heute 
noch staunen, welche Umwälzung der Chirurgie in den letzten 25 
Jahren vor sich gegangen ist, wenn wir auch auf diesem Kongresse 
aus dem Munde ausgezeichneter Chirurgen die glänzenden Berichte 
über die grossartigsten Operationen gehört haben und noch hören 
werden, so wollen wir es nicht vergessen: Das Thor, welches auf 
diese via triumphalis der modernen Chirurgie geführt hat, 
das war die durch Lister geschaffene Wundbehandlung. 
Nichts klärt aber so das Verständnis in unserer Frage, als wenn 
wir uns Rechenschaft darüber geben, wie wir zu einer wissenschaft- 
lich begründeten Wundbehandlung gekommen sind, wenn wir vor 
dem status praesens die Anamnese unserer heutigen Wundbehandlung 

1 


2 





ins Auge fassen, wenn wir uns vergegenwirtigen, mit welchen 
Hindernissen dieser grosse Fortschritt in seinem Anfange, in seinem 
weiteren Verlauf zu kämpfen hatte und mit welchen grossen 
Hindernissen er heute noch zu kämpfen hat. 

Wir können die Therapie infizierter Wunden nicht anders be- 
handeln, als nur im Zusammenhang mit der Wundbehandlung im 
Allgemeinen. 

In der Chirurgie sind seit lange zwei Hauptrichtungen ver- 
treten gewesen: Die Empirie und die Theorie. 

Jahrhunderte lang lag die Ausübung unserer Kunst in den 
Händen von Handwerkern, die in der Barbierstube vom Lehrling bis 
zum Gesellen gebracht worden waren. Von Theorie war da ebenso 
wenig die Rede, wie bei den anderen Handwerken. Der vor- 
wiegend technische Charakter der Chirurgie konnte aus sich selbst 
keine allgemeinen Begriffe und keine wissenschaftliche Richtschnur 
für ihr Handeln ableiten. Das trat erst ein, als man aus Wissen- 
schaften, die bis dahin keinen Zusammenhang mit der Chirurgie 
gehabt hatten, Nutzen zog, und sie mit der Chirurgie organisch 
verbinden lernte. 

Das erste wissenschaftliche Prinzip, welches in die Chirurgie 
hineinkam, war nach dem Entwickelungsgange der medizinischen 
Wissenschaften die Anatomie. Ambroise Par, „der erste Barbier 
der Könige“, wie er sich nannte, der aber auch als Prosektor auf 
dem anatomischen Boden gearbeitet hatte, versinnbildlicht die Ver- 
einigung der Barbier-Chirurgie mit der Anatomie. Jean Louis 
Petit, Desault und Bichat sind dann die weiteren gewaltigen 
Marksteine der wissenschaftlichen Entwickelung der Chirurgie. Wenn 
wir hier in Moskau nach dem Dewitschje Pole hinausgehen, werden 
wir lebhaft an diese Vereinigung der Chirurgie und Anatomie er- 
innert. Wir sehen an dem schönen und historisch wahr auf- 
gefassten Denkmal Pirogoffs, dass er unter seinen vielen anderen 
Leistungen auch das grosse Verdienst gehabt hat, zur Einführung 
der Anatomie in die Chirurgie beigetragen zu haben. 

Mit Desault und Bichat sehen wir zugleich in den Dienst 
der Chirurgie gestellt: Die pathologische Anatomie und die Physiologie. 

Bernhard von Langenbeck war es dann, der das Mikroskop in 
die Chirurgie einführte, die mikroskopische pathologische Anatomie, 


3 


die dann in ausgiebigster Weise von einer grossen Schaar von 
Chirurgen fiir unsere näheren Zwecke besonders gepflegt worden ist. 
So sehen wir, wie die Chirurgie durch das Dazunehmen von anderen 
Wissenschaften immer mehr selbst eine Wissenschaft geworden ist. 
Sie konnte jetzt mit anatomischem Klarblick die Diagnose stellen, 
an Tierversuchen Operationen in ihrem Erfolge studieren und diese 
Operationen an der menschlichen Leiche ausbilden und einüben. Sie 
konnte dann dieselbe Operation ebenso exact unter sicherer Be- 
herrschung der Blutung, auch am Lebenden ausführen, in der Absicht 
ihn von seinen Leiden zu heilen. Ob der Kranke aber in der 
That geheilt wurde, das hing leider noch ganz und gar 
nicht vom Operateur ab. Eine Sicherheit des Erfolges konnte 
uns weder die Anatomie, noch die pathologische Anatomie gewähr- 
leisten. Nach der kühnsten Diagnose, nach der glänzendsten Operation 
konnte man mit ziemlicher Sicherheit nur darauf rechnen, dass der 
Operierte starb, dass er starb an einer Wundinfektion. Denn 
alle Wunden waren infiziert, es gab nur infizierte Wunden. 
Zwischen infizierten und nichtinfizierten Wunden überhaupt zu unter- 
scheiden, das sind wir erst seit Lister im Stande. 

Wie stellte man sich nun den Hergang der Wundinfektion vor? 

Diese Frage ist sehr wichtig, denn das, was wir bei der Wund- 
behandlung thun, hängt ganz und gar davon ab, was wir uns 
über die Ursache der Infektion denken, von unseren allgemeinen 
Ideen über Wundinfektion. 

In grossartiger Einfacheit stand noch vor Lister das Problem 
wie ein einziger feindlicher befestigter Punkt da, gegen welche der 
Angriff zu führen war: Das Problem hiess: Fernhalten der Fäulnis 
von der Wunde und Bekämpfen der Fäulnis in der Wunde Die 
Fäulnis sollte an allem Schuld sein. Das Erysipelas, die Phleg- 
mone, der Hospitalbrand, die Pyämie und Septicämie, sie sollten 
alle hauptsächlich von der Fäulnis herkommen. 

Wenn aber die Fäulnis bekämpft werden sollte, so musste man 
vor allen Dingen wissen, wie entsteht Fäulnis? Wiederum aus 
anderen Gebieten der Naturwissenschaft musste sich hier 
die Chirurgie Aufklärung suchen und zwar bei der damals 
noch sehr jungen Wissenschaft der organischen Chemie. 


Zwei Ansichten, zwei Chemiker standen sich hier scharf gegenüber. 
1* 


Liebig und Pasteur. Nach Liebig sollte die Fäulnis ebenso wie 
nach der Theorie Gay Lussac’s, der den Sauerstoff als den Erreger 
der Fäulnis hingestellt hatte, ebenfalls ein rein chemischer 
Vorgang sein. Die zerfallenden Eiweisse sollten die Fähigkeit 
haben, die Fäulnis zu erregen und zu unterhalten. Der Fäulnis- 
prozess war nach Liebig ein Zeichen des Zerfalls nach dem Aufhören 
des Lebens, es war „ein correlatives Phänomen des Todes“, der die 
Organismen in seine chemischen Urstoffe auflöst. 

Nach der zweiten, entgegengesetzten Auffassung war dagegen 
die Fäulnis ein Phänomen des Lebens, bedingt durch die 
Lebensäusserung der Mikroorganismen. Caignard Latour und 
Theodor Schwann, vor allen aber Luis Pasteur waren die Begründer 
und Verfechter dieser anderen, sogenannten vitalen Theorie. 

Als Lister mit seiner Lehre auftrat, herrschte in Deutschland, 
wo er den ersten Anklang fand, die für die Chirurgie unfruchtbare 
Theorie Liebigs. Lister ging aber von der vitalen Theorie aus 
und seine Erfolge zeigten bald, dass er auf der richtigen Fährte 
war. Das erste, was einzelne Chirurgen an der Listerschen Wund- 
behandlung anerkannten, waren auch nur jene praktischen 
Erfolge. Von einer Anerkennung des Prinzips der Antiseptik, 
dass Mikroorganismen die Ursache der Fäulnis sind, wollten 
selbst eifrigste Anhänger dieser Wundbehandlung 
noch lange nichts wissen. Man behandelte die Wunden nach 
dem Listerschen Rezept, kümmerte sich aber nicht um seine 
Begründung, man schritt in der Praxis vor und blieb in der 
Theorie zurück, indem man seine früheren, unrichtigen An- 
sichten von der rein chemischen Entstehung der Fäulnis beibehielt. 
Ja manche sehr hervorragende Chirurgen blieben lange noch, nicht 
nur Gegner der Listerschen Grundanschauung, sondern blieben sogar 
auch eine ganze Reihe von Jahren der Anwendung des Listerschen 
Verbandes fern, wie z. B. leider sogar Billroth. 

Da die Anschauungen über die „belebten Fermente“, wie man 
sie nannte, sich aus den Experimenten über Gährung und Fäulnis 
entwickelt hatten, so ist es begreiflich, dass man die Luftkeime als 
Hauptgefahr für die Wunde ansah, und als man später den Spray 
als unnütz fortliess, wagte man dieses nur, indem man als Ersatz 
für den Spray die Wunden desto stärker mit antiseptischen Mitteln 


9 





bespülte. Aus Schwämmen, Irrigatoren und Giesskannen, wie sie 
der Gärtner braucht, ergossen sich Ströme von Karbol, Sublimat 
und anderen Giften über die Wunde. 

That man dieses schon bei frischen Operationswunden, um 
wio viel mehr glaubte man dazu verpflichtet zu sein, wenn es sich 
um infizierte Wunden bandelte, wo man es doch vor hatte, den schon 
eingedrungenen Feind zu vernichten. Die Zeit der Hochflut der 
antiseptischen Spülungen ist wohl die schattenreichste in der Ge- 
schichte der Antiseptik. Ich habe nicht die Absicht, auf alle jene 
Unglücksfälle von chirurgischen Intoxikationen näher einzugehen, 
wo die Kranken nur deshalb sterben mussten, weil die angewandten 
Rettungsmittel ihre Giftnatur nicht gegen die mikroskopischen Feinde 
des Kranken, sondern gegen den Kranken selbst zu seinem Ver- 
derben bethätigten. Aber auf ein Mittel müssen wir doch ein wenig 
näher eingehen, das ist das Jodoform. 

Als das Jodoform von Wien aus seinen Ausgang nahm, wurden 
ihm so starke Empfehlungen auf den Weg gegeben, als ob mit 
seiner Anwendung der Gipfel des in der Wundbehandlung Jirreich- 
baren erreicht wäre. v. Mosetig-Moorhof erklärte es für ein 
so starkes Antisepticum, dass alle anderen antiseptischen Mittel un- 
nütz geworden seien. Jede septische Wunderkrankung sollte es 
ausnahmslos verhüten. Wundrose sei bei dem Jodoformverband 
äusserst selten, wenn sie sich zeigte, sollte die Ursache der Eıy- 
sipelas stets nur Sckretverhaltung sein u. dergl. m. 

Kurz, es ist uns jetzt möglich mit Sicherheit zu 
behaupten, dass das Jodoform gleich von vorne herein 
ganz gewaltig überschätzt wurde. 

Auch in der Billrothschen Klinik, von wo aus sehr bald da- 
rauf, mit dem Jahre 1881, das Jodoform eigentlich seinen Zug über 
die Welt gehalten hat, wurde diese Ueberschätzung zum Teil fort- 
gesetzt. Auch dort herrschte die Ueberzeugung, dass das Jodoform 
imstande sei, sicher jede Sepsis zu verhüten. 

1882 machte der hochbetagte v. Langenbeck dem Jodo- 
form das Kompliment, dass schon die lange vorhaltende 
Jodoform-Atmosphäro „offenbar“ genüge, um 
einen vollkommen aseptischen Wundheilungsverlauf 
zu sichern. Schmerz, Rötung, Schwellung fehle, Eiterung könne 


6 


selbst aus den grössten Wundhöhlen fehlen, die Nähte könne man 
7—8 Tage liegen lassen, ohne dass Rötung und Eiterung der Stich- 
kanäle wahrzunehmen sei. Aehnliche Heilungen habe er, sagte 
v. Langenbeck, auch bei der sorgfältigsten Durchführung der 
Karbolverbände niemals gesehen. Kurz, wenn man diese ganze 
Schilderung des sonst so hochverdienten Chirurgen liest, so sollte 
man glauben, dass der Listersche Verband bis zum Jahre 1882 
überhaupt noch keine Erfolge gehabt und die ganze neue Aera der 
Wundbehandlung nicht mit Lister, sondern erst mit dem Jodoform 
anfange. Und in der That, für sehr viele Chirurgen war das auch 
der Fall, sie fingen wirklich erst 10 Jahre später als andere an, 
mit der Listerschen Methode vertraut zu werden. Es war wirklich 
so, wie ein bekannter Chirurg vorhersagte, dass das antiseptische 
Verfahren mit dem Jodoform erst populär werden 
würde. Im Verlauf eines Jahres war es in der Hand eines 
jeden Arztes. 

Äussere günstige Umstände kamen hierbei dem Jodoform zu 
Hilfe, in erser Linie wohl der, dass es die letzte Etappe auf dem 
Wege der Vereinfachung des ursprünglichen Listerverbandes war. 
Von allen Vorschriften Listers war nur das Prinzip übrig geblieben. 
Das Protectiv, die eigentliche Listergaze, der Spray waren schon 
vorher fallen gelassen, der Dauerverband war schon da und das 
Jodoform vereinfachte das Verfahren noch dadurch, dass es die Vor- 
teile des Pulververbandes in der Chirurgie heimisch machte. 
Nicht zuletzt nützte der Verbreitung des’ Jodoforms eine sehr rührige 
Verteidigung, die es eigentlich gegen alle Anklagen in Schutz nahm. 
Und diese Anklagen blieben leider nicht aus. Im Vertrauen auf 
die anfänglichen Angaben, dass das Jodoform ungiftig sei, hatte man 
nicht nur 60, sondern 100, 200 ja 300 Gramm auf einmal in die Wund- 
höhle gebracht. So füllte man z. B. einem schwächlichen Mädchen 
eine Empyemhöhle mit 40 Gramm, die Wundhohle eines fünfjährigen 
Kindes mit 120 Gramm Jodoform aus, die Wunde nach einer Ellen- 
bogenresection mit 150—200 Gramm Jodoform aus. Dass auf diese 
Weise bald ein ganzes Sündenregister von Jodoformvergiftungen das 
Jodoform ganz in Misskredit zu bringen drohte, wird uns jetzt nicht 
Wunder nehmen. Dazu waren die Vergiftungserscheinungen ganz 
eigentümlicher, bis dahin unerhörter Art und äusserten sich u. A. 


7 


indem unheimlichen Auftreten von akuten Psychosen. So erlebte Schede 
allein in ca. einem Jahre 21 Jodoformpsychosen mit 9 Todesfällen. 
Ausserdem hatte er unter der Jodoformbehandlung in 13 Monaten 39 
Fälle von Erysipelas mit 15 Todesfällen zu beklagen, während er vor der 
Einführung der Jodoformbebandlungin Hamburgjährlich im Durchschnitt 
etwa 11 Fälle mit 3 Todesfällen gehabt hatte. Etwa ein Jahr nach dem 
Allgemeinwerden des Jodoformgebrauches konnte König 48 Fälle 
von Jodoformvergiftung sammeln. Die grössere Sterblichkeit der 
Erysipelasfälle erscheint uns auch nicht schwer erklärlich. Das Jodo- 
form wirkt vor allem schwächend auf die Herzkraft und verfettend 
auf die Nieren. Bekam ein solcher Patient, der schon unter dem 
schädlichen Einflusse des Jodoforms stand, eine Wundinfektions- 
krankheit wie das Erysipelas, so mussten seine Aussichten die 
Krankheit zu überwinden, viel geringer sein, als wenn Herz und 
Nieren gesund waren. Die traurigen Erfahrungen mit einem Anti- 
septicum hatten als nächste Folge, dass dann ein anderes Mittel 
abermals als vortrefflich empfohlen wurde. So kam der Sublimat- 
verband in immer allgemeineren Gebrauch. An Stelle der Karbol- 
säure wurden schwache Chlorzinklösungen, an Stelle des Jodoform 
Wismuth u. s. w. versucht. In die allgemeine, überaus grosse Zu- 
friedenheit mit den Erfolgen der antiseptischen Wundbehandlung 
mischten sich aber doch Stimmen, welche nach einer durch- 
greifenden Verbesserung des Verfahrens verlangten. Denn 
auch abgesehen von den Chirurgischen Vergiftungen waren die 
Resultate selbst noch keineswegs so unübertreffliche wie 
man esallgemein hinstellte. Die Resultate waren glänzende 
nur im Vergleich zu dem ganz verzweifelten Zustande, 
in welchem sich die Heilresultate der operativen Chirurgie vor der 
Antiseptik befunden hatten. Wenn früher einem Chirurgen bei der 
Mammaamputation 33 Prozent der Operierten gestorben waren, so 
musste es ihm sicher schon imponieren, wenn er jetztauch nur drei- 
mal mehr Kranke am Leben erhielt als früher, und er nur 11 Prozent 
verlor. Und abgesehen von dem rohen Massstab der blossen 
Mortalitätsprozente fieberte immerhin der grösste Teil der Operirten 
und eine Anzahl von einfachen Operationswunden vereiterten, 
die Wunden wurden ausserdem durch die Antiseptica stark gereizt. 
Neuber in der v. Esmarchschen Klinik in Kiel hat dann zäh den 


Gedanken festgehalten und zu entwickeln gesucht, dass eine Wunde 
auch ohne Antiseptica heilen müsste, wenn man nur verhindert, dass 
organische Keime erst in sie hineinkommen, So riesig schwer dıe 
Aufgabe war, die Wunde vor den allverbreiteten Keimen zu schützen, 
so grossartig waren Neubers Anstrengungen, dieselben zu besiegen. 
Um die Luft pilzfrei zu machen, sollte sie bei luftdicht gemachten 
Fenstern und Thüren nur filtriert in den Operationsraum eintreten. 
Vor der Operation liess er Wände, Decken, Fenster, Thüren mit 
Wasser besprengen, das Inventar mit feuchten Tüchern abreiben, 
das Personal musste vor der Thür durch den Nebel eincs Spray- 
apparates hindurch, wurde dann mit Sublimatwasser besprengt, mit 
leinenen Mützen, Operationsrócken etc. bekleidet, musste sich dann 
noch einmal waschen, auch das Gesicht, und bei Operationen in 
frischen oder chronisch entzündeten Geweben durften sich niemals 
mehr Leute im Raume aufhalten, als absolut erforderlich waren. Um 
alles nach seinen Wünschen durchzuführen, baute sich Neuber 1855 
ein besonders eingerichtetes Krankenhaus mit fünf getrennten 
Operationssälen für Operationen in gesunden, chronisch entzündeten 
und akut entzündeten Geweben u. s. w. 

Wer also Neubersche Aseptik treiben wollte, musste sich genau 
cin solches Krankenhaus bauen, wie Neuber es hatte, diese Asep- 
tik war also an einen besonders eingerichteten «asep- 
tischen» Raum gebunden. Eine solche Wundbehandlungs- 
methode war nicht entwickelungsfähig. Neuber war in dem Aus- 
arbeiten der Einzelheiten seiner Aseptik genau so vorgegangen, wic 
Lister selbst. Er hatte alles aus dem einen Gedanken deduktiv 
entwickelt und fusste auch genau nur auf denselben Grundgedanken 
wie Lister, dass er die Wunde vor den allgegenwärtigen Bakterien 
ohne Unterschied, insbesondere vor den Fäulnisbakterien in der Luft 
schützen wollte und auch mit Erfolg zu schützen geglaubt hatte. 
Dio Chirurgie konnte auch hier sich allein nicht weiter 
helfen. Sie kam wieder erst vorwärts, als sie sich die neuentstandene 
Bakteriologie nutzbar machte. Robert Koch hat unsin zwiefacber 
Weise gefördert. Erstens, indem er die Thatsache ausser allen Zweifel 
stellte, dass es für den Menschen pathogene Bakterien giebt. Dadurch 
hat er der Theorie der Infektion einen grossen Dienst geleistet, welche 
sich bis dahin vergeblich abgemüht hatte, zu erklären, wie einfache 


——. 


Fäulnispilze krank machen und klinisch so scharf getrennte Krank- 
heiten hervorrufen können. Zweitens hat er uns dann nicht nur 
gezeigt, wie wir die Bakterien am besten rein züchten, sondern 
auch wie wir sie am sichersten vernichten können. Er lehrte uns 
die Ueberlegenheit des kochenden Wassers, des siedenden Dampfes 
gegenüber den chemischen Desinfektionsmitteln kennen, da, wo es 
gilt die Gegenstände, die mit der Wunde in Berührung kommen 
sollen, vor der Operation keimfrei zu machen. Die neuere Wund- 
behandlung, die sogenannte Aseptik, wie sie sich durch eine Anzahl 
Forscher schon von 1885—1889 vorbereitet und uns von v. Berg- 
mann auf dem X. internationalen Kongresse 1890 zuerst vorgeführt 
wurde, stützt sich nun wesentlich auf die thermische, die 
physikalische Desinfektion, im Gegensatz zu der che- 
mischen Desinfektion der Antiseptik. In welchem Grade die 
thermische Desinfektion der chemischen überlegen ist, dafür nur 
dies Beispiel. Wir messen die Leistungsfähigkeit einer Desinfektion 
nach Koch’s Vorschrift gewöhnlich an Milzbrandsporen. Sind diese 
sehr widerstandsfähigen Sporen durch ein bestimmtes Verfahren ge- 
tötet, so können wir sicher annehmen, dass bei der gleichen 
Prozedur die viel weniger widerstandsfähigen und häufiger in 
Frage kommenden sporenfreie Bazillen und Kokken wie z. B. die 
Staphylokokken und Streptokokken schon erst recht viel früher zu 
Grunde gegangen sein mussten. In 5°/,igem Karbolwasser bleiben 
die Milzbrandsporen gewöhnlich mehrere Tage lebendig. Man hatte 
auch schon Milzbrandsporen kennen gelernt, die 30, ja 42 Tage in 
jener Karbollösung lebendig geblieben waren. Ich selbst bin jetzt 
aber in den Besitz von an Seidenfäden angetrockneten Milzbrand- 
sporen gelangt, die nach meiner Untersuchung in 127 Tagen in 
5°/, Karbol noch nicht abgetötet waren. Die Versuche wurden mit 
allen Vorsichtsmassregeln, Kontrolkulturen, nachträglicher chemischer 
Analyse der angewandten Karbolsäure u. s. w. angestellt, so dass- 
diese Thatsache zweifellos ist. 

Diese selben Sporen mit ihrer enormen Widerstandsfähigkeit 
gegen Karbolsäure gehen in siedendem Dampf von 100° in 10—12 
Min. zu Grunde Aus solchen Vergleichen lassen sich ja keine 
mathematischen Schlüsse ziehen, immerhin geben sie einen sehr 
guten Anhalt dafür, wie unendlich viel sicherer man geht, wenn 


10 


man z. B. seine Instrumente 10 Minuten kocht, als wenn man sie 
eine halbe Stunde in starker Carbollösung liegen lässt. 


Die aseptische Wundbehandlung kommt heutzutage 
allgemein nur bei frischen Operationswunden in An- 
wendung. Infizierte Wunden behandelt man in der Regel so, dass 
man sie mindestens mit Jodoformgaze tamponiert oder verbindet. 
Als ich vor mehr als 4 Jahren mich in meinem Buche über Aseptik 
dafür aussprach, dass man auch infizierte Wunden aseptisch behandeln 
sollte, wurde ich deswegen von verschiedenen Seiten angegriffen. 
Seitdem bin ich in der Lage gewesen, die Sache praktisch zu 
erproben und habe weit über 200 infizierte Wunden ganz olıne Anti- 
septica behandelt. Wie ich es damals empfohlen, bin ich auch selbst 
sehr allmälig dazu übergegangen. Unter den genannten Operationen 
finden sich nicht nur Panaritien, Furunkel und Carbunkel, Phlegmonen, 
jauchige, stinkende Abscesse, sondern auch weitverzweigte, schwere 
Rectalfisteln, Operationen am Mastdarm, Operationen an eiterigen 
Nieren u. s. w. Auch tuberkulöse Heerde habe ich so behandelt, 
dass ich nach Entfernung der fungösen Massen nur mit steriler 
Gaze verbunden habe. Leider habe ich erst später durch die 
Liebenswürdigkeit Herrn Dr. Zeidlers aus einer Abhandlung, die 
er mir auf meine Bitte zugeschickt hatte, erfahren, dass er im 
Obuchowhospital in St. Petersburg schon im Jahre 1889 eiterige 
Wunden aseptisch behandelt hat. 


Wenn man in den ersten Empfehlungen des Jodoforms liest, 
das Jodoform wirke bei der Behandlung der Furunkel „sehr gut“, 
oder wie später hiess, der Borlint sei bei Furunkel ein herrliches 
Mittel, so muss diese Begeisterung heute recht unbegründet er- 
scheinen, denn besser und schneller kann kein gespaltener Furunkel 
heilen, als unter Ausschluss jedes Antisepticums. Der Furunkel 
wird gründlich gespalten und einfach trockene oder mit Wasser 
ausgefeuchtete Gaze in die Schnitte hineingelegt. 


Beim Abscesshöhlen klaffen nicht selten die Wundränder trotz 
ausgiebiger Incision nicht genügend, so dass ein grosser Teil des 
Eiters zurückgehalten wird. Die Tamponade muss dann schon eine 
festere sein, wenn sie nicht nur die Wundhóbhle füllen, sondern auch 
noch die Wundränder auseinander halten soll. Dann hält sie aber 


11 
um so eher das Wundsekret zuriick. Auch die Drainage geniigt 
hier nur unvollkommen. | 

Da gelingt es dann die ganze Wunde gut klaffend zu erhalten, 
wenn man die von mir beschriebenen Drahtklammern verwendet. 
Man hat sie in verschiedenen Grössen vorrätig und legt eine so 
grosse Wundhakenklammer ein, dass die Spannung nicht zu gross 
ist. Haben sie auch nur einige Tage gut gelegen, so klafft die 
Wunde später auch ohne dieselben von selbst gut. Zwischen die 
offengehaltenen Wundränder kann man dann die Wundhöhle ganz 
locker mit steriler Gaze tamponieren oder auch nach den Buchten 
und tieferen Spalten hin ausserdem Gumminröhre legen, am besten 
der Länge nach aufgespaltene. 

Die Vorbereitung für eine Operation in infizierten Geweben 
sollen genau so sauber getroffen werden, als ob es sich um gesunde 
Gewebe handelte. Wenn auch schwerer, so kann man doch auch 
eine infizierte Wunde noch infizieren und zwar bei der Mannnigfaltigkeit 
der Infektionserreger mit anderen, als mit welchen sie schon infiziert ist. 

Wir wollen nun versuchen an der Hand der klinischen Er- 
fahrung und nach den Anhaltspunkten, die uns die Forschung über 
die Natur der Wundkrankheiten giebt, unsere Aufgaben genauer zu 
bestimmen. 

Um mit den mehr rein lokalen Prozessen anzufangen: Wodurch 
kommt beim Kranken eine Eiterung zu Stande? Nach den ersten 
bakteriologischen Untersuchungen sollte die Eiterung durch einige 
wenige Bakterienarten hervorgerufen werden, die man pyogene oder 
Eiterkokken genannt hat. Die Zahl der eitererregenden Mikroben 
hat sich aber in der Folge sehr vergrössert, ja es ist namentlich 
nach den Arbeiten Buchner’s nicht unwahrscheinlich, dass die 
Eiterung durch alle Bakterienarten, ohne Unterschied, hervorgerufen 
werden kann. Das Interessante ist aber noch dabei, dass ein 
eitererregender Stoff, das Bakterienprotein, erst nach dem Absterben 
der Bakterien frei wird. Damit stimmt überein, dass auf der Höhe 
der Eiterung im Mittelpunkt des Herdes die Mikroben im Absterben 
gefunden worden sind. 

Wo es also zur blossen Eiterung gekommen ist, da haben wir 
nicht mehr sohr viel zu thun und die in den Geweben verbreiteten 
Mikroben sind ausserdem der Einwirkung der Antiseptica entzogen. 


12 


Ja, wir besitzen eine Reihe von Untersuchungen, die uns gezeigt 
haben, dass die gleichzeitige Einwirkung verschiedener chemischer 
Stoffe, so u. A. auch Carbol und Sublimat die Entstehung der Eiter- 
ung nicht nur nicht verhindert, sondern durch örtliche Schädigung 
der Gewebe geradezu begünstigt. Bei solchen rein lokalen 
entzündlichen Eiterherden besteht wohl Fieber und Störung des 
Allgemeinbefindens, aber wenn wir den Abscess geöffnet haben, 
verschwindet das Fieber wie mit einem Schlage und das Allgemein- 
befinden bessert sich sehr schnell, ohne dass wir irgend ein 
Antisepticum in die Wundhöhle gebracht haben. Wo- 
durch diese Besserung bei der freien Eröffnung der Abscesshóhle 
im einzelnen Fall herbeigeführt wird, darüber können wir nur all- 
gemeine Annahmen machen. 

Mit feiner Ahnung vom Richtigen haben die Alten die Be- 
zeichnung der «pus bonum et laudabile» gefunden. Unsere neuesten 
Forschungen der Bakteriologie weisen in der That den Leucocyten 
immer mehr eine heilsame Bedeutung zu. Unter Modifikation des 
Metschnikow’schen Begriffes der Phagocytose müssen wir annehmen, 
dass aus den Leucocyten Stoffe frei werden, die in Lösung über- 
gehen und welche imstande sind, Bakterien zu töten. In welcher 
Weise diese Stoffe frei werden, darüber wird noch gestritten, aber 
sie sind da und hängen mit den Leucocyten zusammen, wenn 
sie auch wahrscheinlich nicht von ihnen allein herstammen. Die Bak- 
terien selbst locken sich durch ihre Chemotaxis selbst zu ihrem Ver- 
derben die Leucocyten herbei und der Entzündungsprozess ist eine 
Schutzmassregel des Körpers gegen die feindlichen Keime. Es 
können sich aber in einem örtlichen Herd auch Bakteriengifte 
bilden, die nicht blos Fieber, sondern auch mehr oder weniger 
schwere Schädigungen der Herztbätigkeit und des Nervensystems 
hervorrufen. Das kann wohl manchmal gewiss nur von der grösseren 
Menge der Infektionserreger abhängen. Man kann z. B. mit Pneumo- 
kokken, je nachdem man geringere oder grössere Menge von ihnen 
anwendet, entweder nur eine lokale leichte Entzündung oder eine 
umfangreiche Eiterung, oder eine gefährliche allgemeine Infektion 
hervorbringen. Aber es spielen hier noch eine Reihe anderer Un- 
stinde mit, welche die Gefahr vergrössern. So wissen wir, wie 
gefährlich Stauungen sind, wie sie im und am Darm und in den 


13 


Harnwegen vorkommen. Diese Thatsachen werden in der Erklärung 
komplizierter, als andererseits Stauungen wie z. B. bei Tuberkulose, 
günstig wirken können. | 

In der Wundhöhle, wo nicht das „pus bonum et laudabile“ mit seinen 
siegreichen Leucocyten statt hat, finden wir alle Übergänge von 
dem dünnflüssigen Eiter zur übelriechenden Jauche. Hier droht oft 
grosse Gefahr und was können wir thun, um den Bakterien entgegen- 
zutreten. Als einst der Listerverband auf dem Plan erschien, fand er als 
bis dahin beste Wundbehandlung die offene Wundbehandlung vor. Man 
nähte die Operationswunden nicht zu, sondern liess sie offen der freien 
Luft zugänglich daliegen, während doch nach Lister alles Uebel aus 
der Luft kam, wenn auch nicht aus der Luft selbsi, sondern von 
Fäulniskeimen, welche in der Luft schwebten und sich auf die 
Wunde und alle Gegenstände, die mit ihr in Berührung kommen, 
niedersenkten. Wie sollte man sich einen solcheu grellen Wider- 
spruch erklären? Eine Klarheit war erst möglich, als man einsah, 
dass die Luftinfektion gegenüber der Contactinfektion nicht von Be- 
deutung war. Man lernte auch unter Anwendung der Antiseptik 
die Vorzüge der offenen Wundbehandlung schätzen und 
zwar in der offenen lockeren Tamponade solcher Wunden, 
die entweder infiziert oder der stattgehabten Infektion verdächtig 
schienen. 

Um die Erklärung, woher jene Vorzüge dieser Behandlung 
kamen, kümmerte man sich wenig. Eine wissenschaftliche Chirurgie 
kann sich mit dieser Genügsamkeit aber nicht zufrieden stellen. 
Erst wenn sie ihre Massnahmen begründen kann, werden 
sie zu sicherem Besitz. Zweiffellos von grossem Einflusse ist 
hier die Eintrocknung der Sekrete, namentlich bei mehr flachen 
Wunden. Dennoch reicht diese Erklärung, welche sich wesentlich 
nur auf rein quantitave Verhältnisse stützt, nicht aus. Gerade für 
jauchige Wunden ist die Eintrocknung wenig angebracht, da so leicht 
Sekretverhaltung eintritt. Einen anderen Fingerzeig, dem Problem 
näher zu kommen, gewinnen wir, wenn wir auf die Verhältnisse 
eingehen, unter welchen die Bakterien in geschlossenen Wundhöhlen 
leben und sich vermehren. 

Louis Pasteur war es, der mit der wundervollen Divinationsgabe 
des echten Genies gezeigt hat, dass es Bakterien giebt, welche im 


Gegensatz zu allen bisherigen Annahmen im Stande sind, ganz ohne 
Luftzutritt, ohne Sauerstoff zu leben und ihre Stoffe zu bilden. 
Spätere Untersuchungen mit Hilfe der Koch’schen Methodik haben 
dann gezeigt, dass diese Fähigkeit ohne Sauerstoff zu leben, den 
pathogenen Pilzen allgemein zukommt. Man nennt sie die fakulta- 
tiven Anaöroben, die auf beide Arten, sowohl unter Luftzutritt als 
unter Luftabschluss zu leben im Stande sind. Andere Pilze, denen 
die Fähigkeit ohne Sauerstoff zu leben in besonders hohem Masse 
zukommt, wie z. B. der Bacillus des malignen Oedems heissen 
obligate Anaöroben. 

Da in den Wundsekreten geschlossener Wundhöhlen nach der 
Analyse der Chemiker kein Sauerstoff enthalten ist, so müssen alle 
Pilze in Eiterhöhlen etc. ohne Sauerstoff, d. h. als Anaéroben leben 
und die Zuleitung der Luft muss ihrem hier gewöhnlichen 
Wachstum hinderlich sein. 

Obligate Anaéroben in Reinkultur wachsen bei 
Luftzutritt überhaupt nicht. Die offene Wundbe- 
handlung mit lockerer Tamponade kann daher auch von diesem 
Gesichtspunkt aus als zweckmässig angesehen werden. 

Der eben besprochenen Kategorie von Wunden, bei welchen 
mit der örtlichen Behandlung noch etwas ausgerichtet werden kann, 
stehen die Infektionen gegenüber, bei welchen unsere Therapie ganz 
machtlos ist, wo es bis jetzt eine richtige Therapie gar nicht giebt, 
sei es weil die Mikroben den ganzen Körper überschwenmt 
haben, oder so viel Gift an einer Stelle gebildet ist, dass 
auch die stärkste Lokalbehandlung nichts mehr helfen kann. 
Hier stehen wir, die wir so stolz sind auf die Sicherheit unserer 
Wundbehandlung, ebenso ratlos da, wie es der innere Mediziner 
nur zu oft genötigt ist, wir sind hier ebenfalls ganz auf die «vis 
medicatrix naturae» angewiesen. 

Der nach den Ursachen spähendo Menschengeist hat vor diesem 
Mysterium nicht Halt gemacht. Nachdem wir in den letzten 30 
Jahren immer mehr darüber erfahren haben, wie Wunden infiziert 
werden, ist es heute kein grosses Wagnis mehr, an die Frage zu 
treten: Wie heilen infizierte Wunden von selbst? Können wir uns 
nicht die gewaltigen Heilkräfte, welche die Natur 
anwendet, auch unterthan machen? Wenn die Bak- 


15 


terien durch Gifte töten, wo ist das Gegengift, 
welches den Kranken wieder genesen lässt? 

Auch hier sehen wir wieder, dass unsere Theorie 
genau nur so weit reicht, als wir eine Anleihe machen 
können bei der Bakteriologie. 

Was uns hier zunächst in die Augen fällt ist, dass die Natur 
kein Universalmittel gegen alle Wundinfektionen kennt, 
im Gegensatz zu den Bestrebungen vieler Chirurgen, die immer 
alles Heil von einem einzigen Antisepticum erwarten. Die Natur 
kennt kein Mittel, um alle Bakteriengifte mit einem Schlage, durch 
eine Panacee aus der Welt zu schaffen. Sie führt hier den Kampf 
wie in einem feinen Schachspiel, durch Zug und Gegenzug. Das 
bakteriologische Tierexperiment hat uns eine unendliche Mannig- 
faltigkeit der Widerspiels zwischen Empfänglichkeit und Unempfäng- 
lichkeit gegenüber den Mikroben kennen gelehrt. Am meisten 
Interesse hat hier für uns nicht die natürliche, sondern die künst- 
lich erzeugte Unempfänglichkeit, Immunität. Die ver- 
schiedenen Wege, auf welchen sie erreicht werden kann, lassen wir 
beiseite. Wichtig ist, dass Immunisieren und Heilen eng zusammen- 
hängt. Freilich ist die Zahl der Krankheiten, gegen welche man 
immunisieren kann, noch viel grösser, als die auf diesem Wege 
erreichbaren Heilungen. Es lässt sicb aber schon jetzt erkennen, 
dass wir bei den infizierten Wunden, die durch Lokaltherapie nicht 
mehr zu heilen sind, nur dann etwas erreichen werden, wenn wir 
die baktericiden Körper und die Antitoxine in 
unseren Dienst stellen, welche im Körper selbst 
entstehen. 

Wie man sich die erstaunlich interessanten Vorgänge bei der 
Immunisierung und Heilung näher vorstellen soll, können wir hier 
nicht weiter erörtern. Es liegt schon jetzt ein riesenhaftes Material 
von Thatsachen vor, die ganz neue Anschauungen, neue Begriffe 
zur notwendigen Folge haben. Dabei berühren die bakteriologischen 
Errungenschaften die intimsten Probleme der Chirurgie, gerade was 
die infizierten Wunden betrifft. Und trotzdem fast das ganze 
experimentelle Material auf die Weise gewonnen ist, dass man die 
Tiere von Wunden aus infizierte, so ist doch dies ganze 
Forschungsmaterial fast nur von Hygienikern und Bakterio- 


16 





logen, am wenigsten von Chirurgen geliefert worden. Die 
Chirurgie hätte aber das allermeiste praktische Interesse, den von 
anderen Forschern erschlossenen und geebneten Weg zu verfolgen. 

Weswegen verfolgt sie ihn nicht? 

Ich will nicht davon sprechen, dass auch sonst neue Forschungszweige 
sich immer nur langsam eingeführt haben. Ein Haupthindernis liegt 
jedoch in der heutigen Organisation der chirurgischen 
‘Kliniken, denen in erster Reihe die Pflicht der Forschung obliegt. Die 
Kliniken haben gegenwärtig in Folge des mächtigen opera- 
tiven Materials, das sie hewáltigen müssen, ganz andere 
Dinge zu thun, als sich angelegentlich mit unseren Fragen zu beschäftigen. 
Und wenn sie dies auch thun wollten, so können sie es 
heute nicht mehr so, wie es dem Stande der Frage 
entspricht. Das können heute nicht einmal mehr die 
hygienischen Institute. Das sehen wir an der Entwickelung 
mancher Einzelheiten. Als sich damals für Koch die Notwendig- 
keit herausstellte, seine Arbeiten, welche mit dem Tuberkulin an- 
fingen, fortzusetzen, verliess er das von ihm geschaffene Hygienische 
Institut und zog ins neugegründete Institut für Infektionskrankheiten. 
Und als Behring in diesem selben Institut dann mit seinem 
Diphtherieserum weiter arbeiten wollte, reichte es wiederum dazu 
bei Weitem nicht aus. Er hatte es nur dem Entgegenkommen grosser 
Privatunternehmer zu verdanken, dass er nicht die ganze Sache auf 
halbem Wege wieder fallen lassen musste. Jeder Zweig der Wissen- 
schaft hat seine eigenen Sorgen und seine eigenen 
Interessen. Der Hygieniker steht unseren Problemen als 
Fachmann sehr fern. Erst die klinische Beobachtung 
am Krankenbett kann in der Chirurgie die richtige 
Fragestellung und den richtigen Standpuukt geben. Der 
Chirurg muss hier nach beiden Richtungen selbständig denken 
und sich aus der allgemeinen Bakteriologie in derselben Weise das 
aussuchen, was er für seine Zwecke braucht, wie er seine topographisch- 
chirurgische Anatomie aus der allgemeinen Anatomie bereichert. 
Was uns der Hygieniker geben kann, sind Analogieschlüsse 
von Kaninchen, von Meerschweinchen auf den Menschen. Wir 
müssen ihm auch schon dafür dankbar sein, Vor 25 bis 
30 Jahren waren die Analogieschlüsse, die wir dem Tierexperiment 


17 
entnahmen, noch ausserordentlich unvollkommen und ver- 
kehrt. Damals galt allen Ernstes noch der Frosch als bestes Objekt fiir 
die experimentelle Erforschung der Septikämie und wir finden in 
einem bekannten chirurgischen Lehrbuche eine lange Abhandlung 
iiber die Frage, ob der Frosch fiebern kann. 

Bei der unendlich verschiedenen Empfänglichkeit der einzelnen 
Tierarten einerseits und des Menschen andererseits gegenüber In- 
fektionserregern genügt uns heute für die Chirurgie nicht mehr 
der weit hergeholte Analogieschluss allein, wir 
müssen die Prozesse kennen, wie sie sich im Menschen 
selbst abspielen. Das geht nicht so einfach wie im 
Tierexperiment, unsere Aufgaben sind deswegen auch 
viel schwieriger. Wir wollen uns nicht nur rein theoretisch 
über die Natur der Antikörper belehren, sondern wir wollen den 
Kranken heilen. Wenn wir nun vielleicht auch wissen sollten, wie 
man eine Streptokokkeninfektion durch ein Serum heilen kann, 
was machen wir, wenn wir, um an einen jüngst behandelten Fall 
anzuknüpfen, schon im mikroskopischen Präparat aus der Jauche 
einer septischen Phlegmone ausser den Streptokokken auch Staphylo- 
kokken, ferner noch einen Kapselkokkus und ausserdem noch 
drei Arten von Bazillen finden? 

Welche Zahl von systematisch fortgesetzten 
Untersuchungen und welche Vorarbeit, welche Ver- 
wertung des klinischen Materials gehört dazu, um 
uns für das praktische Handeln in solchen Fällen 
eine Richtschnur zu geben? Sollen wir aber solchen Fällen 
gegenüber für ewig die Hände in den Schooss legen dürfen und wie 
bisher, den Infizierten einfach sterben lassen? 

Und die rettungslos verlorenen Fälle von Sepsis sind durchaus 
nicht etwa selten. Wie oft traut man uns zu, dass wir bei der Ent- 
wickelung der heutigen Chirurgie auch in solchen verzweifelten 
Fällen helfen werden und doch können wir da nichts weiter leisten, 
als höchstens eine richtige Prognose stellen. 

Es liegt in der Natur der Sache, dass die chirurgische Therapie 
bereits infizierter Wunden wohl niemals die Sicherheit erreichen wird, 
wie die chirurgische Prophylaxe, mit welcher wir jetzt die 
frischen Operationswunden schützen. Trotzdem müssen wir alles 


9 


18 


daran setzen, das zu erreichen, was erreichbar ist. Auf diesem 
Wege kann die Chirurgie nicht nur in der Therapie Fortschritte 
machen, sondern auch dazu beitragen, die allgemeinen Anschauungen 
der Pathologie zu vervollkommnen, so wie schon die antiseptische 
Wundbehandlung einst die damals viel umstrittene Lehre von den 
causae vivae der Infektionskrankheiten mächtig gefördert und zur 
allgemeinen Anerkennung gebracht hat. Die chirurgischen 
Krankheitsherde sind dem Auge und der unmittel- 
baren Untersuchung zugänglich und dadurch hat 
die Chirurgie für die Erforschung pathologischer 
Probleme gerade im Vereine mit der Bakteriologie 
grosse Vorteile vorden übrigen klinischen Disziplinen 
voraus. 

Um aber mit Hilfe der neuesten bakteriologischen Errungen- 
schaften die Aufhellung von chirurgischen Problemen weiter zu 
führen, muss sich diese Forschung von den mit anderen 
Arbeiten überhäuften chirurgischen Kliniken ab- 
lösen und sich mit klinischem Material entweder 
an grosse Forschungsinstitute, wie sie z. B. in Paris und besonders 
in Petersburg bestehen, anschliessen, oder für ihre eigene Zwecke 
besondere Instituteerrichten. Sonst bleibtdie chirur- 
gische, aetiologische Forschung immer weiter hinter den 
Aufgaben der Zeitzurück. Wir brauchen zur Bestätigung dessen 
noch nicht einmal daran zu erinnern, dass jetzt ausser den pflanzlichen 
Bakterien in neuester Zeit die tierischen Protozoen als Krankheits- 
erreger die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken beginnen und diese 
Protozoen ganz anders untersucht sein wollen, als die Bakterien. 
Unsere gewöhnlichen Kulturmethoden lassen da vorläufig ganz im Stich. 

Es kann nicht der Zweck dieses Referates sein, auf alle ein- 
zelnen infizierten Wunden genauer einzugehen, eine Krankheit 
möchte ich aber doch noch zur Sprache bringen, eine der schreck- 
lichsten, die wir kennen, das ist der Tetanus.*) 

Ueber die Behandlung des Tetanus beim Menschen wird noch 
viel gestritten und eine Einigung ist noch nicht erzielt. Angewandt 
werden: Antiseptische Ausspülung, Aetzen, Ausbrennen mit Spaltung 


*) Anmerkung: Aus Rücksicht auf die stark besetzte Tagesordnung hatte 
ich im Vortrage die Behandlung des Tetanus ausgelassen. 


19 


oder Ausschneiden der Wunde und die Amputation, wenn dies nach 
der Lage der Wunde möglich ist. Daneben ist man gezwungen, 
zum Chloroform, Chloralhydrat, Opium u. s. w. zu greifen. Soviel 
ist klar, dass, wenn ein Mensch unter dieser Therapie gesund wird, 
er nicht nur die Krankheit, sondern auch das eingreifende Heil- 
verfahren mit überwunden haben muss. Daher ist der Wunsch 
nach einer Verbesserung der bisherigen Behandlungsweise sehr be- 
greiflich. Mit grosser Sicherheit hat man die Immunisierung gegen 
Tetanus im Tierexperiment schon erreicht. Mit dem Heilen 
des schon ausgebrochenen Tetanus hat es grössere 
Schwierigkeiten und beim Menschen sind die Stimmen über 
das schon Erreichte jetzt noch geteilt Wie man aus den Tier- 
experimenten weiss, kommt alles auf die möglichst frühe 
Anwendung des Heilserums an. Wenige Stunden später 
kann schon die 100fache Menge davon nötig sein. Eine Haupt- 
bedingung zur Feststellung der wirklichen Leist- 
ungsfähigkeit der Serumbehandlung ist die, dass 
das Antitoxin in jeder Apotheke leicht zu haben 
sein soll. Aber trotz der Allgemeinbehandlung mit Antitoxin 
wird man weder die symptomatische noch vor allem die lokale Be- 
handlung aus dem Auge lassen dürfen. Die breit und ausgiebig 
gespaltene Wunde wird sich am besten mit den von mir empfohlenen 
Drahtklammern klaffend erhalten lassen. Höchst auffallend ist es 
aber, dass man eine andere Massnahme, wie es scheint, bis jetzt 
nicht besonders ins Auge gefasst hat, die sich auf das Verhältnis 
des Tetanusbazillus zum Sauerstoff bezieht. 

Der Tetanusbazillus ist ein Anaérobe, d. h. er wächst 
bei Gegenwart von Luftentweder gar nicht, oder 
wenn er so unter Umständen wächst, so scheint 
erdann unschädlich geworden zu sein. Da wir es hier 
mit einem so überaus gefährlichen Mikroben zu thun haben, werden 
wir uns nicht einmal mit dem blossen Offenhalten der Wunde be- 
gnügen, um so weniger, als andere, gleichzeitig in die Wunde ge- 
ratene fakultative Anaöroben ihm durch Aufbrauchen des Sauerstoffs 
das Leben ermöglichen und erleichtern können. 

Wir müssen Sauerstoff direkt durch die Tetanus- 


wunde durchleiten, der Sauerstoff ist für die Teta- 
gx 


91) 

nusbazillen ein sicheres Gift und wird von den 
Kórpergeweben begierig aufgenommen, dringt also 
um so sicherer ein. Ich habe im Versuch gefunden, dass auch 
Tetanusbazillen, die im Briitschrank einfach in Zuckergelatine wachsen, 
dieses nicht thun, wenn man aus einem Gasometer 
fortdauernd Luft hindurchbrechen lässt. Kann man 
es haben, so wird man natiirlich lieber den Sauerstoff selbst nehmen. 
Man legt also bis in den tiefsten Grund der Wunde dúnne Gummi- 
röhren und verbindet sie durch einen dreizackigen Glasteil mit dem 
Gasometer oder einem Sauerstoffballon aus Gummi. Auf den Haupt- 
schlauch kommt ein Regulierungshahn. 

Das miisste auf die Bazillen vicl sicherer wirken, als Anti- 
septika, in welchen sie auch schon in wässeriger Lösung stundenlang 
lebendig bleiben können. Um wie viel mehr erst in Eiterflüssigkeit! 
Viel mehr Aufmerksamkeit als bisher wird man dem Immunisierungs- 
verfahren zuwenden miissen. Hat man irgend Verdacht auf Tetanus- 
infektion, nun, so spritze man doch die kleine Dosis Serum ein. 
Schaden wird es sicher nicht und könnte viel helfen. Dass 
man den Eiter der Wunde mikroskopisch zu untersuchen hat, oder 
gut thut, bei tetanusverdiichtigen Wunden mit dem Wundinhalt 
Impfungen auf weisse Mäuse vorzunehmen, ist für jeden, der der 
Bakteriologie einigermassen nahe steht, eigentlich ganz selbst- 
verständlich. 

M. H.! 

Unser Thema über die Therapie infizierter Wunden ist nicht 
blos theoretisch interessant und wichtig, es greift vielmehr weit in 
die praktischen Verhältnisse hinein. Denn es kommt doch vor Allem 
darauf an, dass die als richtig erkannte Behandlung auch den 
Kranken wirklich zu Gute kommt. Und da bilden gerade die 
infizierten Wunden ein Hauptgebiet in der Thätigkeit 
des praktischen Arztes! Was aber ein sehr grosser Teil der 
praktischen Ärzte in der Wundbehandlung leistet, ist kein Geheimnis. 
Man merkt es manchmal kaum, dass ein Lister überhaupt da- 
gewesen ist und dass seit 25 Jahren in der Antiseptik gearbeitet 
wird. Und dennoch ist es faktisch, dass die Ärzte daran nicht so 
sehr schuld sind, als der klinisch-chirurgische Unterricht. Die 
Ärzte behandeln die Wunden meist ihr ganzes Leben so, wie sie 


21 


tr 








auf der Universitát gelernt haben. Und hier haben sie meist nur 
sehr mangelhafte Gelegenbeit, sich in der Wundbehandlung praktisch 
auszubilden. Das ist kein persónlicher Vorwurf gegen irgend einen 
Lehrer, sondern diescr Mangel wurzeltin derOrganisation 
der chirurgischen Kliniken. So segensreich die Anti- 
septik dem kranken Menschen geworden ist, so ver- 
derblich ist sie fúr den chirurgischen Unterricht ge- 
worden. Es wird jetzt so viel mehr operiert, als früher, das gross- 
artige operative Material mit seinen Ansprüchen, ich möchte sagen, 
an die rein körperliche Arbeitskraft, steht so ganz im 
Vordergrund, dass die ruhig gesammelte Vorbereitung 
für die Thätigkeit des späteren praktischen Arztes 
zukurz kommt. Das Massenmaterial erdrückt jede 
didaktische Logik. Auf einer Klinik ist es damit etwas besser, 
auf der anderen weniger gut, im Grunde sind sie darin aber alle gleich. 

In den meisten wird eine grosse Menge von grossen Operationen 
vor den Augen der Studierenden gemacht, die mit der Ausbildung 
des praktischen Arztes nichts zu thun haben. Daraus folgt 
mit strenger Notwendigkeit, dass auch die Zwecke 
des Unterrichtes, der ja für das, was der leidenden 
Menschheit von den Forschungsresultaten wirklich 
zu Teil werden soll, von der allergrössten Wichtig- 
keit ist, dass auch die Zwecke des chirurgischen 
Unterrichts für sich verfolgt werden sollen. Das 
giebt eine weitere Teilung der Funktion der 
heutigen chirurgischen Klinik Teilen wir die 
aetiologische Forschung und den Unterricht ab, so 
resultiert notwendig eine dritte Institution, diein 
erster Linie dazu bestimmt ist, dasjenige Massen- 
material aufzuoperieren und zu versorgen, welches 
weder für die Forschung noch für den Unterricht 
tauglich und nötig ist. Diese letztere Kategorie von 
Anstalten, die mögen dann die Serien von Tausenden Laparotomien 
und Hunderten Kropfoperationen veröffentlichen, an welchen für 
den praktischen Arzt nichts zu lernen ist, die aber die besten 
Arbeitskräfte, sowohl der Forschung, als dem Unterricht entziehen. 
Es wird sich für die Zukunft vorläufig um eine besonnene Übergangs- 


zeit handeln, aber gut wird es nur werden, wenn jene drei wichtigen 
Obliegenheiten der heutigen chirurgischen Klinik, die sich unauf- 
hörlich immer als Hemmschuhe gegenseitig hindernd in den Weg 
treten, getrennt von einander, frei fiir sich einhergehen werden. 

Wie weit sind wir noch davon entfernt, dass auch die prak- 
tischen Aerzte, die mebr als alle Kliniker mit infizierten Wunden 
zu thun haben, die grundlegende Voraussetzung dazu, die aseptische 
Wundbehandlung, beherrschen werden. 

Schon vom Anfang der Aseptik an, hat man wiederholt in der 
Litteratur sich dahin geäussert, dass die Aseptik für den praktischen 
Arzt nichts sei. 

Man hat in letzter Zeit sogar in Abrede gestellt, dass die 
Aseptik auch bei frischen Operationswunden bessere Resultate erzielt 
und den praktischen Aerzten direkt geraten, zur Antiseptik zurück- 
zukehren. Die Aseptik sei in der ärztlichen Praxis nicht ausführbar. 
Um wie viel mehr wird man daher gegen die aseptische Behandlung 
der infizierten Wunden in der Praxis sein. 

Dass keine Besserung der Erfolge gegenüber der Antiseptik 
zu merken sei, ist doch nicht richtig. Wir wollen nur die Nieren- 
operationen und die Laparotomien nehmen. Als Czerny auf dem 
Londoner internationalen Kongresse 1881 über die Nierenexstirpationen 
sprach, betrug ihre Mortalität ca. 55°/,. Seine damals ausgesprochene 
Hoffnung, dass die Antiseptik die Erfolge bessern werde, ging nicht 
in Erfüllung, denn 1890 betrug die Mortalität noch immer 53 %/,. 
Vier Jahre später konnte aber schon aus der Heidelberger Klinik 
eine Serie von 9 Nierenextirpatignen berichtet werden, welche ohne 
Todesfall geheilt waren. Und als Erklärung für diesen Umschwung 
wurde gerade das Fortlassen der Antiseptica, also die aseptische 
Wundbehandlung angeführt. Als bezeichnend dafür, wie die spezielle 
operative Technik manchmal zu vorherrschend das Interesse von der 
Frage der Wundbehandlung ablenkt, dafür haben wir hier auf dem 
Kongress noch letzten Sonnabend ein gutes Beispiel gehabt: Von allen 
den geehrten Rednern, welche über Nierenexstirpationen 
gesprochen haben, hat kein einziger den so wichtigen 
Umstand erwähnt, dass das Jodoform hier die Ope- 
rationsresultateverschlechtert und bei Nierenoperationen 
zu vermeiden ist. Keiner hat erwähnt, dass gerade hier nur die Aseptik 


23 


am Platze ist. Dass ferner die Resultate bei den Laparotomien jetzt 
unter der Aseptik als bessere geschildert worden, ist doch ebenso 
bekannt, als dass die Antiseptica, zumal das Jodoform, das Bauch- 
fell zu Verklebungen reizen, und Adhäsionen hervorrufen. Diese 
Verstimmung gegenüber der Aseptik hat also anscheinend keine 
objektive Begründung. 


Weswegen soll der praktische Arzt auf die Aseptik verzichten ? 
Worin liegt denn die so viel grössere Schwierigkeit der aseptischen 
Wundbehandlung? Nehmen wir an, ein praktischer Arzt hat einen 
Abscess in der Wohnung des Patienten zu spalten. Seine Hände 
muss er genau ebenso sorgfältig waschen, mager nun anti- 
septisch oder aseptisch behandeln, ebenso genau die Haut 
des Patienten. Ihm das Kochen der Instrumente abzuraten, durch 
welches er überhaupt nur mit Sicherheit keimfreie Instrumente 
bekommen kann, wäre überflüssig, wenn er sie ohnehin nicht kochen 
könnte, aber unverantwortlich, wenn es ausführbar ist. 


Und ausführbar ist es immer, wenn man nur von der Ueber- 
legenheit des Kochens gegenüber dem Carbol überzeugt ist. Kurz, 
er hat nun seinen Abscess gespalten, was nun weiter ? 


Jetzt kommt der einzige Unterschied, dass er den Abscess nicht 
mit Sublimat etc. ausspült und dass er anstatt der allgemein ge- 
bräuchlichen Jodoformgaze, einfach sterilisierte Gaze nimmt. Jetzt 
gehört also zur vollen Aseptik nur, dass er vom Apotheker sterilisierte 
Gaze bekommen kann. Auch dass wird dann keine Schwierigkeit 
haben, wenn unter den Aerzten erst genügende Nachfrage nach 
sterilisierter Gaze vorhanden sein wird. Ja, infizierte Wunden lassen 
sich noch eher ohne Antiseptika behandeln, als frische, weil eine 
eiternde Wunde gewöhnlich viel schwerer mit einer anderen Infektion 
anzustecken ist, als eine frische. Man sollte lieber, ehe man laut 
proklamiert, dass in der Praxis Aseptik zu treiben unmöglich sei, 
erst etwas mehr dazu beigetragen haben, um diese Verhältnisse dem 
Arzte einfacher und bequemer zu gestalten. 

M. H. Bei dem enormen Umfang des mir gestellten Themas 
konnte ich auf manche Einzelheiten, wie permanente Ueberrieselung, 
Wasserbad, feuchte Umschläge (Hydrotherapie) u. s. w. nicht näher 
eingeben. Die Diskussion hat da Gelegenheit, mich zu ergänzen. 





Es ist fiir die Behandlung infizierter Wunden weniger wichtig, 
feine Unterschiede zu finden, ob das cine oder das andere Anti- 
septicum das bessere ist, als sich darüber klar zu werden, ob 
die Antiseptica überhaupt in infizierte Wunden ge- 
bracht werden sollen, ob sie überhaupt nötig sind. 
Denn wenn wir alle infizierte Wunden ausschliesslich nur antiseptisch 
behandeln, kämen wir in unserer Frage nicht weiter. Wir müssen 
erst wissen, wie weit die Wunden ohne Antiseptica heilen, um zu 
wissen, wo letztere vielleicht noch als Unterstützungsmittel hinge- 
hören. Nach dem, was ich selbst bei der Behandlung 
infizierter Wunden gesehen habe, muss ich die 
Bedeutung der Antiseptica für so fraglich halten, 
dass ich glaube, sie sind hier ganz überflüssig. 
Wenn man sich allgemein noch scheut, von der antiseptischen 
Behandlung infizierter Wunden abzugehen, und zur aseptischen über- 
zugehen, so möchte ich mir daran zu erinnern erlauben, dass sich 
in verhältnismässig kurzer Zeit unsere Ansichten auch bezüglich 
frischer Operationswunden sehr geändert haben. Auch für frische 
Wunden haben wir die Antiseptica bei der Behandlung einst für 
ganz unentbehrlich gehalten. Die nächsten Jahre werden uns gewiss 
zeigen, dass wir auch in Bezug auf die infizierten Wunden unsere 
Ansichten und die Behandlung werden ändern müssen, um hier 
vorwärts zu kommen. Eine durchgreifonde Reform in den von mir 
angedeuteten Richtungen halte ich nur für eine Frage der Zeit. 


_Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelman n in. Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 


an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 








Ueber Atypien bei Psoriasis vulgaris. 
Von 
Prof. Dr. Jadassohn in Bern. 





Das Bild der Psoriasis vulgaris gehört zu den characteristischsten, 
schárfst umrissenen auf dermatologischem Gebiet. Es ist dem 
praktischen Arzt aus reichlicher Erfahrung gut bekannt und erscheint 
ihm wohl etwas monoton. Die typische Localisation, die scharf ge- 
schnittenen Ränder, die verschiedene Grösse, dabei aber die Uni- 
formität der mehr minder zahlreichen Herde, der Silberglanz der 
Schuppen, endlich die „Nagelprobe“, d.h. das leichte Bluten bei Ab- 
streifen des Psoriasishäutchens — all das ist so viel besprochen, so 
gut in jedem Lehrbuch beschrieben, dass der Praktiker, für den 
diese Vorträge bestimmt sind, wohl fragen mag: „Psoriasis? was 
lässt sich darüber Neues sagen ?“ 

Ich habe nicht die Absicht, Sie in dem Folgenden mit diesen 
allbekannten Dingen zu langweilen. Es liegt mir auch fern, vor 
Ihnen die ätiologischen Fragen aufzurollen und Ihnen in noth- 
gedrungen rein theoretischen Erörterungen auseinanderzusetzen, warum 
ich ein überzeugter Anhänger der parasitären Aetiologie der Psoriasis 
bin, und glaube, dass wir auf Grund aller unserer klinischen Kennt- 
nisse gezwungen sind, diese Krankheit zu den Dermatomykosen zu 
rechnen. 

Ich glaube aber, dass es auch für Sie Interesse haben wird, die 
Abweichungen von dem Ihnen aus den Lehrbüchern, aus der 
„Schule“ so gut bekannten Bilde einmal etwas näher und im Zu- 
sammenhange zu betrachten. Jeder „Typus“ wird langweilig und 
wie uns unter den Menschen diejenigen ein besonderes Interesse 
abnöthigen, welche sich durch absonderliche, „originelle“ Eigen- 
schaften von dem grossen Tross abheben, su folgen wir auch den 
Krankheitsfällen mit gesteigerter Aufmerksamkeit, bei welchen nicht 


alles „nach der Regel“ vor sich geht. 
1 


Neben diesem Interesse aber und neben der theoretischen Be- 
deutung, welche gerade die Atypien einer Krankheit häufig für deren 
allgemein-pathologische Auffassung haben, sind die Bemerkungen, 
welche ich Ihnen vortragen möchte, auch praktisch, wie ich glaube, 
nicht ohne Werth. Vielleicht bringen sie Manchem von Ihnen einen 
Fall in Erinnerung, der ihm unklar gewesen ist, vielleicht schützen 
sie Sie vor Verwechselungen in der Zukunft, vielleicht sichern sie 
Ihnen therapeutische Erfolge, wo solche ohne Diagnose nicht zu 
erzielen sind. 


In diesem Sinne bitte ich Sie, die folgenden Darlegungen auf- 
zufassen, welche für den specialistisch Erfahrenen wenig Neues 
bringen werden.!) 


Eine alte Lehrbuchregel sagt: Die Psoriasis juckt nicht, 
Wie fast alle solche als Gesetze formulirten Erfahrungen hat auch 
diese mannigfache Ausnahmen. Und weil ich so oft gehört habe, 
dass das Nicht-Jucken differentialdiagnostisch verwerthet wird, möchte 
ich die Umstände, unter denen die Psoriasis juckt, etwas näher 
bestimmen. Einmal kann die „Eruptionspsoriasis“ sehr heftiges 
Jucken veranlassen. Solche Eruptionen kleinster Psoriasisefflores- 
cenzen entstehen entweder ,,d’emblée“ — d. h. ohne dass vorher eine 
Psoriasis vorhanden war, oder sie schiessen ganz plötzlich auf, nach- 
dem durch Jahre oder Jahrzehnte eine oder einige kaum oder nicht 

beachtete Psoriasisplaques bestanden haben. Zu einem derartigen 
Ausbruch kann eine andere juckende Dermatose, wie z. B. die 
Scabies, den Anlass geben; man kennt die Thatsache, dass die 
„Provocation“ bei der Psoriasis eine grosse Rolle spielt, schon seit 
Hebra, und ganz besonders überzeugend hat sie Koebner demon- 
strirt, als er durch Tätowirung Psoriasisfiguren auf den Körper 
zeichnen konnte. So kann der kratzende Finger des Scabiösen 
Psoriasisherde hervorrufen — eine Thatsache, bei der die Frage 
unentschieden bleiben mag, ob er an den gekratzten Stellen eine 
schlummernde Disposition weckt oder die supponirten Psoriasis- 


1) Ich verzichte hier auch fast vollständig auf Citate aus der Litteratur; 
wer sich näher mit dem Gegenstand beschäftigen will, findet in den Arbeiten von 
Rosenthal, (Archiv für Dermat. u. Syph. 1893) und Nielsen (Mon. f. prakt. 
Derm. XV) reichlich Material und Litteraturangaben. Nur eigene Erfahrungen 
wollte ich hier besprechen. 


3 


keime von einem Herde aus in die Haut der verschiedensten 
Körperstellen einimpft. Das Jucken aber hört nicht auf, wenn die 
Scabies geheilt ist, sondern es dauert an, bis der Nachschub neuer 
Efflorescenzen sistirt. 


Bei solchen Psoriasisherden ist die mehrfach discutirte Frage, 
ob sie Papeln oder Flecke darstellen, auf den ersten Blick ent- 
schieden, — bei ihnen hebt ein acut entstehendes Oedem die Ober- 
fläche der Haut ganz unabhängig von der Schuppenbildung in die 
Höhe. Die acuten Schübe einer an sich chronischen nicht juckenden 
Dermatose jucken — ganz so wie die unscheinbarste gleichgültigste 
Hautkrankheit, die Pityriasis versicolor, Entzündung bedingen und 
jucken kann, wenn sie, durch irgend eine Gelegenheitsursache an- 
gefacht, acut über den Körper sich ausbreitet. 


Es ist ferner eine dem Specialarzte leider nur allzugut bekannte 
Thatsache, dass unter einer specifischen Chrysarobinbehandlung eine 
solche Eruptionspsoriasis durch die Chrysarobindermatitis provocirt 
werden kann. Gerade mit Rücksicht auf solche Fälle schien es mir 
wünschenswerth, von dem Typus der Chrysarobinanwendung, wie er 
allgemein üblich ist, abzuweichen und in einer viel allmählicheren 
Weise vorzugehen. Wenn man mit ganz schwachen Concentrationen 
(Vio —1 °/)) der Chrysarobinsalbe beginnt und den Körper allmählich 
an die energische specifische Wirkung dieses Medicamentes gewöhnt, 
sieht man solche unangenehme Zufälle kaum oder nur verschwindend 
selten. 1) 

Aber noch unter ganz anderen Bedingungen juckt die Psoriasis: 
dann nämlich, wenn sie nicht mit acuter entzündlicher Hyperaemie, 
sondern mit chronischer Entzündung combinirt ist, wenn sie sich 
>eczematisirt«. Wie bei den Dermatomykosen, speciell bei der 
Trichophytie, so kann es auch bei der Psoriasis, wenn sie sich lange 
in loco hält, zu einer derberen und tieferen Infiltration der Cutis 
kommen; das findet besonders häufig an den unteren Extremitäten 
statt. Solche derbe Plaques sind oft nur schwer und nur durch die 
Combination mit typischen frischeren Herden vom Eczema chronicum 
zu unterscheiden; sie haben mit ihm auch das continuirliche oder 
exacerbirende Jucken gemein. 





1) cf. Zeitschrift für prakt. Aerzte 1897. 
1* 


4 


Und endlich kann die Psoriasis in allen ihren Formen und 
Localisationen jucken, weil — die individuelle Disposition des Er- 
krankten das bedingt. Wie der Schmerz, so ist auch das Jucken 
in eminentem Grade von der Toleranz des Individuums abhängig. 
Mit Staunen sehen wir manchmal, wie die hochgradigste Entwicklung 
typischer Scabiesgänge, wie die dichteste Anhäufung von Pediculi 
pubis, ja selbst wie eine so ausgesprochene Juckkrankheit wie der 
Lichen ruber planus ertragen wird, ohne dass der Patient — und 
zwar nicht blos der Nervenstumpfe — sich zu der Abwehrbewegung 
des Kratzens veranlasst sieht. Aber auf der anderen Seite genügt 
bei manchen Menschen schon die einfache Vorstellung, dass auf 
ihrer Haut etwas «nicht in Ordnung» ist, um sie zu energischem 
Aufkratzen der Haut zu zwingen. 

So wird auch mancher Psoriatiker seines lebens nicht froh, 
weil ihn das Jucken nicht zur Ruhe kommen lässt — ein Mann aus 
den ärmeren Schichten der Bevölkerung, den ich jüngst sah, hatte 
sich in der That, trotzdem er eine ganz uncomplicirte Psoriasis hatte, 
die Plaques förmlich zerschunden, so dass sie mit blutigen Krusten 
in weitem Umkreise bedeckt waren — während Andere — und zwar 
glücklicherweise die Mehrzahl -— die ausgebreitetsten Eruptionen 
ertragen, ohne etwas Anderes als den „Schönheitsfehler“ zu beklagen. 

Also — das Nicht-Jucken ist ein häufiges, aber kein 
constantes Symptom der Psoriasis; das Jucken darf nie 
von der Diagnose der Psoriasis zurückhalten, wenn die 
morphologischen Charactere dieser Krankheit ausge- 
sprochen sind. 

Wie mit diesem Symptom, so steht es auch mit einer anderen 
Schulregel, nämlich, dass die Psoriasis vulgaris die Hand- 
flächen und die Fusssohlen frei lässt. 

Die Dermatologen haben schon längst Ausnahmen auch von 
dieser Erfahrung betont — aber doch wie mir scheint, nicht mit der 
nöthigen Energie und noch im vorigen Jahre hat in der französischen 
Dermatologischen Gesellschaft ein geschätzter College, Herr Darier!) 
3 Fälle von Psoriasis palmaris besprochen und damit zu einer 
lebhaften Discussion dieser Frage Veranlassung gegeben. Er hat 


') Annales de Dermatologie et de Syphiligraphie 1896 p. 609. 


5 


besonders betont, dass es Fälle gebe, in denen der Localisations- 
typus der Psoriasis in Bezug auf die Hände und Füsse gerade- 
zu umgekehrt sei: gewöhnlich Hände und Füsse (nicht bloss 
Handteller und Fusssohlen) frei, wenn der übrige Körper befallen 
ist; in einzelnen Fällen aber nur Palmae et Plantae oder oft nur 
eine Palma oder eine Planta und eventuell auch die Dorsalflächen 
der Hände und Füsse befallen. Die oft sehr schwierige Differential- ` 
diagnose solcher Fälle gründet sich nach Darier dem Eczem gegen- 
über auf die dunklere Farbe, die schärfere Umgrenzung, die häufige 
Asymmetrie, der Lues gegenüber auf die geringere Infiltration und 
die eventuelle Betheiligung der Dorsalseiten bei der Psoriasis. Die 
Veränderungen der Nägel, auf die ich weiterhin noch zu sprechen 
komme, können bei Psoriasis und Eczem identisch sein. 


Gewiss ist, dass es eine solche „Psoriasis vera palmaris et 
plantaris“ giebt, gewiss auch, dass sie differentialdiagnostisch gegen- 
über der psoriasiformen Syphilis der Früh- und der Spätperiode 
(der früher sehr unpassend sogenannten Psoriasis syphilitica) oft 
grosse Schwierigkeiten macht — in einem so grossen Umfange, dass 
die französischen Collegen die Diagnose ex juvantibus vorschlagen 
und zwar in der Form der Calomelinjectionen, denen gerade bei 
der in Frage kommenden, schwer heilbaren Form der Syphilis eine 
besondere Bedeutung zugeschrieben wird’). 


Aber diese Form ist jedenfalls nach meinen Erfahrungen sehr 
viel seltener, als eine andere, welche an Handtellern und Fuss- 
sohlen vorkommt und welche ich kaum erwähnt finde Sie ist 
freilich viel unscheinbarer als die eben erwähnte; sie kommt kaum 
isolirt vor, oder wird dann wenigstens kaum aufgefunden; fast immer 
bildet sie einen Nebenbefund bei typischer Psoriasis des Körpers 
mit und ohne characteristische Psoriasisherde der Hand- und Fuss- 
rücken. 

In den hierher gehörigen Fällen finden sich in grösserer oder 
geringerer Zahl über die Handteller und Fusssohlen wie auch über 
die Volarflächen der Finger stecknadelkopf- bis linsengrosse und 


1) Gerade in solchen Fällen zeigt sich die Superiorität der subcutanen Be- 
handlung gegenüber der in Frankreich so viel benutzten internen, aber auch gegen- 
über der percutanen Methode. 


grössere Herde, an denen Röthung und Infiltration ganz oder fast 
ganz fehlt, an denen auch die Schuppung sehr gering ist und sich 
wesentlich auf den Rand der Efflorescenzen beschränkt, so zwar, 
dass diese in ihrer characteristischsten Ausbildung als glatte, runde 
und flache, scharf von einer schmalen „Hornfranse“ begrenzte Ver- 
tiefungen in der Hornschicht erscheinen; bei den kleinsten derselben 
hat man den Eindruck, als wenn mit einem spitzen Instrumente ein 
kleiner Theil der Hornmassen herausgeschabt wäre. 

Diese wenig beachtete Veränderung gehört nun zweifellos der 
Psoriasis vulgaris an und ist bei ihr keineswegs selten; in einer 
Zusammenstellung, welche Radt!) auf meine Veranlassung gemacht 
hat, fand sie sich unter 68 Fällen 5 mal, d. h. in 7,3°/, der Fälle. 
Ich hatte allerdings ganz speciell auf diese Localisation gefahndet 
und betone besonders, dass sie in ihrer Unscheinbarkeit der Be- 
achtung sehr leicht entgehen kann. Interessant ist sie wegen ihrer 
klinischen Eigenthümlichkeiten. Das Feblen der entzündlichen 
Röthung ist auch bei anderen Affectionen dieser Regionen ein sehr 
auffallendes Symptom. Bei der sogenannten „Dysidrosis“ der Hände 
hat wohl wesentlich dieses negative Zeichen zur Abgrenzung dieser 
Affection von den Dermatitiden, resp. von den acuten Eczemen 
Anlass gegeben; und doch lässt weder die klinische noch die 
histologische Untersuhung einen Zweifel daran bestehen, dass es sich bei 
den wasserhellen Bläschen dieser Erkrankung um das Resultat einer 
acut entzündlichen Exsudation handelt, Ich habe erst jüngst wieder 
bei einem acuten, stark verbreiteten Eczem beide Handteller übersät 
mit weissen, scheinbar derben Efflorescenzen gefunden, deren jede 
einzelne sich beim Einstich als unter der dicken Hornschicht 
gelegenes Bläschen documentirte. Dabei war aber die Haut selbst ganz 
blass. Es liegt also auch wohl bei dieser Form der Psoriasis palmaris 
et plantaris der anaemische Character in den localen anatomischen 
Bedingungen begründet, — sei es, dass man annimmt, die dicke 
Hornschicht lasse die hyperaemische Farbe nicht durchscheinen, sei 
es, dass man dem starken und gleichmässigen Druck derselben die 
Kraft zuschreibt, die entzündliche Gefässüberfüllung zu verhindern. 
Schwieriger ist der eigenartige Character der Schuppung zu erklären. 


1) Beiträge zur Psoriasis unguium. Aus der dermatologischen Abtheilung 
des Allerheiligen-Hospitals zu Breslau. Iu.-Diss. Leipzig 1895. 


~l 


Es ist, als wenn die ganze abnorme Horndecke der Psoriasis- 
efflorescenz, welche sich bei der gewöhnlichen Ausbildung derselben 
allmählich in der Form der typischen Psoriasisschuppen abhebt, hier 
auf einmal — vielleicht auf Grund der stärkeren Cohaerenz der 
Hornschicht dieser Gegenden — abgestossen worden wäre, und als 
wenn sich vor dieser Abstossung schon wieder eine normale Horn- 
decke unter der abzustossenden gebildet hätte. Dafür schien mir 
zu sprechen, dass in einem Falle diese anaemischen Efflorescenzen 
zum Theil nicht vertieft waren, sondern mit dicken hornigen Massen 
über das Niveau der umgebenden Haut sich erhoben. 

Wichtiger aber als diese theoretischen Ueberlegungen ist die 
praktische, die differential-diagnostische Bedeutung der beschriebenen 
Affection. Es müssen zum Vergleich neben den chronischen Eczemen, 
die aber kaum je in so isolirten und disseminirten Herden auf- 
treten, wesentlich die psoriasiformen Syphilide, und zwar speciell die 
der Frühperiode herangezogen werden. Bei diesen ist die Röthung 
meist weit ausgesprochener und eine wenn auch geringe Infiltration nach- 
weisbar, die der Psoriasis fehlt. Aber es muss zugestanden werden, 
dass auch die Syphilide dieser Gegenden oft sebr blass sind, und 
dass die Derbheit der hier localisirten Papeln durch die Härte der 
Hornschicht vollständig verdeckt werden kann, so dass in einzelnen 
dieser Fälle die Entscheidung, wenn sonst characteristische Er- 
scheinungen der Lues einerseits, der Psoriasis andererseits (bei der 
letzteren ist speciell auf die unten beschriebenen Nagelveränderungen 
zu achten) fehlen, schwer, wenn nicht zeitweise unmöglich sein kann 
und die „Juvantia“ dann auch bei dieser Form zu Hülfe genommen 
werden müssen. Für den Praktiker ist es vor allem wichtig zu 
merken, dass es dem sehr populären psoriasiformen Syphilid der Hand- 
teller sehr ähnliche oder gleiche Efflorescenzen giebt, welche der 
echten Psoriasis angehören — wie gross die praktische Bedeutung 
dieser Kenntniss gelegentlich sein kann, lässt sich leicht construiren. 
Ich erinnere mich eines Falles, in welchem der Arzt die Psoriasis 
vulgaris einer Amme eben wegen dieser palmaren Form für Lues 
hielt; das Kind, das sie säugte, war auf hereditäre Lues nicht un- 
verdächtig, blieb aber glücklicherweise gesund. Doch hätte der 
Irrthum des Arztes verhängnissvoll genug werden können. Das Kind 
war wegen der supponirten Lues der Amme wirklich schon für 


8 


luetisch erklärt und dadurch die Eltern nicht bloss wegen der Er- 
krankung des Kindes, sondern auch wegen der Folgen für die Amme 
in höchste Angst versetzt worden. So grosse praktische Bedeutung 
können diese vielen als dermatologische Finessen erscheinenden 
Dinge gewinnen. 

Neben Eczem und Lues palmaris kommen diagnostisch noch 
einzelne postscabiöse Herde in Frage, wie sie nach Scabiespusteln 
an den Handtellern gern zuriickbleiben; auch hier die glatte helle 
Fläche, von der Hornfranse umsäumt, meist aber daneben andere 
leichter als solche deutbare Reste der Scabies. 

Dass gewerbliche Verletzungen ein ähnliches Bild erzeugen 
können, ist selbstverständlich. 

An diese Bemerkungen über die Psoriasis palmaris und plantaris 
schliessen sich am besten einige Worte über die Psoriasis der 
Nägel an. Diese Localisation ist keineswegs selten. Bei der oben 
citirten Zusammenstellung, welche Radt von meinem Breslauer 
Material gemacht hat, ergaben sich unter 71 Fällen von Psoriasis 
15, also 21 °/, Nagelaffectionen. Dieselben sind im Wesentlichen in 
zwei grosse Gruppen einzutheilen: einmal in solche, die gar nichts 
für die Psoriasis characteristisches haben, und die wir folgender- 
massen characterisirten: Weisse Flecke in der Nagelsubstanz, Opak- 
werden der gesammten Nagelplatte oder grösserer Theile derselben, 
Auftreten von Quer- und Längsfurchen und von quer und längs- 
stehenden, bald schärferen und schmäleren, bald breiteren und flacher 
gewölbten Verdickungen, Brüchigwerden der Nagelsubstanz vor Allem 
in ihren distalen Partien, Verbiegungen etc. etc. Alle diese Ver- 
änderungen treten auch bei anderen Dermatosen (chronischen Eczemen, 
chronischen universellen Erythrodermien, wie Pityriasis rubra Hebrae, 
Pemphigus etc.) auf; sie können auch isolirt vorkommen und sind 
bei dubiösen Hauterscheinungen diagnostisch nicht verwerthbar. Man 
bezeichnet sie als secundäre Psoriasis der Nägel und führt sie (z. B. 
Schütz) auf eine Psoriasis des Nagelbettes zurück. Im Gegensatz 
zu dieser Form steht eine zweite, welche nach meinen Erfahr- 
ungen wesentlich häufiger ist. Diese besteht in «einer grösseren 
oder kleineren Anzahl bald in Querreihen neben einander 
stehender, bald unregelmässig über einen Theil oder über 
die@esammtoberfläche der Nagelplatte vertheilter kleinster 


grübchenförmiger Vertiefungen an der Oberfláche des 
Nagels, die selbst im übrigen ganz normal oder auch noch neben- 
bei rissig gefurcht, gestrichelt etc. sein kann. Die Farbe dieser 
Grübchen entspricht entweder ganz der normalen Nagelfarbe oder 
sie wird durch anhaftende Schmutzpartikel dunkler oder auch durch 
geringe Hornmassen mehr weiss gefärbt.» Diese Form wird von 
den französischen Dermatologen als «Etat pointill&» bezeichnet; in 
Deutschland hat sich Schütz um ihre Kenntniss besonders verdient 
gemacht und sie Tüpfelpsoriasis genannt; uns schien der Aus- 
druck «Grübchenpsoriasis» characteristischer zu sein. Die von 
Schütz beschriebenen rothen Pünktchen in der Lunula waren bei 
meinen Fällen nicht zu finden; vielleicht weil sie nur zu gewissen 


Zeiten — der Eruption — vorhanden sind. Unter den erwähnten 
71 Psoriasisfállen war diese Form — die primäre Nagelpsoriasis, 
die «Psoriasis der Nagelmatrix» — 12 mal, also in 16,9 %/, vor- 


handen (bei Schütz in 11 °/, seiner Fälle). Sie kommt bei frischen 
wie bei alten, bei disseminirten und bei localisirten Psoriasiserkrank- 
ungen vor, auch dann, wenn die Hände zur Zeit frei sind oder es immer 
waren. Ich habe sie besonders zusammen mit der oben beschriebenen 
disseminirten Psoriasis palmaris gefunden und mit dieser stimmt sie 
auch in dem Fehlen der Röthung und in dem grübchenartigen Sub- 
stanzverlust überein. 

Die wichtigste Frage ist aber natürlich die: Wie weit sind 
diese Veränderungen für die Psoriasis characteristisch? Da ist denn 
ohne Weiteres zuzugeben, dass sie ein wirklich pathognomonisches 
Symptom, wie einzelne Autoren zu meinen scheinen, nicht sind. 
Ich habe sie bei chronischen Eczemen der Hände und besonders 
bei den akuten recidivirenden Eczemen mit wasserhellen Bläschen 
speziell an den Seitenflächen der Finger, wie sie als Dysidrosis 
bezeichnet worden sind, in characteristischer Ausbildung gesehen; 
dagegen ist es mir trotz speziell darauf gerichteter Aufmerksamkeit 
nie gelungen, sie in Zusammenhang mit Syphilis zu beobachten, 
wie das Hans Hebra gelegentlich erwähnt. Andere Angaben 
fehlen in dieser Beziehung und es ist das um so auffallender, als 
mir eigentlich gerade wegen der Analogie der Psoriasis palmaris und 
der palmaren Syphilis auch eine Analogie in der Nägelerkrankung bei 
beiden Prozessen nicht unwahrscheinlich schien. 


10 


Trotzdem also von einer pathognomonischen Bedeutung der Grübchen- 
psoriasis keine Rede sein kann, so ist doch ihr diagnostiscehr Werth 
nicht gering anzuschlagen; denn es ist nach den von mir ge- 
sammelten Erfahrungen nicht zweifelhaft, dass diese Grübchen mit 
spärlichen Ausnahmen wirklich zur Psoriasis vulgaris gehören und 
jedesmal wenn sie vorhanden sind, zur sorgfältigen Nachforschung 
nach anderen Localisationen der Psoriasis Anlass geben müssen. 
Ich erinnere mich dreier Fälle, in denen dieses Symptom mich 
schnell auf die richtige Diagnose führte: in dem einen handelte es 
sich um eine auf den Penis beschränkte Affektion, bei welcher der 
Verdacht auf ein papulöses Syphilid bestand, nachdem ein — nicht 
von mir beobachtetes — Ulcus ohne Allgemeinerscheinungen einige 
Monate vorher bestanden hatte; ich entschied mich auf Grund der 
Nägelgrübchen, welche in ausgeprägter Weise vorhanden waren, für 
eine Psoriasis penis und der weitere Verlauf — Heilung unter schwacher 
Pyrogallussalbe, vollständiges Ausbleiben aller weiteren syphilitischen 
Symptome — gab mir Recht. In einem 2. Fall bestanden einzelne 
infiltrirte Plaques an den Handrücken, die ich zunächst für ein 
Eczem hielt; als ich die Grübchen an den Nägeln entdeckte, forschte 
ich weiter und fand eine der Patientin selbst verborgen gebliebene 
typische Psoriasisplaque am Ellbogen. Endlich wurde ich bei einer 
Dame mit starker und diffuser scheinbar seborrhoischer Erkrankung 
des Kopfes durch die Nägeluntersuchung darauf geführt, die Schuppen- - 
bildung der Kopfhaut als psoriatisch zu betrachten und zu behandeln 
— während die vorher befolgte Schwefeltherapie immer nur vorüber- 
gehende und Scheinerfolge erzielt hatte, brachte eine Pyrogalluscur 
schnelle und, wie ich erfahren habe, längere Zeit anhaltende Heilung. 

Ich habe bisher schon wiederholt von isolirten, localisirten 
Psoriasisherden gesprochen und möchte bei diesen noch einen Augen- 
blick stehen bleiben. Es ist in der Thatsache auffallend, wie oft 
man, wenn man genau auf die gesammte Hautdecke seiner Patienten 
zu achten gewöhnt ist, einzelne Flecke, hier und da am Körper und 
besonders häufig an den Praedilectionsstellen der Psoriasis sieht, welche 
in Allem und Jedem der Psoriasis entsprechen, nie aber peripber 
gewachsen, nie zu einer tieferen Infiltration gekommen sind, nie zu 
Dissemination geführt haben. Wer über diese Herde, weil sie zu 
unscheinbar sind, ohne weiteres zur Tagesordnung übergeht, dem 


11 


werden sie natiirlich kein Kopfzerbrechen verursachen; wer aber ge- 
wohnt ist, vom mehr naturwissenschaftlichen oder vom rein ärztlichen 
Standpunkt aus auch das Kleine zu beachten und zu achten, dem 
werden solche Herde zu denken geben und es haben mir gelegentlich 
Collegen Patienten mit solchen unscheinbaren Flecken zugeführt, weil 
sie Klarbeit über dieselben haben wollten und weil sie diese selbst nicht 
fanden — nur weil sie sich unter Psoriasis ein immer durch die Grösse 
oder durch die Zahl der Herde imponirendes Krankheitsbild vorstellten. 

Nun haben ja solche Efflorescenzn an sich keine Bedeutung für 
den Patienten. Wenn man aber gesehen hat, dass von ihnen aus ge- 
waltige Schübe von Psoriasis auch bei Menschen ausbrechen können, 
welche ein höheres Alter ohne eine allgemeine Proruption der Er- 
krankung erreicht haben, so wird man auch diese primären Locali- 
sationen der bei jeder grösseren Verbreitung doch sehr lästigen Er- 
krankung wohl berücksichtigen. Vor Allem wird das derjenige thun, 
welcher die Psoriasis für eine Dermatomykose hält. Auch er kann den 
Begriff der psoriatischen Disposition nicht entbehren. Worin 
diese besteht, das wissen wir freilich ebensowenig, wie etwa bei der 
so oft zum Vergleich herangezogenen Pityriasis versicolor, und: dar- 
um können wir sie auch leider durch keinerlei diätetische Mittel 
bekämpfen. Wir müssen aber selbstverständlich sehr verschiedene 
Grade dieser Disposition voraussetzen; schon die Praedilection für 
bestimmte Stellen weist auf solche Differenzen hin. Das Isolirtbleiben 
einzelner Psoriasisherde durch viele Jahre beweist, dass die Er- 
krankung sich auch bei solchen Individuen einnisten kann, bei denen 
die Disposition eigentlich eine sehr geringe ist. Wie die Tuber- 
culose in der Form eines Leichentuberkels oder eines Inoculations- 
lupus bei einem Menschen Fuss fasst, bei dem von tuberculösem 
Habitus keine Rede ist und wie sie bei ihm stationär, local beschränkt 
bleiben kann, so auch die Psoriasis. Aber wir können nicht 
leugnen, dass im einen wie im anderen Falle die „Constitution“ 
durch nachweisbare oder unerkannt bleibende Ursachen sich ändern 
kann, und dass dann bei der Tuberculose die ernste Gefahr, 
bei der Psoriasis die Unannehmlichkeit der Verallgemeinerung droht. 

Deswegen ist es unter allen Umständen richtig, die Herde, die 
noch leicht zu beherrschen sind, zu vernichten, was bei der Psoriasis 
durch unsere specifischen Mittel leicht möglich ist. Ich kenne solche 


Falle, in denen dann in Jahren kein Recidiv eingetreten ist, was 
bei den gewöhnlichen Formen der Psoriasis jedenfalls zu den grossen 
Seltenheiten gehört. Immerhin werden diese Erfahrungen uns die 
Regel einschärfen müssen, jedem Psoriatiker bei der Beendigung 
einer Cur den Rath zu geben: er solle, sowie die leiseste Spur 
eines Recidivs sich zeigt, die specifische Therapie wieder aufnehmen 
und mit peinlichster Sorgfalt jede Effloresceenz behandeln. Ich 
weiss von Patienten, welche sich auf diese Weise durch lange 
Zeit hindurch in einem sehr salonfähigen Zustande erhalten haben, 
wonach sie sich früher vergebens sehnten. Bei Anderen freilich — 
und das ist die Mehzahl aller schwereren Psoriasisfälle — folgt auf 
jede, auch die gründlichste Behandlung bald ein disseminirtes 
Recidiv. Wer an die parasitäre Aetiologie der Psoriasis glaubt, der 
erklärt sich diese Differenzen leicht: Ist, wie wir annehmen müssen, 
der Psoriasiskeim — wie das Microsporon furfur — überall vorhanden, 
so siedelt er sich auf der Haut des stark Disponirten immer und 
immer wieder auch nach gründlichster Zerstörung mit grösster 
Leichtigkeit an; beim weniger Disponirten bedarf er bestimmter 
Hilfsursachen, besonders günstiger localer Umstände, wie sie nicht 
immer gegeben sind, und deswegen kann ein solcher durch längere 
Zeit frei bleiben. 

Der individuellen Disposition — das ist immer noch kein wissen- 
schaftlicher Begriff und doch wie oft muss er sich bei dem denkenden 
Mediciner einstellen —- können wir auch bei einer bestimmten, in 
ihren wesentlichen Zügen wohlbekannten Form der Psoriasis nicht 
entbehren, wenn wir sie unserem Verständniss näher bringen wollen. 
Ich meine die serpiginösen Psoriasisplaques, die Psoriasis anu- 
laris und gyrata. Ihnen allen sind die eigenartigen Figuren be- 
kannt, welche diese Abart der Psoriasis auf die Haut der Kranken 
zeichnet. Sie sind auf 2 Principien zurückzuführen: Einmal auf das 
spontane Abheilen der Psoriasisplaques im Centrum, ihr Fortschreiten 
nach der Peripherie mit mehr oder weniger breitem Saume; und 
dann darauf, dass, wo Kreise dieser Erkrankungsforn zusammen- 
treffen, an ihrer Berührungsstelle die Krankheit erlischt; handelt es 
sich um zwei solche Kreise, so wird aus der Achterform sehr schnell 
die Form einer Doppelsemmel etc. etc. 

Der Gegensatz, welcher zwischen dieser sehr häufigen und der 


13 


gewöhnlicheren Entwicklungsform der Psoriasis (bei welcher ein 
centrales Abheilen mit peripherem Fortschreiten, also eine Ring- 
bildung nicht statt hat) besteht, findet sich auch bei manchen 
anderen Hautkrankheiten, so bei der Lues und zwar sowohl in der 
secundären (gewöhnliche lenticuläre Papeln einer-, circinäre anderer- 
seits) als auch in der tertiären Periode (eigentliches Hautgumma 
und tuberöse, tubero-serpiginöse, resp. tubero-serpigino-ulceröse 
Syphilide), so beim Lupus, dessen serpiginöse Form mit ihrer cen- 
tralen spontanen Vernarbung einen merkwürdigen Gegensatz bildet 
zu den häufigeren Fällen, in denen eine Spontanheilung in Jahr- 
zehnten nicht einzutreten braucht, so auch bei den Dermatomycosen: 
der Favus des behaarten Kopfes heilt erst dann, wenn die Haare 
definitiv zerstört sind, der sog. Favus herpeticus der unbehaarten 
Körpertheile kommt schnell zu centraler Abheilung; die Tricho- 
phytie ist meist typisch circinär, in selteneren Fällen aber hält sie 
sich auch im Centrum lange Zeit hindurch florid. 

Es ist selbstverständlich, dass bei allen diesen Krankheiten das 
centrale Abheilen auf eine Erschöpfung des Nährbodens im Centrum 
am einfachsten zurückgeführt wird. Wenn diese schnell eintritt, so 
wird das characteristische Bild der serpiginösen Formen zu stande 
kommen. Nun lehrt die Erfahrung bei der Psoriasis, dass bei 
dem einzelnen Patienten meist entweder diese seltenere oder die 
gewöhnlichere — ohne centrales Abheilen — Ausbreitungsart über- 
wiegt oder auch dass ausschliesslieh die eine oder die andere vor- 
handen ist. Wir sehen ferner, dass an den besonders praedisponirten 
Stellen (Ellbogen, Kniee) die nicht central abheilenden Stellen bei 
weitem häufiger sind. Diese Thatsachen weisen darauf hin, dass bei 
den Kranken mit Psoriasis gyrata die Disposition eine relativ ge- 
ringe ist. Ganz in Uebereinstimmung damit steht die Thatsache, 
dass diese Form therapeutisch oft sehr leicht günstig zu beeinflussen 
ist. Ich habe noch in letzter Zeit einzelne Fälle gesehen, in denen eine 
mehrmalige Anwendung von Chrysarobinsalbe in der Concentration 
von 1:1000 eine vollständige Abheilung erzielt hat. 

Neben den meist grössere Flächen überziehenden Plaques der 
Psoriasis gyrata giebt es aber auch noch anscheinend recht seltene 
Formen, die man als klein-circinäre Psoriasis bezeichnen 
könnte. Ich habe erst jüngst 3 solche Fälle beobachtet: Im ersten 


14 


war das ganze Gesicht mit einem ausserordentlich zierlichen ara- 
beskenartigen Netzwerk von rothen Linien überzogen, von denen 
jede die Hälfte oder 3/, eines Kreises bildete; manchmal war der 
Kreis auch ganz geschlossen. Die Linien selbst waren !/,—1 mm 
breit und ein feines Psoriasishäutchen bedeckte sie; die zwischen 
ihnen liegenden 1/,—1 cm im Durchmesser haltenden rundlichen 
Feldchen waren normal. Ein diesem ähnliches Bild fand sich auch 
an einigen Stellen des Rumpfes, während die Ellbogen Plaques von 
ganz gewöhnlicher Psoriasis trugen. 

Ein analoges Exanthem sah ich bald darauf am Thorax eines 
Patienten, der mit Bestimmtheit angab, dass sich diese Erkrankung 
seit Jahren immer im Winter einstelle, wenn er Jiger’sche 
Wäsche anlege. Diese Thatsache liess an das von Lassar be- 
hauptete Auftreten der (jetzt auch in Deutschland immer allgemeiner 
anerkannten) Pityriasis rosea Gibert’s im Anschluss an die Be- 
nutzung frischer Wollwäsche denken. Aber die kleinen zierlich 
arabeskenförmig angeordneten Halb- und Viertelkreischen sind mir 
auch bei den typischen circinären Formen der Gibert’schen Der- 
matose noch nicht vorgekommen, die Abkratzung ergab typisch 
lamellöse Schuppung und Blutung und endlich fanden sich an den 
Ellbogen characteristische Psoriasisplaques, welche der Patient nie be- 
achtet hatte. Man wird also wohl annehmen müssen, dass hier unter 
dem Reize der Wollwäsche auf die disponirte Haut das beschriebene 
Exanthem zu Stande kommt. 

In dem dritten Fall endlich war der dünn behaarte Kopf eines 
Patienten, der sonst keine Zeichen von Psoriasis aufwies, mit solchen 
. Arabesken von typisch psoriatischen, schmalen und kleinen Kreis- 
bögen übersät. 

Wie bei der Psoriasis so kann auch bei der secundären Lues 
eine ganz ähnliche zierliche Arabeskenzeichnung zu Stande kommen 
— nur sind dann die Ränder etwas derber und nicht characteristisch 
schuppend.?) 

Worauf solche ganz eigenartige Abweichungen von dem ge- 
wöhnlichen Typus beruhen, darüber haben wir keinerlei Vorstellung. 


1) Für Dermatologen verweise ich zum Vergleich auf die Baretta’sche 
Monlage hin, welche in dem Atlas des Musée de |’ höpital St. Louis als Tafel 7 
reproducirt ist — in dem ersten der oben erwähnten Fälle war im Gesicht genau 
dieselbe Anordnung vorhanden, wie bei diesem seltenen circinären Syphilid. 


15 


Sie kommen nach den verschiedensten Richtungen hin vor. In sehr 
eigenartiger Weise hat sich mir das bei einem Falle gezeigt, der 
erst vor Kurzem in der Berner Klinik zur Beobachtung gekommen 
ist und den Herr Dr. Gassmann fiir die dermatologischen Fach- 
kreise eingehend beschreiben wird. Da hatte ein junges Madchen 
eine ganz auffallende Neigung, dicke trockene Borkenmassen auf 
ihren spärlichen Psoriasisherden abzulagern («Psoriasis ru- 
pioides») und diese Neigung hatte an dem Kopfe zur Bildung förm- 
licher Hauthörner geführt, die sich steil aus der normalen Haut 
erhoben und 1—-11/, cm. hoch waren; man konnte dieselben, ohne 
dass die Patientin etwas spürte, an der Basis glatt abschneiden und 
dann lag eine punktförmig blutende Fläche vor. 

In einem anderen Falle, dessen ich mich von früher her er- 
innere, war fast das Umgekehrte eingetreten. Es hatten sich auf 
der Glatze eines an hochgradiger Psoriasis leidenden Patienten eben- 
falls dicke, trockene und sehr fest zusammenhaftende Borkenmassen 
gebildet; aber diese ragten nur minimal hervor; dagegen hatten sie 
sich tief in die Haut eingedrückt, so dass nach ihrer Entfernung 
durch Salbenverbände eine tief deprimirte höckerige Fläche vorlag, die 
nur sehr langsam wieder das Niveau der umgebenden Haut er- 
reichte; hier hatte in ganz aussergewöhnlicher Weise der Druck der 
Psoriasisborken etwa so gewirkt, wie wir es bei den Favusborken 
zu sehen gewohnt sind: eine Druckatrophie hervorbringend. 

Mehr als über diese Abnormitäten, welche kaum beschrieben 
sind, findet man in der Litteratur über Verrucositäten, zu welchen 
die Psoriasis führt. Sie thut das, wie die meisten chronischen Haut- 
krankheiten es thun können, wenn sie sich lange Zeit hindurch an 
einer Stelle hält; das Warzigwerden chronischer Eczeme, speciell an 
den Unterschenkeln, die jetzt viel besprochene verrucöse Form des 
Lichen ruber planus sind Beispiele für diese Neigung, durch Papillar- 
hyperplasie und Hyperkeratose eine unregelmässig höckerige, den 
Verrucae vulgares der Hände ähnliche Oberfläche anzunehmen. Bei 
der Psoriasis kommt das in einzelnen Fällen an den Unterschenkeln 
und an den Händen vor und zwar nicht bloss, wie man wohl ge- 
meint hat, bei solchen Fällen, bei denen Arsenmedication, wie das 
zweifellos geschehen kann, eine solche warzige Hyperkeratose be- 
günstigt. Ich möchte auf die in Bezug auf ihre Pathogenese dubiöse 


16 


carcinomatöse Degeneration solcher Psoriasisplaques hier nicht ein- 
gehen; und ich möchte auch nur erwähnen, dass es neben dieser 
verrucösen Psoriasis naturgemäss auch eine Combination von Psoriasis 
mit den verschiedenen Arten der rein äusserlich durch den Namen 
„Warzen“ zusammengefassten Gebilde giebt. Wenn verrucöse Naevi 
oder senile Warzen sich neben oder mitten in Psoriasisplaques 
finden, so ist das natürlich nur eine zufällige Combination und ohne 
jede Bedeutung. Interessanter ist ein — ebenfalls von Dr. Gass- 
mann detaillirt zu schildernder — Fall, in welchem sich bei einer 
stark juckenden und hochgradig zerkratzten Psoriasis zahlreiche ganz 
typische Verrucae vulgares über den Körper zerstreut entwickelten, 
nachdem die Psoriasis abgeheilt war. Hier war ganz gewiss nur 
das Kratzen und nicht die Psoriasis die Gelegenheitsursache für die 
Autoinfection und Dissemination der sicher infectiösen Warzen. 

Es kann nicht in meiner Absicht liegen, Ihnen die verschiedenen 
Möglichkeiten der Combination der Psoriasis mit anderen Dermatosen 
aufzuzäblen. Sie können sich leicht denken, dass sie speciell mit 
der Lues zusammen nicht selten vorkommt. Meist sind beide Krank- 
heiten ganz ohne Einfluss auf einander; in anderen Fällen wirken 
die Psoriasisefflorescenzen, wie auch andere Herde chronischer Ent- 
zündung provocirend auf die Lues und die papulösen Efflorescenzen 
dieser siedeln sich auf den Psoriasisherden an; oder man hat um- 
gekehrt den Eindruck, dass das luetische Exanthem eine Disse- 
mination von Psoriasisherden nach sich führt. 

Eine Krankheitsgruppe aber muss ich noch erwähnen, weil sie in 
der modernen Dermatologie eine grosse Rolle spielt und wegen der viel- 
fachen Analogien mit der Psoriasis in enger Beziehung zu ihr steht, 
ja oft genug schwer von ihr abzugrenzen ist. Es sind das diejenigen 
Formen, welche Unnaals seborrhoische, andere als parasitäre oder 
psoriasiforme Eczeme bezeichnet haben, welche aber meines Er- 
achtens überhaupt von den Eczemen abzusondern und neben die 
Dermatomycosen zu stellen sind, freilich mit dem offenen Zugeständniss, 
dass uns ihre Aetiologie noch vollständig unbekannt ist Die 
einzelne Plaque dieser Form kann sehr psoriasisähnlich sein; sie ist 
im Allgemeinen nicht ganz so scharf begrenzt, von weniger lamellöser 
Schuppung, sie giebt die „Nagelprobe“ meist nicht; sie hat eine 
ausgesprochenere Neigung eczematös zu werden; die Localisation 


17 


dieser Formen ist der der Psoriasis in vielen Punkten gerade entgegen- 
gesetzt; sie bevorzugen die Beugeseiten der grossen Gelenke, die 
Sternal-, die Nabelgegend; in den behaarten Kopf theilen sich beide 
Erkrankungen. Nun giebt es aber atypische Formen der Psoriasis 
in geringerer und atypische Formen dieser sogenannten Eczeme 
in grósserer Zahl und zwischen ihnen finden sich „faits de 
passage“, bei welchen, zum mindesten in einem gegebenen Augen- 
blick, die Zuweisung nach der einen oder nach der anderen Seite 
nicht mit Sicherheit gelingt. Wir sehen auch Fälle, in denen sich 
die Eigenschaften beider Affectionen zu summiren scheinen. So 
habe ich erst jüngst einen Patienten beobachtet, bei dem Nabel und 
praesternale Region grosse Plaques aufwiesen, die ganz dem para- 
sitären Eczem glichen, während zu gleicher Zeit an beiden Ellbogen 
typische Psoriasisplaques bestanden — solche „hybride“ Erkrankungen 
sind keineswegs sehr selten — wie man sie aber auch deuten möge: 
sie geben keinen Grund, an der Specificität des Krankheitsbildes 
der Psoriasis zu riitteln. So interessant vom theoretischen Stand- 
punkt aus die Discussion dieser Fälle ist, practisch hat sie glück- 
licherweise eine geringere Bedeutung, weil die Therapie der Psoriasis 
mit der der „parasitären Eczeme“ vielfach übereinstimmt und der 
Praktiker wird vorderhand genug thun, wenn er festhält: dass bei 
atypisch speciell an den Beugeseiten localisirten der Psoriasis sehr 
ähnlichen Laesionen, die durch grössere Neigung zu nässen ausgezeichnet 
sind, eine anfänglich mild antieczematöse Therapie mit allmählichem 
Uebergange zu Schwefel, Schwefel-Resorcin, Theer, und endlich zu 
Pyrogallussäure und Chrysarobin in schwacher Concentration am 
sichersten zum Ziele führt und dass man sich in solchen „hybriden“ 
Fällen hüten muss, brüsk mit einer energischen specifischen Psoriasis- 
behandlung zu beginnen. | 

Gestatten Sie mir nun noch einige Worte über die Pigmentirungs- 
verhältnisse bei der Psoriasis. Diese heilt im Allgemeinen ohne 
eine Veränderung der Pigmentvertheilung in der Haut ab. Aber 
auch von dieser Regel giebt es Ausnahmen. Es kommt gelegentlich 
besonders anı Unterschenkel augenscheinlich unter der Einwirkung 
der Stauung, aber auch an anderen Körperstellen zu einer haemor- 
rhagischen Verfärbung der Psoriasisplaques, nach deren Abheilung 


dann ein dunklerer oder hellerer Pigmentfleck längere oder kürzere 
2 


18 


Zeit zurückbleibt; doch kann die Haemorrhagie auch vollständig 
fehlen und trotzdem stellt sich diese Pigmentirung ein. Es ist ja 
bekannt, wie verschieden die Neigung der einzelnen Individuen ist, 
bei entzündlichen Reizungen Pigment zu bilden und wie verschieden 
das Beharrungsvermógen des Pigments am Orte der Erkrankung ist. 
Besonders neigen, wie schon längst bekannt ist, diejenigen Psoriasis- 
fille zu Abheilung mit Pigmentirung, bei welchen eine länger- 
dauernde Arsentherapie vorangegangen ist. Es ist eine sehr auf- 
fallende Thatsache, dass die Anschauungen über die Heilwirkung 
des Arsens bei der Psoriasis noch immer so sehr auseinandergehen. 
Gegenüber dem günstigen Urtheil Kaposi’s muss ich in Ueberein- 
stimmung mit vielen anderen Autoren erklären, dass ich trotz reich- 
licbster Versuche auch mit subcutaner Arsendarreichung nur wenige 
Fälle gefunden habe, welche wirklich mit Heilung der psoriatischen 
Plaques — NB. ohne gleichzeitige locale Therapie! — auf das Arsen 
reagirt haben. In einzelnen dieser Fälle, aber auch in einzelnen, 
in denen erst die locale Therapie nach der Arsenmedication die 
Involution der Plaques herbeigeführt hat, sind diese nachträglich auf- 
fallend pigmentirt gewesen. Die Thatsache der diffusen Arsen- 
pigmentirung ist ja durch die zahlreichen Publicationen der letzten 
Jahre allgemein bekannt geworden. So dunkel die Entstehungs- 
weise derselben auch ist, so leicht ist es doch verständlich, dass 
diese Pigmentirungen sich vorzugsweise oder auch ausschliesslich an 
chronisch entzündlichen Stellen localisiren. 

Ein spontanes Abheilen der Psoriasisplaque mit Depigmentirung, 
mit Pigmentverlust ist jedenfalls ausserordentlich viel seltener; ich 
finde in meinen Notizen nur einen Fall, in welchem jede locale 
Therapie geleugnet wurde und trotzdem hellere Flecke auf dunklerem 
Grunde nach einer Psoriasis zurückgeblieben waren. Ein solches 
Vorkommniss hat practisch eine grosse Bedeutung für die Frage, 
ob es ein auf Psoriasis beruhendes Analogon des syphilitischen 
Leucoderms giebt, das natürlich den diagnostischen Werth des 
letzteren einschränken könnte. Verwerthbares Material nach dieser 
Richtung ist kaum vorhanden. Ganz abgesehen davon, dass gewiss 
fast stets die Anwesenheit von Psoriasisplaques auf die richtige 
Diagnose eines solchen spontanen Psoriasisleucoderms hinlenken 
könnte, ganz abgesehen davon, dass das syphilitische Leucoderm 


19 


auch durch seine typische Localisation am Hals characterisirt ist, 
kann die diagnostische Bedeutung des letzteren durch die Psoriasis 
kaum beeinträchtigt werden, weil diese jedenfalls nur extrem selten 
zu einem spontanen Pigmentverlust führt. 

Solche Verwechslungen werden auch nur sehr selten ermöglicht 
werden durch die eigenthümlichen Farbenvariationen, welche die 
specifische Behandlung der Psoriasis, speciell die mit Chrysarobin, 
an der Haut des Psoriatikers hervorruft. Es ist eine bekannte, uns 
in ihrer Entstehung aber noch nicht erklärliche Thatsache, dass die 
characteristische Chrysarobinverfirbung der Haut die Psoriasis- 
plaques selbst frei lässt; je mehr die letzteren von ihrer Röthung 
unter dem Einfluss des oft rapid wirkenden Chrysarobins einbüssen, 
um so mehr heben sie sich von dem chrysarobingefärbten Grunde 
ab. In den meisten Fällen gelingt es dann, durch eine Fortsetzung 
der Chrysarobinbehandlung auch der ursprünglichen Psoriasisplaque 
den durch Entzündung und Eigenfarbe des Chrysarobins bedingten 
Farbenton zu verleihen, den die umgebende Haut schon längst hat. 
In anderen Fällen aber ist das auch in langer Zeit unmöglich; ich 
habe in einem Fall experimenti causa Wochen hindurch ganz glatt 
und weiss gewordene Plaques mit Chrysarobinsalben in stärkster 
Concentration einreiben lassen, ohne eine Verfärbung derselben 
erzielen zu können. Dabei ist es in der That, als wenn eine locale 
Immunität gegen die Chrysarobinwirkung sich ausgebildet hätte. 

Dass die nicht gefärbten Paoriasisplaques auf dem chrysarobin- 
gefärbten Grunde als ein Leucoderm imponiren können, dazu ist 
nur bei sehr geringer Uebung in der Beurtheilung von Farben- 
tönen der Haut Gefahr vorhanden; denn der violette Ton der 
Chrysarobinhaut hat etwas sehr Characteristisches. Wenn aber dieser 
geschwunden ist, dann bleibt in manchen Fällen eine rein braune 
diffuse Pigmentirung zurück, welche der Dermatitis als solcher ihre 
Entstehung verdankt. Und wenn die Psoriasisherde selbst, wie es 
meist der Fall ist, von der arteficiellen Entzündung frei geblieben 
sind, so werden sie sich hell von dem dunkelbraunen Grunde abheben. 
Dann kann ein dem Leucoderma syphiliticum täuschend ähnliches 
Bild vorhanden sein, und wenn der Zufall einmal bei dieser Form 
eine typische Localisation am Halse bedingen wollte, so wäre der 


Täuschung Thür und Weg geöffnet. Aber die Thatsache der voran- 
or 


20 


gegangenen Chrysarobinhehandlung wird dem Arzte kaum verborgen 
bleiben und ihn auf den richtigen Weg leiten. 

Ich wiirde Ihnen zum Schluss noch sehr gern etwas mittheilen 
über die interessantesten Complicationen der Psoriasis: Asthma und 
Gelenkleiden. Daaber muss ich mich mit sehr wenigem begniigen, da 
ich Ihnen heute nur von eigenen Erfahrungen sprechen will. Asthma 
habe ich bei Psoriasis nicht gesehen — der Beweis einer Zusammen- 
gehörigkeit ist auch für mich nicht erbracht. Die chronischen 
Arthropathien aber, von denen in den letzten Jahren auch in Deutsch- 
land — besonders im Anschluss an eine Publication Gerhardt’s 
— mehrfach gesprochen worden ist, sind mir auch aus eigener Er- 
fahrung an einigen Fällen bekannt geworden. Ich möchte Kranken- 
geschichten hier nicht reproduciren — sie würden blos bestätigen, 
was auch aus dem litterarischen Material hervorgeht, dass der Nach- 
weis des inneren Zusammenhanges des Gelenkleidens mit der Pso- 
riasis schwer zu erbringen ist. Doch kann auch ich mich dem Ein- 
druck nicht verschliessen, dass so selten auch im allgemeinen die 
erwähnte Combination ist (viel seltener bei meinem wie auch bei 
dem Kopenhagener Material, das Nielsen verwerthet hat, als z. B. 
bei Besnier) es doch gerade die schwersten Psoriasisformen sind, 
welche die Arthropathien aufweisen. Von anderen Fällen abgesehen 
haben speziell zwei einen dauernden Eindruck bei mir hinterlassen: 
bei dem einen war die Psoriasis in eine universelle « Erythrodermie » 
ausgeartet — jenesschwere Krankheitsbild der universellen Röthung und 
Schuppung, das die Franzosen als « Dermatite exfoliatrice maligne» 
bezeichnet haben und bei dem der Allgemeinzustand sehr bedenklich 
leidet; in diesem Falle war die multiple Arthritis deformans — 
anders konnte man die Gelenkerkrankung kaum rubriciren — zu- 
gleich mit der Generalisirung der Dermatose aufgetreten. 

Und in dem zweiten Fall gab der hochgebildete Patient an, 
dass er den Anfang seiner Psoriasis wie seines Gelenkleidens auf 
seine Theilnahme an den Kriegen 1864, 66 und 70 zurückführen 
müsse, nach denen sich die ersten Symptome beider Krankheiten 
gezeigt haben. Als ich ihn 1893 sah, waren trotz aller Behandlungsver- 
suche Hände und Füsse hochgradig verkrüppelt und die Psoriasis war in 
einer so enormen Weise „inveterirt,“ in derben und tief infiltrirten, auch 
auf die energischsten Eingriffe erst ausserordentlich langsam reagirenden 


21 


Plaques entwickelt, dass der Krankheitsfall nach beiden Richtungen 
hin als ein ganz aussergewöhnlicher aufgefasst werden musste. Ein 
Verständniss für diese Complication fehlt uns noch vollständig — 
weder die nervöse, noch die „arthristische“, noch die parasitäre 
Theorie kann es uns vorderhaud verschaffen, — so unbefriedigend 
diese Fälle theoretisch, so unbefriedigend sind sie leider auch praktisch. 

Ich habe hier flüchtig eine Anzahl von Absonderlichkeiten im 
Verlauf der Psoriasis berührt und mich dabei möglichst auf praktische 
Erörterungen beschränkt. — Wenn es mir gelungen ist, Sie davon zu 
überzeugen, dass auch auf einem klinisch sn lange und so sorgfältig 
bearbeiteten Gebiete die ärztliche Beobachtung noch manches von 
Interesse aufdecken kann, so ist das bescheidene Ziel, das ich mir 
gesteckt habe, vollständig erreicht. Wie übertrieben auch die moderne 
dermatologische Specialisirung manchem — und selbst Fachleuten — 
erscheinen mag, für den Ausbau unserer Wissenschaft ist sie 
notbwendig; aber auch in der Praxis kann die Vernachlässigung 
des Kleinen grosse Nachtheile zur Folge haben. 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct 
an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch 
die Verlagsbuchhandlung erbeten. 











Ueber Tuberkulose des Mittelohrs. 
Von 
Dr. Schwabach in Berlin. 





Schon im Jahre 1844 machte Hamernyk! darauf aufmerksam, 
dass im Verlaufe von Tuberkulose Taubheit vorkomme; in den 
meisten Fällen dieser Art hätten die Kranken bereits seit Jahren 
gehustet, der tuberkulöse Process habe bereits eine bedeutende Ent- 
wickelung erreicht, ehe Zufälle zum Vorschein kommen, die eine 
Affection der Gehörorgane bekunden. Meist bekämen die Kranken 
flüchtige Schmerzen in einem oder dem anderen Ohre, anfangs ge- 
linder und unregelmässig intermittirend, später heftiger und an- 
haltender. — Hierauf erscheine ein eiterartiger Ohrenfluss eines 
oder seltener beider Ohren und erst um diese Zeit würden die 
Kranken zuerst schwerhörig und später taub. Bei der Untersuchung 
des erkrankten Ohres finde man das Tympanum theilweise oder 
gänzlich zerstört, den äusseren Gehörgang katarrhalisch erkrankt. 
Selten werde angegeben, dass der Kranke irgend ein Gehörknöchel- 
chen verloren habe. — H. erwähnt dann, dass Luis in der 2. Auf- 
lage seiner Recherches anatomiques, pathologiques et therapeutiques 
sur la Phthisie (Paris 1843) der Ansicht Meniére’s beitrete, wonach 
diese Taubheit von einer tuberkulösen Infiltration des Tympanum 
abhänge. In den meisten Fällen dieser Art, die während des Lebens 
von Ohrenfluss und Zerstörung des Tympanum begleitet waren, findet 
man, nach H., allerdings die ganze Paukenhöhle, die Zellen des 
Warzenfortsatzes und auch die Räume des Labyrinthes mit einem 
tuberkulösen Eiter gefüllt, die angrenzenden Wände mehr oder 
weniger erodirt. Der Felsentheil des Schläfenbeines sei äusserlich 
missfarbig, sein Gefüge gelockert, in seltenen Fällen seien die 
Gehirnhäute an den inneren Gehörgang durch ein tuberkulóses Ex- 


sudat angelöthet und die angrenzende Hirnsubstanz erweicht, das 
1 


2 


eiförmige und runde Loch offen, rauh und uneben, der Inhalt des 
Labyrinths verändert. Weit seltener als die Taubheit sei die halb- 
seitige Gesichtslihmung im Verlaufe von Tuberkulose; dieselbe rühre 
von der theilweisen oder gänzlichen Zerstörung des N. facialis im 
Canalis Faloppii her, welcher von der Paukenhöhle aus corrodirt 
und durchbrochen werde. 

Eine kurze Notiz über Ohreneiterungen bei Phthisikern finden 
wir erst wieder im Jahre 1853 in Wilde’s°) „Beobachtungen über 
Ohrenkrankheiten“. Auch er hebt hervor, dass bei verhältnissmässig 
geringen Schmerzen hochgradige Schwerhörigkeit und eitriger Aus- 
fluss die ersten Klagen des Kranken sind. Hoffnung auf Besserung 
resp. Heilung dieses Leidens sei nicht vorhanden und man solle sich 
desshalb bei der Behandlung auf einfache reinigende Ausspülungen 
beschränken. 

In dem bekannten Werke von Rilliet und Barthez wird die 
„Tuberkulose“ resp. „tuberkulöse Caries“ des Felsenbeines als eine 
häufige Ursache von Otorrhoén, welche namentlich bei Kindern unter 
Pyaemie oder Meningitis zum Tode führen, angeführt. v. Tröltsch,?) 
der zwar die Möglichkeit dieses Zusammenhanges nicht in Abrede 
stellt, glaubt jedoch, dass es sich in der Mehrzahl dieser Fälle von 
,Tuberkel des Felsenbeins* um einfache eingedickte Eitermassen 
handele, die allmälich eintrocknen und dann verkäsen. Dabei bemerkt 
er jedoch, dass diese Massen eine perniciöse Bedeutung für den 
Gesammtorganismus gewinnen können. Er verweist diesbezüglich 
auf einen früheren Ausspruch in seiner „Anatomie des Ohrs“ S. 72 
dahingehend, dass es ihm schon längst aufgefallen sei, wie unver- 
hältnissmässig viele der an chronischer Otorrhoé Leidenden rasch 
einem allgemeinen Siechthum verfielen und in den besten Jahren 
ziemlich schnell starben. Acut verlaufende Tuberkulose der Meningen, 
der Lungen oder des Darmes fanden sich nahezu in allen den Fällen, 
welche ihm überhaupt genauer bekannt wurden. Er war desshalb 
geneigt anzunehmen, dass manche Formen von rasch beginnender 
und rapid verlaufender Tuberkulose auf eine Infektion des Blutes 
von irgend einem Eiterherd (hier also des Ohrs) ausgehend, zurück- 
geführt werden könnten. 

Virchow‘) machte im Jahre 1864/65 dagegen geltend, dass er 
wiederholt Kranke gesehen, bei denen bei chronischer Tuberkulose 


3 


secundär Caries des Ohrs sich einstellte. Tuberkulose des Felsen- 
beins, welche Rilliet und Barthez, sowie Nelaton als Ursache 
der chronischen Otitis bei Phthisikern annehmen, habe er nie als 
Ausgangspunkt beobachtet. Der ursprüngliche Grund der ungemeinen 
Häufigkeit von Otorrhoé, Perforation des Trommelfelles und cariöser 
Zerstörung des Felsenbeines bei Scrophulösen und Schwindsüchtigen 
sei noch nicht genügend untersucht, indess dürfte wohl ulceröse 
Tuberkulose des mittleren Ohrs dabei mit in Betracht kommen. 

Im Jahre 1865 äussert sich Politzer 5) in seinen „Beleuch- 
tungsbildern des Trommelfelles“ gelegentlich der Besprechung der 
Trommelfellperforationen dahin, dass in einzelnen Fällen „eine plötz- 
liche, übermässige Luftdruckschwankung in der Trommelhöhle zu 
einem Riss in der Membran führe, doch nur in Fällen, wo die 
Trommelhöhlenschleimhaut bereits erkrankt ist und das Trommelfell- 
gewebe die eben angedeutete Veränderung (entzündliche Erweichung) 
erlitten hat“. Man beobachte dies nicht selten bei eitrigen Trommel- 
höhlenkatarrhen, wie sie häufig bei kachectischen, tuberkulösen und 
scropbulósen Individuen auftreten. Der Prozess beginne hier ge- 
wöhnlich mit kaum merklichen entzündlichen Symptomen, manchmal 
nur mit geringem Ohrensausen oder einzelnen Stichen im Ohre oder 
ohne subjektives Symptom, und die erste Erscheinung, durch welche 
die Kranken auf ein Ohrenleiden aufmerksam gemacht werden, sei 
das Durchzischen der Luft durch das Ohr beim Schnäuzen oder 
Niesen, worauf dann ein mehr oder weniger reichlicher Ohrenfluss 
folge. Nicht selten habe man bei Phthisikern Gelegenheit, solche 
Fälle, kurze Zeit nachdem die Affection entstanden, nach dem 
Tode zu untersuchen, und man finde dann die Trommelhöhlen- 
schleimhaut meist blass, selten hyperaemisch, mit einer dünnen 
Schicht eines rahmähnlichen, schleimig-eitrigen Secretes bedeckt, 
das Trommelfell gewöhnlich am unteren Segmente unregelmässig 
durchlöchert, die Umgebung der Oeffnung collabirt, faltig und 
erweicht. 

Aus einer Bemerkung Sch wartze’s®) gelegentlich der Mittheilung 
zweier Fälle von Mittelohreiterung und Caries der Gehörknöchelchen 
resp. des Felsenbeines bei Tuberkulösen im Jahre 1867 ergiebt sich, dass 
auch ihm der eigenartige Verlauf dieser Affection bekannt war. Er sagt 


in der Epicrise zu den 2 Fällen: „Wie so häufig bei Tuberkulösen 
1* 


4 


ist weder im Beginn der Affection noch in ihrem ganzen Verlaufe 
ein stärkerer, bohrender Schmerz im Ohr empfunden worden, der 
sonst bei der Knochenverschwärung im Ohr ein so constantes und 
quälendes Symptom ist.“ 

Obgleich also aus den hier mitgetheilten Beobachtungen zu er- 
sehen ist, dass die in Rede stehende Affection nicht allein durch 
einen besonderen klinischen Verlauf sich auszeichnete, sondern auch 
den schwersten Formen von Ohreiterungen zugerechnet werden musste, 
scheint man ihr doch auch fernerhin noch wenig Beachtung ge- 
schenkt zu haben, da, so weit ich sehe, ihr selbst in den bekanntesten 
Lehrbüchern der Ohrenheilkunde bis zum Jahre 1877 keinerlei Er- 
wähnung geschieht.*) Erst in der 6ten Auflage seines Lehrbuches, 
welche in dem genannten Jahre erschien, giebt v. Tréltsch’) eine 
ausführliche Beschreibung des von ihm bei Phthisikern beobachteten 
Verlaufes eitriger Mittelohrerkrankungen. Er betont namentlich, dass 
sich manchmal ganz ungemein rapide Schmelzungsprocesse am 
Trommelfell beobachten lassen, denen gegenüber wir uns vollständig 
ohnmächtig fühlen. Auffallend sei es, wie bei Tuberkulösen manchmal 
colossale Zerstörungsvorgänge ohne jeglichen Schmerz und in aller- 
kürzester Zeit vor sich gehen. An einer anderen Stelle macht er 
darauf aufmerksam, dass manchmal Otorrhoén, welche von vornherein 
mehr einen torpid-ulcerativen als einen activ-entzündlichen Character 
zeigen, sich ganz besonders hartnäckig erweisen und ungemein rasch 
zu rapiden Schmelzungsprocessen führen, als erstes Symptom einer 
sonst noch nicht nachweisbaren Lungentuberkulose aufgefasst werden 
müssen. Nur zu oft habe sich ihm der nur der Eigenart gewisser 
Oturrhoén entsprungene Verdacht, dass hier ein tieferer constitutio- 
neller Process im Hintergrunde sei, durch den späteren Verlauf, aber 
auch öfter durch den grossen Nutzen einer klimatischen Kur, nach 
welcher das Ohr bedeutend gebessert oder sich doch viel zugäng- 
licher für die früher vergebliche örtliche Behandlung zeigte, als 
gerechtfertigt erwiesen. 

Späterhin®) erweitert er seine Ansicht dahin, dass er mit Rück- 
sicht auf die von ihm gemachten Erfahrungen betrefís des Verlaufes 
der Ohreiterungen bei Tuberkulösen immer häufiger eine gründliche 


*) Es wird nur von einzelnen Autoren erwähnt, dass die Tuberkulose den 
Verlauf eitriger Mittelohrentzündungen ungtinstig beeinflusse. 


5 


Untersuchung des Ohres für unerlässlich zu halten pflege, weil, 
sobald sich namentlich an der Sen Verdächtiges 
findet, der Eiterungsprocess des‘Ohres unter einem weit 
ernsteren Gesichtspunkte betrachtet werden müsse. Es 
ist auffallend, wie auch nach dieser ausgezeichneten Characterisirung 
der Mittelohreiterungen bei Phthisikern in der otiatrischen Literatur 
kaum Andeutungen darüber sich finden, dass thatsächlich bei den 
Letzteren ein fast als pathognomonisch zu bezeichnender klinischer 
Verlauf der eitrigen Mittelohrentzündungen beobachtet werde. Erst 
die Entdeckung des Tuberkelbacillus durch R. Koch gab Veran- 
lassung, dass man diesen Processen bei Tuberkulösen grössere Auf- 
merksamkeit schenkte und seitdem haben wir denn auch eine ganze 
Reihe von Arbeiten zu verzeichnen, die sich mit denselben be- 
schiftigen. So viel ich sehe, hat Bezold®) zuerst wieder den auf- 
fallenden Unterschied in dem Verlauf eitriger Mittelohrentzündungen 
bei Phthisikern von dem bei sonst gesunden Personen betont. 

Die frisch auftretenden Fälle characterisiren sich, nach Bezold, 
gleich von Anfang an, ebenso wie im weiteren Verlauf, durch ihr meist 
schmerzloses Verhalten und die von Anfang an meist mit grosser 
Prägnanz ausgesprochene destructive Tendenz als eine eigenartige 
Erkrankung, welche für sich allein schon das Vorhandensein der 
phthisischen Diathese mit Sicherheit diagnosticiren lässt. Er bemerkt 
dann weiter, dass sich diese Eiterungsformen bezüglich ihrer Heilungs- 
verhältnisse als ganz auffällig ungünstig gegenüber der antiseptischen 
Behandlung (Borsäure) erweisen und dass alle übrigen constitutio- 
nellen Erkrankungen in ihrer Wirkung auf die chronischen Mittel- 
ohreiterungen dieser Allgemeinerkrankung weit untergeordnet sind. 
Es würde zu weit führen, wenn ich auf alle die Publicationen ein- 
gehen wollte, welche nunmehr folgten; es genüge, darauf hinzu- 
weisen, dass dieselben überwiegend sich mit der Frage von dem 
Vorhandensein des Tuberkelbacillus in dem Ohreiter bei Tuberku- 
lösen beschäftigten und die diagnostische Bedeutung desselben er- 
órterten. Am eingehendsten mit dieser Frage haben sich, nachdem 
zuerst von Eschle'%) in dem Obhrenausfluss zweier Phthisiker 
Tuberkelbacillen nachgewiesen worden waren, Nathan,!!) dem das 
betreffende Material der Bezold’schen Klinik in München zur Ver- 
fügung stand und Ritzefeld,!?2) dessen Beobachtungen der Poli- 
klinik Walb’s in Bonn entstammen, beschäftigt. Ich werde auf 


dieselben, sowie auch auf einige andere einschlägige Arbeiten, 
später zurückkommen. Darin, dass eine ganz characteristische, 
durch ihren klinischen Verlauf sich auszeichnende Ohreiterung 
(Auftreten derselben ohne bemerkenswerthe reactive Erscheinung 
wie Fieber, Schmerzen, Schwellung bei rapid fortschreitender Zer- 
störung des Trommelfelles etc.) bei Tuberkulösen vorkommt, stimmen 
alle Autoren überein, nur darüber gehen die Meinungen ausein- 
ander, ob die genannte Form die einzige sei, unter welcher der 
Process bei Tuberkulösen verlaufe und dementsprechend die 
Prognose absolut ungünstig gestellt werden müsse, oder ob nicht 
doch auch Fälle vorkommen, die durch geeignete Behandlung im 
Fortschreiten gehindert resp. gebessert oder gar geheilt werden 
können. Hand in Hand mit dieser Frage geht dann die Be- 
trachtung darüber, ob man es in derartig günstig verlaufenen Fällen 
überhaupt mit einem tuberkulösen Process zu thun gehabt, oder 
nicht vielmehr eine gewöhnliche eitrige Entzündung vorgelegen 
habe. Die Entscheidung dieser Frage schien nun, nach der Ent- 
deckung des Tuberkelbacillus, nicht mehr schwierig zu sein und 
es fehlte nicht an Stimmen, welche sich dahin aussprachen, dass 
man von einer tuberkulösen Otitis nur sprechen könne, wenn im 
Secrete des Ohres der Bacillus nachzuweisen sei, während andere 
durch den eventuell negativen Ausfall der darauf bezüglichen 
Untersuchung noch nicht die Ueberzeugung gewinnen konnten, dass 
Tuberkulose auszuschliessen sei. Ja, von einzelnen Autoren wurde 
sogar die Behauptung aufgestellt, dass der Nachweis des Tuberkel- 
bacillus nicht mit absoluter Sicherheit den Schluss auf Tuberkulose 
gestatte. Unter den Vertretern dieser verschiedenartigen Ansichten 
treten uns die ausgezeichnetsten Ohrenärzte entgegen und es dürfte 
deshalb wohl nicht unangemessen sein, den vorstehend skizzirten 
Fragen an der Hand der in der Literatur vorliegenden, sowie unter 
Zuhilfenahme eigener Beobachtungen näher zu treten. 

Bezüglich der letzteren möchte ich bemerken, dass ich zwar 
nicht über sehr grosse Zahlen verfüge, aber doch über ein Material, 
das an Brauchbarkeit manchen andern, namentlich poliklinischen 
Beobachtungen, deshalb überlegen sein dürfte, weil es mir möglich 
war, eine verhältnissmässig grosse Anzahl (90)*) der betreffenden Kranken 


*) Ausser diesen 90 wurden noch 16 Fälle untersucht, die nur wenige 
Tage im Krankenhause waren. 


7 


Wochen- oder Monatelang auf hiesigen stationären Kliniken, dank 
dem freundlichen Entgegenkommen der Leiter der betreffenden 
Anstalten, zu beobachten und zwar zum Theil vom Beginn der 
Affection bis zum Exitus letalis resp. dem Austritt aus dem Kranken- 
hause und einzelne auch nach ihrer Entlassung mehrere Jahre lang 
fortdauernd von Zeit zu Zeit zu untersuchen. Dass auch poli- 
klinische Beobachtungen ihren Werth haben und namentlich für 
einzelne noch näher zu bezeichnende Fragen von Wichtigkeit sind, 
darf natürlich nicht geleugnet werden und ich habe deshalb auch 
die in meiner Poliklinik zur Beobachtung gekommenen Fälle bei den 
folgenden Mittheilungen zum Theil mit in Rechnung gezogen, von 
einer Benutzung derselben für einzelne Fragen jedoch z. B. von der 
diagnostischen Bedeutung der Tuberkelbacillen abgesehen, da nur in 
einer verhältnissmässig geringen Anzahl von Fällen eine allen An- 
sprüchen genügende mikroskopische Untersuchung des Ohrsecretes 
stattfinden konnte. Namentlich waren die Fälle, bei denen das Er- 
gebniss desselben negativ ausfiel, nicht zu verwerthen, da es, weil 
eine ganze Anzahl der Patienten wenn, wie so häufig, nach kürzerer 
oder längerer Beobachtungsdauer eine Besserung ihres Leidens nicht 
eintrat, aus der Behandlung wegblieb, nur selten möglich war, das 
Secret genügend oft zu untersuchen und ich mich namentlich an 
den stationär Behandelten von der Nothwendigkeit häufig wiederholter 
Untersuchungen überzeugte. Es ergab sich nämlich, dass zuweilen, 
nachdem zahlreiche Präparate in den verschiedensten Stadien der 


_ - Affection erfolglos untersucht worden waren, schliesslich doch noch 


der Nachweis von Bacillen gelang, dass aber auch nicht selten in 
der ersten Zeit des Auftretens der Ohraffection Tuberkelbacillen in 
dem Secret sich mit Sicherheit wiederholt nachweisen liessen, im 
weiteren Verlaufe der Affecticn die Untersuchung negativ ausfiel, 
eventuell nur das Vorhandensein anderer Mikroorganismen (Strepto- 
kokken etc.) konstatirt werden konnte. 

Es würde nun zunächst die Frage zu erörtern sein, wie häufig 
Ohreneiterungen bei Tuberkulösen vorkommen und das Ver- 
hältniss festzustellen, in welchem dieselben zu allen Ohren- 
krankheiten und speciell zur Zahl der mit Ohreneiterung 
überhaupt behafteten Individuen stehen. 

Was die Häufigkeit des Vorkommens von Ohreiterungen bei 


8 


Tuberkulösen anlangt, so liegen hierüber in der Literatur nur ganz 
vereinzelte Angaben vor. E. Fraenkel!) fand unter 50 zur Section 
gekommenen Phthisikern 16mal pathologische Veränderungen des 
Gehérorgans, Die Prozesse, um die es sich dabei handelte, waren, 
nach Fraenkel, in der weitaus grössten Zahl in directen cau- 
salen Zusammenhang mit der Phthise nicht zu bringen; nur in 
drei Fällen hält Fraenkel es für möglich, von einem solchen 
zu sprechen. In allen diesen drei Fällen lagen tief greifende 
Alterationen der Paukenschleimheit mit cariósen Veränderungen an 
den knöchernen Paukenhöhlenwandungen vor. 

Habermann!*) fand unter 21 histologisch untersuchten Gehör- 
organen Tuberkulöser bei zwei Leichen (3 mal) eitriges Secret im 
Mittelohr, in dem zwar zahlreiche Coccen und Diplococcen, aber 
keine Tuberkelbacillen sich nachweisen liessen, ebenso wenig wie im 
entzündeten Gewebe selbst. In 5 Schläfenbeinen fand sich Tuber- 
kulose. Während also das Häufigkeitsverhältniss der Ohreiterungen 
bei Tuberkulösen überhaupt bei E. Fraenkel 8°/, ergeben würde, 
stellt sich dasselbe bei Habermann dagegen auf 33,3°/,; und wenn 
man nur diejenigen Fälle in Rücksicht zieht, bei denen E. Fraenkel 
die Möglichkeit eines Zusammenhanges der Ohreiterung mit der 
Tuberkulose zugiebt und diejenigen, bei denen Habermann den 
sicheren Nachweis desselben gebracht hat, so ergiebt sich der auf- 
fallende Unterschied von 6°/, bei Fraenkel, zu 23,8°/, bei Haber- 
mann. Letzterer berichtet dann in einer späteren Arbeit über 
weitere 17 von ihm untersuchte Schläfenbeine Tuberkulöser, bei 
denen während des Lebens Schwerhörigkeit oder Ohrenfluss be- 
obachtet worden war. Unter diesen konnte er wieder in 8 Fällen 
Tuberkulose des Gehörorgans nachweisen, während in den übrigen, 
in 7 Fällen die Erscheinungen der eitrigen Mittelohrentzündung und 
in 2 Fällen die des Mittelohrkatarrhs gefunden wurden. Meine eigenen 
Erfahrungen nach dieser Richtung hin ergaben folgendes: Unter 
26 anatomisch untersuchten Felsenbeinen von 23 mit Mittel- 
ohreiterung behafteten tuberkulösen Personen wurde bei 
16 der Nachweis der tuberkulösen Natur mit Sicherheit (das 
Nähere s. weiter unten) geführt, während bei 10 nur gewöhnliche 
Mittelohreiterung constatirt werden konnte. 

Da es sich bei diesen Beobachtungen, ebenso wie bei den zu- 


9 


letzt erwähnten Mittheilungen Habermann’s nur um solche Fälle 
handelt, bei denen Erscheinungen von Seiten des Ohres während des 
Lebens beobachtet worden waren, so lässt sich ein Rückschluss auf 
das Procentverhältniss derselben und speciell der eitrigen Procease 
bei Tuberkulösen überhaupt nicht machen, da verhältnissmässig viele 
Fälle von Ohraffectionen bei Phthisikern wegen ihres meist schmerz- 
losen Verlaufs bei Lebzeiten unbeachtet bleiben und deshalb auch 
bei der Obduction eine Untersuchung der Felsenbeine unter- 
bleibt. Aber der Umstand, dass unter 17 Fällen Habermann’s 
8 mal und in 26 Fällen (Gehörorganen) meiner Beobachtung 
16 mal Tuberkulose des Gehörorganes sicher nachzuweisen war, 
lässt doch in Verbindung mit Habermann’s ersten Beob- 
achtungen den Schluss gerechtfertigt erscheinen, dass die Affection 
nicht so selten ist, wie es nach den Angaben von E. Fraenkel der 
Fall zu sein schien. Immerhin sind natürlich weitere Untersuchun- 
gen über diesen Punkt um so wünschenswerther, als auch die 
bisher vorliegenden Angaben über klinische Beobachtungen be- 
züglich der Häufigkeit der Ohreiterung bei Tuberkulösen noch 
äusserst spärlich sind. 

Moldenhauer!5) konnte aus den Protocollen über die inner- 
halb eines Jahres in der Leipziger medicinischen Klinik aufge- 
nommenen, erwachsenen Phthisiker, welche im Ganzen 294 Fälle 
umfassten, nur bei 28 Notizen über Herabsetzung der Hörfähigkeit 
eines oder beider Ohren, mit oder ohne eitrigen Ausfluss finden, 
und nur in 7 Fällen (2,4 °/,) konnte mit einiger Wahrscheinlichkeit 
auf tuberkulóse Otitis geschlossen werden. Nach Steinbrúgge's!*) 
Erfahrung kommen Erkrankungen der Hörorgane bei tuberkulösen 
Individuen ziemlich häufig vor, doch bestehe die Mehrzahl dieser 
Erkrankungen in einfachen, nicht eitrigen entzündlichen Pro- 
cessen oder deren Folgezuständen und bei diesen lasse sich meisten- 
theils nicht entscheiden, ob das Ohrenleiden in direkte Beziehung 
zur Allgemeinerkrankung gebracht werden dürfe, oder ob dasselbe 
auf Complicationen, welche durch andere Infectionsträger verursacht 
sein können, beruhe Die wenigen statistischen Angaben über die 
Häufigkeit tuberkulöser Ohrenerkrankungen scheinen, nach St., dafür 
zu sprechen, dass die Bedingungen für tuberkulöse Infectionen der 
Hörorgane, insofern dieselben zu zerstörenden eitrigen Processen 


10 


führen, nicht sehr günstig sein müssen. Bezold!”) dagegen hält die 
Tuberkulose des Ohrs für häufig (s. unten). Als ein Beitrag meinerseits 
zur Beantwortung dieser Frage möge Folgendes dienen: Auf der ersten 
medicinischen Klinik der Königl. Charité (Geh.-Rath v. Leyden) wurden 
in der Zeit vom 1. Dezember 1890 bis 31. März 1891 insgesammt 
113 Tuberkulöse behandelt. Von diesen litten an Ohreiterung 8, 
also 6,9 %,. Im städtischen Krankenhaus am Urban wurden auf 
der Abtheilung für innerlich Kranke (Professor A. Fraenkel) in der 
Zeit vom 1. Februar bis 31. Mai 1891 insgesammt 139 Tuberkulöse 
behandelt. Von diesen litten an Ohreneiterung 11, also 7,9 °/,. Ich 
habe die betreffenden Zeitabschnitte desshalb für diese statistischen 
Angaben gewählt, weil es mir während derselben durch das freund- 
liche Entgegenkommen der Dirigenten und Assistenten der betr. An- 
stalten möglich war, sämmtliche Patienten, welche über Erscheinungen 
von Seiten des Gehörorgans klagten, oder bei welchen von den be- 
handelnden Aerzten solche, auch wenn die Patienten nicht darüber 
klagten, wahrgenommen worden waren, einer genauen Untersuchung 
zu unterziehen. Die obigen Zahlen bedeuten demnach das Mini- 
mum der bei den Tuberkulösen der betreffenden Anstalten vor- 
handenen Ohreneiterungen. Dass unter denselben noch mancher sich 
befunden haben wird, der der Untersuchung entgangen ist, scheint 
mir, mit Rücksicht auf die oft unglaubliche Indolenz vieler der hier 
in Frage kommenden, meist den niederen Ständen angehörenden 
Kranken, nicht zweifelhaft. Aber auch so ergiebt sich schon, dass 
diese Zahlen diejenigen Moldenhauers nicht esco Ron (um 
4,5 °/, resp. 5,5 °/,) überragen. 

Ueber das Häufigkeits-Verhältniss der bei Tuberkulósen vor- 
kommenden Ohreiterungen zur Zahl der Ohrenkrankheiten überhaupt 
und speciell zur Zahl der durch die verschiedenen anderen Ursachen 
bedingten Mittelohreiterungen finde ich in der Litteratur nur eine von 
Bezold*”) herrührende Notiz. Er hat in 9 Jahren 98 Phthisiker mit 
Mittelohreiterungen gesehen. Dieselben bildeten 0,8 °/, aller während 
dieser Zeit behandelten Ohrenkranken und 4,7°/, aller chronischen 
Mittelohreiterungen. Aus meinen eigenen Beobachtungen ergiebt 
sich, dass unter 12000 poliklinisch behandelten Ohrenkranken 94 
mit Mittelohreiterung behaftete Tuberkulöse sich fanden; 
die Zahl der Mittelohreiterungen überhaupt betrug 3737. Es ergiebt 


11 


sich also bezüglich des Verhältnisses der Ohreiterungen bei Tuber- 
kulösen zur Gesammtzahl der Ohrenkrankheiten ein dem Bezold’schen 
sehr nahe kommendes Resultat = 0,7 °/,, bezüglich desjenigen zu den 
Mittelohreiterungen (acute und chronische) überhaupt = 2,5 %,. 
Berücksichtige ich, wie es Bezold thut, bei diesem Vergleiche nur 
die chronischen Mittelohreiterungen (2214), dann ergiebt sich 
wieder ein dem Bezold’schen sehr nahekommendes Procentver- 
hältniss von 4,2°/,. Aber auch dann, wenn die acuten und chronischen 
Mittelohreiterungen zusammen den bei Tuberkulösen constatirten 
eitrigen Processen gegenübergestellt werden, wird die Procentzahl 
als etwas grösser angenommen werden müssen, als die von mir ge- 
fundenen 2,5°/,, wenn man in Erwägung zieht, dass in der poli- 
klinischen Praxis eine ganze Anzahl von Fällen nur 1 oder 2 mal 
sich einstellen resp. nach wenigen Tagen aus der Behandlung fort- 
bleiben und dass unter diesen Fällen zweifellos manche, namentlich 
acut auftretende, sind, auf deren tuberkulösen Character man erst 
durch den protrahirten Verlauf resp. durch die unliebsame Beob- 
achtung, dass die übliche Behandlung wirkungslos bleibt, aufmerksam 
gemacht worden wäre. Soviel ergiebt sich aber wohl aus dem bis- 
her Mitgetheilten, dass die Ansicht derer, welche eitrige Mittelohr- 
entzündungen bei Tuberkulösen nicht für etwas seltenes halten, richtig 
ist; es bliebe dann nur noch die Frage zu erörtern, in wieweit 
diese Affectionen durch die Grundkrankheit bedingt werden, eine 
Frage, deren Beantwortung erst durch eine sorgfältige Analyse der 
einzelnen Beobachtungen möglich sein wird und auf die ich weiter 
unten zurückzukommen gedenke. 

An dieser Stelle mag zunächst auf ein frappantes Missverhält- 
niss aufmerksam gemacht werden, welches, nach meinen Auf- 
zeichnungen, in der Disposition für eitrige Ohraffectionen bei 
tuberkulösen Personen männlichen und weiblichen Ge- 
schlechts besteht. 

Unter den von mir beobachteten 200 Fällen (poliklinische und die 
an verschiedenen Krankenanstalten beobachteten zusammengenommen) 
von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen fand sich das letztere nur mit 
43 (21,5 °/,) betheiligt. Noch auffallender wird der Unterschied in 
der Betheiligung des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männ- 
lichen, wenn man das Verhältniss derselben zu der Tuberkulose 


12 





überhaupt berücksichtigt. Unter den 252 Tuberkulösen, die ich auf 
den oben genannten stationären Kliniken in dem ebenfalls oben er- 
wähnten Zeitabschnitt zu beobachten Gelegenheit hatte, fanden sich 
135 Männer und 117 Frauen und unter ihnen insgesammt 19 mit 
Mittelohreiterung behaftete; davon betrafen 17 Männer und zwei 
Frauen. Während also die Frauen an der Tuberkulose überhaupt 
mit 46,5 °/, betheiligt waren, nahmen sie nur mit 10,5 °/, an den 
Mittelohreiterungen Theil. Berücksichtige ich von sämmtlichen von 
mir klinisch genau beobachteten Fällen nur diejenigen, bei denen 
der tuberkulöse Character der Mittelohraffection mit Sicherheit nach- 
gewiesen werden konnte (40), so ergiebt sich ein Verhältniss von 
18,2 °/, weiblichen zu 81,8 °/, männlichen Patienten. In der Literatur 
finde ich über dieses Verhältniss nur wenig Notizen: Morpurgo?®) 
fand unter 37 an Otorrhoé leidenden Tuberkulösen 25 Männer, 
10 Weiber (2 Kinder, welchen Geschlechts?) E. Fraenkel (l. c.) 
hebt hervor, dass auffallender Weise in allen Fällen (8) von Mittel- 
ohraffectionen bei Tuberkulösen es sich um männliche Personen 
handelte und dass auch von den 8 anderen Fällen, wo Affectionen 
des Ohres mit solchen des Nasenrachenraumes complicirt waren, 
7 Männer betrafen; nur 2 von diesen Fällen waren in direct causalen 
Zusammenhang mit der Phthise zu bringen. Ein auffallendes Ueber- 
wiegen des männlichen Geschlechts gegenüber dem weiblichen con- 
statirt neuerdings Hegetschweiler!?); auf 27 Fälle des ersteren 
kamen nur 8 des letzteren mit Mittelohreiterungen. Nur beiläufig 
sei erwähnt, dass Krause?) ähnliches bei tuberkulösen Knochen- 
und Gelenkleiden wenigstens bis zum 20. Lebensjahr beobachtet hat. 
Unter 248 Hüft- und Kniegelenksresectionen kamen 175 auf männ- 
liche, 73 auf weibliche Personen. Als Grund für diese eigenthüm- 
liche Thatsache kann man nach Krause wohl nur anführen, dass bei 
Knaben und Männern öfter als bei Mädchen und Frauen Verletzungen 
vorkommen, welche die Gelegenheitsursache zur Entstehung von 
Tuberkulose der Knochen und Gelenke abgeben. Dieses ätiologische 
Moment kommt für die Ohreneiterungen bei Tuberkulösen nicht 
in Betracht, da fast durchgehends angegeben wird, dass die Affection 
ohne nachweisbare Veranlassung auftrat. Es liegt natürlich die Frage 
nahe, ob nicht überhaupt das männliche Geschlecht mehr zu Ohren- 
eiterungen disponirt sei als das weibliche und so weit meine Er- 


13 


fabrungen reichen, ist dies allerdings, aber doch nicht in dem Masse 
der Fall, wie bei den Ohreiterungen der Tuberkulósen. Aus den 
hierauf bezüglichen Zusammenstellungen aus meiner eigenen Praxis 
ergiebt sich nämlich für die eiterigen Mittelohrentzündungen (acuten 
und chronischen zusammen) ein Procentverhältniss von 57,7 %/, männ- 
lichen zu 42,3 °/, weiblichen Personen; für die chronischen Mittel- 
ohreiterungen allein 55,7 °/, bei männlichen, 44,3 °/, bei weiblichen. 
Etwas grösser ist der Unterschied bei acuten Mittelohreiterungen 
mit 60,8 °/, männlichen gegen 39,2 °/, weibliche Personen. Es giebt 
demnach auch dieses Verhältniss keine Erklärung für die oben von 
mir gefundene Differenz in der Disposition der männlichen Tuberku- 
lösen zu der der weiblichen für Ohreneiterungen. Einen anderen 
plausiblen Grund vermag ich nicht zu finden; jedenfalls wird die 
Frage noch in suspenso bleiben müssen, bis eventuell von anderer 
Seite das Factum selbst Bestätigung findet. 

Was das Lebensalter, in welchem die Patienten mit der be- 
treffenden Affection des Ohres in Behandlung kamen, anlangt, so 
stellten nach meinen Beobachtungen die Verhältnisse sich so, dass 
von den 176 Kranken (unter 200), bei denen Notizen über das 
Alter vorlagen, 19 auf das 1., 15 auf das 2., 63 auf das 3., 46 auf 
das 4., 26 auf das 5., 4 auf das 6. und 3 auf das 7. Dezennium 
entfielen. Berücksichtigen wir nur diejenigen Beobachtungen, bei 
denen die tuberkulöse Natur des Ohrenleidens mit Sicherheit con- 
statirt werden konnte, so fallen an den hier in Betracht kommenden 
40 Fällen je 4 auf das 1. und 2., 11 auf das 3., 13 auf das 4., 
7 auf das 5. Dezennium (in einem Falle fehlt die Altersangabe). 
Diese letzteren Zahlen stimmen, soweit es sich um Erwachsene 
handelt, auffallend überein mit den von Hegetschweiler (l. c.) 
gefundenen, bei dem ebenfalls das Maximum auf das 4. Dezennium 
fällt. Da das Maximum der allgemeinen Tuberkulose nach Rühle 
in das 2. und 3. Dezennium fällt, so glaubt Hegetschweiler, dass 
das spätere Auftreten der Ohrtuberkulose dadurch zu erklären sei, 
dass letztere beim Erwachsenen nur bei chronisch verlaufender 
Phthise und hier gewöhnlich erst in den späteren Stadien auftritt. 
Die Frage, ob diese Ansicht richtig ist, dürfte erst dann zu ent- 
scheiden sein, wenn man die Fälle daraufhin ansieht, in welchem 
Lebensjahr die Ohraffection zuerst aufgetreten ist. Der Zuver- 


14 





lässigkeit des Resultates wegen können hier nur die Fälle von wirk- 
lich nachgewiesener Tuberkulose des Ohres in Betracht kommen. Es er- 
giebt sich, dass in der Mehrzahl der Fälle (21) das Ohrenleiden 
auf einige Tage bis mehrere Monate, in 7 Fällen um 1—3 Jahre, 
in 1 Falle um 6—7 Jahre, in 8 Fällen (bei Kranken im 2., 3., 4. 
und 5. Dezennium) bis in die Kindheit zurückdatirt wurde; in 3 
Fällen konnte keine sichere Angabe gemacht werden. Hiernach 
würde das Verhältniss nur in sofern sich etwas verschieben, als 
das 1. Dezennium einen Zuwachs an 8 Fällen erhält, so dass 
dasselbe in der Zusammenstellung mit 12 statt 4 Fällen vertreten 
wäre. Die 21 Fälle mit einer Krankheitsdauer von einigen Tagen bis 
mehreren Monaten, ändern in der obigen Zusammenstellung nichts, 
ebensowenig wie die Fälle mit einer Krankheitsdauer von 1--3 
Jahren, während der Fall mit 6—7jahriger Krankheitsdauer aus 
dem 5. in das 4. Dezennium zurückdatirt werden müsste. 

Es ergiebt sich sonach auch aus dieser Zusammenstellung, dass 
das Maximum der Ohrtuberkulose bei Erwachsenen in das 
4. Dezennium, bei Kindern, ebenso wie Hegetschweiler es 
gefunden hat, in das 1. Dezennium fällt. Bezüglich der Ursache 
für das Ueberwiegen des 1. Dezenniums glaube aueh ich mit Hegetsch- 
weilerdiedurch die acuten Infectionskrankheiten gesetzte Prädisposition 
für Tuberkulose ansehen zu sollen und dürften hierbei namentlich die 
Masern in Betracht kommen. In dreien der von mir beobachteten 
Fälle (2 Erwachsene 1 Kind) wird als Ursache der Otorrhoé Masern, 
in einem Scharlach angegeben. Wie lange nach den Masern die 
ersten Erscheinungen der Lungentuberkulose aufgetreten waren, 
liess sich nicht mit Sicherheit feststellen. In dem einen Falle (fünf- 
jähriges Mädchen) war als erste Erscheinung im Anschluss an Masern 
die Tuberkulose des Ohres aufgetreten; es kam zur Radicalope- 
ration und dabei wurden Miliartuberkel mit typischen Langhanns- 
schen Riesenzellen in den Granulationen gefunden. Dass Masern 
eine Disposition zu tuberkulösen Erkrankungen schaffen, ist von ver- 
schiedenen zuverlässigen Beobachtern constatirt worden (Weigert, 
Baumgarten, Krause). Voltolini?!) beobachtete ein 41/,jähriges 
Kind, das nach Masern an doppelseitiger eitriger Mittelohrentziindung, 
zugleich mit Husten erkrankte und nach !/, Jahr an Marasmus zu 
Grunde ging. Im Ohrsecret fanden sich schon bei Lebzeiten und 


15 


ebenso in der Leiche massenhaft Tuberkelbacillen und ausgedehnte 
cariöse Zerstörungen. Tobeitz?!*) theilt den Fall eines 2jáhrigen 
Kindes mit, welches 3 Wochen nach seiner Aufnahme in das Hospital 
(wegen Masern) an acuter eitriger Mittelohrentziindung und Caries 
des Schläfenbeins erkrankte und an Meningitis tuberkulosa zu Grunde 
ging. Für die beiden von mir erwähnten, Erwachsene betreffenden 
Fälle, ist natürlich die Annahme nicht ausgeschlossen, dass es sich 
ursprünglich um die gewöhnliche Form der Otitis media purulenta 
in Folge von Masern gehandelt habe, und dass erst später, nachdem 
das Lungenleiden im Anschluss an die Masern sich entwickelt hatte, 
die Einwanderung der Tuberkelbacillen in den Locus minoris resi- 
stentiae, als welchen das eiternde Mittelohr angesehen werden musste, 
stattfand. Ein ähnliches Verhältniss dürfte auch zwischen der tuber- 
kulösen Ohraffection und Scarlatina bestehen. In dem von mir 
beobachteten Falle trat in der Kindheit (Pat. ist jetzt 22 Jahre alt) 
nach Scharlach doppelseitige Otorrhoé ein. Auf dem rechten Ohr ist 
die Affection mit Hinterlassung eines grossen Defectes geheilt, 
während links die Eiterung fortbesteht. Sowohl im Sputum 
des an doppelseitiger Spitzeninfiltration leidenden Patienten als auch 
im Öhrsecret wurden Tuberkelbacillen gefunden. 

Es wäre ja nun wohl auch denkbar, dass nicht allein die nach 
Masern und Scharlach entstandenen Mittelohrentzündungen, sondern 
auch die durch rein lokale Ursachen (Schnupfen, Trauma etc.) 
bedingten, wenn die Eiterung nicht beseitigt wird, eine Disposition 
für die spätere Infection mit dem Tuberkelgift schaffen können, so 
dass auch bei den übrigen Patienten, bei denen wir gar keine 
Anhaltspunkte für einen Zusammenhang der in der Kindheit auf- 
getretenen Otorrhoö mit der Tuberkulose finden konnten, ein derartiger 
Causalnexus nicht ausgeschlossen ist. 

Wenn demnach in den eben erwähnten Fällen die Erkrankung 
des Ohres bei den betreffenden tuberkulösen Individuen auf die 
eine oder andere Gelegenheitsursache vielleicht zurückgeführt 
werden könnte, so finden sich unter den übrigen Beobachtungen 
nur einige wenige, welche überhaupt eine Gelegenheitsursache für 
ihr Ohrenleiden anzugeben wussten. Ein mal wurde dasselbe 
auf Influenza und einmal auf ein Trauma (Bohren mit der 
Haarnadel) zurückgeführt. In beiden Fällen blieb die Heilung, trotz 


16 


sachgemässer Behandlung, aus, und gerade dieser Misserfolg war es, 
der zur Untersuchung der Brustorgane Veranlassung gab. Beide 
Patienten hatten über Beschwerden von Seiten der Lunge nicht ge- 
klagt. Die Untersuchung ergab bei dem einen eine doppelseitige Spitzen- 
infiltration, bei dem andern eine Infiltration der rechten Lungen- 
spitze (elastische Fasern im Sputum) und einen Tumor albus des 
rechten Kniegelenks. Hier mögen auch noch 2 Fälle Erwähnung 
finden, bei denen die Affection des Ohres während der Be- 
handlung mit Tuberkulin eintrat; in wie weit diese als Gelegen- 
heitsursache für das Auftreten der Otitis angesehen werden darf, lässt 
sich natürlich vorläufig nicht entscheiden. Soviel muss, wie aus dem 
Gesagten sich ergiebt, constatirt werden, dass in der übergrossen 
Mehrzahl der Fälle eine Gelegenheitsursache für das 
Auftreten der Otitis nicht nachgewiesen werden konnte. Es 
ist diesjedenfalls bemerkenswerth, wenn man berücksichtigt, dass die ge- 
wöhnlichen chronischen Ohreiterungen doch meistentheils von den 
Patienten selbst auf eine vorausgegangene Krankheit (Masern, Scharlach, 
resp. Katarrhe der Nase etc.) zurückgeführt werden, während Tuber- 
kulöse meist nicht einmal im Stande sind, mit Sicherheit anzugeben, 
wann die ersten Erscheinungen von Seiten des Ohres sich gezeigt 
hatten. Nur in den seltenen Fällen, wo die Affection mit heftigen 
Schmerzen, Fieber etc. also unter dem Bilde der acuten Otitis 
media purulenta auftrat, wurde von den Kranken, wie dies ja auch 
sonst zu geschehen pflegt, eine Erkältung resp. ein heftiger Schnupfen 
als Ursache angeführt. 

Was nun die klinischen Erscheinungen und den Verlauf 
der Mittelohreiterungen bei Tuberkulösen anlangt, so stimmen wohl alle - 
Autoren darin überein, dass es eine, wenn ich so sagen darf, 
typische Form derselben giebt, die sich durch ihr schmerz- 
loses Auftreten und die Neigung, in kurzer Zeit zu aus- 
gedehnten Zerstörungen des Gehörorgans zu führen, charac- 
terisirt. Diese Form als tuberkulöse Otitis zu erkennen, hält gewöhnlich 
nichtschwer, da ein gleiches Verhalten bei keiner andern Form der Otitis 
media beobachtet wird. Wenn ich den Verlauf kurz skizziren darf, so 
sehen wir bei den meist auch in ihrem Allgemeinbefinden sehr 
gestörten, von Husten und Nachtschweissen gequälten, zuweilen 
fiebernden Patienten, die von Seiten des Ohres über nur mässiges 


17 





Sausen, aber hochgradige Schwerhörigkeit klagen, bei der objectiven 
Untersuchung im Gehörgang meist nur geringe Mengen zähen eitrigen 
Secrets oder spärliche käsige Massen, von deren Existenz die Pat. 
selbst nichts wissen, während andere angeben, dass sie ab und zu etwas 
Feuchtigkeit im Ohr gemerkt hätten. Seltener sind profuse Eiterungen. 

Das Trommelfell ist diffus, aber nicht sehr intensiv geröthet, 
an einer oder auch mehreren Stellen perforirt Der Druck auf 
Tragus und Proc. mast. verursacht keine Schmerzen, Anschwellung 
ist weder im Gehörgang noch am Proc. mast. wahrzunehmen. Unter 
zunehmender Schwerhörigkeit, die oft in ganz kurzer Zeit zu voll- 
ständiger Taubheit sich steigert, nimmt auch meist die Secretion des 
Ohres zu. Der Ausfluss wird übelriechend, beim Ausspritzen zeigen 
sich in demselben käsige Bröckel und oft gelingt es, trotz wieder- 
holter sorgfältiger Reinigung nicht, die Secretmassen ganz aus dem 
Ohr zu entfernen. Sie liegen theils dem Trommelfellrest, theils der 
Labyrinthwand der Paukenhöhle, die nicht selten schon nach wenigen 
Wochen oder Monaten in Folge totaler oder wenigstens sehr aus- 
gedehnter Zerstörung des Trommelfelles frei liegt, fest an und sind 
auch durch Austupfen unter Leitung des Spiegels nicht immer zu 
beseitigen. Die selbstverständlich ebenfalls unter Leitung des Spiegels 
und mit grösster Vorsicht auszuführende Sondirung ergiebt sehr 
häufig, sei es im äusseren Gehörgang, sei es an den Paukenhöhlen- 
wandungen, das Vorhandensein von rauhem Knochen; ab und zu 
finden sich an derartigen Stellen Granulationen, die nur selten 
grösseren Umfang erreichen. Verhältnissmässig häufig tritt dann 
auch Facialisparalyse auf der entsprechenden Seite auf und zwar, 
wie ich aus meinen eigenen Beobachtungen sehe, gewöhnlich we- 
nige Wochen oder wenige Monate vor dem Tode, der meist unter 
zunehmendem Verfall in Folge des Fortschreitens der Lungenaffection, 
zuweilen durch allgemeine Miliartuberculose oder durch Meningitis 
basilaris erfolgt. Schmerzen treten während des ganzen Verlaufes 
entweder gar nicht oder nur in geringem Grade auf. 

Aber nicht in allen Fällen gestaltet sich das Krankheitsbild so 
wie eben geschildert und namentlich sind es diejenigen Fälle, welche 
in der Poliklinik zur Beobachtung kommen, bei denen der Verlauf 
ein durchaus anderer ist. Wir haben es hier meist mit nicht fiebern- 


den Kranken zu thun, deren Allgemeinbefinden, trotz der zweifellos 
> 


18 


vorhandenen Lungenaffection, noch ein verhältnissmässig gutes ist, 
die wenig husten, über Nachtschweiss meist nicht klagen und auch 
im Stande sind, ihrer gewohnten Thätigkeit nachzugehen. Auch sie 
klagen im Wesentlichen über Sausen und Schwerhörigkeit, zuweilen 
über ein unangenehmes Druckgefühl auf dem betreffenden Ohr und 
mehr oder weniger reichlichen Ausfluss. Ueber Schmerzen, die den 
genannten Erscheinungen vorausgegangen seien, wissen die Kranken 
nichts zu berichten. 

Bei der objectiven Untersuchung findet sich mehr oder weniger 
reichliches schleimig- eitriges Secret, Perforation des meist nur — 
mässig gerötheten Trommelfelles. Zuweilen sind die Wände des 
Gehörganges geschwollen, die Epidermis zum Theil abgestossen. 
Die Hörfähigkeit zeigt sich im Verhältniss zu der kurzen Dauer 
der Affection und den sonst sehr geringen subjectiven Beschwerden, 
sehr bedeutend herabgesetzt. Die Uhr wird meist nur beim An- 
legen an das Ohr, vom Proc. mast. aus gar nicht gehört. Flüster- 
sprache wird oft gar nicht und zuweilen auch laute Sprache nur 
dicht am Ohr verstanden. Von Stimmgabeln werden die Töne der 
ungestrichenen, ebenso wie der drei- und viergestrichenen Octave 
schlecht oder gar nicht gehört. Der Weber’sche Versuch fällt 
nicht selten positiv aus (d. h. die auf dem Scheitel aufgesetzte 
tönende Stimmgabel (c) wird auf dem kranken resp. schlechteren Ohr 
besser gehört), meist jedoch ist ein Unterschied nicht zu constatiren. 
Die Perceptionsdauer vom Knochen aus für die Stimmgabel c er- 
weist sich in der ersten Zeit zuweilen verlängert (selbst wenn die 
Uhr vom Proc. mast. aus nicht gehört wird), meist entspricht sie der 
Norm oder ist geringer als diese. Der Rinne’sche Versuch fällt 
meist negativ aus. Unter sachgemässer Behandlung kann in der- 
artigen Fällen der Verlauf sich so gestalten, dass die Eiterung aus 
dem Ohr abnimmt, schliesslich auch ganz sistirt, während in den 
übrigen subjectiven Beschwerden: Sausen, Schwerhörigkeit, keinerlei 
Besserung eintritt. Auch bei Vornahme der Hörprüfung zeigt sich 
keine Aenderung und bei der objectiven Untersuchung findet man 
zwar, dass Gehörgang und Paukenhöhle, soweit dies durch Besich- 
tigung resp. Anwendung der Luftdouche zu constatiren möglich ist, 
frei von eitrigem Secret sind, aber die ursprünglich vorhandene Per- 
foration hat sich nicht geschlossen. 


19 





Die Röthung des Trommelfelles ist verschwunden und in 
einzelnen Fallen kann man späterhin constatiren, dass der Process 
in der Weise zum Abschluss gekommen ist, dass die Perforations- 
ränder mit der Labyrinthwand der Paukenhöhle verwachsen sind. 
Häufiger jedoch sistirt auch die Eiterung, trotz sorgfältigster lokaler 
und allgemeiner Behandlung nicht, vermindert sich höchstens von 
Zeit zu Zeit, um dann, oft ganz ohne nachweisbaren Grund, wieder 
stärker aufzutreten. Die ursprünglich vorbandene Perforation 
hat sich nicht oder nur wenig vergrössert und es können 
Monate, zuweilen, wenn auch selten, sogar Jahre vergehen, 
während welcher die Patienten sich oft der weiteren Beob- 
achtung entziehen, bis eine Wendung zum schlechteren eintritt. 
Dieselbe erfolgt dann meist gleichzeitig mit dem Fortschreiten der 
Lungentuberkulose. Sehr oft entwickeln sich mit dem Eintritt der 
Verschlimmerung des Ohrenleidens auch tuberkulöse Prozesse in 
anderen Organen, namentlich dem Larynx- und dem Verdauungs- 
apparat und es tritt nun dasselbe Bild auf, wie ich es oben 
geschildert habe, indem unter rapider Einschmelzung des Trommel- 
felles, Verlust der Gehórknóchelchen bald absolute Taubheit ein- 
tritt, bis schliesslich der Tod den vielfachen Leiden dieser Unglück- 
lichen ein Ende macht. 


Die Frage, ob ausser in der bisher beschriebenen Weise die 
Ohreiterung bei Tuberkulösen nicht auch unter dem Bilde der acuten 
eitrigen Mittelohrentzündung, d. h. mit heftigen Schmerzen unter 
Fiebererscheinungen und Nachlass dieser beiden Symptome nach 
Eintritt der Perforation des Trommelfelles mit nachfolgender, meist 
profuser, schleimig - eitriger Secretion, auftreten könne, wurde bisher 
von den Autoren recht verschieden beantwortet. Die meisten 
sprachen sich dahin aus, dass ein derartiger Verlauf entweder über- 
haupt von ihnen nicht beobachtet worden sei, oder aber nur dann, 
wenn man es mit einer zufälligen Complication, einer Otitis, die in 
keinem ursächlichen Zusammenhange mit der Tuberkulose stehe, zu 
thun gehabt habe. Andere waren der Meinung, dass in denjenigen 
Fällen, wo die Affection unter heftigen Schmerzen aufgetreten war, 
es sich nicht um eine wirkliche Otitis media, sondern um eine 
primäre Entzündung des Proc. mastoid. gehandelt habe. So sprechen 


os- 


20 


sich Rhoden und Kretschmann??) gelegentlich der Mittheilung 
eines von Schwartze operativ geheilten Falles von tuberkulöser 
Otitis resp. Ostitis mastoidea dahin aus, dass die Eiterung und Ent- 
zündung des Proc. mastoid. die Primäraffection gewesen sei und erst 
secundär bei dem mit Tuberkulose behafteten Patienten die Tuberkeln 
sich an dem Locus minoris resistentiae entwickelt haben. „Zu dieser 
Auffassung“ fahren die Vff. fort, „berechtigt uns die Thatsache, dass, 
während die Ohreiterungen bei Phthisikern ohne Schmerzen auf- 
treten, unser Patient heftige Schmerzen ausgestanden hat, in ähn- 
licher Weise wie die gewöhnlichen acuten Mittelohreiterungen zu 
beginnen pflegen.“ Ritzefeld (l. c. S. 17) hebt hervor, dass die 
bedeutende Schmerzhaftigkeit, das hohe Fieber und der ganze Sturm 
der Erscheinungen, welcher sonst eitrige Mittelohrentzündungen ein- 
zuleiten pflegt, ganz fehlen können, doch würden auch Fälle be- 
obachtet, wo diese Symptome „in ausgesprochenem Masse vorhanden 
sind, ja noch weitgehender als bei den idiopathischen Formen, so 
dass dann gerade die ungemeine Heftigkeit ebenso auf Rechnung 
der zu Grunde liegenden Diathese zu setzen ist, als im anderen 
Falle der symptomenlose Verlauf.“ 


Ich selbst verfüge über zwei Fälle, bei denen die Tuberkulose 
_ des Mittelohrs unter dem Bilde der acuten Otitis media purulenta 
auftrat, die insofern durchaus beweiskräftig sind, als bei ihnen die 
tuberkulúse Natur des Processes durch den Nachweis der Tuberkel- 
bacillen im Ohrsecret erbracht werden konnte. 


Der eine Fall betrifft einen 27jährigen Kaufmann, der zuerst im Jahre 1888 
von Haemoptoe befallen worden ist, die sich seitdem mehrmals wiederholt hat. 
Am 1. November 1890 erkrankte er unter Fiebererscheinungen mit heftigen 
Schmerzen im rechten Ohr (früher nicht ohrenkrank), die, nachdem eitriger Aus- 
fluss aus dem Ohre eingetreten war, zwar nachliessen, aber nicht ganz ver- 
schwanden. Patient liess sich deshalb am 2. November in das städtische Kranken- 
haus am Urban aufnehmen. Daselbst wurden die Erscheinungen der acuten 
eitrigen Mittelohrentztindung (Röthung und Perforation des Trommelfells) gefunden; 
im eitrigen Secret des Ohres, sowie im Sputum wurden Tuberkelbacillen nach- 
gewiesen. Die Untersuchung der Brustorgane ergab doppelseitigen Spitzenkatarrh. 
Bis zum 22. November wurden nur reinigende Ausspiilungen mit lauem Salzwasser 
gemacht; die Secretion verminderte sich und über Schmerzen klagte Patient nicht 
mehr. Von dem genannten Tage an wurde mit der Tuberkulinbehandlung nach 
Koch in der damals tiblichen Weise (mit Injectionen von 0,001) begonnen. Nach 


y 
— 


dieser ersten Injection nahm zunächst die Eiterung wieder beträchtlich zu, auch 
die Schmerzen steigerten sich und in dem eitrigen Secret liessen sich jetzt 
massenhaft Tuberkelbacillen nachweisen, während die Zahl derselben vorher 
nur eine geringe gewesen war (in jedem Deckglaspräparat 1—3). Nach wenigen 
Tagen liess die Eiterung wieder nach, die Schmerzen verschwanden, der vermehrte 
Bacillengehalt hielt jedoch an. Als ich Patient am 27. December untersuchte, 
fand ich noch wenig eitriges, Bacillen enthaltendes Secret im Ohr, das Trommelfell 
leicht geröthet, getrübt ; Manubr. mallei perspectivisch verkürzt, stecknadelkopfgrosse 
Perforation im hinteren oberen, Verkalkung im vorderen unteren Quadranten. 
Die Uhr wurde 10 Centimeter vom Ohr entfernt und durch den Proc. mast. 
deutlich gehört. Flüsterzahlen (drei) wurden in 1*/, Meter Entfernung nachge- 
sprochen. Stgbl.c. vom Scheitelaus nach rechts, vom Process. mastoid. aus beträchtlich 
länger (30 “) als normal gehört. Rinne'scher Versuch negativ. Am 3. Februar 
1891, als ich Patient zuletzt sah, war kein eitriges Secret mehr im Ohr vorhanden, 
das Trommelfell leicht getrübt, die Perforation geheilt. Die Uhr wurde in ?/, 
Meter, Flüstersprache (Wolff’s Prüfungsworte) in 6 Meter Entfernung gehört. 
Der andere Fall betrifft einen 34 jährigen Kaufmann, der wegen vorgeschrittener 
Phthisis pulm. et laryngis (reichliche Tuberkelbacillen im Sputum) im städtischen 
Krankenhaus am Urban behandelt wurde. Pat. früher nie ohrenkrank, erkrankte 
im December 1890 mit heftigen Schmerzen im rechten Ohr, die nach einigen Tagen, 
als sich reichlicher eitriger Ausfluss einstellte, nachliessen. Der Ausfluss hat 
seitdem bis zu der Zeit, als ich Pat. zum ersten male sah (19. April 1891) nicht 
aufgehört. Das Allgemeinbefinden hat sich stetig verschlechtert. Pat. klagt 
jetzt über anhaltenden Husten und reichlichen Auswurf, profuse Nachtschweisse, 
grosse Schwäche und ist vollständig aphonisch. Der Gehörgang (rechts) ist voll 
übelriechenden käsigen Eiters, nach dessen Entfernung durch Ausspritzen sich an 
der hintern untern Partie des knöchernen Gehörganges eine stecknadelkopfgrosse 
Granulation befindet, unterhalb welcher der Knochen sich rauh anfühlt. Das 
Trommellfell ist in der ganzen unteren Hälfte defect, die obere Partie mit dem 
noch erhaltenen Manbr. mallei stark retrahirt. Die Berührung des Gehörgangs 
mit der Sonde ist sehr empfindlich, Druck auf den Proc. mast. dagegen voll- 
ständig schmerzlos. Die Uhr wird weder durch Luft- noch durch Knochenleitung 
percipirt, laute Sprache am Ohr (auch bei verschlossenem kranken Ohr, also nicht 
mit diesem) gehört. Im eitrigen Secret des Ohres finden sich Tuberkelbacillen 
in grosser Menge Im Laufe der nächsten Wochen trat nur insofern eine 
Aenderung ein, als die Einschmelzung des Trommelfelles stetig zunahm, so dass 
am 10. Mai von demselben nur noch die den Hammergriff einschliessende Partie 
erhalten war, die Secretion reichlich, intensiv stinkend, trotz täglich melırmaliger 
Ausspülungen und Drainage mit Jodoformgaze Erst am 28. Juni hatte ich 
Gelegenheit, den Pat. wieder zu sehen. Sein Allgemeinbefinden war äusserst 
schlecht, seit 3 Wochen besteht rechtsseitige Facialisparalyse, die Eiteruug aus 
dem Ohr unverändert, Druck auf Proc. mast. empfindlich. Von Trommelfell und 
den Gehörknöchelchen keine Spur zu sehen. Labyrinthwand in der Gegend des 
Promontoriums geröthet, im übrigen mit zähem, fest haftendem auch durch Aus- 


22 
spülen nicht ganz zu entfernendem Secret bedeckt. Am 9. Juli trat der Exitus 
letalis ein. Die Obduction wurde nicht gestattet. 


Diese beiden Beobachtungen zeigen, dass die zunächst unter 
dem Bilde der acuten Mittelohrentzündung auftretende Tuberkulose 
des Ohres sowohl einen günstigen Verlauf nehmen, als auch unter 
Umständen genau so wie die eigentliche tuberkulöse Mittelohreiterung 
schliesslich ausgehen kann. Auf die Frage, worin der Grund für die 
auffallende Verschiedenheit in dem Verlaufe dieser Affection zu 
suchen ist, kommen wir später zurück. Gleichsam als Ergänzung 
dieser Beobachtungen kann ein Fall dienen, bei welchem zwar, wegen 
der bestehenden Benommenheit des Sensoriums des betreffenden 
Pat. über die subjectiven Erscheinungen keine Angaben erhalten 
werden konnten, der jedoch bei der objectiven Untersuchung mittelst 
des Ohrspiegels die ausgesprochendsten Zeichen der beginnenden 
Otitis media acuta zeigte und bei dem durch die Obduction resp. 
die mikroskopische Untersuchung der Paukenhöhle und des Trommel- 
felles der Nachweis einer ausgedehnten Tuberkulose dieser Theile 
erbracht werden konnte, 


Es handelt sich um einen 29jährigen, hereditär nicht belasteten Brauer 
(Weiss), der seit Februar 1889 an Heiserkeit, seit Mai 1890 an Husten mit Aus- 
wurf und heftigen Nachtschweissen litt und am 19. Februar 1891 sich im Kranken- 
haus am Urban aufnehmen liess. Im Sputum waren Tuberkelbacillen nach- 
weisbar, die physikalische Untersuchung ergab Infiltration beider Lungenspitzen, 
Cavernensymptome, zu denen sich später sub finem vitae die Erscheinungen von 
Basilarmeningitis gesellten. Wenige Tage vor dem Tode (3. Mai 1891) constatirte 
der Assistenzarzt der betr. Abtheilung, Herr Dr. Brentano, dass das rechte 
Trommelfell intensiv geröthet und hervorgewölbt war und ich selbst hatte Gelegen- 
heit, am nächsten Tage diesen Befund zu bestätigen. Das Bild entsprach genau 
dem, wie wir es bei einer heftigen acuten Otitis media in den ersten Tagen zu 
sehen gewohnt sind: Intensive Röthung des ganzen Trommelfelles, Hervorwölbung 
der hinteren, oberen und unteren Partie; Manubr. mallei resp. Proc. brevis nicht 
zu erkennen. Im Gehörgang kein Secret. Von subjectiven Beschwerden verlautete 
nichts, da Patient seit pp. 8 Tagen mit kurzen Intervallen bewusstlos war, doch 
hatte er sich oft nach dem rechten Ohr gefasst, ein Umstand, der eben den 
Collegen Brentano zur Untersuchung dieses Ohres veranlasste. Vorher hatte er 
niemals über das Ohr geklagt. Nur um mich tiber die Natur der vorliegenden 
Affection zu informiren, machte ich eine ausgiebige Paracentese im hinteren unteren 
Quadranten, wobei sich nur eine geringe Menge blutig-seröser Flüssigkeit ent- 
leerte, eine zweite etwas weiter nach oben von der ersteren. Auch jetzt ent- 
leerte sich nur dieselbe blutig-seröse Flüssigkeit, deren Untersuchung auf Tuberkel- 


23 
bacillen negativ ausfiel. Der Exitus letalis erfolgte bereits am nächsten Tage 
und bei der Obduction fand sich eine ausgebreitete Meningitis tuberculosa basi- 
laris et convexitatis; in den Lungen beiderseits in grosser Zahl erbsen- bis 
hühnereigrosse Cavernen in beiden Oberlappen, in den Unterlappen spärliche 
miliare Tuberkeleruptionen; Lymphdrüsen stark geschwollen, zeigen ebenfalls 
Tuberkelinfiltration. Am Felsenbein, das mir zur anatomischen resp. mikroskopischen 
Untersuchung überlassen wurde, fanden sich äusserlich keine Veränderungen; das 
Tegmen tympani dünn, fast durchscheinend, nach Abtragung desselben sowie des 
Tegmen antri mast. zeigt sich die Schleimhaut der Paukenhöhle mässig geschwollen 
mit zähen schmutzig gelben Massen bedeckt, welche letztere auch das Antrum mast. 
ausfüllen. Nachdem das Präparat in der üblichen Weise in Müller’scher Flüssig- 
keit gehärtet, dann entkalkt (10%, Salpetersäure) und in Celloidin eingehettet 
war, wurde es in Serienschnitte (senkrecht zur Axe des Felsenbeines) zerlegt und 
mikroskopisch untersucht. Es ergab sich, dass die knorpelige Tuba keinerlei Ver- 
änderungen zeigte, das Epithel war überall sehr gut erhalten. In der Schleimhaut 
der knöchernen Tuba fanden sich, namentlich an der oberen Wand zunächst ver- 
einzelte, je mehr die Schnitte sich dem Ostium tympanicum näherten, um so 
reichlichere miliare Tuberkel, meist mit einer oder mehreren charakteristischen 
Langhanns'schen Riesenzellen, einzelne von diesen Tuberkeln zeigten bereits 
centrale Verkäsung. Das Epithel fehlt an den meisten Stellen. Die freie Fläche 
der Schleimhaut ist bedeckt mit einer mehr oder weniger dicken Schicht käsiger 
Masse. 


In der Schleimhaut der Paukenhöhle selbst finden sich zwar überall zerstreut 
miliare Tuberkel, am zahlreichsten jedoch sind sie in der Gegend der vorderen und 
hinteren Tröltsch’schen Tasche und in den Nischen des ovalen und runden Fensters, 
in welchem sich ausserdem verschiedene Schleimhautfalten zeigen. In der Nische 
des runden Fensters ein der Membrana tympani secundaria aufliegendes Blutextra- 
vasat, das Trommelfell ist in seiner ganzen Ausdehnung auffallend verdickt, 
in der stark kleinzellig infiltrirten Cutisschicht sind die Gefässe strotzend gefüllt, 
die Schleimhautschicht, an ihrer freien Fläche mit käsigen Massen bedeckt, 
zeigt eine diffuse Infiltration mit Rundzellen, in welche an verschiedenen Stellen 
Riesenzellen eingestreut sind. Die Untersuchung zahlreicher Schnitte auf Tuberkel- 
bacillen, sowohl nach der Koch-Ehrlich’schen Methode als auch nach der von 
Ziehl-Neelsen und Gabbet, fiel negativ aus. Dies war übrigens, wie gleich hier 
bemerkt werden soll, auch bei der Untersuchung der Schnitte sämmtlicher, 
später zu erwähnenden, Felsenbeine der Fall. Es braucht nicht gesagt zu werden, 
dass damit nicht das Fehlen dieser Bacillen bewiesen ist, da ja, wie schon Haber- 
mann hervorgehoben hat, die Färbung dieser Mikroorganismen in Präparaten, 
die längere Zeit mit Salpetersäure behandelt worden sind, nur schwer gelingt. 
Die Markräume des Knochens zeigten nur bie und da geringe entzündliche 
Infiltration, die Knochensubstanz erwies sich überall intact; in den Zell- 
räumen des Warzenfortsatzes, von denen nur das Antrum mit käsigen Massen 
erfüllt war, die Schleimhaut oberflächlich ulcerirt. 


24 





Der Beweis, dass wir es in diesen) letzten Falle wirklich mit 
entzündlichen Vorgängen zu thun hatten, ist durch die mikroskopische 
Untersuchung erbracht, bei welcher sich neben der diffusen klein- 
zelligen Infiltration der Schleimhautschicht des Trommelfelles, welche 
mit Rücksicht auf die vorhandenen Riesenzellen als tuberkulöser 
Natur zweifellos aufgefasst werden muss, zugleich eine ausgesprochene 
Vascularisation der Cutisschicht neben diffuser, kleinzelliger 
Infiltration derselben fand. Aehnliche Befunde hat übrigens auch 
Habermann in seiner 2ten Mittheilung über die Tuberkulose des 
Gehörorgans registrirt, wo neben ausgesprochener Tuberkulose resp. 
Bildung von Miliartuberkeln mit Riesenzellen eine in den ver- 
schiedensten Stellen der Paukenhöhle gefundene entzündliche 
Infiltration bestand und der von ihm unter Nr. 6a beschriebene Fall ent- 
spricht fast vollkommen dem von mir oben mitgetheilten. Auch H. 
fand das Trommelfell stark geröthet, geschwollen, nach aussen vor- 
gebaucht ohne Perforation, also jedenfalls die objectiven Zeichen 
einer acuten Mittelohrentzündung, ganz wie in meinem Falle, wäh- 
rend doch auch hier in der Paukenhöhlenschleimhaut selbst bereits 
vorgeschrittene Tuberkulose bestand. In einem anderen Falle (No. 8) 
H.’s waren 11/, Jahre vor dem Tode bei dem schon damals an 
Husten mit Auswurf, wiederholter Haemoptoe, Fieber und Nacht- 
schweiss leidenden Patienten Schmerzen im rechten Ohr aufgetreten, 
die, als sich einige Tage später Ausfluss einstellte, wieder abnahmen 
resp. aufhórten. Auch der Ausfluss sistirte nach 10 Tagen, der 
Kranke litt dann wieder zeitweise an Kopfschmerzen, das Gehör 
blieb sehr schlecht, weshalb er 6 Wochen nach Beginn des Ohren- 
leidens wieder in H.’s Behandlung kam. H. fand das Trommelfell 
stark geröthet und geschwollen, nach aussen vorgebaucht, so dass 
die Hammertheile nicht zu unterscheiden waren, keine Secretion. Die 
Hörfähigkeit war bedeutend herabgesetzt (Uhr schwach durch Kuochen- 
leitung, Flüstersprache 15 cm), 2 Tage später trat ohne Schmerzen 
wieder Ausfluss ein und ganz unten am Trommelfell zeigte sich 
eine kleine Perforation. Patient entzog sich der Behandlung und 
11/, Jahre später erfolgte der Exitus letalis. Bei der Untersuchung 
des rechten Felsenbeines fand sich ausgedehnte tuberkulöse Caries 
desselben, chronische Tuberkulose des inneren Ohres und des N. 
facialis. 


5 


bo 


H. selbst meint, dass die Schmerzen und der Ausfluss, an denen 
der Kranke sechs Wochen vor dem Eintritt in H.’s Behandlung litt, 
sich vielleicht am besten durch eine Mischinfection zu Beginn des 
Leidens erklären liessen, während er die später aufgetretene schmerz- 
lose Otorrhoö auf die vorhandene Tuberkulose des Mittelohres zurück- 
führt. Angaben darüber, ob das Secret bei dem ersten Auftreten 
der Eiterung unter Schmerzen einer bacteriologischen Untersuchung 
unterworfen wurde, liegen nicht vor und es ist also die Möglichkeit 
nicht ausgeschlossen, dass dieselben ebenso wie in dem oben von 
mir mitgetheilten unter der Behandlung mit Tuberkulin geheilten 
Falle, das Vorhandensein von Tuberkelbacillen ergeben hätte Und 
wenn es auch im Allgemeinen richtig ist, was H. l. c. S. 137 sagt, 
dass die Tuberkelbacillen im Vergleich zu den übrigen Mikroorga- 
nismen, die Mittelohrentzündung veranlassen, viel langsamer wachsen, 
und dass durch den tuberkulösen Process mehr käsige Massen ge- 
bildet werden, nicht aber ein so reichlich schleimig-eitriges Exsudat, 
das bei den anderen Formen der Mittelohrentzündung oft schon im 
Verlaufe von Stunden die Paukenhöhle füllt und durch die starke 
Spannung und Zerrung, die dabei das Trommelfell und die übrigen 
Gebilde des Mittelohres erfahren, zu starken Schmerzen führt, so ist 
es doch nach der Ansicht anderer Autoren, z. B. Ribbert?3), nicht 
ausgeschlossen, dass die Tuberkelbacillen auch acute Entzündung 
und Eiterung bedingen können, wie wir das an den tuberkulösen 
Abscessen des Knochensystems, der Meningen etc., sehen. Eine 
exsudative Entzündung in den tuberkulösen Herden wird nach 
Ribbert eintreten können, wenn entweder die Giftwirkung der 
Bacillen intensiver oder die Widerstandsfähigkeit des Gewebes ge- 
ringer wird. Und nach Buchner?!) ist der Tuberkelbacillus Ent- 
zündungserreger oder er ist es nicht; er tritt sogar als Eiterungs- 
erreger auf, je nach den Bedingungen an Ort und Stelle; und 
diese verschiedenen Möglichkeiten können sehr wohl gleichzeitig im 
nämlichen Individuum nebeneinander realisirt sein. B. hält eine 
gradweise Verschiedenheit der Reizungszustände tuberkulöser Ge- 
webe für eine unzweifelhafte Thatsache und sie scheint ihm bedingt 
durch den grösseren oder geringeren Untergang von Tuberkelbacillen 
im Gewebe, d. h. von der stärkeren oder schwächeren Ausscheidung 
von Protéinen aus dem Tuberkelbacillus. Nach Günther”) hat 


26 


übrigens auch R. Koch für den Tuberkelbacillus die Anwesenheit 
einer eiterungserregenden chemischen Substanz in den Bakterienzellen 
nachgewiesen und schon im Jahre 1887 hat A. Fraenkel ?*) sich 
dahin ausgesprochen, dass der T. B. an und für sich zur Eiterung 
führen kann. In dem von ihm mitgetheilten Falle von tuberkulösem 
Hirnabscess fand sich wirklicher Eiter, nichtsdestoweviger aber keine 
Spur von den gewöhnlichen Eitermikrobien, sondern eine Rein- 
cultur von T.B., von welchen auch die innere (Granulations-)Schicht 
der Balgmembran durchsetzt war. 

Zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage, weshalb 
in dem einen der beiden oben erwähnten und unter dem Bilde 
der acuten Mittelohrentzündung einsetzenden Fälle, der eine zur 
Heilung kam, der andere zu ausgedehnten Zerstörungen führte, 
dürfte wohl das Allgemeinbefinden der beiden Kranken in Be- 
rücksichtigung gezogen werden müssen. Während nämlich bei dem 
letzteren zur Zeit, als die Otitis auftrat, das Lungenleiden 
bereits sehr weit vorgeschritten, das Allgemeinbefinden ein recht 
schlechtes war, handelte es sich in dem ersteren Falle um einen 
noch wenig Beschwerden verursachenden Spitzenkatarrh bei einem 
in seinem Allgemeinbefinden noch wenig gestörten, namentlich nicht 
durch Nachtschweisse und Fieber heruntergekommenen Mann, Wir 
werden also wohl nicht fehl gehen, wenn wir den auffallend ver- 
schiedenen Verlauf der tuberkulósen Erkrankung des Ohres in 
diesen beiden Fällen mit dem ebenso verschiedenen Verlauf der 
Grundkrankheit in Zusammenhang bringen und wir werden also bei 
Stellung der Prognose auf dieses Moment ganz besonderen Werth 
legen müssen, mögen nun in dem Secret des Ohres Tuberkelbacillen 
nachzuweisen sein oder nicht. Es gilt dies übrigens nicht allein 
von den unter dem Bilde der acuten Otitis media verlaufenden 
Fällen von Ohrtuberkulose, sondern auch namentlich von denjenigen 
Formen, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, mehr subacut 
d.h. zwar auch ohne Schmerzen auftreten, dann aber monate- oder auch 
jahrelang bestehen, ohne dass sich besondere Fortschritte, weder nach 
der guten noch nach der schlechten Seite hin zeigen, oder aber auch nach 
monatelangem Bestehen der Eiterung mit persistenter Perforation heilen. 

Es dürfte nunmehr angezeigt sein, an der Hand der in der 
Literatur vorliegenden Beobachtungen und unter Berücksichtigung 


27 


meiner eigenen Erfahrungen diejenigen Momente einer näheren 
Betrachtung zu unterziehen, auf Grund deren wir im Stande 
sind, die Diagnose auf das Vorliegen einer tuberku- 
lösen Affection zu stellen, denn es leuchtet ohne Weiteres 
ein, dass nicht allein die Zuverlässigkeit der Prognose wesentlich von 
diesem Nachweis abhängt, sondern auch unser therapeutisches 
Handeln nach ihm sich zu richten hat. 


Schon aus der Schilderung des Verlaufes ergiebt sich, dass es 
in einzelnen Fällen nicht schwierig sein wird, die Diagnose auf das 
Vorhandensein einer tuberkulösen Ohraffection zu stellen, nämlich 
dann, wenn wir es mit den wiederholt als typisch bezeichneten 
Fällen zu thun haben, bei denen es unter geringer oder mangelnder 
Schmerzhaftigkeit in kurzer Zeit zu einer ganz rapiden Ein- 
schmelzung des Trommelfelles und schliesslich zu ausgedehnten 
Zerstörungen nicht nur der Weichtheile, sondern auch der knöchernen 
Partien des Gebörorganes kommt. Alle Autoren sind darin einig, 
dass an der tuberkulösen Natur dieser Krankheitsformen nicht zu 
zweifeln ist, selbst wenn es nicht gelingen sollte, in dem Ohrsecrete 
während des Lebens Tuberkelbacillen nachzuweisen. 


Anders verhält es sich mit denjenigen Fällen, bei denen die 
Affection zwar auch ohne Schmerzen mehr subacut auftritt, 
jedoch nicht in der rapiden Weise fortschreitet, sondern oft monate- 
ja Jahrelang stationär bleibt. Nach meinen Beobachtungen kommt 
gerade diese Form der Mittelohrerkrankung bei Tuberkulösen 
recht häufig, und dem Ohrenarzt vielleicht noch häufiger zur Be- 
obachtung, als die typische Form. 


Es erklärt sich dies wohl zur Genüge daraus, dass diese letztere 
meist fiebernde, von Husten und Nachtschweissen gequälte und da- 
durch hochgradig herabgekommene Individuen betrifft, welche nicht 
im Stande sind, die Polikliniken aufzusuchen, sondern in den sta- 
tionären Kliniken und Krankenhäusern, nicht sowohl wegen ihres 
oft genug vernachlässigten Ohrenleidens, als eben wegen der hoch- 
gradigen Allgemeinstörung sich aufnehmen lassen. Ob die Ohren- 
affection daselbst überhaupt Berücksichtigung findet, hängt dann oft 
gar nicht von dem Patienten selbst, sondern von der grösseren oder 


28 


geringeren Sorgfalt, mit welcher die ärztliche Untersuchung vor- 
genommen wird, ab. Manche der von mir untersuchten Fälle waren 
solche, bei denen lediglich durch die Aufmerksamkeit der Herren Assi- 
stenten der betreffenden Krankenanstalten, das Vorhandensein der Ohr- 
affection constatirt wurde. In noch viel grösserem Umfange gilt das 
eben gesagte, d. h. die Vernachlässigung des Ohrenleidens Seitens des 
Kranken selbst, von derjenigen Form, die subacut, ohne Schmerzen 
auftritt mit mehr oder weniger hochgradiger Schwerhörigkeit bei ge- 
ringer Secretion und dem Patienten, namentlich, wenn die Affection ein- 
seitig ist, keine weiteren Beschwerden verursacht. Dass diese Form 
mit dem Fortschreiten des Allgemeinbefindens schliesslich auch in die 
erste Form übergehen kann, wurde bereits oben erwähnt und es frägt 
sich nur, welche Merkmale es sind, die uns im gegebenen Falle, 
bevor die letztere Eventualität eintritt, die Diagnose auf das Vor- 
handensein einer tuberkulösen Affection ermöglichen. 

Von dem schmerzlosen Auftreten der tuberkulósen Mittel- 
ohrerkrankung ist bereits ausführlich die Rede gewesen und es mag 
deshalb hier nur noch ein Mal darauf hingewiesen werden, dass 
so characteristisch dieses Zeichen auch im Allgemeinen ist, doch 
auch, wie wir gesehen haben, Fälle vorkommen, die ganz unter dem 
Bilde der acuten Mittelohrentzündung mit Schmerzen, Fieber etc. 
beginnen. Dass im weiteren Verlaufe hie und da wieder Schmerzen 
auftreten, und zuweilen ununterbrochen bis zum Tode fortbestehen, 
ergiebt sich aus verschiedenen Beobachtungen und ich selbst habe 
derartige Fälle gesehen. Hier handelt es sich gewölinlich um rapide 
fortschreitende cariöse Zerstörungen der knöchernen Theile des Gehör- 
ganges oder der Paukenhöhle resp. des Proc. mastoid.; aber auch 
in diesen Fällen können Schmerzen vollständig fehlen. 

Bezüglich der Hörfähigkeit ergiebt sich, dass in der 
Mehrzahl der Fälle, selbst wenn sie frühzeitig zur Beobachtung 
kommen, eine ausserordentlich hochgradige Herabsetzung für Uhr 
und Sprache besteht, und zwar auch in den Fällen, bei denen der 
objective Befund noch nicht auf eine besonders hochgradige Ver- 
änderung im Schallleitungsapparate schliessen lässt. Eine Erklärung 
für diese auffallende Erscheinung finden wir in dem patho:ogisch- 
histologischen Befund, wie ich ihn in zwei Fällen von Tuberkulose 
des Mittelohrs im Anfangsstadium erheben konnte. In dem einen 


29 


dieser Fälle (Weiss) fand sich, abgesehen von den übrigen, oben aus- 
führlich geschilderten Veränderungen, dass nicht nur eine auffallende 
Verdickung des Trommelfelles in seiner ganzen Ausdehnung bestand, 
und dass die Schleimhautschicht desselben, an ihrer freien Fläche 
mit käsigen Massen bedeckt, eine diffuse Infiltration mit Rundzellen 
zeigte, in welche an verschiedenen Stellen Riesenzellen eingestreut 
waren, sondern dass vor Allem in der Nische des ovalen und runden 
Fensters eine ausgedehnte Tuberkeleruption in der diffus kleinzellig 
infiltrirten Schleimhaut stattgefunden hatte und auch die die Gehör- 
knöchelchen umgebende Schleimhaut neben zahlreichen Tuberkel- 
eruptionen beträchtliche kleinzellige Infiltration aufwies. Knochen überall 
intact. Im Labyrinth waren keine pathologischen Veränderungen nach- 
weisbar, die geringe kleinzellige Infiltration der Arachnoidalscheide des 
N. acusticus ist wohl auf die Meningitis basilaris, welche das letale 
Ende bedingte, zurückzuführen. In dem anderen Falle (Czimney), 
(ausführlich weiter unten mitgetheilt), fanden sich nahezu dieselben 
Veränderungen, nur war die Schwellung der Schleimhaut an den 
meisten Stellen noch eine viel beträchtlichere als im Falle Weiss. 
Dabei zeigte auch die Cutisschicht des Trommelfelles eine beträchtliche 
Verdickung bei starker Vascularisation. Ebenso wie im vorigen Falle 
war auch hier die Schleimhaut, sowohl in der Nische des ovalen 
und der des runden Fensters, als auch die die Gehörknöchelchen 
umgebende stark kleinzellig infiltrirt, geschwollen und überall mit 
zahlreichen, typische Langhanns’sche Riesenzellen enthaltenden 
Tuberkeln durchsetzt. An einzelnen Stellen das Epithel der Pauken- 
höhle (theils kubisch, theils cylindrisch flimmernd) noch wohl erhalten. 
Im cavum tympani reichlich käsige Massen. Knochen überall intact, 
Labyrinth und N. acusticus überall frei von pathologischen Ver- 
änderungen, das Corti’sche Organ zum Theil gut erhalten. Dass der- 
artige Veränderungen im Schallleitungsapparat geeignet sind, hoch- 
gradige Hörstörungen zu veranlassen, bedarf weiter keines Beweises. 
Es mag hier nur hervorgehoben werden, dass neuerdings auch 
Barnick**) die initiale hochgradige Schwerhörigkeit in derselben 
Weise, wie hier geschehen, erklärt. Die späterhin fast ausnahms- 
los eintretende, nahezu vollständige Taubheit auf dem betreffenden 
Ohr erklärt sich ohne Weiteres aus den schweren Zerstörungen im Mittel- 
ohr und im Nervenapparat, von denen weiter unten die Rede sein wird. 


30 


In den meisten Fällen tritt eine Besserung des Hörvermögens 
auch dann nicht ein, wenn es, wie ich dies in zwei Fällen noto- 
rischer Tuberkulose des Ohrs (Nachweis von T. B.) constatiren 
konnte, eine wesentliche Besserung der objectiven Erscheinungen, 
(Aufhören der Eiterung mit und ohne Verschluss der Perforation) 
die in dem einen Falle pp. 2, in dem anderen nahezu 4 Jahre lang 
von mir beobachtet werden konnten, zu constatiren war. In einem 
Falle freilich, dem oben mitgetheilten, unter dem Bilde der acuten 
Mittelohreiterung verlaufenen und unter Behandlung mit Tuberkulin- 
injectionen geheilten, trat eine nahezu vollständige Restitutio ad 
integrum nicht allein bezüglich des objectiven Befundes sondern 
auch bezüglich des Hórvermógens ein, ob in Folge der Tuberkulin- 
behandlung oder trotz derselben muss einstweilen unentschieden bleiben. 


Zu den frühesten Symptomen tuberkulöser Mittel- 
ohrerkrankungen gehören die subjectiven Geräusche. Sehr 
oft, noch ehe die Kranken der zuweilen schon hochgradigen Herab- 
setzung ihres Hörvermögens sich bewusst geworden sind, klagen sie über 
continuirliche subjective Geräusche. Dieselben bestehen in den meisten 
Fällen auch dann noch fort, wenn es zur Perforation gekommen ist und 
wenn sie auch im Grossen und Ganzen nicht so intensiv zu sein scheinen 
wie bei chronischen einfachen Mittelohrkatarrhen, so haben sie mit 
diesen doch das gemein, dass sie selten ganz wieder verschwinden. 
Unter den von mir beobachteten Fällen konnte ich nur bei einem von den- 
jenigen, bei denen an der tuberkulösen Natur ihres Ohrenleidens nicht 
gezweifelt werden konnte (Nachweis von T. B.), constatiren, und zwar 
noch vier Jahre nach dem Beginne der Affection, dass die subjectiven 
Geräusche vollständig verschwunden waren, während die Hörfähig- 
keit sich um nichts gebessert hatte. 


Es ist dies ein als „relativ geheilt“ zu bezeichnender Fall, 
bei dem, trotz der vier Jahre lang stetig fortgesetzten Controle und 
ohne dass seit einem Jahre irgend welche Medication stattgefunden 
hat, keine Spur von Secretion mehr eingetreten, die Perforation 
geschlossen ist und das Trommelfell im Ganzen nur wenig getrübt 
sich zeigt. 

Was nun die objectiven Symptome bei den Mittelohreiterungen 
Tuberkulöser angeht, so haben wir von diesen natürlich zuerst das 


31 


Secret daraufhin anzusehen, ob es uns irgend welche Anhaltspunkte 
dafiir bietet, in einem gegebenen Falle aus seiner Beschaffenheit die 
Diagnose auf eine zu Grunde liegende tuberkulöse Affection zu stellen. 

Wenn auch die Erfahrung lehrt, dass in denjenigen Fällen, die 
sich bei der Obduction als durch Tuberkulose bedingt erweisen, das 
Secret meist ein dickes, zähes, den Wänden des äussern Gehörganges 
resp. der Paukenhöhle fest anhaftendes, durch sorgfältiges Aus- 
spritsen und Austupfen kaum zu entfernendes ist, in andern Fällen 
fast nur aus übelriechenden, käsigen, klumpigen Massen besteht, die 
erst bei der otoskopischen Untersuchung gefunden werden, während 
der Pat. behauptet, nie an Absonderung aus dem Ohr gelitten zu 
haben, so ist doch nicht zu übersehen, dass einerseits, namentlich in 
den mit acut entzündlichen Erscheinungen auftretenden Fällen, die 
Secretion auch eine profuse, schleimig-eitrige sein kann, die sich 
makroskopisch in nichts von der gewöhnlichen bei Otitis media acuta 
vorkommenden unterscheidet, andererseits aber auch, und dies gilt 
namentlich für die typischen, mit rapider Schmelzung des Trommel- 
felles verlaufenden Fälle, als profuse, intensiv stinkende, jauchige 
Secretion documentiren kann. Eine absolut characteristische Be- 
schaffenheit hat also das Secret nach dieser Richtung hin 
nicht, und es bleibt noch übrig zu eruiren, ob uns die mikroskopische 
Untersuchung, speciell die Untersuchung auf Tuberkelbacillen brauch- 
barere Resultate zur Unterscheidung der tuberkulésen von der 
nieht tuberkulösen Mittelohreiterung liefert. Ich habe bereits oben 
kurz auf diejenigen Arbeiten hingewiesen, in denen zuerst der 
Nachweis von Tuberkelbacillen bei Mittelohreiterungen von Tuberkulösen 
geführt wurde, und es erübrigt nur noch, die Ansichten derjenigen 
Autoren nachzutragen, welche im Anschluss an die Untersuchungen 
von Eschle, Nathan und Ritzefeld sich mit der in Rede stehenden 
Frage beschäftigt baben. Da muss zuerst die Ansicht Voltolini’a?!) 
registrirt werden, wonach Ohrenfluss bei einem Lungenschwind- 
süchtigen nioht immer ein tuberkulöser zu sein braucht und dann 
könne er geheilt werden. Dies werde aber der Fall sein, wenn wir 
keine Bacillen im Ausflusse finden. Während also Voltolini 
offenbar der Meinung ist, dass in den Fällen, wo sich keine Bacillen 
im Ohrsecret finden, Tuberkulose ausgeschlossen werden könne, 
spricht sich Gottstein?”) dahin aus, dass auch bei der Otorrhoé die 


32 
diagnostische Verwerthbarkeit der Bacillen nicht zu hoch geschätzt 
werden dürfe, ebenso wie bezüglich des Nachweises derselben im 
Eiter tuberkulöser Abscesse und besonders im Secret tuberkulöser 
Knochen- Driisenerkrankungen. Aus meinen eigenen Erfahrungen 
ergiebt sich, dass unter 90 klinischen Fällen, welche längere Zeit 
beobachtet wurden, von denen 24 doppelseitige, 66 einseitige Eiterung 
hatten, so dass also 114 afficirte Ohren in Betracht kommen, bei 
38 der letzteren im eitrigen Secret Tuberkelbacillen in grösserer 
oder geringerer Menge nachzuweisen waren. 

Es ist selbstverständlich, dass in allen Fällen, um Verwechse- 
lungen mit Smegmabacillen zu vermeiden, die bekanntlich im 
äusseren Gehörgang nicht allzu selten gefunden werden, die Praepa- 
rate nach der Färbung mit Carbolfuchsin mittels Salzsäure-Alkohol 
(3°/,) entfärbt wurden. Im Secret der übrigen 76 eiternden Ohren 
war der Befund bezüglich der Bacillen ein negativer. Der tuberku- 
löse Character konnte nun aber in 6 von diesen Fällen durch die 
Obduction nachgewiesen werden. In 2 Fällen handelte es sich um 
Frühstadien des tuberkulösen Processes im Mittelohr, mit zahlreichen 
riesenzellenhaltigen Miliartuberkeln in derSchleimhautder Paukenhöhle, 
in 4 Fällen um ausgedehnte cariöse Zerstörungen im Felsenbein 
mit nur vereinzelten miliaren Tuberkeln in der Paukenhöhle resp. 
den Zellräumen des Warzenfortsatzes. Derartige Fälle beweisen 
also, dass man aus dem Fehlen der Tuberkelbacillen in dem 
eitrigen Secrete des Ohres weder in den Anfangs- noch 
auch in den Endstadien des Processes einen Schluss auf den 
nicht tuberkulösen Character der betreffenden Affection 
machen kann. 

Mit Rücksicht auf die oben erwähnte Ansicht Politzer’s, dass 
der positive Nachweis von Tuberkelbacillen im Obrsecret noch keinen 
absolut sicheren Schluss auf Tuberkulose des Ohres gestatte, will 
ich nur bemerken, dass ich in allen Fällen, bei denen Tuberkel- 
bacillen von mir bei Lebzeiten im Ohrsecret gefunden worden waren, 
auch die specifischen Producte der Tuberkulose im Ohr gefunden 
wurden, wenn sie zur Obduction kamen. 

Neben den objectiv nachweisbaren Symptomen haben wir weiter- 
hin die Veränderungen am Trommelfell zu berücksichtigen und 
zu untersuchen, inwieweit sie Anhaltspunkte für die Diagnose der 
tuberkulösen Otitis geben. 


33 


Buck?) hält das Auftreten der Trommelfellperforationen im 
hinteren oberen Quadranten für ebenso characteristisch für die 
tuberkulése Natur des Processes, wie die Schmerzlosigkeit des 
Verlaufes etc. — Biirkner?*%) kann diese Angaben Buck’s nicht 
bestätigen; er hat die Trommelfelldefecte mindestens ebenso oft in 
der unteren Hälfte entstehen sehen, dagegen ist, nach Bürkner, 
die ungemein schnelle Vergrösserung der Perforation, sowie das 
Confluiren mehrerer Löcher eine gewöhnliche und für den 
Process characteristische Erscheinung. Schwartze*) hatte schon 
früher auf das Confluiren mehrerer anfangs haarfeiner Perforationen, 
die sich durch eitrigen Zerfall der Ränder schnell vergrössern, auf- 
merksam gemacht und sie auf den Zerfall von Tuberkeln im 
Trommelfell zurückgeführt, welche er bei Kindern mit Miliar- 
tuberkulose und bei chronischer Lungentuberkulose Erwachsener 
in der Form von gelblich-röthlichen Flecken von Stecknadelkopfgrösse 
oder noch grösser in der. intermediären Zone des Trommelfelles 
beobachtete. Auch Politzer!) sah in „recenten Fällen das blasse, 
mit einer rahmähnlichen Schicht bedeckte Trommelfell in der inter- 
mediären Partie oder an der äussersten Peripherie erweicht und 
perforirt.“ 

Aus meinen eigenen Beobachtungen ergiebt sich, wenn ich zu- 
nächst alle Fälle von Mittelohreiterungen bei Tuberkulösen berück- 
sichtige (200 Fälle), dass auch bei diesen, ebenso wie bei den ge- 
wöhnlichen Mittelohreiterungen, die Zerstörungen des Trommelfelles 
überwiegend häufig (49,5°/,) die untere Partie desselben allein be- 
treffen, viel seltener (12,9°/,) die obere allein und dass unver- 
hältnissmässig häufig (14,0°/,) multiple Perforationen und noch 
häufiger (23,62 %/,) ausgedehnte, fast das ganze Trommelfell einneh- 
mende Defecte zur Beobachtung kommen. 

Wenn ich nur den Befund derjenigen Ohren berücksichtige, bei 
denen der sichere Nachweis der tuberkulösen Natur des Leidens sei es 
durch den positiven Befund von Tuberkelbacillen im Ohrsecret beim 
Lebenden (38 Fälle resp. Ohren), sei es durch das Ergebniss der mikro- 
skopischen Untersuchung post mortem (Nachweis von Miliartuberkeln) ge- 
führt werden konnte (6 Fälle), so ergiebt sich folgendes: Nach Abzug von 
2 Fällen, bei denen vor der Aufnahme die Radicaloperation der 


Mittelohrräume gemacht worden war, das Trommelfell demnach fehlte, 
3 


34 
von ferner 2 Fällen, bei denen, da sie sich im Anfangsstadium der 
Obraffection befanden, eine Perforation noch nicht vorhanden war und 
endlich von 2 Fallen, bei denen sich keine Notiz findet, bleiben 38 
Fälle resp. Ohren, bei denen 19 mal (50°/,) das Trommelfell ganz 
resp. fast ganz defect war (es war entweder nur ein schmaler Rand 
oder, wie öfters, nur der vordere obere Theil mit dem Proc. brev. 
resp. einem Rest des Manubr. mallei erhalten); 8 mal (21,1 %,) 
fanden sich multiple Perforationen, 10 mal (26,3°/,) mehr oder 
weniger grosse Perforationen in der unteren Hälfte und nur einmal 
(2,6°/,) in der oberen Partie des Trommelfelles allein. 

Es kommen also die letzteren gegenüber den Defecten im unteren 
Theile des Trommelfelles kaum in Betracht, während die verhältniss- 
mässige Häufigkeit multipler Perforationen und noch mehr 
die der nahezu totalen Defecte ohne Weiteres in die Augen 
springt. Was das sonstige Aussehen des Trommelfelles anlangt, so 
bietet dasselbe im Ganzen nichts besonders characteristisches dar. Nach 
Schwartze?°) ist neben den schon erwähnten gelben Flecken (Miliar- 
tuberkel?) anfangs nur eine Abflachung des röthlichgelb verfärbten 
Trommelfelles und Dilatation der radiäreu Cutisgefässe vorhanden bei 
verdecktem Hammergriff. Politzer®!) spricht von einem blassen, 
mit einer rahmähnlichen Schicht bedeckten Trommelfell in recenten 
Fällen. Nach Ritzefeld (l. c.) findet man, wenn die Krankheit 
noch nicht lange bestanden hat, ein mässig geschwollenes und ge- 
röthetes Trommelfell. Nach meinen Erfahrungen zeigt das Trommel- 
fell, da wo noch keine grösseren Zerstörungen eingetreten sind, eine 
mehr oder weniger diffuse, meist jedoch nur wenig ausge- 
sprochene Röthung, stets eine beträchtliche Trübung und sehr oft 
eine Verdickung der Cutisschicht, die sich besonders dadurch kenn- 
zeichnet, dass das Manubr. mallei, zuweilen auch der Proc. brevis 
gar nicht oder nur undeutlich zu erkennen sind resp. in ihren Um- 
. rissen unförmig erscheinen. Dass in der unter dem Bilde der 
acuten Otitis media auftretenden Form das Trommelfell stark ge- 
röthet, geschwellt resp. hervorgewölbt erscheint, wurde schon oben 
erwähnt und es mag hier nur an den oben ausführlich mitge- 
theilten Fall (Weiss) erinnert werden, bei dem die Affection 
sich erst wenige Tage vor dem Tode lediglich durch die genannten 
Erscheinungen documentirte und bei dem die Post-mortem-Unter- 


35 


suchung das Vorhandensein einer ausgesprochenen Miliartuberkulose 
der Paukenhöhlenschleimhaut ergab. 

In manchen Fällen zeigen sich weissliche Epidermisschuppen dem 
Trommelfell aufgelagert, namentlich dann, wenn der Gehörgang in 
Mitleidenschaft gezogen ist. Knötchenbildungen, die man als 
den Ausdruck von Miliartuberkeln im Trommelfell hätte an- 
sehen können, habe ich nur in einem einzigen Falle beob- 
achten können. An Stelle jedes Knötchens zeigte sich später je 
eine Perforation, die weiterhin confluirten. Tuberkelbacillen waren 
im Ohrsecret nicht nachzuweisen. Der Process kam später zum 
Stillstand und Pat. verliess deshalb das Krankenhaus. Eine 
beträchtliche, meist auf Betheiligung des Periostes zurück- 
zuführende Schwellung resp. Verengerung des Gehörganges konnte 
ich in einigen Fällen constatiren, bei denen theils schon bei der 
ersten Untersuchung, theils im weiteren Verlaufe sich ergab, 
dass auch der Warzenfortsatz resp. die knöchernen Wandungen der 
Paukenhöhle von dem tuberkulösen Process ergriffen worden waren. 
Die Berührung der betreffenden Partien war meist ausserordentlich 
empfindlich, wenn auch sonst weder spontan noch bei Druck auf den 
- Proc. mast. oder bei Berührung der übrigen Stellen des knóchernen 
Gehörganges Schmerzen bestanden. Hier und da kommt es zur Bildung 
von schmutzig gelblich aussehenden Borken, unter denen sich, nach- 
dem sie entfernt sind, mit der Sonde rauher Knochen nachweisen 
lässt. In anderen Fällen finden sich kleinere oder grössere, leicht 
blutende Granulationen, unter denen ebenfalls der Knochen bei der 
Sondenuntersuchung rauh erscheint. Was nun den durch die objective 
Untersuchung festzustellenden Befund an der Paukenhöhle an- 
langt, so zeigt sich die Schleimhaut derselben, da wo die Perforation 
gross genug ist, um einen Einblick zu gestatten, in manchen Fällen, 
ebenso wie bei der gewöhnlichen chronischen Otitis media purulenta, 
leicht geröthet, geschwollen, zuweilen granulirt, in anderen, häufigeren 
Fällen erscheint die Labyrinthwand schmutzig weiss oder gelblich 
mit zähem, festhaftendem uft auch durch wiederholte Ausspülungen 
nicht zu entfernenden Secret oder mit ausgesprochen käsigen übel- 
riechenden Massen bedeckt, zuweilen ganz nackt. Bei der Unter- 
suchung mit der Sonde findet man besonders an der Labyrinthwand 


cariöse Stellen, theils frei liegend, theils mit leicht blutenden 
3* 


7 36 

Granulationen bedeckt. Die Gehörknöchelchen können, auch bei 
grossem Defect des Trommelfelles, noch erhalten sein, der Hammer- 
griff ist dann beträchtlich nach innen und oben retrahirt; in anderen 
Fällen, wenn das Trommelfell, wie nicht selten, bis auf seine vordere 
obere Partie zerstört ist, ist nur der kurze Fortsatz des Hammers 
noch zu erkennen, vom Hammergriff selbst, der auch hier noch er- 
halten sein kann, aber stark retrahirt oder aber mehr oder weniger 
cariös zerstört ist, n?@hts zu sehen. Im letzten Falle fehlt natürlich 
auch der Amboss ganz oder zum grössten Theil, während über den 
Befund am Steigbügel, wegen seiner versteckten Lage, selten sichere 
Anhaltspunkte gewonnen werden können. Aus den Obductions- 
befunden ergiebt sich, dass das Köpfchen und die Schenkel desselben 
nicht selten vom cariösen Process betroffen resp. ganz zerstört sein 
können, während die Fussplatte nur wenig in Mitleidenschaft ge- 
zogen ist und noch fest im ovalen Fenster haftet. 

Es mag hier gleich noch eines Symptomes gedacht werden, 
das in directer aetiologischer Beziehung zur Caries der Paukenhöhlen- 
wandungen steht, nämlich der Lähmung des N. facialis. Dass die- 
selbe auch bei den gewöhnlichen Formen der Mittelohrentzündung 
namentlich den chronischen mit destructiven Knochenprocessen einher- 
gehenden Mittelohreiterungen vorkommen kann, ist zur Genüge be- 
kannt, jedoch ist das Procentverhältniss, in welchem sie vorkommt, 
wie sich z. B. aus den Beobachtungen Bezold’s®?) ergiebt, im 
Ganzen kein irgendwie erhebliches. Unter 227 acuten und 623 
chronischen Mittelohreiterungen, worunter auch Polypenbildungen, 
Caries und Necrose, Cholesteatom und Otitis media purulenta phthisica 
eingeschlossen sind, also im Ganzen unter 850 Mittelohreiterungen, 
die innerhalb dreier Jahre zur Beobachtung kamen, fand sich nur 
9mal Facialisparalyse. Danach würde sich die Häufigkeit dieser 
Laesion bei Otitis media purulenta im Ganzen auf nicht höher als 
1°/, beziffern. Bezüglich der Häufigkeit der Gesichtsnervenlihmung 
in Folge chronischer Mittelohreiterung bei Tuberkulösen 
liegen keine genaueren Mittheilungen in der einschlägigen Literatur 
vor, und eigentlich statistisches Material über diese Frage fehlt 
nahezu ganz. 

Habermann (l. c.) beobachtete bei seinen 8 ausführlich mit- 
getheilten Fällen 3 mal Facialisparalyse, ausserdem wurde noch in 


37 


drei Fällen durch die Obduction nachgewiesen, dass die Scheide des 
Nerven schon erkrankt oder die knöcherne Wand des Fall- 
opischen Canals cariös war; in einem Falle „erstreckte sich die 
entzündliche Infiltration schon bis zwischen die Nervenbündel“. Ueber 
kurz oder lang wäre es also auch in diesen Fällen voraussichtlich 
zu Lähmungserscheinungen gekommen. 

Aus meinen eigenen Beobachtungen ergiebt sich, dass unter 
200 Fällen von Mittelohreiterungen bei Tuberkulösen 9 mal Gesichts- 
nervenlähmungen vorkamen, d. h. in 4,5°/, der Fälle. Berücksichtigt 
man nur die Fälle, bei denen die tuberkulöse Natur der Mittelohr- 
eiterung unzweifelhaft, sei es im Leben durch den Nachweis von 
T. B. im Ohrsecret, sei es post mortem durch den Nachweis von 
Miliartuberkeln festgestellt werden konnte, so steigt das Procent- 
verhältniss noch sehr erheblich, denn es fallen von den obigen 
9 Fällen von Facialisparalyse 8 auf 44 notorisch -tuberkulöse 
Gehórorgane, d. h. 18,1°/). 

Beziiglich des Zeitpunktes, in welchem die Faciklisperalree bei 
tuberkulösen Mittelohreiterungen einzutreten pflegt, ergiebt sich, dass 
in 25 Fällen (17 in der Litteratur vorliegenden, 8 von mir selbst 
beobachteten) die Laesion 17 mal in der letzten ZeitvordemTode 
(1 Woche bis 4 Monate) auftrat, nur 1 mal 8 Monate, 2 mal 2 Jahre 
vor demselben constatirt wurde. In den übrigen 5 Fällen, bei denen 
die Angaben fehlen, handelt es sich ebenfalls um weit vorgeschrittene 
Fälle von Tuberkulose, die bald nach der Aufnahme in die Kranken- 
anstalt zur Section kamen. 

Ich glaube nach dem Gesagten, sowohl auf Grund meiner 
eigenen Erfahrung, als auch in Hinsicht auf die, in der Literatur 
vorliegenden Fälle, sagen zu können, dass die Facialisparalyse 
ein verhältnissmässig häufig eintretendes Zeichen der 
tuberkulösen Mittelohreiterung, in specie der durch sie 
bedingten cariösen Processe ist, und dass sie mit Rück- 
sicht darauf, dass sie in den meisten Fällen erst in der 
letzten Zeit vor dem Tode zur Beobachtung kommt, als 
ein prognostisch recht ungünstiges Symptom angesehen 
werden muss. 

Weniger häufig als die Lähmung des Gesichtsnerven aber 
prognostisch von noch üblerer Bedeutung, weil direct das Leben ge- 


38 
fährdend, ist eine ebenfalls durch den in der Paukenhöhle sich ab- 
spielenden cariösen Process bedingte Erscheinung: Blutung aus dem 
Ohr, als deren hauptsächlichste Quelle die Carotis anzusehen 
ist. Eigene Beobachtungen stehen mir hierüber nicht zu Gebote; selbst 
unter den 90 in den verschiedenen Kliniken längere Zeit beobachteten, 
zum Theil recht schweren (50 endeten mit dem Tode) Fällen, kam 
nicht ein einziges Mal Carotisblutung vor und bei den 23 zur 
Obduction gekommenen Fällen mit 26 afficirten Ohre nbei denen ich 
die anatomische resp. mikroskopische Untersuchung (letztere an 
17 Schläfenbeinen) vornehmen konnte, habe ich eine Läsion der 
Carotis in ihrem Verlaufe durch den Canalis caroticus nur insoweit 
gefunden, als in einigen Präparaten die Gefässwand etwas verdickt 
erschien. Die Anzahl der Fälle, in denen Carotisblutung bei Mittel- 
ohreiterungen resp. Caries des Felsenbeins zur Beobachtung kommt, 
ist an und für sich eine sehr geringe. So weit mir die Literatur (s. diese 
unter No. 33) zugänglich war, habe ich bisher nur 18 einschlägige Fälle 
verzeichnet gefunden, bei denen profuse, fast ausnahmslos tödtliche 
Blutung aus dem Ohr erfolgte und durch die Obduction die Ursache in 
einer Arrosion der Art. carotis interna gefunden wurde. Nurin einem 
Falle (Broca) erfolgte der Tod erst (21/, Monat) später an Phthisis 
pulm. Die Blutung war durch Unterbindung der Carotis interna gestillt 
worden. Ausser diesen 18 Fällen sind noch 8 zu verzeichnen, bei 
denen zwar die Diagnose auf Blutung aus der Carotis gestellt werden 
musste, die Obduction jedoch nicht gemacht worden war. Unter diesen 
26 Fällen finden sich 10 Phthisiker; imal war Verdacht 
auf Lungentuberkulose vorhanden; ausserdem sind noch 2 Fälle 
von Phthisikern zu verzeichnen (Voltolini, Gruber), bei denen 
zwar eine Blutung aus der Carotis nicht stattgefunden hatte, bei denen 
jedoch durch die Obduction vollständige cariöse Zerstörung des 
Canalis caroticus constatirt werden konnte. Wenn man berücksichtigt, 
dass in 11 weiteren Fällen Angaben über das Allgemeinbefinden 
der betrefienden Patienten, resp. über den Befund in anderen Organen 
(Lungen etc.) vollständig fehlen, demnach nur noch 5 Fälle übrig 
bleiben, bei denen ein aetiologisches Moment für die vorhandene 
Ohraffection angegeben wurde (2 mal Scharlach, 2mal Syphilis, 1 mal 
wahrscheinlich Trauma), so ergiebt sich, dass die Mittelohreiterung 
bei Tuberkulösen-verhältnissmässig häufiger zu tödtlichen 


39 


Carotisblutungen Veranlassung giebt, als die aus anderen 
Ursachen entstehende Otitis media purulenta chronica. Der 
Grund, weshalb viel häufiger der Knochenkanal des Facialis von der 
tuberkulösen Erkrankung des Mittelohres mitergriffen wird, als der Canalis 
caroticus ist vielleicht darin zu suchen, dass der erstere aus rein 
physikalischen Griinden der Infection mehr ausgesetzt ist, indem sich die 
käsigen Massen in der Paukenhöhle bei den meist bettlägerigen Kranken 
in den hinteren tiefer liegenden Partien der Paukenhöhle, der Gegend, 
welche dem Verlaufe des absteigenden Theils des Canalis Fallop. 
entspricht, leichter ansammeln können, als in der vorderen dem Canalis 
caroticus entsprechenden Partie. — Dass das Auftreten einer Carotis- 
blutung prognostisch noch viel ungünstiger zu betrachten ist, als 
die Facialisparalyse, ergiebt sich aus der Thatsache, dass unter 
26 Fällen 23 tödtlich endeten, darunter sämmtliche Fälle bei 
Tuberkulésen. Nur in einem von diesen letzten wurde zwar die 
Blutung durch Unterbindung der Carotis gestillt (Broca bei Jolly 33), 
doch erfolgte 21/, Monat später der Tod an Phthis. pulmon. 

Ich habe im Vorhergehenden schon zu wiederholten Malen Ver- 
anlassung genommen, auf die von mir erhobenen pathologisch-ana- 
tomischen Befunde, namentlich den mikroskopischen Theil derselben, 
in einigen Fällen einzugehen. Es war dies nöthig, um den Zu- 
sammenhang der im Leben beobachteten Erscheinungen des Ohrs 
mit der Tuberkulose nachzuweisen. Ich will nunmehr noch ganz 
kurz der bisher in der Literatur vorliegenden pathologisch-anato- 
mischen Untersuchungen der in Rede stehenden Affection ge- 
denken, um dann ebenfalls so kurz als möglich über meine eigenen Unter- 
suchungen zu berichten. Schon in der Einleitung zu dieser Arbeit 
habe ich auf einige ältere Mittheilungen über den anatomischen 
Befund bei Mittelohreiterungen Tuberkulöser hingewiesen. Keine 
derselben ist derart, dass sie uns ein richtiges Bild über die 
wirklichen tuberkulösen Veränderungen des Mittelohres geben 
könnte, und selbst spätere Arbeiten, bis zum Jahre 1885 hin, lassen 
uns diesen Mangel genauer Untersuchung empfinden. Der Grund 
hierfür ist vor allem darin zu suchen, dass erst im letzten Jahrzehnt 
die Untersuchungsmethoden, namentlich soweit es sich um die hier 
in Betracht kommende mikroskopische Technik handelt, dahin ver- 
bessert wurden, dass wir im Stande sind, alle Theile des Felsen- 


40 

beines, durch Zerlegung in Schnittserien, auf das genaueste zu durch- 
forschen; es wird sich zeigen, dass gerade hierdurch es in 
einzelnen Fällen noch möglich wird, durch Auffindung ganz ver- 
einzelter tuberkulöser Herde mit Sicherheit die anatomische Diagnose 
zu stellen. Es braucht nicht noch besonders hervorgehoben zu 
werden, dass auch die Einführung der bacteriologischen Unter- 
suchungsmethode uns ganz besonders in der Erkenntniss der vor- 
liegenden Affection gefördert hat. 

Die ersten genauen pathologisch-anatomischen Beobachtungen 
beim Menschen,namentlich,soweit essich um die Ergebnisse der mikro- 
skopischen und bacteriologischen Untersuchung handelt, ver- 
danken wir Habermann, der zuerst im Jahre 1885 (1. c.) über 5 Fälle 
von Tuberkulose des Mittelohrs berichtete, die er unter 21 histo- 
logisch genauer untersuchten Gehörorganen tuberkulöser Leichen 
fand. In sämmtlichen 5 Fällen fand er Miliartuberkel im Mittelohr 
und in einem Falle auch im inneren Ohr; bei 4 von diesen Fällen 
fanden sich Tuberkelbacillen im eitrigen Secret des Mittelohrs und 
bei 4 Fällen wurden dieselben auch im erkrankten Gewebe selbst 
in grösserer Menge constatirt. Bis zum Jahre 1888 finden sich in 
der Literatur keine weiteren derartigen Beobachtungen; erst in dem 
genannten Jahre veröffentlichte Habermann (l. c.) selbst die Er- 
gebnisse seiner an weiteren 4 Fällen von Tuberkulose des Ohres 
vorgenommenen Untersuchungen; im Ganzen hatte er unter 17 
Schläfenbeinen Tuberkulöser bei 8 Tuberkulose gefunden, doch 
konnten nur 4 genauer untersucht werden. 

Das Studium der ausserordentlich sorgfältigen, die gefundenen 
Veränderungen mit grosser Genauigkeit wiedergebenden Darstellung 
Habermann’s kann jedem, sich für den Gegenstand Inieressirenden 
nur dringend empfohlen werden. 

Weitere Mittheilungen über die pathologisch-anatomischen Ver- 
änderungen bei der Tuberkulose des Ohres liegen von Gon- 
perz®), Haug*5), Hegetschweiler l. c. und Barnick |]. c. vor. 
Letzterer hat sein Augenmerk besonders auf die bisher noch un- 
entschiedene Frage gerichtet, ob histologisch der Beweis zu erbringen sei, 
dass das erste Eindringen der Tuberkelbacillen in die knöchernen 
Wandungen oder in die Schleimhaut des Mittelohres vom Blutwege 
aus erfolgen könne. Zu diesem Zwecke wurden in 16 Fällen die 


41 


zu untersuchenden Schläfenbeine den Leichen solcher Pat. ent- 
nommen, welche an einer allgemeinen Miliartuberkulose zu Grunde 
gegangen waren, die sich an eine primäre Tuberkulose der Lymph- 
drüsen und in einem Falle an einen Solitärtuberkel der rechten 
Kleinhirnhemisphire anschloss. In 5 von diesen 16 Fällen konnte 
eine auf dem Blutwege entstandene Tuberkulose des Gehörorgans 
nachgewiesen werden. Ausserdem glaubt Verf. auch durch seine 
Untersuchungen die Frage der Entscheidung näher gebracht zu 
haben, ob die Tuberkulose des Warzenfortsatzes zumeist erst durch 
eine Miliartuberkulose hervorgerufen werde, oder ob der Process 
primär ossaler Natur sei. Das Ergebniss von Verf.’s histologischen 
Untersuchungen, gestützt durch klinische Beobachtungen, spricht 
dafür, dass die tuberkulösen Ostitiden des Schläfenbeins wahr- 
scheinlich häufiger vorkommen, als man bisher anzunehmen ge- 
neigt war. 

Was meine eigenen Erfahrungen anlangt, so habe ich unter 
den oben erwähnten 90 in den verschiedenen stationären Kliniken 
beobachteten Fällen von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen die 
pathologisch-anatomische Untersuchung von 26 Schläfen- 
beinen bei 23 Leichen vornehmen können. NeunSchläfen- 
beine wurden nur makroskopisch, 17 auch mikroskopisch 
untersucht. Bei den nur makroskopisch untersuchten Fällen 
fanden sich überall sehr ausgedehnte Zerstörungen im Mittelohr 
und zum Theil auch im Labyrinth. Die Zerstörung betraf in allen 
Fällen nicht allein die Weichtheile, sondern auch den Knochen. Im 
Wesentlichen stimmen die Ergebnisse dieser makroskopischen 
Untersuchungen mit denjenigen überein, wie sie von verschiedenen 
Autoren bereits früher ausführlich beschrieben worden sind 
(Bezold, Habermann, Hegetschweiler u. A.). Auf Einzel- 
heiten einzugehen, glaube ich deshalb verzichten zu können. 
Dass es sich in den betreffenden Fällen wirklich um Tuberkulose 
des Ohres gehandelt hatte, wurde durch den Nachweis von 
Tuberkelbacillen in den käsigen Massen des Mittelohres, wenigstens 
für 8 von den 9 Fällen, bewiesen; in dem 9. Falle waren bei Leb- 
zeiten keine Tuberkelbacillen im Secret des Ohres gefunden worden 
und über den eventuellen Nachweis derselben in der Leiche finde 
ich in dem Journal keine Notiz. Die tuberkulöse Natur dieses Falles 


42 


muss desshalb, wenn auch sonst der Befund mit dem bei den übrigen 
erhobenen übereinstimmt, unentschieden bleiben. 

Unter den 17 Felsenbeinen, welche mikroskopisch untersucht 
werden konnten, wurde 8 mal Tuberkulose nachgewiesen, in den 
übrigen 9 fanden sich, obgleich dieselben in Serienschnitten unter- 
sucht wurden, keinerlei für Tuberkulose characteristische Veränder- 
ungen. Es ergiebt sich also, wie bereits oben erwähnt, dass unter 
den 26 anatomisch untersuchten Felsenbeinen tuberkulöser 
Personen (die tuberkulöse Natur des Allgemeinleidens war in 
allen Fällen durch die Obduktion festgestellt worden), die mit 
Mittelohreiterung behaftet waren, bei 16 mit Sicher- 
heit die Affection auf Tuberkulose zurückgeführt werden 
konnte, während bei 10 es sich theils um einfache chronische 
Eiterungsprocesse, theils um solche mit Betheiligung des Knochens 
handelte. Bezüglich des mikroskopischen Befundes am Felsenbein 
sind 2 meiner Fälle von besonderem Interesse, weil sie Anfangs- 
stadien der Tuberkulose des Mittelohres repräsentiren, wie sie bisher 
nur ganz vereinzelt (Fall 1 von Barnick |. c. und Fall 6a 
von Habermann) zur Beobachtung gekommen sind. 


Der eine dieser Fälle ist bereits oben S.22 (Weiss) ausführlich mitgetheilt 
worden; der zweite (Czimney, S. 29 kurz erwähnt) betrifft einen 1'/,jährigen 
Knaben, der vom 9. Juni bis 24. December 1891 wegen Scrophulose im Krankenhause 
am Urban behandelt und gebessert entlassen worden war. Bei der Aufnahme wareitrige 
Otitis media beiderseits constatirt worden, bei der Entlassung bestand nur noch 
Ohrenlaufen rechterseits. Am 3. Januar 1892 wurde der Knabe wieder aufgenommen mit 
Otitis media purulenta dextra, Stomatitis, Speichelfluss. Am linken Ohr bestand 
ein nässendes Ekzem; starke Drüsenschwellung am Halse. Vom 17. Januar ab 
hohes intermittirendes Fieber, das am 21. in hohes remittirendes übergeht. Am 
selben Tage wird eine Pneumonia lobaris dextra constatirt, über der linken Lungen- 
spitze (hinten oben) spärliches Rasseln. Das Ekzem am linken Ohr abgeheilt, 
Gehörgang frei, ohne eitriges Secret, keine Perforation des Trommelfelles; rechts 
eitriges Secret im Ohr, das weder Tuberkelbacillen noch andere Mikroorganismen 
enthält, grosse Perforation des Trommelfelles. Exitus letal. am 26. Januar 1892. 
Bei der Obduction fand sich in der rechten Lunge unbedeutendes Hypervolumen 
und gleichmässig feste, leberartige Consistenz. Auf dem Durchschnitte zeigt das 
infiltrirte Lungenparenchym eine hellbräunlichrothe, glatte und feuchte, dem Durch- 
schnittsbilde einer gelatinösen Infiltration ähnelnde, aber weniger durchscheinende 
Schnittfläche. Innerhalb dieser gleichmässigen Infiltration feinste submiliare Tu- 
berkel in mässig grosser Zahl eingepflanzt. In der linken Lunge einige käsige 
Knoten bis Wallnussgrósse im Unterlappen, in der Spitze kleinapfelgrosse, mit 


A3 


Käsemassen erfüllte Caverne. Im Käseherde und in den Miliartuberkeln mässig reich- 
liche Tuberkelbacillen. — Beide Felsenbeine äusserlich intact. Bei der mikrosko- 
pischen Untersuchung der in Müller’scher Flüssigkeit gehärteten, in 5°/ iger 
Salpetersäure entkalkten und nach Einbettung in Celloidin in Serienschnitte zer- 
legten Felsenbeine fand sich rechts nur eitrige Entzündung, nirgends Tuberkulose, 


links dagegen folgendes: 


Die Tuba in ihrer ganzen Ausdehnung frei von Tuberkulose, nur in der 
Schleimhaut des knöchernen Theiles hie und da kleinzellige Infiltration bei voll- 
ständig erhaltenem Epithel. Das Trommelfell in der Cutisschicht stark vascularisirt, 
kleinzellig infiltrirt; in der Schleimhautschicht überall zerstreut, besonders in der 
oberen, vorderen Partie zahlreiche Miliartuberkel mit typischen Langhanns'schen 
Riesenzellen und zwar überall in der oberflächlichen Partie der Schleimhautschicht 
gelegen; die letztere zeigt sich an einzelnen Stellen ulcerirt und, ebenfalls nur in 
den oberflächlichen Partien, verkist. Hie und da erscheint die Schleimhaut 
stark geschwollen, diffus kleinzellig infiltrirt und mit der Schleimhaut der La- 
byrinthwand verschmolzen. Die Membrana propria ist fast durchaus unverändert, 
nur findet sich an einer kleinen Stelle dicht hinter dem Umbo eine Partie, an 
welcher die Fasern dieser Membran fehlen. Nach oben von dieser 
Stelle enden die Radiärfasern der Membrana propria in der Weise, dass 
sie nach innen hin umgeschlagen erscheinen. (Narbe.) In der die Gehörknöchelchen 
umgebenden Schleimhaut finden sich ebenfalls zahlreiche typische Miliartuberkel, ebenso 
im Cavum epitympanicum. Dasselbe gilt von der stark geschwollenen Schleimhaut in 
den Nischen des ovalen und runden Fensters. Am Boden der Paukenhöhle ist die 
Affection nur gering. Im Aditus ad antrum ganz vereinzelte Miliartuberkel mit Riesen- 
zellen, die Schleimhaut des Antrum selbst ganz intact. Ebenso findet sich am 
Knochen nirgends eine Spur krankhafter Veränderung und zwar weder im Proc. 
mast. noch in der Paukenhöhle, noch auch im Labyrinth. Auch die häutigen 
Theile des letzteren sind frei von tuberkulösen Veränderungen. In der Nerven- 
scheide des N. acusticus zahlreiche Corpora amylacea. Die Blutgefässe meist 
stark gefüllt. 


Auf eine ausführliche Wiedergabe des mikroskopischen Befundes 
in den übrigen, weiter vorgeschrittenen (6) Fällen kann ich an 
dieser Stelle wohl verzichten (die Veröffentlichung derselben soll 
anderweitig erfolgen); es genüge hier das Ergebniss aller 8 Fälle in 
kurzer Zusammenfassung zu verzeichnen. Fassen wir zunächst die 
Localisation der Tuberkulose im Ohr ins Auge, so fand ich, dass 
die Tuba Eustachii in ihrem knorpeligen Theile im Wesent- 
lichen frei von pathologischen Veränderungen war (wobei 
allerdings zu berücksichtigen ist, dass dieser Theil des Gehörorganes 
nur in wenigen Fällen an den Präparaten vorhanden war), und dass 


44 


auch die knécherne Tuba, ausser einer mässigen, kleinzelligen 
Infiltration an den meisten Präparaten, keine tiefergehenden Lae- 
sionen, speciell keine Tuberkulose zeigte; nur in einem Falle zeigte 
sich in der medialen Wand der Tympanalmündung eine kleine cariöse 
Stelle, die auch auf die vordere Partie der Innenwand der Pauken- 
höhle übergegriffen und hier schon zur tieferen Zerstörung des Knochens 
bis gegen die Spitzenwindung der Schnecke hin geführt hat. — Das 
Trommelfell war in allen Fällen an dem Kraukheitsprozess 
betheiligt und zwar fand sich nicht allein in den Frühstadien, 
sondern auch überall da, wo nur noch Reste des Trommelfelles er- 
halten waren, eine beträchtliche Verdickung und kleinzellige In- 
filtration der Cutis- und Schleimhautschicht. In den beiden Fällen, 
welche die Anfangsstadien des tuberkulösen Processes repräsentiren, 
zeigte sich in der Cutisschicht eine ganz auffallend starke Vasculari- 
sation; die Schleimhautschicht war in dem einen Fall nur diffus 
kleinzellig infiltrirt, ohne deutliche Bildung circumscripter Miliar- 
tuberkel, aber mit ziemlich zahlreich eingestreuten Riesenzellen 
durchsetzt. In dem anderen Falle fanden sich deutlich abgegrenzte 
mit Riesenzellen versehene Miliartuberkel in der Schleimhautschicht 
des Trommelfelles, die übrigens an einzelnen Stellen bereits ober- 
flächlich ulcerirt resp. verkäst erschien. Die Membrana propria war 
an dem einen der beiden in Rede stehenden Praeparate vollkommen 
intact, während in dem anderen sich in der Gegend dicht hinter 
dem Umbo eine kleine Stelle fand, an welcher die Membrana pro- 
pria fehlte. An der oberen Partie dieser als Narbe 
aufzufassenden Stelle schlugen sich die  Radiárfasern der 
Membrana propria nach innen um. Dieser Befund lässt 
darauf schliessen, dass bereits früher eine einfache Otitis media be- 
standen hatte (wie auf dem anderen Ohr desselben Kindes), die zur 
Heilung kam. Sehr stark betheiligt und überall deutliche Miliar- 
tuberkeln mit Riesenzellen zeigend, erwies sich die Schleimhaut in 
der Umgebung der Gehörknöchelchen und an den v. Tröltsch’schen 
Taschen, ebenso in den Nischen des ovalen und runden Fensters. 
In den beiden Fällen von frischer Tuberkulose waren die tuberkulösen 
Veränderungen hauptsächlich nur in der oberflächlichen Partie der 
Schleimhaut, sowohl am Trommelfell als auch in den übrigen Partien 
der Paukenhöhle nachweisbar, während die tieferliegenden Schichten 


45 


sich an den meisten Stellen ganz intact erwiesen, an anderen nur 
eine ganz geringe kleinzellige Infiltration zeigten. 


In den Fallen von weiter vorgeschrittener Affection reichte die 
tuberkulöse Infiltration auch in die tiefen Schichten der Schleimhaut 
hinein und in einem Falle war überhaupt kaum noch ein Rest der- 
selben erhalten. Der Nachweis von Miliartuberkeln in diesem 
Falle war nur dadurch möglich, dass das ganze Präparat in 
Serienschnitten untersucht wurde, von denen nur einige 
wenige diese specifischen Producte der Tuberkulose er- 
kennen liessen. Die überall durch Caries mehr oder weniger zer- 
störten knöchernen Wandungen der Paukenhöhle waren theils mit 
käsigen, Tuberkelbacillen enthaltenden Massen, theils mit tief in 
den Knochen hinein sich erstreckendem Granulationsgewebe bedeckt. 


Die Gehörknöchelchen waren in den beiden frischen 
Fällen vollkommen gut erhalten, in den andern Fällen in grösserer 
oder geringerer Ausdehnung zerstört, und zwar war in allen Prä- 
paraten der Hammergriff von der Zerstörung betroffen, in einem 
Falle fand sich an seiner Stelle ein, der Gestalt desselben voll- 
kommen entsprechendes Granulationsgewebe; demnächst waren am 
häufigsten zerstört die Schenkel des Steigbügels und der lange Fort- 
satz des Amboss. Wohl erhalten, wenn auch hier und da ober- 
flächlich cariös, waren zumeist der Kopf des Hammers und der 
Körper des Amboss. Nur in einem Falle waren Hammer und Am- 
boss ganz zerstört, ebenso die Schenkel des Steigbiigels. Die Fuss- 
platte des Steigbügels war in fast allen Fällen intact, nur in einem 
Falle mit ausgedehnter Zerstörung der Paukenhöhlenschleimhaut war 
das Ligamentum annulare der Stapesplatte an seinem unteren Um- 
fange zerstört; durch den Defect hindurch wucherte Granulations- 
gewebe von der Nische des ovalen Fensters aus in das Vestibulum 
hinein. In demselben Falle war, ebenso wie in einem anderen, 
auch ein Theil der Membr. tympan. secundaria zerstört und an 
der betreffenden Stelle Granulationsgewebe aus der Nische des runden 
Fensters iu die Basalwindung der Schnecke hineingewuchert. Der 
Warzenfortsatz war in den 8 hier in Rede stehenden Fällen in ver- 
schiedener Weise betheiligt: Während in einem Falle (Czimney) im 
Antrum mastoideum und den übrigen Zellräumen, keinerlei patho- 


46 


logische Veränderungen nachweisbar waren, das Auftreten vereinzelter 
Miliartuberkel mit typischen Langhanns’schen Riesenzellen im aditus 
ad antrum aber bereits darauf hindeutete, dass in kurzer Zeit auch sie 
von der tuberkulösen Infection würden betroffen worden sein, fanden 
sich in einem anderen Fall (Weiss), der ebenso wie der vorige als 
frische Mittelohrtuberkulose, wie schon wiederholt hervorgehoben, 
aufzufassen war, im Antrum bereits käsige Massen, die Schleimhaut 
oberflächlich ulcerirt, in den übrigen Zellräumen des Proc. mast. 
jedoch noch keine Veränderungen. Der Knochen war in beiden 
Fällen vollkommen intact. In zwei anderen Fällen fand sich die 
Schleimhaut des Antrums, in geringem Grade auch die der übrigen 
Zellräume, an verschiedenen Stellen diffus kleinzellig infiltrirt, an 
anderen Stellen sah man wohl characterisirte Miliartuberkel mit 
Riesenzellen, das Epithel zum Theil noch gut erhalten, an anderen 
Partien oberflächliche Ulcerationen und Verkäsung der Schleimhaut; 
in zwei anderen Fällen Antrum und Zellräume mit Granulations- 
massen erfüllt, in denen Miliartuberkel mit Riesenzellen zerstreut sich 
fanden. Nur an ganz vereinzelten Stellen ist eine tiefer gehende, bis 
zum Knochen reichende Zerstörung der Schleimhaut nachzuweisen, 
der Knochen selbst nur oberflächlich arrodirt. In den beiden 
letzten Fällen sind das Antrum und die übrigen Zellräume mit 
käsigen Massen erfüllt, die Schleimhaut zum grossen Theil zerstört, 
da, wo sie erhalten ist, zeigen sich vereinzelte, meist mehr oder 
weniger verkäste Miliartuberkel Der Knochen an zahlreichen 
Stellen cariös, mit Granulationsgewebe oder käsiger Masse bedeckt; 
in einem Falle finden sich auch in den Markräumen des Felsen- 
beines verkäste Tuberkel. Die knöchernen Wandungen der 
Paukenhöhle selbst erwiesen sich, wie schon erwähnt, in den 
beiden Fällen von frischer Tuberkulose vollkommen intact, in den 
übrigen sechs Fällen waren sie in grösserer oder geringerer Aus- 
dehnung in den Krankheitsprocess hineingezogen. Ueber dem Pro- 
montorium war in den meisten Fällen (5) die Schleimhaut zerstört, 
der Knochen freiliegend und zwar, wie in drei Fällen nur ober- 
flächlich arrodirt, deutliche Howship’sche Lakunen mit Osteo- 
klasten zeigend, oder wie in zwei anderen Fällen vollständig zerstört, 
durch Granulationsgewebe ersetzt, das bis dicht an die Basalwindung 
der Schnecke resp. die periostale Auskleidung derselben heranreicht. 


47 


In vier Fällen hat sich die cariöse Zerstörung des Knochens 
weiter nach hinten hin ausgebreitet und namentlich die äussere Wand 
des absteigenden Theils des Canalis Fallopii mit einbegriffen, in zweien 
dieser Fälle ist der Nerv. facial. selbst, abgesehen von einer Verdickung 
der Nervenscheide, noch frei von Veränderungen geblieben, während 
in den beiden anderen Fällen derselbe in seinem Verlauf durch die 
Paukenhöhle in grosser Ausdehnung zerstört, durch Granulationsgewebe 
ersetzt is. Vom Ganglion geniculi bis zum Eintritt des Nerven in 
den Porus acusticus internus ist derselbe auch in diesen Fällen, wie 
in allen übrigen, intact. Am Tegmen tympani fand sich nur in-einem 
der 8 Fälle eine Veränderung am Knochen. Derselbe war hier in 
10-Pfennigstückgrösse durch Caries zerstört. Die betreffende Stelle 
der Dura missfarbig mit zähen Massen bedeckt. Pia intact. (In einem 
der nur makroskopisch untersuchten Fälle fand sich eine sehr 
ausgebreitete Caries necrotica an der vorderen und hintern Fläche 
des Felsenbeines mit entsprechender Pachymengitis externa; auch 
hier die Pia frei. Im Secret der Paukenhöhle massenhaft Tuberkel- 
Bacillen). Am Boden der Paukenhöhle war in 4 der vorgeschrittenen 
Fälle der Knochen von Schleimhaut entblösst und zum Theil mehr oder 
weniger arrodirt. In einem einzigen Falle fand sich cariöse Zerstörung 
der knöchernen Kapsel eines horizontalen (des halbcirkelfórmigen) 
Kanals in der Gegend dicht hinter dem vom Canalis facialis gebildeten 
Wulste. Zahlreiche mikroskopische Sequester fanden sich in diesen 
4 Fällen in den käsigen Massen der Paukenhöhle. Caries des äussern 
Gehörganges fand sich in 2 Fällen. — Bezüglich der pathologischen 
Veränderungen am Labyrinth ergiebt sich schon aus dem Gesagten, 
dass die knöcherne Kapsel desselben in 3 Fällen und zwar nur an 
circumsripten Partien: zweimal über der Basalwindung der Schnecke 
einmal über Spitzen- und Mittelwindung und zugleich über dem 
äusseren halbcirkelfórmigen Kanal durch Caries zerstört war, 
während in zwei anderen Fällen sich nur oberflächliche Arrosion 
nachweisen liess, und in drei Fällen der Knochen ganz intact war. 
In diesen letzten drei Fällen war auch im häutigen Labyrinthe 
ausser einer stärkeren Füllung der Blutgefässe keinerlei Veränderung 
erkennbar, das Corti’sche Organ sogar auf den meisten Schnitten 
verhältnissmässig gut erhalten, jedenfalls frei von pathologischen 
Veränderungen. In dem einen Falle der an verschiedenen Stellen 


48 


cariöse Zerstörung der Labyrinthkapsel zeigte, war nichts desto- 
weniger die häutige Schnecke selbst und ebenso die häutigen halb- 
cirkelfórmigen Kanäle noch intact, während in den anderen Fällen 
schon mehr weniger vorgeschrittene pathologische Veränderungen 
sich fanden. 

Im Wesentlichen handelte es sich hierbei um Einwucherungen 
von Granulationsgewebe in die Basalwindung der Schnecke durch 
die zum Theil zerstörte Membr. tympani secundaria in einem Falle, um 
denselben Process bei theilweiser Zerstörung des Lig. annulare bas. 
staped. in die Cysterna perilymphatica hinein in einem anderen. 
Der Ductus cochlearis fand sich nur in einem Falle mit käsigen Massen 
erfüllt. Die Membrana Reissneri in einzelnen Präparaten verdickt. 
In den halbcirkelförmigen Kanälen nur ganz vereinzelt klein- 
zellige Infiltration in den Bindegewebssträngen der perilympha- 
tischen Räume. Auch im Stamme des N, acusticus hie und da geringe 
kleinzellige Infiltration. 

Bezüglich der Pathogenese ergiebt sich aus meinen Beobach- 
tungen, namentlich soweit sie sich auf die mehrfach erwähnten 2 
Fälle von Tuberkulose des Mittelohrs im Anfangsstadium beziehen, 
dass, wie dies bereits von Habermann hervorgehoben worden ist, 
der Prozess zuerst die Schleimhautoberfläche befällt und 
erst von hier aus in die tieferen Schichten resp. in den 
Knochen vordringt. Namentlich muss betont werden, dass auch 
am Proc. mast., selbst in schon weiter vorgeschrittenen 
Fällen, der Process zuerst die Schleimhaut befällt und 
dann erst weiter auf den Knochen übergreift, ein Umstand, 
der die von einigen Chirurgen (Küster u. A.) vertretene Anschauung 
widerlegt, wonach die Tuberkulose des Ohrs zumeist vom Knochen 
ausgehe. 

Dass jedoch der Prozess auch als tuberkulöse Ostitis des 
Schläfenbeines beginnen kann, dafür sprechen die bereits oben 
erwähnten Beobachtungen Barnick’s, durch welche, wie ebenfalls 
schon hervorgehoben wurde, der Nachweis geliefert werden 
konnte, dass das erste Eindringen der Tuberkelbacillen in die 
knöchernen Wandungen oder in die Schleimhaut des Mittelohrs vom 
Blutwege aus erfolgen .kónne. Meine eigenen Beobachtungen, 
sowie auch die oben erwähnten von Habermann, geben für diesen 


49 


\ 


Entstehungsmodus keinen Anhaltspunkt, vielmehr muss, mit Riick- 
sicht auf die in allen diesen Fällen nachgewiesene Tuberkulose des 
Respirations- resp. Verdauungsapparates, angenommen werden, dass 
die Einwanderung der Tuberkelbacillen von diesen aus 
durch die Tuba Eustachii in die Schleimhaut der Pauken- 
höhle stattgefunden habe, während in den Fällen Barnick’s 
es sich um allgemeine Miliartuberkulose handelte, die sich 
an primäre Tuberkulose der Lymphdrüsen anschloss. 

Auf einen Punkt, der für die Differential- Diagnose zwischen tuber- 
kulöser Mittelohreiterungund solcher ausanderen Ursachen entstandenen 
von Wichtigkelt ist, mag hier auf Grund des mikroskopischen Befundes 
noch hingewiesen werden. Ich habe bereits oben betont, dass in 
denjenigen Fällen, bei denen in sehr kurzer Zeit ein rapider Zerfall 
des Trommelfelles bei tuberkulösen Personen eintritt, die Diagnose 
auf tuberkulöse $ Mittelohreiterung gestellt werden darf, selbst 
wenn bei wiederholter Untersuchung des Ohrensecretes niemals 
Tuberkelbacillen nachgewiesen werden konnten. Es kann nun auch 
bei der Obduction selbst seine Schwierigkeiten haben, die specifischen 
Producte der Tuberkulose nachzuweisen, wenn die Zerstörung eine 
schon sehr weit vorgeschrittene ist. Wie ich in dem einen der oben 
kurz erwähnten Fälle meiner eigenen Beobachtung hervorgehoben habe, 
war es mir nur in Folge sorgfältigster Untersuchung an Serienschnitten 
möglich, einige wenige Miliartuberkel aufzufinden. Dass auch der 
letzte Rest dieser specifischen Producte der Tuberkulose schliesslich 
käsig zerfallen kann, so dass bei der Untersuchung nur käsige 
Massen und nekrotische Knochentheile sich finden, kann wohl 
kaum bezweifelt werden und es ist desshalb jedenfalls nicht 
richtig, wie dies von einigen Autoren geschieht, in derartigen 
Fällen den tuberkulösen Character der Ohraffection in Abrede zu 
stellen, wenn nicht wenigstens Tuberkelbacillen sich in den käsigen 
Massen nachweisen lassen. Es ist bereits oben betont worden, dass das 
Fehlen derselben ebensowenig wie bei tuberkulösen Knochenaffectionen 
an anderen Stellen des Körpers etwas gegen die tuberkulöse Natur der 
Krankheit beweisen kann. Der klinische Verlauf allein ist es, 
der in solchen Fällen die Diagnose sichern kann. 

Die Prognose der tuberkulösen Mittelohreiterungen ist, 
wie aus dem bisher Gesagten schon hervorgeht, quaod sanationem, eine 

4 


50 


recht ungünstige. Vollständige Heilung, wie ich sie in dem einen 
oben mitgetheilten Falle (unter Tuberkulinbehandlung) beobachtet 
habe, gehört jedenfalls zu den Seltenheiten; auch eine relative 
Heilung, d. h. Sistiren der Eiterung mit oder ohne narbigen Ver- 
schluss der Perforation und bleibender hochgradiger Herabsetzung 
der Hörfähigkeit dürfte nur selten vorkommen. Ein Beispiel dafür 
habe ich ebenfalls (S.30) oben mitgetheilt. Häufiger sind schon die Fälle, 
in denen der Process eine Zeit lang, zuweilen eine ganze Reihe von 
Jahren, stationär bleibt und dann erst, meist mit auffallender Ver- 
schlechterung der Allgemeinerkrankung, rapide fortschreitet. Pro- 
gnostisch am ungünstigsten sind natürlich die Fälle, bei denen von 
vornherein ein rapider Zerfall des Trommelfelles beobachtet wird, 
Fälle, bei denen auch das Allgemeinbefinden bereits ein sehr 
schlechtes ist, Fieber und Nachtschweisse den Kranken herunter- 
gebracht haben. Das Auftreten einer Facialisparalyse ist ein 
prognostisch ganz besonders ungünstiges Zeichen, da sie, wie wir 
gesehen haben, gewöhnlich nur bei sehr herabgekommenen Kranken 
sub finem vitae einzutreten pflegt. Die glücklicher Weise nur seltene 
Blutung aus der Carotis führt nahezu immer den tödtlichen Ausgang 
herbei. Abgesehen von dieser letzten Eventualität scheint jedoch die 
Ohrenaffection selbst nur ganz ausnahmsweise den Exitus 
letalis zu veranlassen. Dass eine tuberkulöse Mittelohreiterung, 
ebenso wie ein tuberkulöser Process in der Lunge, dem Darmkanal etc. 
schliesslich zu einer allgemeinen Miliartuberkulose Veranlassung geben 
kann, bedarf keiner weiteren Erörterung, der Beweis jedoch, dass dies im 
concreten Fall sich so verhalten habe, dürfte kaum zu erbringen sein, 
da eine für sich allein bestehende Tuberkulose des Ohres bisher. 
meines Wissens, nicht beobachtet worden ist. 

Die Möglichkeit eines durch die Ohraffection bedingten letalen 
Ausganges ist ferner gegeben, wenn dieselbe auf das Gehirn, die 
Hirnhäute oder die grossen Blutleiter übergeht. Auch dieser Ueber- 
gang scheint, soweit die in der Literatur vorliegenden Obductionsbe- 
funde ersehen lassen, kein allzu häufiger zu sein und auch meine eigenen 
. Beobachtungen stimmen damit überein. Die Wege, auf welchen dieser 
Uebergang erfolgen kann, sind verschieden. Zunächst ist, wie sich 
aus dem, was wir über den pathologisch-anatomischen Befund gesagt 
haben, ergiebt ohne weiteres klar, dass der Process sich von der Pauken- 


51 


höhle aus auf das Labyrinth und von hier auf den verschiedensten 
Wegen, sei es vom Knochen, sei es vom Porus acusticus internus 
im Verlaufe des N. acusticus oder auch im Verlaufe des N. facialis 
auf die Meningen fortpflanzen kann. Ferner gewinnt, wie bereits 
Körner 3”) hervorgehoben hat, durch die Auffindung von Tuberkel- 
knötchen in der Adventitia der Carotis (Habermann, 1l. c.) die An- 
nahme von Pitt an Wahrscheinlichkeit, dass sich die Tuberkulose 
von der Paukenhöhle aus längs der Gefässe auf die Pia fortpflanzen 
könne. Bemerkenswerth ist, dass auch die Wege, von denen man 
annehmen sollte, dass sie nach Analogie der durch andere Ursachen 
bedingten chronischen Mittelohreiterungen, am häufigsten zum Ueber- 
gang auf die Meningen führen, nämlich der durch das Tegmen tym- 
pani resp. Antri mastoidei auf die mittlere Schädelgrube und der 
vom Sulcus transversus aus auf den Sinus transvers. resp. die hintere 
Schädelgrube pathologisch-anatomisch verhältnissmässig selten nach- 
gewiesen werden können. Aus meinen eigenen Beobachtungen er- 
giebt sich, dass von den wiederholt erwähnten 90 in den verschiedenen 
Krankenanstalten von mir untersuchten Fällen von Mittelohreiterung 
bei Tuberkulösen nureinmal der tödtliche Ausgang durch Thrombo 
phlebitis des Sinus transversus erfolgt war. In den dem Sinus 
entnommenen jauchigen Massen fanden sich, obgleich bei Lebzeiten 
und auch in der Leiche in dem Paukenhöhlensecret Tuberkel- 
bacillen nachgewiesen worden waren, lediglich Streptocokken neben 
nicht näher bestimmten Stäbchen, keine Tuberkelbacillen. Am Sulcus 
transversus wie auch sonst im Mittelohr ausgebreitete cariöse Zer- 
störung. | 

In zwei weiteren Fällen wurden bei ebenfalls weit vorgeschrit- 
tener Caries am Tegmen tympani resp. auch am Tegmen ' 
antri und am Sulcus transversus nur an den entspechenden 
Partien der Dura Granulationen und schmutzig gelbe, der Dura fest 
anhaftende Auflagerungen gefunden (Pachymeningitis externa), 
während die Pia selbst frei war. Auch bei diesen beiden Fällen 
waren im Ohrsecret bei Lebzeiten Tuberkelbacillen und zwar in 
grosser Menge gefunden worden. Schliesslich sind 16 Fälle zu er- 
wähnen, bei denen die Obduction Meningitis tuberculosa als Todes- 
ursache angab. Davon betreffen 6 solche, bei denen die tuberkulöse 


Natur des Ohrenleidens mit Sicherheit, sei es durch den Nachweis 
4* 


52 


von Tuberkelbacillen im Ohrsecret, sei es durch den von typischen 
Tuberkeln, bewiesen war. Aber in allen diesen Fällen war, ebenso wie 
bei den übrigen 10, wo dieser Nachweis für das Ohr nicht geführt 
werden konnte, das Felsenbein äusserlich intact, keine Spur von 
Caries zu entdecken, so dass also jedenfalls ein directer, durch Contact 
bedingter Uebergang des tuberkulösen Mittelohrprocesses auf die 
Meningen nicht angenommen werden kann. Dass jedoch ein solcher 
vorkommen kann, unterliegt nach einigen in der Literatur mitgetheilten 
Fällen, von denen besonders ein von Kórner*8) beobachteter zu er- 
wähnen ist, keinem Zweifel. Dain den oben erwähnten Fällen meiner 
eigenen Beobachtungen auch eine Fortpflanzung durch den Porus 
acusticus internus nicht nachzuweisen war, so bleibt nur die An- 
nahme, dass die Meningitis als Folgeerscheinung der Allgemein- 
erkrankung anzusehen war, wenn natürlich auch nicht mit Sicherheit 
in Abrede gestellt werden kann, dass die Infection von dem tuber- 
kulösen Prozess der Paukenhöhle aus auf dem Wege der Blut- resp. 
Lymphbahnen erfolgt sei. 

Die Behandlung der tuberkulösen Mittelohreiterungen 
ist, wie aus all’ dem Gesagten hervorgeht, keine sehr dankbare Aufgabe 
für den Arzt. Unter Berücksichtigung dessen, was wir oben über die 
Diagnose gesagt haben, dass nämlich trotz fehlenden Nachweises von 
Tuberkelbacillen im Obrsecret und selbst wenn der Verlauf der 
Ohrerkrankung nicht den bekannten typischen Character hat, 
die Affection doch auf tuberkulöser Basis beruhen kann, werden wir 
in allen Fällen von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen an die Mög- 
lichkeit dieses ätiologischen Zusammenhanges denken und unsere 
Behandlung danach einrichten müssen. Demnach ist es ganz selbst- 
verständlich, dass eine möglichste Besserung des Allgemein- 
befindens, je nach den vorhandenen Indicationen, anzustreben ist; 
man wird gar nicht selten, wenn dabei eine sorgfältige lokale 
Behandlung des Ohres eingeleitet wird, eine Besserung in der Er- 
krankung des letzteren, zuweilen einen auf Jahre hinaus anhaltenden 
Stillstand constatiren und in, freilich nur sehr seltenen Fällen, auch 
Heilung erzielen können. Es braucht nicht besonders hervorgehoben 
zu werden, dass diese günstigen Eventualitäten um so eher dann zu 
erwarten sind, je weniger vorgeschritten die Allgemeinerkrankung ist. 

Namentlich bieten diejenigen Formen der Ohrtuberkulose, die 


53 


unter dem Bilde der acuten Mittelohreiterung bei sonst noch kräftigen 
Personen auftreten, die verhältnissmässig besten Chancen der Heilung. 
Hier genügt es, neben der Allgemeinbehandlung, für gehörigen Ab- 
fluss des eitrigen Secretes durch zweckmässige Drainage mittelst 
steriler Gaze bei täglich 1—2 mal zu wiederholenden Ausspülungen 
mit abgekochtem lauem Wasser zu sorgen. Eine Restitutio in integrum 
kann, wenn auch nur ausnahmsweise, auf diese Weise erzielt werden. 
Häufiger wird es geschehen, dass die Secretion unter dieser Be- 
handlung nicht sistirt, die Perforation sich mehr oder weniger ver- 
grössert und nebenbei auch das Secret einen üblen Geruch annimmt. 
In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Ausspülungen mit schwacher 
Carbollösung (1°/,) vorzunehmen und statt der sterilen Gaze Jodo- 
formgaze zur Drainage zu verwenden. Beim Vorhandensein einer 
grösseren Perforation leisten Einpulverungen von Borsäure (Acid. 
bor. subtil. pulver.) nach vorausgegangener Ausspülung und sorg- 
fältiger Austrocknung des Ohres unter Leitung des Spiegels gute 
Dienste. In dem einen meiner Fälle (S. 31) führte diese Be- 
handlungsmethode zu einer pp. 4 Jahre lang controlirten relativen 
Heilung (Beseitigung der Secretion und Schluss der Perforation). 
Wo zähe, den Mittelohrwandungen fest anhaftende Secretmassen 
sich finden, die durch Ausspülungen nur schwer zu beseitigen sind, 
haben mir vorherige, 1—2 mal täglich zu wiederholende Einträu- 
felungen von 5°/, Carbolglycerin oft recht gute Dienste geleistet, 
insofern als nachher die betreffenden Massen leicht durch Ausspritzen 
zu entfernen waren und nun die früher erwähnte Behandlungsmethode 
mit Vortheil angewendet werden konnte. Wo Granulationen im 
äussern Gehörgang oder in der Paukenhöhle sich finden, sind dieselben 
durch Aetzung mit Chromsäure in Substanz, von welcher ein kleiner 
Krystall an die Silbersonde angeschmolzen wird, (auch das Ein- 
tauchen der Sondenspitze in Acid. chrom. liquef. genügt) zu beseitigen. 
Grosse polypöse Massen müssen mit der Wilde’schen Schlinge ex- 
stirpirt werden. Wenn mit dieser Behandlung ein Erfolg nicht zu 
erzielen ist, wenn ferner im weiteren Verlaufe Erscheinungen auf- 
treten, welche auf ein Uebergreifen des Processes auf den Knochen 
schliessen lassen, dann wird die Frage an uns herantreten, ob wir, 
wie dies bei den gewöhnlichen chronischen Mittelohreiterungen 
neuerdings, und zwar recht oft mit günstigem Resultate geschieht, 


54 


die Ausräumung des Mittelohrs durch die Radicaloperation vornehmen 
sollen. Selbstverständlich ist die Beantwortung dieser Frage von 
dem Allgemeinbefinden des Kranken abhängig. Wo dasselbe 
ein gutes oder wenigstens relativ gutes ist, während die Erscheinungen 
Seitens des Ohrs, namentlich durch Caries bedingte anhaltende 
Schmerzen den Kranken sehr belästigen, da wird man zweifel- 
los zu dem operativen Eingriff berechtigt sein, selbst wenn 
man dem Kranken nicht mit Sicherheit eine vollständige Aus- 
heilung seines Ohrenleidens versprechen kann. Dass derartige Heilungen 
auf operativem Wege zu erzielen sind, dafür liegen in der Literatur 
einige Beispiele vor. Ich erinnere nur an den bereits im Jahre 1886 
von Schwartze auf der Naturforscherversammlung in Berlin in der 
otologischen Section vorgestellten Fall, der von Rhoden und Kretsch- 
mann??) später ausführlich beschrieben wurde. Freilich scheinen 
derartige Fälle zu den Ausnabmen zu gehören; zumeist schreitet der 
Process trotz der Operation, allenfalls nach einer längeren oder kürzeren 
Zeit des Stillstandes, ebenso wie das Allgemeinleiden, weiter 
fort, zumeist ohne, wie bereits oben hervorgehoben, seinerseits eine 
Ursache zum letalen Ausgang abzugeben. Am günstigsten scheinen 
die Verhältnisse da zu liegen, wo es sich um primäre Tuberkulose 
der Pars mastoidea handelt, die, wie aus einigen Beobachtungen zu 
schliessen ist, durch die Operation vollständig geheilt werden kann. 

Ganz aussichtslos und jeder Behandlung trotzend sind die Fälle 
mit rapid fortschreitendem Zerfall des Trommelfelles bei Kranken, 
die durch das Allgemeinleiden schon sehr heruntergekommen sind; 
ein operativer Eingriff wäre bei ihnen nicht zu rechtfertigen. 


Literatur. 





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von Tuberkulose. Zeitschr. der K. K. Ges. der Aerzte zu Wien. 1844. 
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carotischen Kanal in die Schidelhthle. Zeitschr. f. Ohrenheilk. XXIII. 
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*) Derselbe, Tuberkulose des Schläfenbeines; Uebergang der Tuberkulose auf 
die Basis des Schläfenlappens. Monatschr. f. Ohrenheilk. 1894. S. 277. 


Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


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