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Full text of "Berliner Klinik Heft 163-174 1902"

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BOSTON 


MEDICAL LIBRARY 


8 THE FENWAY. 





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Januar 1902. Berliner Klinik. Heft 163. 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung 
als Heilmethode. 


Von 
Dr. L, Kuttner, 
Oberarzt an der inneren Abteilung des Augusta-Hospitals zu Berlin. (Geh.-Rat 
Prof. Dr. Ewald.) 





Die Ernährungsfrage der Menschen giebt nicht nur in volks- 
wirtschaftlicher, sondern auch und ganz besonders in hygienischer 
Beziehung die Grundlage zu lebhaftem wissenschaftlichen Kampfe. 
Der Eifer, mit welchem Meinung und Meinung verfochten wird, auch 
das noch nicht nach allen Seiten hin aufgeklärte Terrain wäre ge- 
eignet, der Auffassung Raum zu geben, dass dieser Widerstreit 
neuesten Datums sei. Zweifellos ist die Diätetik unserer Zeit, wenn 
auch genährt mit hippokratischem Geiste, durch wissenschaftliche 
Forschung, durch den Reichtum der Erfahrung und durch die bisher 
verfügbar gewordenen Ergebnisse der Hilfswissenschaften zu einem 
hoch bedeutsamen Factor der modernen Heilkunde geworden, aber 
bereits seit Alters her ist dieselbe Gegenstand der Betrachtung, der 
Erörterung und der Controverse. 

Abgesehen von Secten und Religions-Gemeinschaften, welche 
schon frühzeitig die Ernährungsfrage in den Kreis ihrer Betrachtungen 
zogen, um die Reinheit der Seele durch möglichst einwandsfreie 
Nahrung zu fördern, und um selbst auf diesem Gebiete die Askese 
zu üben, hat man sich auch sonst zu allen Zeiten mit dieser Frage 
beschäftigt. Naturgemäss werden auch die auf den niedersten Cultur- 
stufen stehenden Menschen eine Auswahl unter den Nahrungsmitteln 
dahin getroffen haben, dass sie diejenigen bevorzugten, nach deren 
Genuss sie die mindesten Beschwerden hatten und welche ihnen 
am besten schmeckten, — also diejenigen, welche sie als ,,bekémmlich“ 


und als Genussmittel erkannten, und solche, von denen sie die beste 
1 


2 L. Kuttner, 


Erhaltung und Förderung ihrer Kórperkraft verspúrten. Wir dürfen 
demnach analog dem Ausspruche Schillers: 

„Eh’ vor des Denkers Geist der kühne 

Begriff des ew’gen Raumes stand, 

Wer sah hinauf zur Sternenbühne, 

Der ihn nicht ahnend schon empfand ?“ 
von einer geahnten Diätetik lange, lange vor dem Ausbau der 
Wissenschaften, lange vor Hippokrates, Pythagoras und Buddha 
sprechen. Uebereinstimmend mit dieser Thatsache gestaltet sich in 
praxi die Lösung der Ernährungsfrage durchaus nicht so complicirt, 
als die reichhaltige diesbezügliche wissenschaftliche Literatur ver- 
muten lassen sollte. Trotz alledem würde man fehlgehen, wenn man 
die Erfahrungen des Laienpublikums auf dem Gebiete der Diätetik 
als ausreichend betrachten wollte. Es ist vielmehr die Diätetik ein 
ebenso berechtigtes als hervorragendes Gebiet wissenschaftlicher 
Forschung. Unter den vielen Fragen, mit denen sich dieselbe be- 
schäftigt, nimmt die Diskussion darüber, ob zwischen dem Nährwerte 
von Vegetabilien und Animalien ein prinzipieller Unterschied besteht, 
ein grösseres Interesse in Anspruch. Die drei grossen N ahrungs- 
stofigruppen: Eiweisskörper, Fette und Kohlehydrate sind bei beiden 
vertreten. Vegetabilische Eiweisskörper wirken auf den Organismus 
des Menschen ebenso erhaltend und fördernd, wie animalische, und 
die vegetabilischen Fette spielen für den Stoffwechsel dieselbe Rolle 
wie tierische. Stimmen nun auch die Nährstoffe beider Gruppen in 
ihrem Nährwerte überein, so ist es doch von wesentlichster Bedeutung, 
dass zwischen beiden grosse prinzipielle Unterschiede bestehen be- 
züglich ihrer Anwendung, Ausnützbarkeit, Bekömmlichkeit etc. Denn 
es ist nicht nur nötig, zu wissen, welche Nahrungstoffe die einzelnen 
Nahrungsmittel enthalten, es ist vielmehr das Entscheidende, welche 
Summe von Nährstoffen durch sie dem Körper zu Gute kommt und 
von diesem ausgenutzt wird. Für die Bewertung der Speisen in 
diesem Sinne kommt die Magen- und Darmverdauung in Betracht. 
Für die den Grad der Magenverdaulichkeit hauptsächlich bestim- 
mende Aufenthaltsdauer der einzelnen Speisen haben besonders 
Leube!) und Penzoldt?) durch ihre bekannten Untersuchungen mit 

1) Leube: Beiträgez. Therap. der Magenkrankh. Zeitschr. f. klin. Med. VI, 189. 


2) Penzoldt: Beiträge z. Lehre v. d. menschl. Magenverdauung etc. D. Arch. 
f. klin. Med. 51. Bd. 535 u. 53. Bd. 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 3 


Hilfe des Magenschlauches sichere Grundlagen gewonnen. Wegen 
der grossen Verschiedenheit der pflanzlichen Speisen, je nach Her- 
kunft, Zusammensetzung und Zubereitung ist, wie Penzoldt!) mit 
Recht hervorhebt, eine Vergleichung der Magenverdaulichkeit der 
vegetabilischen Speisen unter einander und im Verhältnis zum Fleisch 
ausserordentlich schwierig. 


Von wesentlicher Bedeutung für die Verdauung der Vegetabilien 
und Animalien ist das Verhalten der Verdauungsdrüsen. Durch die 
interessanten Versuche von Pawlow?) und seinen Schülern wissen 
wir, dass einer jeden Art von Speise eine besondere Thätigkeit der 
Verdauungsdrüsen und eigentümliche Eigenschaften der Verdauungs- 
säfte entsprechen. Untersuchungen von Dr. Chigin an Hunden mit 
einem isolierten kleinen Magen haben gezeigt, dass sowohl die ge- 
mischte Kost, als auch die Einzeldarreichung von Milch, Brot, Fleisch 
u. s. w. jedesmal eine specifische Arbeit der Magendrüsen hervorruft. 
Die grösste Verdauungskraft besitzt der Saft, der auf Brot secernirt 
wird, derselbe enthält viermal mehr Ferment als der Saft, der nach 
Milchgenuss abgeschieden wird. Im Mittel ist die peptische Kraft 
des ersteren nach Dr. Chigin = 6,64 mm (nach Mett bestimmt); einer 
aus Fleisch bestehenden Kost entspricht ein Magensaft von 3,99 mm, 
während Milch eine Secretion von 3,62 mm Verdauungsstärke her- 
vorruft. 

Wie die verdauende Kraft, variirt auch die Gesamt-Acidität je 
nach der Art der Speise; sie ist am höchsten beim Fleisch (0,56 °/,) 
` und am niedrigsten beim Brot (0,46 °/,). In der gleichen Abhängig- 
keit von der Art der Nahrung steht auch die Menge des Verdauungs- 
saftes und die Dauer der Secretion. Nach Gewichtsäquivalenten 
verglichen, beansprucht das Fleisch am meisten und die Milch am 
wenigsten Magensaft, nach Stickstoffäquivalenten am meisten das 
Brot und am wenigsten das Fleisch. Pawlow hat die Fermentmengen, 
die der Magen auf gleiche Stickstoffaquivalente der verschiedenen 
Nahrungssorten liefert, berechnet und hierbei gefunden, dass auf 
Eiweiss in Form von Brot fünfmal mehr Pepsin geliefert wird als 


1) Penzoldt: Behandl. der Magen-Darmkrankh. Handbuch der spec. Therapie 
von Penzoldt-Stintzing. 
2 Pawlow: Die Arbeit der Verdauungsdriisen; Wiesbaden. J. F. Berg- 
mann. 1898. 
]* 


4 b L. Kuttner, 


auf die gleiche Menge Eiweiss in Form von Milch, und dass der 
Fleischstickstoff 25°/, mehr Pepsin verlangt als der Milchstickstoff. 
Das vegetabilische Eiweiss verlangt demnach zu seiner Verdauung 
viel Ferment, dieser Forderung wird weniger durch eine Steigerung 
der Saftmenge, als dadurch Genüge geleistet, dass auf Brot ein ausser- 
ordentlich concentrierter Saft secerniert wird. „Man kann hieraus ent- 
nehmen,“ sagt Pawlow, „dass nur nach dem Ferment des Magen- 
saftes grosse Nachfrage herrschte, während bedeutende Mengen Salz- 
säure unnütz, ja schädlich gewesen wären.“ Diese experimentellen 
Untersuchungsergebnisse Pawlow’s stehen in gutem Einklang mit 
der physiologisch-chemischen Beobachtung, nach der ein Ueber- 
schuss von Säure die Verdauung von Stärke beeinträchtigt und mit 
der klinischen Erfahrung, dass in Fällen von Hyperchlorhydrie eine 
grosse Menge des Brotamylums unausgenutzt bleibt, während Fleisch 
vorzüglich verdaut wird. 

Der Einfluss der verschiedenen Kostarten macht sich aber nicht 
nur bemerkbar auf den Saft der Magendrüsen, sondern auch auf die 
Arbeit des Pankreas, dessen Saft in Bezug auf Menge, specifische 
Zusammensetzung und Secretionsverlauf je nach der Speise variiert. 
Auch von der Bauchspeicheldrüse verlangt das vegetabilische Eiweiss 
am meisten, das Milcheiweiss am wenigsten Ferment. Während aber 
der Magen das Ferment in sehr concentrierter Form absondert, liefert 
die Bauchspeicheldrüse dasselbe in sehr verdünnter Lösung. Alle 
diese, besonders durch die Untersuchungen von Pawlow bekannt 
gewordenen Thatsachen sind nicht nur hochinteressant, sondern auch 
gerade für die uns augenblicklich beschäftigenden Fragen insofern 
von praegnanter Bedeutung, als wir aus ihnen entnehmen können, 
dass die Verdauung des vegetabilischen Eiweisses ganz andere Be- 
dingungen voraussetzt als die des animalischen, dass also nicht in 
allen Fällen das eine von dem anderen vertreten werden kann. Wir 
werden später noch auf diese Frage zuriickzukommen haben. 

Unter den weiteren Gesichtspunkten, welche für die Verdaulich- 
keit der Vegetabilien resp. der Animalien von Bedeutung sind, spielt 
der Widerstand der einzelnen Nahrungsmittel eine Rolle, welchen 
dieselben dem Auflösungsbestreben der Verdauungssäfte entgegen- 
stellen. Von hervorragender Wichtigkeit für die Auflösung der 
Speisen im Magen ist das sorgfältige Zerkauen derselben. Die 


Die vegetabilische Diát und deren Bedeutung als Heilmethode. 5 


dadurch herbeigeführte Zerkleinerung und Vermischung mit Speichel 
erleichtert dem Magen seine Thätigkeit ungemein, ja, es wird bei 
consistenteren Speisen demselben eine Auflösung nur durch voran- 
gegangene, ausreichende Thätigkeit der Kauwerkzeuge ermöglicht. 
Im ganzen verschlungene, ungekaute Nahrungsstücke verlassen den 
Körper meist in dem Zustande, in welchem sie in den Magen ein- 
getreten sind. Es ist natürlich, dass solcher Art genossene Nahrung 
für den Stoffwechsel keine Verwertung findet, dass sie die Bekömm- 
lichkeit hindert und Beschwerden verursacht. 

Aus dem Gesagten erhellt bereits, dass die Möglichkeit des 
Magensaftes, die Speisen zu durchdringen, aufzulösen und auszu- 
laugen, von der Konsistenz derselben abhängt. In diesem Punkte 
nun verhalten sich vegetabilische Speisen wesentlich ungünstiger als 
animalische. Zwar auch bei den Animalien wird die Grösse des 
Widerstandes gegen das Auflösungsbestreben des Verdauungssaftes 
von der Gattung des Tieres abhängen; so wird Wild leichter vom 
Magen verarbeitet werden als Rindfleisch, Taube und Huhn leichter 
als Gans, und sogar bei den einzelnen Tiergattungen werden sich 
Unterschiede zwischen alten und jungen Exemplaren und bei den 
Tieren selbst Unterschiede zwischen dem Fleische der verschiedenen 
Körperteile recht wesentlich bemerkbar machen; so werden die vom 
Fett umhüllten oder durchsetzten Stücke den Verdauungssaft weniger 
eintreten lassen als magere Fleischteile. Auch die Zubereitung der 
Speisen ist selbst bei den Animalien nicht ohne Bedeutung, und 
durch sie kann die Arbeit des Magens wesentlich erleichtert werden. 
Diesen Umstand hat die Praxis sehr wohl erkannt, und sie trägt ihm 
Rechnung, indem sie vorschreibt, das Fleisch zu schaben und zu 
hacken, es durch Klopfen mit Holzhammer, durch Einlegen in Essig 
oder in saure Sahne mürbe zu machen. Ist man in dieser Weise 
schon bedacht, den Animalien den Verdauungssaft zugänglich zu 
machen, so wird das bei den Vegetabilien zu dringendster Not- 
wendigkeit Das Eiweiss im Getreide findet sich zum grossen 
Teile in Pflanzenzellen eingeschlossen, die nach Rubner +) für die 
Fermente unseres Darmkanals wahrscheinlich undurchgängig sind. 
Für die bessere Ausnutzbarkeit des Mehles ist deswegen eine gute 


!) Rubner: Physiologie der Nahrung u. der Ernährung in Leyden’s Handbuch 
d. Ernährungstherapie. 


6 L. Kuttner, 


Zermahlung notwendig, Nach Rubner (l. c.) sollten die Mehl- 
teilchen nicht grösser sein, als einem Sieb von 0,04 [ ]mm Oeffnungs- 
weite entspricht. Ist nun auch die Resorption von freiem vege- 
tabilischen Eiweiss bei weitem günstiger als die des eingeschlossenen, 
so wird doch nach Rubner auch durch diese Praeparation die 
Resorption der besseren animalischen Eiweisskörper nicht erreicht. 

Infolge schlechterer Ausnützung der Vegetabilien ist der 
Vegetarier zur Aufnahme grösserer Mengen Nahrungsmittel ge- 
zwungen, welche in wenig verarbeitetem Zustande aus dem Magen 
in den Darmkanal eintreten und diesen somit mit einer grossen 
Arbeit belasten. Wollen wir 118 g Eiweiss aufnehmen, so brauchen 
wir, wie Hoffmann!) durch einfache Berechnung festgestellt hat, dazu 
c. 1750 g Brot, während wir dasselbe in 750 g Braten haben können 
oder in 438 g geräuchertem Schinken. Diese voluminöse vegetabilische 
Kost hat verschiedene Nachteile. Durch die starke Belastung des 
Magens werden die Wandungen desselben abnorm gedehnt, der 
Tonus der Muskulatur wird herabgesetzt; Dyspepsien undandere Magener- 
krankungen bilden sich aus. Dazu kommt die Reizwirkung, welchesowohl 
die Cellulose der pflanzlichen Nahrung auf den Darm ausübt, sowie die 
chemische Zusammensetzung vieler Vegetabilien, welche einen grossen 
Gehalt an reizenden Substanzen aufweisen. Des Weiteren kommt 
in Betracht, dass bei Ueberernährung mit Kohlehydraten leicht 
Gährungen auftreten, welche durch die Bildung von Säuren (z. B 
Milch- oder Buttersäure) und durch die Entwickelung von Gasen 
(Kohlensäure, Wasserstoff und Methan (Grubengas) Reize für die 
Darmschleimhaut abgeben, die ihrerseits wieder zur vorzeitigen Aus- 
scheidung von Nahrungsbestandteilen führen. Auch für den nicht 
Vegetarier ergiebt sich aus den Thatsachen der grossen mechani- 
schen, physicalischen und chemischen Reizwirkungen seitens der 
Vegetabilien auf den Darm, sowie aus dem Umstande der geringen 
Ausnutzung derselben die Notwendigkeit, diesen Uebelständen durch 
rationelle Zubereitung und durch Vermischung mit anderen Nahrungs- 
mitteln entgegenzuwirken. Aber auch die beste und zweckmässigste 
Zubereitung der vegetabilischen Nahrungsmittel ändert nichts an der 
Thatsache der schlechteren Verwertbarkeit derselben. 


1) A. Hofmann: Handbuch der Ernährungstherapie von E. von Leyden, 
I. Bd. 2. Abteilung. 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 7 


Nach Moritz!) kann die Eiweiss-Ausnützung bei den Getreide- 
mehlen, soweit sie in breiiger Form oder eingerührt in Suppen oder 
Saucen zur Verwendung kommen, auf etwa 90°/, veranschlagt werden. 
Bei Gebäck, Brot oder kompakten Teigwaren, wie Nudeln, Spätzeln 
sinkt sie dagegen auf 85 bis 83°/,, bei den Leguminosen, wenn sie 
unzermahlen zur Anwendung kommen, auf 82°/,, bei den Gemüse- 
arten auf 80°/,, bei den Kartoffeln auf 70°/, und bei den Rüben 
sogar auf 60°/, herab. Es sei hier noch auf eine ebenso übersicht- 
liche, wie wertvolle Tabelle hingewiesen, welche wir am Schlusse 
des erwähnten Moritz’schen Werkes finden. Wir werden auf die- 
selbe noch des öfteren zurückkommen und wollen hier nur dasjenige 
berichten, was sie bezüglich der Ausniitzungsgréssen der Nahrungs- 
mittel ergiebt. Es ist dort das Ergebnis aus 25 verschiedenen 
Animalien und 23 Vegetabilien festgestellt. Im Augenblick interessiert 
uns nicht der Nährwert jedes einzelnen Nahrungsmittels, sondern nur 
das Gesamt-Ergebnis jeder der beiden Gruppen. Addieren wir nun 
die Zahlen, welche die Ausnützungsgrössen der Animalien und 
Vegetabilien angeben und dividieren dieselben durch 25 bezw. 23, 
so finden wir die Zahlen, welche die Durchschnitts-Ausnützung von 
beiden Gruppen darstellen und welche, wie folgt, lauten: 

Ausnützung in Prozenten: 

Eiweiss. Fett. Zucker. Stärke Zucker u. Stärke. Cellulose. 
Animalien: 925 8715 20 7,84 4,0 — 
Vegetabilien: 86,26 72,0 30,43 23,3 71,8 42,17 

Ein Vergleich dieser Zahlen lehrt ebenfalls, dass die Ausnützung 
der wichtigsten Nahrungsmittelstoffe Eiweiss und Fett bei den 
Animalien eine ganz erheblich bessere ist. 

Neben Verdaulichkeit, Resorptionsfähigkeit und Bekómmlichkeit 
der Nahrungsmittel ist auch ihre Eigenschaft als Genussmittel in 
Betracht zu ziehen. Als solche gelten eine Reihe von Speisen, 
welchen der auf uns wirkende Reiz ursprünglich innewohnt, während 
eine weit grössere Anzahl erst durch die Zubereitung dahin gebracht 
wird, für uns die Rolle eines Genusses zu spielen. Ebenso wie die 
Natur es sich nicht hat genügen lassen, die Fortdauer des Menschen- 
geschlechts nur darauf zu begründen, dass sie dem Menschen die 
Fähigkeit zur Fortpflanzung gewährte, sondern ihm auch den Trieb 


1) Moritz: Grundzüge der Krankenernährung pag. 40/1. 


8 L. Kuttner, 


hierzu einpflanzte, ebenso wohnt dem Menschen in dem Verdauunge- 
mechanismus nicht nur die Fähigkeit inne, den Hunger zu stillen 
nnd den Organismus auf seiner Hóhe zu erhalten, sondern es wirkt 
in ihm auch die Lust am Wohlgeschmack als hóchst wichtiger Faktor; 
Wohlgeschmack und Wohllust (Wollust), zwei nahezu gleichwertige 
Prinzipien der Weltenordnung. Kummer, Sorge, Schmerz und vor 
allem Krankheit lassen oft die Stimme des Hungers überhören, 
während die Lust am Wohlgeschmack sich geltend zu machen und 
für die Erhaltung der Körperkräfte zu sorgen weiss. Ware der 
Wert der Genussmittel nicht ein so wesentlicher, dann würde man 
nicht einen Speisezettel geschaffen haben, welcher an Abwechslung 
nichts zu wünschen übrig lässt, sondern man würde die Nährstoffe 
möglichst rein dargestellt und so auf einfachstem Wege die Ernährung 
der Menschheit besorgt haben. Und in der That ist es nicht nur 
ein Sinnesreiz, den gewisse Speisen auf uns ausüben, sondern gerade 
ihr Wohlgeschmack wirkt günstig auf die Verdauungsorgane, erhöht 
die Ausnützung der Nahrung und beeinflusst sogar unser Nerven- 
system günstig. 

Der Vegetarier sieht die Notwendigkeit von Genussmitteln 
und Abwechslung wohl auch ein und versucht, sich dieselben zu 
verschaffen, aber sein Programm lässt ihn dabei im Stich, und es 
ist eine grosse Schwäche des Vegetarismus, dass er diesen höchst 
wichtigen, durch Wissenschaft und tausendjährigen Gebrauch gleich- 
mässig anerkannten Anforderungen nicht zu entsprechen vermag. Zu 
welcher Wirkung die monotone Kost Veranlassung giebt, geht aus 
den interessanten Gefängnisbeobachtungen Bär’s hervor, die wir in 
dem Aufsatze von Rubner erwähnt finden: „Die Folgen der in Ge- 
fängnissen vielfach verabreichten, einförmigen vegetabilischen Kost 
sind Appetitlosigkeit, Säurebildung, Erbrechen, Flatulenz, Durchfall, 
auch anhaltende Verstopfung. Der sich ausbildende Zustand der 
Erschlaffung und Erschöpfung ist dann meist ein disponierendes 
Moment für chronische Dissolutionskrankheiten, für Phthise, Hydrops, 
Skorbut. Die fortwährenden Mehl- und Brotsuppen und das sonstige 
Einerlei der Kost bewirken bei den Gefangenen schliesslich einen 
solchen Widerwillen gegen die Kost, dass schon Anblick und Geruch 
der Speisen Brechneigung hervorrufen. Schliesslich sind sie auch 
auf die bescheidenste Abwechselung so erpicht, dass sie für einen 


Die vegetabilische Diät. und deren Bedeutung als Heilmethode. 9 


Hering, einen Käse, etwas Butter oder eine saure Gurke ihren besten 
Freund verraten würden.“ Dieser Abwechselungstrieb scheint einer 
der wichtigsten Wächter über die normale Zusammensetzung unserer 
Kost zu sein. In der Kost muss nicht nur eine Abwechselung hin- 
sichtlich der chemischen Natur der Genussmittel gegeben sein, son- 
dern auch die verschiedenartigsten physikalischen und äusseren Be- 
schaffenheiten können ausschlaggebend sein. 

Auch bezüglich der Wärmemengen, welche die Nahrungsmittel 
erzeugen, stehen die Vegetabilien hinter den Animalien zurück. 
Ueber diesen Gegenstand giebt uns wiederum die bereits erwähnte 
Tabelle von Moritz schätzenswertesten Aufschluss. Wir finden dort 
von 25 Animalien und 23 Vegetabilien diejenige Kalorienmenge auf- 
geführt, welche aus 100 gr der betreffenden Nahrungsmittel zur 
Resorption kommt. Die Fette sind dort als die hervorragendsten 
Energieträger verzeichnet. Addieren wir nun wieder die Kalorien- 
menge der 25 tierischen und der 23 pflanzlichen Nabrungsmittel und 
dividieren wir diese Summe durch 25 bez. 23, so ergiebt sich für 
die Gruppe der Animalien ein zur Resorption kommender Durch- 
schnitt von 284 Kalorienmenge, während sich bei den Vegetabilien 
nur ein ebensolcher von 208,4 herausstellt. 

Als besondere Begründung seiner Lehre führt der Vegetarismus 
weiterhin an, dass die Zähne des Menschen ihn den Früchte essen- 
den Geschöpfen zugesellen und dass dieselben denen der anthro- 
poiden Affen am ähnlichsten sind. Und wäre dem auch so, so be- 
kundet das höchstens, dass die Intelligenz des Menschen durch die 
Kunst der Zubereitung sich den für ihn so wertvollen Genuss ani- 
malischer Speisen gesichert hat, ohne dazu des Gebisses des Raub- 
tieres zu bedürfen. Andererseits aber ist der „Pflanzenfresserdarm“ 
mit einer kräftigen Cellulose-Verdauung eingerichtet; der Mensch 
dagegen vermag nur ganz zarte, junge Cellulose und auch diese nur 
unvollkommen zu verarbeiten. Dadurch wird der Mensch aus der 
Rubrik der Pflanzenfresser wieder verdrängt und gleichzeitig als un- 
fähig zur Aufnahme und Verwertung von Cellulose hingestellt, welche 
die Vegetabilien in so grossen Mengen aufweisen und welche sogar 
die wertvollen Nährstoffe derselben gefangen hält. Hueppe hebt 
in seiner Schrift der „moderne Vegetarianismus“ hervor, dass die 
Berufung auf die Beschaffenheit des Gebisses zu Gunsten des Vege- 


10 L. Kuttner, 


tarismus schon dadurch hinfállig sei, weil dieselbe praktisch nicht 
in Betracht kommt, da auch der Vegetarier die Speisen in zube- 
reitetem Zustande geniesst. Er weist ferner auf die häufige Zahn- 
fäule der vegetarisch lebenden Negerstämme hin und betont, dass 
bei den Carnivoren häufig bessere Zähne angetroffen werden, und 
dass solche, herrlich erhalten und regelmässig abgenützt, schon bei 
den Fleischessern der Mammuthperiode und der Eiszeit nachzu- 
weisen sind. 

Nachdem wir den prinzipiellen Unterschied in dem Nährwert 
von Animalien und Vegetabilien erörtert haben, müssen wir der 
Frage näher treten, ob der Vegetarismus zur Ernährung gesunder 
Menschen ausreicht, und zweitens: falls er ausreicht, ob er auch 
vorteilhaft ist. Bei Beantwortung der zweiten Frage werden uns 
die vorangegangenen Auseinandersetzungen reichlich zu statten 
kommen. Nun vorerst zu der Frage, ob der Vegetarismus eine aus- 
reichende Ernährung für Gesunde bietet. Wir müssen da zwischen 
der strengeren und leichteren Richtung unterscheiden. Die erstere 
gestattet einzig und allein den Genuss pflanzlicher Nahrungsmittel, 
während die andere auch tierische Speisen erlaubt, welche ohne 
Tötung eines Tieres erreichbar sind, wie Eier, Honig, Milch, Butter, 
Käse. Einwandsfreie Stoffwechseluntersuchungen haben ergeben, dass 
das Kostregime der strengen Vegetarier nicht nur dazu genügt, den 
Körperbestand zu erhalten, sondern auch imstande ist, das Gewicht 
zu erhöhen und Eiweiss anzusetzen; allerdings ist zur Erreichung 
so günstiger Resultate neben der Zufuhr beträchtlicher Mengen von 
Kohlehydraten eine zweckmässige Auswahl und Zubereitung der 
Pflanzenkost notwendig. Viele von den Vegetariern selbst ausge- 
wählte oder von den Kurpfuschern verordnete vegetabilische Speise- 
zettel erfüllen diese Forderungen nicht und führen deswegen zur 
Unterernährung. Zur Bekräftigung dieser Thatsache verweise ich 
auf die von Voit und Constantinide!) publizierten Stoffwechsel- 
untersuchungen, die an einem 28jährigen Tapeziergehilfen angestellt 
wurden, der seit 3 Jahren an die rein vegetarische Kost gewöhnt 
war. Das Versuchsindividuum lebte in der Beobachtungszeit wie ge- 
wöhnlich von Pumpernickel, Grahambrot, Aepfeln, Feigen, Datteln, 
Orangen und Oel und erhielt pro Tag 54,2 g Eiweiss, 22,0 g Fett, 


1) Voit u. Constantinide: Zeitschrift fir Biologie. Bd. 25. Neue Folge. 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 11 


557,0 g Kohlehydrate = 2700 Wärmeeinheiten. Die Ausnutzung 
dieser Nahrung war eine sehr ungünstige. Von dem Eiweiss wurden 
im Kot ausgeschieden 41°/,, von dem Fett 30°/, und von dem 
Stärkemehl etwa 6°/,. Die Mengen des Eiweisses genügten 
nicht, den Körperbestand zu erhalten, vielmehr verlor der Vege- 
tarier täglich 2,5 g seines Eiweisses vom Körperbestande. 


Weit günstiger ist das Untersuchungsergebnis der von Rumpf 
und Schumm!) an einem 19jährigen Vegetarier angestellten Stoff- 
wechseluntersuchung. Der junge Mann hatte seit dem 18. Lebens- 
jahre alle tierischen Stoffe vermieden und lebte ausschliesslich von 
Grahambrot, Aepfeln, Datteln, Quäker Oats, Reis, Zucker und Wall- 
nüssen. Der Untersuchte hat bei dieser Ernährung, und zwar bei 
einer Einfuhr von 73 g Eiweiss, 28,6 g Fett und 698 g Kohle- 
hydrate = 3430 Wärmeeinheiten, sein Körpergewicht von 62,5 kg 
am ersten Versuchstage bis auf 64,2 kg am letzten, d.h. am 8. Tage 
der Untersuchung erhöht und Eiweiss angesetzt ?). 


Noch günstiger gestaltet sich die Ausnützung der Pflanzenkost, 
wenn man die Menge der einzuführenden Vegetabilien durch Zufuhr 
von animalischem Eiweiss in Form von Milch, Eiern, Butter, Käse 
herabdrückt. Stoffwechseluntersuchungen bei vegetabilischer Kost mit 
Zusatz von Milch und Eiern sind von Cramer bereits im Jahre 
1882 angestellt worden. Dieser Autor kam damals auf Grund seiner 
Beobachtungen zu dem Schluss: „Dieser Vegetarismus ist somit, 
physiologisch betrachtet, nur deshalb zur Fristung des Lebens hin- 
reichend, weil er einen guten Teil, nämlich ein Drittel seines Eiweisses 
aus dem Tierreich entlehnt, weil er ein animaler Vegetarismus ist.“ 
Dass diese Ansicht Cramer’s falsch ist, geht aus den mitgeteilten 


1) Th. Rumpf u. O. Schumm: Zeitschrift für Biologie. Bd. 39. Heft 1. 

2) Als Dritter hat Albu bei einer kleinen, schmächtigen Person von 37*/, kg 
Gewicht experimentelle Stoffwechselversuche bei vegetarischer Diät angestellt. Die 
Untersuchungen, die von Albu nach Fertigstellung dieser Arbeit (am 20. Februar 
1901) in der Berl. mediz. Gesellschaft mitgeteilt wurden, erstreckten sich auf 
5 Tage und haben gezeigt, dass die Versuchsperson bei streng vegetarischer 
Nahrung gut im Stickstoffgleichgewicht blieb. Dass es möglich ist, bei einer 
vegetabilischen Diät volle Leistungsfähigkeit zu erhalten, geht weiterhin auch 
hervor aus den Mitteilungen von Bälz (Berl. Klin. Woch. Nr. 26), denen reiche 
Erfahrungen aus Japan zu Grunde liegen. 


12 L. Kuttner, 


Untersuchungsbefunden von Rumpf und Schumm und von Albu 
einwandsfrei hervor. 


Wenn nun auch durch diese Stoffwechselversuche der Beweis 
geliefert worden ist, dass es den Vegetariern, selbst denen der strengeren 
Richtung, möglich ist, einzig und allein durch die Pflanzenkost ihren 
Körperbestand zu erhalten, so genügt das doch nicht, um dies 
Regime zur Ernährung grösserer Mengen von Menschen, wie in 
Gefängnissen, Armenhäusern, Kasernen und überhaupt als ausreichende 
Volksernährung zu empfehlen. Die Beobachtungen von Voit, Rumpf, 
Albu und Cramer beziehen sich auf einzelne Individuen, bei denen 
äussere Verhältnisse, Gewohnheit von Jugend auf, Art der 
Beschäftigung etc. eine grosse Rolle spielen; und auch für diese mit 
der vegetarischen Kost auskommenden Personen macht sich die 
Unzulänglichkeit dieser Ernährungsart darin geltend, dass der 
Organismus die Widerstandskraft verliert, hereinbrechenden Krank- 
heiten, selbst leichterer Art, mit der nötigen Energie entgegenzutreten. 
Der Versuchsmann Cramer’s erkrankte im 3. Jahre seiner vegeta- 
bilischen Lebensweise an einer einfachen Gastritis, die binnen zwei 
bis drei Wochen zu einem so grossen Schwächezustand führte, dass 
der Patient während der Reconvalescenz von einem Ort zum andern 
geführt werden musste. Die Unzulänglichkeit und das Gefahrvolle 
eines so geringen Eiweissansatzes geht ferner deutlich hervor aus 
jenen Massenerkrankungeu, die besonders in früheren Jahren in 
Gefängnissen zur Beobachtung kamen, und von denen beispielsweise 
Wald!) ein treffliches Bild entwirft.) Hueppe?) hat das Verhältnis, 
in dem Eiweiss zu Stärke gereicht wird, für die verschiedensten 
Ernährungsformen festgestellt und giebt nach seinen Berechnungen 
folgende Zahlen an: 


1) Wald: Die Scorbutanaemie in der Strafanstalt Waltenburg. 


?) Zur Discussion über den Vortrag Albus bestätigt Baer (Berl. med. 
Ges. 6. März 1901) aus den Statistiken der Strafanstalten, wie unvorteilhaft und 
schädlich die vegetabilische Kost für Massenernährungen ist. Es hat sich dabei 
eine Sterblichkeit von 31,6 pro Mille herausgestellt. Das würde einem Durch- 
schnittsalter von 35—36 Jahren entsprechen. Jetzt, wo man eine mehr ani- 
malische Kost in den Strafanstalten eingeführt hat, ist die Sterblichkeit auf 
14—18 pro Mille heruntergegangen. 


5) Ferdin. Hueppe: Der moderne Vegetarismus. 














Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 13 


fleischessender Eskimo . . . 1 Eiweis: 2,9 Stärke 
Oberbayer bei gemischter Kost 1 in ED 
Japaner bei Reiskost. . . . 1 = oO. y 
Bayer bei Schmalzkost 1 2 a a 
Handweber . . . . . . . 1 5 O = 
Irländer 1 , :106 „ 


„Daraus sieht man,“ führt Hueppe aus, „dass unsere bewährte 
gemischte Kost genau dasselbe Verhältnis bietet, wie die vege- 
tarische Kost des Japaners und dass für den Menschen sich auf 
Grund von jahrhundert-, vielleicht jahrtausendlangen Erfahrungen in 
Europa und Asien ein ganz gleiches Verhältnis als praktisch bestes 
herausgebildet hat.“ 


Mit vieler Genugthuung nimmt der Vegetarismus für seine 
Lehre in Anspruch, dass hervorragende Männer schon in frühesten 
Zeiten derselben huldigten, dass sie die herrschende bei ganzen 
Völkerschaften ist, und dass auch bei uns das Proletariat ihr an- 
gehöre. Mit Vorliebe werden da Pythagoras, Buddha und wohl auch 
diese und jene Religionsgemeinschaft angeführt. Bei ihnen allen 
bestand das Verbot des Fleischgenusses, jedoch nicht um seiner 
selbst willen, nicht weil man den Genuss des Fleisches im allge- 
meinen für den Organismus als schädlich betrachtete, sondern es 
war die Consequenz anderer Lehren, welche jene Männer oder jene 
Gemeinschaft cultivierten. Verbot man auf der einen Seite den 
Fleischgenuss, um das Töten der Tiere zu vermeiden, so geschah es auf 
der anderen Seite, um Enthaltsamkeit von dem Genusse zu predigen, 
welchen das Fleischessen darstellt, und um durch diese Enthaltsam- 
keit auch solche auf andern Gebieten zu fördern. Die Religions- 
gemeinschaften führten dieses Verbot auf den Willen der Gottheit 
zurück und machten so die Vermeidung des Fleischgenusses zu 
einer Sache der Religions-Moral. Dies trifft besonders auch da zu, 
wo es sich um das Fleisch derjenigen Tiere handelte, welche einer 
Gottheit heilig waren. Auch der Glaube, dass die Seele Verstorbener 
auf dem Wege der Seelenwanderung in den Tierkörper gelangt, 
hinderte am Genusse desselben. Vielfach hängen die Verbote 
tierischer Kost auch mit der Erkenntnis zusammen, dass den Tieren 
ab und zu Krankheits-Erreger innewohnen, deren Vorhandensein fest- 


14 ' L. Kuttner, 


zustellen, die Wissenschaft jener Zeiten nicht ausreichte. Ferner 
mag das Klima eine wesentliche Rolle dabei gespielt haben, den 
Genuss des Fleisches einzuschränken, so dass in der heissen Zone 
des Orients dieses Verbot auf einen geringen Widerstand gestossen 
sein wird. An uns selbst machen wir die Wahrnehmung, dass wir 
im Winter der Aufnahme animalischer Nahrung geneigter sind als 
im Sommer. Vielleicht spricht da auch der Umstand mit, dass das 
Fleisch in der heissen Jahreszeit eher dem Verderben ausgesetzt ist 
und von uns instinktiv mit einigem Misstrauen betrachtet wird. 
Im Winter dagegen und in rauheren Zonen wird der Körper gern 
eine kräftige Nahrung aufnehmen, welche viel Fett und Eiweiss 
enthält und somit möglichst kalorienreich ist. 


Glaubt nun der Vegetarismus seine Lehre durch die ange- 
führten Autoritäten stützen zu können, so wird er dadurch wider- 
legt, dass ethisch und geistig hervorragende Männer aller Zeiten dem 
Fleischgenusse durchaus nicht abhold waren. Selbst Christus hatte 
gegen animalische Kost nichts einzuwenden, und ebenso kann der 
Vegetarismus auch nicht einen bedeutenden Naturforscher der neu- 
' esten und der vorangegangenen Epoche als seinen Jünger be- 
zeichnen. 


Die Völkerschaften, welche den Vegetariern als Beleg für ihre 
Theorie dienen sollen, können wir als solchen ebenfalls nicht gelten 
lassen. Auf Grund anthropologischer Erörterungen gelangt Hueppe 
in seiner citierten Schrift zu dem Schlusse, dass der Mensch in 
Europa von Anfang an uns als Fleischesser entgegentritt. Dieser 
etwa 50000 jährigen Periode steht erst eine etwa 5000 jährige gegen- 
über, in welcher der Mensch allmählich zur gemischten Kost überging. 
Angesichts dieser unendlich langen Anpassungen bezeichnet Hueppe 
die Behauptung der ,,Kunstvegetarianer“, dass der Mensch von 
Natur auf pflanzliche Kost angewiesen sei, als Lächerlichkeit; viel- 
mehr hängt es von den natürlichen und socialen Verhältnissen ab, 
welche Kostform der Mensch geniessen soll; „natürlich“ ist bei der 
Anpassungsfähigkeit menschlicher Organisation sowohl Fleischkost, 
gemischte wie Pflanzenkost. Die Leistungen, mit welchen vege- 
tarische Völker die Welt beglückt haben, der Grad von Freiheit und 
Menschenwürde, welchen sie errungen haben, lässt uns wahrlich 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 15 


nicht mit Neid auf ihre Kost sehen. Nach alledem können wir 
die Frage, ob der Vegetarismus zur Ernährung Gesunder ausreicht, 
keineswegs bejahen. Handelt es sich doch bei der Ernährung nicht 
nur darum, dem Organismus die Möglichkeit des Vegetierens zu er- 
halten, sondern die Nahrung soll auch ausreichen, dem Körper die 
Spannkraft der Muskeln und des Geistes, die Leistungsfähigkeit auf 
jedem Gebiete zu gewährleisten. Der Besitz solcher Fähigkeiten, 
und nicht einzig und allein die Verhinderung des Exitus bedeutet 
Leben, und eine Nahrung wird daher erst dann als für Gesunde 
ausreichend zu betrachten sein, wenn sie diese Fähigkeiten zu 
erhalten und zu fördern im Stande ist. Diesen „Befähigungs- 
Nachweis“ hat aber die animalische Kost durch die imponierenden 
Leistungen der Kulturvölker erbracht, welche seit den Zeiten der 
Griechen und Römer niemals Vegetarier waren. — Und nun das 
Proletariat! Nicht etwa, weil es am Vegetarismus so viel Gefallen 
findet, sondern weil die wirtschaftlichen Verhältnisse dazu zwingen, 
befolgt es, so weit es muss, dessen Lehren. Das Bestreben, den 
Vegetabilien auch Animalien zuzusetzen, findet sich, wie auch 
Rubner hervorhebt, über die ganze Erde verbreitet, und nur unter 
ganz besonderen ungünstigen Erwerbsverhältnissen bleibt der Mensch 
bei der vegetabilischen Kost und einer wesentlich auf ein Nahrungs- 
mittel beschränkten Nahrung. Und sonderbar, die Ernährung ist 
dasjenige Gebiet, auf welchem in erster Linie Ersparnisse gesucht 
werden; so lesen wir bei Friedrich Albert Lange (Die Arbeiterfrage pag. 
182): „Wir haben gesehen, wie die Ernährung völlig ungenügend werden 
kann, während in gewissen Äusserlichkeiten, wozu Kleidung, Möblierung 
der Wohnungen, Tischgerät und dergl. zu zählen ist, die Arbeiter- 
Bevölkerung ihren Standpunkt behauptet. Bevor der Mensch geradezu 
verhungert, wird er freilich alle diese Besitztümer veräussern, bevor 
er sie aber veräussert und damit vor den Augen der Menschen seine 
Lebensstellung aufgiebt, wird er sich verschlechterte Nahrung in sehr 
bedeutendem Grade gefallen lassen.“ Derselbe Autor liefert (Arbeiter- 
frage pag. 203) eine Tabelle des Prozentsatzes der Todesfälle der 
Wohlhabenden für jedes Lebensalter, welche er aus Marc d’Espine 


(statistique mortuaire Paris 1858 pag. 46) entnimmt; dieselbe 
lautet: 


16 L. Kuttner, 












Todesf Todesf. 
d. Wohl- d. Wohl- 
Lebensalter habenden Lebensalter habenden 


auf 100 





OTag bis 5 Jahr) 2,41 |50Jahrb.55Jahre| 3,87 


lo, y» 3» | 071 | 5Jahr,10 „| 310 155 „ „60 „| 4,75 
1, nT „| 130 10 „ ,15 , | 368 feo, „65 , | 5,79 
Lo, , 1Mon| 142 |15 „ „20 „| 205 I65 , „70 „ | 6,5 
l 39 „ 2 ” 1,51 20 »” $9 20 33 2,95 1 39) ” 75 9 | 5,13 
Lo» » AJahrl 1,57 [25 , ,30 „| 281 |75 ,80 „| 8,45 
] 9’) 39 2 9 1,85 30 ” „ 35 2) 4,09 80 ” ” 85 9 | 1,85 
1, , 3 5 | 1,85 [35 , ,40., | 203 l85 „ .9 , | 901 
1, » 4, | 196 140, „4 „| 343 J90, „95 , | 980 
] In 2,03 [45 „ „50 „ | 3,31 [95 ,, „100, | 4,55 


Die Tabelle weist für die Wohlhabenden ausserordentlich günstige 
Zahlen auf, da unter hundert Sterbenden in hohem Lebensalter viele 
Woblhabende sich befinden, während in den mittleren und Kinder- 
jahren wenig Wohlhabende sterben, also ein Umstand, der für das 
Ausreichendere und Erfolgreichere der animalischen Kost spricht. 
Man wende nicht ein, dass hierbei auch die allgemeinen besseren 
Lebensbedingungen der Wohlhabenden in Betracht kommen. Solche 
sind ja thatsächlich vorhanden, aber sie werden ausgeglichen durch 
die bei weitem grössere, geistige Thätigkeit, welche der Wohlhabende 
im Durchschnitt dem Proletarier gegenüber zu leisten hat und durch 
die oft genug viel grössere Sorge um die Aufrechterhaltung seiner 
Lebenshaltung, — alles das belastet das Nervensystem der Wohl- 
habenden und mit diesem den Gesamt-Organismus derselben. 


Für das Proletariat, sowie für die minder Bemittelten überhaupt 
ist die Nährgeldwert-Feststellung, welche wissenschaftliche Forschung 
geschaffen hat, von hervorragender Bedeutung. Es ist das ein System, 
durch welches man ermittelt, welche Nährstoffmengen man für einen 
bestimmten Geldwert erstehen kann oder welchem Geldwert die Nähr- 
stoffmenge und der resorbierbare Kaloriengehalt eines Nahrungs- 
mittels entspricht; es ergiebt sich daraus, welches Nahrungsmittel 
als teuer und welches als billig bezeichnet werden kann. Betrachten 
wir die mehrfach erwähnte Moritz’sche Tabelle, so finden wir, dass 
das Fleisch eines Mastochsen mittelfett einen Nährgeldwert von 27 Pfg. 


Die vegetabilische Diát und deren Bedeutung als Heilmethode. 17 


hat, während die Kartoffel einen solchen von 546 Pfg. aufweist. 
Demnach wäre die Kartoffel das billigste Nahrungsmittel; es ist dabei 
jedoch zu berücksichtigen, dass dieses Ergebnis dadurch herbeigeführt 
wird, dass man bei der Kartoffel zwar für 1 Mk. ein riesiges Volumen 
erhält, an dessen Verarbeitung und Nutzbarmachung durch unsere 
Verdauungsorgane auf ein Mal aber gar nicht zu denken ist. Bei 
der Arbeitslast, welche dieses enorme Volumen dem Magen und 
Darme aufbürdet, ist die Kartoffel ausserdem noch von sehr geringem 
Gehalt an Eiweissstoffen. Wir sehen also, dass das ökonomische 
Prinzip allein nicht massgebend sein darf. Bei der Kranken-Diätetik 
tritt es ganz in den Hintergrund, aber auch bei der Ernährung des 
Proletariats darf man nicht nur fragen, wie ernährt man das Volk 
am billigsten, sondern man hat sich vor allem auch darum zu kiimmern, 
wie man es am besten ernährt, d. h. wie man es mit einer Nahrung 
versieht, welche zur Ergänzung des Kräfteverbrauchs ausreicht und 
den Organismus auf einer Höhe erhält, welche Erkrankungen pro- 
phylaktisch entgegentritt und unangenehme physische Nebenwirkungen 
ausschliesst. Damit wären wir bei der zweiten Generalfrage ange- 
langt, ob der Vegetarismus besondere Vorzüge hat gegenüber der 
gemischten Kost. Als einen Glanzpunkt in ihrer Verteidigung be- 
trachtet die vegetarische Lehre den Nuclein-Reichtum des tierischen 
Eiweisses gegenüber der Nuclein- Armut desjenigen der Vegetabilien, 
und von dem Nuclein behauptet sie, dass es alle Leiden begünstigt, 
welche zur harnsauren Diathese gehören, da man das Nuclein als 
die Quelle der Harnsäure betrachtet. Es liegt auf der Hand, dass 
solcher Thatsache gegenüber jeder Streit aufhören müsste; denn 
welcher Arzt möchte nicht zur Befreiung von all den beschwerlichen 
und schmerzhaften Leiden beitragen, welche wir in Beziehung zur 
Harnsäure-Diathese bringen. Ja, wenn es nur eine Thatsache wäre! 
Vorläufig ist die ganze Nuclein-Theorie nichts als Hypothese Die 
Harnsäurebildung ist, wie entsprechende Versuche gezeigt haben, 
vegetabilischer oder animalischer Nahrung gegenüber durchaus in- 
different und lässt sich in ihrer Menge durch Diät nicht beeinflussen; 
nur bei Genuss der Thymusdrüse hat sich Vermehrung der Harn- 
säure nachweisen lassen. 

Ferner führt man für den Vegetarismus den Nachteil der 


Fleischdiit an, welche dem Organismus Bandwiirmer, Finnen, 
2 


18 L. Kuttner, 


Trichinen etc. zuführen könne. Dieser Möglichkeit wird durch 
sachgemässeste Untersuchung des Fleisches von Amtswegen entgegen- 
gearbeitet, während dem Vegetarianer gleiche Gefahren durch Mutter- 
korn, Gifte in Pflanzen, Solanin etc. drohen, welche er nur durch 
Sorgfalt und Aufmerksamkeit bekämpfen kann. 

Auch will man behaupten, dass der Fleichgenuss das Nerven- 
system und verschiedene Organe intensiv alteriere. Reizungen des 
Herzens und der Geschlechtsthätigkeit sollen sich ebenso unangenehm 
bemerkbar machen, wie nervöse Dispositionen überhaupt. Man wird 
gewiss nicht in Verlegenheit kommen, für diese Theorie Belege aus 
der Praxis anzuführen; nur dürfte man vergessen, hinzuzufügen, dass 
diese Zustände nicht durch einen normalen, ausreichenden Fleisch- 
genuss, sondern durch ein Übermass, durch eine Schlemmerei herbei- 
geführt sind, welche von Niemandem gebilligt wird, und welche nicht 
nur in Bezug auf Animalien, sondern bezüglich jedes Genusses 
Unzuträglichkeiten im Gefolge haben muss. 

Hieran schliesst sich die Betrachtung der ethischen Gründe, 
welche für Vegetabilien und gegen Animalien angeführt werden. 
In Ergänzung der eben gehörten Behauptung, dass Fleischgenuss 
auf Herz, Sinne und Nerven wirkt, geht man so weit, zu sagen, 
dass animalische Kost die Leidenschaftlichkeit zu einer tierischen 
steigere und Laster und Verbrechen bewirke Wir bedürfen keiner 
Statistik für die Gewissheit, dass gerade in den Kreisen, in welchen 
die Fleischkost am ausgeprägtesten ist, Gesittung und Abscheu vor 
Laster und Verbrechen am meisten angetroffen werden, ja fast Regel 
sind, während die letzteren besonders häufig bei jenen bedauerns- 
werten Gesellschaftsklassen beobachtet werden, welche ebenso auf 
Erziehung, wie auf rationelle Ernährung mit Zuhilfenahme der 
Animalien verzichten müssen. Hueppe giebt in seiner mehrfach 
angeführten Schrift eine kleine Auslese der Hinterlist, Wildheit und 
Verrohung tierischer und menschlicher Pflanzenesser. Er spricht 
als bezeichnend für ihre Lehre von der „Bissigkeit“ der Vegetarianer 
gegenüber den Einwendungen der Wissenschaft und erinnert an die 
Grausamkeit reisessender Piraten in den indo-chinesischen Gewässern, 
an das Kopfschnellen der Dajake auf den Sundainseln, an das Messer- 
Heldentum der Irläuder und an die Rauflust oberbayrischer Holzknechte. 

Man hebt weiter in ethischer Beziehung hervor, dass der 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 19 


Vegetarismus zur Enthaltsamkeit erziehe, während die Fleischdiát 
übermässigg Tafelfreuden, Schwelgereien und überhaupt eine Genuss- 
sucht zeitige, welche den gesamten Organismus arg schádige. Nun, 
dem widersprechen die Thatsachen, die wir alle Tage vor Augen 
haben. In Ruhe und Behaglichkeit essen die Leute ihr Fleisch und 
lassen es sich garnicht in den Sinn kommen, diesem gewohnten 
täglichen Genusse gegenüber irgendwelche Gier oder Übermässigkeit 
zu zeigen. Die geringen Ausnahmen davon können auch hier nur 
die Regel bestätigen; diejenigen, welche hierin unmässig sind, sind 
nicht Schlemmer und Fresser, weil sie Fleischesser sind, sondern 
die Unmässigkeit ist eine Schwäche ihres Charakters, welche sich 
auch dann bethätigt hätte, wenn sie Pflanzenesser gewesen wären. 

Zu derselben Kategorie der Einwürfe gegen animalische Kost 
gehört auch die Fabel von dem Alkohol-Missbrauch bei Fleischdiät, 
welche man zur Hebung der Würde des Vegetarismus erzählt. 
Freilich ist der Alkohol-Genuss, und nicht nur der übermässige, 
sondern sogar schon der reichliche zu verdammen; — was aber hat 
das mit dem Genusse tierischer Speisen zu thun? Es giebt eine 
überaus grosse Anzahl Fleischesser, welche alle Alkoholica ver- 
schmähen und ihre Mahlzeit nur durch ein Glas Wasser würzen, 
während andererseits das vorzugsweise vegetarisch lebende Proletariat 
den meisten Alkohol konsumiert! Der Industrie-Arbeiter Oberschlesiens 
und wieviele andere nehmen am Morgen anstatt des üblichen Kaffees 
ein Stück Brot und ein reichliches Quantum Alkohol in sich auf und 
setzen den Tag über fort, was sie am Morgen begonnen haben. 
Diesen Leuten aber wird niemand einen übermässigen Fleischgenuss 
zum Vorwurf machen. 

Noch führt man für den Vegetarismus die so besonders 
günstige Resorption mancher. Kohlehydrate an, welche im Stande 
sein soll, den Mangel an Eiweissstoffen auszugleichen. Sehr wesent- 
lich für das Verständnis dieser Frage ist der Hinweis Rubner's, 
dass es für die Beurteilung des Nährwertes der verschiedenen 
Nahrungsstoffe notwendig ist, zu berechnen, wie viel von Spann- 
kräften, welche uns die Nahrungsmittel zuführen sollen, ausgenutzt 
wird und wie viel davon verloren geht. Um dies zu illustrieren, 
hat Rubner nach seinen Versuchen einige Näherungsrechnungen 


angestellt; nach diesen wird verloren von 
9t 


20 L. Kuttner, 


100 Cal. bei Reis .. . 2,6°/,, bei Fleisch . 5,5%,, 
bei Milch .. 4,4 „ 
bei Weissbrot 4,5 „ bei Kartoffeln 6,8 „ 

Trotz der günstigen Ausnützung der in diesen Nahrungsmitteln 
enthaltenen Kohlehydrate behält, wie Hoffmann mit Recht her- 
vorhebt, der Einwurf, die Vegetabilien wären schlechter ausnutzbar 
als die Animalien, seine ganze Bedeutung für die Erhaltung des 
Eiweissbestandes. „Es kommt“, führt Hoffmann aus, „nicht nur 
darauf an, eine bestimmte Menge von Kalorien zu erzielen, es ist 
ebenso wichtig, einen gewissen Eiweissbestand zu behaupten. Und 
hier liegt der ungünstige Punkt für den Vegetarier.“ Zweifelsohne 
wird die Leistungsfähigkeit des Menschen, welcher seine Kraft aus 
tierischem Eiweiss schöpft, unvergleichlich grösser sein, als die 
desjenigen, welcher seine Kräfte den Kohlehydraten entnimmt. 

Nach diesen Ausführungen ist es klar, dass der Vegetarismus 
überall dort contraindiciert ist, wo es sich darum handelt, dem 
Organismus neue Kräfte zuzuführen, und dass dem Vegetarismus 
durchaus als solchem das Wort nicht geredet werden kann. In gewissen 
Fällen wird man allerdings eine vegetarische, aber stets nur 
eine lacto-vegetarische Diät mit gutem Erfolge anwenden, ohne 
indessen aus diesem Grunde Vegetarier zu werden und ohne des- 
halb von den früher erörterten Grundsätzen etwas aufzugeben ; aber 
es handelt sich hier nie um Kost für Gesunde, sondern nur um eine ent- 
sprechende Diätetik bei einzelnen Krankheitserscheinungen, welche man 
mit vorübergehendem vegetarischen Regime zu bekämpfen sucht. 

Von verschiedenen Seiten, so auch von Hoffmann, wird als Object 
für vegetarische Diät manche Form von Fettleibigkeit angesehen. 
Diese Empfehlung erscheint auf den ersten Blick vielleicht unver- 
ständlich, wenn wir uns die Zusammensetzung der Diätvorschriften 
in den bekannten Entfettungskuren, wie sie von Harvey-Banting, 
Ebsteinund Oertel angegeben worden sind, vergegenwärtigen. Während 
diese Entfettungsmethoden lediglich eine Einschränkung des Fettes _ 
oder der Kohlehydrate oder beider Nabrungsstoffe zusammen bezwecken 
und einen reichlichen Eiweissgehalt fordern, erscheint es den Ver- 
tretern des vegetarischen Kostregimes zweckmässig, den Fettleibigen 
die Eiweiss- und Fettmenge der Nahrung zu beschränken und ihnen 
ein reichliches Quantum von Kohlehydraten zuzuführen. Zweifelsohne 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 21 


wird es gelingen, durch eine vorzugsweise vegetabilische, möglichst 
fettarme Diät erhebliche Gewichtsverluste zu erzielen und zwar — 
was besonders zu betonen ist — ohne dem Patienten allzu grosse 
Schranken aufzuerlegen. Denn ein wesentlicher Factor für die Durch- 
führung einer Entfettungskur liegt darin, den Hunger zu betäuben 
und eventuellen Schwächegefühlen vorzubeugen, die bei den geringen 
Nährwertssummen, die den Patienten meist geboten werden, zu leicht 
eintreten können. Diesen Forderungen wird die vegetabilische Diät 
mit ihrem hohen Gemüse- und Obstquantum gerecht, das durch sein 
grosses Volumen sättigend wirkt und — was für die Complication 
mit Obstipation besonders wichtig ist — die Darmthätigkeit anregt. 
Mit Rücksicht auf diese letzte Einwirkung ist die vegetabilische Diät 
besonders geeignet bei den an Obstipation leidenden Fettleibigen. 
Voraussetzung für die Verordnung der vegetabilischen Entfettungs- 
kur ist aber natürlich, dass es sich um sonst gesunde Leute handelt, 
welche für genügende Körperbewegung sorgen können. 

So gute Erfolge wir nun auch von der vorübergehenden Ver- 
ordnung vegetabilischer Kost als Unterernährungskur und als Mittel 
zur Beseitigung schädlicher Gewohnheiten bei fettleibigen, essens- 
lustigen Leuten, die früher in übermässiger Weise üppigen Diners 
gehuldigt und im Gebrauch von Genussmitteln excediert haben, 
beobachten konnten, so müssen wir doch voll und ganz dem Mahn- 
rufe v. Noordens!) beistimmen, heranwachsenden, zur Fettsucht 
neigenden jungen Leuten diese Form der Entfettung nicht zu 
empfehlen. Bei diesen ist eine Verminderung des Eiweissbestandes 
durch anhaltende Beschränkung der Eiweisskost ängstlich zu ver- 
meiden. 

Die animalische Nahrung wird, wie erwähnt, einen gesunden und 
normalen Menschen zur Trunksucht oder auch nur zu einem tadelns- 
werten Alkoholgenuss nicht veranlassen; wenn es sich jedoch um 
Heilung der Trunksucht handelt, emptenten wir, vegetabilische Nahrung 
in Betracht zu ziehen. 

Zu den Krankheiten, welche man durch vegetabilische Diät 
zu heilen resp. günstig zu beeinflussen sucht, gehören weiterhin 
einige Magen-Darmaffectionen. Bei nervösen Dyspepsien und 


1) v. Noorden: Die Fettsucht. 


22 L. Kuttner, 


nervósen Darmerscheinungen ist die vegetarische Kur oft von 
glänzendem Erfolg begleitet. 

In der jüngsten Zeit wird von verschiedenen Autoren die Ver- 
abreichung einer vegetabilischen Kost resp. die Bevorzugung der- 
selben bei „Superacidität“ empfohlen. Es würde mich zu weit führen, 
wollte ich hier die Ansichten und die Untersuchungen, welche in 
den vielen Publicationen, die in den letzten Jahren hierüber ver- 
öffentlicht worden sind, einer Kritik unterziehen. Ich muss mich 
darauf beschränken, an dieser Stelle einige allgemeine Gesichtspunkte 
hervorzuheben und das Wichtigste aus meinen Erfahrungen über 
diesen Gegenstand mitzuteilen. Zunächst sei darauf hingewiesen, 
dass es nicht correct ist, wenn man — wie dies oft geschieht — 
die hier in Betracht kommenden Zustände mit dem Ausdruck „Super- 
acidität“ bezeichnet, denn thatsächlich handelt es sich nicht um eine 
gesteigerte Säureabscheidung im allgemeinen, sondern um eine ver- 
mehrte Salzsäureproduktion, um eine Hyperchlorhydrie. Des 
weiteren ist es m. E. unberechtigt, schlechtweg von einer Diät bei 
Hyperchlorhydrie zu sprechen. Dieser Name ist doch nur die Be- 
zeichnung für eine Functionsstörung, für deren Zustandekommen 
wir die verschiedensten Ursachen kennen. Es ist doch sicher ein 
Anderes, und es muss unbedingt in der Diät darauf Rücksicht ge- 
nommen werden, ob die Hyperchlorhydrie mit einem Ulcus, einer 
Atonie oder Ectasie, einer Gastritis (Gastritis acida) oder mit einer 
anderweitigen Erkrankung z. B. mit Chlorose vergesellschaftet ist, 
oder ob dieselbe fiir sich allein besteht. 

Es bedarf wohl erst keiner weiteren Begründung, dass eine über- 
reichliche Amylaceenkost bei Laesionen der Magenschleimhaut, bei 
Störungen der Motilität und bei abnormer Schleimsecretion contra- 
indiciert ist, und es ist wohl klar, dass bei der Behandlung dieser 
Zustände, ebenso wie bei der Therapie der mit Hyperchlorhydrie ver- 
bundenen anderweitigen Erkrankungen in erster Reihe nicht die 
Heilung der gesteigerten Salzsiiuresecretion, sondern die Besserung 
der Grundkrankheit das Massgebende sein muss. Bei Berücksichtigung 
dieser Auffassung ist es einleuchtend, dass wir uns bei unseren augen- 
blicklichen Betrachtungen nur mit der Form von Hyperchlorhydrie 
zu beschäftigen haben, die ohne substantielles Magenleiden und ohne 
jede andere anatomische Erkrankung des Gesamtorganismus besteht. 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 23 


Die Fälle von Hyperchlorhydrie, welche ohne anatomische Grundlage 
zur Beobachtung kommen, sind nach unserer heutigen Auffassung 
entweder Secretionsneurosen, die als Teilerscheinung einer allgemeinen 
Neurasthenie, Hysterie, Melancholie, event. auch auf reflektorischem 
Wege zu entstehen pflegen oder sind die Folge einer abnormen Er- 
regung der Magendrüsen z. B. durch den gewohnheitsmässigen Genuss 
von stark gewürzten Speisen, Eiswasser, stark alkoholischen Getränken 
etc. Die Bedeutung der vegetabilischen Diät auf die Neurasthenie 
und Hysterie werden wir später zu besprechen haben, wir können 
uns deswegen hier gleich der Frage zuwenden, ob die vegetabilische 
Kost für diese mehr selbständigen Formen von Hyperchlorhydrie 
geeignet ist oder nicht. Wie aus den besprochenen Untersuchungen 
Pawlow’s hervorgeht und wie eigene und auderer Autoren an Kranken 
ausgeführte Versuche ergeben haben, ist absolut kein Grund vor- 
handen, bei den genannten Zuständen von Hyperchlorhydrie die 
Eiweissstoffe zu beschränken und eine einseitige Kohlehydraternährung 
zu empfehlen. 

Der Vorzug einer eiweissreichen Kost besteht darin, dass durch 
die Albuminate die Salzsäure gebunden wird, wodurch der Reiz, 
den die freie Salzsäure auf die Magennerven ausübt, abgeschwächt 
wird. Der Einwand, den man hiergegen erhoben hat, dass die 
Eiweisssubstanzen als solche die Saftsecretion in höherem Masse 
anregen als die Kohlehydrate, ist indessen keineswegs erwiesen ; 
jedenfalls glaubt auch Pawlow, bis jetzt keinen einwandsfreien 
Versuch dafür erbringen zu können, dass unter dem Einfluss prolon- 
gierter Regimes stabile Veränderungen der Magendrüsen eintreten, 
und ebenso hat Arthur Meyer!) in seinen erst vor kurzem publizierten 
Versuchen eher eine Erhöhung als eine Herabsetzung der Acidität 
durch eine 15 Tage hindurch verabreichte, eiweissarme Kost fest- 
stellen können. Meine eigenen, nach dieser Richtung hin angestellten 
und bei weitem längere Zeit hindurch fortgesetzten Untersuchungen 
haben ebenfalls eine wesentliche Beeinflussung der Acidität durch 
die Verabreichung der vegetabilischen Kost nicht nachweisen können. 
Dass trotzdem die Pflanzenkost besonders bei nervöser Hyperchlor- 
hydrie gut vertragen wird, soll nicht geleugnet werden, doch legt 


1) Arthur Meyer: Diät und Salzsäuresecretion. Archiv f. Verdauungs- 
krankh. Bd. VI, Heft 3. 


24 L. Kuttner, 


uns gerade diese Erfahrung den Verdacht nahe, dass die Magen- 
beschwerden bei diesen Zuständen von Hyperchlorhydrie überhaupt 
nicht oder nicht allein durch die gesteigerte Salzsäuremenge hervor- 
gerufen werden. Dieser Einwand erscheint um so erklärlicher, wenn 
wir uns daran erinnern, dass auch bei der Parasecretion des Magens 
Besserungen erzielt werden können, obwohl der Magensaftfluss 
weiter besteht. 

Ueberraschende Heilwirkung von der vegetabilischen Diät sieht 
man häufig bei denjenigen Formen der habituellen Obstipation, die 
ihre Entstehung — wie das verhältnismässig oft zu beobachten ist 
— einer einseitig gewählten, reinen Fleischkost verdanken. Infolge 
des reichen Cellulosegehaltes wird die vegetabilische Kost, besonders 
wenn dieselbe, wie gewöhnlich, sehr voluminös ist, die Darmthätigkeit 
anregen; gerade bei der habituellen Stuhlverstopfung feiert die 
vegetabilische Diät häufig die grössten Triumphe, indessen sie aus- 
schliesslich anzuwenden, bringt gewöhnlich so viele Nachteile (ab- 
norme Flatulenz etc.) mit sich, dass wir auch für die Behandlung 
dieser Zustände in Uebereinstimmung mit allen massgebenden Autoren 
und auf Grund eigener Erfahrung nicht die rein vegetarische, sondern die 
gemischte Kost empfehlen müssen. Dass wir bei der Auswahl der 
die Peristaltik anregenden Nahrungsmittel, Speisen und Getränke, auf 
individuelle Verschiedenheiten und auf event. vorhandene Compli- 
cationen mit Magen-Darmerkrankungen etc. Rücksicht nehmen müssen, 
bedarf wohl nicht erst hervorgehoben zu werden. 

Nahezu dieselben Grundsätze der Ernährung, welche wir für 
die Therapie der habituellen Obstipation besprochen haben, kommen 
für die Behandlung der Enteritis membranacea in Frage. Ausgehend 
von der Thatsache, dass die Beseitigung der Obstipation ein Haupt- 
factor für die Heilung der membranösen Enteritis ist, haben wir 
schon seit Jahren den mit dieser Krankheit behafteten Patienten 
eine gemischte Kost mit Bevorzugung der cellulosereichen vegetabili- 
schen Nahrungsmittel verordnet; doch haben wir mit Rücksicht auf 
den abnormen Reizzustand des’Darmes auf eine zu grobe, Schale, 
Kerne, Stengel etc. enthaltende Diät verzichte. Erst auf die 
Empfehlung vonNoorden’s haben wir diese schlackenreiche Ernährung 
bei mehreren Kranken versucht, mussten aber bald wegen Ver- 
schlimmerung der einzelnen Symptome, besondere wegen der Zu- 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 95 


nahme der Schmerzen von der Durchfiihrung derselben Abstand 
nehmen. 

Besonders von den französischen Autoren wird die Vegetarier- 
diät als ideale Ernährungsweise bei der Lebercirrhose gepriesen. 
Auf Grund des bei dieser Krankheit meist vorhandenen, gewöhnlich 
mit Sub- resp. mit Anacidität verbundenen chronischen Magen- 
katarrhs haben solche Kranke in der Regel einen ausgesprochenen 
Widerwillen gegen jede Art von Fleischnahrung und eine grössere 
Neigung zu vegetabilischen Nahrungsmitteln. Eine rein vege- 
tarische Kost ist bei dieser Krankheit undurchführbar; denn es 
müssten, um den Stoffverbrauch auch nur annähernd zu decken, so 
grosse Quantitäten eingeführt werden, dass sich gegen diese der in 
Mitleidenschaft gezogene Magen und Darm der Cirrhotiker bald 
energisch auflehnen würde. Besser lässt sich eine solche Kost- 
ordnung ermöglichen unter Zuhilfenahme von Milch. 

Als geeignetes Feld für die Verordnung der vegetarischen 
Lebensweise empfiehlt Hoffmann weiterhin Neuralgien unbekannter 
Herkunft; Kohlisch!), der sich dieser Empfehlung anschliesst, hält 
es nicht für ausgeschlossen, dass es sich in den Fällen, in denen 
diese Kuren nützen, um Neuralgien auf gichtischer Basis handelt. 
Ich selbst habe mich von der schmerzstillenden Wirkung der vege- 
tabilischen Kost bei Neuralgien zu wiederholten Malen überzeugen 
können und möchte diese Ernährungsart — allerdings auch nur auf 
vorübergehende Zeit — für die auf constitutioneller Grundlage be- 
ruhenden Fälle von Neuralgien empfehlen, wenn die Kranken sich 
vorher zu sehr an eine vorherrschende Fleischdiät gewöhnt haben, 
wenn sie überhaupt unmässig im Essen und Trinken sind oder wenn 
sie an Obstipation leiden, schliesslich für alle die Fälle, die trotz 
Anwendung der bekannten Methoden in längerer Zeit nicht zur 
Heilung oder in kürzeren Intervallen zu immer wiederkehrenden 
Recidiven führen. Voraussetzung für die Durchführung der Kur 
ist natürlich auch hier, dass die Beschaffenheit der Verdauungs- 
organe eine derartige ist, dass dieselben die durch die gesteigerte 
Kohlehydratzufuhr erhöhte Arbeitsleistung zu vollführen im Stande 
sind und dass der Stoff- und Kräftehaushalt der Patienten ein 
guter ist. Von wesentlichster Bedeutung ist es demnach, auch bei 


1) Kohlisch: Lehrbuch der diätetischen Therapie chron. Krankh. 


26 L. Kuttner, 


diesen Zuständen individualisirend vorzugehen. Dasselbe gilt für 
die Behandlung neurasthenischer, hysterischer und epileptischer 
Kranken, denen von vielen Seiten das vegetabilische Kostregime 
dringend empfohlen wird. Auch hier ist nicht schwer zu erkennen, 
wie weit der Vegetarismus brauchbar ist und wo die Grenzen 
seiner Leistungsfähigkeit liegen. „Die vegetarische Kost strenger 
Observanz (Kórner- und Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Gemüse, Salat, 
Obst)“, sagt Jolly!) „wird in der Regel nur während einer 
gewissen Zeit gut vertragen und von den neurasthenischen 
Kranken als erleichternd bei chronischer Obstipation und davon ab- 
hängigem Kopfdruck und anderen Beschwerden angegeben. Es sind 
daher besonders die „Proctophantasmisten“ unter den Hypochondern 
und Hysterischen, welche ihre Anhänger bilden. Bei längerer Durch- 
führung führt aber diese Lebensweise nicht selten infolge von Eiweiss- 
verarmung zu ganz erheblichen Schwächezuständen, welche die be- 
stehende Neurasthenie erheblich verschlimmern.“ Diese letztgenannten 
Schädigungen sind nicht zu befürchten bei denjenigen Vegetariern, 
die neben den Vegetabilien zwar kein Fleisch, aber alle tierischen 
Produkte geniessen, welche, wie Milch, Käse, Butter, Eier ohne 
Schlachten der Tiere gewonnen werden. Dass durch den frugalen 
Charakter dieser Ernährungsweise und durch die Beseitigung des 
Übermasses an Nahrungszufuhr manchem Neurastheniker geholfen 
werden kann und wird, ist unter allen Umständen zuzugestehen, doch 
wäre es verkehrt, auf Grund einiger guter Erfahrungen nun die 
vegetabilische Diät als besonders heilsam gegen jede Form der Neu- 
rasthenie zu empfehlen. 

Besondere Vorteile der rein vegetarischen Diät bei Epilepsie, 
wie sie von einigen Autoren angegeben werden, habe ich trotz 
wiederholter Versuche nie beobachtet.? Jolly hat von der streng 
vegetarischen Diät sogar entschiedene Nachteile gesehen. Dass 
speciell die völlige Beseitigung des Fleisches aus der Kost von 
irgend welchem besonderen Einfluss auf die Häufigkeit der Anfälle 
wäre, ist nach den Erfahrungen Jolly's entschieden zu bestreiten. 
Wir sehen deswegen absolut keinen Grund, epileptischen Kranken 


1) Jolly: Ernährungstherapie bei Nervenkrankheiten. Handbuch der Er- 


nährungstherapie von E. von Leyden. 
?) Zu demselben Resultat kommt H. Schlöss: Über den Einfluss der Nahrung 


auf den Verlauf der Epilepsie. Wiener klin. Woch. 1901, No. 46. 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 27 


den vollständigen Verzicht auf Fleisch anzuraten; andererseits aber 
halten auch wir mit Rücksicht auf das Allgemeinbefinden und 
zwecks Regulierung des Stuhlgangs eine reichliche Zufuhr von Vege- 
tabilien, sowohl von Gemüsen, als auch von Früchten für den Epi- 
leptiker für notwendig. — Gestiitzt auf die Beobachtung, dass die 
Zahl der Pulsschläge bei vegetarischer Lebensweise verringert wird, 
empfieblt Rumpf die Pflanzenkost gegen Zustände abnormer Erreg- 
barkeit des Herzens, wie sie durch Aufregungen, übermässige Körper- 
bewegung, sexuelle Erregungen und Excesse vorkommen. Auch bei 
Morbus Basedowii ist nach den Erfahrungen von Rumpf und von 
Ziemssen und nach eigenen Beobachtungen eine mehr vegetarische 
Kost zu versuchen; contraindiciert dagegen ist dieselbe, wie Rumpf 
mit Recht hervorhebt, bei allen Zuständen von Herzschwäche infolge 
von Arteriosklerose, Myocarditis etc. Ein gewisses Ueberwiegen 
vegetabilischer Diät kommt noch bei den verschiedenen anderen Krank- 
heiten, z. B. bei der nervösen Schlaflosigkeit, bei manchen Fällen von 
Urticaria, bisweilen bei der Scrofulose, bei der Psoriasis etc. in Betracht. 

Wir müssen zugestehen, dass bei uns in Deutschland die Er- 
nährung mit Animalien viel zu sehr in den Vordergrund gestellt 
und die Wichtigkeit der Vegetabilien unterschätzt wird. Man braucht 
kein krasser Vegetarier zu sein, um sich entschieden gegen diese 
weit verbreitete Unsitte zu wenden. Die Nährsalze, die Eisenver- 
bindungen und die grösseren Quantitäten von Fett, welche dem 
Körper durch die Vegetabilien zugeführt werden resp. werden 
können, sind für den Organismus. so unentbehrlich, dass wir auf 
diese Stoffe bei der Ernährung der Kinder und der Erwachsenen, in 
der Kostordnung Gesunder und Kranker die gebührende Rücksicht 
nebmen müssen. Ob infolge der vegetarischen Diät eine frühzeitige 
Verkalkung der Gefässe eintritt, wie das öfters behauptet wurde, ist 
durch einwandsfreie Beobachtungen bisher nicht bestätigt worden. 
Um den günstigsten Erfolg bei der Resorption zu erzielen, ist eine 
verständige Kombination von Animalien und Vegetabilien erforder- 
lich. Für den Gesunden und für die meisten Kranken ist deswegen 
eine gemischte Kost, natürlich in den verschiedenen Abstufungen 
und Zusammensetzungen zu empfehlen. Für die Wahl der richtigen 
Diät wird die Rücksichtnahme auf den jeweiligen Krankenbefund, 
auf Konstitution, Gewohnheiten und Kräftezustand des Individuums 
von ausschlaggebender Bedeutung sein. 


28 L. Kuttner, 


Als Directive für das Arrangement einer zweckmässigen vege- 
tabilischen Diät mag ungefähr folgendes gelten: Bei schwächlichen, 
herabgekommenen Patienten mit alten Katarrhen oder mit Neigung zu 
Atonieen des Magens gehe man nur allmählich zur vegetabilischen 
Kostordnung über und behalte dieselbe nur auf vorübergehende 
Zeit, etwa 6 Wochen, bei. Bei Neurasthenia gastrica und besonders 
bei der habituellen Obstipation mit gutem Kriftebefinden ist ein 
rascheres Vorgehen und eine längere Beibehaltung der vegetabili- 
schen Ernährungsform empfehlenswert. Bei zweckmässiger Zusammen- 
stellung bietet auch der Speisezettel der Vegetarier, wenigstens auf 
eine begrenzte Zeit, genügende Abwechselung, doch darf man dabei auf 
Milch, Eier, Butter, Honig und Käse nicht verzichten; vor der rigorosen 
Verwendung rein vegetarischer Diät muss entschieden gewarnt werden. 

Als passende Anordnung einer lacto-vegetabilischen Diät kann 
folgende betrachtet werden: Des Morgens wird eine Suppe aus Hafermehl, 
eine Tasse süsse Milch oder Cacao, Weiss- oder Schwarzbrot und 
Butter (bei Neigung zur Obstipation event. auch Fruchtgelée, Honig 
oder frisches Obst) gereicht; im Laufe des Vormittags folgt dann 
ein Brei aus Reis, Linsen, Gries etc. event. Milch oder Kefir, Weiss- 
oder Schwarzbrot und Butter; mittags wird eine Leguminosen- oder 
eine Obst- (Aepfel-, Pflaumen-, Erdbeer-, Heidelbeer-, Himbeer-, 
Stachelbeer-, Kirschsuppe) oder eine Gemiise- (Sauerampfer-, Spinat-, 
Wurzel-, Tomaten-, rote Rübensuppe) oder eine Milchsuppe event. 
auch eine Kaltschale von Fruchtsäften, Stachelbeeren mit Pumper- 
nickel und Korinthen, eine Butter- oder Sauermilchkaltschale verab- 
folgt; darauf lässt man reichlich grünes Gemüse nehmen, welches, 
je nach dem Bedürfnis des Einzelfalles, mit wenig oder mit viel 
Butter angerichtet wird und je nach der Beschaffenheit der Ver- 
dauungsorgane in Pureeform und durchgeschlagen oder in gewöhn- 
licher Form zubereitet wird; an Stelle des grünen Gemüses kann 
auch ein Erbsen-, Reis- (event. mit Aepfeln), Linsenbrei, Backobst 
mit Klössen etc. genommen werden; als Nachspeise ist Eier- 
kuchen, Pfannkuchen, Auflaufe, Puddinge etc. zu reichen. Bei 
ausreichendem Appetit kann noch rohes oder gekochtes Obst 
nachgegessen werden. Der Vesperimbiss besteht aus einer reich- 
lichen Portion gekochten oder rohen Obstes mit Weissbrot oder 
Zwieback; ist keine Neigung zur Säurebildung im Magen vor- 


Die vegetabilische Diät und deren Bedeutung als Heilmethode. 29 


handen, ist auch Honig oder Fruchtgelée erlaubt. Dieser kleinen 
Mahlzeit kann ev. eine geringe Menge Milch (*/, L.) oder ein Ge- 
misch von Milch und Sahne folgen. Zum Abendessen wähle man 
wenigstens einige Male in der Woche eine dicke Suppe oder einen 
Brei aus Gerste, Hafer, Reis, Gries, Tapioka etc. mit Milch und Butter, 
dazu Bratkartoffeln, Butter, Käse, an anderen Tagen Eier, Eierspeisen, 
Milch, Dickmilch, Kefir etc. 

Besondere Indicationen für diese Diätform ergeben sich natürlich 
bei den verschiedenen Krankheiten, bei Neigung zur Fettleibigkeit, 
bei starkem Hervortreten gastritischer Beschwerden etc. In allen 
diesen Fällen ist es direct unerlässlich, specialisierte Vorschriften 
über die Qualität und Quantität der Speisen und Getränke zu er- 
lassen. Ich wage es deshalb nicht, Ernährungsschemata aufzustellen; 
Erfolge von dieser Art der diätetischen Behandlung lassen sich nur 
bei strengster Individualisirung erwarten. Leider ist gerade in bezug 
auf Krankenernährung das Gebiet der Diätetik noch nicht genügend 
erforscht, vielmehr bietet sich hier dem Forscher sowie dem gewissen- 
haft beobachtenden Arzt ein Feld ebenso grosser als aussichtsvoller 
Thätigkeit. Der Vegetarismus allerdings glaubt sich berufen, diese 
hochwichtige Frage der Ernährung als abgeschlossen zu betrachten, 
trotzdem die Hilfswissenschaften, Chemie und Physiologie, noch gar 
nicht in der Lage sind, ausreichendes Material zur endgiltigen, wissen- 
schaftlichen Lösung dieses Problems zu liefern. Es soll nicht ge- 
leugnet werden, dass der Gruppe der Vegetarier eine Reihe ernst 
denkender Männer angehört, andererseits macht sich aber gerade 
unter dieser Flagge ein ausgedehntes Kurpfuschertum geltend. 

Diesem Kurpfuschertum erfolgreich gegenüber zu treten, wird 
dem Arzte am besten gelingen, wenn er der Diätetik im allgemeinen 
seine Aufmerksamkeit zuwendet und wenn er im besonderen die 
vegetabilische Ernährungsweise mit dem ihr gebührenden Interesse 
in Betracht zieht. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W. Lützowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 





Februar 1902. Berliner Klinik. Heft 164. 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 
Von 
Dr. H. Strebel, München. 





Wenn wir einen kritischen Blick auf die bisherigen Leistungen 
der jungen Lichttherapie werfen wollen, so ist es unumgänglich not- 
wendig, vorerst ein wenig bei den Hülfsmitteln Umschau zu halten, 
mit welchen die Lichttherapie arbeitet und zwar deswegen, weil eben 
mit verschiedenen Mitteln verschiedene Effekte erreicht werden können 
und weil die schliessliche Beurteilung der Effekte doch innig mit 
dem Modus der Lichtanwendung zusammenhängt. 

Im Vordergrunde der Beachtung stehen heute die Behandlung 
mit Sonnenlicht, die Behandlung mit künstlichen Lichtquellen im 
sogenannten Lichtkasten, die spezielle Lichttherapie nach Fiusen 
und die Behandlung mit Hochspannungslicht. Über keine dieser 
Behandlungsarten sind heute die Akten vollständig geschlossen; am 
meisten wird noch gestritten über die Berechtigung der Einreihung 
der Glühlichtkastenbehandlung in das Gebiet der eigentlichen Licht- 
therapie; wenigstens wird dieser letzteren von Finsen und A. 
die Zugehörigkeit abgesprochen unter der Begründung, es sei der 
Glühlichtkasten lediglich Mittel zur Schweisserzeugung. 

Es ist meines Erachtens dringend nötig, dass in die teilweise 
verwaschenen Begriffe und in die -Terminologie der Lichttherapie 
endlich einige Ordnung kommt und möchte ich unmassgeblichst 
vielleicht Folgendes zu bedenken geben. 

Das „Licht“ ist im letzten Grunde lediglich eine 
rein subjektive Erscheinung, welche nur durch Vermittlung 
unserer Sehnerven in unserem Gehirn erzeugt wird, allerdings ver- 

1 


9 H. Strebel, 


anlasst durch extracerebrale Vorgänge. Das „Licht“ ist eine Erschei- 
nung, welche für jedes Individuum qualitative und quantitative 
Unterschiede aufzuweisen hat, welche also keine objektive, konstante, 
ziffermässige Beurteilung zulässt. In Wirklichkeit existiert in der 
Natur weder Rot noch Gelb noch Blau als „Licht“; denn diese 
Farbenkontraste werden erst in unserem Gehirn erzeugt; Farbe ist 
subjektive Erscheinung, welche sogar pathologischen Verhältnissen 
unterworfen sein kann. In Wirklichkeit haben wir es beim Licht 
(wenn wir die moderne wissenschaftliche Auffassung als Ausgangs- 
punkt acceptieren) lediglich mit Ätherbewegungen zu thun, welche 
von einer Quelle ausgesendet innerhalb bestimmter Zeit bestimmte 
Schwingungsformen und Schwingungszahlen vollführen, die je nach 
ihrer Ari unseren Sehnerven in bestimmtem Sinne reizen, und je 
nach den Differenzen der objektiven Vorgänge geschieht in unserem 
Gehirn die subjektive Deutung der vom Sehnerven gemeldeten Äther- 
telegramme. Die grösseren und langsameren Wellenlängen von etwa 
725 uu empfindet der Normalmensch als Rot, die von etwa 630 als 
Orange, die von etwa 590 als Gelb, die von etwa 560 als Grün, die 
von etwa 510—460 als Blau, die von etwa 460—410 als Violett. 

Je kleiner die Wellenlängen sind, desto grösser ist die Schwin- 
gungszahl, und das Auge empfindet die Häufigkeit der Lichtschwin- 
gungen als Farbe. Die Farbenfolge des Spektrums ist als eine Art 
Lichttonleiter anzusehen, welche vom tiefsten unseren Augen ver- 
nehmbaren Farbenton, dem äussersten Rot, ansteigt bis zum höchsten, 
dem äussersten Violett. Nun aber stehen vor dem äussersten für 
unsere Augen wahrnehmbarem Rot noch Schwingungen, welche zu 
langsam sind, unsere Sehnerven zu reizen, die ultraroten Wellen 
oder die Wärmestrahlen, und ebenso stehen über das Violett hinaus 
die ebenfalls für unser Auge schwer oder gar nicht wahrnehmbaren 
ultravioletten Wellenarten von ganz bestimmtem Charakter. 

Dies ist aber noch nicht genug. Wir wissen durch Langley, 
dass sich das Spektrum über die Grenzen des bisher angenommenen 
Ultrarot hinaus fortsetzt (die Wärme sinkt im Ultrarot auf Null, um 
dann im neuen Spektrum von Langley wieder anzusteigen) und 
dass sich mit Hülfe des Bolometers in dem fast 20 mal längeren 
neuen Spektrum bis an 700 dunkle Linien (relative Kältelinien) nach- 
weisen lassen, eine grössere Zahl also als die der bisher bekannten 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 4 


Frauenhoferschen Linien im sichtbaren Spektrum. Ob diese 
unterhalb des Ultrarot liegenden noch grösseren Wellenlängen der 
Ätherschwingungen lediglich als Wärme aufzufassen sind oder ob 
ihnen noch bestimmte Eigenschaften zukommen, von denen wir jetzt 
noch nichts wissen, bleibe dahingestellt. 

Sehen wir also von diesem Spektrum Langley’s als zu uner- 
forscht ab, so bleiben uns als Wirkungen des „Lichtes“ oder besser 
gesagt, der Ätherbewegungen, die wir voreingenommen wegen der 
uns am meisten sinnenfälligen Eigenschaft als „Licht“ bezeichnen, 
folgende zu beachten: 

Im Ultrarot äussern sich die Ätherwellen hauptsächlich als 
Wärmestrahlen, die unser Hautnerv percipiert, der Sehnerv nicht. 
Im Farbspektrum steigt die Wärme zunächst bis Gelb, um dann 
allmählig in Blau, Violett abzunehmen und um im Ultraviolett ein 
Minimum zu erreichen, das praktisch „kalt“ zu nennen ist (für den 
Wärmemesser aber noch nicht!). Auf die Farbstrahlen reagiert der 
Hautnerv und der Sehnerv, ersterer empfindet Wärme“, letzterer „Licht“ 

Mit der Verkürzung der Wellenlängen tritt eine neue Eigen- 
schaft der Ätherwellen auf, die photochemische Wirkung, welche im 
Ultrarot Null, im Rot, Orange, Gelb schwach ist, im Blau, Violett 
stark wird, um im Ultraviolett ihr Maximum zu erreichen. 

Im Ultraviolettspektrum treten neue objektive Wirkungen auf: 
diese Ätherwellen machen (nach Lenard) durchstrahlte Gase, auch 
die Luft durch Jonisierung elektrisch leitend!), entladen (nach Hall- 
wachs) negativ geladene Metallflächen, üben (nach Lenard und 
Wolf) eine zerstäubende Wirkung auf feste Körper aus und lösen 
im luftleeren Raum Kathodenstrablen aus. Dies sind alles Eigen- 
schaften, welche den ultraroten und den Farbstrahlen nicht zukommen. 

[Als negative Eigenschaft zeigen die ultravioletten Strahlen die 
Eigenart, von den bestrahlten Stoffen mit Ausnahme weniger (Fluss- 
spath, Quarz, destilliertes Wasser, Luft) sehr stark absorbiert zu 
werden, während die Farbstrahlen dies weniger deutlich zeigen.] 


1) Auf die Frage, ob die Erscheinung, dass durch ,,Licht in bestimmten 
Stoffen, z. B. Selen, elektrische Erregungen ausgelöst werden, lediglich auf Ultra- 
violettwirkung zurückzuführen ist oder ob auch die Farbstrahlen mit ihrer che- 
mischen Eigenart und thermoelektrische Verhältnisse mitspielen, will ich hier 
nicht eingehen. 

]* 


4 H. Strebel, 


Von diesem hier gegebenen Standpunkt oder einem ähnlichen, 
welcher sich auf objektive Eigenschaften der Licht-ätherbewegungen 
stützt, muss die Lichttherapie ausgehen, um ein einheitliches Vor- 
gehen und eine objektive Beurteilung möglich zu machen und um 
die verschiedenen Auffassungen, welche sich bisher feindlich gegen- 
überstehen, zu vereinigen. 

So verwirft z. B. Finsen die Behandlung im Glühlichtkasten, 
indem er sagt, dass lediglich die chemischen Strahlen eine Bedeutung 
haben, welche aber im elektrischen Glühlicht (dem bisherigen! denn 
das Nernstlicht und die Osmiumlampe zeigen bessere Verhältnisse!) 
wenig vorhanden seien. Ganz richtig! Aber dem muss entgegen 
gehalten werden, dass wir über die Wirkung der Wellenlängen des 
Rot-Gelb-Grün auf das lebende Gewebe noch gar wenig wissen, dass 
diese Strahlen aber thatsächlich in die Gewebe ein- 
dringen, es durchleuchten, und dass das physiologische Experi- 
ment schon so manche spezifische Lichtwirkung dieser Strahlen ans 
Tageslicht gebracht hat. Finsen hat zwar ein Recht auf Grund 
seiner Erfahrungen zu behaupten, dass hauptsächlich die chemischen 
Strahlen bei der Behandlung des Lupus und sonstiger Dermatitiden 
in Betracht kommen, nicht aber möchte ich behaupten, dass 
die chemischen Strahlen es einzig und allein sind, welche 
Bedeutung für die Lichttherapie besitzen. Ebenso halte ich es nicht 
für gerechtfertigt, die Behandlung im Bogenlicht- oder Glühlichtbad 
als einzig richtige Lichttherapie anzusprechen, wie es auch verfehlt 
ist, die Bedeutung der Lichtbehandlung nur in der Wärme des 
Lichtes zu suchen. 

Man darf auch nicht von Wärme- oder chemischen Strahlen 
allein sprechen, sondern man spricht am besten von lang- 
welligsten Ultraroten, langwelligen und kurzwelligen 
Farbstrahlen und von spezifischen Ultraviolettstrahlen. 
Denn weder fehlt den roten Strahlen alle chemische Fähigkeit, noch 
den chemischen Strahlen alle Wärme, wie sich durch geeignete Ver- 
suche leicht erweisen lässt. Ebensowenig aber dürfen wir die 
chemischen Strahlen als Äquivalent des Ultraviolett setzen, denn 
letzteres besitzt Eigenschaften, welche die blauen und violetten 
Strahlen eben nicht besitzen. Wir haben demnach in der Licht- 
therapie eine Wärmewirkung neben einer chemischen und neben 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 5 


einer Ultraviolettwirkung zu unterscheiden. Praktisch aber tritt meist 
eine Wirkung kombiniert mit einer anderen auf. Und wenn auch 
die Wärmewirkung durch andere Methoden (als feuchte Wärme, 
Dampf, Heissluft, Thermophor .... . ) schon in der Therapie über- 
haupt Verwendung gefunden hat, so wird sie uns dochin der 
Lichttherapie in einer Form geboten, wie von keinem 
anderen Wärmegenerator: als strahlende Wärme, die 
man mit Hülfe der Reflektoren und Linsenkonzentratoren an be- 
liebigen Punkten tief ins Gewebe schicken kann, was bei anderen 
Wärmequellen wohl nicht in diesem Umfange geschieht, da es sich 
meist nur um Leitungswärme handelt. Zudem besitzt die Wärme- 
strahlung des Rot, Orange, Gelb... einen Ätherbewegungs- 
modus, wie ihn die übrigen physikalischen Wärmefaktoren 
nicht besitzen, die sich mit sehr langwelligen Erregungen behelfen 
müssen. Auch die Wärme hat ihre Abstufungen mit ver- 
schiedenen Effekten, von denen wir heute nur erst sehr wenig 
wissen, und falsch dürfte es wohl sein zu sagen: Wärme ist eben 
Wärme. Die Möglichkeit der Wärmedosierung nach Quantität und 
wahrscheinlich auch der Qualität und ihre Direktion nach Breite und 
Tiefe ist also ein Vorteil der Lichttherapie, wenn auch nicht der 
alleinige Faktor derselben. 

Nach Gesagtem wird es sich also empfehlen, von Strahlentherapie 
— Aktinotherapie zu sprechen und folgende Unterscheidungen zu 
machen: Behandlung mit vorwiegender Wärmestrahlung, mit vor- 
wiegender Farbstrahlung, mit vorwiegender Ultraviolettstrahlung. Auch 
die Behandlung mit Röntgenstrahlung!) lässt sich so zwanglos der 
Aktinotherapie im weiteren Sinne einfügen. 

Nach diesen notwendigen Auseinandersetzungen gehe ich nun- 
mehr zur Besprechung der heutigen Hülfsmittel der Lichttherapie über. 

Als mächtigste, natürliche Lichtquelle steht uns die Sonne zur 
Verfügung. Das Sonnenlicht enthält Wärmestrahlen, Farbstrahlen 
und Ultraviolettstrahlen in grössten Mengen. Der photochemische 
Effekt ist ein ganz gewaltiger und übertrifft jede künstliche Licht- 
quelle?) sehr bedeutend. Auf der bestrahlten Haut ruft das Sonnen- 


1) Wozu später noch spezifisches Glimmlicht und Kathodenlichtstrahlung 
kommen mögen! 
2) Mit Ausnahme des Induktionslichtes, des Eisenvoltalichtes! 


6 H. Strebel, 


licht selbst in unkonzentriertem Zustande bei längerer Bestrahlung 
lebhafte Rötung, ja Entzündungen mit Sekretion und Krustenbildung, 
Pigmentierungen in Rot, Gelb und Braun hervor. Das konzentrierte 
Sonnenlicht ruft direkte Verbrennungen mit Gewebszerstörung hervor. 
Wird ihm die Wärme entzogen, so erzeugen auch die restierenden 
Farbstrahlen nebst dem Ultraviolett eine Reizwirkung auf der Haut, 
die bis zur Blasenbildung gehen kann nebst Pigmentierung. Diese 
Incitamentwirkung des Sonnenlichtes geht so weit, dass nicht nur 
isolierte Bakterienkulturen, sondern auch pathogene Bakterien in der 
Haut selbst abgetötet werden. 

Die Verwendung des Sonnenlichtes geschieht im ,Sonnenbad“, 
wobei die Patienten im Freien oder in Glashallen der Wirkung des 
unkonzentrierten Lichtes ausgesetzt werden. Auch das diffuse Tages- 
licht wird zu einfachen Lichtbädern verwendet, wobei allerdings die 
Luft resp. deren Temperatur und Feuchtigkeitsgehalt ebenfalls mit- 
spielen. ` 

Das durch Spiegel oder Linsen konzentrierte und von Wärme- 
strahlen durch Wasserfilter, Pressluft, Strahlenspaltung thunlichst be- 
freite Sonnenlicht dient hauptsächlich zur lokalen Hautbestrahlung 
behufs Erzielung einer Incitamentwirkung oder zur Bakterientötung. 

Das konzentrierte, aber ungekühlte Sonnenlicht dient zu lokalen 
Verbrennungen behufs Entfernung von Geweben ... 

Als künstliche Lichtquelle dient das elektrische Licht, sowohl 
einfaches Glühlicht als Bogenlicht. Das unkonzentrierte elektrische 
Licht kommt zur Verwendung im Glühlicht- oder Bogeulichtkasten, 
in welchem sitzend (Kopf ist frei!) der Patient von ca. 40—60 Glúh- 
lampen oder von 4 Bogenlampen bestrahlt wird. Es giebt auch 
Gliiblampeneinrichtungen, um einzelne Körperteile zu bestrahlen. 
Die Glühlampen liefern hauptsächlich Wärmestrahlen, mässige Farb- 
strahlen, kein Ultraviolett. Deshalb steht auch die Wärmewirkung 
mit Schweissbildung im Vordergrund, die chemische Wirkung ist 
fast Null, die Ultraviolettwirkung fehlt ganz. Von den Farbstrahlen 
wirken hauptsächlich Rot-Orange. Vermutlich wirken dieselben für 
sich specifisch auch nach Abzug der Wärmestrahlen; doch steht der 
wissenschaftliche Beweis noch aus. Die Schweissbildung ist jeden- 
falls ideal. 

Das Bogenlicht enthält ausser Wärmestrahlen starke Farbstrahlung 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 7 


und bedeutende Ultraviolettstrahlung; im Bogenlichtkasten kommen 
alle 3 Strahlenarten zur Geltung: Wärmestrahlung stark, Farbstrahlung 
deutlich aber kaum stärker als im diffusen Tageslicht, Ultraviolett- 
strahlung sehr mässig wegen der starken Absorption des Ultraviolett 
durch Luft und Wasserdampf, Schweissschichten. Als Fehler der 
heutigen Bogenlichtkasten ist zu betrachten die ungünstige Verwertung 
des Bogenlichtes einerseits, die Ansammlung von nicht unbedenklichen 
Gasen im Kasten andererseits, wie z. B. Cyanwasserstoff, Acetylen, 
hauptsächlich aber der Umstand, dass infolge der starken Wärme- 
produktion der Aufenthalt im Kasten, also auch die Dauer der 
Lichtwirkung, nur gegen 20 Minuten betragen kann. 

Das konzentrierte Bogenlicht, geliefert durch Metallreflektoren, 
dient zur lokalen Bestrahlung grösserer Hautflächen mit Wärmestrahlen 
und Farbstrahlen. Mit Hülfe mehrerer Reflektoren kann man auch 
eine ganze Körperseite der Wirkung des konzentrierten Bogenlichts 
aussetzen und zwar stundenlang, also eine allgemeine Belichtung 
erzielen, wie sie das Sonnenbad gestattet, aber doch schwächer als 
dieses in der Wirkung, wenn auch viel besser, als sie der Bogen- 
lichtkasten liefert. 

Das durch ein System von Glaslinsen oder Quarzlinsen konzen- 
trierte Sonnen- oder Bogenlicht kommt speziell bei der Lupus- 
behandlung nach Finsen in Frage. 

Das ungekühlte konzentrierte Sonnenlicht oder Bogenlicht dient 
als Caustikum, wie schon erwähnt, 

Als weitere künstliche Lichtquelle wurde von mir das Hoch- 
spannungsfunkenlicht in die Therapie eingeführt, nachdem ich dessen 
hochgradige, bakterientötende Wirkung erwiesen hatte. Der Hoch- 
spannungsfunke, geliefert vom Induktorium oder Influenzmaschine, 
liefert ein Licht, das nur minimale Mengen von Wärmestrahlen, sehr 
mässige Mengen von Farbstrahlen, dagegen grosse Mengen von 
Ultraviolett besitzt und übertrifft es darin bei geeigneter Ver- 
suchsanordnung selbst das Bogenlicht zwischen Kohlenstäben und 
die Sonne. Das Hochspannungsfunkenlicht wird, in kleinen Kapseln 
erzeugt, durch Spiegel und Quarzlinsen konzentriert, auf beschränkte 
Hautstellen geworfen und zwar in Flächen, welche die Ausdehnung 
des konzentrierten Lichtkegels der Bogenlichtkonzentratoren bedeutend 
übertreffen. Dieses Licht ist heute das einzige, welches in wirk- 


8 H. Strebel, 


samer Menge auch in Körperhöhlen erzeugt werden kann. 
Es ist praktisch „kaltes Licht“ zu nennen und wirkt spezifisch durch 
seinen enormen Gehalt an Ultraviolett. 

Als besondere Modifikation des Hochspannungsfunkenlichtes ist 
die Verwendung der stummen Entladungen zu betrachten, wie sie 
von mir und Le Duc in die Therapie eingeführt wurden. Diese 
Lichtart besitzt gar keine praktisch in Frage kommenden Wärme- 
strahlen, von Farbstrahlen hauptsächlich Violett und grosse Mengen 
von Ultraviolett Es lässt sich auch in Körperhöhlen erzeugen, hat 
aber keine grosse photochemische Leistungsfähigkeit. 

Als Mittelstufe zwischen Voltalicht und Hochspannungsfunken- 
licht ist zu betrachten das Licht des Primärfunkens eines Induktoriums; 
der Unterbrechungsfunke des Wagner’schen Hammers kann in einer 
Lampe erzeugt und durch Linsen konzentriert zur lokalen Bestrahlung 
verwendet werden. Das Licht enthält grössere Mengen von Wärme- 
strahlen (nicht ganz so stark wie das Voltalicht), mittlere Mengen 
von Farbstrahlen (weniger als Voltalicht) und grosse Mengen von 
Ultraviolett (mehr als das Kohlenvoltalicht), so dass es selbst mit 
dem Voltalicht, das zwischen Metallelektroden erzeugt wird, kon- 
kurrieren kann. Nebenbei erwähnt, ist heute die praktische Ver- 
wendung letzterer Lichtquelle möglich geworden durch Verwendung 
von hohlen Metall-, speziell Eisenelektroden, welche mit strömendem 
Wasser gekühlt werden. Herr Bang, Kopenhagen und ich sind, 
unabhängig von einander, zu der Verwendung genannter Konstruktion 
gekommen und ist durch dieselbe eine der gewaltigsten Ultraviolett- 
quellen?!) uns Ärzten zur Verfügung gestellt, welche man bis heute 
kennt, Meine Kapselbestrahler sind so eingerichtet, dass sie sowohl 
dieses Voltalicht zwischen Metallen, als auch Hochspannungsfunken- 
licht liefern können. 

Als weitere Lichtquelle habe ich die Verwendung des elektrischen 
Glimmlichtes in die Therapie eingeführt, speziell zur Behandlung 


1) Eine von mir und der Firma Reiniger, Gebbert € Schall zusammen 
ausgeführte Konstruktion ist mit 2 Lichtbogen und einem Magnaliumreflektor 
ausgestattet, wodurch einmal konzentriertes Licht erhalten wird und zweitens der 
Stromverbrauch durch Vorschaltwiderstand aufgehoben wird. Die Leistung des 
Lichtes der Eisenkühlelektroden wird übrigens durch neue von mir angegebene 
Eisenkohleelektroden um die Hälfte übertroffen. 


Die bisherigen Leisungen der Lichttherapie. 9 


von infektiósen Prozessen der Uretbra, Vagina und Uterus. Es wird 
in luftleeren, sondenähnlichen Glasinstrumenten erzeugt und besitzt 
eine ungeahnte photochemische, wie baktericide Kraft. Derartige 
Lichtquellen haben den Vorzug des kalten Lichtes und können also 
stundenlang zur Ausübung ihrer bakterienfeindlichen Energie liegen 
bleiben. Erst mit Hülfe dieser Höhlenbestrahler (für Funkenlicht 
und Glimmlicht) hat die Lichttherapie eine Erweiterung ihres Feldes 
erhalten, indem alle bisherigen Versuche, das Glúhlicht in Körper- 
höhlen zu verwenden, daran scheiterten, dass demselben die ge- 
forderte baktericide Kraft der chemischen Strahlen abgeht, welche 
das Induktionslicht in reichstem Masse besitzt. Ich habe es übrigens 
durch Verwendung der Fortleitung des Eisenlichtes in massiven 
Hartglasstäben oder durch Linsenconcentration und Prismenreflexion 
erreicht, das chemisch starke Licht der Eisenkühlelektroden eben- 
falls im Uterus und Urethra wirken zu lassen. Über die Wirkungs- 
weise dieses Apparats folgt später Näheres. 

Wir haben nunmehr die allgemeineren Einwirkungen des Lichtes 
zu betrachten, welche vom therapeutischen Gesichtspunkte in Frage 
kommen. Wir untersuchen wohl am besten kurz die Wirkungen 
auf und durch die Haut, Wirkungen in der Tiefe, d. h. im Blut- 
gewebe, Muskeln, Nerven, Wirkungen auf einzelne Organe und 
Organsysteme und Allgemeinresultat der Lichteinwirkung. Wohl zu 
unterscheiden haben wir stets die Wirkung, hervorgerufen haupt- 
sächlich durch Lichtwärme, durch Farbstrahlen, durch ultraviolette 
Strahlen. 

Durch längere Belichtung der Haut lässt sich eine sehr ausge- 
sprochene Erhöhung des Stoffwechsels nachweisen, welche zwischen 
1/,,—1/, des Körpergewichts (bei Tieren) betragen kann, also Zahlen, 
welche die Annahme eines unabsichtlichen Rechenfehlers unmöglich 
machen. Die Zunahme des Sauerstoff-Kohlensäure-Umsatzes durch 
Licht darf als sicher gelten; dagegen ist die Beeinflussung des Stick- 
stoffumsatzes noch nicht einwandfrei konstatiert. Diese Vermehrung 
der Stoffwechselbeträge soll besonders durch Vermittlung der Psyche 
erzeugt werden, auf dem Umwege des Reflexes durch Retina und 
Haut. Ich möchte dieser Annahme doch nicht so ohne Weiteres 
beipflichten; denn die Stoffwechselversuche Quinkes „erlauben den 
Schluss, dass auch in der lebenden tierischen Zelle die Oxydations- 


10 H. Strebel, 


vorgänge durch Belichtung gesteigert werden.“ (Rieder.) Ferner 
geschieht die Stoffwechselerhöhung selbst bei ausgeschnittenem Ge- 
webe, noch nach Abtrennung vom Gehirn. Damit ist wohl zur Ge- 
nüge bewiesen, dass die Vermittlung der Psyche nicht das Haupt- 
moment bildet. 

Die Erhöhung des Allgemeinstoffwechsels ist jedenfalls bedingt 
hauptsächlich durch Erhöhung der Hautatmung. Die Haut wird bei 
einer Lichtkur sehr stark durchleuchtet. Die ultravioletten Strahlen 
dringen durch die Epidermis eben noch hindurch, die Farbstrahlen 
von Blau-Vivlett bis Rot werden erst im Gebiet der cutis und Unter- 
hautzellgewebe absorbiert, Rot dringt nebst Ultrarot sehr tief ins 
Gewebe. Notwendigerweise muss beim Eindringen dieser Strahlen 
eine Umänderung der Wellenbewegung, eine Hemmung auftreten, 
das „Licht“ wandelt sich um in Wärmewellen und vielleicht sogar 
in lange elektrische Wellen. Die durchleuchtete Haut ist transparent 
und leuchtet im schönsten Rot, befindet sich also in einem anderen 
Zustand als im unbelichteten. Dass aber eine solche Lichtdurch- 
schwingung nicht ohne Einfluss auf den Molekularbestand des Ge- 
webes und dessen Funktion bleiben kann, ist sofort verständlich. 
Direkte Beeinflussung des Chemismus und Anregung der Gewebs- 
und Protoplasmafunktion auf dem Wege des Reflexes ist die Folge 
der Bestrahlung. 

Die Haut ist ein ungemein wichtiges Organ für den Stoffwechsel, 
sie erfüllt die Funktion der Nieren und Lungen zugleich und liefert 
für die Elimination giftiger Stoffwechselprodukte den Hauptbeitrag. 
Heute weiss man, dass der Tod nach Ausschaltung der ganzen Haut- 
thätigkeit nicht durch Abkühlung allein erfolgt, sondern durch An- 
sammlung von Autotoxinen. Die 100 Millionen Gefässpapillen der 
ganzen Haut bedeuten eine ungeheure Flächenvergrösserung des 
Blutgefásssystems, für den Gasaustausch bestimmt, zu welchem 
Zweck die Blutgefässe nur feinstes Endothel besitzen. Diese Blut- 
gefässmasse wird mit ihrem Inhalt bei der Belichtung dem Einflusse 
der Strahlung exponiert und ist Gelegenheit geboten, so in kurzer 
Zeit die ganze Blutmasse nach und nach „mit Licht zu triinken“, 
Ausserdem trägt die Haut in den 21/, Millionen Schweissdrüsen, 
resp. in den dieselben umspinnenden Gefässen die Analogie der 
Nierenglomeruli, es wird also die Thätigkeit der Lungen und Nieren 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. | 11 


von der Haut kopiert und kann teilweise durch diese ersetzt werden. 
Durch die Haut werden ausgeschieden Ameisensäure, Essig-, Butter-, 
flüssige Fett-, Caprin-, Capron-, Propionsäure, Schwefelcyanverbin- 
dungen, Skotol, Phenol, Schwefelsäure, Kohlensäure, Harnsäure, Koch- 
salz, Chlorkalium u. s. w., Gase und Mikroorganismen. Wenn man 
nun bedenkt, dass die Haut in ihrer Totalität vom Sonnenlicht, 
elektrischen Bogenlicht hell durchleuchtet und zur Thätigkeit ange- 
regt wird, so ist es einleuchtend, dass der Stoffwechsel der Haut eine 
bedeutende Steigerung des Allgemeinstoffwechsels hervorrufen kann. 

Auch die Stoffwechselerhöhung in der Tiefe wird durch die 
Haut vermittelt, in welcher ja eine Menge sensibler, vasomotorischer, 
trophischer Nervenendigungen liegen, die alle auf dem Reflexwege 
direkt und durch Vermittlung der Psyche ihre Anregungen in die 
Tiefe schicken mögen. 

In der Haut wird die ganze Blutmasse ventiliert und kommt 
demnach auch in toto mit dem Licht in Berührung, was vermutlich 
nicht ohne chemotaktischen Rückeinfluss bleiben wird. Die ver- 
schiedensten Beobachtungen deuten darauf hin, dass thatsächlich eine 
Einwirkung auf das Blut stattfindet. Das Blut selbst absorbiert das 
Licht, besonders aber Violett-Blau in enormer Weise, während Rot 
gut hindurch geht. Erstere Strahlen eben sind es gerade; welche 
photochemisch wirksam sind und ist ohne Weiteres anzunehmen, 
dass als Absorptionseffekt der chemisch wirksamen Farbstrahlen eine 
Beschleunigung des Chemismus der Blutmasse erfolgt. 

Der Körper schützt sich selbst gegen den zu starken Lichtreiz 
durch Pigmentbildung. Das Pigment sitzt in der tiefen Epidermis, 
wo gar keine Nerven mehr sind, es müssen also die pigment- 
liefernden Blutkörperchen direkt durch Licht gereizt 
werden. Die Pigmentbildung hat nun noch den Effekt, dass der 
Blutbahn eine grosse Menge Blutmaterial entzogen wird. Da aber 
die Blutmasse als solche sich auf ihrem Bestand zu erhalten sucht, 
so wird ein Nachersatz von roten Blutkörperchen notwendig. Es 
wirkt also die Lichtpigmentierung im Sinne einer par- 
tiellen Regeneration der Blutsäule. Ferner wissen wir, dass 
die lebenden Knochen von den roten Farbstrahlen ganz gut durch- 
drungen werden. Da nun die Knochen der Sitz eines grossen Teiles 
der blutbildenden Organe sind, so mag die Belichtung auch in diesen 


12 H. Strebel, 


Organen eine gewisse Anregung zur Blutbildung geben. Der Erfolg 
der Belichtung bei Chlorose entspricht dieser Annahme. 

Die Blutkapillaren erfahren durch Belichtung eine Erweiterung, 
die als chronische Hautrötung sich charakterisiert. Starke Bestrahlung 
mit Licht-Wärme und Farbstrahlen führt zu starker Durchblutung 
der Haut, auch der grösseren Gefässe und lässt sich also eine 
vorübergehende Entlastung innerer Organe von Blut erzielen. Nun 
machte allerdings die moderne Anschauung den Einwurf: Wenn so 
die inneren Organe blutleer werden, dann funktionieren sie nicht 
oder schlecht, weil eben das Blut fehlt. Man darf aber nicht ver- 
gessen, dass die künstliche Anämie oder Hyperämie nichts bedeutet 
für die Funktion des Protoplasma, sondern dass im Gegenteil Anämie 
oder Hyperämie abhängen von der Energie der Vorgänge im 
Protoplasma, welche sich aber unserer Beurteilung durch Mikroskop 
und Reagensglas entziehen. Abgesehen aber davon ist die Abfuhr 
einer chronischen Stauungsblutmasse aus inneren Organen durch 
Abströmen in die Haut als eine Erleichterung der Organe aufzufassen, 
die unter Umständen doch wertvoll sein kann. 

Das Gewebe unter der Haut kann durch Licht direkt gereizt 
werden; denn Rot dringt lebhaft durch, aber es mag bei der innigen 
Wechselbeziehung der Haut zu inneren Organen die Beeinflussung 
der Muskeln.... durch reflektorische Vermittlung des Zentralnerven- 
systems erfolgen. 

Der Nerventonus wird durch Licht erhöht, desgleichen der des 
ganzen Nervensystems. 

Das Wachstum der Epidermis und der epidermoidalen Gebilde 
als Haare, Nägel wird durch Licht deutlich erhöht. 

Die Folge der allgemeinen Belichtung ist eine Erhöhung der 
Körpertemperatur durch Stauungswärme. Im Sonnenbad beträgt sie 
manchmal bis 40° C., im Glühlichtbad weniger, letzteren Falles 
meist nur bei Leuten sich zeigend, welche schlecht oder gar nicht 
schwitzen. (Auch im einfachen Licht-Luftbad tritt eine leichte 
Temperaturerhöhung um einige Zehntel rasch ein.) Ob es sich hier 
lediglich um Stauungswärme oder um physiologisches Fieber handelt, 
darüber sind wohl die Akten noch nicht geschlossen. 

Das Licht bewirkt meist Schweissausbruch, beim Bogenlichtbad 
z. B. schon bei 20° Zimmertemperatur. Das eindringende Licht 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 13 


reizt also anscheinend direkt die Schweissdriisen zur Sekretion; 
möglich ist aber auch, dass sich das Licht beim Eindringen in lang- 
wellige Wärmestrahlen eventuell auch elektrische Strahlen umsetzt, 
welche die Ausscheidung des Schweisses befördern. Im Glühlichtbad 
und Sonnenbad ist die Schweissbildung ganz enorm. Zugleich mit 
dem Schweiss werden Bakterien, Säuren, Ptomaine, Zucker aus- 
geschieden und dadurch Heilwirkungen erzielt. 

Schon beim einfachen Licht-Luftbad erfahren Herzthätigkeit und 
Atmung infolge Reflexwirkung von den Hautnerven her eine deutliche 
Anregung. Noch stärker wird diese Einwirkung im Sonnenbad, wo- 
selbst die Blutdruck-, Herz- und Blutgefiissverhaltnisse unter Um- 
ständen durch die vereinte Wirkung der Licht-Wärme eine solche 
Perturbation erfahren können, dass bei manchen Kranken Schwindel, 
Ohnmacht, Aufregung, Kopfschmerz, Abspannung u. s. w. auftreten. 

Im Glühlichtbad ist die Steigerung der Herzthätigkeit ganz ab- 
hängig von der Kastenwärme und bei sehr hohen Temperaturen von 
56—65° ist dieselbe sogar eine ganz bedeutende. Es bestehen da 
individuelle Grenzen und der eine spürt gar nichts Unangenehmes 
von der vermehrten Herzaktion, der andere fühlt sich unbehaglich. 
Es tritt im Glühlichtbad eine sehr starke, im Bogenlichtbad scheinbar 
eine weniger starke Erweiterung des Herzens ein, die auch durch 
alle herzkontrahierend wirkenden Mittel: Massage, kalte Bäder, 
Douche u. s. w. nicht sogleich vollständig zurückgeht und die häufig, 
wenn auch in vermindertem Grade, erst in 36 Stunden etwa zur 
Norm zurückgeht. Also so ganz harmlos sind diese Schwitzprozeduren 
nicht, wenn auch das subjektive Empfinden diesen Umstand nicht 
registriert. 

Der Puls kann im Lichtschwitzbad bis 160 steigen. Bei hohen 
Kastentemperaturen kann Kopfschmerz, Herzklopfen, Schwindel, Er- 
brechen .... auftreten. Doch tritt allmählich eine Angewöhnung 
an die Hitze ein und zeigen sich diese Symptome dann nicht mehr. 
Blutdruck und Respiration erfahren nur mässige Steigerung. Im All- 
gemeinen ist das Glühlicht- oder Bogenlichtschwitzbad eine sehr 
angenehme Schwitzprozedur, die ohne Schaden selbst bei Leuten 
mit Herzaffektionen, natürlich unter ärztlicher Kontrolle, vorgenommen 
werden kann, wenn man die Temperatur zwischen 45—54° C. hält. 
Höhere Temperatur verwerfe ich prinzipiell. 


14 H. Strebel, 


Das Licht, d. h. die photochemischen Farbstrahlen und Ultraviolett 
wirken stark bakterientótend auf kiinstliche Bakterienkulturen aller 
Art. Sobald jedoch vor die Kultur ein strahlenabsorbierendes 
Medium eingeschoben wird, z. B. Hornplatten, ausgeschnittene Haut- 
stücke, Eibáutchen . . ., so wird sofort die bakterientötende Wirkung 
so bedeutend herabgesetzt, dass selbst nach einstündiger Bestrahlung 
mit intensiven Ultravialettquellen nur noch eine Entwicklungshemmung 
der Bakterien zu verzeichnen ist. Dies kommt daher, dass das 
Ultraviolett schon in den dünnsten Epidermisschichten von deu 
Wellenlängen von 320 uu ab total absorbiert wird (Freund, 
Strebel). Es tritt deshalb die Frage in den Vordergrund, ob bei 
der Lupusheilung nicht viel mehr die durch spezifisches Licht erzeugte 
typische Lichtentzündung auf die Vernichtung der Bakterien hinwirkt 
als die direkte baktericide Wirkung des Lichtes, welche offenbar 
durch die Absorption sehr reduziert wird. Jedenfalls aber unter- 
scheidet sich die typische Lichtentzündung der Haut ganz wesentlich 
von einer kaustischen Entzündung, indem letztere sofort mit dem 
Wärmeeffekt auftritt, erstere aber erst nach Stunden. Deshalb kann 
man die Effekte der Lichtbehandlung bei Lupus auch nicht durch 
Wärmewirkung allein erklären. Übrigens halte ich die Frage der 
Abtötung durch Licht in tieferen Schichten durchaus nicht für ab- 
geschlossen; die bisherigen Versuche erwiesen nur die ungenügende 
Wirkung des Lichtes bei verhältnismässig kurzer Bestrahlungszeit. 
Man denke daran, dass Fiusen bei der Lupusheilung dieselbe Stelle 
viele Stunden behandeln muss, um Effekt zu erhalten. Mit der Dauer 
und Steigerung der Belichtung mag sich vielleicht der baktericide 
Effekt des Lichtes durch Medien hindurch doch noch erweisen lassen. 
Ich bin aber überzeugt, dass dann wieder die blauen und violetten 
Strahlen mehr zum Recht kommen müssen, als dies bei der Bevor- 
zugung von Ultraviolett der Fall ist. 

Die theoretischen Folgerungen, welche sich aus den durch das 
physiologische Experiment erhaltenen Resultaten ziehen lassen, sind 
also folgende: Die Haut kann, durch Licht angeregt, die Stelle der 
Lunge und Niere bis zu einem gewissen Grad vertreten. — Ableitung 
der Blutsäule durch Lichtreizung in die gefässreiche Haut bedeutet 
Entlastung innerer Organe (Lunge, Leber, Herz, Blutdruck). — Er- 
höhung des Stoffwechselumsatzes durch die Haut, bezüglich Ver- 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 15 


mehrung der Sauerstoffaufnahme und Kohlensäureabgabe. — Ventilation 
der Säftemasse durch Erhöhung des Chemismus durch direkten 
photochemischen Anstoss, vollständigere Verbrennung restierender Stoff- 
wechselprodukte. — Tonisierung der tieferen Zellen durch direkten 
Lichtreiz ohne und mit Vermittlung des Centralnervensystems, 
Steigerung der Erregbarkeit des Nervensystems. — Erhöhte Wund- 
heilung mit Einlagerung mehr homogenen Gewebes statt heterogenen 
Narbengewebes. — Erhöhung der Körpertemperaturen im Sonnenbad 
bedeutet „physiologisches Fieber“ (?). — Antipyretischer Wert des 
Lichtes bei bestehendem Fieber durch Ableitung der Blutmasse in 
. die Haut von den inneren Organen und Muskeln weg, welche ja der 
Hauptsitz der Fieberverbrennung sind. — Erzeugung von Schweiss, 
Entwässerung der Gewebe, Ansteigen des spezifischen Körpergewichts, 
Elimination von Arzneistoffen, Mikroben. — Erhöhung des Hämoglobin- 
gehaltes des Blutes und partielle Regeneration der Blutsäule durch 
Abgabe von Blutmaterial zur Pigmentbildung. — Erzeugung einer 
typischen Entzündung auf der Haut oder Schleimhaut zur Einleitung 
des Restitutionsprozesses bei bestehender Entzündung, eventuell in 
Verbindung mit baktericider Wirkung. — Bekämpfung pathogener 
Infektion. — Als schmerzstillendes Mittel vielfach verwendbar. 

Untersuchen wir nunmehr, in wie weit diese aus dem physio- 
logischen Experiment hervorgehenden therapeutischen Gesichtspunkte 
sich praktisch verwerten lassen und welchen Erfolg wir thatsächlich 
erzielen können. 

Aus der Gruppe der Stoffwechselkrankheiten betrachte 
ich zunächst meine Erfahrungen beim Diabetes mellitus. Die Er- 
fahrung, dass das Licht als solches direkt und durch seinen Gehalt 
an Wärmestrahlen indirekt unter Vermittelung der Schweissbildung 
den Stoffwechsel beeinflussen kann, führt uns sofort zum Versuch 
der Anwendung von Licht-Wärmebehandlung beim Diabetiker. Es 
giebt nun nach meiner Erfahrung einzelne Fälle, deren Zucker- 
gehalt durch Lichttherapie allein günstig beeinflusst wird. Die 
ersten Fälle, die ich mit Licht behandelte, waren solche. Später aber 
musste ich leider erfahren, dass die meisten Fälle auf Licht allein 
nicht reagieren. In einem Falle gab ich 18 Lichtschwitzbäder, und 
der Zucker blieb ohne bedeutende Schwankung auf 3,5°/, stehen. 
Der Einfluss des Lichtes allein auf die erhoffte vermehrte Zucker- 


16 | H. Strebel, 


verbrennung scheint mir deshalb mehr als fraglich geworden zu sein; 
wenigstens muss ich heute, entgegen meiner früheren, durch un- 
genügende Erfahrung bedingten Anschauung, dies konstatieren. Weder 
der Lichtschwitzkasten noch das Sonnenbad für sich allein an- 
gewendet, ohne alle Medikamente und ohne Diät, vermag sicher 
jeden Fall von Diabetes zu beeinflussen. Einzelne Fälle finden sich 
wohl, welche eine Verminderung des Zuckergehaltes zeigen, ob aber 
hier nicht auch die Regelung der äusseren Verhältnisse, die Körper- 
bewegung, mitspielte, scheint mir nicht ausgeschlossen. In einem 
Falle erzielte ich mit Obstdiät (gegen meine Verordnung!) und 
- Sonnenbädern innerhalb drei Wochen den Erfolg, dass der Zucker 
von 2°/, auf 5°/, anstieg. Die nüchterne Beurtheilung lässt also 
den direkten Einfluss des Photochemismus allein auf den Stoffwechsel 
der Haut als sehr zweifelhaft erscheinen. Werden dagegen neben 
Lichtbehandlung noch Massage, aktive Bewegung, Diät verwendet, 
so ist der Effekt fraglos besser, als wenn letztere Faktoren allein 
zur Anwendung kommen. Sicherlich wird die Hautfunktion des 
Diabetikers durch Lichtbehandlung gehoben und kann die Normal- 
ausscheidung dadurch befördert werden: aber die eigentliche Zucker- 
verbrennung geschieht vermutlich in der Tiefe des Körpers, nicht in 
der Haut. Da nun die Thatsache festzustehen scheint, dass immer- 
hin einzelne Diabetesfälle durch Lichtschwitztherapie und Sonnen- 
bäder allein zuckerfrei gemacht werden können, so ist in jedem 
Falle die Lichttherapie des Diabetes als empfehlenswert zu ver- 
suchen. Das aber muss noch konstatiert werden, dass Diabetes 
als solcher durch vorübergehende Lichtbehandlung nicht beeinflusst 
wird, sondern dass nach Sistierung der Behandlung der Zuckergehalt 
wieder ansteigt, ausser in Fällen, wo es sich um vorübergehende 
Glykosurie gehandelt haben mag. 

Die Fettleibigkeit bietet ein sehr dankbares Feld für die 
Lichtbehandlung. Es zeigt sich hier sowohl die direkte Lichtwirkung 
im Sonnenbad, Lichtluftbad, im offenen Bogenlicht als auch die in- 
direkte Einwirkung durch Schweissbildung im Glühlicht- und Bogen- 
lichtkasten von deutlichem Einfluss auf den Stoffwechsel insofern, als 
deutliche Entfettung stets zu konstatieren ist, sobald man nur einige 
durchaus nicht rigorose Diätvorschriften zugleich verordnet. Übrigens 
finden sich neben Fällen, die sich durch Lichtschwitztherapie allein 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 17 


langsam aber deutlich entfetten lassen, auch solche, welche auf 
Schweissbildung allein nicht oder nur minimal reagieren, allerdings 
meist nur bei Leuten, welche entweder gar nicht schwitzen oder nur 
sehr wenig oder welche zwar lebhaft schwitzen, aber sich im Essen 
und Trinken gar keinen Zwang anthun. Ganz natürlich: die übliche 
Wirkung einer Lichtschwitzbehandlung ist lebhafter Appetit und 
Durst, und wenn man besonders letzterem nachgiebt, dann saugt der 
Körper das gebotene Wasser wie ein Schwamm wieder auf. Die 
Abnahme im einzelnen Schwitzbad beträgt zwischen 200—1200 und 
mehr Gramm, vorausgesetzt, dass überhaupt Schweissbildung auf- 
tritt, was in nicht gar seltenen Fällen auch vorkommt. Das ver- 
lorene Gewicht ersetzt sich bis zum nächsten Lichtbad fast ganz 
wieder — einzelne Fälle ausgenommen —, wenn nicht zugleich 
Diät eingehalten wird. Sehr unangenehm sind die Fälle mit unge- 
nügender Schweissbildung, weil infolge der hohen Temperatur im 
Lichtkasten und ungenügender Abdünstung unangenehme Zustände 
beim Behandelten auftreten können, selbst bis zu Ohnmacht, Er- 
brechen u. s. w. Auch der Bogenlichtkasten bietet da nicht viel 
Schutz. Wenn es nicht gelingt, die Leute in 2—3—5 Sitzungen zum 
Schwitzen zu bringen, soll man am besten die Behandlung ein- 
stellen, da doch nichts herauskommt als Unangenehmes für Arzt 
und Patient. Ist dagegen die Schweissbildung eine gute, so kann 
man in Verbindung mit Diät, prolongierte Sonnen - Lichtbider, 
Gymnastik sehr schöne Erfolge erzielen. Als Regel habe ich mir 
gestellt, wöchentlich nie mehr als zwei höchstens drei Bäder im 
Glühlichtkasten zu gestatten, weil bei forcierter Behandlung doch 
leicht Nasenbluten, Herzbeklemmung, Mattigkeit auftreten können, 
auch wenn während der Behandlung selbst das Befinden gut blieb. 
Neurasthenische Fettleibige sind stets ein undankbares Behandlungs- 
objekt auch im Bogenlichtkasten, selbst wenn man die Temperaturen 
nicht über 46° C. steigen lässt, wie ich stets streng anordne. Ich 
schicke solche Leute meist ins Sonnenlichtbad mit geringerer Schweiss- 
wirkung und komme auch so, obwohl langsamer, zum Ziel. 

Was die chronischen rheumatischen und gichtischen 
Affektionen anlangt, so stehe ich heute auf dem Standpunkte, 
dass der Lichtschwitztherapie eine spezifische sichere Wirkung be- 


züglich genannter Zustände nicht zukommt und dass diese Art der 
2 


18 H. Strebel, 


Schwitzbehandlung’ den anderen bisherigen Schwitzmethoden nicht 
in jedem Falle deutlich überlegen ist. Ich habe ja schöne Erfolge 
zu verzeichnen, kann dieselben aber nicht ausschliesslich auf die 
Schwitztherapie allein zurückführen, indem ich, durch die Erfahrung 
belehrt, öfters zur Hand-Vibrationsmassage, Injektionsbehandlung ge- 
griffen habe. Ich stelle ja nicht in Abrede, dass ich auch manch- 
mal durch Schwitzbehandlung allein günstige Erfolge gehabt habe, 
aber ich musste mich bescheiden, diesen Erfolg als inkonstant zu 
betrachten. Und so im Allgemeinen zu behaupten, die Methode 
bringe in jedem Falle Vorteil, wäre nach meiner Erfahrung Über- 
treibung. Es kann vorkommen, dass bei frischen Fällen von Rheu- 
matismus und Gicht ganz heftige Schmerzanfälle ausgelöst werden. 
Speziell gilt dies für ausgesprochene harnsaure Diathese. Durch die 
Schweissproduktion vermindert sich die Urinsekretion, und da be- 
kanntlich der künstliche Schweiss wenig Säuren enthält, steigt natür- 
lich die Sáurekonzentration des Harns. Dass man aber damit ein 
Recht hat, anzunehmen, es werde mehr Harnsäure ausgeschieden, 
bestreite ich. Dass nun durch eine derartige Säurekonzentration 
der Gewebssäfte gerade bei harnsaurer Diathese kein Vorteil ge- 
bracht wird, versteht sich ohne Weiteres. Deshalb behandle ich 
auch nur chronische Fälle mit Lichtschwitzbehandlung und lasse die 
im akuten Stadium befindlichen lieber mit anderen Mitteln be- 
kämpfen. Dass nun auch Fälle vorkommen, die in überraschend 
günstiger Weise auf Schwitzbehandlung und lokale Bestrahlung 
reagieren, weiss ich wohl, kann aber deshalb doch nicht in 
jedem Falle darauf rechnen und bin ich nicht berechtigt, auf 
Grund einzelner Paradefälle auf die Lichtheilmethode als allein 
seligmachende zu schwören. Jeder Fall ist anders gelagert und 
kann man Freude und Enttäuschung genug erleben. Von einem 
Beweglichwerden steifer Gelenke unter dem Einflusse der Behand- 
lung habe ich in 3 Fällen von Arthritis deformans (in 1 Falle 
wurden 35 Glühlichtsitzungen und entsprechende lokale Bestrahlungen 
vorgenommen!) nichts bemerken können. Subjektive Erleichterung 
findet sich ja oft, objektive Besserung aber wenig. Ich will auch 
die Beobachtung anderer Ärzte absolut nicht in Frage stellen und 
gebe zu, dass einzelne Fälle von Arthritis deformans sich be- 
deutend bessern lassen mögen. Die Regel scheint es aber nicht zu sein. 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 19 


Wenn ich die Lichtbehandlung anderen Schwitzmethoden vor- 
ziehe, so geschieht dies nur wegen der reinlichen, nahezu prompten, 
unschädlichen Erzielung des Schweisses. Im Übrigen halte ich es 
für richtiger, soweit das angeht, Rheumatiker und Gichtiker im 
Sonnenschwitzbad zu behandeln und ausserdem die erkrankten Teile 
für sich täglich mehrere Stunden intensiv von der Sonne bestrahlen 
zu lassen. Ich habe so selbst in alten Fällen bescheidene, aber 
immerhin von den Patienten geschätzte Erfolge erzielen können. 
Selbstredend greife ich im Notfalle zur künstlichen Bestrahlung. 
Trotz der durch die Lichtwärmewirkung und durch Lichtwirkung im 
Sonnenbad als sicher erzeugt anzunehmenden Stoffwechselerhöhung 
habe ich von einer prinzipiellen Änderung der harnsauren Diathese 
zum Guten bis heute nichts oder nicht viel bemerken können, ver- 
mutlich weil eben durch die Belichtung und Erhöhung des Stoff- 
wechsels die eigentliche Ursache der Stoffwechselanomalie nicht be- 
einflusst wird. Ich kann mir von einer nachhaltigen Erhöhung des 
Stoffwechsels durch eine 20 Minuten dauernde Belichtung, und sei 
es selbst mit photochemisch wirksamem Licht, keine Vorstellung 
machen und glaube, dass die gewünschte Wirkung, wenn überhaupt, 
erst bei einem konstanten oder doch sehr langen Aufenthalt im Licht 
eintreten wird. Derartige Experimente stehen noch aus. — Wenn 
sich uns also auch die Licht-Lichtwärmebehandlung der Gicht und 
des Rheumatismus als sichtlich nützlich häufig erwiesen hat, so hat 
uns diese Behandlungsmethode eine hervorragende und vor allen 
Dingen sichere Hilfe bis jetzt noch nicht gebracht. Möglich ist 
ja, dass bessere Methoden bessere Resultate geben werden. 

Eine weitere Anwendung und zwar eine oft erfolgreiche gestattet 
die Lichtbehandlung bei Insuffizienzerscheinungen des 
Blutkörpers in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Sowohl 
die Zahl der Blutkörperchen als auch der Gehalt an Blutfarbstoff 
scheint bei längerer konsequenter Dauerbehandlung im 
Sonnenlicht und diffusen Tageslicht zu steigen. Die Pigmentierung 
halte ich dabei für wichtig aus schon früher erwogenen Gründen. 
Möglich, dass auch die Belichtung der Blutorgane im Knocheninnern 
eine Rolle bei der Besserung spielt, neben der Anregung des Stoff- 
wechsels, der Erhöhung des Appetits, der lebhaften Atmung und 


der grossen Muskelaktion bei Bethätigung gymnastischer Vorschriften 
9# 


20 H. Strebel, 


und neben der Beseitigung bestehender Unterleibsstauungen. Das 
Bogenlichtbad ist, wenn es gelingt, die Temperatur niederzuhalten 
und so starken Schweiss zu vermeiden, ein anerkennenswerter Ersatz 
für die Sonne, aber doch kein idealer. Chlorose, anämische Rekon- 
valescenzzustände, Skrofulose u. s. w. zeigen meist deutliche Besserung 
durch Zunahme des Gewichts, Schwinden der Mattigkeit, Besserung 
des Teint und Hebung des subjektiven Gefühls .... Die Schwitz- 
behandlung halte ich mit wenig Ausnahmen für nicht angezeigt, 
weil dieselbe unter Umständen das Gegenteil erzeugt, nämlich 
Abmagerung, Appetitlosigkeit, Mattigkeit. Im Schwitzbad ‘selbst stellt 
sich oft Neigung zum Schlaf, Herzklopfen, Aufregung ein. Der 
Erfolg durch Schwitzbehandlung scheint mir nicht so auffallend, so 
dass man besser den Patienten mit Sonnenlicht behandelt, wobei 
man allerdings nur unter Dauerlichtbehandlung sehr schöne Erfolge 
erhält. Kachektische Zustände natürlich bleiben auch hier ohne 
wertvolles Resultat: Speziell erfahren auch alte chronische Fälle von 
schwerer Anämie, die vielleicht mit Magenleiden u. s. w. kombiniert 
sind, keine dauernde und grossartige Besserung. Frische Chlorose 
reagiert meist gut. Von Eisen habe ich bei meinem Erfolge nie 
Gebrauch gemacht, annehmend, dass der gesteigerte Stoffwechsel sich 
seinen Eisenbedarf aus der Nahrung selbst besorgen werde. 

Was die akuten, einfachen katarrhalischen Zustände der 
Bronchien anlangt, so zeigt sich die Behandlung mit Lichtbad 
und Anwendung intensiver lokaler Bestrahlung äusserst wohlthuend 
sowohl bezüglich Behebung der subjektiven Beschwerden als auch 
der Dauer der Erkrankung. Nasenkatarrhe lassen sich häufig durch 
Lichtschwitzbehandlung coupieren, doch kommen auch Fehlversuche 
genug vor. Licht ohne strahlende Wärme hat anscheinend keinen 
Einfluss und trifft der Löwenanteil etwaiger Erfolge sicher die Wärme. 
Chronische Katarrhe der Bronchien erfahren nach meiner Erfahrung 
wenig objektive Besserung, wenn nicht andere medikamentöse und 
physikalische Mittel zugleich angewendet werden. Dagegen reagierten 
bei mir chronische Nasenkatarrhe unter mässiger Schwitzkur und 
ausgiebiger Behandlung im Sonnenlicht und diffusen Tageslicht meist 
gut. Der Katarrh der Emphysematiker mit seinen subjektiven Be- 
schwerden ist ein dankbares Feld der Behandlung im Lichtschwitz- 
kasten und im Sonnenschwitzbad, doch sah ich Heilungen selbst nie, 


t 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 21 


wenn auch Besserungen. Ich füge übrigens noch bei, dass manche 
Menschen im Anschluss an die Prozedur im Schwitzkasten trotz 
peinlichster Abkühlung und Sorge häufig mit Nasenkatarrhen ant- 
worten, dass also trotz aller Vorkehrungen „Erkältungen“ auftreten 
analog wie bei jeder anderen Schwitzbehandlung. 

Bezüglich der Erfolge dər Lichttherapie bei chronischen 
Nierenleiden kann ich mich dahin fassen: Da eine direkte 
Beeinflussung der Nierensubstanz schon aus theoretischen Er- 
wägungen ausgeschlossen erscheint, so kommt für uns hauptsächlich 
der Gesichtspunkt in Frage, den Körper thunlichst zu entwässern 
und durch Schwitzprozeduren und Anregung des Stoffwechsels für 
thunlichste Körperdrainierung zu sorgen. Dies geschieht einerseits 
in schönster Weise durch Behandlung im Glühlichtkasten, Bogenlicht- 
kasten, Sonnenschwitzbad, andererseits durch ausgiebige Dauer- 
belichtung im Sonnenlicht, Licht-Luftbad ohne Schweisswirkung. 
Dass sich Nephritiker bei der Lichtbehandlung sehr wohl fühlen, ist 
fraglos; einen deutlichen ständigen Rückgang des Eiweissgehaltes 
bei ausgesprochener chronischer Nephritis habe ich niemals konstatieren 
können, ausser wenn es sich um frischere Fälle handelte, die dann 
aber wabrscheinlich von selbst zum Abheilen neigten. Ich habe 
absichtlich ältere Nierenfälle mit Licht allein behandelt und zwar 
lange Zeit ohne jede Schwankung der Eiweisskurven. Vorübergehende 
Albuminurie resp. Erfolge der Lichtbehandlung bei dieser bilden 
keine Stichprobe auf die Leistung der Methode. Der Nierenprozess 
an sich wird also durch Lichtbehandlung nicht beeinflusst, ausser 
insofern, als durch die Besserung der Gewebsverbrennungen und 
durch die Hautarbeit eine partielle Abhaltung chemischer und 
mechanischer Insulte erzielt wird. Dagegen gelang es mir öfters, die 
darniederliegende Ernährung und die damit verbundenen Symptome, 
Mattigkeit, psychische Depression, schlechtes Aussehen u. s. w. durch 
die forcierte Dauerbehandlung im Sonnenlicht mit mässigen Schwitz- 
prozeduren, Massage u. s. w. zu beheben. 

Ähnlich wie bei den Nierenleiden wirkt die Licht-Lichtwärme- 
behandlung bei den chronischen Herzleiden. Auch Rieder 
bestätigt diesen günstigen Effekt bei Herzhypertrophie, Fettherz, 
kardialem Hydrops, indem durch die mit der Schwitztherapie ver- 
bundene Entwässerung eine Entlastung des Herzens eintritt. Als 


99 H. Strebel, 


häufigstes Objekt behandelte ich das Fettherz, und ich muss sagen, 
dass ich durchwegs mit wenigen Ausnahmen mit den Erfolgen der 
Glühlichtkastentherapie zufrieden war, wenn diese Methode überhaupt 
am Platze war. Herzneurosen, angioneurotische Zustände, Congestionen 
zum Kopf dürfen nach meiner Erfahrung nur mit grosser Vorsicht 
im Lichtkasten behandelt werden, weil sich durch Schweissprozeduren 
mit starker Wärmeerzeugung die Symptome meist nur verschlimmern; 
wohl aber eignen sie sich für eine milde Behandlung im Sonnen- 
licht, diffusem Tageslicht. Herzkranke Neurastheniker passen nicht 
ins Schwitzbad resp. nur ins Sonnenbad, und selbst da muss Vorsicht 
geübt werden. Ödeme infolge von Herzleiden sind, wenn das Herz 
noch genügende Energie besitzt, ein günstiges Behandlungsobjekt 
fürden Bogenlichtkasten, für den Teilschwitzkasten, Glühlichtliegekasten 
mit mässiger Temperatur. Doch setzt man besser mit allen Ver- 
suchen aus, wenn der Patient nicht leicht und schnell in Schweiss 
gerät. Ascites infolge Pfortaderstauung wird keine Besserung er- 
fahren, wenn nicht die Stauung selbst thunlichst mitbeeinflusst werden 
kann. Ich bin überhaupt bei Ödemen infolge Herznachlass mit 
Schwitzprozeduren recht vorsichtig geworden, da eine solche immer 
stark konsumierend wirkt. Es scheint, dass durch eine systematische 
frühzeitige, milde Lichtschwitzkur das Auftreten stärkerer Herz- 
belastung mit ihren Folgen vermieden resp. hinausgeschoben werden 
kann. Von einer Beeinflussung der primären organischen Erkrankung 
ist natürlich absolut keine Rede. Bei lokalen Herzdruck- und Be- 
klemmungserscheinungen thut oft, wenn auch nicht immer, eine 
lokale Wärme-Bestrahlung mit konzentriertem Bogenlicht sehr gute 
Dienste. 

Dass sich variköse Zustände mit ausgesprochenen stabil ge- 
wordenen Stauungshindernissen durch Licht-Licht-Wärme beein- 
flussen lassen sollen, habe ich nicht erlebt. Dagegen habe ich 
mehrfach gesehen, dass bei Schmerzen tiefer liegender Varicen die- 
selben durch lokale Licht-Wärme heftiger geworden sind. Wenn 
also von anderen Beobachtern Erfolge gemeldet werden, muss es 
sich um vorübergehende Hindernisse im venösen Gefässgebiet ge- 
handelt haben, z. B. Unterleibsstauungen, Druck von Kothmassen, 
Schnürstauung (Korsett, Strumpfband ...) dass solche Fälle resp. 
Varicen im Anschluss daran durch eine längere Kur im Sonnen- 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 23 


lichtbad u. s. w. besser werden kónnen, wenn gleichzeitig die unter- 
i.altende Ursache beseitigt wird, bezweifle ich nicht. 

Aus dem Gebiet der Nervenkrankheiten sind es besonders die 
Neurasthenie, verschiedene Neuralgien, Migräne, die unter Umständen 
durch die Lichtbehandlung einen thatsächlichen Nutzen erfahren 
können. Die Neurastheniker sind jedoch häufig kein gutes Objekt 
für den Lichtschwitzkasten, auch wenn Bogenlicht in Anwendung 
kommen sollte. Unruhe, Aufregung, Ohnmacht sind häufigere Resul- 
tate als Beruhigung und Besserung. Ich verzichte deshalb beim 
typischen Neurastheniker meist von vornherein auf die Behandlung 
im Lichtschwitzkasten und ordiniere Licht-Luftbäder, Sonnenlichtbad 
oder Aufenthalt im Bogenlichtzimmer. Zusammen mit hydriatischen 
Prozeduren u. s. w. habe ich sehr schöne Resultate gehabt. Ich 
schreibe die Wirkung dem Licht als solchem zu und der daraus 
resultierenden Anregung des ganzen Nerven- und Blutgefässtonus, 
der Behebung von Unterleibsstauungen, Hebung der Ernährung. Was 
da vom Einflusse des farbigen Lichtes auf Neurastheniker erwähnt 
wird bezüglich spezifischer Heilwirkung, ist mehr theoretische Er- 
wägung als praktische Erfahrung von stichhaltigem Wert. Richtig 
ist, dass Neurastheniker durch farbiges Licht in günstigem oder un- 
günstigem Sinne beeinflusst werden, dass sie eventuell irritiert und 
nach Aufhebung der Lichtirritation wieder beruhigt werden; aber 
dies besagt doch nicht, dass sie durch irgend welche Farbe auch 
geheilt werden. Ich will jedoch zugestehen, dass ich Unrecht haben 
und später einmal widerlegt werden kann. 

Gar viele nervös-kardiale Symptome werden als Neurasthenie 
angesprochen, die lediglich als Reflexe vom Unterleib her aufzufassen 
sind und werden natürlich solche Fälle erst nach Beseitigung der vor- 
handenen Enteroptose durch Licht-Lichtwärme unter Regelung des 
Gefässstonus bedeutende Besserung und selbst Heilung erfahren 
können. 

Was die Neuralgie, vor allem Ischias, anlangt, so ist Thatsache, 
dass die Schmerzen unter Schwitzbehandlung und starker lokaler 
Bestrahlung meistens besser werden infolge Ableitung des Blutes von 
der kranken Stelle, aber ebenso thatsächlich ist es, dass die Schmerz- 
freiheit häufig nur kurze Zeit andauert. Frische Fälle können nach 
oft erstaunlich kurzer Zeit besser werden und ganz heilen, öfter aber 


94 H. Strebel, 


brauchen sie wochenlang zum Abheilen und zeigt sich also diesen- 
falls die Lichtheilmethode anderen bisherigen Methoden nicht ab- 
solut überlegen. Alte Fälle sind oft bedauerlich hartnäckig; doch 
kann man auch manchmal die Freude haben, alte Fälle in einigen 
Sitzungen schon gebessert und geheilt zu sehen. Inwieweit die Auto- 
suggestion mitspielt, wage ich nicht zu untersuchen. Trotz der nicht 
absolut sicheren Wertigkeit der Methode halte ich es für empfehlens- 
wert, in jedem Falle die Lichtbehandlung zu versuchen. Ist aber 
nach 5—10 Behandlungen (lokal täglich !/, Stunde, 2—3 mal wöchent- 
lich 1 Schwitzbad) kein deutlicher Erfolg da, dann hört man besser 
auf. Ganz resistent sind die Fälle, wo ein bleibender Reiz die 
Nervenirritation unterhält, der nicht entfernt werden kann. 

Es kommen oft Fälle in die Sprechstunde, wo man nicht recht 
weiss, ob es sich um neuralgische, rheumatische, pleuritische oder 
Muskelschmerzen handelt. Solche Fälle, bei denen die Einbildung 
und Empfindlichkeit meist eine Rolle mitspielt, sind für das Licht 
ein oft dankbares Objekt. 

Bei Trigeminusneuralgie habe ich nie einen wertvollen Erfolg 
"gehabt, wahrscheinlich waren Knochenvortreibungen Schuld daran. — 
Lumbago lässt sich in 1—2 Lichtschwitzbebandlungen mit lokaler 
Bestrahlung und Massage meist sicher beheben. — Migräne und 
kontinuirliche Kopfdruckschmerzen lassen sich manchmal durch 
Schwitzbehandlung koupieren. Licht-Luftbäder, milde Sonnenlicht- 
behandlungen wirken prophylaktisch ebenfalls meist gut; auf Ent- 
täuschungen muss man jedoch gefasst sein. 

Bei sonstigen Nervenleiden kommt die Lichtbehandlung nur so 
weit in Frage, als eine Aufbesserung der allgemeinen Stoffwechsel- 
und Ernährungsverhältnisse erwünscht ist. Bei Epilepsie und Neigung 
zu Apoplexie muss man jedoch mit Schwitzprozeduren sehr vor- 
sichtig sein. 

Ich möchte nun mit einigen Worten ein aktuelles Thema streifen, 
die Behandlung der Tuberkulose mit Licht und die Erwartungen, 
die man daran knüpfen darf. Ueber der stoffwechselanregenden, 
tonisirenden Energie des Lichtes ist es besonders die baktericide 
Wirkung, die für uns in Frage kommt. Die Beeinflussung des 
Kräfte- und Ernáhrungszustandes tuberkulöser, noch nicht zu stark 
reduzierter Patienten durch Licht scheint mir heute nach meinen 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 25 


Erfahrungen fraglos und auch Rieder, dessen neueste kritischen 
Ausführungen ich jedem Skeptiker empfehle, stimmt einer Anschauung 
zu, welche die ausgedehnte Verwendung des Lichts in den Lungen- 
heilstätten empfiehlt. Neben der bisher üblichen Freilichtbehandlung 
muss eine ausgedehnte Dauerbehandlung im Sonnenlicht, diffusem 
Tageslicht stattfinden. Alle Schwitzprozeduren sind bei Tuberkulösen 
ganz zu vermeiden oder nur bei kräftigen Individuen mit Be- 
schränkung vorzunehmen, da einerseits die mit Schweissbildung ver- 
bundene Reduktion der Kräfte und der Ernährung des hierfür be- 
sonders empfindlichen Phthisikers, besonders wenn Nachtschweisse 
vorbanden sind, konsumierend wirken und andererseits» wenn nur 
leise Neigung zu Hämoptoe vorhanden ist, durch den gesteigerten 
Blutdruck letztere befördert werden könnte. Was nun die etwaige 
Beeinflussung der Tuberkulose durch die bakterientötende Wirkung 
des Lichtes anlangt, so hängt dies ganz davon ab, ob genügend 
wirksames Licht auf die Infektionsstellen gebracht werden kann, und 
ob, wenn es gelingen sollte, die Bacillen thatsächlich zu schwächen 
und zu töten, der Tuberkulöse einen Nutzen davon haben würde. 
Letzteren Fall als nach moderner Anschauung höchst wahrscheinlich 
angenommen, käme nur der erste Punkt in Frage. Nun aber wird 
das stark wirksame Ultraviolett selbst in konzentriertem Zustande 
schon in der Epidermis absorbiert, und die ebenfalls als photo- 
chemisch und baktericid wirkend in Betracht kommenden blauen 
und violetten Strahlen werden schon in den ersten dicken Blut- 
gefässlagen der Thoraxwand total absorbiert, so dass nunmehr die wenig 
oder gar nicht mehr — wenigstens in kürzerer Zeit — photo- 
chemischen Strahlenarten, besonders Rot, in den Thorax resp. auf 
die kranken Stellen gelangen können. Dass aber die roten Strahlen 
an Ort und Stelle gelangen, ist durch direkte Thoraxdurchleuchtungen 
beweisbar. Es frägt sich nun, ob die roten Strahlen allein im 
Stande sind, Bakterien noch zu beeinflussen und zwar Bakterien im 
lebenden Gewebe, nicht im Reagensglase. Es wurde zwar letztere 
Frage mehrfach verneint, allein ich behaupte, dass der Beweis erst 
erbracht ist, wenn eine Dauerbelichtung mit Rot (von mehreren Tagen) 
ohne allen Effekt geblieben ist und wenn konzentrierte Rotlicht- 
quellen versagt haben. Kurze Belichtungen mit schwachem Spektral- 
licht, beweisen noch nicht das Gegenteil. Ich rechne hierbei sine ira 


26 H. Strebel, 


et studio und denke einmal an die Thatsache, dass auch das von 
einigen Gelehrten als photochemisch total unwirksam verurteilte 
elektrische Glühlicht nach 6—10 Stunden Bakterien abzutöten ver- 
mag, obwohl es hauptsächlich rot-gelbe Strahlen enthielt, und ferner 
daran, dass selbst geringe Lichtnuancen schon das freie Wachstum 
des Milzbrandkeimes auf dem Felde beeinflussen können. Wenn also 
bei der Bakterientötung das rein photochemische Moment in Frage 
kommt, was ja bekanntlich heute bestritten wird, so kann auch 
diesenfalls eine intensive, konzentrierte Dauerbestrahlung des Thorax 
resp. der kranken Lungen erst dann für nutzlos erklärt werden, wenn 
der experimentelle Beweis hierfür erbracht ist, der aber bis heute 
noch aussteht. Ist aber die photochemische Wirkung des Lichtes nicht 
das wirksame Agens bei der Bakterientötung im lebenden Gewebe, 
bat also Rot-Gelb noch einige Bedeutung — und widerlegt ist dies 
noch nicht —, so könnte vielleicht doch die Dauerbestrahlung bei 
der Heilung der Tuberkulose von Nutzen sein und wenn auch nur 
dadurch, dass das durch Rot-Gelbstrahlung in eine bestimmte Er- 
regung gebrachte Gewebe mit vermehrter Leukocytose antwortet. 
Dies aber sind alles Fragen, die wohl die Zukunft entscheiden muss. 
Ich behandle Tuberkulöse in der Weise, dass ich sie, wenn es 
angeht, zu Hause oder in besonders vorgerichteten Plätzen am Lande 
nackt aber geschützt gegen Abkühlung fast den ganzen Tag in die 
Sonne bringe, wobei ich durch Mullvorhänge die photochemische 
Kraft abschwäche, dass keine lästigen Erytheme entstehen. Kräftige 
Kranke dürfen sich auch nackt im freien Licht bewegen, beim 
Wasserbaden .. .. In der Anstalt werden die Leute dem diffusen 
Bogenlicht ausgesetzt, nackt auf Stühlen liegend in einem eigens 
vorgerichteten Zimmer. Die Sonne ziehe ich immer vor und bin 
bis heute mit den Effekten sehr zufrieden. Gewichts- und Kräfte- 
zunabme sind das wenigste, was erreicht wird. Ich spreche nicht 
von Heilungen schwerer Fälle, die immer eine trübe Prognose haben 
werden. Auch mache ich von all den ausgewählten modernen Be- 
handlungsmethoden der Tuberkulose Gebrauch und sehe nur darauf, 
dass keine Magenschädigungen resultieren. Ich bin mit den erhaltenen 
Resultaten zufrieden und die Patienten auch, was schliesslich die 
Hauptsache ist. Jedenfalls aber wird eine weiter ausgebaute Methode 
noch grössere Vorteile bringen als dies schon heute der Fall ist. 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 27 


Ich möchte noch kurz erwähnen, dass auch die skrofulösen Er- 
scheinungen sich durch genanntes Vorgehen sehr günstig beein- 
flussen lassen. 


Von Erfolgen der Lichtbehandlung bei den Infektionskrank- 
heiten ist folgendes bekannt. Da die Schwitzbäder insofern von 
grossem therapeutischen Wert sind, als durch den Schweiss sowohl 
verschiedene Stoffwechselprodukte als auch zahlreiche pathogene 
Mikroorganismen aus dem Körper eliminiert werden, was auch Rieder 
zugesteht, so können die Lichtschwitzbäder auch bei akuten Infektions- 
krankheiten in Anwendung kommen. Ich selbst habe über derartiges 
Vorgehen keine Erfahrung und berichte nur kurz darüber, dass 
Below chronische Malariakranke mit bestem Erfolge durch Licht- 
schwitzbehandlung hergestellt zu baben angiebt, dass die Ernährung 
sowohl wie das ganze subjektive Befinden einen vollständigen Um- 
schwung zum Besseren genommen hat. 


Einen anderen Gesichtspunkt verfolgt Finsen, wenn er Variola 
mit Rotlicht behandelt und nicht nur nach eigenen, sondern auch 
nach Angaben fremder Nachprüfer den Effekt erhielt, dass unter 
Haltung der Kranken in Zimmern, in denen nur rotes Licht herrschte, 
der ganze Prozess milde verlief, fast ohne Eiterung und ohne 
Narbenbildung. 


Ähnlich hat man die Rotlichtbehandlung für Masernheilung ver- 
wendet und zwar mit Erfolgen, die sehr laut zu gunsten des roten 
Lichtes sprechen. 


Das weisse Licht hat unter Umständen direkte ätiologische Be- 
ziehungen bei verschiedenen Hautkrankheiten und kann man sich 
vorstellen, dass die unter dem Einflusse der toxischen Eiterungen 
sehr reizbar gewordene Haut durch den photochemischen Reiz der 
blauen, violetten Strahlen noch mehr gereizt wird. Das Licht als 
Licht wirkt eben immer günstig auf alle Hauteiterungen, Wunden, 
und während nicht spezifisch infizierte Hautläsionen durch den photo- 
chemischen Reiz des Mischlichtes keine Überreizung erfahren, ist 
dies bei den infektiósen Hautprozessen der Blattern, Masern und 
Scharlach anscheinend der Fall und stellt eben der Wellenmodus 
von Rot die Grenze des Spektrums dar, welche nicht mebr zu stark 
reizend wirkt. 


28 H. Strebel, 


Die Lichtschwitzbehandlung eignet sich auch zur Eliminierung 
von Metallen bei chronischer.Metallvergiftung und sind bisher 
Erfolge mit Ausscheidung von Blei, Quecksilber, Schwefel, Phosphor 
erzielt worden. 

Von den geschlechtlichen Infektionen kommt zunächst die 
Syphilis in Frage. Das Moment der Stoffwechselerhöhung und Blut- 
beeinflussung durch Licht und Schwitzbehandlung ist sofort verständ- 
lich, wie auch die Möglichkeit der Elimination von Stoffwechselgiften 
und des eingeschmierten Quecksilbers, wenn letzterer Faktor als not- 
wendig in Betracht kommen sollte. Syphilis ohne Quecksilber und 
Jod zu behandeln, nur allein mit Schwitzbädern, dürfte zu vielen 
Enttäuschungen führen. Syphilitische Geschwüre mit Nekrosen rea- 
gieren auf lokale Lichtbehandlung mit Ultraviolettquellen grossartig 
(Induktionslicht, konzentriertes Bogenlicht!), selbst in Fällen, wo Jod 
allein geringe oder gar keine Reaktion hervorgerufen hatte. 

Das Ulcus molle wird durch lokale Behandlung mit Licht, 
speziell Ultraviolett, auffallend gut beeinflusst, von der Behandlung 
mit Licht-Kauterisation ganz abgesehen, welche ebenfalls gut wirkt, 
aber schmerzlich ist und Narben nicht ausschliesst Allgemeine 
Lichtschwitzbehandlung zeigt keinen deutlichen Einfluss, die Drüsen- 
schwellungen werden nicht beeinflusst, als höchstens insofern, dass 
durch systematische Wärmebestrahlungen der Prozess etwas früher 
zum Abschluss kommt. Ist der Bubo offen, so wirkt Ultraviolett 
und Lichtkauterisation vorzüglich. 

Bei Gonorrhoe zeigte sich lokale Wärmebehandlung mit Licht 
mit Hülfe des Bogenlichtreflektors wertlos. Auch Kompression des 
Gliedes zwischen Glasplatten ınit Reflektorbestrahlung war nutzlos. 
Ich habe einen anderen Weg eingeschlagen und starke Ultraviolett- 
quellen direkt in die Harnröhre eingeführt. Besonders bequem ge- 
schieht dies mit Hülfe des Glimmlichtapparates, dessen Licht die 
ganze Harnröhre bestrahlt, weshalb ein Aufsuchen und Einstellen 
des Lichtes mit dem Endoskop nicht erst nötig wird. Die Be- 
strahlungsdauer wechselt von 20 Minuten bis 2 Stunden und mehr. 
Ich behandle zunächst probeweise von 20—50 Minuten, um zu sehen, 
ob unangenehme Reaktionen auftreten, dann 1—2 Stunden ununter- 
brochen, wobei der sich langsam unter dem Einflusse des Stromes 
erhitzende Pavillon öfter mit Presslicht gekühlt wird. Das Licht 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 99 


selbst ist ganz kalt Die ganze Prozedur macht gar keine Be- 
schwerden. Ich habe 2 Fálle akuter Gonorrhoe behandelt mit zu- 
sammen 6 Sitzungen und in 1 Falle mit 4 Sitzungen, im anderen 
mit 2 vólliges Sistieren der Sekretion erzielt innerhalb 14 
bezw. 8 Tagen. Das Glimmlicht hat gute photochemische und deut- 
liche baktericide Kraft, wird aber diesbezüglich durch das an Ort 
und Stelle wirkende Funkenlicht um ein Bedeutendes übertroffen. 
Noch stärker wirkt das Eisenlicht, welches mit Hülfe der von mir 
angegebenen Flintglasstäbe und endoskopartigen Vorrichtungen an 
jeden Punkt der Urethra gebracht werden kann. Über Resultate 
kann erst später berichtet werden. Jedenfalls aber ist die Behand- 
lung der Gonorrhoe mit Licht jetzt in einen diskutierbaren Stand 
gelangt. 

Ein grosses Kontingent für die Lichtbehandlung liefern die 
Erkrankungen der Haut. Da sind zunächst die ulcera cruris 
und alle anderen Geschwürsprozesse der Haut zu nennen. Zur 
hervorragenden baktericiden Kraft des Lichtes tritt hinzu die Steigerung 
des lokalen Gefäss- und Nerventonus, die Anregung der schlummernden 
trophischen Energie, die Reizung der protoplasmatischen Thätigkeit 
und damit die Neubildung und Ersatz der verloren gegangenen Ge- 
webe durch Proliferation des homogenen Gewebes ohne bedeutende 
Einlagerung von Bindegewebe, also kosmetisch gute Narbenbildung. 
Man behandelt selbst alte, chronische Geschwüre mit bestem Erfolge 
mittelst Licht-Wärme (konzentriertes Sonnen- und Bogenlicht) und 
mit photochemisch wirksamen Strahlen (Finsenapparat, Eisenlicht, 
Induktionslicht). Versager kommen eigentlich nur vor, wenn die 
ursächliche Schädigung nicht behoben werden kann, oder wenn 
grössere Nervengebiete (trophische) stark lädiert sind. Regelung des 
Blutdrucks durch einfache Bindentouren und Glycerinverband unter- 
stützen die Behandlung noch mehr. 

Bei lokaler und allgemeiner Furunkulose zeigte sich Licht- 
behandlung meist erfolgreich. Die im Entstehen begriffenen Furunkel 
entwickeln sich unter Bestrahlung mit dem Bogenlichtreflektor (Licht- 
Wärme) sehr rasch, die Eiterbildung sitzt dann meist oberflächlich. 
Im offenen Furunkel zeigt sich lebhaftes Sekret, welches bald die Ver- 
klebung und Heilung vermittelt. Die Empfindlichkeit bleibt eine mässige. 
Bei allgemeiner Furunkulose ist Lichtschwitzbehandlung notwendig. 


30 H. Strebel, 


Bei ausgedehnter Akne vulgaris sind Sonnenbáder und Licht- 
schwitzbehandlung im Kasten erfolgreich. Kleine hartnäckige Stellen 
werden auch mit konzentriertem Licht behandelt (Finsen) und mit 
Induktionslicht. Acne rosacea wurde von manchen Beobachtern geheilt. 

Beim Ekzem zeigt sich Rotlichtbehandlung am Platze. Winternitz 
bedeckt die Ekzeme mit roten Schleiern und setzt sie dem Sonnen- 
licht aus. Ich behandle mit roter Glasscheibe und elektrischem Licht 
lokal neben allgemeiner Schwitzbehandlung, da für grosse, hartnäckige 
Ekzeme oft innere Ursachen in Frage kommen. 

Psoriasis als Einzelaffektion reagiert auf Ultraviolett sehr günstig, 
ist aber langweilig zu behandeln. Behandlung mit Reflektor und 
Schwitzbädern ist manchmal erfolgreich, öfters auch nicht. Ich verweude 
stets Arsen und Chrysarobin und erhalte in Verbindung mit Licht 
Resultate selbst in obstinaten Fällen, welche den genannten 
Medikamenten allein Widerstand leisten. 

Die Behandlung des Prurigo mit Licht-Lichtwärme allein hat 
mir bis heute keine Resultate ergeben. 

Fibroneurom, Lipom blieb ohne Reaktion. 

Das Epitheliom wurde von Finsen mit konzentriertem Licht 
geheilt. Auch die Lichtkauterisation zeigte sich von Erfolg. 

Bei Favus, Sycosis, Herpes tonsurans konnte ich mit 
intensiver Ultraviolettbehandlung mehrfach Erfolge und selbst Heilung 
verzeichnen. 

Alopecia areata wurde von Finsen u. A. mit Erfolg be- 
handelt. Ich selbst habe auch einiges erreicht. 

Naevus vascularis planus reagiert nach Finsen auf Licht- 
behandlung mit typischer Hautentzündung und Abbleichen der Stellen 
selbst bis zum gänzlichen Verschwinden der Verfärbungen. 

Den Haupttriumph feiert die Lichtbehandlung in der Heilung 
der tuberkulösen Hautprozesse, speziell des Lupus vulgaris. Die 
Behandlung geschieht mit dem bekannten Finsenapparat, mit den 
von Bang, Strebel und Kjeldsen angegebenen Eisenlampen, mit 
dem Induktionsfunkenlicht. Der Effekt ist während der Einwirkung 
des Lichtes bei offenen Stellen stärkerer Serumaustritt mit Eintrock- 
nung wie bei Behandlung jedes Ulcus. Die eigentliche Licht- 
wirkung resp. die typische Hautentzündung erfolgt als Rötung, 
Schwellung, eventuell Blasenbildung erst nach 5—10 Stunden (im 


Die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 31 


Gegensatz zu einer durch rein thermische Momente hervorgebrachten 
Entzündung, welche sofort nach dem Trauma einsetzt). Als Heilungs- 
vorgang zeigt sich Abflachung und Verblassung der Knoten, Abblassen 
der roten Stellen, Einlagerung von Narbengewebe. Die durch Licht- 
reiz gesetzten Rötungen bleiben monatelang bestehen, wenigstens bei 
Anwendung des Induktionslichts. Die Behandlung mit dem Finsen- 
apparat geschieht täglich 1 Stunde an gleicher Stelle, bis ein Effekt eintritt. 
Die Grösse dieser Stelle beträgt ca. 3 quem und schreitet natürlich die 
Behandlung nur langsam voran. Durch meinen Kapselbestrahler für In: 
duktionsfunkenlicht wie durch die neuen Eisenlampen ist dies Verhältnis 
ganz geändert worden. Statt der von Finsen früher verwendeten 
80—100 Ampéres brauchen wir nur noch 6—10 Ampère; die Be- 
strahlungszeit beträgt ca. 10 Minuten, die bestrahlte Fläche 6—10 
quem. Mittelst der von mir konstruierten Bestrahler kann man das 
Licht unter gleichzeitiger Kompression auch in die Mundhöhle ein- 
bringen. Bei allen diesen Verbesserungen kommen die Grundzüge 
zur Anwendung, welche ich auf dem Dermatologen- Kongress in 
Breslau aufgestellt habe: möglichste Annäherung der starken Ultra- 
violettquelle an die zu bestrahlende Stelle. Während Finsen zu 
seiner Behandlung ein eigenes Kompressorium nótig hatte, um das 
Gewebe blutleer und so für das Eindringen der Strahlen permeabel 
zu machen, ist dies bei den neuen Apparaten nicht mehr nötig, 
indem dieselben gleich als Kompressorium konstruiert sind und die 
Lichtquelle in grösster Nähe der Hautaffektion sich befindet. !) 

Der mir zugemessene Raum ist zu beschränkt, um mich auf 
Detailerörterungen einzulassen und verweise ich diesbezüglich auf 
die angegebene Litteratur. Ich erwähne nur nochmals, dass die 
Wirkungsweise des Lichtes bei der Lupusheilung noch nicht ganz 
geklärt ist, dass die rein baktericide Wirkung mit Recht bezweifelt 
und mehr dem Auftreten einer cellulartherapeutischen, von mir als 
trophischen Reaktion aufgefassten Entzündung zugeschrieben wird, 
mit der aber die Wärme als solche gar nichts zu thun hat. Jeden- 
falls aber sind gerade die Erfolge der Lupusheilung mit Licht der-- 


1) Es scheint mir aber, dass die frühere Finsenmethode durch Eisenlicht 
und Induktionslicht noch nicht voll ersetzt werden kann, weil letztere Methoden 
wenig Farbstrahlen besitzen, also eine Tiefenwirkung fehlt. Zunächst bleibt also 
Finsen noch im Recht. 


39 H. Strebel, die bisherigen Leistungen der Lichttherapie. 


artig schóne, dass wir gerade dieser lichttherapeutischen Spezialitát 
die allmähliche Einführung der Lichttherapie in die Kliniken und 
damit die offizielle Anerkennung der Lichttherapie überhaupt zu- 
zuschreiben haben. 


Litteraturangabe. 





Die Arbeiten N. R. Finsen’s und seiner Schüler. Leipzig, Verlag von C. 
W. Vogel. 1899 u. 1900 —1901. — W. Gebhardt. Die Heilkraft des Lichtes. — 
H. Kattenbracker. Das Lichtheilverfahren. — Möller. Einfluss des Lichtes 
auf die Haut. (Bibliotheca medica. Abt. II. II. Dermatol. u. Syphilidol. Heft 8. 
1900.) — F. Schónenberger. Der Einfluss des Lichtes auf den tierischen Orga- 
nismus. Inaugural-Dissert. Berlin 1898. — H. Rieder, Lichttherapie. (Handbuch 
der physikalischen Therapie von Goldscheider und Jakob, 1991. T. I. B. IT.) 
— H. Strebel. Die Verwendung des Lichtes in der Therapie. 1902. Verlag 
von Seitz & Schauer, München. 


Spezialarbeiten des Verfassers. 


Meine Erfahrungen mit der Lichttherapie. D. M. W. 1900. No. 27. u. 28. 
— Die Bedeutung des Lichtes für Physiologie und Therapie. Aerztl. Rundschau. 
1899. No. 13. — Ein Beitrag zur Frage des lichttherapeutischen Instrumentariums. 
Verhandl. der deutschen Dermatol. Gesellsch. Breslau. 1901. — Einige licht- 
therapeutische Fragen. Wiener klin. Rundschau. 1900. No. 50 u. 51. — Unter- 
suchungen über die baktericide Wirkung des Hochspannungsfunkenlichtes. D. M. W. 
1901. No. 5 u. 6. — Zur Frage der lichttherapeutischen Leistungsfähigkeit des 
Induktionsfunkenlichtes. Fortschritte auf dem Gebiete der Rúntgenstrahlen. 
Bd. IV. — Die Brauchbarkeit des Induktionsfunkenlichtes in der Therapie. Ver- 
handlungen des Deutschen Naturforscher- und Aerzte-Kongresses in Hamburg 1901. 
— Die Tuberkulose und ihre Beziehungen zum Licht. Archiv für Lichttherapie. 
1899. No. 2 u. 3. — Der Artikel ,,Phototherapie“ in Eulenburg's Encyclop. Jahrb. 
der gesamten Heilkunde 1900. IX. Jahrgang. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
- Verlagsbuchhandlung, Berlin W. Lützowstr. 10 oder die Redaktion, 


Alexanderstr. 33, erbeten. 
Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 





BERLINER KLINIK No. 165. MZERZ 1902. 


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Nach der Pharmacopoea Germanica ed. IV und den neuesten 
fremden Pharmakopoeen. 


MEE” Fünfte, vollständig umgearbeitete Auflage. "mg 
V und 827 Seiten. 1902. 


Preis geheftet 15 Mark, gebunden 16,50 Mark. 


AUF Diese unter Berücksichtigung der neuen Pharmacopoe bearbeitete Aus- 
gabe ist die 
einzige vollständige Arzneimittellehre 
der Gegenwart, welche in einem Alphabet die bis auf die neueste Zeit klinisch 
erprobten Heilmittel berücksichtigt. — 
Die Namen der Herren Verfasser dürften wohl eine weitere Empfehlung der 
nun in 5. Auflage vorliegenden Arzneimittellehre erübrigen. 





paar Egg gamona 
V Y ZY WV ZY YNI NENNI Y YNE YAE NNS ZNENI N ANNY N Sa Sas an qa Va, 


NINININI NNN NNN ÁÁ ÝI NE NEN NSN 


O_O mn nn e 





Ueber „Die rechtliche Stellung des Arztes und 
seine Pflicht zur Verschwiegenheit im Beruf“ von 
massgebender juristischer Seite einen Vortrag bringen zu 
können, ist der Redaction der Berliner Klinik eine besondere 
Genugthuung, zumal in den Kreisen der Aerzte über dieses 
Thema in letzter Zeit viel diskutirt worden ist. Die Leser 
der Berliner Klinik werden diesen Vortrag, obwohl er nicht 
ein „klinischer“ im strengen Sinne ist, dennoch, wie wir 
hoffen, gern entgegennehmen, um sich über diesen für den 
praktischen Beruf ausserordentlich wichtigen Gegenstand Be- 
lehrung von kompetenter Stelle zu verschaffen. 


D. R. 


März 1902. perliner Xlinik. Heft 165. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 


zur Verschwiegenheit im Beruf. 


Von 
Landgerichtsdirektor Fromme in Magdeburg, 
richterliches Mitglied des ärztlichen Ehrengerichts der Provinz Sachsen. 


Nach einem am 10. Dezember 1901 im Aerzteverein zu Magdeburg 
gehaltenen Vortrag. 





Die Stellung, welche der Arzt im Gebiete des Rechts einnimmt, 
ist nicht unbestritten geblieben. Das Reichsgericht, der oberste 
Gerichtshof in Fragen des Privatrechts, hält auch in einem seiner 
neueren Urtheile!) an der bereits früher?) ausgesprochenen Ansicht 
fest, nach welcher die Ausübung des ärztlichen Berufs als Betrieb 
eines Gewerbes anzusehen ist. „Die Gewerbeordnung,“ so sagt jene 
Entscheidung, „regelt die Ausübung der Heilkunde und zwar auch 
mit Rücksicht auf die approbierten Aerzte in mehrfacher Beziehung, 
woraus der Schluss auf die Auffassung derselben als eines Gewerbes 
zu ziehen schon im Allgemeinen nahe liegt.“ Als entscheidend aber 
legt das Reichsgericht den $ 29 RGO. zu Grunde, der in seiner 
Ueberschrift besagt: „Gewerbetreibende, welche einer besonderen 
Genehmigung bedürfen“ und der ferner in Absatz 3 und 5 direkt 
vom Gewerbe und Gewerbebetriebe der approbierten Aerzte spricht. 
Legt man diesem Urtheil den Wortlaut jener gesetzlichen Bestim- 
mungen formal zu Grunde, so ist es unanfechtbar. Seine Begründung 
erlangt noch mehr Gewicht, wenn man zu einer vergleichenden 
Betrachtung diejenigen gesetzlichen Bestimmungen heranzieht, welche 
über den dem ärztlichen Beruf so nahe stehenden Anwaltsstand ge- 


1) Entsch. in Civils. Bd. 39 8. 134 vom 30. Sept. 1897. 
2) Rechtspr. des RG. in Strafs. Bd. 6 S. 505; Bd. 4 S. 442; Bd. 8 S. 93. 
1 


2 Fromme, 


geben sind. Das geltende Recht weist zwischen beiden einen be- 
deutenden Unterschied auf.*) Der Anwalt z. B. wird gemäss der 
Rechtsanwaltsordnung für das D. R. vom 1. Juli 1878 von der Landes- 
justizverwaltung zur Ausübung seines Berufes zugelassen und seine 
Zulassung muss unter bestimmten Voraussetzungen sogar versagt 
werden. Die Ausübung des Arztberufs dagegen ist lediglich an die 
Erlangung der Approbation geknüpft, die jedem zu ertheilen ist, 
welcher Ablegung der Examina nachweist und sich zur Zeit der Be- 
werbung im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befindet. Der Anwalt 
hat auf gewissenhafte Erfüllung seiner Pflichten einen Eid zu leisten, 
vom Arzt wird heute der früher gebotene Approbationseid nicht 
mehr gefordert. Der Anwalt ist ferner verpflichtet, bei der Aus- 
bildung der im Vorbereitungsdienst beschäftigten Referendare mitzu- 
wirken, dem Arzt liegt eine solche Pflicht dem Staate und dem 
jüngeren Kollegen gegenüber nicht ob. Der Anwalt endlich kann 
einer armen Partei zur Wahrnehmung ihrer Interessen vom Gericht 
zugeordnet werden, während durch $ 144 Abs. 2 RGOrd. für den 
Arzt diejenigen Bestimmungen aufgehoben sind, welche ihm unter 
Androhung von Strafen einen Zwang zu ärztlicher Hülfe auferlegten. 
Infolgedessen ist auch für den Umfang des Strafgesetzbuchs die 
Anwaltschaft ausdrücklich als ein öffentliches Amt bezeichnet — 
§ 31 StGB. —, und in der Rechtssprechung‘) ist anerkannt, dass 
der Anwalt kein freies Gewerbe betreibe, sondern eine Stellung 
öffentlich-rechtlicher Natur bekleide. Andrerseits wird aber von der- 
selben Rechtssprechung, welche dem Anwaltsstand diese Stellung 
zuweist, zugleich betont, dass die werbende Thätigkeit des Anwalts 
nicht den Gesammtcharacter seiner Thätigkeit bilde. Ist aber dieses 
Moment hier nicht entscheidend, so erscheint der Schluss gerecht- 
fertigt, dass auch für die rechtliche Beurtheilung anderer nahe ver- 
wandter Thätigkeitsgebiete, insbesondere desjenigen des Arztes, das 
Erwerben-Wollen nicht allein ausschlaggebend sein kann. Und dem 
Standpunkt des Reichsgerichts gegenüber liegt nichts näher als die 
Frage: was ist im rechtlichen Sinne ein Gewerbe? Die Reichs- 
gewerbe-Ordnung, obschon an erster Stelle dazu berufen, giebt eine 


») Urth. des Ob.-Verw.-Ger. vom 1./4. 1887 Bd. 15 S. 41 flgde, 
4) Das in Anm. 1 zit. Urth. d. RG.; ferner Urth. des OVG. Bd. 23 S. 43 
und Bd. 15 S. 50. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 3 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

Definition des Begriffs „Gewerbe“ nicht. Es ist demnach für die 
rechtliche Bedeutung dieses Wortes der Gesammtinhalt der RGO. 
sowie die Praxis zu berücksichtigen, aber auch der allgemeine 
Sprachgebrauch und die Ausdrucksweise anderer Gesetze sind zu 
beachten. Danach versteht man unter Gewerbe jede erlaubte, zum 
Zwecke des Gewinnes als unmittelbare Einnahmequelle betriebene 
dauernde Thätigkeit, insbesondere Industrie, Handel und verwandte 
Erwerbszweige, ausgenommen die Gewinnung roher Naturprodukte 
(Landwirthschaft, Bergbau) und die höheren Berufsarten als die 
freien Künste, der öffentliche Dienst und persönliche Dienstleistungen 
wissenschaftlicher Art. Wenn es aber richtig ist, dass „die Aufgabe 
und das Wesen des ärztlichen Berufes“ in erster Linie darin besteht,5) 
„die Heilung erkrankter Menschen unter Anwendung der durch die 
Wissenschaft zu Gebote stehenden Hilfsmittel gewissenhaft“ anzu- 
streben, so erwachsen aus dieser Aufgabe dem Arzte Pflichten nicht 
nur gegen die Kranken selbst und seine Berufsgenossen, sondern 
ganz vornehmlich dem öffentlichen Wohl gegenüber, als dessen 
Wächter der Arzt ganz allgemein bezeichnet werden darf und das 
z. B. beim Ausbruch einer Epidemie durch die Art der Ausübung 
der ärztlichen Pflichten erheblich in Mitleidenschaft gezogen sein kann. 
Ferner ist zu berücksichtigen, dass durch ausdrückliche Be- 
stimmungen des Staates allen Aerzten Pflichten auferlegt sind, welche 
sie mit den Medizinalbehörden in dauernde Verbindung bringen 
und in mancher Beziehung sogar öffentlichen Behörden gleichstellen. 
So sind ihnen beim Eintreten ansteckender Krankheiten nach $$ 17, 
18, 69, 90 der Kab.-Order vom 8. August 1835 (GS. S. 240 flgde.) 
zur Bekämpfung der Epidemien und Verhütung der Ansteckung 
sanitätspolizeiliche Pflichten und Befugnisse gegeben. So kann nur 
ein approbierter Arzt vom Staate oder von einer Gemeinde mit den 
amtlichen Funktionen als Armen-, Anstalts- oder Polizeiarzt betraut 
werden; nur ein approbierter Arzt ist nach §§ 8, 16 des Reichsimpf- 
gesetzes vom 8. April 1874 zur Vornahme von Impfungen befugt; 
nur Hilfe durch einen approbierten Arzt ist Hilfe im Sinne der 
Versicherungsgesetze.S) Ja, der Staat verleiht sogar den ärztlichen 





5) Altmann, Commentar z. Ges. v. 25. Nov. 1889 8. 39 Anm. 1 Abs. 4. 
 Rapmund und Dietrich ärztliche Rechts- und Gesetzeskunde, S. 61 
]* 


4 Fromme, 


Attesten besondere Glaubwiirdigkeit und besonderen gesetzlichen 
Schutz, indem er deren Verlesung im Strafprocess als Beweismittel 
gestattet, sofern Kórperverletzungen, welche nicht zu den schweren 
gehören, in Frage stehen ($ 255 Strafprocessordnung), und indem er 
deren Ausstellung durch Unberufene uder deren Verfälschung mit 
Strafe bedroht ($8 277, 278 Strafgesetzbuch). Die Gesetzgebung selber 
stellt also hiermit die ärztlichen Atteste nahe den von einer öffent- 
lichen Behörde ausgehenden Zeugnissen. Im Weiteren dürfen Aerzte 
die Berufung zum Amte eines Schöffen oder Geschworenen ablehnen 
(§§ 35, 85 Ger.-Verfass.-Ges.), desgleichen berechtigt ärztliche oder 
wundärztliche Praxis zur Ablehnung oder zur früheren Niederlegung 
einer unbesoldeten Stelle oder Vertretung in der städtischen Gemeinde- 
verwaltung ($ 74 der Städte-Ord. f. die östlichen Provinzen). 

Auch in diesen Vorschriften wird eine staatliche Anerkennung der 
hohen Bedeutung der ärztlichen Thätigkeit für das öffentliche Wohl zu 
finden sein —, eine Bedeutung, die weit über diejenige von blossen 
Gewerbetreibenden hinausgeht. | 

Endlich haben im Konkurse die Forderungen der Aerzte und Wund- 
ärzte wegen Kurkosten aus dem letzten Jahre vor der Eröffnung des 
Verfahrens ein Vorrecht, insoweit der Betrag der Forderungen den Betrag 
der taxmässigen Gebührnisse nicht übersteigt ($ 61 No. 4 Konk.-Ord.). 

Eine mit solchen Aufgaben und mit solchen Vorrechten be- 
kleidete Stellung geht aber über den Kreis gewöhnlicher gewerb- 
licher Dienstleistungen hinaus. Das Vermögensinteresse, wenn es auch 
wie für jeden ein bedeutsames Moment bildet, tritt den ethischen 
Pflichten und den staatlich gewährten Rechten gegenüber zurück, 
umsomehr da auch die zum Erwerb benutzten Mittel einen höheren 
Charakter tragen. Die Thätigkeit erhebt sich in den Bereich der Kunst, 
sie wird eine ars liberalis, und man wird es mit Recht ablehnen können, 
einen solchen, wenn auch werbenden Beruf, als ein Gewerbe oder 
gewerbliches Unternehmen zu bezeichnen. 

Noch deutlicher tritt diese Auffassung hervor, wenn man den 
Fall nimmt, dass ein Arzt ohne Entgelt praktiziert. Nicht in der Art, 
dass er unentgeltliche Behandlung ausschreibt, denn das ist ihm 
durch No. 9 der Standesordnung für die Aerzte der Provinz Sachsen 
verwehrt, aber in der Form, dass er gemäss $ 10 Standesord. 
seine Kräfte nur in den Dienst der Unbemittelten stellt und diesen 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 5 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

das Honorar nachträglich ganz erlässt. Das Moment der werbenden 
Thätigkeit fällt alsdann völlig fort, und man kann von einem Gewerbe- 
betriebe überhaupt nicht sprechen, da ja eine Quelle dauernden 
Erwerbs nicht vorhanden ist. Trotzdem würde für diesen Fall der 
$ 29 Abs. 3 RGO. mit seiner Bestimmung über die Unbeschränkt- 
heit der Praxisausübung nach wie vor massgebend bleiben. Zwar 
ist behauptet, dass derjenige kein Arzt ist, welcher ausschliesslich 
unentgeltlich die menschliche Heilkunde ausiibt.?) Aber diese An- 
sicht ist nicht zutreffend ; Arzt bleibt er schon deshalb, weil er die 
Approbation erlangt hat und Menschen heilt. Der unentgeltlich 
Praktizierende betreibt nur kein Gewerbe mehr. Ist dies aber richtig, 
so ist der Schluss begründet, dass der $ 29 RGO, nur eine polizeiliche 
Bedeutung hat, nicht aber, wie das Reichsgericht ausführt, die ärzt- 
liche Berufsthätigkeit definitiv zu einem Gewerbe stempeln will. 

Gegen die Ansicht des Reichsgerichts können ferner Bestimmungen 
aus der preussischen Gesetzgebung, Kommentatoren der Reichsgewerbe- 
ordnung sowie Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts und des 
Kammergerichts mit Erfolg in das Feld geführt werden. 

Zunächst ist an das Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 
zu erinnern, welches im $ 15 wissenschaftliche Thätigkeit nicht ein 
Gewerbe, sondern „Gewinn bringende Beschäftigung“ nennt, ebenso 
wie Artikel 21 der Ausführungs-Anweisung vom 5. August 1891 
den Gewinn aus der Thätigkeit als Arzt demjenigen aus Handel und 
Gewerbe in ausdrücklichen Bestimmungen gegenüberstellt. In gleicher 
Weise nimmt $ 4 No. 7 des Gewerbesteuergesetzes vom 24. Juni 1891 
„den Beruf des Arztes“ ausdrücklich von der Zahlung der Gewerbe- 
steuer aus und erkennt damit von seinem Standpunkte aus unzwei- 
deutig an, dass die Thätigkeit des Arztes nicht unter den Begriff 
des Gewerbes falle. Ferner ist von der Rechtssprechung die An- 
wendung des $ 14 RGO., welcher für den Beginn des selbstständigen 
Gewerbe-Betriebes eine Anmeldung vorschreibt, auf Aerzte verneint 
worden. In gleichem Sinne spricht sich der bedeutende Kommentar 
zur RGO. von Landsmann aus, indem er Seite 31 sagte: „Nicht zu 
den Gewerben zu rechnen sind die persönlichen Dienstleistungen 
höherer Art, die eine höhere Bildung erfordern — die Seelsorge, 
die Ertheilung von Unterricht, die Thätigkeit des Arztes“. 


1) Deutsche Jurist.-Ztg. 1901, No. 18. 


6 Fromme, 


Anlangend die Praxis des Oberverwaltungsgerichts und des 
Kammergerichts, so betont ersteres in verschiedenen Entscheidungen, 
dass der árztliche Beruf als solcher ungeachtet der Bestimmungen 
in den $$ 6, 29, 53, 80 Abs. 2 RGO. noch kein Gewerbe im Sinne 
der Reichsgewerbeordnung oder des Krankenversicherungsgesetzes 
sei (Entsch. Bd. 24 S. 322), und dass der Arzt, wenn er auch nicht 
die Stellung óffentlich-rechtlicher Natur des Anwalts einnehme, doch 
durch $ 6 RGO. keineswegs unbedingt den Vorschriften der Gewerbe- 
ordnung unterworfen werde, vielmehr lediglich insoweit, als dieses 
Gesetz in den $$ 29, 53, 80 Abs. 2 ausdrückliche Vorschriften über 
die Heilkunde enthalte (Entsch. Bd. 23 S. 43). Das Oberverwaltungs- 
gericht folgert daraus, dass in der Gewerbeordnung der Hauptsache 
nach nur die Regelung der polizeilichen Seite bewirkt sei, und fährt 
fort, dass die ars liberalis des Arztes einen gewöhnlichen Gewerbe- 
betrieb ohne weiteres, d. h. ohne das Vorhandensein besonderer, die 
konkrete Sachlage in einer anderen Richtung beherrschender Ver- 
hältnisse, nicht darstelle, zumal bloss aus dem Grunde, dass die 
Elemente öffentlich-rechtlicher Bedeutung fehlen, eine gewinnbringende 
Beschäftigung dem Betriebe des stehenden Gewerbes nicht zuge- 
rechnet werden könne. 

Elemente óffentlich - rechtlicher Bedeutung mangeln aber der 
ärztlichen Thätigkeit keineswegs, im Gegentheil, sie sind, wie bereits 
oben dargethan ist, in gewichtiger Anzahl in ihr vorhanden. Ein 
hieraus hergeleitetes Bedenken ist daher nicht nur rechtlich, wie das 
Oberverwaltungsgericht meint, sondern auch ibatsächlich unbegründet. 

Der obigen Ansicht des Oberverwaltungsgerichts ist das Kammer- 
gericht schon in einem Urtheile vom 12. November 18948) und jetzt 
wieder in einem Beschlusse vom 14. Januar 1901°) gefolgt. Es 
setzt darin auseinander, dass aus der RGO. nicht die Absicht hervor- 
gehe, die ärztliche Thätigkeit auch im Sinne anderer Gesetze als 
Gewerbe zu erklären, dies könne bei der begrenzten Aufgabe jenes 
Gesetzes auch nicht angenommen werden, und wenn das Reichs- 
gericht von dem Gewerbebegriffe den rein wissenschaftlichen und 
künstlerischen Beruf ausschliesse, so sei auch die ärztliche Berufs- 
thätigkeit diesen Ausnahmen zuzuzählen. 


` 8) Jahrbuch für Entsch. d. KG. von Johow Bd. 16 S. 316. 
% Jahrbuch Bd. 21 S. A. 347. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 7 
| zur Verschwiegenheit im Beruf. 
In Uebereinstimmung hiermit führt die Denkschrift zum Entwurf 
des neuen Handelsgesetzbuchs — § 2 — aus: 


„Der Ausdruck „gewerbliches Unternehmen“ braucht im Gesetze 
nicht näher erläutert zu werden; schon vermöge der Bedeutung, 
welche ihm nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zukommt, genügt er, 
um Z. B. die Ausübung des ärztlichen Berufs davon auszuschliessen.“ 1) 


Nur einen Ausnahmefall stellen das Oberverwaltungsgericht wie 
das Kammergericht fest, in dem ein Arzt Gewerbetreibender sein 
kann, nämlich sofern mit der Ausübung des ärztlichen Berufs der 
Betrieb einer Heilanstalt verbunden ist. Jedoch noch nicht die 
Thatsache eines solchen Betriebes allein genügt bereits zur Annahme 
eines Gewerbebetriebes. „Wenn“, sagt das Oberverwaltungsgericht!!), 
„Aerzte Kranken- und Heilanstalten hauptsächlich zu dem Zwecke 
betreiben, um aus der Gewährung von Aufenthalt und 
Unterhalt gegen Entgelt Gewinn zu erzielen, wenn 
also für den Arzt der Betrieb der Anstalt Selbstzweck 
ist, dem sich die Ausübung der ärztlichen Thätigkeit unterordnet, 
so dient letztere lediglich dem Zwecke des gewerblichen Anstalts- 
betriebes. Die gesammte Erwerbsthätigkeit des ärztlichen Unter- 
nehmens erscheint dann als Gewerbebetrieb und demgemäss der ganze 
Gewinn aus dieser Thätigkeit als gewerbesteuerpflichtiger Ertrag.“ 


Diese Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nimmt das 
Kammergericht — unter geringer Abweichung von seiner früheren 
engeren Auffassung in obengedachtem Urtheile vom 12. November 
1894 — durch den Beschluss vom 14. Januar 1901 völlig auf, 
indem es dazu bemerkt: „Ist der Anstaltsbetrieb Selbstzweck, hat 
also der Arzt die Absicht, grade aus der Gewährung von Aufenthalt 
und Unterhalt Gewinn zu ziehen, und stellt die ärztliche Thätigkeit 
sich nur als ein wenn auch wesentliches Glied in der Kette der- 
jenigen Einrichtungen dar, welche in ihrer Zusammenfassung als 
Anstaltsbetrieb Gewinn abwerfen sollen, so muss das Vorhandensein 
eines gewerblichen Unternehmens anerkannt werden.“ 


Da somit die höchsten Gerichtshöfe des preussischen Staates in 

1°) Anscheinend anderer Ansicht das Reichsgericht Bd. 39 S. 138. Entsch. 
in Civ. 

11) Urtheil des OVG. vom 5. Mai 1898. D. Jur. Ztg. 1898 8. 331. 


8 Fromme, 


dieser Frage derselben Ansicht sind, so ist der Werth ihrer Aus- 
führungen für den ärztlichen Stand und namentlich für diejenigen 
Aerzte, welche eine Klinik auf eigne Rechnung leiten, von grosser 
Wichtigkeit. Bei der Unterhaltung einer Heilanstalt ist daher darauf 
zu achten, dass die Ausübung der ärztlichen Kunst der Hauptzweck 
der Thätigkeit bleibt. Geschieht dies, so kann von einem Gewerbe- 
betriebe niemals die Rede sein, da eben die Gründe der Ausnahme, 
welche den Arzt zum Gewerbetreibenden machen können, von vorn- 
herein nicht gegeben sind. 

Aus allem Gesagten ergiebt sich deutlich, dass Gesetzgebung 
wie Rechtsprechung überwiegend dahin neigen, die Thätigkeit des 
Arztes keineswegs lediglich als eine werbende, der Erlangung von 
Vermögensvortheilen allein dienende zu erachten; sie erblicken viel- 
mehr im ärztlichen Beruf eine ars liberalis, welche bestimmt und 
berufen ist, in gleichem Maasse dem Publikum zu dienen wie öffent- 
lichen Interessen gerecht zu werden. Eine ganz hervorragende An- 
erkennung dieses Verdienstes der Aerzte um die Wahrung des öffent- 
lichen Wohls enthält der Erlass des Ministers der Medizinal-Ange- 
legenheiten vom 31. August 1901 betreffend Abstandnahme von der 
Einziehung des Stempels für die Verleihung des Titels „Sanitätsrath“, 
„Geheimer Sanitátsrath“ an nichtbeamtete Aerzte. Der Erlass lautet 
in Absatz 1: „Die Stellung, welche der ärztliche Stand und seine 
Mitglieder nach der neueren Gesetzgebung in gesundheitlichen 
Fragen einnehmen, das erhöhte Maass, in welchem sie an der 
Lösung der Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege gegen früher 
betheiligt werden, sowie eine Reihe óffentlich-rechtlicher Befugnisse 
und Verpflichtungen, welche ihnen in Bezug auf die Ermittelung 
und Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten auferlegt sind, recht- 
fertigen es, auch die nicht beamteten Aerzte nicht mehr als Privat- 
personen im Sinne des Stempelsteuergesetzes anzusehen, sondern an- 
zunehmen, dass sie auf dem Gebiete der Gesundheitspflege, wie die 
Rechtsanwälte auf dem der Rechtspflege, eine eigenartige Stellung 
öffentlich-rechtlichen Charakters bekleiden.“ 

Diese durchaus gerechtfertigte und den Zeitverhältnissen ent- 
sprechende Kundgebung bildet wiederum einen schweren Stoss gegen 
die Auffassung der ärztlichen Thätigkeit als Gewerbebetrieb. Nicht 
lange wird es hoffentlich mehr währen, bis jene Resolution zu einem 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 9 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

thatsächlichen Erfolge führt, welche auf Anregung der deutschen 
Aerzte schon bei Berathung der Gewerbeordnungs-Novelle vom 1. Juni 
1883 vom Reichstag beschlossen wurde: 

„den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, Fürsorge zu treffen, 

dass dem Reichstage ein Gesetzentwurf zur Herstellung einer 

Aerzteordnung vorgelegt werde —“, 
eine Resolution, auf welche damals leider der Reichskanzler entschied, 
dass die reichsgesetzlichen Vorschriften ausreichten, und daher der 
weitere Ausbau der Organisation des ärztlichen Standes zunächst der 
Landesgesetzgebung überlassen bleiben könne. Wird aber erst auf 
dem Wege der Gesetzgebung durch Schaffen einer Aerzte-Ordnung 
dieses Ziel erreicht und festgelegt, so ist mit ihm — wie bereits 
den Rechtsanwälten — den Aerzten eine Stellung geschaffen, die mit 
einem Schlage die unerquickliche und dem Stande nicht würdige 
Streitfrage nach dem Gewerbebetriebe durch Heraushebung der 
Aerzte aus der RGO. endgültig beseitigt. Dieses hohe Ziel anzu- 
streben, muss die Aufgabe aller Aerzte sein! 


Einen bedeutsamen Schritt auf dieser Bahn bildet bereits das 
Gesetz vom 25. November 1899, betreffend die ärztlichen Ehren- 
gerichte, das Umlagerecht und die Kassen der Aerztekammern. Eine 
wichtige Stufe zur Erreichung dieses Zieles ist ferner die dem óffentlich- 
rechtlichen Gesetzgebiete angehörende Bestimmung des $ 300 Straf- 
gesetzbuch, welche besagt: 

„Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Vertheidiger in Strafsachen, 
Aerzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker, sowie die Gehilfen 
dieser Personen werden, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse 
offenbaren, die ihnen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes 
anvertraut sind, mit Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert 
Mark oder mit Gefängniss bis zu drei Monaten bestraft. 


Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.“!?) 


13) Litteratur: 

Liebmann, diePflicht des Arzteszur Bewahrung anvertrauter Geheimnisse 1890. 

Rapmund, der beamtete Arzt u. ärztliche Sachverständige Bd. I, 1900S. 38ff. 

Mittermaier, Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft Bd. 21 
Heft 2: „Gutachten über $ 300 StGB.“ S. 197ff. 

D. J. Hippe, Goltdammer Archiv Bd. 46 S. 283 ff. „Unbefugte Offenbarung 
von Privatgeh. nach $ 300 StGB.“ 


10 Fromme, 


Der gesetzgeberische Grund einer solchen Bestimmung liegt auf 
der Hand. Soviel Vertrauen auch die Heilkunde und deren Träger, 
der Arzt, den Kranken einflössen mag, ein Rest von Scheu und 
Zurückhaltung würde doch bleiben und den Kranken an der „Mit- 
theilung diskreter Dinge“ hindern, wenn er nicht wüsste, dass der- 
jenige, der ihm helfen will, neben der moralischen Pflicht zur Ver- 
schwiegenheit noch vom Gesetzgeber die Auflage erhalten hat, anver- 
traute (Geheimnisse zu bewahren. Mit dieser Kenntniss schwindet 
jeder Grund zum Misstrauen, und damit ist nicht nur den Kranken, 
sondern auch dem Arzte gedient. Denn je besser der Schaden offen 
gelegt wird, desto eher und sicherer kann seine Heilung bewirkt 
werden. Deshalb reichen die geschichtlichen Zeugnisse, welche sich 
auf die Geheimhaltungspflicht der Aerzte beziehen, auch in ferne 
Jahrhunderte zurück. Bereits im Herodot finden wir sie für die 
Magier des alten Aegyptens, und nicht unbekannt ist jene dem 
Hippokrates zugeschriebene Eidesformel geblieben, welche die Summe 
der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht dahin bestimmte: 


„Wenn ich bei Ausübung des Berufes wie auch ausserhalb 
der ärztlichen Thätigkeit im täglichen Leben etwas sehe und 
höre, dessen Bekanntgeben sich nicht ziemt, so werde ich es 
geheim halten und darüber schweigen.“ 13) 


Eine dem $ 300 StGB. ähnliche Bestimmung ist daher schon im 
Jahre 1725 in das preussische Medizinaledikt aufgenommen, und im 
Laufe der Zeit ist aus ihr unter Berücksichtigung der entsprechenden 
Bestimmungen anderer Länder obige Vorschrift hervorgegangen. 


Bei ihrer Prüfung tritt als erste Frage entgegen: wer ist im 
Sinne dieses Gesetzes Arzt? Arzt ist diejenige Person, welche sich 
im Besitze der Approbation aus $ 29 RGO. befindet und die mensch- 


Oppenhoff und Olshausen, Kommentare z. RStGB. 

Dr. Placzek, das Berufsgeheimniss des Arztes, 2. Auflage, 1898. 

Dr. Schlegtendal, „Das Berufsgeheimniss der Aerzte‘ in „Deutsch. Mediz. 
Wochenschrift 1895 S. 503 ff.“ 

Dr. Rosenthal, „Die Anzeigepflicht bei Geschlechtskrankheiten“ in , Berliner 
Klinische Wochenschrift 1899 S. 240 ff.“ 

Prof. Dr. Aschaffenburg, ,,Berufsgeheimniss u. Psychiatrie“ in „Aerztliche 
Sachverst. Zeitg. 1901 Nr. 23 S. 473 ff.“ 

t8) Ausführlich bei Placzek S. 57 ff. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 11 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

liche Heilkunde ausübt. 11) Diese zwei Erfordernisse genügen. Thier- 
ärzte sind damit ausgeschlossen. Wenn für Preussen ausserdem 
durch Polizeiverordnungen eine besondere An- und Abmeldung beim 
Kreisarzt geboten ist, !5) so regelt diese Vorschrift nur die polizeiliche 
Seite. Von ihrer Befolgung kann die Feststellung, ob Jemand im 
Umfange des $ 300 StGB. Arzt ist, nicht abhängig gemacht werden. 
Ebensowenig würde es, wie schon oben ausgeführt, zutreffend sein, 
das Vorhandensein des Begriffes „Arzt“ im Sinne dieses Gesetzes 
dann zu verneinen, wenn ein Arzt auf dem Umwege des Honorar- 
erlasses seine Berufsthätigkeit unentgeltlich ausübt. Beide Ansichten 
müssen schon an der Erwägung scheitern, dass bei ihrer Anwendung 
der unentgeltlich thätige Arzt trotz etwaiger Verletzung von Treu 
und Glauben aus $ 300 StGB. ungestraft bleiben würde, eine 
Konsequenz, die dem Willen und dem Wortlaut des Gesetzes zuwider 
laufen würde. Auf demselben Gedanken beruht auch die fast all- 
gemein gebilligte Annahme, welche denjenigen Arzt, der seinen Beruf 
bereits aufgegeben hat, bezüglich seiner ganzen früheren Praxis noch 
dem Verbot des $ 300 StGB. unterstellt. 16) 

Miteinbegriffen sind die Gehilfen des Arztes und zwar aus den 
gleichen Gründen, welche die Vorschrift für den Arzt selbst als 
angezeigt erscheinen liessen. Als solche Gehilfen sind Assistenzärzte, 
Heilgehilfen, Krankenschwestern, kurz alle diejenigen Personen zu 
verstehen, welche bei Behandlung des Kranken dem Arzte thätige 
Hilfe leisten oder in seiner Abwesenheit seine den Patienten be- 
treffenden Anordnungen ausführen. Demgemäss versteht es sich 
von selbst, dass die Vertreter der Aerzte keineswegs ausgenommen, 
sind, da auch der Vertreter dem ärztlichen Stande angehört. 

An zweiter Stelle ist der Begriff ,Geheimniss“ klar zu legen. 
Unter der Fülle von Definitionen, welche Theorie und Praxis hier 
bieten, scheint mir die Meinung des Reichsgerichts die beste und 
herrschende und daher ihre Wiedergabe am zweckmässigsten. Nach 
derselben 1”) „können unter den Begriff „Geheimniss“ nicht bloss 





14) Rechtspr.d. Reichsg. i. Strafs. Bd. I S. 177; Deutsche Jurist. Zeitg. 1901 Nr. 18. 

15) Vergl. Johow, Jahrb. f. Entsch. d. KG. Bd. 13 S. 289, 

16) Olshausen Anm. 4 Abs. 3 zu $ 300 StGB. Hippe Archiv S. 289: 
„Wer als Arzt eingeweiht ist, hat für immer zu schweigen“; anders Oppenhoff 
Note 5. 

17) Entsch. d. Reichsg. i. Strafs. Bd. 13 S. 60ff., Urth. v 22. Oct. 1885. 


19 Fromme, 


die Krankheiten selbst gehören, die der Arzt heilen sollte, sondern 
noch andere Dinge, die er bei der Untersuchung oder bei der 
Behandlung der Kranken oder beim Nachforschen über die Ur- 
sachen der Krankheit kennen gelernt hat, überhaupt solche, wenn 
auch nicht zu den Krankheiten selbst zu rechnende Thatsachen, 
deren Kenntnissnahme in das Gebiet der Ausübung des Berufes 
des Arztes als solchen fällt und die er in seiner Eigenschaft als 
Arzt wahrgenommen hat. Gleichwohl lässt sich nicht behaupten, 
dass die Offenbarung jeder derartigen Wahrnehmung ohne Weiteres 
durch den $ 300 StGB. mit Strafe hat bedroht werden sollen. Ist 
dem Arzte als solchem eine Mittheilung mit der ausdrücklichen 
Auflage gemacht worden, sie geheim zu halten, so hat man aller- 
dings dieselbe als ein Geheimniss der in dem Paragraphen bezeich- 
neten Art schon wegen dieser Auflage anzusehen. Eine derartige 
Anforderung kann sich aber auch aus den Umständen ergeben, und 
dies wird der Fall sein, wenn — sei es aus Rücksicht auf Anstand 
und Sitte oder aus anderen Gründen, — ein Interesse derjenigen 
Personen, mit denen der Arzt als solcher zu thun hat, an der 
Geheimhaltung erkennbar ist oder wenn das Bekanniwerden der 
vom Arzt gemachten Wahrnehmungen Ehre, Ansehen oder Familien- 
verhältnisse der betreffenden Person beeinträchtigen oder schädigen 
würde. Ebendeshalb ist der Ausdruck „Privatgeheimniss“ gewählt, 
um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich um solche Geheimnisse 
handle, vor deren Bewahrung Privatpersonen interessiert sind.“ 
„Offenkundige!®) Dinge können natürlich nicht mehr geheim gehalten 
werden, aber Dinge, von denen andere nur eine unsichere oder 
ungewisse Kenntniss haben, gelten nicht als offenkundige.“ 

Im letzeren Falle hatte eine von ihrem Ehemanne misshandelte 
Frau selbst anderen Personen davon erzählt. Auf das hierdurch ent- 
standene Gerücht hin war der sie behandelnde Arzt über den wahren 
Sachverhalt auf der Strasse im Vorübergehen befragt und hatte den- 
selben mitgetheilt. Er ist aus obigen Gründen bestraft und seine 
Revision ist vom Reichsgericht verworfen. 

„Ausserdem aber,“ fährt das Reichsgericht fort, „verlangt das 
Gesetz, dass das Privatgeheimniss dem Arzt anvertraut sei. Anvertraut 


18) Urtheile d. Reichsg. v. 26. Juni 1894 Entsch. Bd. 26 $. 6. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 13 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

ist es, wenn es als Geheimniss, also nach dem Vorstehenden mit 
der ausdrücklichen Auflage des Geheimhaltens oder unter solchen 
Umständen demselben mitgetheilt oder seiner Kenntniss unterworfen 
wurde, aus denen sich die Anforderung des Geheimhaltens still- 
schweigend ergab.!?) Die Mittheilung oder Zugänglichmachung aber, 
um die es sich hier handelt, braucht nicht in einer Darlegung der 
Krankheit oder der sonstigen bereits erwähnten Thatsachen oder 
Verhältnisse zu bestehen, die ohnehin so beschaffen sein können, 
dass sie der Arzt selbst durch seine eignen Beobachtungen vermöge 
der ihm beiwohnenden Sachkunde wahrzunehmen vermag. Vielmehr 
genügt es, dass der Arzt als solcher zugezogen ist; damit ist ihm 
als Arzt auch dasjenige mitgetheilt oder seiner Kenntnissnahme 
zugänglich gemacht, was er demnächst in Ausübung seines Berufes 
in Erfahrung bringt, und soweit dies für ein Geheimniss erachtet 
werden muss, hat es ihm der Zuziehende im Sinne des Gesetzes 
anvertraut.‘ 20) 

Aus diesen massgebenden Auseinandersetzungen des Reichs- 
gerichts ist zu folgern, dass im allgemeinen für den Arzt bei Aus- 
übung seiner Praxis alle Wahrnehmungen, an deren Verschweigung 
und Geheimhaltung die Betheiligten ein erkennbares Interesse, wenn 
auch nur das geringste, haben können, als anvertraute Geheimnisse 
gelten müssen, ganz gleich, ob die ausdrückliche Auflage zur Ver- 
schwiegenheit erfolgte oder nicht. Dazu gehören an erster Stelle 
diejenigen Thatsachen, welche der Arzt vermöge seiner besonderen 
Ausbildung wahrnimmt, wenn er z. B. den Körper des Patienten 
untersucht oder dessen Schilderung seines Leidens entgegennimmt. 
Ferner aber auch dasjenige, was ihm der Patient hierbei in Bezug 
auf seine Krankheit von dritten Personen mittheilt oder was er 
aus dessen Angaben mit Wahrscheinlichkeit bezüglich Dritter folgern 
kann, z. B. ein Geschlechtskranker nennt oder deutet hin auf die 
Person, von der er die Erkrankung sich zugezogen haben will. Selbst 
Aeusserungen, welche der Kranke im Delirium des Fiebers bei be- 
wusstlosem Zustande ausstösst, gelten für den Arzt als anvertraut, 
Endlich fallen bierunter alle diejenigen Mittheilungen, die der Arzt 


1) Diese Ansicht ist wiederholt Entsch. i. Strafs. Bd. 26 S. 8. 


20) Gleicher Ansicht das RG. in Civilsachen Entsch. Bd. 30 S. 382, Gruchot 
Bd. 38 S. 498; ferner O. L. G. zu Stuttgart in Deutsche Jur. Zeitg. 98 S. 391 Nr. 7. 


14 Fromme, 


zwar als Privatperson, aber doch bei Gelegenheit oder aus Veran- 
lassung seiner Berufsthätigkeit empfängt, mögen sie vom Patienten 
oder von Dritten ausgehen, mögen sie den Patienten oder dessen 
Familie oder andere Personen betreffen, mögen sie bewusst oder 
unbewusst geschehen sein. Ganz gleichgültige Dinge werden zwar 
an sich nicht unter die Strafvorschrift fallen, da aber der vom Reichs- 
gericht gegebene Massstab, ob durch Bekanntwerden einer Wahr- 
nehmung Ehre, Ansehen oder Familienverhältnisse der betreffenden 
Person geschädigt oder beeinträchtigt sind, einer sehr subjectiven 
Auslegung fähig sein dürfte und da dem Einen anscheinend ganz 
gleichgültige Thatsachen für den Andern von Bedeutung werden 
können, so ist für alle Fälle dem Arzt die grösste Vorsicht 
in dieser Richtung geboten. 

Ferner erfordert der Ausdruck „offenbaren“ eine kurze Erörterung. 
Nach der Entstehungsgeschichte des $ 300 StGB. war statt seiner 
anfangs das Wort „veröffentlichen“ beabsichtigt. Dessen Umfang ist 
aber ein weiterer wie „offenbaren“, welcher schon durch jede Mit- 
theilung an einen Anderen erfüllt wird“.2!) Das Gesetz hat also 
wohlüberlegt den engern Ausdruck gewählt und damit eine weitere 
Mahnung zur Vorsicht ertheilt. ,,Offenbaren“ ist nicht „veröffent- 
lichen“, wie Mittermaier sagt, „es ist der Gegensatz des treuen 
Geheimhaltens und bedeutet also nur öffnen des Treuverhältnisses 
durch mittheilen des Geheimnisses an irgend einen andern“. ??) 

Das Motiv, aus dem das Geheimniss offenbart wurde, ist gleich- 
gültig, die Thatsache des Offenbarens allein entscheidet, mag sie 
ihren Ursprung in der Absicht zu beleidigen haben, oder mag sie 
auf Leichtsinn oder auf Schwatzhaftigkeit oder gar auf gutgemeinter 
Absicht beruhen. 

Das vorsätzliche Offenbaren, d. h. das Offenbaren mit dem 
Bewusstsein der mangelnden Befugniss zur Offenbarung und des 
Vorhandenseins eines anvertrauten Privatgeheimnisses — ist stets 
strafbar. Bestritten ist die Frage, ob die Strafthat aus $ 300 StGB. 
auch durch Fahrlässigkeit, d. h. durch Ausserachtlassen der im 
Verkehr erforderlichen Sorgfalt begangen werden kann; z. B. indem 
ein Dienstbote die auf dem Schreibtisch des Arztes liegen gebliebenen 


22) Entsch. d. RG. in Strafsach. Bd. 26 S. 8. 
22) Vgl. Anm. 13: Mittermaier S. 210 No. V. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 15 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

Notizen über einen Krankheitsfall liest und deren Inhalt anderen 
Personen erzählt. Die gemeine Meinung verneint eine Strafbarkeit 
durch Fahrlässigkeit, weil das fahrlässig begangene Vergeben nur 
kraft besonderer Strafandrohung strafbar sei, eine solche aber in 
$ 300 StGB. fehle. Zahlreiche und namhafte Rechtslehrer betonen 
aber, dass das Delikt aus $ 300 StGB. auch durch Fahrlässigkeit 
begangen werden kónne.?3) Eine Entscheidung des Reichsgerichts 
ist in dieser Richtung noch nicht ergangen. Da sie auch im letzteren 
Sinne ausfallen kann, zumal $ 300 StGB. eine Bestimmung enthält, 
die in ganz hervorragendem Masse zum Schutz von Treu und Glauben 
gegeben ist, so scheint es für den Arzt rathsam, die im Verkehr 
erforderliche Sorgfalt auch in dieser Beziehung zu beobachten, um 
eine Verletzung des Berufsgeheimnisses aus Fahrlässigkeit ebenfalls 
jederzeit zu vermeiden. 

Aber noch ein weiteres Erforderniss wird vom Gesetz für die 
Strafbarkeit der Offenbarung eines anvertrauten Privatgeheimnisses 
aufgestellt, ein Erforderniss, dessen Beleuchtung den Kernpunkt der 
ganzen Erörterung bildet: das Offenbaren muss ein unbefugtes 
gewesen d. h. ohne ein zur Seite stehendes, die Offenbarung be- 
gründendes und erlaubendes Recht geschehen sein. Da im Zweifel 
jedes Geheimniss dem Arzt bei Ausübung seiner Berufspflicht an- 
vertraut wurde, so ist als Prinzip des $ 300 StGB. zu erachten, dass 
jede Offenbarung als unbefugt gelten muss, sofern sie nicht 


a) mit dem Einverständniss des Anvertrauenden erfolgt oder 

b) durch gesetzliche Vorschrift für zulässig erklärt wird oder 

endlich 

c) aus Rücksichten der öffentlichen Gesundheitspflege bezw. zur 

Wahrung des Wohls eines Menschen oder besonderer per- 
sönlicher Interessen sich rechtfertigt. 

Zunächst ist klar, dass sich ein Arzt dann eines Vertrauens- 
bruchs nicht schuldig macht, wenn diejenige Person, welche das 
Vertrauen schenkte, ihn von der Pflicht der Verschwiegenheit aus- 
drücklich oder in sonst unzweideutiger, verbindlicher Weise entbunden 
hat. Diese Dispensation kann für die Allgemeinheit oder auch nur 
für einen bestimmten Kreis von Personen geschehen sein. Eine 


75) Olshausen Anm. 10; Mittermaier S. 217; Placzek S. 13—14; 
Aschaffenburg S. 474 rechts, vgl. Note 13. 


16 Fromme, 


solche beschränkte Einwilligung giebt derjenige, welcher sich dem 
Arzt gestellt, um ein Attest über seinen körperlichen Zustand für 
eine Versicherungsgesellschaft, eine Behörde, einen Principal u. a. m. 
zu erhalten. Bei der Mittheilung des Befundes an den Vorstand der 
Gesellschaft kann natürlich von einer strafbaren Verletzung der 
Berufsverschwiegenheit nicht die Rede sein, wohl aber bei der Be- 
kanntgabe an andere unbetheiligte Personen. Zu beachten ist bei 
diesem Punkte, dass mehr als eine Person dem Arzt das Ge- 
heimniss anvertraut haben kann. Verhältnisse dieser Art können 
namentlich da vorkommen, wo nicht der Kranke selbst den Arzt 
zugezogen hat, sondern ein dritter.) Ein solcher ist nicht etwa 
derjenige, der zufällig einen fremden Kranken fand und aus Menschen- 
freundlichkeit den Arzt herbeiholte — er vertraut kein Geheimniss 
an —, wohl aber diejenige Person, „welche die rechtliche Ver- 
pflichtung oder die rechtliche Befugniss hat, für Einholung ärztlichen 
Rathes auch bei krankhaften Zuständen anderer Personen Sorge zu 
tragen.“ Solche Verpflichtung oder Befugniss liegt ob z. B. dem 
Vater bei Erziehung der Kinder, dem Ehemann in Beziehung auf 
die mit ihm zusammenlebende Ehefrau, dem Familienhaupt mit 
Rücksicht auf die im Haushalt befindlichen Personen. Daraus ergiebt 
sich, dass in einem solchen Falle wie dem letzteren sowohl vom 
Familienhaupt selbst als neben ihm von dem betreffenden Familien- 
oder Haushaltsmitglied dem Arzt ein Geheimniss anvertraut sein 
kann. Wer aber anvertraute — und dies kann sogar derjenige thun, 
der nur Mitwisser eines Geheimnisses ist — muss um die Erlaubniss 
zur Offenbarung befragt werden. Dieser Grundsatz tritt besonders 
hervor, wenn Vorstände von Lebensversicherungsgesellschaften nach 
dem Tode des Versicherten, also des Treugebers, noch ein Attest 
über die Ursache des Ablebens fordern. Hier muss sich der Arzt 
der Zustimmung der Erben versichern, bevor er das Attest aus der 
Hand giebt, da nur diese zu einem Strafantrage berechtigt sein können, 
andernfalls soll er das Attest verweigern. Eine stillschweigend ertheilte 
Zustimmung ist auch anzunehmen, sobald in Kliniken verfügungs- 
fihige?5) Kranke vorgeführt werden, um einem Kreise von Zuhörern 
Gegenstand der Belehrung zu werden. Indem der Patient Wider- 


24) Entsch. d. RG. i. Strafs. Bd. 13 S. 63. 
25) Ueber nicht verfügungsfähige Kranke vgl. unten. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 17 

zur Verschwiegenheit im Beruf. 
spruch nicht erhebt, willigt er gleichzeitig in die Besprechung seiner 
Krankheit, dies um so mehr, da das in Kliniken übliche Verfahren 


allgemein bekannt ist. 


a Zweitens handelt der Arzt nicht „unbefugt“, wenn gesetzliche 


Vorschriften seine Offenbarung rechtfertigen. Hierbei ist an erster 
Stelle darauf hinzuweisen, dass unsere Strafgesetzgebung zwar die 
Befugniss eines jeden Staatsbürgers, strafbare Handlungen zur 
Anzeige zu bringen, nicht beschränkt, aber eine Pflicht hierzu nur 
in den Fällen des § 139 StGB. und §§ 5, 6, 7, 13 Reichsgesetz 
vom 9. Juni 1884 gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen 
Gebrauch von Sprengstoffen auferlegt. 


§ 139 lautet: „Wer von dem Vorhaben eines Hochverraths, 
Landesverraths, Münzverbrechens, Mordes, Raubes, Menschenraubes 
oder eines gemeingefährlichen Verbrechens zu einer Zeit, in welcher 
die Verhütung des Verbrechens möglich ist, glaubhafte Kenntniss 
erhält und es unterlässt, hiervon der Behörde oder der durch das 
Verbrechen bedrohten Person zur rechten Zeit Anzeige zu machen, 
ist, wenn das Verbrechen oder ein strafbarer Versuch begangen 
worden ist, mit Gefängniss zu bestrafen“. 


Die §§ 13, 5, 6, 7 RG. vom 9. Juni 1884 setzen die Bestrafung 
desjenigen aus $ 139 StGB. fest, der von dem Vorhaben des ver- 
brecherischen und gemeingefährlichen Gebrauchs von Sprengstoffen 
in glaubhafter Weise Kenntniss erhält und rechtzeitige Anzeige an 
die bedrohte Person oder an die Behörde unterlässt. 


Bei beiden Bestimmungen ist zu beachten, dass nur von dem 
„Vorhaben“ eines der gedachten Verbrechen Anzeige erstattet werden 
muss und auch nur solange, als dadurch die Verübung verhütet 
werden kann. Ist die Strafthat bereits vollendet, so besteht die 
Anzeigepflicht nicht mehr. Sonst aber liegt sie jedem ob, selbst 
demjenigen, der z. B. in einem solchen Falle von der Abgabe eines 
Zeugnisses überhaupt befreit ist (den Ehegatten, den Eltern im Ver- 
hältniss zu den Kindern u. a. m.),**) mithin auch dem Arzte, obschon 
er bei Ausübung des Berufes Kenntniss von dem Vorhaben erlangt 
hat. Der $ 139 StGB. setzt eben insoweit den $ 300 ausser Kraft. 


2) Reichsg. Rechtspr. i. Strafs. Bd. 1 S. 784; Goltd. Archiv Bd. 3 S. 314 
bis 315. 
2 


18 Fromme, 


Dasselbe ist der Fall, sofern Aerzte durch gesetzliche oder 
polizeiliche Vorschriften zur Anzeige von Erkrankungsfällen u. s. w. 
verpflichtet sind. An erster Stelle steht hier neben anderen Ver- 
ordnungen, deren Anführung zu weit führen würde, das noch gültige 
pr. Regulativ vom 8. August 1835 (GS. S. 240), welches im $ 9 
lautet: 

„Alle Medicinalpersonen sind schuldig, von den in ihrer Praxis 
vorkommenden Fällen wichtiger und dem Gemeinwesen Gefahr 
drohender ansteckender Krankheiten nach Massgabe der unter II ent- 
haltenen, näheren Bestimmungen sowie von plötzlich eingetretenen 
verdächtigen Erkrankungs- oder Todesfällen der Polizeibehörde un- 
gesáumt schriftlich oder mündlich Anzeige zu machen“. 

Die Bestimmungen unter II besagen im allgemeinen, dass 
Cholera, Typhus, Pocken, Weichselzopf und Wasserscheu infolge Bisses 
durch ein wuthkrankes Thier in jedem Falle anzeigepflichtig sind, 
dagegen Ruhr, Scharlach, Masern, Rötheln und kontagiöse Augen- 
entzündungen nur bei bösartigen bezw. ansteckenden oder zahlreichen 
Fällen, und Syphilis sowie Krätze, wenn nach dem Ermessen des 
Arztes. von der Verschweigung der Krankheit nachtheilige Folgen 
für den Kranken selbst oder das Gemeinwesen zu befürchten sind. 
Daneben aber liegt dem Arzt die Pflicht ob, die Gesammtzahl aller 
an Syphilis behandelten Kranken ohne Namen-Nennung bei der 
Polizei anzugeben. 

Die Anzeigepflicht bei Syphilis ist anerkennenswerther Weise 
in neuerer Zeit durch einen gemeinsamen Erlass des Ministers der 
geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten, des Ministers 
des Innern und des Kriegsministers vom 13. Mai 1898 den Aerzten 
in Erinnerung gebracht. ?”) 

Bezüglich der auf diesem Gebiete ergangenen Polizeiverord- 
nungen ist aber zu bemerken, dass ihre gesetzliche Grundlage 
die Kab.-Order vom 8. August 1835 nebst Regulativ bilden muss. 
„Soweit solche Polizeiverordnungen Bestimmungen enthalten, welche 
mit dem Regulativ übereinstimmen, gelten die Vorschriften des 
Regulativs, soweit sie aber Bestimmungen enthalten, welche über die 
des Regulativs hinausgehen, stehen sie mit dem letzteren in Wider- 


17) Abgedruckt in Zeitschrift für Medizinalbeamte 1898 Beilage S. 91 und 
im Medizinalkalender von Hirschwald 1899. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 19 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 
spruch und sind nach $ 15 Ges. vom 11. März 1850 über die 
Polizeiverwaltung insofern ungültig‘. 28) 

Ebenso ist für den einstigen Bezirk der Stadt Frankfurt a. M. 
noch die Vorschrift des § 179 der Frankfurter Medizinalverordnung vom 
29. Juli 1841 in Gültigkeit, nach welcher der eine Leiche untersuchende 
Arzt im Falle eines gewaltsamen Todes der Polizei sofort Anzeige 
zu machen hat.?? Zu den gewaltsamen Todesfállen sind auch die- 
jenigen zu rechnen, welche durch Unglücksfälle verursacht sind. 
Ausserdem betont das Kammergericht in seiner Entscheidung, welche 
diesen Fall betrifft, — auf den Einwand des Arztes, — dass die Verord- 
nung als durch non usus aufgehoben nicht gelten könne, „denn Straf- 
gesetze können nur durch Gesetzvorschriften, nicht aber durch Ge- 
wohnheiten entstehen, geändert oder aufgehoben werden“. 

Aus dem Gesagten folgt zugleich, dass ein Arzt dann unbefugt 
handelt, wenn er ausser diesen Fällen Anzeigen von Wahrnehmungen 
aus der Praxis bei den Behörden erstattet, sollten diese selbst 
Sittlichkeitsverbrechen, Abtreibungen der Leibesfrucht und ähnliche 
Missthaten betreffen. 

Besonders wichtig wird die vorliegende Frage für den Arzt, 
sobald er vor Gericht oder vor andere Behörden als Zeuge geladen 
wird, da ein ,Offenbaren“ auch in einer Mittheilung vor Gericht 
liegt. In erster Reihe steht hier seine Stellung als Zeuge in einer 
Strafsache. Der $ 52 Strafprozessordnung besagt: 

„Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 


3... Rechtsanwälte und Aerzte in Ansehung desjenigen, was 
ihnen bei Ausübung ihres Berufes anvertraut ist. 
Die unter No.... 3 bezeichneten Personen dürfen das 


Zeugniss nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur 

Verschwiegenheit entbunden sind“. 
Letztgedachte Vorschrift versteht sich von selbst und ist bereits 
oben erörtert. 

Ebenso ist bereits dargethan, dass im Zweifel alles, was der 
Arzt in Ausübung seiner Praxis erfährt, als anvertrautes Geheimniss 
zu gelten hat, da der Umfang des Interesses, welches andere daran 


23) Urth. des Kammergerichts vom 12. Mai 1898 D. Jur. Zeit. 98 8. 474 
und 18. April 1895 Johow Bd. 16 S. 465. 
22) Urth. d. KG. v. 8. Juli 1895 Johow Bd. 17 S. 465. 
2% 


20 Fromme, 


haben, nicht immer zu übersehen ist. Daraus folgt, dass ein Arzt in 
allen Fällen, in denen er Mittheilungen in Ausübung seines Berufes 
erhalten hat und nicht von der Schweigepflicht entbunden ist, sein 
Zeugniss ablehnen kann. Der Richter darf ihn nicht zur Aussage zwingen. 

Aber handelt der Arzt „unbefugt“, wenn er aussagt, trotzdem 
er nicht entbunden ist? Liebmann?*) bejaht dies in seiner Schrift 
und führt aus, dass der Arzt in allen Fällen, wo er bei nicht 
vorausgegangener Zustimmung Zeugniss ablege, unbefugt handle. 
Auch Dr. Schlegtendahl neigt sich dieser Ansicht zu, indem 
er auf ein Urtheil des Reichsgerichts Bezug nimmt, nach dem ein 
Arzt „unbefugt“ aussagen soll, wenn er von seinem Recht, das 
Zeugniss zu verweigern, ohne rechtfertigenden Grund keinen 
Gebrauch mache. Zugegeben selbst, dass das Reichsgericht einmal 
sich in diesem Sinne geäussert haben sollte, jetzt geht jedenfalls 
dessen Anschauung sowie die allgemeine Meinung in Theorie und 
Praxis dahin, dass § 52 Strafprozessordnung dem Arzt die Wahl 
stellt, zu sprechen oder zu schweigen, und der Gebrauch dieses 
Wablrechts, in welcher Form auch immer, niemals ein unbefugtes 
Handeln in sich schliessen kann. Das Reichsgericht3!) sagt ausdrück- 
lich, dass „das Gesetz die Aerzte nur für berechtigt, nicht aber 
für verpflichtet erklärt, das Zeugniss zu verweigern, und es 
daher ihrem pflichtgemässen Ermessen und ihrer Diskretion im 
einzelnen Falle überlässt, ob sie dem Richter die gewünschte Auf- 
klärung geben zu dürfen glauben oder nicht. Von einer Verletzung 
dieser Gesetzesstellen kann daher da, wo sich der Arzt veranlasst 
sieht, auf das Recht der Zeugnissverweigerung zu verzichten und 
sich mündlich oder schriftlich vernehmen zu lassen, keine Rede sein.“ 
Löwe, Kommentar zur Strafprocessordnung, fügt deshalb in einer 
Anmerkung zu $ 52 bei Besprechung dieses Urtheils hinzu: „In 
der Ablegung eines vom Richter geforderten Zeugnisses ist eine 
unbefugte Offenbarung im Sinne des $ 300 StGB. niemals ent- 
halten.“ 

Hiermit sind die abweichenden Ansichten von Liebmann und 
Schlegtendahl für die Praxis widerlegt. Aber auch Placzek’s 
Meinung, welche, solange keine Plenarentscheidung des Reichsgerichts 


30) Vgl. Anm. 13. 
81) Entsch. d. RG. in Strafs. Bd. 19 S. 364. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 21 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

vorliege, zur steten Zeugnissverweigerung demjenigen räth, der absolut 
sicher gehen wolle —, kann nicht für zutreffend erachtet werden, da nach 
Inhalt des gedachten Urtheils kein Zweifel obwaltet, dass jeder Arzt 
„absolut sicher geht“, auch wenn er sein Zeugniss nicht verweigert. 
— Einen Mittelweg schlägt Hippe32) vor, indem er unter Bekämpfung 
der allgemeinen Meinung je nach der Wichtigkeit des Strafprocesses 
und des anvertrauten Geheimnisses beim Ueberwiegen des ersteren 
den Arzt zur Aussage, selbst wider den Willen des Anvertrauenden, 
für berechtigt erklärt, im anderen Falle aber von ihm Schweigen 
fordert. Dieser Mittelweg ist wesentlich nichts Anderes, als die oben 
bereits besprochene Ansicht Schlegtendahls und keine principielle 
Lösung, die unter allen Umständen gefordert werden muss. Träfe 
diese Ansicht zu, so könnte jeder einzelne Fall, in dem ein Arzt 
Zeugniss ablegt, eine Anklage aus $ 300 StGB. zur Folge haben, 
und bei deren Beurtheilung würde es sodann der Nachprüfung des 
Strafrichters unterstellt sein, ob dem Arzt „ein seine Aussage recht- 
fertigender Grund“ zur Seite stand oder nicht. Damit wäre der 
Rechtsunsicherheit Thür und Thor geöffnet, und der Gesetzgeber ver- 
diente schweren Tadel, welcher eine Vorschrift von solcher Aus- 
legungsfähigkeit gegeben hätte. Glücklicher Weise ist aber $ 52 
StPOrd. ein derartiges Gesetz nicht und sein Wille ist deutlich und 
klar: Der Gebrauch seines Wahlrechts kann dem Arzt niemals 

eine strafrechtliche Gefahr bringen! 
Fast ebenso gestaltet sich die Vernehmung eines Arztes als 
Zeuge in einem Civilprocess. Hier besagt $ 383 Civilprocessordnung: 

„Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt ... . 

5. Personen, welchen kraft ihres Amtes, Standes oder Ge- 
werbes Thatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch 
die Natur derselben oder durch gesetzliche Vorschrift geboten 
ist, in Betreff der Thatsachen, auf welche die Verpflichtung zur 
Verschwiegenheit sich bezieht. 

Die Vernehmung der Nr. 5 bezeichneten Personen ist, 
auch wenn das Zeugniss nicht verweigert wird, auf Thatsachen 
nicht zu richten, in Ansehung welcher erhellt, dass ohne Ver- 
letzung der Verpflichtung zur Verschwiegenheit ein Zeugniss 
nicht abgelegt werden kann.“ 


3) Vgl. Anm. 13. 


22 Fromme, 


Dazu bringt $ 383 Abs. 2 auch für den Civilprocess die ganz 
selbstverständliche Bestimmung: 

„Die im $ 385 No. 5 bezeichneten Personen dürfen das 

Zeugniss nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur 

Verschwiegenheit entbunden sind.“ 

Somit stellt auch die Civilprocessordnung den Arzt vor die 
Wahl, ob er Zeugniss ablegen will oder nicht. Macht er aber nach 
pflichtmässigem Ermessen vom ersteren Gebrauch, so kann er damit 
niemals gegen $ 300 StGB. verstossen. Eine Nachprüfung dieses 
Ermessens durch den Strafrichter ist von vornherein ausgeschlossen. 
Da aber dem Civilprocess nicht die öffentlich-rechtliche Bedeutung 
beiwohnt wie dem Strafprocess, so ist für ersteren dem Richter noch 
ausdrücklich zur Pflicht gemacht, solche Fragen zu vermeiden, welche 
den Arzt mit seiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit aus $ 300 
StGB. in einen Konflikt bringen könnte. Eine gleiche Bestimmung 
fehlt für den Strafprocess. Auch dieser Umstand ist ein Argument 
mehr für die allgemeine Meinung, dass durch Ablegung des Zeug- 
nisses in einer Strafsache sich der Arzt niemals der Bestrafung aus 
§ 300 StGB. aussetzen kann. 

Dieselben Grundsätze finden Anwendung, sofern der Arzt als 
Sachverständiger gehört werden soll. Auch hier kann er sein Gut- 
achten verweigern, sofern er ein Berufsgeheimniss preisgeben zu 
müssen glaubt. Er handelt aber ebenfalls nicht „unbefugt“, wenn 
er das Gutachten erstattet. ($ 76 StPrOrd., $ 408 CPrOrd.) 

Ferner ist auf $ 95 StrPrOrd. hinzuweisen, der lautet: 

„Wer einen Gegenstand der vorbezeichneten Art (d. i. Beweis- 
mittel für die Untersuchung oder der Einziehung unterliegende 
Gegenstände) in seinem Gewahrsam hat, ist verpflichtet, denselben 
auf Erfordern vorzulegen und auszuliefern. 

Er kann im Falle der Weigerung durch die im $ 69 bestimmten 
Zwangsmittel hierzu angehalten werden. Gegen Personen, welche 
zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, finden diese Zwangs- 
mittel keine Anwendung“. 

Aus dieser Bestimmung folgt für den Arzt, dass er die Heraus- 
gabe von Schriftstücken und Briefen seiner Patienten und deren 
Angehörigen verweigern und dass deshalb eine Haussuchung bei 
ihm nicht vorgenommen werden darf. Giebt aber der Arzt die Briefe 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 23 

zur Verschwiegenheit im Beruf. i 
freiwillig heraus, so macht er sich deshalb einer Pflichtverletzung 
aus § 300 StGB. nicht schuldig, da § 52 StPO. hier analoge An- 
wendung findet. 

Was in Vorstehendem bezüglich der ordentlichen Gerichte gesagt 
ist, findet auch Anwendung, sofern der Arzt vor den Schiedsgerichten, 
Verwaltungsgerichten und Verwaltungsbehörden, sowie vor der Polizei 
als Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden soll. 

Eine andere Frage natürlich ist es, ob ein Arzt, welcher in einer 
Straf- oder Civilprocesssache Zeugniss ablegt, damit seine Praxis 
fördert oder schädigt, zumal bei der Oeffentlichkeit vieler Gerichts- 
verbandlungen die Aussage des Arztes auch leichter in die Oeffent- 
lichkeit dringen muss. Befürchtet er, dadurch deren Rückgang 
herbeizuführen, so liegt es für ihn nahe, sein Zeugniss zu verweigern. 
Immerhin aber hat er zu erwägen, dass ihm auch als Staatsbürger 
die sittliche Pflicht obliegt, die Interessen des Gemeinwesens zu 
fördern und die Achtung vor den Gesetzen an seinem Theil mit 
aufrecht zu erhalten. Letztere können aber häufig straflos verletzt 
werden, wenn der Arzt principiell in allen Fällen sein Zeugniss 
verweigern würde. Erwägt er, dass der Staat dem ärztlichen Stande 
vor vielen anderen wichtige Vorrechte verleiht und in zahlreichen 
Beziehungen die Ausnahmestellung des Arztes ganz besonders be- 
rücksichtigt, so wird für ihn aus diesem Entgegenkommen wiederum 
die Folgerung erwachsen, dass er das vom Staate ihm gegebene 
„Benefizium“ nicht missbraucht und soviel in seinen Kräften liegt, 
die Absichten des Staates zur Erhaltung des gemeinen Besten nicht 
durch grundsätzliche Zeugnissverweigerung vereitelt. 

Eine sehr umstrittene Frage ist es endlich, wie weit die Rücksicht 
auf das öffentliche Wohl oder die Wahrung des persönlichen Wohls 
eines Anderen bezw. eigner Interessen das Moment des „Unbefugten“ 
zu beseitigen geeignet ist. 

Im Rahmen dieser Erörterung ist der Ausdruck „öffentliches 
Wohl“ gleichbedeutend mit Hygiene, mit der allgemeinen öffentlichen 
Gesundheitspflege. Liebmann sagt deshalb mit Recht: „Der Beruf 
des Arztes erstreckt sich nur auf das körperliche Wohlbefinden, 
sonstige Zwecke der Staatsverwaltung gehen ihn als Arzt nichts 
an“. Wie aber schon ausgeführt, sind alle Aerzte ein Theil der 
staatlich geordneten Medizinalverwaltung, zu deren segensreichen 


24 Fromme, 


Wirkung sie mehr oder minder beitragen und deren Aufgaben auf 
dem Gebiete der Gesundheitspflege sie miterfüllen helfen. In dieser 
Beziehung erkennt der zitirte Ministerial-Erlass vom 31. August 1901 
die heutige Stellung der Aerzte so recht klar und deutlich an. Nun 
ist es aber rechtlich ausser Zweifel, dass die Interessen der Allge- 
meinheit stets derjenigen eines kleineren Kreises vorgehen und im 
Staat vor den öffentlichen Rechtspflichten immer die Privatinteressen 
zurückstehen müssen. Salus rei publicae suprema lex. Ist dieser 
Grundsatz richtig, so wirkt er, auf den Arzt angewendet, dahin, dass 
§ 300 StGB. vor der Gesundheitspflege der Staatsbürger weichen 
muss und „die Pflicht des Arztes zur Geheimhaltung wegfällt, sobald 
die Rücksichten auf das allgemeine Wohl die Offenbarung dem Arzte 
als Organ der Medicinalverwaltung gebieten“.®#) Doch werden es 
thatsächlich in der Praxis der Fälle sehr wenige sein, wo der Arzt 
das Schweigen zum Besten des öffentlichen Wohls brechen muss, 
denn der Staat selbst hat bereits mit wachsamem Auge durch die 
oben erwähnten gesetzlichen und polizeilichen Vorschriften fast alle 
Möglichkeiten geregelt und für diese den Arzt zu einer Anzeige an 
seine Behörden verpflichtet. Nur eine Ausnahme ist zu erörtern. 

Es bedarf keiner Ausführung, dass die Verfolgung wissenschaft- 
licher Interessen das öffentliche Wohl zu fördern geeignet ist. 
Handelt daher ein Arzt „unbefugt“, wenn er einen interessanten 
Fall aus seiner Praxis im wissenschaftlichen Interesse zu Nutz und 
Frommen seiner Kollegen veröffentlicht? Nach allgemeiner Meinung 
verstösst der Arzt in einem solchen Falle nur dann nicht gegen 
$ 300 StGB., wenn er die Diskretion derartig vorherrschen lässt, 
dass bei der Publikation jede Bezeichnung und nähere Andeutung 
vermieden wird, aus welcher die betreffende Persönlichkeit erkannt 
oder ein sicherer Rückschluss gemacht werden könnte. Wird diese 
Grenze eingehalten, so liegt die Offenbarung eines Privatgeheimnisses 
überhaupt nicht vor. Andernfalls würde ein Verstoss gegen $ 300 StGB. 
leicht gegeben sein. Da die „Berliner Medizinische Gesellschaft“, vom 
Abgeordneten Dr. Löwe unterstützt, im Interesse der Aerzte den 
Antrag gestellt hatte, hinter ,unbefugt noch den Zusatz zu machen: 
„und missbräuchlicher Weise“, dieser Zusatz aber vom Reichstage 


83) So Liebmann S. 42, 44, 46, 47, 49; in demselben Sinne Mittermaier 
S. 221; anders Placzek und Hippe. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 25 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 
bei der letzten Berathung des $ 300 StGB. abgelehnt ist,*4) so ist 
die Mehrzahl der Strafrechtslehrer der Ansicht, dass „das wissen- 
schaftliche Interesse an sich nicht geeignet sei, ein der Offenbarung 
entgegenstehendes Verbot zu beseitigen.“ 35) 

Wann aber berechtigt die Wahrung des persönlichen Wohls eines 
Menschen oder die Wahrung eigner Interessen den Arzt zum Sprechen? 
No. 11 der Standesordnung der Aerzte für die Provinz Sachsen stellt, 
jedenfalls mit Rücksicht auf $ 300 StGB., an den Arzt die Anforderung, 
dass er sich Laien gegenüber über seine Kranken nur mit grösster 
Zurückhaltung aussprechen soll. — Hieraus ergiebt sich zunächst die 
allgemeine Frage, ob jedes Aussprechen in jener Richtung unbefugt und 
deshalb strafbar ist. Für deren Beurtheilung sind von grösster Be- 
deutung ein Urtheil des Reichsgerichts, IV. Civilsenat, vom 14. Mai 
1897, abgedruckt im Reichs-Medizinal-Kalender für Deutschland von 
1898 Seite 3, und ferner ein Urtheil der III. Strafkammer des Land- 
gerichts Hamburg vom 24. Juni 1899, theilweise wiedergegeben in 
der Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft von Mittermaier 
S. 229—230. Nach Inhalt der ersteren Entscheidung hatte ein Arzt 
kurz nach seiner Verheirathung durch eine ärztliche Untersuchung 
seiner Ehefrau entdeckt, dass von dieser Jahre lang und bis zu ihrer 
Verheirathung Onanie getrieben war. Die Entdeckung hatte der 
` Ehemann nicht nur nächsten Verwandten der Ehefrau, sondern dritten 
unbetheiligten Personen eröffnet. Zu dem Thatbestande war vom 
Berufungsgericht bemerkt, „dass es dem Ehemanne zwar nicht ver- 
wehrt gewesen wäre, gegen seine Frau wegen deren Laster mit 
Strenge vorzugehen und unter Umständen auch ihren 
nächsten Verwandten davon Mittheilung zu machen, 
dass er aber sowohl als Arzt als auch als Ehrenmann die Pflicht 
gehabt hätte, die Laster seiner Frau vor dritten unbetheiligten 
Personen geheim zu halten.“ Dieser Erwägung tritt das 
Reichsgericht ausdrücklich bei und bemerkt dazu: „Die auf Grund 
seiner ärztlichen Thätigkeit angeblich gemachte Entdeckung war der 
Ehemann als Berufsgeheimniss zu wahren verpflichtet gewesen. 
Er war nicht berechtigt, von derselben einen Gebrauch zu machen, 
der weder durch die Sorge um das Wohl der Ehefrau 








%) Stenogr. Berichte des RT 1870 Bd. II S. 732ff. 
25) So Olshausen Note 9 Abs. 2. 


26 Fromme, 


noch durch die Wahrnehmung seiner persönlichen 
Interessen geboten war.“ 

Die Entscheidung des Landgerichts zu Hamburg dagegen bezog 
sich auf einen Fall, nach welchem ein Arzt, der eine Honorar- 
forderung gegen einen Ehemann wegen Behandlung der Ehefrau ein- 
klagte, durch die im Process gegebene Sachdarstellung und durch 
Produzierung von Briefen sich einer unbefugten Offenbarung schuldig 
gemacht haben sollte. Das rechtskräftige Urtheil sagt: „Darüber, 
wann eine Offenbarung als eine unbefugte anzusehen sei, besteht 
eine allgemein anerkannte Ansicht nicht. Die Motive zum StGB. 
bieten zu dieser Frage nur dürftiges Material, und in der Theorie 
ist sie noch nicht erschöpfend behandelt worden. Eine der strengeren 
Ansichten, wie sie von Olshausen vertreten wird, geht dahin, dass 
die Offenbarung stets eine unbefugte sei, wenn sie gegen den 
Willen des Anvertrauenden geschehe, es sei denn, dass gesetzliche 
Bestimmungen eine Offenbarung auch ohne diese Zustimmung ent- 
weder gebieten oder wenigstens für zulässig erklären — $ 139 
StGB., § 52 StPOrd., $ 348 CPOrd. alte Fassung. Das Gericht ist 
nun der Ansicht, dass es eine zu enge Auffassung sei, wenn man, 
abgesehen von dem Fall, dass eine Rechtspflicht zur Offenbarung 
besteht, nur in den Fällen einer eine Offenbarung zulassenden be- 
sonderen gesetzlichen Bestimmung dieselbe für befugt halte; es 
meint vielmehr, dass es auch allgemeine, nicht durch besondere gesetz- 
liche Bestimmungen zum Ausdruck gebrachte Rechtsgründe gebe, 
aus welchen eine Offenbarung auch ohne die Zustimmung des An- 
vertrauenden zulässig sein könne, Es rechnet hierher unter Um- 
ständen den Fall der Offenbarung im Civilprocess. Wenn es auch 
nicht unbeschränkt jedem Processführenden das Recht zur Offen- 
barung zugestehen möchte, so hält es eine solche doch dann für zu- 
lässig, wenn sie in durch die Sachlage gebotener Weise abseiten des 
Treuhalters zur Durchführung eines Anspruchs desselben gegen den 
Treugeber selbst geschieht. Letzterer kann nicht mehr verlangen, 
dass von dem Treuhalter das Geheimniss auch noch in dem Process 
gewahrt wird, wenn er grundloser Weise den gegen ihn erhobenen 
Anspruch bestreitet und zum Beweise desselben die Offenbarung 
erforderlich ist. Wollte man in solchem Falle dem Treuhalter das 
Recht zur Offenbarung absprechen, so wäre es in die Macht des 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 27 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 
Treugebers gestellt, ihm die Rechtsverfolgung unmöglich zu machen, 
da jede Beweisantretung die Spezialisirung des Beweisthemas er- 
fordert.“ 

Der Inhalt beider Urtheile zusammengefasst ergiebt daher für 
die vorliegende Frage, dass sofern die Sorge um das Wohl eines 
Menschen oder die Wahrnehmung persönlicher Interessen es gebieten, 
der Arzt dritten, betheiligten Personen straflos das Berufs- 
geheimniss offenbaren darf, mithinalsdann das Moment 
des Unbefugten ausscheidet. Mit dieser richterlichen Fest- 
stellung fällt zunächst „die unslösbare Kollision zweier Pflichten“ 
fort, in welchen nach Placzek der Arzt bei gleichzeitiger Wahrung 
des anvertrauten Geheimnisses und der Förderung des Gesammt- 
wohls geräth. Ferner ist mit ihr — und das ist das Wichtigste — 
der noch folgenden Darstellung der Weg gewiesen und dem Arzt 
für alle diejenigen Fälle, wo nicht bereits das Gesetz selbst seine Offen- 
barung schützt, eine Richtschnur an die Hand gegeben, die ihn 
nicht leicht irre gehen lassen wird. Indem man sie zu Grunde legt, 
ergiebt sich die Entscheidung der nachstehenden Einzelfälle von selbst. 

Ein Hauskind oder zum Dienst- bezw. Geschäftspersonal gehörige 
Leute leiden an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit und ziehen 
deshalb einen Arzt zu Rathe. Es kann kein Zweifel darüber herrschen, 
dass das, was dem Arzt in diesem Falle mitgetheilt wird, anver- 
trautes Geheimniss darstellt. Erfolgt die Befragung des Arztes auf 
Veranlassung der Eltern oder des Dienstherrn bezw. Principals, so 
vertrauen letztere ebenfalls an und der Arzt kann sich ihnen gegen- 
über deshalb aussprechen. Er kann es aber auch dann straflos thun, 
wenn das Hauskind und das Dienst- oder Geschäftspersonal ohne 
Wissen der Eltern, des Dienstherrn oder Principals sich an ihn ge- 
wendet haben. Denn seine Kundgebung wird durch die sittliche 
Pflicht geschützt, andere vor der Gefahr der Ansteckung zu be- 
wahren. Die Sorge um das Wohl eines Menschen gebietet sie, sagt 
das Reichsgericht zum Schutze des Arztes, Die Mittheilung oder 
Offenbarung würde aber eine unbefugte insoweit werden, als der 
Arzt sie an einen weiteren Kreis als den unumgänglich nöthigen — 
Eltern, Dienstherr, Principal — richten wollte. Jene sind ,,Betheiligte“ 
im Sinne des Urtheils, andere nicht mehr. 

Die gleiche Entscheidung ist zu treffen, wenn der Arzt bei der 


28 Fromme, 


Untersuchung einer Haustochter, die sich ohne Wissen der Eltern 
anvertraut hat, diese schwanger befindet. Das Wohl der Tochter 
erlaubt, ja erfordert eine Mittheilung an die Eltern. 

Ebenso ist der Fall zu beurtheilen, wenn dem Hausarzt bei 
Beobachtung der Amme eines neugeborenen Kindes der Verdacht einer 
ansteckenden Krankheit, einer Syphilis, in begründeter Form auftaucht 
Die gegentheilige Ansicht, welche auch hier Schweigen und Rettung 
des Kindes auf anderem Wege durch ärztliche Anordnungen fordert, 
kann den oben zitirten Urtheilen gegenüber nicht mehr bestehen. 
Aber auch abgesehen davon würde schon vordem schwerlich gegen 
einen Arzt, der von einem solchen Verdacht den Eltern des Kindes 
Mittheilung gemacht hätte, durch ein Gericht das Erforderniss des 
„Unbefugt‘‘ festgestellt sein, da andernfalls die Anwendung des $ 300 
StGB. nicht zu einem Segen, sondern zu einem Fluch sich gestalten 
müsste, eine Absicht, die dem Gesetzgeber niemals innewohnen konnte. 

Anders dagegen, sofern ein Dienstmädchen aus eignem Ent- 
schluss den Arzt konsultiert und dieser bei der Untersuchung 
Schwangerschaft feststellt. Die Sorge um das Wohl eines Menschen 
wird in diesem Falle nicht so leicht die Offenbarung an die Dienst- 
herrschaft rechtfertigen. Erst wenn dies eintritt, kann der Arzt 
sprechen, sonst gebietet ihm das Gesetz Schweigen. 

Ebensowenig lässt sich nach der Absicht des Gesetzes die Mit- 
theilung an eine Vertrauensperson oder an einen anderen Arzt bei 
Gelegenheit einer wissenschaftlichen Besprechung rechtfertigen, selbst 
wenn der Arzt auf deren Verschwiegenheit bauen zu können glaubt, 
sofern nicht einer der bestimmten Ausnahmefälle gegeben ist. 

Desgleichen ist der Arzt der Regel nach zum Schweigen ver- 
bunden, wenn ein Verlobter oder dessen Eltern über den allge- 
meinen Gesundheitszustand des anderen Theils Aufschluss vom Arzt 
zu erhalten wünschen. Anders aber, wenn eine ansteckende oder 
geistige oder der erblichen Uebertragung besonders zugängliche 
Krankheit vorliegen sollte. Dann überwiegt das öffentliche Interesse, 
da der Staat auf die Erhaltung der Familien, die Grundlage des 
Gemeinwesens, ganz erheblich bedacht sein muss; mindestens aber 
erfordert die Sorge um das Wohl eines bestimmten Menschen die 
Offenbarung an die Betheiligten.*% Die gegentbeilige Ansicht würde 


se) So auch Rapmund S. 42. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 29 
zur Verschwiegenheit im 

dem Arzt die nicht zu tragende Verantwortung zuschieben, dass er 
mit sehenden Augen Schuldlose in das sichere Verderben fallen liesse 
trotz seiner ethischen Pflicht, seine Mitmenschen vor offenbaren Ge- 
fahren zu behüten. Zu welchen tragischen Folgen ihre Anwendung 
führen kann, schildert in packender, aber auch furchtbar wahrer 
Gestaltung F. Otmer in seiner Novelle „Schweigen“, erschienen in 
Heft 8, 9 und 10 von Velhagen und Klasing’s Monatsheften 1901. 
Mit Recht lässt hier der Verfasser die thatkräftige Schwester, welche 
die Praxis des verstorbenen Vaters in einem kleinen Gebirgsdorfe 
fortsetzt, zu ihrem Bruder, einem bedeutenden Arzt der Residenz, 
sagen, als er in Gewissensängsten über seine Schweigepflicht bei ihr 
Rath sucht: „Das ist eine falsche Ehre, die zögert, einen Mitmenschen 
vor dem Untergange zu retten.“ „Wer seine Krankheit geheim hält, 
um andere zu betrügen, verdient keine Schonung.“ — „Hier handelt 
es sich um einen besonderen Fall, wo das Wahren der Verschwiegen- 
heit in keinem Verhältniss steht zum angerichteten Unglück.“ In 
demselben Sinne kommt Liebmann (S. 46) sogar „zu dem Ergebniss, 
dass der Arzt nach der gegenwärtigen Stellung des Berufsstandes 
seine Pflicht verletzt, wenn er durch absolute Geheimhaltung die 
Ansteckung befördert.‘ 

Andrerseits ist nicht zu verkennen, dass die gesetzlich gebotene 
Schweigepflicht den Arzt in die Lage versetzen kann, selbst einen 
von der Polizei bereits gesuchten Mörder, der infolge einer bei 
Verübung der That erhaltenen Verwundung die Hilfe des Arztes in 
Anspruch nahm, nicht zur Anzeige bringen zu können. Denn 
§ 139 StGB. ist nicht gegeben, da der Mord bereits begangen, als 
Zeuge aber ist der Arzt nicht geladen; das öffentliche Gesundheits- 
wohl steht nicht in Frage, ebensowenig die Sorge um das Wohl 
eines Anderen, und endlich persönliche Interessen liegen nicht vor. 
Der Fall, der sich seiner Zeit bei Ermordung des Justizraths L. in 
Berlin zutrug, ist noch zu frisch im Gedächtniss aller, um nochmals 
ausführlich erwähnt werden zu müssen. Ist aber der Arzt selbst in 
einem solchen Falle nicht zur Offenbarung befugt, so ist er dies 
noch viel weniger dann, wenn bei anderen Gelegenheiten Verwundete 
seinen Rath in Anspruch nehmen. 

Liebmann wirft S. 22 die Frage auf, ob ein Arzt, dem 
besorgte Verwandte ohne Vorwissen des Patienten gewisse Sekrete 


30 Fromme, 


zur Untersuchung senden, ihnen Auskunft geben darf, leider ohne 
sie zu beantworten. Hippe nimmt die Frage auf und verneint sie. 
Nach dem Urtheil des Reichsgerichts ist diese Verneinung nicht 
mehr gerechtfertigt, da die Sorge um das persönliche Wohl des an- 
geblich Erkrankten die ganze Massnahme veranlasst hat. 

Anlangend Fälle von unehelicher Geburt, an deren Geheim- 
haltung die Betheiligten oft mit Rücksicht auf die unglückliche 
Mutter ein ganz erhebliches Interesse haben werden, so gilt für den 
zur Entbindung zugezogenen Arzt diese Thatsache als anvertrautes 
Geheimniss aller Welt gegenüber, nicht aber im Verhältniss zum 
Standesbeamten, dem der Arzt, falls bei der Geburt keine Hebamme 
zugegen und sofern er nicht anderweit verhindert war, zur Anzeige 
nach $ 18 No. 3 RGes. 6. Febr. 1875 verpflichtet ist. Doch auch 
die berechtigte Sorge um das Wohl des Neugeborenen kann der 
Mittheilung einer solchen Geburt die Eigenschaft des Unbefugten 
nehmen. 

Professor Aschaffenburg, Placzek und Hippe regen die 
Frage an, ob Geisteskranke zur Belehrung von Studenten und Aerzten 
in den Irrenstationen vorgeführt werden dürfen unter Mittheilung 
des Grundes und der Art ihrer Erkrankung. Es ist klar, dass von 
einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Einwilligung bei solchen 
Kranken nicht die Rede sein kann. Placzek scheint das Ver- 
fahren zu missbilligen, ebenso Hippe. Dem gegenüber ist für diese 
Fälle das Interesse des öffentlichen Wohls zu betonen, welches ver- 
langen darf, dass zum Besten aller Staatsbürger der Unterricht der 
Mediziner auch in dieser Beziehung nach allen Kräften gefördert 
werde. Selbstverstándlich sind in den Kreis der Zuhörer nur die 
zur Vorlesung Berechtigten zuzulassen, Neugierige müssen fern 
gehalten und etwaige Veröffentlichungen müssen vermieden werden, 
wenn nicht ein Verstoss gegen $ 300 StGB. begangen werden soll. 

Was endlich die Ausstellung von Attesten, Krankenscheinen 
und Todtenscheinen betrifft, so kann ein Bruch der Schweigepflicht 
nicht gegeben sein, soweit der Arzt durch bestimmte rechtsgültige 
Vorschriften zu deren Einreichung verpflichtet ist. Doch ist die 
Grenze, bis zu welcher die Angaben erfolgen bezw. die Formulare 
ausgefüllt werden sollen, streng innezuhalten, 87) eine Ueberschreitung 


37) Vgl. den in der Mediz. Reform No. 1 von 1902 S. 6 mitgetheilten Fall. 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 31 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 

— zZ. B. durch eine zu specielle Diagnose — selbst einer Behörde 
gegenüber könnte sonst eine Verfehlung aus $ 300 StGB. zur Folge 
haben, zumal Ausstellung solcher Scheine nicht gleichbedeutend mit 
der Vernehmung als Zeuge vor einer Behörde ist. Wird also 
beispielsweise nicht eine direkte Frage nach dem Vorliegen von 
Selbstmord oder des Verdachts dahin gestellt, so ist sie nicht zu 
beantworten, denn das anvertraute Geheimniss ist wie zu jedermann 
so auch der Behörde gegenüber zu wahren. Dabei ist noch hinzu- 
weisen auf den Inhalt eines kürzlich von einem österreichischen 
Gericht ergangenen Urtheils, das besagt: „Der Totenschein ist nur 
insofern eine gesetzliche Urkunde, als er das Ableben bezeugt; die 
ärztliche Diagnose ist nicht in allen Fällen eine so sichere, dass sie 
einen unumstösslichen urkundlichen Charakter erhalten könnte. Eine 
practische Schwierigkeit besteht auch in der Feststellung der zeit- 
lichen Grenze, wann ein Todesfall als gewaltsam zu bezeichnen ist. 
So kann der Tod als direkte Folge des Selbstmordversuchs nach einer 
Stunde, aber noch immer als direkte Folge auch nach ein bis zwei 
Jahren eintreten“. — Ferner ermahnt an die Innehaltung der 
Knappesten Grenzen auch der Umstand, dass solche Scheine oft durch 
viele Hände gehen, deren Besitzer, bisweilen jugendliche Schreiber, 
nicht immer zu schweigen wissen. 

Endlich ist der Arzt befugt, die Geheimhaltung aufzugeben, 
wenn er durch das Verhalten des Patienten oder dessen Angehörigen 
gezwungen wird, sein Honorar im Civilprocesswege einzuklagen. 
Deshalb sagt das Hamburger Gericht mit Recht: „Der Treugeber 
kann nicht mehr verlangen, dass von dem Treuhalter das Geheimniss 
auch noch im Process gewahrt wird, wenn er grundloser Weise den 
gegen ihn erhobenen Anspruch bestreitet und zum Beweise desselben 
die Offenbarung erforderlich ist“. Die gegentheilige Ansicht würde 
böswilligen Schuldnern gegenüber leicht dahin führen, dass ein 
Arzt kaum noch eine Honorarforderung einklagen könnte. 88) Natürlich 
kann sich eine solche Befugniss nur auf ein gesetzlich geregeltes, 
behördliches Verfahren beziehen, während jener Arzt, welcher in 
dem Bd. 26 S. 8 Entsch. d. RG. in Strafs. mitgetheilten Falle eine 
unbezahlt gebliebene Rechnung über Behandlung einer Ehefrau an 
einer Geschlechtskrankheit in einem Wirthshause auslegte zu dem 


8) Mittermaier S. 226, 228. 


32 Fromme, 


Zwecke, dass Gäste sie lesen möchten, — mit Recht bestraft worden 
ist, weil Gäste von ihrem Inhalt Kenntniss genommen hatten. Das 
Reichsgericht sah darin „eine Offenbarung sogar von erschwerter Art“. 

Als nicht unbefugt gilt ferner die Kundgebung, welche in 
einer strafgerichtlichen oder ehrengerichtlichen Untersuchung zum 
Schutz gegen die Anschuldigung einer Ueberliquidation, eines Kunst- 
fehlers oder dergl. oder bei Abwehr einer Beleidigung erfolgt. Da 
hier Ehre und Ansehen des angegriffenen Arztes auf dem Spiele 
stehen, so ist er zu deren Schutz berechtigt, das Berufsgeheimniss 
soweit zu offenbaren, als die Abwehr des Angriffs es erfordert, und 
um so eher kann er dies thun, wenn die Anzeige vom Treugeber 
selbst ausging. 

Anders dagegen dürfte der Fall zu beurtheilen sein, wenn ein 
Arzt ohne Zustimmung seines Patienten eine Anzeige z. B. gegen 
seinen Collegen, welcher den Kranken zuvor behandelte, bei der 
Staatsanwaltschaft oder bei dem Ehrengericht erstattet. Wird eine 
solche Anzeige nicht durch die Sorge um das Wohl eines Menschen 
geboten oder durch Wahrung persönlicher Interessen gerechtfertigt, 
so kann der Verstoss gegen § 300 StGB. nicht zweifelhaft sein. 

Das Ergebniss der Erörterung, nochmals in wenige Worte 
zusammengefasst, ist daher, dass da, wo eine gesetzliche oder öffent- 
liche Pflicht vorliegt oder die Wahrung eines berechtigten Interesses 
es erheischt, der Arzt ohne Gefahr vor der Strafverfolgung das sonst 
gebotene Schweigen brechen darf. Für alle anderen Fälle, die bei 
der Dehnbarkeit des Ausdrucks ,unbefugt zu erkennen nicht immer 
leicht, aber unter Beobachtung des in der ärztlichen Stellung ge- 
botenen Takts auch nicht unmöglich sein wird, ist dem Arzt zu 
rathen, die Geheimhaltungspflicht streng zu wahren. Er könnte 
sonst trotz des besten Willens reichlichen Undank ernten und nicht 
blos einer Strafe aus $ 300 StGB. verfallen, sondern ausserdem eine 
ehrengerichtliche Bestrafung gemäss $ 3 Ges. vom 25. Nov. 1899 
wegen Verletzung der ihm obliegenden Standespflichten verwirken. 

Zum Schluss noch eine kurze Bemerkung über einige, nicht un- 
wichtige Nebenpunkte. Das Vergehen aus $ 300 StGB. wird nur 
auf Antrag verfolgt. Stellt ihn der Berechtigte nicht binnen drei 
Monaten seit dem Tage, an welchem er von der Handlung und von 
der Person des Thäters Kenntniss gehabt hat, so ist die Handlung 


Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 33 
zur Verschwiegenheit im Beruf. 
nicht mehr zu verfolgen. Eine Zurücknahme des einmal gestellten 
Antrags ist gesetzlich ausgeschlossen. Die Antragsberechtigung ist 
an die Person des Verletzten gebunden, infolgedessen kann sie bei 
dessen Tode auf seine Erben nicht übergehen; auch eine Cession 
der Befugniss ist ausgeschlossen. Zu dem Antrage auf Strafverfolgung 
ist nach Ansicht des Reichsgerichts jeder befugt, dessen Recht durch 
die Offenbarung verletzt ist. Dies kann eine Person sein, es können 
aber, wie bereits ausgeführt ist, mehrere Personen anvertraut haben 
und daher verletzt sein. So neben der Ehefrau der Ehemann, neben 
den Familien- und Haushaltungsgliedern und dem Geschäftspersonal 
der Vater, der Dienstherr und der Prinzipal; auch der Mitwisser 
des Geheimnisses eines Dritten, welcher es dem Arzt als solchem 
anvertraute, ist neben und unabhängig vom Dritten, dem eigentlichen 
Bewahrer des Geheimnisses, berechtigt, den Strafantrag zu stellen. 
Diese Rechtslage ist für den Arzt ein Grund mehr, Vorsicht zu üben. 

Eine ganz besondere Schweigepflicht setzt für den Arzt noch 
das Gesetz vom 25. Nov. 1899 fest. Obschon nämlich die Haupt- 
verhandlungen vor dem Ehrengericht nicht öffentlich sind, giebt § 32 
Ges. dem Vorsitzenden das Recht, Aerzten den Zutritt zu gestatten, 
er kann sie aber. dabei zur Verschwiegenheit verpflichten. Ein 
derartig verpflichteter Arzt ist zur absoluten Geheimhaltung über 
die Ergebnisse dor Hauptverhandlung verbunden. Würde er trotzdem 
etwas offenbaren, so setzt er sich der ehrengerichtlichen Bestrafung 
aus $ 3 Ges. wegen Pflichtverletzung aus. 

Bisher ist nur erörtert, dass eine unbefugte Offenbarung des 
Berufsgeheimnisses dem Arzt eine gerichtliche und disziplinare Strafe 
zuziehen kann, sie ist aber auch geeignet, den Arzt dem Verletzten 
gegenüber aus $$ 823, 824, 826 Bürgerl. Gesetzbuch schadensersatz- 
pflichtig zu machen für etwaige Nachtheile, die aus dem Bruch des 
Geheimnisses erwachsen sind. Jene Bestimmungen lauten: 

S 823 Abs. 1: Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den 
Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigenthum oder ein sonstiges 
Recht eines Anderen widerrechtlich verletzt, ist dem Anderen zum 
Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. 

$ 824. Wer der Wahrheit zuwider eine Thatsache behauptet 
oder verbreitet, die geeignet ist, den Kredit eines Anderen zu ge- 
fährden oder sonstige Nachtheile für dessen Erwerb oder Fortkommen 


34 Fromme, . Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht 

zur Verschwiegenheit im Beruf. 
herbeizuführen, hat dem Anderen den daraus entstehenden Schaden 
auch dann zu ersetzen, wenn er die Unwahrheit zwar nicht kennt, 
aber kennen muss. . 

Durch eine Mittheilung, deren Unwahrheit dem Mittheilenden 
unbekannt ist, wird dieser nicht zum Schadensersatze verpflichtet, 
wenn er oder der Empfänger der Mittheilung an ihr ein berechtigtes 
Interesse hat. 

§ 826. Wer in einer gegen die guten Sitten verstossenden 
Weise einem Anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem Anderen 
zum Ersatze des Schadens verpflichtet. — 

Vorstehende Erörterung bringt in kurzen Zügen den Niederschlag 
alles dessen, was Praxis und Theorie in letzter Zeit über die recht- 
liche Stellung des Arztes und sein Berufsgeheimniss geäussert haben. 
Die Fülle des Materials ist eine so grosse, dass sie erschöpfend kaum 
behandelt und zusammengefasst werden kann. (Gerade aus diesem 
Grunde ist insbesondere für den letzten Theil der Darstellung nicht 
die Form einer längeren Ausführung gewählt, sondern lediglich das 
Ergebniss herausgehoben in der Annahme, dass dem Arzt im Sturm 
und Drang des Berufes weniger an weiten Rechtsauseinandersetzungen 
als an einem praktischen, schnell belehrenden Wegweiser gelegen ist. 
Der Zweck ist erreicht, wenn dies geglückt ist und daneben 
schwankende Ansichten gefestigt sowie Meinungsverschiedenheiten 
geklärt worden sind. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W. Litzowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer's medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 








April 1902. Berliner Klinik. Heft 166. 


Über den heutigen Stand 
der funktionellen Herzdiagnostik und Herztherapie. 


Von 
Dr. A. Smith, Schloss Marbach a. Bodensee. 


Einleitung. 

Wer die geistvollen Ausführungen O. Rosenbach's (in seiner 
grossen Monografie über Herzkrankheiten und in zahlreichen anderen 
Aufsätzen) über die Notwendigkeit des Ersatzes der anatomischen 
Diagnose durch die funktionelle liest, wird, wenn er sich nur einiger- 
massen eingehend mit der Behandlung Herzkranker vertraut gemacht 
hat, dem Verfasser in allen Punkten recht geben müssen. Es ist in 
der That für den Herzkranken ganz gleichgültig, welche anatomische 
Veränderung später die Section des Herzens zeigen wird — zumal bei 
den allermeisten, den herzmuskelinsufficienten Kranken, eine objektive 
Veränderung nach dem Tode bei unseren gewöhnlichen Untersucbungs- 
methoden überhaupt nicht zu. Tage tritt —: von allergrösster Wich- 
tigkeit dagegen ist, dem Kranken Verordnungen geben zu können, 
welche einerseits ihm gestatten, seinen Lebensaufgaben möglichst 
gerecht werden zu können, es andererseits aber verhüten, dass sich 
das Leiden verschlimmert und dem Leben ein meist schneller 
Abschluss durch einen „Herzschlag“ oder die bekannten Compen- 
sationsstörungen gesetzt wird. 

Wir müssen also wissen, was auch heute immer mehr anerkannt 
wird, wie wir genau festsetzen können, was das Herz zu der Zeit 
leisten kann, in welcher der Patient sich zum ersten Male dem 
Arzte zur Untersuchung stellt. Hierzu ist aber eine einwandsfreie 
Untersuchungsmethode notwendig; dieser muss dann eine geeignete 

] 


9 Dr. A. Smith, 


Behandlungsweise sich anschliessen, welche die geschwichte und 
verminderte Leistungsfáhigkeit so steigert, dass der Kranke seinen 
Berufspflichten wieder nachgehen kann. 

O. Rosenbach, der, soviel ich sehe, zuerst dieses Problem in 
ernsthafter Weise aufgerollt hat, versucht auch die Lósung desselben 
zu geben. Er schaltet aber hierbei eine so eminente Fehlerquelle 
ein, dass eine rationelle allgemein anwendbare Methodik aus den 
Rosenbach’schen Ausführungen von vorne herein wohl auf lange 
hinaus nicht erschlossen werden kann. Diese Fehlerquelle ist die 
subjektive Beurteilung des behandelnden Arztes, der aus allen den 
Kranken und seine Lebensführung berührenden Einzelheiten und 
aus dem Heranziehen seiner eigenen Kenntnisse und Erfahrungen 
über die organische Energetik den Kurplan festsetzen soll. 

Es kann hier nicht der Ort sein, auf die eingehenden theoretisch- 
naturphilosophischen Ausführungen Rosenbach’s einzugehen, Aus- 
führungen, welchen die Vorzüge und Mängel aller naturphilosophischen 
Spekulation anhaften, nämlich dass es ebenso schwer ist, zu beweisen, 
dass sie richtig wie dass sie falsch sind. Es genügt, darauf hinzuweisen 
dass nach Rosenbach erst dann ein Arzt im Stande wäre, mit 
gutem Gewissen Herzkranke zu behandeln, wenn er eine gewisse 
Intuition der Beurteilung mit langer Erfahrung vereinte Soll nun 
die Behandlung so unendlich häufig in der Praxis vorkommender 
Erkrankungen !) nur den wenigen in die Hand gegeben sein, für 
welche -diese Forderung passte? Ich sehe bei dieser Frage ganz 
davon ab, dass alle seinen Forderungen, — wenigstens meinem Gefühl 
bei der Lektüre seines Buches nach, — so weit es überhaupt möglich 
ist, ihnen gerecht zu werden, der Verfasser nur einen für gewachsen 
halten dürfte, — und das wäre eben Rosenbach selbst. Ich 
gebe natürlich ohne weiteres zu, dass es möglich ist, subjektiv, ohne 
sich des objektiven Grundes der Beurteilung klar zu werden. 
weitgehende Bestimmungen über Krankheit und Behandlung zu 
treffen; es ist bekannt, dass der erfahrene Psychiater häufig die 
schärfste Diagnose beim ersten Anblick des Kranken macht, eine 

1) In grosser Praxis stehende Kollegen, welche nach meinen Methoden arbeiten, 
bestätigen mir, dass etwa 80 Y, der ihre Behandlung aufsuchenden Kranken an 
ausgesprochenen Herzstörungen allein oder in Verbindung mit anderen Erkran- 


kungen leiden, und dass auch die Herstellung von diesen letzteren meist an die 
Besserung der Herzbeschwerden ohne weiteres anknüpft. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 3 
und Herztherapie. 

Diagnose, die wohl manchmal durch eine eingehende Unter- 
suchung ins Schwanken kommt, um sich dann schliesslich doch als 
richtig herauszustellen, wie nicht selten bei der progressiven Paralyse: 
aber einmal haben solche unwillkürlichen Bestimmungen nie etwas 
Sicheres in sich, und — dies ist das wichtigere — kann nur dann 
ein Autor wirklich wertvolle Veröffentlichungen über rein persönliche 
Wahrnehmungen machen, wenn er den jedem subjektiven Empfinden 
parallel gehenden objektiven Befund selbst erheben und klar darstellen 
kann. Mir persönlich ist es nicht gelungen, aus den Rosenbach’schen 
Darstellungen, so weitblickend und richtig sie mir im allgemeinen 
dünken, ein Moment herauszuschälen, das mir alsrein objektiver Massstab 
zur Anwendung des Gelesenen dienen könnte — wobei ich natürlich 
gerne zugeben will, dass der Febler an mir liegt. Wenn aber Jemand, 
dessen Spezialgebiet von der vorliegenden Arbeit so eingehend berührt 
wird, das Wesentliche aus derselben nicht herausholen kann, so 
wird man annehmen, dass andere Ärzte noch weniger dazu im 
Stande sein werden. 

Es scheint mir Rosenbach in genialer Intuition mit Ueber- 
springung der historischen Entwickelung schon einen gewissen End- 
punkt der Erkenntnis in sich erschlossen zu haben, den wir nur 
durch allmähliges Ausarbeiten der Zwischenglieder erreichen können. 
Es wird erst langer Arbeit bedürfen, bis wir in der Lage sind, 
an den Rosenbach’schen Ausführungen überhaupt nur ob- 
jektive Kritik zu üben. Ich möchte zum Vergleich an Gauss 
erinnern, dessen gewaltige Geistessprünge über Abgründe spielend 
hinüberführten, zu deren Ueberbrückung unsere heutigen Mathematiker 
noch viele, viele Bausteine erst behauen und einfügen müssen. 

Wer nun den ungeheuren Aufschwung verfolgt hat, den die 
Ideen Fechner’s und Wundt’s in ihrer Fortführung besonders 
durch Kraepelin und Sommer der heutigen praktischen Psy- 
chologie gebracht haben, der kann nicht mehr daran zweifeln, dass 
in dem so unendlich fein verschlungenen Zusammenhange unseres 
Organismus es keine Äusserung geben kann, welche nicht in irgend 
einer Weise eine Beeinflussung sämmtlicher anderen Funktionen im 
Gefolge haben muss. Nur stehen wir den meisten körperlichen 
Veränderungen zunächst, ich möchte sagen, in einem Zustande von 
Seelenblindheit gegenüber. Wir halten alles anfänglich für selbst- 

1* 


4 Dr. A. Smith, 


verständlich und belanglos, während doch in Wirklichkeit es gar 
keinen Vorgang in unserem Organismus giebt, der nicht jeden 
Augenblick durch eine intuitive Verknüpfung für die Beurteilung 
anscheinend fernliegender Vorgänge von der schwerwiegendsten 
Bedeutung werden kann. Haben wir dann einmal zufällig einen 
solchen Zusammenhang entdeckt, so glauben wir wohl zunächst 
etwas Neues gefunden zu haben, bis uns eine rückschauende Über- 
legung zeigt, dass wir die Sache bis dahin nur übersehen oder in 
dem jetzigen Zusammenhange nicht beachtet hatten. Die Festlegungen 
solcher Parallelvorgänge nun ist die Hauptaufgabe einer funktionellen 
Diagnostik; sie kann aber nur dann Anspruch auf allgemeine An- 
erkennung und praktischen Wert machen, wenn sie die Möglichkeit 
gewährt, dass jeder Arzt, unabhängig von persönlicher Intuition, nach 
Einübung der notwendigen Technik, aus dem Parallelismus der 
äusserlich festgestellten Erscheinungen mit den innerlichen Vor- 
gängen, feststellen kann, was der Kranke zu thun und zu lassen hat, 
um seiner Krankheitserscheinungen Herr zu werden. 


Die Beurteilung der Herzfunktion durch den Puls. 

Kein Organ greift so eingehend in alle anderen Organe des 
Körpers in seinen Wirkungen ein, wie das Gefässsystem als Trans- 
portweg der Ernährungsstoffe: bei keinem können in Folge dessen 
auch so vielfach aus Zustand und Function anderer Organe Rück- 
schlüsse gemacht werden. 

Aber ehe wir Parallelerscheinungen in anderen Organen zur 
Hülfe in unseren diagnostischen Bestrebungen heranziehen, müssen 
wir natürlich feststellen, was uns vom Herzen selbst für Anhalts- 
punkte zur Beurtheilung seiner Leistungsfábigkeit gegeben werden. 
Bis jetzt hat man klinisch hierauf meist verzichtet und sich fast 
ausschliesslich an eine indirecte Beurteilung der Wirkung der Herz- 
arbeit auf den Puls begnügt. 

Das, was schon dem Laien zuerst auffällt und ihn häufig zum 
Arzte treibt, ist die Veränderung in der Bewegung des Herzens und 
damit zusammenhängend, der Blutsäule, welche von altersher als 
Massstab für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Organs galt 
und meist heute noch gilt. 

Wir werden zu prüfen haben, mit welchem Recht. 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 5 
und Herztherapie. 

Nächstdem wird häufig die Athemfrequenz auf das Herz bezogen, 
indem aus beschleunigter Athmung auf geschwächte Herzarbeit ge- 
schlossen wird. | 

Subjectiv am schlimmsten wird von den Patienten empfunden, 
wenn das Herz unregelmässig schlägt oder gar hin und wieder aussetzt. 

Es ist klar, dass diese subjectiven Gefühle, welche den Patienten 
ärztlichen Rat suchen lassen, nun auch ärztlicherseits als Ausgangs- 
punkt und bis vor kurzem als alleinige Factoren zur Beurteilung 
der Leistungsfähigkeit des Herzens herangezogen wurden — soweit 
natürlich überhaupt an eine solche Beurteilung gedacht wurde. 
Denn im allgemeinen werden noch fast allein diejenigen Kranken 
als herzkrank angesehen, bei welchen die pathologisch-anatomische 
Diagnose eines Klappenfehlers oder eines Aneurysmas gestellt werden 
kann : die Zustände der Insufficienz des Herzmuskels dagegen noch meist 
als Nervosität, Hysterie, energielose Schwäche, eingebildete Krankheits- 
gefühle (Hypochondrie), Simulation angesehen, insoweit sie nicht 
durch schwerere Unterernährung des Gehirns Symptome hervorruft, 
welche die Diagnose psychischer Erkrankungen (Epilepsie, Melancholie) 
ermöglichen. 

Alle Beobachtungen, soweit sie sich auf Pulsuntersuchungen 
beziehen, leiden an zwei fundamentalen Fehlern, welche es unmöglich 
machen, sie als ausschlaggebend für Diagnose und Therapie zu 
machen: einmal daran, dass wohl alle Herzstörungen gleichzeitig den 
Puls in einer oder der anderen Weise beeinflussen — dass aber 
nicht umgekehrt jede Pulsanomalie auf einer Störung der Herz- 
funktion beruht; und zweitens daran, dass eine aus einer Herz- 
störung resultierende qualitative Veränderung des Pulses uns kein 
Maass über die Grösse der angezeigten Störung in Bezug auf die 
Leistungsfähigkeit des Herzens an die Hand giebt, sondern uns nur 
andeutet, dass zur Zeit der Untersuchung das Herz nicht normal 
arbeitet. 

Auch die verfeinerte Untersuchung des Pulses vermittels der 
verschiedenen Apparate, der Sphygmographen, liefert uns wohl sehr 
schöne Bilder über den Verlauf des Pulses und seine Veränderung 
bei bestimmten Herzerkrankungen: über die Leistungsfähigkeit des 
Herzens jedoch erhalten wir vorläufig nur sehr schwer verwertbare 
Andeutungen. 


6 Dr. A. Smith, 


Hat dementsprechend die Beurteilung der Leistungsfähigkeit 
eines Herzens auf Grund einer einmaligen Pulsuntersuchung so gut 
wie gar keinen Wert, so steht die Sache nicht viel besser, wenn 
man, wie dies vielfach geschieht, den Puls vor und nach einer 
zu diesem Behufe vorgenommenen körperlichen Bewegung irgend 
einer Art untersucht. Wenn ja im allgemeinen ein schwächeres 
Herz mit einem grösseren Aufregungszustand antworten wird, so 
fehlt uns doch jede Möglichkeit, den Grad der stärkeren Herz- 
thätigkeit, die sich doch nicht allein im Puls äussert, festzustellen, 
— ganz abgesehen davon, dass wir völlig ausser Stande sind, aus- 
einanderzuhalten, wie viel von der Beschleunigung des Pulses der 
körperlichen Anstrengung, wie viel der psychischen Erregung, welche 
solche Untersuchungen naturgemäss mit sich bringen, zuzuschreiben 
ist. Wie stark das psychische Moment besonders bei Herzkranken 
wirkt, selbst wenn die Erkrankung schon fast geheilt ist, sieht man, 
wenn man den Puls untersucht, nachdem die Kranken eben ins 
Sprechzimmer getreten sind und eine viertel Stunde später, nachdem 
man sie durch gleichgültige Gespräche abgelenkt hat: die Differenz 
beträgt da nicht selten 20—40 Schläge in der Minute, in Zeiten, 
wo der Kranke schon vielstündige Spaziergänge über Berg und Thal 
ohne Nachteil zu machen in der Lage ist. 


Bessere Anhaltspunkte bietet eine Methode, welche in den letzten 
Jahren von Gräupner und Mendelsohn!) auf ihre Bedeutung 
für die Beurteilung der Herzfunktion eingehender untersucht worden 
ist. Dieselbe beruht auf der Beobachtung, dass beim gesunden 
Menschen eine beträchtliche Differenz in der Pulszahl beim Stehen 
und beim Liegen besteht, derart, dass der Puls im Liegen etwa 10 
bis 12, manchmal noch mehr Schläge weniger zählt, als im Stehen, 
und dass beim weniger leistungsfähigen Herzen dieser Unterschied 
sich mehr und mehr ausgleicht, bis endlich sogar die Pulszahl im 
Liegen höher wird. Gab diese Feststellung die Diagnose der Herz- 
insufficienz in die Hand, so stellten die genannten Autoren als 
Maass dieser Insufficienz die Erholung auf. Diese wurde in folgen- 
der Weise von ihnen festgestellt. Es hatte sich gezeigt, dass der 
Puls des liegenden Menschen in sehr geringen Grenzen konstant blieb, 


1) cf. Mendelsohn: Die Erholung als Maass der Herzfunktion. XIX. Congress 
fiir innere Medizin. Wiesbaden, Bergmann 1901. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 7 
und Herztherapie. | 

derart, dass eine Reihe von Normaluntersuchungen im ruhigen Liegen 
die jedem Menschen eigentümliche Pulszahl zunächst feststellte. Es 
wurde dann genau dosierte Arbeit nach Sekundenkilogrammmetern 
an dem bekannten Gártner'schen Ergostaten geleistet, und nach 
bestimmten Leistungen der Patient in der Rückenlage wieder auf 
die Pulszahl hin untersucht. Die Zeit nun, welche verging, bis der 
durch die Arbeit zeitweise gesteigerte Puls wieder auf das vorher 
eruierte Mass zurückging, wurde als die Zeit angenommen, welche 
das Herz zu seiner Erholung nötig hatte, und galt als Beweis, da- 
für, dass jetzt dieselbe Arbeit noch einmal geleistet werden konnte 
bei gleich schnellem Zurückgehen des Pulses. Es ist kein Zweifel, 
dass bei stärkerer Insufficienz des Herzmuskels diese Beobachtung 
durchaus zutrifft, und die Methode für viele Fälle brauchbar erscheint. 
Es kann auch der Einwand nicht gut gegen die Methode sprechen, 
dass bei Konstatierung eines Pulses, der sich nicht beruhigen will, 
dem zu untersuchenden Patienten durch Zumutung einer Mehrarbeit 
geschadet worden ist: denn das ist ein Fehler, welcher bei der ersten 
Untersuchung funktioneller Störungen jeder Methode anhaften muss. 
Ein wesentlicher Nachteil ist aber, dass ich erst aus dem Ausfall 
wiederholter Versuche feststellen kann, ob sich das Herz erholt hat: 
denn das Ruhigerwerden des Pulses zeigt allein nicht an, dass die 
Leistungfähigkeit wieder normal ist, sondern erst ein erneuter Ver- 
such, der gestattet, dieselbe Leistung wie vorher noch einmal ohne 
stärkere Störung zu thun. Hier muss also die erneute Untersuchung, 
wenn das Herz sich nicht erholt hat, erneut schädlich wirken und 
thut es, wie wir uns oft überzeugen konnten, in hohem Masse. Ein 
zweiter Fehler der Methode bei ängstlichen Kranken ist ausserdem 
die Unmöglichkeit, jederzeit feststellen zu können, wie viel von der 
Pulsanomalie der Überanstrengung zuzuschreiben ist, und wieviel 
auf Conto der Aufregung, des Erwartungsaffectes kommt. Die ausser- 
ordentliche Empfindlichkeit des Ausschlages der Pulsfrequenz gegen- 
über psychischen Erregungen macht die reine Beurteilung eines 
somatischen Zustandes aus der Anzahl der Pulse ohne weitere unter- 
stützende Momente zu einer mindestens unsicheren. Sind die unter- 
stützenden Momente so ausgesprochen, dass sie die Diagnose 
Herzschwäche in den Vordergrund schieben, dann muss Jemand 
ein schlechter Arzt sein, wenn er eine Pulsbeobachtung noch nötig 


8 Dr. A. Smith, 


hat. Dann ist bestenfalls die Methode nur eine qualitative: für den 
Grad der Funktionsstörung sind nur schwer genaue Anhaltspunkte in 
den Mehrbelastungen der Arbeitenden herauszubolen. Und endlich 
ersehen wir nichts exactes über den Grad der Gefahr, in welcher 
sich der Kranke befindet: wir finden bei sogen. Neurasthenischen 
Herzschwächezustände, welche dem Kranken so deutlich zum Be- 
wusstsein kommen, dass er nie in Gefahr kommt, sein Herz zu 
überanstrengen, und hier finden wir häufig die allergeringste Leistungs- 
fähigkeit und erhalten das Bild eines sehr gefährlichen Zustandes. 
Bei anderen ist der Zustand chronisch geworden; die leichte Beein- 
flussbarkeit des Pulses ist bei ausgedehntester Dilatation oder 
gar Hypertrophie des Herzens nicht grösser, in letzterem Falle sogar 
geringer als bei dem ersterwähnten Falle: wir taxieren ihn leichter 
— und plötzlich und unvermittelt trifft uns die Nachricht, dass der 
Kranke einer Herzlähmung, einem Herzschlage erlegen ist. 

Immerhin ist aber die Methode ein Fortschritt auf dem von 
Rosenbach angegebenen Wege, sie giebt wenigstens einen objek- 
tiven Anhalt, der nur mit einiger Vorsicht gedeutet werden darf, und 
der quantitativ gewissen Einschränkungen ausgesetzt ist. 


Die Veränderung der Herzgrösse als Mass der 
Herzfunktion. 


Einwandsfreier und nach Einübung der Methodik schnell und 
leicht ausführbar, lässt sich endlich die funktionelle Herzuntersuchung 
gestalten, wenn man die Veränderungen des Herzens selbst, die 
Herzgrösse zur Grundlage von Prüfung und Folgerung macht, wie 
wir das jetzt seit etwa 6 Jahren in Schloss Marbach thun. 


Die Untersuchungstechnik. 


Es ist bekannt, dass kaum ein Organ der Bestimmung seiner 
Grenzen solche Schwierigkeiten entgegenbringt, wie das Herz. Es 
ist klar, dass eine Untersuchungsmethode, wie die Percussion, die 
auf dem Klangunterschied zwischen lufthaltigen und luftleeren Teilen 
beruht, da anfängt zu versagen, wo lufthaltige und luftleere Organe 
gleichzeitig sich unter dem Untersuchungspunkt befinden. Es ist 
verhältnismässig leicht, die Lungenränder auch über dem Herzen 
genau abzugrenzen: nur darf man dann nie vergessen, dass man da- 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik -9 
und Herztherapie. 

mit keine Herzgrenzen, sondern Lungengrenzen festgestellt hat, die 
nur in sehr unsicherer Weise Schlússe auf das darunterliegende 
Herz zulassen. Ausserordentlich schwer, um nicht zu sagen ganz 
unmöglich ist es aber, mit Sicherheit die Lage des Herzens resp. 
dessen Begrenzung unterhalb der Lunge festzustellen. Es spielt da 
so viel Subjektivitát mit, sowohl was akustische Beanlagung wie 
theoretische Annahmen angeht, dass fast auf jeder Hochschule andere 
Herzbilder herausperkutiert werden, die untereinander meist nur das 
gemein zu haben pflegen, dass sie mit dem wirklichen Bilde des 
Herzens, wie es uns die Sektion oder der Schatten des Röntgen- 
bildes zeigt, recht wenig übereinstimmen. Die Róntgenunter- 
suchung aber ist selbst mit dem genial erdachten Apparat von 
Moritz, der die absolute Projektion der Umrisse gestattet, durch- 
aus nicht so einwandfrei, wie man dies auf den ersten Eindruck hin 
annehmen möchte: denn einmal zeigt sie, wenigstens bei Erwachsenen, 
die das Herz umgebenden Gefässe gleich dunkel, wie das Herz, so 
dass dieses nicht an allen Seiten, wie dies zur Grössenbestimmung 
notwendig wäre, abzugrenzen ist, da rechts Aorta ascendens und 
Cava superior, oben der Bogen der Aorta thoracica den Herz- 
schatten vergrössern können oder müssen; zweitens aber zeigt 
das orthodiagraphische Verfahren von Moritz nur dann wirklich 
die richtige Ausdehnung der schattengebenden Organe an, wenn 
diese genau parallel der Ebene gelagert sind, in der sich die fluores- 
zierende Platte bewegt, da sonst natürlich die Hypothenuse eines 
rechtwinkligen Dreiecks in der Projektion zur Kathete desselben Drei- 
ecks wird, also immer kleiner erscheint. Es kommt dies besonders beim 
stark vergrösserten Herzen in Betracht, daeine einfache Ueberlegung zeigt, 
dass bei der orthodiagraphischen Durchleuchtung links die Herzgrenze 
nie weit von der Brustwarze entfernt sich projizieren lässt. Denn, 
dringt das Herz weiter nach links hin, so gleitet es nach der Axillar- 
linie zu. Dort liegt aber ausser der äusseren Bedeckung und den 
Rippen schon ein mächtiger Teil der Lunge, der sich nur bis zu 
einer gewissen Grenze comprimieren lässt, da man auch bei excessiv 
vergrössertem Herzen noch deutlich, wenn auch abgeschwächt, die 
Atemgeriiusche an den Lungenpartien über dem Herzen hört, was 
bei vollkommener Atelectase nicht der Fall sein kann. Sehe ich 
mir nun in Berücksichtigung der eben erwähnten Verhältnisse bei 


10 Dr. A. Smith, 


einem auf dem Rücken liegenden Menschen den Abfall der Brust- 
wölbung nach der Axillarlinie an, so ist es klar, dass durch eine gerad- 
strahlige Róntgendurchleuchtung der Strahl immer zwischen Herz- 
rand und Lungenmasse vorbeigehen und dementsprechend links 
einen grösseren hellen Raum zeigen muss, ohne Rücksicht darauf, 
wie tief das Herz gelagert ist, d. h. wie gross die Hypothenuse in 
unserem eben erwähnten Dreieck auch geworden ist. Bei einer ge- 
wissen Grenze hört demnach bei dem Róntgenverfahren nach Moritz 
die Vergrösserung des Herzens nach links wenigstens scheinbar auf. 
Es ist die Einschränkung der Verwerthbarkeit des Moritz’schen 
Verfahrens um so grösser, als das Herz sich natürlich nicht 
allein in seiner Vorderfliche, sondern auch durch Breitenaus- 
dehnung vergrössert, und die Verbreiterung, die ja naturgemäss 
zum grossen Teil fast parallel der linken Seitenfläche des Thorax 
vor sich geht, und die Herzspitze in die Tiefe drückt, durch die 
Begrenzung vermittels des senkrechten Röntgenstrahls nur minimal 
oder gar nicht zur Beurteilung kommen kann. Es geht aber dadurch 
die Feststellung manchmal ganz erheblicher Inhaltsunterschiede des 
Herzens verloren. Man wird sich die vorliegenden Verhältnisse am 
besten an einem der Horizontalschnitte durch die Brust vorstellen, 
die in den anatomischen Lehrbüchern zu finden sind. 


Dem gegenüber hat eine neue von Bianchi eingeführte Unter- 
suchungsmethode den grossen Vorteil, dass sie nicht nur genau den 
Veränderungen des Herzes auch über die Thoraxseitenkrúmmung 
hinaus folgt, sondern dass sie dieselben in mathematisch-gesetz- 
mässiger Weise sogar vergrössert, insofern als Thorax- und Herz- 
krümmung annähernd parallele Linien bis zum Abbiegen der Heız- 
figur nach der Mediane bilden, deren äussere die Thoraxwand ist. 
Da das akustische Phänomen nun so lange zu hören ist, als die 
Entfernung der Herzwand vom Thorax eine gewisse Grösse nicht 
übersteigt, ist die akustische Grenze auf der Haut immer da, wo 
die. supponierte Entfernungslinie bei ihrem Kreisen um das Herz 
herum dieses aufhört zu berühren, und ist dies der Berührungs- 
punkt der entsprechenden Hauttangente mit der Herzspitze. Es ist 
das Verhältnis ähnlich wie das zweier concentrischer Kreise, bei 
denen zwei ausgezogene Radien einen gesetzmässig grösseren Teil 
des äusseren als wie des inneren Kreises abteilen. 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 11 
und Herztherapie. 

Es ist nicht Sache des Klinikers, über akustische Erscheinungen 
Theorien aufzustellen, über die der Physiker noch nichts Abge- 
schlossenes weiss: immerhin mag dem lebhaften Widerspruch gegen- 
über, den die Methode einstweilen, wie das bis jetzt jeder Neuerung 
geschehen ist, in den Kreisen der Kliniker findet, eine kurze Aus- 
führung hierüber gestattet sein. 


Setzt man ein irgendwie geartetes Höhrrohr über ein darunter- 
liegendes Organ fest auf der Haut auf, und erregt in der Nähe des 
Ansatzpunktes, sich allmählich weiter entfernend, Schallwellen, so 
werden diese von dem Hórapparat dem damit verbundenen Ohre 
zunächst ziemlich gleichmässig übertragen werden, bis je nach In- 
tensität, plötzlich der Character des Geräusches sich auffallend ändert, 
oder dasselbe ganz aufhört. Verbinde ich die verschiedenen Punkte, 
wo dies geschieht, mit einer Linie, so kann man sich bei Beherrschung 
der Technik überzeugen, dass der Schallwechsel genau an derselben Stelle 
stattfindet, wie ich auch das Instrument innerhalb der gefundenen Linie 
verschiebe — erst ausserhalb derselben treten neue Erscheinungen auf. 
Wie man die Schallwellen erzeugt, ist gleichgültig; Bianchi macht 
Pizzikatobewegungen mit dem Finger centripetal und markiert die 
Punkte, wo zuerst der verstärkte Ton auftritt; ich mache Streichungen 
centrifugal vermittelst eines oval geschnittenen Borstenpinsels und 
bezeichne die Stelle, wo das stärkere Geräusch aufhört; J. Hofmann 
hat eine percutorische Auskultation vermittels eines Hanımerplessi- 
meters beschrieben, der mit einer Hand die Percussion gestattet, und 
findet an den Organgrenzen Klangunterschiede; neuerdings hat 
Reichmann (D. m. W. 14. Nov. 1901) das Kratzen an einem auf- 
gesetzten, gekerbten Stäbchen als Erregungswelle benutzt. Nimmt 
man endlich eine Stimmgabel, die in Schwingungen versetzt ist, und 
führt sie über der Haut nach dem Organ hin, so wird ebenfalls 
an der Grenze plötzlich der Ton bedeutend lauter, der fast ver- 
schwindende Ton wieder deutlich (Beobachtung von J. Hofmann, 
Schloss Marbach). Und welche Methode wir immer anwenden: die 
gefundenen Grenzen sind bei alle diesen völlig unabhängig von ein- 
ander angewandten Methoden genau dieselben, und haben sie sich ja 
einmal zwischen verschiedenen Aufnahmen durch Organverschiebungen 
geändert, so ist diese Änderung unschwer durch alle Methoden 
wieder zu constatieren. Gemeinsam ist allen Anwendungsformen 


12 Dr. A. Smith, 


auch, dass eine zu starke akustische Erregung zuweilen die Grenzen 
weiter nach aussen erscheinen lässt. 1) 

Es dient also ein in der Tiefe liegendes festes Organ, wie der 
Stimmgabelversuch zeigt, als resonanzverstirkendes Medium, das 
durch die auf der Oberfläche erzeugten, dem blossen Ohre gar nicht 
mehr zugänglichen akustischen Schwingungen in Miterregung ver- 
setzt wird, und nun schallverstärkend für den Hörapparat wirkt. 


Dass eine solche Tiefenerregung auch von anderen Wellen er- 
möglicht wird, zeigt der Versuch, den ich machen konnte, die 
Grenzen speciell des Herzens durch electrische Reizung und Vibrations- 
massage festzustellen. 


Wenn man eine indifferente Electrode auf den Rücken hält 
und eine kleine Electrode auf die Herzgegend, so wird man bei 
langsamer Steigerung des faradischen Stromes bald fühlen, wie die 
Empfindung auf der Haut sich mit einem Erschütterungsgefühl in 
der Tiefe paart. Und untersucht man dann mit dieser Stromstärke, 
bei der das Erschütterungsgefühl eben noch gemerkt wird, die Brust- 
partie über der Herzgegend, und bezeichnet die Punkte, an denen 
das Gefühl anfängt zu verschwinden, so wird man zu seinem Er- 


1) Anm. Am grössten ist dieser letztere Fehler dann, wenn man das alte 
Phonendoscop ohne Öffnung benutzt. Die Grenzen nicht ganz dicht unter der 
Haut gelegener Organe zeichnen sich bei der Frictionsmethode in diesem Falle 
nicht unerheblich grösser, in ähnlicher Weise, wie dies bei dem Schatten des 
Röntgenbildes bei unbeweglicher Lichtquelle der Fall ist. Bei der Feststellung 
der Herzgrenzen zeigt sich in Folge dieser Erscheinung bei den älteren Aufnahmen 
der linke, weiter von der Brustwand abliegende Teil des Herzens immer stärker 
vergrössert, als der absoluten Ausdehnung entspricht. Für die Feststellung der 
relativen Schwankungen der Herzgrösse hat sich dieser Fehler aber insoweit von 
Vorteil erwiesen, als durch ihn es ermöglicht wurde, kleinere Veränderungen im 
vergrösserten Ausschlag zu verfolgen. Bei neueren Angriffen speziell aus der 
Giessener medizinischen Klinik möchte ich tibrigens noch ganz besonders 
darauf hinweisen, dass ich gerade in der angeführten Publikation darauf auf- 
merksam gemacht hatte, dass die von der Brustwand abgenommenen Zeich- 
nungen des Herzens absolut viel zu gross ausfallen müssten, es aber nur auf die 
relative Schwankung bei funktioneller Prüfung ankime. Wenn in der Giessener 
Veröffentlichung (Deutsche med. Wochenschrift 1902, No. 13) diese fundamentale 
Feststellung völlig ignoriert und bei den Lesern die Vorstellung erweckt wird, 
als habe ich in meinen Zeichnungen absolute Werte festlegen wollen, so ist das 
die bekannte Taktik, einem Autor etwas zu unterlegen, was derselbe nie behauptet 
hat, und dies dann lächerlich zu machen. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 13 
und Herztherapie. 

staunen merken, dass dies genau die Punkte sind, an denen auch 
die vorhin erwähnten akustischen Erscheinungen verschwanden. 
Verstärke ich aber jetzt den Strom, so kann ich von immer ferner 
gelegenen Stellen aus noch den Herzmuskel erregen — wie in 
allerdings weit engeren Grenzen durch stärkere akustische 
Reize auch. 

Dass es sich aber thatsächlich bei dem Phänomen um die Fest- 
stellung in der Tiefe liegender Organe handelt, ist leicht nachzuweisen, 
wenn man ein palpables Organ wie etwa eine stark vergrösserte 
Leber untersucht, oder wenn man ein normal gelegenes, nicht über 
die Brustwarze hinausgehendes Herz nach der Moritz’schen Methode 
durch Orthostrahlen bestimmt: an den Stellen, wo die Herzgrenze 
nicht durch Gefässschatten verwischt ist, links vom Zwerchfellschatten 
aufwärts, stimmt der Röntgenschatten des Herzens genau mit den 
vorher eruierten Herzgrenzen überein. Zum Einüben empfiehlt es 
sich natürlich, zuerst die Grenze durch Röntgen festzustellen, und 
dann zu üben, bis man die Schallerregung in ihrer Intensität so 
regeln kann, dass sie an denselben Stellen genau wechselt, wo die 
Grenze vorher konstatiert wurde. Der umgekehrte Weg zeigt dann 
an, ob die Methode beherrscht wird. 

Von den verschiedenen akustischen Methoden, welche darauf 
ausgehen, das zu untersuchende Organ in Schwingungen zu versetzen 
und durch Resonanzverstärkung seine Grenzen zu bestimmen, habe 
ich im Laufe einer jetzt über sechsjährigen Erfahrung folgende am 
relativ deutlichsten gefunden. 

Der zu Untersuchende steht am besten aufrecht leicht vornüber 
gebeugt, der Untersucher sitzt so, dass er den Kopf ungefähr in der 
Höhe des Herzens des Untersuchungsobjektes hat. Bettlägerige 
Kranke untersucht man, wenn es angängig erscheint, in sitzender 
Stellung; muss man im Liegen untersuchen, so ändert sich, worauf 
ich zurückkommen werde, die Figuration der Herzgrenzen häufig 
sowohl im Ganzen als auch in Bezug auf die Lageverhältnisse der 
einzelnen Herzabschnitte etwas. 

Man nimmt ein Phonendoskop Bazzi-Bianchi mit dem von 
mir angegebenen Öffnungsschieber zwischen Daumen und Mittelfinger 
der linken Hand an dem gekerbten Rand derart, dass der Zeigefinger 
den Radschieber leicht hin- und herbewegen kann, und steckt zu- 


14 Dr. A. Smith, 


nächst nur einen Schlauch mit der Olive ins Ohr. Mit der rechten 
Hand hält man den mit dem flachgebundenen Borstenpinsel ver- 
sehenen Dermatographen. Das Phonendoskop wird alsdann mit dem 
Stäbchen auf eine Stelle gesetzt, der das zu untersuchende Organ 
möglichst anliegt. Bei der Herzuntersuchung wird man diese Stelle 
durch Nachweis der sog. absoluten Dämpfung suchen; im allgemeinen 
wird man kaum fehlgehen, wenn man den Schnittpunkt der Ver- 
bindungslinie der Brustwarzen und der Parasternallinie als An- 
satzpunkt nimmt, wobei man darauf Acht hat, falls dieser Punkt 
auf einer Rippe zu liegen kommt, den nächstliegenden, am besten 
unteren Zwischenrippenraum zu nehmen. 


Dann streicht man mit dem Pinsel unter gleichmässigem Druck 
nach unten, während man den Radschieber leicht geöffnet hat. Man 
wird dann bald an einer Stelle bemerken, dass das Reibegeräusch 
entweder gänzlich verschwindet, oder wenigstens seinen Charakter 
wesentlich ändert. Bei weiterer Öffnung des Schiebers lässt sich 
dann fast immer das Geräusch an der betr. Stelle völlig zum Ver- 
schwinden bringen. Diese Stelle bezeichnet man mit dem Blaustift 
durch einen Punkt und streicht dann, nachdem man den Stift des 
Phonendoskops dem bezeichneten Punkte mehr genähert hat, nach 
anderen Richtungen weiter, bis nach allen Seiten hin die Grenz- 
punkte, wo das schleifende Geräusch verschwindet, bestimmt sind. 
Zu beachten ist hierbei, dass in der horizontalen Richtung manch- 
mal die Spaltöffnungen der Haut genau in der Streichrichtung 
liegen und bei der dadurch bewirkten stärkeren Spannung der Haut 
die durch die Friction erzeugten Wellen, wie auf einer gespannten 
Saite, nicht auf den Ort ihrer Entstehung beschränkt bleiben, wobei 
es dann nur zu schwer unterscheidbarem Schallwechsel an der 
Organgrenze kommt; man streicht in diesem Fall, um die linken 
Grenzen zu erhalten, am besten nicht genau centrifugal vom Stift 
weg, sondern etwas schräg über die wahrscheinliche Grenze. 
Immer aber mache man lange, gleichmässige Striche, um sich 
vor Selbsttäuschung zu bewahren; denn überall, wo man zuckt, 
oder mit ungleichmässigem Drucke vorgeht oder gar, wie ich 
dies häufig gesehen habe, einfach an der Stelle, wo man die 
Grenze vermutet, still hält, hört das Geräusch natürlich auf oder 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 15 
und Herztherapie. 

verändert sich aus rein mechanischen Gründen. Bei stárkerem 
Streichen kann man in der Regel (nur einige Mal gelang es mir bei 
liegenden Kranken nicht) die Abgrenzungen des ganzen Herzens 
von jedem Punkte innerhalb desselben bestimmen, bei leichterem 
Streichen gelingt es nach einiger Übung unschwer, auch die einzelnen 
Kammern und Vorhöfe, sowie die grossen Gefässe zu umgrenzen. 
Ich gebe im Folgenden die Entstehungsart eines Herzbildes mit den ein- 
zelnen Teilen an, das besser als eine noch so ausführliche Beschreibung 
den Gang der Untersuchung erklären wird. (Fig. 1.) 


Es ist natürlich unmöglich, ohne genaues Studium der Methode 
dieselbe zu verwerten oder Schlüsse aus scheinbaren Resultaten zu 
thun: genau wie die Percussion muss dieselbe erst gelernt werden. 
Die mannigfachen Veröffentlichungen gegen dieselbe entspringen 
zum Teil der Verfolgung gewisser Anfängerfehler, und ich sehe bei 
jedem Collegen, der gewissenhaft genug war, vor einer beabsichtigten 
Stellungnahme erst bei uns sich noch einmal zu orientieren, wie wenig 
es möglich ist, durch blosse Beschreibung neue Phänomene der Akustik 
klar zu machen. Die Collegen wandten die Methode ausnahmsweise 
in einer Art an, bei der ich auch nichts feststellen konnte, und es 
war mir recht beschämend zu erfahren, dass dieselben sich nach 
meinen Publikationen gerichtet haben wollten. Es ist aber Niemand, 
der sich bei uns eine zeitlang mit der practischen Ausübung der 
Methode nach unserer Art beschäftigt hat und mit dem Moritz’schen 
Apparat sich controllieren konnte, fortgegangen, ohne von der 
absoluten Objectivität der Untersuchungen überzeugt zu sein, sowie 
davon, dass es ebenso unsinnig wäre, nach der verhältnismässig 
kurzen Zeit von einigen Wochen wissenschaftliche Folgerungen zu 
machen, als wenn ein Student nach einigen Wochen Percussions- 
kurs, wo er eben anfängt, Unterschiede zu hören und technische 
Gewandtheit zu bekommen, nun seinerseits die abenteuerlichste 
Kritik üben wollte. Technik will erlernt sein und zwar ebenso 
vom Studenten wie vom Geheimrat, und ich muss auf das aller- 
entschiedenste dagegen protestieren, dass sich Gelehrte herausnehmen, 
eine Methode abfällig beurteilen zu wollen, von der sie erst den 
Beweis zu erbringen hätten, dass sie dieselbe überhaupt kennen — 
von beherrschen will ich ganz schweigen. Aber es kann auch bei 


16 Dr. A. Smith, 








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8. 
Ventrikel  ————— 
Vorhöfe ZZ ITL 
Aorta ooo... o 
Pulmonalla —-—-— 


Linkos Hersohr 





Figur 1. (*/, nat. Grösse.) 

a. Von dem ohne Bezeichnung gebliebenen oberen kleinen Kreis mit Punkt, auf dem der 
Stift des Phonendoskops ruht, streicht man mit dem Pinsel kräftig nach unten in der Richtung der 
zwei grösseren Pfeillinien und bezeichnet die Punkte, an denen das Frictionsgeräusch verschwindet. 
Dann setzt man das Phonendoskop mehr in der Nähe der gefundenen Grenze und streicht dann in der 
Weise, wie dies die weiteren Pfeillinien zeigen, nach allen Seiten weiter, und bezeichnet ringsum die 
Punkte des verschwindenden Ger&äusches. Wegen der entstehenden stärkeren Spannung streicht man 
an der Umbiegungsstelle der Linie an der Brustwarze etwas schräg. Die gefundenen Punkte ver- 
bindet man zu einer Linie, welche den venösen Ventrikel umgrenzt. 

b, c, d, e. In derselben Weise findet man von den Ansatzpunkten Il, IN, IV, V aus die 
arterielle Kammer, den venösen und arteriellen Vorhof und das linke Herzohr. Die gestrichelten Linien 
geben immer die vorher schon festgesetzten Grenzen noch einmal zur Vervollständigung des Ent- 
stehungsbildes der: Herzfigur an. 

f. Zeigt ausser der eben entstandenen Herzfigur in den fein punktierten (im Druck mit einer 
undeutlichen Linie noch durchzogenen) Linie den ebenso gefundenen Verlauf der Pulmonalis; in der 
gestrichelten Linie den der Aorta an. 


Die Aufnahme geschah bei einem sehr mageren kachectischen Manne, bei dem die Susseren 


Herzgrenzen leicht mit der palpatorischen Peroussion übereinstimmend festgestellt werden konnten, in 
Rückenlage. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiasnostik 17 
und Herztherapie. 

dieserneuen Methode, welchedie weitgehendsten Umwälzungen besonders 
in Bezug auf therapeutische, also practische Bestrebungen zur Folge 
hat, welche geeignet ist, den Arzt zu einer objectiven Kontrolle seines 
Handelns statt zu subjectiven Phantastereien zu bringen, — es kann auch 
dieser neuen Methode gegenüber nicht energisch genug darauf hinge- 
wiesen werden, dass jederzeit die erbeingesessenen Vertreter der Wissen- 
schaft — rühmliche Ausnahmen jederzeit zugegeben — sich mit 
Händen und Füssen gegen alles Neue, 'das sich nicht langsam aus 
den bestehenden Ansichten weiter „entwickelte“ gewehrt haben; es 
muss daran erinnert werden, dass es mehr wie ein Menschenalter 
gedauert hat, ehe die jetzt als fast alleinige Grundlage der Untersuchung 
bestehende Percussion und Auscultation in den Lehrplan aufgenommen 
wurde; dass Hydrotherapie, Suggestion, Electrotherapie als Schwindel 
und Kurpfuscherei Generationen lang von den Lehrstühlen bezeichnet 
wurden — während die ephemersten Entdeckungen, sofern sie nur dem 
hergebrachten Werdegang entsprachen, in einer für eine spätere Kritik 
geradezu grotesk-komischen Weise propagiert wurden. Alles Lehren 
hat den Nachtheil, dass es seine Stoffe verknöchert und seine durch- 
schnittlichen Vertreter zu einer Selbstüberschätzung treibt, die ihre 
Anregbarkeit für neue Fragen auf die Fälle begrenzt, wo sie ihre 
Vorarbeiten citiert sehen können. Ein wichtiger Wink für Streber 
— der, so viel ich in der Litteratur sehe, recht fleissig benutzt wird. 


Der Wichtigkeit wegen, welche die Anerkennung der Methodik 
einer exacten Herzuntersuchung für funktionelle Diagnostik und 
Therapie hat, gebe ich noch eine vergleichende Abbildung derselben 
Herzaufnahme vermittels der Frictionsmethode und der orthodia- 
graphischen Methode nach Moritz. Man wird sich überzeugen, 
dass die Uebereinstimmung eine verblüffende is. Um leichter über- 
sichtliche Verhältnisse zu schaffen, wurde ein Fall von Herz- 
vergrösserung bei einem 12jährigen Knaben herangezogen, bei dem 
der Wirbelsäulenschatten noch nicht die Beurteilung der rechten 
Seitengrenze störte. Man konnte deutlich rechts zwei Schattentiefen 
abgrenzen, eine dunklere nach links, dem eigentlichen Herzen und 
einen abgeschwächteren, den Gefässen entsprechenden, deren Linien 
genau die vorher phonendoskopisch festgestellten Grenzen deckten. 
Auf Einzelheiten der orthodiagraphischen Methode und deren Er- 

2 


18 Dr. A. Smith. 


gebnisse und Fehler einzugehen, ist hier nicht der Ort. Ich fiige 
nur noch hinzu, dass ich mich im Züricher pathologischen Institut 
überzeugen konnte, dass ein unter Druck gesetztes Herz in seinen 
Einzelteilen und dem Verlauf der grossen Gefässe genau unseren 
Bildern entspricht — das zusammengefallene Herz der Section kann 
natürlich nie und nimmer zum Vergleich herangezogen werden, auch 
nicht bei dem grossen Nachlass der Elasticität zur Controlle der 
Frictionsmethode, da der erschlaffte Muskel die Schallwellen nur 
noch sehr wenig resoniert. Etwas übertrieben lässt sich eine 
stark gefüllte und eine geleerte Schweinsblase zum Vergleiche für 
diesen Punkt heranziehen. 


o © 


a. Frictionsmethode, b. Orthodiagraphie. 
Figur 2. 

a. Herzgrenzen eines 12jährigen schmächtigen Knaben in Rückenlage durch die Friction 

aufgenommen. Nach rechts wurden die grossen Grefüsse in ihrer äusseren Begrenzung noch festgestellt, 

Sofort nach Aufnahme a, die schon auf dem Röntgentisch gemacht wurde, wird eine Um- 
grenzung mit dem Moritz’schen Orthodiagraphen vorgenommen, welche gestattet, da der Knabe noch 
völlig lichtdurchlässige Wirbel zeigt, einen dunkleron Schlagschatten und um diesen rechts und oben 
einen helleren Schatten anzumerken. Es zeigt sich dann, dass der dunklore Schatten genau den bei 
der Friction als eigentliche Herzteile aufgezeichneten Raum deckt, während der äussere hellere Rand 
gonau der durch die Friction fostgestellton Gefässgrenze entspricht. 

Leichenversuche, boi denen das Herz von der Bauchaorta und aufsteigenden Hohlvene 
aus unter Druck gesetzt wurde, zeigten, dass unter verhältnismässig geringem Druck schon die ab- 
steigende Hohlvene und die aufsteigende Brustaorta sich nach rechts vom Herzen in den meisten 
untersuchten Fällen in leichtem Bogen mehr oder weniger weit in ihren Husseren Grenzen entfernten. 
In einem Fall ging die Aorta zunlichst ganz wagerecht aus der linken Kammer und bog dann erst 
einige cm vom Herzrand entfernt nach oben ab, 


Man hat des ferneren die Möglichkeit der schnellen und weit 
ausgedehnten Herzdilatation in neuester Zeit in Erwiderungen auf 
meine Publikationen bestritten; von diesen Arbeiten ist einzig 
bemerkenswert die Arbeit von Moritz,!) der einzelne Versuche 
nachgemacht und mit seinem Róntgenverfahren entsprechende Aus- 
dehnungen nicht gefunden hat oder nicht gefunden zu haben glaubt. 


1) Münch. med. Wochenschrift 1902. No. 1. 


Uber den heutigen Stand der fanktionellen Herzdiagnostik 19 
und Herztherapie. 

Denn in dem Alkoholversuch, den er publiciert, hebt sich das Herz 
genau so nach oben, wie ich dies bei dem Alkoholversuch auf dem 
XVIII. Congress für innere Medicin bei zwei Pneumoniefällen gezeigt 
habe, ohne dass eine merkbare Erweiterung nach den Seiten hin 
eintrat. Dieselbe Beobachtung haben wir seitdem wieder gemacht, 
während in allen anderen beobachteten Fällen starke Dilatationen 
nach allen Seiten auftraten. Moritz nimmt nun, trotzdem es ihm 
nicht möglich war, wie wir, den unteren Rand des Herzens zu 
beobachten, ohne weiteres an, es handle sich hier nur um ein 
Höhersteigen des Herzens im (Ganzen, während wir deutlich auch 
im Róntgenbild die Constanz der unteren Herzgrenze nachweisen 
konnten. Moritz hat offenbar bei seinen Versuchen Personen 
zur Verfügung gehabt, deren Herz schon bis zu einer Grenze 
gespannt war, dass nur durch ganz ungewöhnliche Reize noch 
stärkere Erweiterungen möglich gewesen wären, während ich in 
Uebertragung der Forderungen, welche bei psychologischen Unter- 
suchungen erste Bedingungen sind, auf die klinischen Experimente 
die Versuchspersonen — abgesehen von besonders erwähnten 
Ausnahmen — zuerst einige Tage völlig mit Ausschluss jeder herz- 
reizenden Thätigkeit und Diät leben liess, und dann erst die 
Reaction auf ein völlig ruhiges und beruhigtes Organ studierte. 

Immerhin hatte ich schon, ehe der Moritz’sche Aufsatz mir 
zugängig geworden war, Untersuchungen angestellt, um die Frage 
zu lösen, wie schnell das Herz sich unter wechselndem Drucke ver- 
ändern und die äussere Untersuchung diesen Veränderungen folgen 
könne, 

Den Herren Professoren Ernst vom pathologischen Institut 
und Bleuler von der psychiatrischen Klinik zu Zürich bin ich 
für die liebenswürdige Hülfe durch Überlassung des Materials, 
Herrn Collegen Zanker, Assistent am pathologischen Institut Zürich 
für die zeitraubende technische Hülfe bei Anfertigung der Präparate 
und bei Ausführung der Versuche zu ganz besonderem Danke 
verpflichtet. 

Diese letzteren wurden in folgender Weise angestellt. 

Zunächst wurde ein Herz sorglich mit den grossen Gefässen 
aus der Leiche präpariert, alle abzweigenden Gefässe unterbunden 


und dann gleichzeitig von einem abgehenden Pulmonaliszweig und der 
9% 


20 Dr. A. Smith, 


Aorta das Horz unter Wasserdruck gesetzt, der durch in die Hóhe Ziehen 
eines Wassereimers beliebig verändert werden konnte. Es erfolgte fast 
gleichzeitig mit dem eintretenden Drucke ein Auseinandergehen des 
Herzens, “welches schliesslich mehr wie die doppelte Grösse des 
ursprünglichen Herzens zeigte. Bemerkenswert war hierbei das 
Verhalten der Aorta, welche fast wagerecht aus dem linken Ventrikel 
ausgehend über die rechte Seite des Herzens, den Vorhof hinaus- 
ragend sich etwas über der Höhe des Herzens umbog, um über den 
rechten Pulmonalisast nach hinten zu gehen. Es bewies diese 
Stellungnahme eklatant unsere durch Perkussion, Phonendoskopie 
und Röntgendurchleuchtung gewonnene, von mir auf der Aachener 
Naturforscherversammlung publizierte Ansicht, dass rechts der Röntgen- 
schatten nicht mit Sicherheit das Herz, sondern Gefässgrenzen darstelle. 
Des ferneren zeigte sich, dass Kammern und Vorkammern im gespannten 
Zustand genau das Verhältnis zu einander im Projektionsbilde auf- 
wiesen, wie das vermittels der Friktionstechnik gewonnene, oben 
reproduzierte Bild zeigt, und dass das collabierte Leichenherz absolut 
nicht in der Lage ist, uns über das Verhältnis der einzelnen Teile des 
Herzens zu einander während des Lebenszu orientieren. Die venöse Herz- 
kammer insbesondere legte sich wie ein erhabener Wulst vorne um den 
unteren, in ihn eingetauchten Teil des arteriellen Ventrikels herum. 
Die Herzspitze erschien bei der Vergrösserung in ihrem Winkel, 
den die vordere mit der hinteren Herzwand macht, wenig verändert, 
erst etwas nach rechts von der Spitze nahm die Dicke des Herzens 
stärker zu. Es schien sich die gesamte Vorderfläche des Herzens 
nach allen Seiten hin gleichmässig zu strecken, wobei die Herzspitze 
und die Vorhofgrenzen auf der Hand zu wandern schienen, während 
die Aorta sich zwischen den Vorkammern heraus erigierte. 

Nachdem so über die Verhältnisse ein Überblick gewonnen war, 
sollte die Lage des unter Spannung versetzten Herzens in der Leiche 
sowie die Untersuchungsmethode insoweit noch einmal an der Leiche 
studiert werden, als das Verhältnis des akustischen Phänomens an 
der Thoraxwand zu dem innerhalb derselben befindlichen Herzrand 
festgestellt werden sollte. 

Es wurde zu diesem Zwecke die ziemlich abgemagerte Leiche 
einer 61jáhrigen, an Paralyse gestorbenen Frau vermittelst eines 
vom unteren Ende des Brustbeins nach der Symphyse gerichteten 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 2 
und Herztherapie. 

Schnittes geöffnet und von dem oberen Ansatz dieses Schnittes an 
den Rippen entlang zwei Querschnitte gemacht, so dass bei völlig 
intakter Brust die Baucheingeweide leicht zugängig waren. Es wurde 
dann der Dünndarm und Dickdarm abgebunden und entfernt, der 
Magen abgetrennt und versenkt. Die Leber wurde von ihren Bändern 
abpräpariert und nach Unterbindung ihrer Gefässe abgetrennt. Es 
war jetzt das ganze Zwerchfell von unten her gut sichtbar und leicht 
abtastbar. 

Das Zwerchfell stand rechts vorne im 4. Zwischenrippenraume, 
zog sich am Sternum etwas abwärts und war links an der fünften 
Rippe angesetzt. 

Es wurden jetzt vermittelst der Friktionsmethode die akustischen 
Grenzen des Herzens festgestellt und unten, sowie an den beiden 
Seiten (soweit die Herzränder der Palpation zugängig waren) scharf 
mit den Projektionsbildern in Übereinstimmung gefunden. Das Herz 
lag hierbei ziemlich genau wagerecht auf seinem untern Rande. 

Dann wurde die untere vena cava und Bauchaorta frei präpariert 
und die Injektionskanüle einer Druck- und Saugpumpe zunächst fest 
in die Hohlvene eingebunden. Die Reaktion auf die jetzt vor- 


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Figur 3, 

Mit biegsamen Draht abgenommener Brustumriss einer 61 jährigen an Paralyse der Irren ver- 
storbenen stark ahgemagerten Frau über den Brustwarzen (die in der Linie eingezeichneten Ovale) ge- 
nommen. 1—2. Die durch Friction bestimmten Herzgrenzen (links und rechts); 1a—2a, Dieselben 
Grenzen durch Abtasten in der uneröffneten Brust von der eröffneten und durch Wegräumen der 
Baucheingeweide ohne Verletzung des Zwerchfelles zugängig gemachten Bauchhöhle aus. 3—4. Die 
durch Friction bestimmten Herzgrenzen nach Auftreiben des Herzens durch Flüssigkeit vermittels 
einer kleinen Saug- und Druckpumpe; 3a—4a. Dieselben Grenzen durch Palpatıon von innen bestimmt. 
5 und 5a. Herzbestimmung zu gleicher Zeit durch Friction und Palpation während des Zurückgehens 
der Herzgrenzen nach 1—2, die in ca. 5 Minuten nach Aufhören des Druckes erfolgte und ebenfalls 
durch Friction aussen und Palpation innen wieder bestimmt wurden. Die Herzgrenzen nach der inneren 
Brusthöhle hin (hintere Grenzen) wurden, da ein Tasterzirkel nicht zur Verfügung stand, möglichst 
genau vermittels Handgriff festzustellen gesucht; der Abstand des Kusseren Herzrandes von der Haut 
wurde genau gemessen und eingetragen. Die Linie 3—5—1—2—4, die etwa 2 Finger tiefer als 
die Brustwarzenverbindungslinie liegt, ist auf diese genau projiciert. 


99 Dr. A. Smith, 


genommene Fiillung des venósen Herzens wurde von der Bauchhóhle 
aus genau verfolgt. Das Herz, das vorher am linken Sternalrand 
und innerhalb der Brustwarze stand, glitt jetzt rechts bis etwas über 
den rechten Sternalrand, links an der ziemlich steilen Thoraxkrümmung 
(siehe Fig. 3) hinunter etwa 3 Finger breit über die Brustwarze 
nach links. Die Lage blieb wagerecht auf dem unteren Herzrand, 
der also vom venösen Vorhof und der venösen Kammer gebildet 
wurde. 

Ich erwähne dies ausdrücklich, da mir wiederholt von Klinikern, 
u.a.auch von Moritz, mündlich entgegengehalten wurde, meine Unter- 
suchungen könnten schon deswegen nicht richtig sein, weil sie dem 
Bilde, welches wir uns nach Luschka von der Lage des Herzens 
machen müssten, nicht entsprächen. Ich werde in einer Monographie 
über die Untersuchungstechnik der Herzgrenzen auf diese Einwände 
näher eingehen; hier möchte ich nur betonen, dass es sich bei 
der klinischen Vorstellung von der Lage des Herzens um eine Art 
umgehenden Gespenstes handelt, dem einmal auf den Leib zu 
rücken, man vergessen zu haben scheint. Denn der berühmte 
Luschka’sche Schnitt zeigt ebenso wie die Untersuchungen anderer 
Forscher, wie z. B. Henkes, dass gar keine Rede davon sein kann, 
auf der rechten Seite die sog. rechte (venöse) Kammer des Herzens 
zu finden, sondern dass auch von diesen Anatomen das Herz so 
gefunden ist, wie ich es bei den klinischen Untersuchungen 
fand. Was die bei Präparationen gebräuchlichen Atlanten von 
Heitzmann und Spalteholz veranlasst hat, den rechten Herzrand 
noch von der venösen Kammer mitgebildet sein zu lassen und die 
linke Seite, besonders die Spitze des Herzens ausschliesslich der 
arteriellen Kammer zuzuschreiben, ist mir nicht ganz klar. Denn 
diese Lage tritt für gewöhnlich nur ein, wenn man das heraus- 
geschnittene Herz an den Gefássen anfasst und hängen lässt, oder 
wenn man den gesamten Brustsitus herausnimmt und das Herz 
ebenso an den Gefässen zwischen den Lungen herunterfallen lässt. 
Ich verfüge unter einer grossen Sammlung von Herzen nur über 
ein einziges, wo die arterielle Kammer ausschliesslich an dem Zu- 
standekommen des linken Herzrandes beteiligt ist, und habe beim 
Lebenden nur in wenigen Fällen von Überanstrengung des arteriellen 
Herzens vorübergehend das Phänomen beobachten können. Ebenso 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 93 
und Herztherapie. 
habe ich nur in verhältnismässig wenigen — aber häufigeren als 
den eben erwähnten — Fällen eine alleinige Bildung der Herzspitze 
von der rechten Kammer im Leben und an der Leiche sehen können; 
meist wird, wie auch schon Luschka festgestellt hat, die Herzspitze 
von beiden Kammern gleichmässig gebildet. 

Eine weitere Untersuchung ergab, dass bei erhöhter Spannung, 
wie vorher auch beim ausgeschnittenen Herzen, die venöse Kammer 
sich wie ein breiter Wulst um die arterielle herumlegte, und dass das 
Herz sich während des Auftreibens aufrichtete, derart, dass die 
venöse Kammer und Vorkammer mit ihrer Vorderfläche tiefer her- 
unter an den Zwerchfellrand trat. 

Es wurde nun die Hohlvene abgebunden und die Kanüle in 
die Bauchaorta eingelegt. Es zeigte sich jetzt zunächst, dass die 
Erweiterung, welche vom venösen Herzen aus erzeugt war, unge- 
mein rasch, in etwa 5 Minuten völlig zurückgegangen war, ohne 
dass Flüssigkeit zuriickfloss, so dass das Herz jetzt wieder genau 
die im Anfang des Versuches festgestellten Grenzen zeigte. 

Bei dem Auftreiben des arteriellen Herzens wurde jetzt in 
Zwischenräumen äusserlich durch die Frictionsmethode das Fort- 
schreiten der Verbreiterung nach rechts und links festgestellt und 
immer sofort von innen die gefundenen Grenzen von mir und den 
anwesenden Collegen controlliert. Es zeigte sich hierbei, dass die 
akustischen Projectionen der Grenze haarscharf stimmten, dass sie 
sich aber, wie zu erwarten und von mir auch in früheren Publi- 
kationen als selbstverständlich hingestellt war, nicht senkrecht nach 
oben, wie beim orthodiagraphischen Verfahren, sondern auf den 
nächstgelegenen Punkt der Thoraxoberfläche projicierten. Die Ver- 
bindungslinie zwischen Herzrand und dem Punkt, wo das Frictions- 
geräusch auf der Haut aufhörte, war in allen Fällen eine Senkrechte, 
welche von einer Tangente des Hautpunktes ausgezogen den Herz- 
rand streifte. Auch bei diesem Versuch ging das Herz nach 
Aussetzen des Druckes, wie vorher, im Verlauf von etwa 5 Minuten 
zur Norm zurück, was wieder zuerst durch die Friction von Moment 
zu Moment genau gezeigt werden konnte. 

Dem Einwand, den v. Criegern auf dem XIX. Congress f. 
innere Medizin gemacht hatte, und der von Herrn Collegen v. Muralt, 
dem Oberarzt der Züricher psychiatrischen Klinik, auch ausge- 


24 Dr. A. Smith, 


sprochen wurde, dass es sich ev. nicht um wirkliche Vergrösserung, 
sondern um Bewegungsvorgänge im Sinne von Ortswechsel in Folge 
des Druckes handele, wurde in einwandfreier Weise dadurch be- 
gegnet, dass beide Seiten gleichzeitig vom Zwerchfell aus mit den 
Händen bei einem erneuten Druckversuch controlliert wurden. Es 
zeigte sich hierbei sowohl das Anschwellen als auch das Abschwellen 
des Herzens aufs deutlichste von beiden Seiten aus gleichzeitg nach- 
weisbar, wie es früher das herausgenommene Herz auch gezeigt hatte. 

Ich machte dann mit meinem Assistenten Hofmann am anderen 
Tage weitere Versuche, um den Druck zu bestimmen, der zu be- 
stimmten Ausdehnungen notwendig wäre. Leider platzte aber gleich 
bei Beginn der Versuche die Hohlvene an einer nicht erreichbaren 
Stelle. Von der Aorta aus konnten wir sehen, dass die erreichten 
in der Fig. 3 wiedergegebenen Masse bei einem jedem Druck folgen- 
den Aufschnellen des Quecksilbers auf 70 cm Quecksilber und 
Wiederhinabsinken auf 3—5 cm (in einem Steigrohr von 0,6 cm 
Durchmesser) sich ergaben. Einen höheren Druck konnten wir 
leider mit den zur Verfügung stehenden Apparaten nicht erreichen, 
ebenso konnte bei der angewandten Methode ein constanter Druck 
nicht erzielt werden. Es wird einem weiteren Versuch vorbehalten 
sein, zu sehen, wie stark überhaupt das Herz unter Druck erweitert 
werden kann. Notwendig hierbei wird sein, eine möglichst frische 
Leiche zu untersuchen, da schon bei der zwei Tage alten Leiche 
bei auch sonst: aufgetretenen starken Leichenerscheinungen die Hohl- 
vene schon einem verhältnismässig niedrigen Druck nicht mehr 
Stand hielt. 

Der Versuch zeigt uns sehr lehrreich die zwei Wege, auf denen 
es auch im Leben zur Herzvergrösserung kommen muss: zu grosser 
Widerstand in der vor der Strömung liegenden Blutbahn — Druck 
von der Pulmonalis aus — und gesteigerte Zufuhr von hinten ohne 
die Möglichkeit, schnell genug entleeren zu können — Druck von 
der Hohlvene her. In derselben Weise hätte natürlich auch die Über- 
dehnung des arteriellen Herzens von den Lungenvenen hervorgenommen 
werden können. Bei Angiospasmus und Angioparese haben wir im 
Leben den Widerstand vor dem Herzen, bei Überanstrengung wahr- 
scheinlich die zu schnelle Füllung mit dem Bestreben, möglichst 
schnell viel Blut in die arbeitenden Muskelpartien abzugeben, dem 


Über den heutigen Stand Lado ipea Herzdiagnostik 25 
aber das Gefässsystem zunächst noch Widerstand entgegenstellt, so 
dass mehr Blut ins Herz läuft, als daraus entleert werden kann. 
Speciell bei der kurzen Überanstrengung haben wir genau dasselbe 
Bild, das wir bei dem Leichenexperiment hervorriefen: schnelle Ver- 
grösserung zu relativ recht bedeutendem Volumen, und ebenso schnelles 
Anpassen der Gefiisse bei Aufhóren des Druckes und Rückkehr zur 
Norm. Wenn man bei Jemand, der schnell Treppen hinaufgelaufen 
war oder eine schwere Last getragen hatte, die er nicht gewöhnt 
war, ein acut vergrössertes Herz findet, so lässt sich immer zeigen, 
wie bei Ruhe fast jede Minute das Herz kleiner wird, die Grenzen 
sich zurückziehen. Wer das Gesetzmässige dieser Vorgänge nicht 
kennt, wird im Anfange der Einübung der Untersuchungstechnik 
leicht durch solche Vorgänge irre geführt und zweifelhaft werden. 

Es ist jedenfalls notwendig, dass solche Versuche über func- 
tionelle Veränderungen des Herzens unter den verschiedensten Be- 
dingungen des öfteren an der Leiche gemacht werden — es wird 
zweifellos dadurch über manches Klarheit geschaffen werden 
können, was jetzt noch dunkel ist. Die schematische Zersäbelung 
der Leichen, wie sie heute üblich ist, kann jedenfalls den Kliniker 
nicht mehr viel weiter in seiner Einsicht in das Wesen der Krank- 
heiten bringen. Leider ist es aber für den Forscher, der abseits 
vom breiten Wege seinen eigenen Pfaden nachgeht, so ausserordent- 
lich schwer, einmal Material zu anders gearteten Untersuchungen 
zu bekommen: — der Kliniker besteht auf seinem Schein, es muss 
eine Leiche wie die andere zerlegt werden, als ob der Untergang 
der ganzen Menschheit an einem nicht rite secierten Herzen hinge. 

Ich habe etwas länger bei der Untersuchungstechnik und deren 
Kontrolle verweilen müssen, einmal, weil sie natürlich die Grund- 
lage aller weiteren Folgerungen ist, andererseits aber auch, weil ich 
nicht gerne den kindlichen Glauben aufkommen lassen möchte, als 
hätte ich in kritikloser Weise die neue Methode ohne jede weitere 
Kontrolle übernommen, und wiege mich nun in Autosuggestionen, 
wie mir dies in den neuesten Publikationen mehr oder weniger ver- 
blümt vorgehalten wird. Wir haben alle zugängigen Methoden gleich- 
mässig angewendet, und die beste am weitesten ausgebildet, und 
trotz jetzt sechsjähriger Übung an einem Riesenmaterial suchen wir 
immer nach weiterer Vervollkommung und Vereinfachung. 


26 Dr. A. Smith, 


Fiir denjenigen, der ohne Anleitung die Methodik der Friction 
lernen will, empfiehlt sich, die ersten Untersuchungen an einer leicht 
palpabeln Leber oder an einem durch Percussion leicht festzustellen- 
den unteren Lungenrand zu machen, und erst an die Herzunter- 
suchung zu gehen, wenn die durch die Friction gefundenen Grenzen 
immer genau richtig sind. Eigene Unzulänglichkeit darf nicht als 
Wertmesser für die Brauchbarkeit neuer Methoden dienen. 


Die Funktionsprüfung des Herzens. 
Das gesunde Herz. 

Um feststellen zu können, in welchem Grade ein Herz in seiner 
Funktion gestört ist, müssen wir natürlich zuerst sehen, wie sich die 
Leistungsfähigkeit des gesunden Herzens normieren lässt. Und da 
möchte ich gleich vorwegnehmen, dass ein gesundes Herz in dem 
gleich zu besprechenden Sinne heute zu den grössten Seltenheiten 
gehört, derart, dass es mir unter vielen tausenden von Untersuchungen 
die ich daraufhin angestellt habe, nur sehr selten, knapp ein dutzend- 
mal geglückt ist, bei der ersten Untersuchung ein genügend leistungs- 
fähiges Herz zu finden. Was das heissen will, und wie das uns die 
zunehmende Degeneration und Nervosität des Menschen erklärt, 
werden wir später sehen. 

Zunächst beschäftigt uns natürlich die Frage: Was ist ein ge- 
sundes Herz, und was müssen wir von einem solchen verlangen? 
Die Frage ist leichter gestellt, als aus unseren heutigen Verhältnissen 
heraus beantwortet. Wir müssen jedenfalls, um nicht in einen ver- 
hängnisvollen anthropologischen Fehler zu verfallen, von der gewöhn- 
lichen Methodik Abstand nehmen, die einfach eine grosse Reihe an- 
scheinend normaler Menschen untersuchen und die Durchschnitts- 
grösse und Leistungsfähigkeit des Herzens bei diesen als normale 
annehmen würde Ich erhielt bei einem solchen Versuch für 
jede untersuchte Gegend, und in jeder derselben für Stadt und Land 
völlig verschiedene Ergebnisse, die die Folgerung erzwungen hätten, 
dass Grösse und Leistungsfähigkeit des Herzens für Menschen der- 
selben Rasse nicht einheitlich sondern von den unberechenbarsten 
Faktoren abhängig seien. 

Eine anderer Ueberlegung entsprossene Methodik zeigte mir dann 
aber, dass sowohl Grösse als auch Funktion des Herzens ohne jede 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 97 
und Herztherapie. 
Rücksicht auf territoriale Verhältnisse und nur geringe auf Alters- 
zustände, doch recht zur Uebereinstimmung zu bringen seien, und 
habe ich bis jetzt bei über 400 Personen diese schliessliche Ueber- 
einstimmung studieren können. 

Wir müssen uns bei der Frage nach der natürlichen Leistungs- 
fähigkeit des menschlichen Herzens von unserem heutigen kulturellen 
Standpunkt zurückversetzen in einen Zustand, in welchem der Mensch 
keine anderen Hülfsmittel zu seiner Erhaltung zur Verfügung hatte, 
als die, welche er mit auf die Welt brachte und die, welche ihm 
die einfache natürliche Umgebung bot; wo er seine Lebensbedürf- 
nisse nicht bei Metzger, Bäcker etc. holte, sondern wo er sich selbst 
dieselben suchen musste. Denn die paar Jahrhunderte, oder bei 
höher kultivierten Völkern selbst die paar Jahrtausende, welche seit 
der Zeit vergangen sind, dass der Mensch Jäger, Hirt und Nomade, 
oder auch noch Ackerbauer war, Berufe, in denen er von Morgens 
bis Abends nur bei Anspannung aller körperlichen Kräfte die Nahrung 
und Kleidung für sich und die Seinigen erwerben konnte — die 
paar Jahrtausende haben nicht genügen können, um unsere Organe 
so umzugestalten, dass dieselben jetzt ohne Schaden zu leiden, dem 
fortwährend thätigen Leben entzogen ein Parasitendasein führen 
könnten, wie dies bei dem Überhandnehmen der bewegungsscheuen 
Berufe von heutzutage der Fall ist. Unsere muskulösen Organe 
degenerieren mit grosser Schnelligkeit, wenn sie nicht immer wieder 
bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit hin angestrengt werden; 
sie haben aber auch, wie es scheint, unbegrenzt die Fähigkeit, wenn 
sie schon degeneriert sind, durch systematische Uebungen wieder in 
einen sehr hohen Grad von Leistungsfähigkeit gebracht zu werden. 
Unsere heutige klinische Schule scheint allerdings den degenerierten 
Zustand schon als den normalen ansehen zu wollen, denn sie spricht 
von einer Arbeitshypertrophie, geht also von dem Gesichtspunkte 
aus, dass ein Organ sich durch stärkeren Gebrauch über die Norm 
vergrössere: während doch eine einfache fortlaufende Beobachtung 
zeigt, dass die Regeneration immer nur bis zu einer gewissen, jedem 
Individuum begrenzten Ausdehnung geht, über diese hinaus nie. 
Athleten können nur so weit herangeübt werden, wie die Natur es 
ihnen bestimmt hat, nur ohne die nötige Uebung sinken sie unter 
ihre normale Leistungsfähigkeit in den Durchschnitt zurück. Horvath 


28 Dr. A. Smith, 


hat zweifellos recht, wenn er den Satz von der Arbeitshypertrophie 
als Köhlerglauben und Ammenmärchen der Medizin verwirft Nur 
bei voller Belastung arbeitet unser Lebensmotor am besten, und zwar 
ist die Arbeitsinanspruchnahme bei den Völkern am grössten ge- 
wesen, welche in der allereinfachsten Weise auch in Beziehung auf 
die Ernährung leben mussten. Es musste folglich umpgekehrt die 
einfachste Nahrung genügend Kräfte für die höchste Arbeitsleistung 
bieten. 

Es wäre deshalb das einfachste, ein Naturvolk, welches noch 
völlig unberührt vom Kulturleben, ohne bureaukratische Parasitenberufe 
und vor allem ohne Alkohol dahinlebt, auf seine Organ-, speciell 
Herzfunktionen hin zu untersuchen, und daraufhin Schlüsse auf 
Gesundheit und Krankheit zu machen. Am geeignetsten wären seiner- 
zeit die Indianer Nordamerikas zu solchen anthropologischen Studien 
gewesen — aber das ist jetzt zu spät. Das einzige Volk, das trotz 
der Berührung mit der Kultur sich davon freizuhalten gewusst hat, 
ein Volk mit intuitivem Gefühl für die Degeneration der Kultur, 
sind heute nur noch wenige Südseeinsulaner, und ich hoffe dem- 
nächst speciell in Samoa eingehende Studien über die uns be- 
schäftigende Frage anstellen zu können. 

-Einen ausgedehnteren Versuch, Jemanden, der sich möglichst 
an die natürlichen Lebensbedingungen anpasste, ganz speziell auf 
den Parallelismus zwischen Herzgrösse und Leistungsfähigheit lange 
Zeit hin zu untersuchen, hatte ich Gelegenheit vor drei Jahren mit 
meinem damaligen Obergirtner, dem jetzigen Gartenbaulehrer Herrn 
A. Ohrtmann in Köstritz anstellen zu können, nachdem eine ein- 
gehende klinische Beobachtung desselben Moments bei meinen 
Patienten in und ausserhalb der Anstalt mir eine Reihe von aufzu- 
klärenden Fragen an die Hand gegeben hatte. Herr Ohrtmann, 
ein muskelkräftiger Mann Mitte der Zwanziger, war schon seit 
mehreren Jahren vollständig alkoholabstinent, lebte vorwiegend 
vegetarisch, ohne principiell Fleisch auszuschliessen, und fühlte sich 
ohne körperliche Arbeit direkt unbehaglich. Bei Beginn des Ver- 
suches war er kurz vorher aus der Obst- und Gartenbauschule 
Geisenheim gekommen, in welcher er mehr theoretisch wie prak- 
tisch thätig gewesen war (zur Ablegung des Obergärtnerexamens). 
Die Untersuchungen wurden, wo nicht besondere Abweichungen ver- 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 29 
und Herztherapie. 

merkt sind, genau zu denselben Zeiten und unter denselben Ver- 
hältnissen, was Arbeitund Ernährung angeht, vorgenommen. Die Arbeit 
selbst wurde in leichte, mittlere und schwere eingeteilt: leichte Arbeit 
war Baumschneiden, Arbeit an den Geräthschaften bei schlechtem Wetter, 
Pflanzen, mittlere Umgraben und endlich schwere Rigolen und Erd- 
bewegung vermittels Schubkarren. Es wurde für gewöhnlich zwei- 
mal täglich, Morgens und Abends, eine Herzaufnahme gemacht; immer 
dann aber, wenn eine Abweichung von der Norm des Lebens durch 
die Verhältnisse sich ergeben hatte, wurde sofort nachher wieder 
untersucht. Hatte sich eine Herzveränderung ergeben, so wurde jede 
Möglichkeit der Ursache besonders durchgeprüft, um genau den ver- 
antwortlichen Faktor herauszufinden, und geschah dies durch Auf- 
nahmen in ganz kurzen Pausen. 

Wir hatten bei der klinischen Beobachtung unserer Patienten 
festgestellt, dass jede bei der Aufnahme gefundene Herzerweiterung 
im Laufe von 6 bis 8 Monaten bei Anwendung der in Nerven- 
heilanstalten üblichen Behandlung (Hydrotherapie, Gymnastik, Alkohol- 
enthaltung, rationelle Ernährung) auf ein Mass zurückging, das 
etwa 7 bis 8 cm in der Richtung von Basis zur Spitze (Länge), 
5 bis 6 cm in der Richtung quer durch die Kammern (Höhe) 
betrug. Wir sehen ganz denselben Vorgang bei der Versuchsperson: 
Das Herz zeigte bei der ersten Aufnahme 14 cm Länge bei 
9 cm Breite, blieb später aber constant im Verhältnis von 7 zu 5 cm. 
Die anstrengendsten Arbeiten, die bis zur Grenze der Leistungs- 
fähigkeit gesteigert wurden, hatten als Resultat eine schliessliche 
Verkleinerung des Herzens auf eine Norm, die der Kliniker von 
heut zu Tage einfach als Phantasiegebilde bezeichnen würde. Rechnet 
man doch in München ein normales Herz noch bei ca. 15 cm Länge, 
in Zürich nach Angabe von Herrn Prof. Ernst bei 10 cm! Da die 
Herzgrösse, welche wir bei grösster gleichbleibender täglicher Arbeits- 
leistung bei unserer Versuchsperson schliesslich dauernd erzielten (ich 
füge gleich hinzu, dass in den folgenden zwei und einhalb Jahren die 
Grösse constant blieb, wenn nicht ganz besondere Verhältnisse wie 
Krankheit, Überhitzung u. a. m. vorübergehende Änderungen ver- 
ursacht hatten, mit der unserer Patienten anı Schluss ihrer Kur 
übereinstimmten, so sind wir wohl berechtigt, eine Länge von 7 bis 8, 

eine Höhe von 5 bis 6 cm als dem normalen, gesunden Menschen 


30 Dr. A. Smith, 


zukommend, anzunehmen und jede Vergrósserung úber dies Mass 
hinaus als pathologisch zu bezeichnen. 

Es stimmt dieses Mass aber auch, wenn wir eine physikalische 
Betrachtung einer Berechnung zu Grunde legen. Das Herz treibt 
mit jedem Stoss etwa 75 ccm Blut in die grossen Gefisse, Es 
stehen aber die Kammern und Vorhöfe in Bezug auf Füllung und 
Entleerung derart in Wechselbeziehung, dass dem ganz entleerten 
Vorhof die gefüllte Kammer, der sich entleerenden Kammer der sich 
füllende Vorhof und endlich der entleerten Kammer der gefüllte 
Vorhof normalerweise entspricht. Wir müssen also dem entsprechend 
als notwendigen Blutinhalt des Herzens ca. 150 ccm annehmen. 
Rechnen wir zu den eben angeführten Massen die Tiefe als dritte 
Dimension mit etwa demselben Mass wie die Höhe hinzu, so erhielten 
wir einen Kubikinhalt des ganzen Herzens von (7 >< 5 >< 5 =) 175 
bis (8 >< 6 >< 6 =) 288 ccm, bei welchen Massen ein Inhalt der 
Herzhöhlen von ca. 150 ccm ohne weiteres als entsprechend be- 
trachtet werden kann. 

Da nun ferner nach den Gesetzen der Hydraulik ein gegebener 
Druck auf alle Teile einer Flüssigkeitsmenge völlig gleich einwirkt, 
demgemáss bei Fortbewegung eines Teiles einer Fliissigkeitsmasse 
dieselbe Kraft, welche zum Treiben des Teiles notwendig ist, genau 
ebenso stark auf die zuriickbleibenden wirken muss, ist klar, dass 
das optimum der Herzleistung dann vorhanden ist, wenn gerade so 
viel Blut im Herzen vorhanden ist, als fortbewegt werden muss: 
bei doppeltem Inhalt z. B. wiirde das Herz das doppelte Mass von 
Kraft anzuwenden haben, um die Hälfte des Inhaltes, also die normale 
Menge, fortzubewegen. 

Es ist also jede Vermehrung des Blutinhaltes bei 
Erweiterung des Herzens im Sinne der Okonomie des 
Organs ein Schaden, da das Herz, ohne mehr für den 
Körper zu leisten, sich genau im Verhältnis zu der vor- 
handenen Vergrösserung überarbeiten und vorzeitig er- 
schöpfen muss. 

Es ist dies ein Fundamentalgesetz, welches für jede 
hygienische und therapeutische Massnahme pharmakolo- 
gischer und physikalischer Art gebieterisch zuerst die 
Fragestellung nach der Reaktion des Herzens fordert, 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 31 
und Herztherapie. 

und in einwandfreier Weise einen neuen Weg objektiver 
funktioneller Diagnostik und Therapie eröffnet, wie 
wir bis jetzt so weitgehend noch keinen besessen haben. 
Denn wir können jetzt an der mit grösster Leichtigkeit, so oft wir wollen, 
vorzunehmenden Feststellung der Herzgrenzen mit aller Genauigkeit 
sehen, ob eine Handlung oder ein Eingriff dem Herzen geschadet 
oder genutzt hat, und können nach einer einmaligen Untersuchung bei 
Zugrundelegung der eben genannten Normalmasse sagen, ob das 
Herz normal funktioniert oder nicht. Denn ein vergrössertes Herz 
kann eben nicht normal arbeiten, selbst wenn einstweilen die 

Störungen noch nicht subjektiv vom Kranken bemerkt werden. 
Nehmen wir den Beginn der messbaren Überdehnung des Herzens 
als Zeichen der Funktionsstörung an, so ist natürlich damit nicht 
gesagt, dass nicht schon vorher dem Herzen mehr zugemutet worden 
ist, als ihm zuträglich war: denn der wirklichen Ausdehnung ist 
schon die schädliche Zerrung und Drucksteigerung vorhergegangen. 
Aber es hat sich praktisch gezeigt, dass es völlig genügt, sich an die 
Überdehnung zu halten, soweit sie nur eben angedeutet ist, um 
genügend über die Leistungsfähigkeit, oder besser gesagt, über die 
Grenze der Leistungsfähigkeit des Herzens unserer Kranken unter- 
richtet zu sein, ohne ihnen geschadet zu haben. Und ein Vorteil 
dieser Methodik ist der, dass wir auch bei schwereren Kranken ohne 
Apparate im Anschluss an die gewohnten Vorrichtungen unsere 
Diagnose stellen können. Ich will an einen concreten Fall anknüpfen. 


Eine Dame stürzt gelegentlich einer Ausfahrt aus dem Wagen, dessen Pferde 
durchgegangen waren, und zieht sich schwere Verletzungen zu, die monatelange 
Erkrankung zur Folge haben. Nach Heilung der Wunden tritt ein Zustand hoch- 
gradiger Nervosität, Reizbarkeit, leichte Ermüdung ein, der als „traumatische 
Neurose“ aufgefasst wird. Ausser anderen Kuren werden auch heisse Bäder ver- 
ordnet, und obgleich die Kranke in den heissen Räumen Angst- und Schwindel- 
erscheinungen zeigt, wird sie vom Arzt veranlasst, die Kur in derselben Weise 
fortzusetzen, bis sie endlich ganz bettlägerig wird. Ein längerer Aufenthalt in 
einer Nervenheilanstalt ändert nicht viel mehr; die Kranke verliert völlig den 
Mut, die Reizbarkeit wird immer schlimmer, die Kranke steht nicht mehr auf, 
klagt tiber fortwährenden Druck auf der Brust, sie wird ständig von Todesangst 
gequält, da ihr das Atmen schwer wird; das Gedächtnis und die Auffassungskraft 
sind aufs höchste geschwächt. 

Die Untersuchung ergiebt neben schmerzhaften Druckpunkten an den grösseren 
Nervenstämmen hochgradig gesteigerte idiomuskuläre Erregbarkeit, teils gesteigerte, 
teils abgeschwächte Reflexe und ein Herz, dessen rechte Grenze in der rechten 
Parasternallinie liegt, dessen linke Grenze handbreit über die Mamillarlinie hin- 


32 Dr. A. Smith, 


ausgeht. Nach oben liegt die Grenze auf der zweiten Rippe. Herztóne schwach, 
keine Geräusche, zweiter Pulmonalton verstärkt. 

Die Aufforderung, aufzustehen, lehnt die Kranke zunächst mit der Bemerkung 
ab, dass jede Bewegung sie so anstrenge, dass sie eine ganze Zeit brauche, bis 
sie wieder sich beruhigt habe. Und in der That zeigt sich nach einfachem Auf- 
stehen ohne weitere Bewegung das Herz bei der erneuten Untersuchung nach 
allen Dimensionen noch weiter vergrössert. 

Die Kranke wird jetzt eine Viertelstunde lang faradisiert, derart, dass eine 
grosse Elektrode aufs Herz gelegt wird, und mit der elektrischen Massierrolle 
nach und nach alle Körperteile kräftig bearbeitet werden, wobei die motorischen 
Punkte einer etwas längeren Elektrisierung ausgesetzt werden. (Besondere Be- 
achtung verdienen hierbei die Ischiadicuspunkte, da von ihnen aus das Herz selbst 
in sehr angenehm empfundene und wirksame Erregung kommt.) 

Eine erneute Herzuntersuchung zeigt jetzt einen Rückgang der Herzgrenzen 
rechts an den Sternalrand, links bis zwei Finger breit über die Mamillarlinie 
hinaus, oben steht der Rand jetzt unterhalb des zweiten Zwischenrippenraumes 
hart an der dritten Rippe. 

Subjektiv fühlt sich Patientin jetzt auffallend erleichtert. Der Druck in 
der Brust ist vorbei, der Atem geht leicht und tief, der Kopf ist frischer, sie 
„fühlt sich wie neugeboren“. 

Das Faradisieren wird einige Tage zweimal täglich fortgesetzt, dann wird 
wieder die Probe mit Aufstehen gemacht. Nach dem Aufstehen ist jetzt das 
Herz nicht mehr gegen vorher verändert, und es werden nun Gehversuche mit 
einzelnen Schritten angeschlossen, ohne dass zunächst das Herz sich wieder er- 
weitert. Als aber Patientin, dadurch kühn gemacht, das Zimmer mehrmals durch- 
wandert, tritt sofort wieder Unbehagen, Erschöpfung und Herzerweiterung auf. 
So wird unter genauer Kontrolle der Herzgrenzen die Bewegung allmählich 
gesteigert, wobei jedesmal, wenn Patientin ihrem lebhaften Naturel folgend, den 
Weg langsamer Steigerung verlässt und sich zu weitgehenderen Leistungen fort- 
reissen lässt, Verschlimmerungen, die objektiv durch Herzerweiterung, subjektiv 
durch Erschöpfung sich anzeigen, auftreten. Nach etwa 8 Monaten ist Patientin 
soweit hergestellt und ihr Herz so wieder trainiert, dass sie nickt nur ihren 
Haushalt völlig wieder leiten, sondern auch weite Spaziergänge in vorsichtigem 
Tempo ohne Schaden machen kann. Das Herz ist allmählich auf 8:6 cm zurück- 
gegangen. 

Wir sehen aus dem oben in seinen Grundzügen geschilderten 


Fall am besten das Wesen der funktionellen Diagnostik. Es kommt 
hierbei nicht so sehr darauf an, wie dies bei Anwendung des Er- 
gostaten geschieht, immer einen messbaren Ausdruck für die Leistungs- 
fähigkeit zu erhalten — denn welcher Arzt möchte sich anheischig 
machen, die Anforderungen des täglichen Lebens nach Kilogramm- 
sekundenmetern dosieren zu wollen? — sondern es ist erforderlich, 
je schwerer der Fall, desto eingehender und öfter die Einwirkung 
alles dessen zu studieren, was der Kranke thun könnte, wobei sogar 
zu berücksichtigen ist, dass ein harter Stuhlgang Herzerweiterung 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 33 
und Herztherapie. 

schaffen kann. Es giebt in Folge dessen wohl keine Erkrankung, 
bei der eine so eingehende ärztliche Thätigkeit erforderlich ist, als 
bei Herzmuskelstórungen; nirgendwo kann weniger schematisiert und 
dogmatisiert werden. Denn wenn auch eine reiche Untersuchungs- 
thätigkeit an grossem Material selbstverständlich gestattet, von vorn- 
herein gewisse Ratschläge und Winke dem Kranken bei der ersten 
Untersuchung schon zu geben: irgendwelche Sicherheit, dass der 
Patient bei Befolgung dieser allgemeinen Ratschläge nun auch 
wirklich seine Insuffizienz verlieren wird, ist hierbei nie gegeben. 
Es ist schon, wenn gar kein unerwarteter Zwischenfall eintritt, nicht 
möglich, zu übersehen, in welcher Steigerung die Übungen vorge- 
nommen werden können; ein Kranker, der nach der ersten Unter- 
suchung den verfallensten Eindruck macht, kann schon nach wenigen 
Wochen zu grösseren Anstrengungen veranlasst werden, während 
ein anderer, den wir im Anfang bedeutend kräftiger taxierten, 
Monate braucht, ehe ihm eine Steigerung körperlicher Bethätigung 
zugemutet werden darf. 

Handelt es sich also bei einer funktionellen Diagnostik, worauf 
ich unten zurückzukommen habe, eher um eine Funktionsprüfung 
des Herzens zur Indikationsstellung und Kontrolle der Therapie, so 
haben wir, wie wir später sehen werden, immerhin auch einige 
Anhaltspunkte bei dem Verhalten des Herzens auf gewisse Reize 
hin, die uns gestatten, eine Diagnose auf den anatomischen Zustand 
des Herzens zu thun — so gering schliesslich der Wert einer solchen 
Diagnose auch sein mag. 

Wir müssen uns aber zunächst noch einmal mit den Reactionen 
des Herzens beschäftigen, welches, wie wir oben sehen, in gewissen 
Grenzen allen körperlichen Anforderungen, die an den Naturmenschen 
herantreten könnten, sich gewachsen gezeigt hat, und demnach mit 
grösster Wahrscheinlichkeit als „gesundes Herz“ angesehen werden kann. 

Verändert sich nun ein solches gesundes Herz nicht mehr? 

Gehen wir von dem theoretisch absolut unanfechtbaren Stand- 
punkt aus, dass jede Herzerweiterung pathologisch ist, die über die 
gewöhnliche Entfaltung des Herzens hinausgeht, also Lockerungen 
in den Muskelverbindungen des Organs veranlasst, so ist bei uns 
sicher kein Herz zu finden, das nicht durch ungewohnte Eingriffe 


vergrössert wurde. Ich will hierbei natürlich nicht an die Einwirkung 
3 


34 Dr. A. Smith, 


von Giften, wie Alkohol, Chloralhydrat, Chloroform u. s. w. denken, 
sondern auch nur an Veránderungen, welche durch mechanische 
Thätigkeit veranlasst werden. Und da finden wir, dass auch die 
anscheinend gesundesten Menschen auf Anstrengungen ungewohnter 
Art hin, die absolut, in Kilogrammsekundenmetern gemessen, geringer 
sind, als die gewohnten, oft Herzerweiterungen ziemlich starker Natur be- 
kommen, und diese erst bei einem auf die neue Bewegung gerichteten 
Training schliesslich ausbleiben. Ob das bei jedem Herzen, auch 
dem von Kulturgiften freien der Naturvölker, der Fall sein wird, 
muss sich zeigen: mir scheint eher, dass wir durch die von Kind 
an geübte Gewohnheit, unsere Herzen unter dem Einfluss speziell 
des Alkohols immer wieder überdehnt zu bekommen, das Gefühl für 
den Beginn der akuten Überdehnung verloren haben, und erst aus 
der Erschöpfung, dem Gefühl der Überanstrengung, an unser Herz 
erinnert werden. Ein angestellter Versuch legt mir diesen Gedanken- 
gang nahe. Ein gesunder Mann, den ich zur Demonstration der 
Alkoholwirkung auf das Herz einige Mal vor Kollegen untersucht 
hatte, und der auf verhältnismässig geringe Alkoholmengen mit sehr 
deutlich ausgesprochener Herzerweiterung reagierte, sollte wieder 
auf diese Wirkung hin untersucht werden. Da die Reaction natür- 
lich nicht zu zeigen ist, wenn die Versuchsperson vorher durch 
Alkoholgenuss ihren Herzmuskel schon auf eine gewisse Grenze 
ausgedehnt hat, da dann eine neue Gabe nur noch geringe oder 
oft gar keine Veränderung mehr erzeugt, war der Mann bei den 
vorigen Versuchen immer erst einige Tage alkoholabstinent geblieben. 
Bei dem projectierten Versuche nun, sagte er, dass er am Abend 
vorher (Sonntag) und am Morgen schon Alkohol getrunken habe. 
Um möglichst doch noch die Demonstration machen zu können, 
liess ich dem Manne im Intervall von einigen Stunden zwei kräftige 
Wechselstrombäder geben, in der Absicht, die vorher durch den 
Alkohol erzeugte, immer längere Zeit persistierende Herzerweiterung 
durch das bewährte Mittel der unterbrochenen Ströme wieder zu 
beseitigen. Dies gelang auch, das Herz ging auf die sonst bei dem 
Mann gewohnte Grösse zurück. 

Als ich nun aber die Alkoholwirkung zeigen wollte, erlebte ich 
ein vollständiges Fiasko. Der Mann, der sonst prompt mit einer 
recht beträchtlichen Erweiterung auf Alkoholgenuss reagierte, zeigte 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 35 
und Herztherapie. 

bei der nun vorgenommenen Untersuchung genau dieselben Herz- 
grenzen, wie vorher. Eine sofort vorgenommene Durchleuchtung 
nach Moritz bestätigte den Befund; man sah nur auf dem Schirm 
eine ganz besonders starke Herzthätigkeit sich spiegeln. Es dauerte 
dann fast zwanzig Minuten, bis eine Ausdehnung eintrat, und zwar 
vergrösserte sich jetzt das Herz nicht wie sonst nach der Seite hin 
(also von Basis zur Spitze) sondern ausschliesslich nach oben. Der 
Schatten wurde annähernd kreisförmig. 

Interessant war nun diesem objectiven Befund gegenüber der 
subjective Eindruck auf die Versuchsperson selbst. 

Der Mann fühlte jedesmal, dass der Alkohol ihm Erscheinungen 
am Herzen machte; er gab an, er fühle stärkeren Druck in der 
Brust nach dem Genuss, ohne aber im allgemeinen irgendwie Un- 
lust dabei zu empfinden. Ich muss nachtragen, dass der Betreffende 
nur Sonn- und Feiertags etwas zu trinken pflegte und nur ganz 
ausnahmsweise, wie am Morgen des Versuchstages, zu anderen 
Zeiten. Jetzt aber glaubte der Mann, wir hätten ihm ganz etwas 
besonders starkes gegeben; er meinte, sein Herz müsste ganz ge- 
waltig mehr, wie sonst, ausgedehnt sein; es sei ein unerträgliches 
Gefühl von Spannung in der Brust; er fühle sich ganz ab, furchtbar 
unbehaglich. Dieses unangenehme Gefühl hielt mehrere Stunden an. 

Ich halte es nach diesem Versuche für nicht unwahrscheinlich, 
— und ich hoffe, entscheidende Versuche an geeignetem Material 
darüber noch machen zu können — dass der ausserordentlich ener- 
gische Eingriff eines wiederholten Wechselstrombades dem Herzen 
eine Widerstandskraft verliehen hat, wie ihn sonst vielleicht nur 
das völlig naturgemäss seit Generationen herangewachsene Herz hat: 
und dass in der so sehr unangenehmen Reaktion auf Reize, welche 
einen sonst zur Herzerweiterung führenden Widerstand in den 
Kreislauf einschalten, das widerstandsfähige Herz ein unfehlbares 
Maass haben würde, um ohne weitere Untersuchung von aussen her 
sofort selbst zu fühlen, wie weit es in seiner Leistung gehen kann. 
Während also der Kulturmensch an die Überdehnung so gewöhnt 
ist, dass er häufig erst bei einem Zusammenbruch merkt, dass seine 
Leistungsfähigkeit überschritten ist, und bei ihm nur der untersuchende 
Arzt die Schwankungen feststellen kann, würde der Naturmensch 


in den subjektiven Gefühlen ein Sicherheitsventil haben, das es 
3* 


36 ' Dr. A. Smith, 


ihm so gut wie unmöglich machen würde, eine Leistung bis zur 
Schädigung des Herzens, die sich ja in der Herzerweiterung kund- 
giebt, zu übertreiben. 

Ist diese Auffassung richtig, so wäre damit die Frage nach dem 
gesunden Herzen auch praktisch der theoretischen Forderung ent- 
sprechend dahin zu beantworten, dass ein gesundes Herz sich bei 
menschlicher Kraft angemessenen Anstrengungen nicht ausdehnen 
dürfe, und dass es das Mass für seine Arbeitskraft in dem eigenen 
Gefühl habe. | 

Denn es ist an sich schon auffallend, dass das Herz so ungemein 
weitgehenden, bis zum völligen Zusammenbruch, der Herzlähmung, 
führenden Schädigungen ausgesetzt werden kann, ohne dass dem 
Betroffenen auch nur das allergeringste von ihm eindeutig zu ver- 
stehende Warnungssignal erscheint. An der äusseren Haut, sowie 
am Verdauungstraktus mahnen empfindliche Schmerzen bei viel 
weniger grossen Gefahren schon den Menschen zur Vorsicht. Auch 
lässt sich vielleicht annehmen, dass uns die Beurteilung des 
Herzens erst verloren gegangen ist — nicht zum wenigsten 
vielleicht durch den Umstand, dass das herzschädigendste Mittel, 
welches wir kennen, der Alkohol, gleichzeitig ein Betäubungsmittel 
für das Gefühl ist. Ebenhierhin zähle ich die Thatsache, die Bälz 
auf dem XIII. Kongress für innere Medizin mitteilte, dass die Japaner 
heisse Bäder nehmen, ohne dadurch in ihrer körperlichen Leistungs- 
fähigkeit gehemmt zu sein. Die mannigfachen Versuche, die ich mit 
heissen Bädern angestellt habe, ergaben fast ohne Ausnahme beträcht- 
liche Herzerweiterung, einmal sogar eine bis zum Collaps ausgedehnte, 
mit stark verminderter Leistungsfähigkeit. Bei den J apanern ist 
also augenscheinlich der Herzmuskel kräftig genug, um die peripher 
durch Hitze erzeugte Blutdruckerniedrigung kompensieren zu können, 
was bei meinen Untersuchungen nie der Fall war. Vielleicht neigen 
sie auch im Gegensatz zu uns, die wir mehr angioparetisch angelegt 
sind, mehr zu Angiospasmus, bei dem ein heisses Bad, ev. sogar herz- 
verkleinernd wirken könnte. 

So wahrscheinlich mir also im Verfolge der zahllosen Versuche, 
die ich angestellt habe, diese Annahme ist, so ist sie doch immer 
eine hypothetische, und es lässt sich unter unseren Verhältnissen 
nicht mit derselben rechnen. In letzter Zeit habe ich allerdings bei 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 37 
und Herztherapie. 

fast wiederhergestellten Kranken nach grösserer Anstrengung über 
Schmerzen, Stechen und Druck, in der Herzgegend klagen hören, 
obne dass die Untersuchung eine Veränderung ergab: möglicher- 
weise wären diese Schmerzen im Sinne meiner obigen Ansführungen 
zu deuten gewesen. Die Beobachtungen sind aber zu gering und 
ausserdem bei Kranken mit Psychogenie (Sommer) gemacht worden, 
so dass ich bei der Beurteilung derselben noch vorsichtig sein möchte, 

Wir müssen einstweilen den Begriff des gesunden Herzens ein- 
schränken, und das Herz in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit für 
gesund erklären, welches an alle Anforderungen, die an seine Arbeits- 
kraft gestellt werden, durch Übung angepasst werden kann. 

In diesem Sinne will ich es aufgefasst wissen, wenn ich von 
den an sich zweifellos pathologischen Reaktionen des gesunden 
Herzens spreche. 

Im allgemeinen muss das Herz stets in seiner Funktion gestört 
werden, wenn ihm eine Mehrarbeit zugemutet wird, welche auch 
mit Zuhülfenahme der sehr weitgehenden Reservekräfte, über welche 
das Organ verfügt, nicht mehr geleistet werden kann. Es tritt dies 
stets ein, wenn die Widerstände in der Blutbahn grösser werden, 
als dass die Druckkraft des Herzens zu ihrer Überwindung, also zur 
Herstellung des gewohnten Kreislaufes, hinreichte. Es muss dann 
zur Erweiterung zunächst der Kammer kommen, welche vergebens 
sich bemüht, ihren Inhalt gegen den Widerstand hin fortzubewegen 
während gleichzeitig von der anderen Seite her das normale Quantum 
Blut nachdrängt. Beim .Fortschreiten der Störung werden dann 
naturgemäss auch die anderen Herzhöhlen durch Rückstauung über- 
füllt, und es kommt zu den starken plötzlichen Ausdehnungen des 
Herzens, die besonders in den letzten Jahren von einer Reihe von 
Autoren studiert und beschrieben worden sind. (Schott, Henschen, 
Martius, Jacob u. a.) 

Der erhöhte Widerstand selbst kann nun, abgesehen von krank- 
haften Veränderungen im Gesamtkörper oder in anderen Organen, 
wovon ich später zu sprechen habe, sowohl durch Erweiterung 
gewisser Gefässbezirke, als auch durch Verengerung derselben 
erfolgen. Möglicherweise spielen sogar beide Faktoren immer gleich- 
zeitig eine Rolle, da es klar ist, dass eine Blutüberfülle in einem 
grossen Bezirke immer von einer Blutleere in einem anderen begleitet 


38 ] Dr. A. Smith, 


sein muss. So wird eine starke Erweiterung der Peripheriegefässe 
von einer Verengerung der Intestinalgefässe begleitet sein, und um- 
gekehrt wird ein starker Spasmus in der Peripherie eine Verblutung 
nach innen zur Folge haben müssen. Da wir aber die Peripherie 
am leichtesten kontrollieren können, nehmen wir der Einfachheit 
halber von den Blutbahnen der inneren Organe, bei denen uns 
einstweilen doch eine Übersicht nicht möglich ist, Abstand, und 
betrachten unter der Bezeichnung Angioparese und Angiospasmus 
nur den Zustand der peripheren Gefásse. Es ist dies auch schon 
dadurch gerechtfertigt, dass es sich in der Peripherie bei den am 
weitesten verästelten Gefässen um bedeutend grössere Schwankungen 
des Gesamtquerschnittes handeln wird, als bei den inneren. 

In gewissen Grenzen nun zeigt sich das Herz sowohl der Blut- 
druckerniederung bei Erschlaffung und Erweiterung, als auch der 
Drucksteigerung bei Verengung der Gefässe gewachsen. Erst wenn 
dieser, übrigens völlig individuelle Spielraum überschritten ist, kommt 
es zur Herzerweiterung, der eigentlichen Kompensationsstörung im 
weitesten Sinne. 

Wenn wir nun festzustellen versuchen, welche Reize des ge- 
wöhnlichen Lebens derartig die Funktion des Gefässsystems und 
damit indirekt des Herzens schädigen, so sehen wir zunächst 
gefässerschlaffend (angioparetisch) thermische und chemische Beein- 
flussungen wirken. 

Jede Überhitzung des Körpers, welche nicht durch die ab- 
kühlende Verdunstung des erzeugten Schweisses gemildert wird, 
führt im allgemeinen zu Herzerweiterung. Heisse Bäder, Dampfbäder, 
elektrische Lichtbäder, die nicht gleichzeitig Vorrichtungen zur inten- 
siven Verdunstung des Schweisses haben, sind für unsere Verhältnisse 
ganz direkt gefährlich. So wertvoll der Prozess des Schwitzens 
unter Umständen sein kann, so sehr wird der Nutzen meistens durch 
die Erschlaffung des Gefässystems bei uns wenigstens wieder aus- 
geglichen. Schon die starken Unlustgefühle, welche, wie wir nachweisen 
konnten, der Herzerweiterung fast immer folgen, die häufigen Schwindel- 
anfälle, Ohnmachten sollten schon zu bedeutend grösserer Vorsicht beim 
Gebrauch von Körperüberhitzungen in absichtlich oder unabsichtlich 
ungenügend ventilierten Räumen (Badezellen, Kästen) ermahnen. 
Ohne nachfolgende herzverengernde Prozedur habe ich die Herz- 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 39 
und Herztherapie. 

vergrösserung nach heissem Bade bis zum vierten Tage noch voll 
bestehen sehen, sie wurde dann erst therapeutisch beseitigt. 
Nach kurz dauernden Hitzeapplikationen wird ja allerdings durch 
die Nachbehandlung, besonders durch die kalte Douche, das Herz 
wieder zur Kontraktion gebracht, und dadurch im Gegensatz zu den 
vorher bestandenen Unlustgefühlen ein Gefühl des Wohlseins und 
Wohlbehagens bervorgerufen, welches irrtümlich dem heissen Bade 
zu Gunsten geschrieben wird, während és in Wirklichkeit nur Kontrast- 
erscheinung ist — wie wir ja überhaupt alles nur relativ empfinden. 
Schwitzprozeduren sind nur unter genauer Kontrolle des Herzens aus- 
zuführen: am meisten empfiehlt sich körperliche Bewegung bei leichter 
luftdurchlässiger Kleidung und langsamem tiefen Zwerchfellatmen, was 
bei einiger Übung reichliche Schweissabsonderung ohne jede Spur von 
Herzerweiterung hervorruft. Eine starke Herzerweiterung ist, auch 
wenn sie zurückgebildet ist, deswegen schon nicht gleichgültig, weil 
sie die Disposition zu ferneren Erweiterungen steigert, derart, dass 
ein leichterer Reiz jetzt unter Umständen stärkere Herzvergrösserungen 
hervorrufen kann, die den früher wirksamen therapeutischen Ein- 
griffen nun nicht mehr völlig weichen. 

Ein Kollaps nach zu stark genommenem heissen Bade, das ein 
Kollege, der die Liebenswürdigkeit hatte, sich mir zu diesbezüglichen 
Versuchen zur Verfügung zu stellen, ohne mein Einvernehmen in 
der Temperatur gesteigert hatte, weil er bei dem verabredeten Wärme- 
grad noch keine Wirkung verspürt hatte, erschien genau unter den 
Symptomen des Hitzschlages. Diese Beobachtung giebt einen wert- 
vollen Anhalt zur Therapie des Hitzschlages, insofern hier die Be- 
handlung der akuten Herzerweiterung mit Kampher und Faradisation 
möglichst schnell einzugreifen hätte. 

In die Kategorie „Herzerweiterung nach Überhitzung“ gehört 
auch höchst wahrscheinlich die Ausdehnung des Herzens, die sich 
nach einem galvanischen Bade zeigt. Die starke Rötung der Haut 
zeigt hier die Gefässerweiterung in der Peripherie genügend an. 

Nicht ausgeschlossen ist auch, dass bei den Erweiterungen auf 
chemische Reize hin, die Erschlaffung der Gefässe durch Wärme- 
wirkung eine Rolle spielt, doch ist die Frage einweilen noch offen. 
Das erhöhte Wärmegefühl beispielsweise nach Aufnahme von Alkohol, 
Äther u. a. m. könnte jedenfalls für die Auffassung sprechen. 


40 Dr. A. Smith, 


Diese, im Gegensatz zu den äusseren Reizen der Wärme 
und des galvanischen Stromes von innen heraus das Gefäss- 
system und von diesem indirekt aus das Herz beeinflussenden 
Mittel sind, soweit wir bis jetzt konstatiert haben folgende:!) 
Chloroform, Chloralhydrat, Amylenchloral (Dormiol), Aether, Plum- 
bum aceticum, Alkohol, Sulfonal, Brom, Morphium. Wie wir 
sehen, sind dies alles als Narcotica bekannte Mittel, und es ist 
nicht unwahrscheinlich, dass "die herzerweiternde Wirkung mit der 
physikalisch bedingten Erschwerung der Fortbewegung des Blutes die 
Betäubung der Gehirnfunktionen durch Unterernährung mit zur Folge 
hat. Der scheinbare Widerspruch, dass der Morphinist nach Einnahme 
von Morphium geistig regbarer wird, ist dadurch hinfällig, dass nach 
einem gewissen Grade von Angewöhnung das Morphium kein Schlaf- 
mittel mehr ist — und jetzt herzkontrahierend wirkt. Ich habe 
schon früher?) auch auf den psychologischen Widerspruch zwischen 
Alkoholismus und Morphinismus hingewiesen, der auch durch die 
Kraepelin’schen Untersuchungen deutlich wird: die Herzbefunde 
bestätigen und begründen meine damaligen Ausführungen. 

Während die meisten der oben genannten Mittel zu besonderer 
Vorsicht betreffs ihrer ärztlichen Anwendung mahnen — wird doch 
neben dem Alkohol Ather und Chloralhydrat geradezu als Herz- 
stärkungsmittel bei schwerem Herzzusammenbruch und extremster 
Herzerweiterung gegeben und dadurch ärztlich der natürlichen Er- 
holungskraft des Organismus zu Gunsten eines tötlichen Ausgangs oft 
genug entgegengearbeitet! — so ist es besonders wichtig, wegen 
des fast abergläubischen Gebrauches, den unsere Kulturvölker davon 
machen, die herzschädigende Wirkung des Alkohols zu erwähnen. 

Ich bemerkte schon oben, dass es wahrscheinlich der gewohn- 
heitsmässige Gebrauch des Alkohols ist, welcher uns des Sicherheits- 
ventils der Schmerzgefühle bei beginnender Überanstrengung des 
Herzens durch die Gewöhnung an die fortwährende Überdehnung 
des Organs beraubt hat. Wie stark diese Reaktion ist, ersieht man 


1) cf. Hofmann: Über die objektiven Wirkungen unserer modernen Herz- 
mittel auf die Herzfunktion. Verh. des XIX. Kongresses für innere Medizin. 
Wiesbaden, Bergmann, 1901. 

?) Smith: Uber einige Formen der Alkoholintoleranz und ihre Prognose. 
Verhandlungen der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, Wien 1894. 
Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 1894 No. 11. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 41 
und Herztherapie. 

daran, dass bei einem Versuche 1 ccm Alkohol subkutan injiciert 
genügte, um eine Herzerweiterung von 1,5 cm herbeizuführen, 
welche etwa 2 Stunden brauchte, um wieder zurückzugehen, 
während der Kontrollversuch, Injektion von physiologischer Koch- 
salzlösung, ohne jede Einwirkung blieb. Ich habe des ferneren die 
Wirkung chronischen Alkoholgenusses in den Grenzen, wie er bei 
uns als durchaus mässig und einwandsfrei gilt, untersucht, und 
bei einem gesunden (nicht herzmuskelinsufficienten) Manne fest- 
gestellt, dass bei Aufnahme von 3—7 Glas Bier zu 0,4 Lt. täg- 
lich, (bei völligem Ausschluss jedes anderen alkoholhaltigen Ge- 
tränkes) das einem Alkoholgehalt von ca. 45—100 ccm entspricht, 
das Herz in allmähliger Steigerung innerhalb 6 Tagen von 11 auf 
17 cm Länge (über die Brust gemessen) kam. Die Aufnahmen 
wurden immer mehrere Stunden nach der letzten Alkoholaufnahme, 
die übrigens über den ganzen Tag verteilt war, gemacht, um nicht 
die-akute Wirkung, die nach unseren Experimenten viel weitgehen- 
der ist, festzulegen. Da bei der Alkoholwirkung auf das Herz von 
Gelehrten geltend gemacht wurde, dass es hauptsächlich die Mehr- 
belastung mit Flüssigkeit sei, welche zu einer Überanstrengung und 
Überdehnung des Herzens führe, liess ich nach Abklingung der 
Alkoholwirkung durch einige Tage Abstinenz die Versuchsperson 
6 Lt. alkoholfreie Flüssigkeit in sich aufnehmen, wobei das bereits 
geschwächte Herz nur um 1 cm sich vergrösserte. 3,2 Lt. bei einer 
Festlichkeit getrunkenes Bier hatten eine akute Überdehnung von 3 cm 
zur Folge gehabt!) Besonders gefährlich ist der Alkohol dem- 
entsprechend bei Herzkrankheiten und habe ich wiederholt auf den 
engen Zusammenhang zwischen Alkoholintoleranz (Alkoholismus) und 
Herzmuskelschwäche aufmerksam gemacht. Interessant ist für diese 
Frage ein Versuch Timofejew’s, den Lukjanow in seinen 
Grundzügen einer allgemeinen Pathologie des Gefässsystems (Leipzig 
1894) anführt. Dieser Forscher schnitt Hunden mit artificiellem 
Aorta-Klappenfehler die Vagi durch, gab Atropin, Alkohol, compri- 
mierte vorübergehend die Bauchaorta, zwang sie zu angestrengten 


') cf. Smith: Über den heutigen Stand unserer klinischen Kenntnis des 
Alkoholismus. Referat auf dem VII. internationalen Kongress gegen den Miss- 
brauch geistiger Getränke. Paris 1899. , Der Alkoholismus“ I Heft. 1. 1900. 


49 Dr. A. Smith, 


Bewegungen; nur der Alkohol rief immer Compensationsstórungen 
hervor. Gesunde Hunde vertrugen den Alkohol relativ besser. 

Diese Verhältnisse werden bei der Besprechung der Herztherapie 
eine Rolle zu spielen haben. 

Sicherer als bei den chemischen herzerweiternden Mitteln spielt 
bei der Herzausdehnung im Gefolge von fieberhaften Erkrankungen 
die erhöhte Wärme eine Rolle bei der Gefässerschlaffung und dem 
dadurch gesetzten grösseren Widerstand fiir die Blutstrómung. Ob 
die alleinige, sei auch hier dahingestellt, da zweifellos eine Reihe 
von Krankheitsstoffen sowohl direkt auf das Herz schädigend einzu- 
wirken im Stande sein mögen, als auch, wie z. B. bei der Lungen- 
entzündung, der mechanische Widerstand, der in den kleinen Kreis- 
lauf eingeschaltet ist, direkt dem Herzen übernormale Arbeit zumutet. 
Ich habe mich häufig in der Praxis überzeugen können, mit welcher 
Schnelligkeit manchmal ganz ungeheure Herzvergrösserungen nach 
Eintritt des Fiebers in verhältnismässig wenigen Stunden eintreten. 
Bei einem Kranken beobachtete ich Abends bei unbestimmten 
Krankheitssymptomen und noch wenig gesteigerter Temperatur 
eine Herzbreite von 12 cm; am anderen Morgen bei unterdess 
auf 40° gesteigerter Wärme 27 cm über der Brust gemessen. (Über 
die Fehlerquelle dieser Messungen siehe meinen Vortrag „Über einige 
neueren Methoden zur Bestimmung der Herzgrenzen“. Verh. des 
XVII. Kongr. für innere Medicin. Bergmann, Wiesbaden 1900, 
wie auch Hornung: „Über Vorzüge und Fehlerquellen der Ortho- 
diagraphie und der Frictionsmethode bei Bestimmung der Herzgrenzen. 
Verh. des XX. Kongr. für innere Medizin. Wiesbaden, Bergmann 1902). 
Speziell die Influenza scheint in ihrer Wirkung auf das Herz be- 
sonders verheerend zu wirken, wenigstens spielt sie bei unseren Auf- 
nahmen in der Ätiologie die grösste Rolle. Der Kranke hat sich 
nach einer Influenza nicht mehr recht erholen können und sich 
immer angegriffen gefühlt, während er bis dahin völlig gesund war, 
ist eine stehende Klage geworden. Ausserdem sind aber Scharlach, 
Diphtherie, Typhus, Lungenentzündung in beträchtlicher Anzahl in 
unseren Anamnesen als Ausgangspunkt der Herzstörung vertreten. 

Ausser diesen herzerweiternden Ursachen, die als vielleicht nur 
äusserlichen gemeinsamen Punkt eine erhöhte Wärmebildung bei 
Gefásserschlaffung zeigen, haben wir, ehe wir die gefässver- 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 43 
und Herztherapie. 

engernden herzüberdehnenden Reize zu betrachten haben, noch 
einige Fälle experimentell beobachtet, in denen bei anscheinend 
normal sich verhaltendem Gefässtonus die Herzerweiterung durch 
eine Bilanzstörung in Herzhaushalt eintrat, insofern entweder bei 
gleichbleibender Inanspruchnahme eine zu geringe Krafteinnahme 
vorbanden war, oder bei gleichbleibender Ernährung die Ansprüche 
gesteigert waren. 


Liessen wir einen stark arbeitenden Menschen auf seine ge- 
wohnte Mahlzeit warten, so fing bald nach der Zeit, zu welcher er 
sonst etwas zu sich zu nehmen pflegte, das Herz an, sich zu ver- 
grössern; diese Vergrösserung nahm immer grössere Dimensionen 
an, bis nach aufgenommener Mahlzeit in unerwartet kurzer Zeit 
sie wieder verschwand. Da nach den Untersuchungen von 
Zuntz!), die sich mit anderen bei ihm aufgeführten, ziemlich decken, 
der arbeitende Herzmuskel bis zu 10 pCt. der zugeführten Gesamt- 
nahrung für sich verbraucht — eine enorme Menge, wenn wir das 
Verhältnis des Herzmuskels zu der übrigen Körpermuskulatur be- 
denken, — so ist es klar, dass er auf Störungen in der gewohnten 
Zufuhr ganz besonders stark reagieren muss. Es fehlt ihm jetzt die 
Kraft, durch genügend starke Kontraktionen das Blut in die wahr- 
scheinlich normalen, vielleicht auch etwas erschlafften Gefässe weiter- 
zupressen, während der Zufluss von hinten aber noch normal ist; das 
Herz wird in Folge dessen überfüllt, was wieder zu einer weiteren 
Erschöpfung führt; seine Muskulatur erschlafft und wird überdehnt. 
Geringer, aber auch deutlich ausgesprochen, war derselbe Effect bei 
Überschlagen von gewohnten Mahlzeiten bei körperlicher Ruhe. 
Interessant ist ein hierher gehöriges Experiment, das die Beeinflussung 
der Herzfunktion bei Nachtwache zur Grundlage der Untersuchung 
hatte. Blieb die Versuchsperson ruhig liegen oder sitzen und be- 
schäftigte sich mit leichter Lectüre, so blieb das Herz die ganze 
Nacht durch unverändert und die Morgenerscheinungen waren die 
eines recht ermüdeten, schlaftrunkenen Menschen. Beschäftigte sich 
die Versuchsperson körperlich, so trat entsprechend der geleisteten 
Arbeit Herzerweiterung ein, die aber dann völlig ausblieb, wenn 


1) Zuntz. Die Annäherung des Herzens und ihre Beziehung zur Arbeits- 
leistung. Lsipzig 1892. 


44 Dr. A. Smith, 


in gewissen Zwischenräumen Nahrung aufgenommen war. Hatte 
die Versuchsperson gearbeitet ohne Nahrung, so war Morgens ausser 
der Schläfrigkeit eine auffallende Reizbarkeit, verärgertes barsches 
Wesen zu bemerken. Es ist dieser Versuch ein wichtiger Wink, 
bei schlaflosen Kranken möglichste Ruhe anzustreben, der practisch 
in einigen Irrenanstalten nach Kraepelin’s Vorgang durch 
ausgedehnte Anwendung der Dauerbäder statt der Isolierzellen sich 
schon bewährt hat. Die Schlaflosigkeit an sich schadet beim Kranken 
der Herzfunktion noch nicht — muss ja das Herz beim Schlafenden 
auch weiterarbeiten! — nur Bewegung bei verminderter Nahrungs- 
aufnahme soll vermieden werden. Deshalb sollte auch darauf 
geachtet werden, dass Krankenwärter und -wärterinnen während 
Nachtwachen in gewissen Zwischenräumen etwas Nahrung zu sich 
nehmen — nicht blos den beliebten warmen Kaffee! 

Eine andere Bilanzstörung sehen wir bei der Ueberanstrengung 
eintreten. Der plötzlich auftretenden Aenderung in den Ernährungs- 
ansprüchen der angestrengten Aussenmuskulatur kann sich die 
Herzaction nicht so schnell anpassen, wie der gesteigerte Blutver- 
brauch erforderte; es bewegt sich das verbrauchte Blut schneller 
zun Herzen zurück, als dass dies durch vermehrte Ausstossung in 
das normal gebliebene oder jedenfalls nicht genügend erweiterte 
Gefässsystem Platz schaffen könnte, und so tritt Erweiterung und 
vorzeitige Ermüdung des Herzens ein. Es handelt sich hierbei 
gewissermassen um eine Art relativen Angiospasmus. 

Wir sahen bis jetzt Herzerweiterung bei erweiterten und 
normalen Gefässen entstehen: wir finden aber auch eine solche bei 
verengerten Blutbahnen, die angiospastische Herzerweiterung, auf 
deren Vorhandensein zuerst Jacob-Kudowa aufmerksam gemacht 
hat. Es handelt sich beim Entstehen der Herzüberdehnung um 
genau denselben Prozess, den wir oben bei der Überanstrengung 
vor sich gehen sahen. Auch hier ist das Herz nicht in der Lage, 
sich genügend schnell entleeren zu können, ehe der Zufluss von 
hinten sich erneuert: aber hier liegt die Ursache daran, dass das zu 
geringe Volumen der vorliegenden Blutbahnen bei normaler 
Inanspruchnahme der Organe dem Durchfliessen der gewohnten 
Quantität plötzlich oder allmählig einen zu grossen Widerstand ent- 
gegensetzt, und dadurch die Rückstauung bedingt. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 45 
und Herztherapie. 

Ich übergehe hier den Angiospasmus, der bei zu starker An- 
wendung der bei der Therapie der Herzerweiterung zu besprechenden 
gefässverengernden Mittel entstehen kann, da derselbe dort Er- 
wähnung finden wird. Wichtiger sind die Fälle, wo im Verlauf 
der gewöhnlichen Lebensbethätigung angiospastische Herzerweiterung 
eintreten kann. 

Von äusseren Veranlassungen sind hier in erster Linie Be- 
lastungen und Compressionen der äusseren Haut zu erwähnen, die 
zu Verengerungen der periphersten Gefässe und dadurch zu Herz- 
überanstrengung Veranlassung geben. 

Schon ein erhöhter Luftdruck lässt bei Menschen mit empfind- 
lichem Gefiisssystem starke Schwankungen der Herzfunktion er- 
kennen und erklärt sich vielleicht hieraus die Häufigkeit der Klagen so- 
genannter Neurastheniker bei tief stehendem Barometer. Hornung!) 
hat hierüber weitere Untersuchungen bei Caissonarbeitern im Kieler 
Hafen gemacht und gefunden, dass bei steigendem Luftdruck in den 
Schleussen bei sämtlichen Untersuchten beträchtliche, entsprechend 
dem Druck sich steigernde Herzvergrösserung eintrat. 

Ebenso konnte ich selbst feststellen, und Controlluntersuchungen 
Hornungs und J. Hofmanns bestätigten die Befunde, dass Bewegungen 
im Wasser, Schwimmen etc., in allen untersuchten Fällen nach 
5—10 Minuten starke Herzerweiterung hervorrief, während ruhiger, 
bewegungsloser Aufenthalt im Wasser das Herz völlig reactionslos 
liess. Es bewahrheitet diese Beobachtung die aufgestellte Regel, nur 
kurz im Bade zu verweilen, da längerer Aufenthalt die wohlthuende 
erfrischende Wirkung des Bades wieder durch Ueberanstrengung 
des Herzens aufzuheben geeignet ist. Sportlich trainierte Schwimmer 
habe ich noch nicht untersuchen können: ich zweifle aber nicht 
daran, dass sehr vorsichtiges allmähliges Üben wie bei jeder anderen 
Anstrengung eine Anpassung des Herzens an das Schwimmen speciell 
zu Wege bringen kann.*) Andererseits sind aber zweifellos viele 
der häufigen plötzlichen Todesfälle im Wasser bei bestehender aber 


1) Hornung. Herzbefunde bei Caissonarbeitern. Münchener med. Wochen- 
schrift 1901. No. 37. 

2 J. Hofmann teilt mir mündlich mit, dass er bei einem Sportschwimmer 
Untersuchungen angestellt hat, denen zufolge eine Herzüberdehnung, wie ich es 
vermuthete, selbst nach|Durchschwimmung mehrerer Kilometer nicht eingetreten war. 


46 Dr. A. Smith, 


noch nicht beachteter Herzmuskelschwäche der plötzlichen Über- 
dehnung und Lähmung des Herzens zuzuschreiben. 

Auch bei psychischen Erregungen, bei Schreck, Angst, beob- 
achten wir Angiospasmus, der hier auch dem Laien meist schon auf- 
fällt. Einmal konnte ich einwandsfrei nach grossem Schreck in 
Folge eines nächtlichen Brandes eine starke Herzerweiterung bei 
einer Patientin feststellen, bei der ich einige Tage vorher bei einer 
Untersuchung noch nichts vorgefunden hatte, und Hornung sah bei 
einer Dame, welche sich gerade mit ihm unterhielt, durch den Schreck 
über einen plötzlich aufleuchtenden Blitzstrahi Angiospasmus und 
acute Herzerweiterung entstehen. Im allgemeinen scheinen wenigstens 
die künstlich erzeugten angiospastischen Herzerweiterungen viel 
schneller vorüberzugehen und weniger Erscheinungen zu machen, 
als die angioparetischen. Wahrscheinlich gehört hierher auch die 
Constatierung von Herzerweiterung bei Unfallsneurosen, die ich bis 
jetzt bei derartigen Fällen so constant gefunden habe, dass ich sie 
fast als massgebend für die Diagnose ansehe. 

Immerhin wird man aber gut thun, die Angaben der Lehrbücher 
über psychische Erregung als Ursache von Herzkrankheiten, abgesehen 
von den eben erwähnten extremen Fällen, mit Vorsicht aufzunehmen; 
in der übergrossen Mehrzahl der Fälle liegt die Sache umgekehrt, 
die Labilität des Herzens ist Ursache der psychischen Alterationen. 


Die chronische Herzerweiterung und die herz- 
verkleinernden Reize. 


Nach den Untersuchungen von Fick entwickelt der quergestreifte 
Muskel die grösste Kraft erst, wenn er in bestimmten Grenzen über- 
dehnt wird. Geht die Dehnung aber über diese Grenze hinaus, so 
verliert der Muskel an Elastizität und kontrahiert sich nun nicht 
mehr vollständig. Seine Fähigkeit, Arbeit zu leisten, hat sich dem 
Elastizitätsverlust entsprechend verringert. (Fick'sches Moment.) 

In diesem physiologischen Gesetz haben wir den Schlüssel zum 
Verständnis der eigentümlichen Vorgänge bei dem schliesslichen 
Eintreten einer dauernden Vergrösserung des Herzens, die seltsamer- 
weise von den meisten Klinikern heute noch als ein günstiges Moment 
zur Überwindung der im Gefässsystem vorhandenen Widerstände, 
als „Aktivitäts- oder Kompensationshypertrophie“ angesehen wird. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 47 
und Herztherapie. 

Andere, wie v. Criegern (XIX. Kongress für innere Medizin 1901) 
glauben überhaupt nicht an die häufige Überdehnung des Herzens, 
sondern nehmen an, dass die physikalischen Phänomene, welche bei 
der Untersuchung gefunden werden, lediglich auf Einwirkungen 
abnorm starker Bewegungsvorgänge des lebhaft arbeitenden Herzens 
beruhten. Was diese letztere Ansicht angeht, so sieht man ja aller- 
dings bei Betrachtung des Herzschattens bei der Röntgendurchleuchtung 
eine fortwährend rhytmische Bewegung des Herzens einerseits, wie 
auch eine Bewegung dieses rhytmisch arbeitenden Herzens im ganzen, 
nach unten bei tiefer Inspiration, nach den Seiten bei Lageveränderung 
aber auch häufig ohne erkennbaren Grund. Aber diese selben Be- 
wegungen lassen sich ebenso genau durch die indirekten akustischen 
Verfahren verfolgen. Die Friktionstechnik giebt zwar, wie Kontroll- 
untersuchungen mit Röntgen-Moritz zeigen, nur die diastolischen 
Ränder des Herzens an; die Bewegungen des ganzen Herzens 
nach unten und nach den Seiten werden genau so scharf, 
wie im Róntgenschatten verfolgt. Da es aber zweifellos richtig 
ist, dass sowohl bei der Friktionsmethode wie der Ortho- 
diagraphie immer nur ein Punkt mit Sicherheit dem momentanen 
Herzstand entspricht, während der nächst bezeichnete einer ver- 
änderten Herzlage angehören kann, eine Beobachtung, die nicht 
selten gemacht wird, ist es natürlich notwendig, sich nach 
beendeter Untersuchung durch schnelles Kontrollieren der seitlichen, 
unteren und oberen Grenzen noch einmal von der Konstanz 
der gefundenen Linien zu überzeugen. Insbesondere wird man 
hierbei finden, dass bei der Untersuchung im Stehen das Herz meist 
im Anfang etwas weiter nach links liegt, als am Ende der Unter- 
suchung. Bei der Orthodiagraphie ist es deshalb auch notwendig, 
den zu Untersuchenden erst eine zeitlang ruhig liegen zu lassen, bis 
das Herz sich eingestellt hat. Übrigens ist die Gesamtveränderung 
des Herzens bei Vergrösserung irgendwie in Betracht kommender 
Art so bedeutend, dass eine Verwechslung mit den meist kleinen 
Verschiebungen nicht vorkommen kann, zumal wenn man ein für 
allemal eine gleichartige Technik anwendet, wie wir ausschliesslich 
den äussersten Rand des Schattens, entsprechend der durch Phonendos- 

kopie gefundenen Grenzen, zeichnen. 
Wir hatten bei der Erwähnung der heissen Bäder gesehen, dass 


48 Dr. A. Smith, 


auf den energischen Reiz des 8% R. kalten Übergusses das Herz 
sich wieder völlig zur Norm zusammenzog — aber am anderen 
Tag dies auf denselben Reiz hin, selbst bei geringerer Schädigung, 
nicht mehr vermochte. Denselben Vorgang nun sehen wir auch 
sonst sich wiederholen. Ein Patient, der an periodischen Herz- 
erweiterungen leidet, wird allmählig an sich steigernde Anstrengungen 
(Terrainkur) gewöhnt. Während des Anfalles jedoch soll er absolute 
Ruhe halten. Der Anfall tritt mit ziemlicher Erweiterung ein, die- 
selbe geht anscheinend völlig zurück, und der Kranke, der noch 
einige Tage sich körperlich schonen soll, macht auf eigene Faust 
am nächsten Tag schon die Bewegung, die acht Tage vorher ihm 
ausgezeichnet bekommen ist, wieder. Es resultiert jetzt eine be- 
deutende, dem Anfall fast konforme Vergrösserung des Herzens. 





Figur 4, 
Überanstrengungserwe iterung am zweiten Tage nach Ablauf einer periodischen Erwei 
Das Herz erweitert sich auf eine in der Woche vorher ohne Reaktion abgelaufene Anstrengung hin 
jetzt sogar über die Grenze der durch den Krankheitsverlauf bedingten vorherigen Erweiterung. 


Wir sehen also auch hier, dass trotz des Zurückgehens des 
Herzens zur Norm eine völlige Integrität noch nicht wieder vor- 
handen war. Die starke Zerrung bei der Überdehnung hat, wenn 
sie auch die Elastizität noch nicht bemerkenswert beeinträchtigt hatte, 
doch schon eine Lockerung bewirkt, welche die Vorbedingung der 
Erweiterung durch eine Anstrengung wurde, wie sie durch dieselbe 
Anstrengung kurz vor der ersten Dilatation nicht hervorgerufen wurde. 

Es ist nun leicht zu verstehen, wie der Vorgang weiter gehen 
wird, um zu einer chronischen Erweiterung und schliesslichen Pseudo- 
hypertrophie zu führen. Bei dem oben erwähnten Alkoholversuch 
zeigt sich deutlich die Art des allmähligen Zunehmens der Ver- 
grósserung — und gleichzeitig zeigt der Versuch, der ja eigentlich 
nur eine Beobachtung ständiger Lebensführung war, deutlich, was 
die Hauptschuld trägt an der zunehmenden Schwächung des Herz- 
muskels, an den so zahllosen Todesfällen an Herzlähmung. 

Es ist der chronische, immer in kurzen Pausen wiederholte 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 49 
und Herztherapie. 

Reiz auf das Herz, der es mürbe macht. Zunächst erweitert 
es sich etwas, geht aber bald wieder zur Norm zurück. Neue Er- 
weiterungen führen dann allmählig eine Erschlaffung des elastischen 
Momentes der Muskeln ein. Das Herz geht jetzt nicht mehr voll- 
ständig zurück, sondern bleibt etwas grösser. Längere Zeit bleibt 
es bei der jetzt angenommenen Form, die dann erst bei vorüber- 
gehenden stärkeren Reizen wieder überdehnt wird. Und so geht es 
weiter, manchmal viele Jahre auf derselben Stufe stehen bleibend, 
um meist erst von der Mitte der dreissiger Jahre an bedrohendere 
Formen anzunehmen. Dann kommt, Ende der Dreissiger bis An- 
fangs der Vierziger, ein Zustand, in dem eine ganz geringe 
Steigerung der Anforderungen an das Herz genügt, um es zum 
völligen Versagen zu bringen; die Herzlähmung, der Herzschlag tritt 
während einer Festlichkeit, nach einer körperlichen Anstrengung, 
nach einem schnellen Laufen, ja nach einem blossen Bücken ein. 

Um diese Gruppe als Mittelpunkt stellen sich nun auf beiden 
Seiten die Extreme. 

Einmal die Leute mit den Bärenherzen, denen mit gewöhnlichen 
Reizen überhaupt nicht beizukommen ist, und die nur auf ganz 
unerhört gesteigerte Anstrengungen hin eine leichte Reaktion des 
Herzens zeigen. Es sind dies die geborenen Kraftmenschen, welche 
insofern gefährlich sind, als sie gar zu gerne als Muster aufgestellt 
und angesehen werden, denen andere auf Kosten ihrer Gesundheit 
und schliesslich ihres Lebens nachzueifern trachten, ohne dass man 
bedenkt, wie sehr dies Ausnahmen sind. Man hat aber überall im 
Leben das Gefühl, als ob etwas, worüber man viel spricht, auch 
häufig vorhanden wäre. Man nimmt unwillkürlich an, dass, wenn viele 
Personen von einer Art Menschen sprechen, dies immer eine neue 
Person sein müsse. Mir ist dieser Zug so recht klar geworden, als 
ich den Erzählungen vom Nutzen des Alkohols hie und da nachging, 
die sich auf die Thatsache stützten, dass ein Arbeiter bei starkem 
Alkoholgenuss ein hohes Alter erreicht habe. Es zeigte sich, dass 
jeder Erzähler annahm, es gäbe eine Unmenge solcher Leute, während 
sich herausstellte, dass alle Sagen der Gegend auf einen einzigen 
zusammenliefen. 

Auf der anderen Seite stehen die ungewöhnlich labilen Herzen, 


welche ich nach ihrem vorzugsweisen Vorkommen direkt als Künstler- 
4 


50 Dr. A. Smith, 


herzen bezeichnen möchte. Hier machen die geringsten Reize unverhält- 
nismässig grosse Schwankungen der Herzgrösse und dementsprechend 
schwankt auch das Empfinden fortwährend. Da die Labilität das 
ganze Gefässsystem betrifft, und das Herz gewissermassen nur den 
Indikator darstellt, erklärt sich vielleicht die so ausserordentliche 
Anregbarkeit dieser Naturen, bei denen auch das Gehirn bei 
seiner Thätigkeit ohne weiteres mit überreichlicher, übernormaler 
Nahrung versorgt wird und dementsprechend, bis sich der Rück- 
schlag, die Stauung, ausbildet, weit mehr leistet, als der Durch- 
schnittsmensch. Es erklärt diese Empfindlichkeit auch die 
gefährliche Reaktion des Künstlers gegen den Alkohol, seine 
Alkoholintoleranz. Denn gerade unter den genialsten Naturen 
wütet der Alkohol am schlimmsten; selten kommt es vor, dass ein 
genialer Mensch nicht in der Blüthe des Mannesalters an den Folgen 
des Alkoholismus zu Grunde geht — wenn auch Familie und Mitwelt 
sich bemühen, den Untergang ganz anderen Ursachen zuzuschreiben. 
Es ist das grosse Unglück unserer Zeit, dass es meist nur der 
geistigen Mittelmässigkeit, dem Subalterngehirn, vergönnt ist, sich 
auszuleben und in führende Stellungen zu gelangen, während die 
grossen Pfadfinder in einem Alter aussterben, in denen ihnen eine 
Autorität noch nicht eingeräumt wird. Erst viel später, wenn die 
neuen Wahrheiten anfangen, nicht mehr übersehen werden zu können, 
bemühen sich dann auch die neu auftauchenden wissenschaftlichen 
Monde so zu thun, als ob sie von Urbeginn an das erborgte Licht 
selbst ausgestrahlt hätten. 

In den Pausen, die das Fortschreiten der Herzvergrösserung macht, 
scheint nun der degenerative Prozess der Pseudohypertrophie vorzu- 
gehen. Derselbe besteht, wie das anatomische Präparat zeigt, darin, 
dass zwischen und in die Muskelbündel hinein Fett sich anlagert und 
bindegewebige Entartung auftritt. Von einer dadurch erhöhten An- 
passung an gesteigerte Leistung ist aber absolut keine Rede; das 
sogenannte hypertrophierte Herz ist bei der Prüfung ganz bedeutend 
weniger leistungsfähig, als das gesunde Eine Art von Besserung 
dem einfach dilatierten Herzen gegenüberbesteht nur darin, dass die 
Herzhöhlen durch das Dickenwachstum der Wände kleiner werden, 
und damit ein günstigeres Arbeitsmoment für das Herz nach Seite 
des hydraulischen Druckes entsteht. Da aber der Muskel als solcher 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 51 
und Herztherapie. 
geschwächt ist, wird durch diese natürliche Korrektur nur der Zu- 
sammenbruch etwas weiter hinausgeschoben; eine Heilung oder ge- 
nügende Kompensierung des Herzleidens, wie unsere Kliniker das 
meist annehmen, liegt absolut nicht in dem Vorgange. 

Wie unterscheiden wir nun aber eine einfache Dilatation von 
dem fortgeschritteneren Krankheitsbilde, der Pseudohypertophie (wie 
wir den Zustand richtiger bezeichnen müssen, weil die Benennung 
„Hypertrophie‘‘ sowohl anatomisch, als auch physiologisch-funktionell 
zu Missverständnissen führen muss und auch genugsam geführt hat)? 

Hier ist die einzige Gelegenheit, wo eine funktionelle Prüfung 
des Herzens auch zu einer pathologisch-anatomischen Diagnose führt 
welch letztere allerdings, wie wir sehen werden, für die Therapie 
insoweit belanglos ist, als nur die zur Behandlung erforder- 
liche Zeit einigermassen durch die Festsetzung der Unter- 
scheidung etwas näher bestimmt werden kann. Die Bestimmung 
der Grenzen des Herzens lässt, dies muss zunächst der Diagnose 
,Fettherz" gegenüber, die heute so häufig gestellt wird, betont 
werden, nicht im geringsten einen Schluss zu, ob wir es mit 
einer einfachen Erweiterung, einer Wandverdickung, oder starken 
Fettein- und -auflagerung zu thun haben. Es ist vielmehr nur 
möglich, eine Diagnose nach dieser Richtung hin zu stellen, wenn 
wir sehen, wie sich das Herz auf herzverkleinernde Reize hin ver- 
hält. Je mehr es sich auf eine Kontraktionsanregung zusammenzieht, 
um so weniger kann man an eine Pseudohypertrophie denken. 
Meistens verkleinert sich das Herz zunächst stark und bleibt dann 
in der nächsten Zeit auf einer Grösse stehen, die der Norm noch 
durchaus nicht entspricht; wir können dann annehmen, dass wir 
ein pseudohypertrophiertes Herz in einem Stadium weiterer Über- 
dehnung vor uns gehabt haben. Die Überdehnung allein geht völlig 
zurück, die Pseudohypertrophie bedarf längerer Behandlung durch 
Muskelerschütterung, ehe sie sich zuriickbildet Wo auf stärkste 
kontraktionsanregende Reize so gut wie gar kein Effekt oder nur 
eine Formänderung auftritt, da sind wir berechtigt, an eine Pseudo- 
hypertrophie mit besonders starker, die Elastizität beeinflussenden 
Verfettung zu denken. 

Wir gehen demgemäss zur Beantwortung der Frage über, was 


giebt es für herzzusammenziehende Reize? 
4* 


52 Dr. A. Smith, 


Hatten wir in den vorhergehenden Ausführungen gesehen, wie ~ 
die funktionelle Prüfung des Herzens uns Handhaben giebt, den 
Kranken von herzerweiternden Schädigungen fernzuhalten, so werden 
wir jetzt zu sehen haben, wie wir die bestehende Herzvergrösserung 
zur Heilung bringen. Noch mehr wie vorhin werden wir hierbei 
sehen, wie eng Funktionsprüfung und Therapie verschlungen ist. 

Wir machen immer wieder und wieder die Beobachtung, dass - 
speziell beim Herzen der Spruch nur begrenzt gilt: sublata causa, 
tollitur effectus. Haben wir einmal eine chronische Herzerweiterung 
sich festsetzen sehen, so genügt es nicht mehr, die Ursache der 
Störung zu beseitigen; von sich aus, aus eigener Kraft scheint in 
den wenigsten Fällen das Herz im Stande zu sein, über den Zustand 
Herr zu werden, ganz besonders nicht, wenn bei langem Bestehen 
schon Wandverdickungen sich herausgebildet haben. Speziell bei 
der durch Alkoholismus gesteigerten Herzvergrösserung sehen wir 
oft genug, dass selbst Jahre lang durchgeführte Alkoholabstinenz so 
gut wie gar keinen Effekt auf das Zurückgehen der Erweiterung 
gehabt hat — die dann manchmal einem kurzen faradischen Bad von 
10 Minuten Dauer vollständig weicht. Da nun extremere Formen 
von Dilatation immer eine Lebensgefahr bedingen, so ergiebt hier die 
funktionelle Prüfung auf die Zusammenziehbarkeit des Herzens bei 
positivem Ausfall gleichzeitig ein Entschlüpfen aus dem gefährlichen 
Netz in das freie Wasser der Gesundheit. 

Auch von kontrahierenden Reizen haben wir thermische, chemische 
und mechanische aufzuzählen. 

Wir sahen oben schon, dass bei dem überhitzten Bade die Herz- 
vergrösserung auf einen Überguss von 8°R hin vollständig zur Norm 
zurückging. Im gewöhnlichen thun aber schon wärmere Güsse den- 
selben Dienst; von ca. 16° R. an aufwärts scheinen dieselben aber 
keinen kontrahierenden Reiz mehr auszuüben. Ich habe übrigens 
wiederholt beobachtet, dass ein kalter Knieguss (nach Kneipp) schon 
vollständig genügte, um die gewünschte Wirkung herbeizuführen. 

In einigen Fällen konnte auch die Wärme als Herzkontraktions- 
mittel verwendet werden. Ich hatte einigemale im Winter Gelegen- 
heit, Leute zu behandeln, die in den See gefallen waren und bis zu 
einer halben Stunde in der Kälte auf Hülfe warten mussten. Hier 
fand sich bei völlig abgekühlter Haut enorme Herzerweiterung; 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 53 
und Herztherapie. 
bei einigen war völlige Bewusstlosigkeit mit Irrereden vorhanden. 
Nach energischer Friktion mit heissen wollenen Tüchern trat Lösung 
des peripheren Gefässkrampfes und gleichzeitiges Zuriickgehen der 
Herzgrenzen mit Rückkehr des Bewusstseins ein. 

In einem Falle war dieser Hochdruckkollaps vorhanden, trotz- 
dem die Verunglückten schwer betrunken waren — es hatte also 
‘hier die peripher gefässerweiternde Wirkung des Alkohols nicht ge- 
nügt, um den Gefässkrampf zu verhindern, der durch heisses Frottieren 
dann leicht beseitigt wurde. Heisse Bäder standen in allen diesen 

Fällen nicht zur Verfügung. 

| Die günstige Wirkung kühler Bäder bei Fieberkranken beruht 
wohl ‚auch ausschliesslich auf der Kontrahierung des durch die Fieber- 
wärme erweiterten Gefässsystems. Nur erfordert die Anwendung kälterer 
Bäder einige Vorsicht, da nicht selten bei besonders empfindlichen 
Kranken nun unvermittelt die Gefiisserschlaffung in einen Gefáss- 
krampf übergeht, der genau so herzschädigend wirkt, wie der vorherige 
Zustand. In den Krankenhäusern gleicht man diese unerwünschte 
Wirkung durch Alkohol aus, wodurch man dann wieder die Gefäss- 
erschlaffung erzeugt. Schwächliche Fiebernde mit blasser Haut dürfen 
in keine kalten Bäder kommen; laue genügen vollkommen. Im all- 
gemeinen werden übrigens die kalten Bäder nicht des Herzens 
wegen gegeben, sondern um das Fieber herabzusetzen. Logisch ist 
dies ungefähr dasselbe, als wenn ich mir einbilde, ich habe im Ofen 
die Verbrennung herabgesetzt, wenn ich die erzeugte Hitze am Mantel 
des Ofens durch Eiskühlung zu vernichten suche. 

Von chemischen Reizen wirken herzverkleinernd eine Reihe von 
Mitteln, welche zum Teil bis jetzt schon eines hervorragenden Rufes 
in der Herztherapie sich erfreuen. 

Es ist dies in erster Linie die Digitalis, welche durchaus nicht 
so langsam wirkt, wie dies aus den Pulsbeobachtungen heraus an- 
genommen wird. Das dilatierte Herz verkleinert sich oft schon inner- 
halb von zwanzig Minuten recht beträchtlich, was übrigens meist 
auch von den Patienten empfunden wird. Die Verkleinerung führt 
manchmal zu direkten Schmerzempfindungen in der linken Brustseite, 
worüber wir nicht so selten nach den ersten Dosen (3—4 Tropfen 
Fluidextrakt 2stündlich gegeben) klagen hörten. Ich habe bei mir 
selbst dieselbe Beobachtung gemacht: während das der Herzver- 


54 Dr. A. Smith, 


grósserung beträchtlicher Art immer beigesellte schwere Atemholen 
einer wesentlichen Erleichterung wich, traten unangenehme stechende 
Schmerzen auf. Durch die Untersuchung zeigte sich bedeutende 
Herzverkleinerung. Ähnlich wie die Digitalis, aber etwas schwächer, 
wirken noch Strophantus, Strychnin und Belladonna, stärker für den 
Augenblick, aber, wie es scheint, weniger anhaltend der Kampher: 
eine experimentelle Beobachtung, welche durch die klinische Er- 
fahrung bestätigt wird, da man Kampher zur Erzielung einer 
schnellen Wirkung bei Kollapsen, Digitalis, um eine Dauerwirkung 
zu erreichen, giebt. Herzverkleinernd bei Gefässerschlaffung wirkt 
auch das Coffein, doch ist hier zu beachten, dass, ähnlich, wie wir 
dies oben beim Morphium gesehen haben, das normale Herz (und 
wahrscheinlich noch mehr das angiospastisch erweiterte) durch Coffein 
vergrössert wird, indem durch Gefässverengerung das Herz an der 
Entleerung gehindert wird. Vielleicht ist es ein Volksinstinkt, der 
diesem Angiospasmus der Coffeinwirkung durch möglichst heisses 
Geniessen des Kaffees entgegen zu wirken versucht, wobei dann 
allerdings der Magen schlecht wegkommt. 

Unendlich viel wichtiger als die Anwendung der chemischen 
Mittel für die Feststellung der Leistungsfähigkeit des Herzens und 
seine Beeinflussung durch die Behandlung ist auch hier, wie bei der 
Prüfung auf die Erweiterung, die Wirkung mechanischer Vorgänge 
auf das Herz. 

Wir hatten oben gesehen, wie Überanstrengung schädigend auf 
das Herz wirkt, indem es zu Erweiterungen führt, welche nicht selten 
direkt Kollapse im Gefolge haben. Im Gegensatz hierzu haben wir 
aber kaum ein Mittel, das nur annähernd so günstig auf die Erhaltung 
und Wiederherstellung der Herzkraft einwirkt als Muskelarbeit, 
während Ruhe wiederum sich herzschwächend verhält. 

Da nun Überanstrengung ein relativer Begriff ist — wir sahen 
bei dem oben angeführten Krankheitsfall, dass ein einfaches Auf- 
stehen aus dem Bett anfangs schon als Überanstrengung herzerweiternd 
wirkte — so war es notwendig, funktionelle Untersuchungen anzu- 
stellen, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, den Kranken 
entweder durch schädliche Ruhe oder durch Überanstrengung zu 
Grunde gehen zu lassen. Es zeigte sich nun bald, dass nicht die 
Muskelbewegung an sich das Schädliche bei derart schweren Herz- 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 55 
und Herztherapie. 
kranken war, sondern dass das Heben der Last des eigenen Körpers 
zunächst noch zu anstrengend sich erwies. Denn liess man dieselben 
Muskelkontraktionen, die zum Aufstehen notwendig waren, in lieger- 
der Stellung machen, eine Art Selbsthemmungsgymnastik ohne Be- 
wegung der Körperteile, so trat die Herzerweiterung nicht ein. 


Lässt man nun weiter den Kranken selbst gar nichts thun, 
sondern sorgt man für ausgiebige Muskelbewegung desselben durch 
anderweite Kraft, so verkleinert sich das Herz. Relativ am wenigsten 
geschieht dies durch einfache Massage; etwas mehr bei Anwendung 
maschineller Vibrationen, ausserordentlich stark dagegen reagiert das 
Herz auf alle Arten unterbrochener elektrischer Ströme. Es scheint im 
allgemeinen, dass sich deren Wirkung auf das Herz im Verhältnis zu 
ihrer Spannung und Frequenz steigert, doch müssen erst noch exaktere 
Untersuchungen darüber gemacht werden. Da aber die Anwendung 
der Hochfrequenzströme immer an kostspielige Einrichtungen geknüpft 
ist, wird diese wohl einstweilen noch den Spezialanstalten überlassen 
bleiben: immerhin ist aber schon die Anwendung des überall leicht 
und billig zu beschaffenden faradischen Stromes zu funktionell 
diagnostisch-therapeutischen Versuchen völlig ausreichend. Ich gebe 
unten einige Kurven, welche die Einwirkung unterbrochener Ströme 
auf das erweiterte Herz verdeutlichen. 


an 


I 











e 5. 


Reaktionen des erweiterten muskelinsufficienten Herzens auf unterbrochene Ströme. 

(Die Ordinate zeigt für die ausgestrichene Linie die Länge des Herzens von Basis zur Spitze 
für die gestrichelte Linie die Breite quer durch die Kammern gemessen in cm an. Die Abscisse giebt 
die Zeit der Untersuchungen an.) 

Herzverkleinerung 1 nach Faradisation; II nach Wechselstromanwenduug; III nach elektri- 
schem Bade; nach 24 Stunden wieder auftretende Erweiterung ; IV nach Franklinisation des Herzens 
allein; V nach Franklinisation des ganzen Körpers. 


Als passive Bewegungseinwirkungen auf das Herz sind wohl auch 
die manchmal sehr energischen Contractionen desselben nach Wellen- 


56 Dr. A. Smith, 


bädern zu deuten, obgleich hier auch die Abkühlung und bei See- 
bädern noch der Salzgehalt des Wassers mitspricht Wie wir uns 
allerdings den Vorgang bei der zweifellos nachzuweisenden, wenn 
auch nicht sehr bedeutenden Herzverkleinerung nach Salz- und 
kohlensauren Salzbädern zu erklären haben, lasse ich dahingestellt 
— vielleicht sind es auch minimale Reize, die contractionsanregend 
wirken. Ich erwähne diese Reaktionen hier, weil bei Kohlensäure 
eine leichte Bewegung an der Haut ja sicher ist. Eben hierhin ge- 
hören die Wirkungen der Luftbäder, und kommt zweifellos ein gut 
Teil der Erfolge des Seeaufenthaltes der mechanischen Einwirkung 
des Windes zu. 

Während bei der passiven Bewegung immer eine Verkleinerung 
des dilatierten Herzens sich bei unseren Untersuchungen bis jetzt gezeigt 
hat, ist, wie schon mehrfach angedeutet, bei der activen Bewegung die 
Aussicht, dass wir ebenso gut eine Erweiterung wie ein Stehenbleiben 
oder eine Verkleinerung des Herzens erhalten werden, zunächst 
gleich gross. Man wird nach vielfacher Erfahrung wohl davor 
behütet sein, bei einer ersten Funktionsprüfung durch relativ zu 
grosse Anforderungen wesentliche Erweiterungen zu erzeugen: da 
aber gerade bei Herzkranken das (meist Stauungserscheinungen bei 
Angioparese zu verdankende) „blühende“ Aussehen den Arzt ebenso 
täuscht, wie die Neigung, bei Versagen der eigenen Fähigkeit zum 
Einblick in objective Verhältnisse, die subjectiven Beschwerden 
der Kranken als ,eingebildet“, „hysterisch“ zu betrachten: so wird 
bei ersten, auch noch so vorsichtig ausgeführten Untersuchun- 
gen eine vorübergehende Schädigung des Patienten durch ver- 
ursachte Herzerweiterung in vielen Fällen kaum vermieden werden 
können. Da aber diese Untersuchung damit auch die Grundlage 
zu einer objectiven Behandlung giebt, und der Kranke ausserdem 
durch die Feststellung des Maasses von erlaubter Bewegung vor fort- 
währender Selbstschädigung behütet wird, kann dieser nicht zu ver- 
hindernde Nachteil ruhig mit in den Kauf genommen werden. Es 
ist aber natürlich in zweifelhaften Fällen Pflicht des Arztes, mit den 
geringsten Anforderungen an die Bewegung, z. B. mit blossem Auf- 
stehen, seine Prüfung zu beginnen und durch allmähliche Steigerung 
die Grenze festzustellen, bei der das Herz unrubig wird. 

Diese experimentell erschlossenen Vorgänge erklären eine Reihe 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 57 
und Herztherapie. 

von Widerspriichen, die z. B. die Erfolge der Terrainkuren, des 
Radfahrens etc. betreffen. Nicht die Terrainkur, nicht das Radfahren 
an sich ist schädlich oder nützlich: es kommt darauf an, in welchem 
Grade seiner Erkrankung ein Patient ein gewisses Maass der Übungen 
auszuführen hat: und das lässt sich eben nur jedesmal durch die 
Untersuchung bestimmen. 

Am wenigsten anstrengend wirken von activen Bewegungs- 
formen diejenigen, bei welchen eine Fortbewegung des Körpers noch 
nicht in Frage kommt. Es sind das gewisse Übungen der schwedischen 
Heilgymnastik sowie der Schreber’schen Zimmerübungen und der 
Schott’schen Selbsthemmungsgymnastik, wo nur Extremitätenbe- 
wegungen bei sonst ruhig gestelltem Körper in Frage kommen. Den 
Übergang zu den eigentlichen Fortbewegungen bilden dann Rudern 
und Radfahren (wobei natürlich in Rechnung zu ziehen ist, dass 
das Erlernen dieser Übungen, besonders des Radfahrens, durch 
die ungeschickte, ungeeignete Form der Bewegungen des Lernen- 
den immer eine vorübergehende Überanstrengung zur Folge hat). 
Während einem geübten Radfahrer, der erkrankt war, verhältnis- 
mässig früh dosiertes Fahren gestattet werden soll, muss man vor- 
sichtiger sein in der Wahl des Zeitpunktes, zu welchem man das 
Erlernen erlauben darf. 

Dann folgt in der Skala der Bewegungsanstrengung das Gehen 
in der Ebene und endlich das Bergsteigen, bei dem der Körper 
nicht nur fortbewegt, sondern noch mit jedem Schritt mit seinem 
ganzen Gewicht um eine gewisse Höhe emporgehoben wird. 

Schwer zu entscheiden und jedesmal experimentell festzustellen 
ist der Effekt des Reitens; es spielt hierbei durch die Erschütterung 
ein Moment mit, das sonst weniger in Frage kommt: das Zerren 
eines vergrösserten Herzens an den Gefässen, das zu unangenehmen 
Erscheinungen Veranlassung geben kann. 

Wir ersehen aus den kurzen oben gegebenen Andeutungen das 
gewaltige Gebiet, das uns in unserer ärztlichen Arbeit neu eröffnet 
wird, wenn wir die Grösse des Herzens als Grundlage einer 
funktionellen Herzdiagnostik betrachten. Ich möchte aber, wenn dies 
auch vielleicht aus den bisherigen Ausführungen schon hervorgehen 
mag, ehe ich auf den Parallelismus der Herzfunktion mit der 
Function anderer Organe übergehe, noch einmal kurz die Annahme 


58 Dr. A. Smith, 


von der Hand weisen, als ob ich mit dem Betonen der Herz- 
vergrósserung und Herzverkleinerung immer nur an das Herz als 
alleiniges geschädigtes oder geheiltes Organ gedacht hätte. 

Primäre Herzmuskelinsufficienz halte ich für selten. In der 
überwiegend grössten Zahl der Fälle ist das Herz nur der Indicator 
für anderweitige Störungen, welche sich der Blutbewegung entgen- 
stellen, und leidet erst secundär Noth. Und zwar sind hierbei zwei 
Erwägungen zu berücksichtigen: einmal, dass das Herz mit den Blut- 
gefässen ein Integrale, eine Obereinheit mit gewissen gemeinsamen 
Reaktionen ist, dann aber, dass das gesamte Gefässsystem in diesem 
Integrale sich wieder in coordinierte Untereinheiten differenziert, deren 
Einzelthätigkeit immer die Nebeneinheit zu beeinflussen im Stande ist. 

Es würde für unsere jetzige Aufgabe zu weit führen, zu ver- 
folgen, wie im Gefässsystem nun immer wieder neue Integrierungen 
und Differenzierungen auftreten — ich erinnere an einen Antagonismus 
im Splanchnikus- und peripheren Gefissgebiet, — ich möchte viel- 
mehr durch den Verlauf eines Experimentes meine Ansicht klar- 
zustellen versuchen. 

Giebt man einem trinkgewohnten Manne, den man einige Tage 
völlig alkoholfrei gehalten hat, eine halbe Flasche guten Rothwein 
zu trinken,!) so tritt gleichzeitig mit dem Wärmegefühl in Magen 
und Haut und der leichten Rötung der letzteren eine deutlich nach- 
weisbare Ausdehnung der Herzgrenzen ein, welche kurze Zeit 
constant bleibt. Dann aber beginnt zunächst der arterielle Ven- 
trikel sich unverhältnismässig viel stärker auszudehnen, ihm folgt 
der arterielle Vorhof, der sich offenbar nicht entleeren kann und 
dann erst vergrössern sich venöse Kammer und venöser Vorhof. 
Und diese Vergrösserung geht noch eine Zeit lang weiter und 
erreicht oft erst nach einer halben Stunde ihr Maximum. Lässt man 
jetzt noch eine halbe Flasche des betr. Rothweins trinken, so 
ändern sich die Grenzen kaum mehr, meist tritt nur noch nach 
oben eine weitere Ausdehnung der arteriellen Kammer und Vor- 
kammer ein. 

Überlegen wir, was hier geschehen ist, so sehen wir zunächst, 


1) Ich habe das oben beschriebene Experiment auf der Naturforscherver- 
sammlung zu Aachen 1901 als Demonstration zu meinem Vortrag „Die Unter- 
suchung des Herzens‘‘ vorgeführt. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 59 

und Herztherapie. 
ehe irgendwelche Kreislauffragen in Betracht kommen können, eine 
gesanıte Erschlaffung des vollständigen peripheren Gefässsystems 
eintreten, die ihren Ausdruck in den erweiterten Gefässen der 
Peripherie und der Vergrösserung des Herzens hat. Da die Er- 
weiterung der peripheren Gefässe aber eine Vergrösserung ihres 
Gesamtquerschnittes bedeutet, sinkt in Folge dessen der Blutdruck, 
und um die Blutbewegung auf gleichem Standpunkt zu halten, muss 
notwendigerweise die vis a tergo gesteigert werden. Denn physikalisch 
ist die Strömung das Produkt der Kraft mit dem Querschnitt: der 
ersten proportional, dem letzteren umgekehrt proportional entsprechend. 
Wird also der Querschnitt grösser, so muss, um dieselbe Schnellig- 
keit der Bewegung zu erreichen, auch die treibende Kraft grösser 
werden. Dadurch kommt es nun zu Überanstrengung und Über- 
dehnung der Herzmuskulatur, die auf dem Rückstauungswege alle 

Teile des Herzens nach einander ergreift. 

Die Überanstrengung des Herzens kommt aber auch wohl noch 
daher, dass das Herz einen Teil der Gefissarbeit hierbei mit 
übernehmen muss. 

Wenn ein Techniker eine Terrainfigur, die ungefähr der Figuration 
des Menschen entspräche, von einer Druckpumpe in der Herzgegend 
aus technisch einwandsfrei durch ein Röhrensystem zu bewässern 
hätte, so würde er die Röhren nicht so legen, wie die Aorta zur 
Beförderung des Blutstroms nach allen Körperteilen angeordnet ist. Er 
würde möglichst jeden unnötigen Widerstand in der Flüssigkeits- 
bahn dadurch zu beseitigen suchen, dass er nach oben und nach 
unten ein trichterförmig aus der Druckkammer hervorgehendes Rohr 
führte und die Abzweigungen mit möglichst flachen Bögen bewerk- 
stelligte. Ein so geschlungenes Rohr, wie die Aorta, wo an jeder 
Biegung schon gleich im Beginn ein grosser Teil der aufgewandten 
Kraft zerstört wird, würde er sicher nicht anlegen. 

Nun arbeitet aber die Natur immer am zweckmässigsten, und 
wenn wir in Kollision mit unseren Annahmen und den Ausführungen 
der Natur kommen, so können wir, so schwer dies natürlich der 
grossen Masse unserer Subalterngelebrten auch ankommen muss, 
ohne weiteres annehmen, dass unsere Voraussetzungen falsch sind. 

Betrachten wir nun ferner die ungeheure Druckfestigkeit des 
arteriellen Systems, deren Elasticitätskoeffizient den des Herzens 


60 Dr. A. Smith, 


vielmal übersteigt und der in den kleineren verästelten Arterien sogar 
immer grösser wird — so müssen wir uns der Frage gegenüber- 
gestellt sehen, was hat das für einen Zweck, dass in den Gefässen 
viel mehr Kraft latent liegt, als im Herzen, und warum steht dem 
schwächeren Herzen ausserdem noch ein ungeeignetes Ausflussrohr 
gegenüber? 

Um uns den vorhandenen Thatsachen anzupassen, bleibt uns 
nichts übrig, als — wenigstens für den grossen Kreislauf — unseren 
Glauben an das Herz als den alleinigen oder auch nur baupt- 
sächlichsten Motor der Blutsäule fallen zu lassen, und uns der von 
Rosenbach, und schon vor ihm in den Vorlesungen über die 
Herzkrankheiten von M. A. N. Gendrin 1843, vertretenen An- 
sicht anzuschliessen, dass das Gefässsystem selbst den Hauptteil der 
Bewegungsarbeit zu leisten hat. Das Herz hat für den grossen 
Kreislauf augenscheinlich nur die Aufgabe, einen toten Punkt zu 
überwinden, das ohne wesentlichen Druck aus der Lunge kommende 
Blut in den Anfangsteil der Aorta einzupressen, wo dann der ganze 
weitere Verlauf des Gefässes ausserordentlich geeignet erscheint, die 
peristaltische Welle, welche im Anfangsteil durch den Widerstand 
der Biegung besonders stark werden muss, weiter zu geben. 
Bei dieser Annahme wird die Thatsache verständlich, dass mit dem 
Fortschreiten der Verästelungen des Arteriensystems immer grössere 
latente Kraft in den Wandungen vorhanden ist, um den sinkenden 
Blutdruck, welcher der Vergrösserung des Gesammtquerschnitts bei 
der Gefässteilung physikalisch folgen muss, nach Möglichkeit wieder 
auszugleichen. 

Für den kleinen Kreislauf allerdings scheint das Herz den 
grösseren Teil der Arbeit zu übernehmen: hier sehen wir aber 
auch gleich den Ausführungsgang der Blutbahn so gebaut, wie 
ein Techniker ihn bei Berücksichtigung des Herzens als alleiniger 
Betriebskraft anlegen würde: die Pulmonalarterie geht aus dem 
venösen Ventrikel in die Höhe und giebt in grossen flachen Bögen 
nach rechts und links die Äste nach den beiden Lungen ab. 

Diese Annahme macht uns nun auch den grossen Einfluss der 
aktiven Bewegung auf das Herz verständlich, die eben so leicht 
belastend, wie entlastend, blutstauend und blutbefördernd wirken, 
während die passive Bewegung in jeder Form nur entlastende 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 61 
und Herztherapie. 

Einflüsse geltend machen kann. Sie übernimmt es, erschlaffte 
Teile des Gefässsystems, die aus sich selbst sich nicht mehr genügend 
zusammenziehen, von aussen her gewissermassen auszupressen und 
dadurch die Peristaltik von einem anderen Teile, als dem Herzen 
aus, wieder in Gang zu bringen. Dadurch wird Raum gemacht für 
die rückgestaute Masse Blutes,” und ohne dass das Herz selbst 
eigentlich wesentlich in den Heilvorgang eingeschaltet gewesen wäre, 
wird ihm möglich gemacht, sich wieder normal entbluten und zu- 
sammenziehen zu können. 

Da aber alle Beziehungen, schädliche und nützliche, in der 
Herzgrösse ihren messbaren Ausdruck finden, ist es zweifellos ebenso 
erlaubt wie praktisch, von herzerweiternden und herzverengernden 
Faktoren zu sprechen — um so mehr, als das Herz immer durch 
Erweiterungen geschädigt wird, die aber, wie wir sehen, häufig genug 
durch Gefässverengerungen veranlasst wurden. 

Eine degenerative Schwächung des Herzmuskels tritt dann erst 
ein, wenn oft hinter einander folgende oder dauernde Reize zu einer 
Lockerung und Erschlaffung der einzelnen Muskelteile im Sinne des 
Fick’schen Moments geführt und Entartungsvorgänge fettiger und 
bindegewebiger Art nach sich gezogen haben. 


Rückschlüsse auf die Herzfunktion aus dem Verhalten 
anderer Organe. 

Wir hatten im Beginn unserer Ausführungen gesehen, dass bei 
der komplizierten Abhängigkeit der Pulswelle von somatischen und 
psychischen Faktoren der Puls, in der Weise, wie wir ihn bis jetzt 
beobachteten, besonders die Zahl der Pulswellen in der Zeiteinheit, 
kein einwandfreies Mass für die Herzfunktion abgab. Es ist aber 
kein Zweifel, dass ein eingehendes vergleichendes Studium des der 
jeweiligen Herzform zugehörigen Sphygmogramms mit der Zeit eine 
Reihe von Rückschlüssen zulassen wird. Es gehört nur die Durch- 
arbeitung eines ungeheuren Materials dazu, wie mir heute schon 
die bisher angestellten Untersuchungen zeigen, um vielleicht viel 
genauer, als durch irgend eine andere Methode möglich ist, nicht 
nur den Grad, sondern auch die Veranlassung von Kreislaufstörungen 
an dem Ablauf der Pulswelle abzulesen. Einstweilen ist dies aller- 
dings noch Vermutung — die Zukunft muss lehren, wie weit sie 
zutreffen wird. 


62 Dr. A. Smith, 


Bei der ungemein wichtigen Rolle, die aber das Blut in der 
Ökonomie aller Organe spielt, da es die Ernährung und den Stoff- 
wechsel in erster Linie vermittelt, ist es klar, dass Störungen in der 
Mechanik des Kreislaufs auch die mannigfaltigsten Störungen im 
Haushalte der Gewebe und Organe zur Folge haben müssen; und 
umgekehrt wird es möglich sein, aus der Natur solcher Veränderungen 
Rückschlüsse auf Funktionsstörungen des Herzens — immer in dem 
oben festgestellten Sinne — anzustellen. 

So lässt schon die Haut solche Rückschlüsse auf den Herzzustand 
thun. Stark geröteter Gesichtsausdruck, geschlängelte Venen (acne 
Tosacea), wird ebenso sicher Herzerweiterung bei der Untersuchung 
finden lassen, wie häufig graue und gelbliche blasse Hautfarbe mit 
dunklen Rändern unter den Augen und Neigung zu kühlen Schweissen. 

Bei Eiweissauscheidungen im Urin wird selten das Herz in 
normalem Zustande sich befinden. 

Ebenso deutet krankhafte sexuelle Reizbarkeit auf Herzerweiterung 
hin. Das „grosse Herz“, welches nach dem Volksmunde den Don Juans 
eigentümlich ist, ist eine merkwürdig oft zutreffende Beobachtung. 

Da die Verdauung in erster Linie auch von der Kraft des 
Herzens geleistet wird, kann man häufig Beschwerden im Ver- 
dauunsgstraktus, welche bis dahin trotz der schönsten Namen 
jeder Behandlung trotzten, auf Herzschwäche beziehen und durch 
deren Beseitigung heilen. 

Bei dem Verhältnis, in welchem Blutdurchströmung in den 
Lungen und Atmung zu einander stehen, muss eine zu starke Inan- 
spruchnahme der Lungengefässe bei Rückstauung vom Herzen her 
gesteigerte Atmung zur Folge haben; umgekehrt wird selten von 
einer erhöhten Atemfrequenz auf Herzvergrösserung fehlgeschlossen. 

Den bei weitem interessantesten und wichtigsten Parallelismus 
finden wir aber zwischen Herz- und Gehirnfunktion, der um so 
deutlicher in die Erscheinung tritt, je höher veranlagt die geistige 
Leistungsfähigkeit ist, der fast verschwindet bei gering entwickelter 
Intelligenz. 

Es ist klar, dass unser Gehirn, wie jedes Körperorgan, in seiner 
Funktion mit Einnahme und Ausgabe im Gleichgewicht stehen muss, 
und dass jede Störung nach der einen oder anderen Richtung hin 
auch für eine veränderte Thätigkeit des Gehirns ausschlaggebend 
werden muss, wenn die Störung eine gewisse Grenze, die allen 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 63 
und Herztherapie. 

unseren Organen zur Selbstkorrektur nach allen Seiten gegeben ist, 
überschreitet. Wir wissen ferner, dass ein grosser Teil unserer 
Geisteskranken nicht Gehirnkranke im engeren Sinn sind, insoweit 
nämlich mit aller Vervollkommnung unserer Untersuchungsmethoden 
einwandsfreie Befunde, welche zur Erklärung der Erkrankung dienen 
könnten, bei der Gehirnuntersuchung nach dem Tode nicht ge- 
macht werden. Es ist demnach naheliegend, daran zu denken, dass 
es sich bei solchen Erkrankungen nicht um anatomisch festzulegende 
Veränderungen der Substanz, sondern um Schwankungen in dem Stoff- 
wechsel des Gehirns handeln müsse. Und da dieser Stoffwechsel 
in erster Linie vom Blutstrom besorgt wird, müssten bei einer ge- 
wissen Anzahl solcher funktionellen Hirnerkrankungen ohne patho- 
logisch-anatomischen Hirnbefund, Veränderungen im Gefässsystem 
vorliegen können, welche an sich geeignet wären, Ernährungs- 
änderungen und Störungen hervorzurufen. Und man kennt that- 
sächlich seit lange Erkrankungen dieser Art, welche dem gestörten 
Kreislaufe zugeschrieben werden, der durch Verkalkung der Hirn- 
gefässe verursacht wird. Aber man braucht nur an die Mannig- 
faltigkeit der Ursachen einer solchen mangelhaften Ernährung zu 
denken: zu geringe Blutzufuhr des Organs, zu langsame Wegschaffung 
der verbrauchten Stoffe, ungeeignet zusammengesetzte Blutmischung, 
Mitführung von direkten Giftstoffen und die vielartigen Mischungen 
aller dieser Faktoren — um ein Untersuchungsprogramm für Jahr- 
zehnte aufgestellt zu haben, zu deren Anstellung noch eine Methodik 
erst geschaffen werden muss. Allerdings müsste erst die Revolution 
in der Psychiatrie, die sich voraussichtlich an die Namen Kraepelin 
und Sommer knüpfen wird, vollständig aufgeräumt haben mit dem 
isolierten Standpunkt dieser Wissenschaft, die sich bis heute mehr 
mit der Unterbringung sozial lästiger Menschen und der rein sub- 
jektiven Rubrizierung der Zustände derselben in eine fast für jede 
Anstalt verschiedene Schablone beschäftigt hat. Die Psychiatrie müsste 
womöglich ohne jeden Zusammenhang mit den unfruchtbaren alten 
Wegen von Grund aus neue objektive Gesichtspunkte in einem 
Zusammenarbeiten nicht nur, wie es in Heidelberg und Giessen so 
erfolgreich geschieht, mit den Problemen der physiologischen Psycho- 
logie, sondern vor allem mit der inneren Medizin wieder suchen 
— zum Heile für beide absolut untrennbaren Zweige der Heilkunde, 
die aufs engste auf einander angewiesen sind. 


64 Dr. A. Smith, 


Ich habe in den letzen Jahren in einer Reihe von Publikationen 
auf diesen Zusammenhang zwischen Zirkulationsstörungen und Schwan- 
kungen des psychischen Gleichgewichts hingewiesen; eine eingehendere 
klinische und experimentelle Untersuchung über den Gegenstand hat in 
neuester Zeit auf meine Veranlassung mein früherer Assistent J. Hof- 
mann!) gemacht. Hofmann hat in Übereinstimmung mit meinen 
früheren Angaben gefunden, dass im Anschluss an Herzerweiterung es 
bei den von ihm beobachteten Patienten zu Aufregungszuständen aller 
Art, erhöhter Reizbarkeit, Unlustempfindungen und schweren Depres- 
sionen mit Selbstmordgedanken kam. Er fand — ebenso wie ich — dass 
bei einem Teil dieser Kranken die Herzerweiterung alleinige Ursache 
der Störungen war, während bei einem anderen diese zu bereits 
vorhandenen anderweitigen nervösen Störungen hinzutrat und ihre 
Symptome verstärkte. Er fand dann bei psychologischen experi- 
mentellen Untersuchungen solcher Patienten, dass bestimmte objektiv 
in Kurven ausdrückbare Begleiterscheinungen der intellektuellen und 
psycho-motorischen Sphäre zur Zeit der Herzerweiterungen auftraten 
und zwar in so charakteristischen Formen, dass er nicht daran 
zweifelt, differential-diagnostische Schlüsse aus dem weiteren Aufbau 
der Methode herleiten zu können. Und in einwandsfreier Weise 
zeigt er schliesslich, dass diese psycho-motorischen Reaktionen auch 
ohne weiteres beim Gesunden zu erzielen seien, dessen Herz auf 
einen der bekannten Reize hin vergrössert werden konnte: womit 
die Kette des Beweises, dass auf Herzerweiterung psychische Alte- 
rationen folgten, geschlossen war. 

Es folgt daraus ohne weiteres, dass wir den vielgestaltigen 
Symptomenkomplex, den wir bei der Herzerweiterung immer wieder 
beobachten, (ich habe als Syndrom der Herzerweiterung folgende 
Symtome, die bald einzeln, bald mannigfaltig kombiniert auftraten, 
zusammengestellt: Müdigkeit, Unruhe, Reizbarkeit, Unlust zur Arbeit, 
Nachlassen des Gedichtnisses, schwermütige und hypochondrische 
Verstimmungen, Herzklopfen, Klopfen in ‘den Halsarterien, Ohren- 
sausen, Kopfdruck, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Angstgefühl in 
allen Abstufungen mit körperlichem Schwergefühl in der Herzgegend, 


1) J. Hofmann: Parallelismus zwischen funktionellen Herzmuskelstörungen 
mit psychischen und motorischen Erscheinungen. Sommer’s Beiträge zur 
klinischen Psychiatrie 1902. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 65 

und Herztherapie. 
Dämmerzustände, Ohnmachtsanfälle, epileptoide Zustände (Herz- 
epilepsie), Alkoholintoleranz, Schmerzen im Gebiet der grossen Nerven- 
stämme direkt oder auf Druck, erhöhte Muskel- und Hautempfindlichkeit, 
Wassersucht, Eiweissausscheidungen) auch umgekehrt verwerten 
können, indem wir bei Vorhandensein einiger Hauptbegleiterschei- 
nungen der Herzstörung auf diese selbst schliessen oder wenigstens 
ihr Vorhandensein differential-diagnostisch in Betracht ziehen können, 
und bei ihrem Verschwinden die Rückkehr normalerer Zirkulations- 
verhältnisse wieder vermuten dürfen. Ganz besonders möchte ich 
auch an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass die sog. 
Alkoholintoleranz (Trunksucht, Dipsomanie) nach meinen an vielen 
hunderten von Fällen gemachten Beobachtungen, da wo der Beginn einer 
Geistesstörung ausgeschlossen ist, immer ein Symptom einer Herz- 
störung ist. Es ist daher geradezu als weitgehendste Gedanken- 
losigkeit zu bezeichnen, einen „Trunksüchtigen“ zu „verwarnen‘“ oder 
ihm „Vorstellungen zu machen“ oder, wie dies in den letzten Jahren 
im neuen bürgerlichen Gesstzbuch geschehen ist, die vielgeliebten 
Paragraphen gegen ihn aufmarschieren zu lassen. Das Fiasko, das 
bis jetzt noch immer den gesetzgeberischen Maassnahmen krimina- 
listischer Natur gefolgt ist (der bekannte Rechtslehrer von Liszt 
stellt fest, dass unsere moderne Justizpflege mit ihren kurzen Haft- 
strafen das Verbrechen geradezu fördert) wird nicht verfehlen, auch 
in diesem Falle sich einzustellen: einen „Trunksüchtigen“ entmündigen, 
heisst nichts anderes, wie ich schon des öfteren betont habe, und 
in welchem Punkte alle Praktiker auf dem Gebiete des Alkoholismus 
(d. h. alle, welche solche Kranke schon geheilt haben, nicht solche, 
welche von ihrem Schreibtische aus die Welt zu verbessern suchen) 
mit mir einig sind!), als ihn aus einem durch sachgemässe Be- 
handlung eminent heilbaren in einen schwer oder gar nicht mehr 
heilbaren Kranken verwandeln. 


Die funktionelle Herztherapie. 

Wir haben oben gesehen, dass abgesehen von der ersten Unter- 
suchung, das Verfolgen des jeweiligen Standes der Leistungsfähigkeit 
des Herzens, insofern dies darauf ausgeht, die Möglichkeit weiterer 

1) cf. Die Verhandlungen des deutschen Vereins gegen den Missbrauch 


geistiger Getränke in Stettin 1900. 
5 


66 Dr. A. Smith, 


Verkleinerungen des Herzens festzustellen, gleichzeitig auch Herz- 
therapie ist, indem ja das therapeutische Moment als Prüfungsmittel 
herangezogen wird. 

Wenn es deshalb ermöglicht ist, auch hier das Kapitel über die 
Therapie im Verhältnis zu den Abschnitten über Untersuchung und 
Diagnostik bedeutend kürzer zu gestalten, so fürchte ich damit nicht 
in den Fehler klinischer Vorstellungen und Lehrbücher zu verfallen, 
in deren Darstellung die kurze Besprechung der Therapie mit allem 
anderen, was über die Krankheit gesagt ist, in absolut keinem inneren 
Zusammenhang steht, sondern eine Empirie bedeutet, die von ganz 
anderen Gesichtspunkten her gewonnen ist, als aus den pathologisch- 
anatomischen, physiologischen und anderen besprochenen Grundlagen 
der Erkrankung. 

.Wie das Herz aussehen mag, ob und welche Klappen erkrankt 
sind, ob Auswölbungen (Aneurysmen) vorhanden sind: alles das, was 
heute im Vordergrunde der klinischen Fragestellung steht, hat nur 
solange Wert gehabt, als man mit einer Objektivität wenigstens 
nach einer Seite hin den Mangel an Wissen nach der für den 
Kranken einzig in Betracht kommenden Richtung, der Therapie hin, 
vor sich selber zu verdecken nötig hatte. Für die funktionelle Be- 
handlung kommt der anatomische Zustand erst in letzter Linie in 
Betracht, wenn seine Kenntnis auch mehr Wert hat, wie die natur- 
philosophischen Auseinandersetzungen, welche man, da der Name 
Naturphilosophie doch endlich etwas in Misskredit geraten ist, durch 
ein Hinterthürchen unter der wohlklingenderen Bezeichnung „Theorien“ 
wieder eingeschmuggelt hat. 

Einen grossen Nachteil hat unsere Methode, und dieser Nach- 
teil wird noch auf lange hinaus ihrer Einführung wesentliche 
Hindernisse bereiten. Es ist nämlich unmöglich, bei den An- 
forderungen der funktionellen Therapie nach einer kurzen Konsulta- 
tion, bei der man womöglich durch Kleider und Überzieher festge- 
stellt hat, dass keine Geräusche die Herztöne begleiten, den Patienten 
mit einem Kurplan und einem Rezept zu entlassen, und ihn auf nächste 
Woche wieder zu bestellen, oder seinem Hausarzt zuzuschicken. Eine 
rationelle Herztherapie mit Berücksichtigung der funktionellen Reak- 
tionen des Herzens erfordert besonders in den ersten Wochen der 
Behandlung ein so eingehendes Studium des Kranken, da so gut wie 
alles, was er thut, zunächst auf die Wirkung auf das Herz beobachtet 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 67 
und Herztherapie. 

werden muss, dass bei besonders schweren und empfindlichen Kranken 
es notwendig werden kann, um zu einem wirklich rationellen Kur- 
plan zu gelangen, ihn vielleicht ein dutzendmal und noch öfter täg- 
lich zu untersuchen. Wenn natürlich auch, worauf ich gleich zu 
sprechen komme, in weiten Grenzen allgemeine Erfahrungen für so 
ziemlich alle Fälle gleichmässig gewisse Einzelheiten der Behandlung 
ergeben, so ist wohl bei keiner anderen Erkrankung es so gleich- 
gültig, was auch die berühmteste „Autorität“ davon „denkt“ als hier. 
Es kann nicht energisch genug ausgesprochen werden, dass wir uns, 
was Erkenntnis der Herzmuskelinsuffizienz angeht, noch vollständig 
in den ärztlichen Kinderschuhen befinden, und dass im allgemeinen, 
wie in jeder Erkenntnis, je geringer die wirkliche Einsicht, um so 
sicherer das Gefühl des betreffenden Arztes zu sein pflegt, die Krank. 
heit „theoretisch zu beherrschen“. Selbst über die grundlegendsten 
Fragen, welche direkt entgegengesetzte Behandlungsart erfordern, 
nämlich ob es sich um angiospastische oder angioparetische Herz- 
erweiterung handelt (eine Frage übrigens, von deren Existenz die 
meisten Ärzte nicht einmal eine Ahnung haben) sind wir noch 
nicht in der Lage, durch die Untersuchung immer mit Sicherheit 
uns Auskunft geben zu können — um so weniger, als es zweifellos 
eine Reihe von Kranken giebt, bei denen das eine Extrem fort- 
während in das andere umschlágt In diesen Fällen kann die 
Diagnose und daraus wieder die Therapie nur nach dem Ausfall des 
therapeutischen, mit aller Vorsicht angestellten Versuches erschlossen 
werden; auch hier wieder die Identität von Diagnostik und Therapie! 
Bei der unendlichen Menge Herzkranker nun, die ihres Herzens wegen 
zur Zeit unsere ärztliche Thätigkeit fordern — und das ist nur der kleinste 
Teil: die meisten werden als „Neurastheniker“, „Hysterische“ etc. etc. als 
„nervenkrank“ angesehen, und demgemäss entweder gar nicht oder 
nur auf das Vorhandensein objektiver nervöser Störungen hin unter- 
sucht! — wäre es wenigstens unter der heute üblichen Form ärzt- 
licher Bethätigung auch nicht annähernd möglich, die Kranken so 
zu untersuchen und zu behandeln, dass sie sicher vor fortwährenden 
Schädigungen wären. Es müsste deshalb eine durchaus andere Art 
der ärztlichen Behandlung eintreten, die vielleicht nach amerikanischem 
Vorgange so zu denken wäre, dass ein besonders viel in Anspruch 


genommener Arzt sich mit einem, der zu leistenden Arbeit ent- 
5* 


68 Dr. A. Smith, 


sprechend grossen, Stabe von jüngeren Ärzten umgäbe, und nun 
nach den notwendigen Voruntersuchungen die Beobachtung der 
Einzelheiten je einem Assistenten übertrüge und nur noch in be- 
stimmten Intervallen als Consiliarius einspringe. In allen Lagen 
natürlich, wo dem Assistenten irgend etwas auffällig erschiene, würde 
er ja zur Stelle sein, um mit seiner grösseren Erfahrung raten zu 
können. Es ist dieser Weg auch die einzige Möglichkeit, um unter 
unseren heutigen Verhältnissen einer ärztlichen Thätigkeit nach und 
nach wieder den inneren Wert zu geben, den sie in den Augen 
des Publikums so gut wie ganz verloren hat. Und wer die Massen- 
abfertigung mancher Sprechstunden — und Polikliniken! — kennt, 
wird nicht umhin können, sich zu denken, dass die Klagen über die 
zu geringe Entlohnung der Ärzte ja wohl sicher berechtigt sind — 
dass das Verhältnis von Entlohnung zur Leistung aber häufig genug 
so steht, und naturgemäss so stehen muss, dass die wirklich gebotenen 
Leistungen auch mit der minimalsten Entlohnung immer noch zu 
teuer bezahlt sind, da sie bei den Massenanforderungen auf Null 
sinken müssen. Denn man denke sich Funktionsprüfungen bei 
minutiösen Untersuchungen anzustellen in Sprechstunden, in denen 
an hundert Menschen abgefertigt werden sollen! 

Bei irgend schwereren Fällen kann natürlich für eine rationelle 
Behandlung nur eine Spezialanstalt in Frage kommen. Schon als 
ich in den Jahren 1895 und 96 anfing, mich eingehender mit der 
Herzmuskelinsufficienz zu beschäftigen, war mir dies klar, und 
als mein damaliger Assistent Dr. Hornung im Jahre 1898 als 
mein Nachfolger in den Besitz der Anstalt Schloss Marbach trat, 
wurde gleichzeitig der Charakter derselben, der bis dahin vorzugs- 
weise der einer Entziehungskuranstalt gewesen war, vollständig den 
Forderungen entsprechend geändert, die unser bisheriges Studium 
für die Behandlung der Herzkrankheiten in den Vordergrund gestellt 
hatten. Das allererste Erfordernis für die Behandlung dieser Er- 
krankungen ist, was natürlich nur in einer Anstalt möglich sein 
kann, dass ärztliche Hülfe unter allen Umständen jeden Augen- 
blick zur Hand ist, damit jeden Augenblick festgestellt werden 
kann, ob etwas und was bei den bekanntlich oft so ausserordent- 
lich plötzlich auftretenden Störungen objektiver und subjektiver 
Natur bei Herzkranken zu thun ist. In einer Brochüre „Über 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 69 
und Herztherapie. 
Temperenzanstalten und Volksheilstätten für Nervenkranke“ (II. Aufl. 
Stuber Würzburg 1899) habe ich ausgeführt, dass in unseren 
Nervenheilanstalten die eigentlichen anatomischen Nervenstörungen 
nur eine relativ geringe Rolle spielen: das Hauptkontingent 
stellen die sog. funktionellen Neurosen, und diese sind zum 
grossen, wenn nicht zum grössten Theil, durch Unterernährung 
in Folge von Herzmuskelinsufficienz und Herzerweiterung entweder 
direkt bedingt, oder bei entsprechender constitutioneller Veranlagung 
aus der Latenz erweckt. Dementsprechend müssen die sog. „Nerven- 
heilanstalten“ zum grossen Theile in „Herzkuranstalten“ umgewandelt 
werden, wie wir dies in Schloss Marbach, als erster derartiger An- 
stalt, die auf dem Boden der funktionellen Behandlung steht, gethan 
haben. Ich habe des weiteren ausgeführt, wie alle die bewährten 
Methoden der Nervenheilanstalten, wie Hydrotherapie, Massage, 
Faradisation, Gymnastik direkt auf die Herzthätigkeit wirken, und ihr 
Erfolg geradezu als diagnostisches Hülfsmittel dient, um festzustellen, 
dass die „Nerven“erkrankung der Herzerkrankung erst folgte. 
Dementsprechend ist es für derartige Anstalten erstes Gebot, 
alles in ihrem Betriebe auszuschalten, was sich als herzschädigend 
bereits experimentell erwiesen hat und noch erweisen wird, und alles in 
den Betrieb hineinzunehmen, von dem ein Nutzen erwartet werden muss. 
Auszuschliessen sind demnach in erster Linie eine Reihe von 
medikamentösen Massnahmen, die sich heute noch in der altüber- 
lieferten Herztherapie eines unverdienten Rufes erfreuen, und durch 
welche, wie wir jetzt mit Bestimmtheit sagen können, mancher ver- 
zweifelte Fall noch weiter, vielleicht direkt tötlich, verschlechtert 
worden ist. Es sind dies gewisse Narkotika, die das Gefühl des 
Kranken für seinen Zustand allerdings betäuben, den Zustand aber 
selbst verschlechtern. So lange der Arzt nicht in der Lage war, — 
mit seinen Untersuchungsmethoden diesen Umstand festzustellen, 
konnte er sich durch den subjektiven Zustand des Kranken täuschen 
lassen — heute darf ihm das subjektive Verhalten des Patienten 
allein nicht mehr den Massstab seines Handelns abgeben: er ist 
vielmehr vor die viel schwierigere, aber auch viel dankbarere Aufgabe 
gestellt, das subjektive Wohlbefinden mit einer objektiven Besserung 
zusammen hervorzurufen. 
Zu diesen in der Herztherapie beliebten Mitteln gehört der 


70 Dr. A. Smith, 


Ather, das Chloralhydrat und in aller erster Linie der Alkohol. Be- 
sonders der letztere hat sich von den ärztlichen Verordnungen her 
so als „herzstärkend“ im Volke eingebürgert, dass es schwer sein 
wird, ihn, besonders bei der noch immer vorhandenen subjektiven und 
objektiven ärztlichen Vorliebe für ihn, seines Nimbus zu entkleiden. 
Dies ist eine leichte und dankbare Aufgabe der Herzkuranstalten, 
in denen die Durchführung der Alkoholabstinenz im diätetischen 
Regime, wie ich mich seit Jahren überzeugen konnte, so gut wie 
gar keine Schwierigkeit macht. 

Da die Beziehungen der Verdauungsthätigkeit zu der des Herzens 
insofern in Wechselbeziehung stehen müssen, dass ein geschwächtes 
Herz einer plötzlich stark auftretenden Nachfrage nach Kraft zur 
Bewältigung einer grösseren Verdauungsarbeit naturgemäss nicht 
nachkommen kann, so soll die Ernährung im Anfang einer Kur 
in öfterer Darbietung kleinerer Mengen nahrhafter Speisen bestehen ; 
eine mehr vegetarische, besonders obstreiche Kost scheint im all- 
gemeinen besser vertragen zu werden, als reichlicher Fleischgenuss. 

Eingerichtet muss eine solche Specialanstalt selbstverständlich 
mit allen Untersuchungs- und Behandlungsapparaten sein, die über- 
haupt für die vorliegenden Fragen in Betracht kommen können 
und die eine Kontrolle der Kranken nach jeder Richtung hin er- 
möglichen. Ich nenne nur: Röntgeneinrichtung zur orthodiagraphischen 
Untersuchung (möglichst im Stehen und im Liegen); elektrische Ein- 
richtungen zur Faradisation, Wechsel- und Drehstrombehandlung in 
uud ausserhalb des Bades; für Franklinisation und Arsonvalisation; 
Hydrotherapeutische Einrichtung; Vibrations- und heilgymnastische 
Apparate. 

Was die eigentliche Behandlung angeht, so darf sie nur un- 
verrückt auf das eine Ziel zugehen, den Kranken wieder an die 
Anforderungen, die das Leben später an ihn stellen wird, anzupassen. 
Nach und nach müssen die künstlichen Vorgänge durch natürliche, 
also elektrische Muskelarbeit durch körperliche Thätigkeit etc. ersetzt 
werden. Denn die Hauptsache wird immer für den Kranken bleiben, 
dass er in der Anstalt lernt, wie er sich verhalten muss, um später 
gesund, d. h. leistungsfähig zu bleiben. 

Im speciellen haben wir bei den Behandlungsarten mit zwei 
Factoren zu rechnen: einmal mit den bei allen Formen der Herz- 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 71 
und Herztherapie. 
muskelinsufficienz bewährten, und dann mit denen, die entweder 
nur bei der angioparetischen oder angiospastischen Herzerweiterung 
Anwendung finden dürfen. 

Als gleichmässig günstiges, den Spasmus lösendes, die Parese in 
normalen Tonus verwandelndes, geradezu als Specifikum gegen die 
Gefässstörungen zu bezeichnendes Mittel ist in allererster Linie die 
Elektrieität in der Form der unterbrochenen Ströme zu nennen. 
Der Behandlung mit unterbrochenen Strömen gegenüber schrumpfen 
alle bisher geübten Methoden ausnahmslos zu nebensächlicher Be- 
deutung zusammen und haben nur noch Wert, um eine gewisse 
Abwechslung in den Kurplan zu bringen, und ev. Nebenindikationen 
zu dienen. Und was die Anwendung der Elektrizität betrifft, so 
verdient wiederum das elektrische Bad den Vorzug vor allen 
anderen Formen. Nur bei grosser Empfindlichkeit, oder wenn man 










































Figur 6, 
a. ery Jen vor sich gehende Herzverkleinerung bei Dilatation bei früherer Behandlung: 
b. bei heutiger Behandlung mit unterbrochenen elektrischen Strömen, bei unkompliziertem Zustand. 
_ e und d. Zurückgehen und Wiederauftreten der Erweiterung bei starker Muskelschwäche, Der 
weitere Verlauf dieser Fälle lässt meist erst nach mehreren Monaten eine Beruhigung der Herz- 
muskulatur erkennen, 


72 Dr. A. Smith, 


den Indikationen, welche fortgesetzter Kopfdruck, Schlaflosigkeit 
stellen, gerecht werden muss, bewährt sich die Franklinisation und 
Arsonvalisation besser. 

Gerade der Erfolg der allgemeinen Elektrisierung, bei welcher 
das Herz selbst gar nicht direkt eingeschaltet zu sein braucht — 
meine Experimente zeigen übereinstimmend bei allen ausprobierten 
Arten der elektrischen Anwendung, dass der Erfolg geringer und 
weniger nachhaltend ist, wenn die Ströme nur direkt durchs Herz 
geleitet werden — beweist, wie sehr Rosenbach Recht hat, wenn 
er dem Gefässsystem den Löwenanteil an der Hervorbringung der 
Zirkulation und ibrer Unterhaltung zuteilt Das Herz scheint that- 
sáchlich mehr ein Sicherheitsventil und damit der für unsere 
funktionelle Diagnostik so wichtige Indikator für Störungen im 
Kreislauf zu sein; ein Ventil, das den Überschuss nicht entweichen 
lässt, sondern in der Lage ist, sich in seinem Volumen in sehr 
weiten Grenzen demselben anzupassen, und erst bei zu starker oder 
zu oft bewirkter Belastung zu versagen, oder nun auch in seiner 
Funktion dauernd beeinträchtigt zu werden. 

Auf die Einzelheiten der Technik der Behandlung einzugehen 
ist hier nicht der Platz; selbstverständlich ist, dass für dieselbe der 
Zustand und das Bedürfnis des Kranken berücksichtigt werden 
muss. Bei dem einen empfiehlt es sich mehr, von Anfang an 
mit grossen Dosen und häufiger Wiederholung (2 Bäder täglich) 
bei anderen mit geringster Quantität mit anfänglichem Überschlagen 
eines oder mehrerer Tage zwischen den einzelnen Bädern vorzu- 
gehen. Über die Dosierung entscheidet in allen Fällen der Patient, 
da es sich als absolut unmöglich erweist, bei dem wechselnden 
Hautwiderstand, der sogar bei derselben Person in sehr weiten 
Grenzen wechselt, selbst bei der Möglichkeit konstantester Strum- 
bildung, genaue Angaben zu machen. Man lässt den Strom vom 
Nullpunkt an langsam einschleichen und steigert ihn bis zu der 
Grenze, die dem Patienten noch erträglich und angenehm erscheint. 
Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass es sich empfiehlt, 
das Wasser einige Grade unter Körpertemperatur zu halten, 
dem Badenden eine kalte Kompresse auf den Kopf zu legen (da 
sonst leicht Kopfdruck und -schmerz entsteht), und nach dem Bad 
eine 4 bis 6° kühlere Übergiessung machen zu lassen. 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 73 
und Herztherapie. 

Die Wechselstrom- und Drehstrombehandlung erweist sich im 
allgemeinen nachhaltiger als die vermittels der Faradisation; da 
sie jedoch hin und wieder durch eine übergrosse Empfindlich- 
keit der äusseren Haut in ihrer Anwendung in Frage gestellt 
wird, so lässt sich die Faradisation nicht völlig durch sie ersetzen.!) 
Zu starke Behandlung erzeugt Zustände von grosser Erschöpfung 
und Übermüdung mit eigenartig krampfhaft zusammengezogenen 
Herzfiguren, die merkwürdigerweise einer leichteren Faradisation 
fast momentan weichen. Es machten die von mir gemachten Be- 
obachtungen die Bemerkungen eines amerikanischen Elektrikers 
(Name des Autors und Ort der Publikation ist mir nicht mehr 
gegenwärtig) nicht unwahrscheinlich, der behauptet, jeden durch 
zu starken Strom anscheinend Getöteten durch Behandlung mit 
schwachen Strömen wieder zum Leben zurückrufen zu können, 
wenn nicht zu viel Zeit zwischen den Prozeduren läge. In einem 
Falle von „Herzschlag“ habe ich mich persönlich von der lebens- 
rettenden Einwirkung der Faradisation überzeugen können. Eine 
Frau, die ich schon ein Jahr vorher vorübergehend wegen Herz- 
schwäche in Behandlung gehabt hatte, will vor Ausbruch eines 
Gewitters noch schnell eine schwere Schiebkarre voll Feldfrüchte 
nach Hause fahren und bricht kurz vor ihrer Wohnung auf der 
Strasse zusammen. Als ich ca. !/, Stunde später die Frau sah, 
atmete sie nicht mehr, Puls war weder an der Radialis noch am 
Herzen mehr zu bemerken. In grossen Zwischenräumen (ca. 1 
Minute) bemerkte man eine krampfhafte Zuckung, die in einer kurzen, 
schnellen Hebung der Schultern nach oben und vorn bestand. Die Herz- 
dämpfung (percutorisch-palpatorisch festgestellt) war rechts bis dicht an 
die Brustwarze, links in die Axillarlinie, oben an den Schlüsselbein- 
rand gerückt. Im Moment, wo nach Aufsetzen der einen Elektrode 
aufs Herz, der anderen auf den Ischiadikus ein kräftiger Induktions- 
strom geschlossen wurde, erfolgte ein starkes Zucken, ein Seufzen, 


1) Bei Auftreten von starkem Jucken während des Bades ist die Maschinen- 
oder Acumulatorenspannung, welche den Motor treibt, zu hoch. Für die thera- 
peutische Anwendung empfiehlt sich uns, den Motor mit geringerer Spannung 
zu betreiben, als er seiner Konstruktion nach eigentlich verlangt. Am angenehmsten 
und wirksamsten finden wir die Wirkung unseres für 110 Volt eingerichteten 
Apparates, wenn wir ihn mit 95 Volt betreiben. 


74 Dr. A. Smith, 


leichte Versuche zu atmen und Riickkehr des Pulses, der nach einer 
Minute wieder kriftig war. Nach 3 Minuten Offnen der Augen, 
nach 10 Minuten vollständige Rückkehr des Bewusstseins; Herz am 
rechten Sternalrand, links 2 Finger breit über die Brustwarze hinaus. 
Ich zweifle nicht, dass eine weitere Viertelstunde spáter eine Therapie 
in diesem Falle zu spät gekommen wäre. 

Wo kein Bad zur Verfügung steht, geschieht die Anwendung 
der Elektrisation am besten vermittelst einer grossen indifferenten 
Elektrode über dem Herzen, und einer Massierrolle als differenter 
Elektrode, die über den ganzen Körper hingerollt wird, wobei auf 
den Nervenreizpunkten, ganz besonders über dem Ischiadikus etwas 
länger geweilt wird. Die Punkte kennzeichnen sich durch ein eigen- 
tümliches Gefühl von Flattern, das stark gegen das brennende, leicht 
schmerzende Gefühl, das an den anderen Hautstellen bemerkt wird, 
kontrastiert. Ganz auffallend ist die Erregung des Herzens bei 
Berührung dieser Punkte zu fühlen und macht sich die Erleichterung 
sofort bei vertiefter Atmung geltend. 

Bei der Franklinisation empfiehlt es sich ebenfalls mehr, den 
ganzen Körper nach und nach mit der Spitzenelektrode zu behandeln, 
als das Herz allein; sind ausserdem Kopferscheinungen vorhanden, 
so ist die Anwendung in Form der elektrischen Douche die 
geeignetste. 

Bei überempfindlichen und überängstlichen Kranken beginnt man 
die Behandlung mit Massage und Vibrationsmassage, die auch schon eine 
bemerkenswerte Einwirkung auf das Gefässsystem zeigen, mit Luft- 
bädern und hydrotherapeutischen Prozeduren gelinder Art. Kombi- 
nieren kann man Hydrotherapie und Erschütterung durch Anwendung 
von Wellenbádern und Bespritzungen, Strahlendouchen etc. Es ist 
hier natürlich ein ungemein reiches Feld für Privatliebhabereien 
vorhanden; welche Kombinationen jeder liebt, ist insofern gleich- 
gültig — wenn er nur nicht versäumt, durch exakte Unter- 
suchungen vor und nach den Prozeduren sich von deren Wirkung 
zu überzeugen. 

Schwieriger in ihrer anfänglichen Beurteilung wird die Be- 
handlung, wenn sie die Angioparese oder den Angiospasmus direkt 
treffen soll. Sind wir doch in einer grossen Reihe von Fällen für 
die Beurteilung des Zustandes erst auf den Erfolg einer spezifischen 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 75 
und Herztherapie. 

Behandlung angewiesen, da der Nachweis dieser verschiedenartigen 
Gefässstörung nur bei extremem Vorhandensein aus dem Zustande 
der äusseren Haut mit Sicherheit erschlossen werden kann. Wenn 
auch im allgemeinen unter den heutigen Verhältnissen die Angio- 
parese bei weitem im Vordergrund der Beobachtungen steht, was 
wohl hauptsächlich mit dem geradezu für physiologisch gehaltenen 
chronischen Konsum von gefässdilatierenden Reizen (Alkohol!) zu- 
sammenhängt, so scheint andererseits der Angiospasmus, abgesehen 
von Intoxikationen, die am häufigsten mechanisch bedingte 
Störung zu sein. Wie dem aber auch sein mag: klar ist ohne 
weiteres, und unsere Experimente haben uns dasselbe gezeigt, dass 
bei vorhandenem Spasmus ein sonst paretisch Herzerweiterung 
erzeugendes Mittel herzverkleinernd wirken kann und umgekehrt. 
Ich kann durch starke Hitzereize Herzerweiterung erzeugen bei einem 
zur Parese neigenden Menschen, Herzverkleinerung bei Jemand, der 
in Folge von Angiospasmus schon an Herzvergrösserung leidet. 
Gehe ich aber in der Anwendung nur etwas zu weit, so geht der 
Spasmus in die Parese über, und das Herz erweitert sich jetzt 
wieder auf Grund der umgekehrten Schädigung. Es ist das z. B. 
eine Erfahrung, welche fast ausnahmslos bei der Äther-, Alkohol-, 
Chloralhydrat-Therapie gemacht werden kann. Es müssen zur Klärung 
dieses Gebietes noch ungemein zahlreiche Erfahrungen und Experi- 
mente gemacht werden. Zweifellos beruhen auf diesem noch nicht 
klárbaren Gegensatz (die sog. Blutdruckmessungen versagen hier 
völlig) die widerspruchsvollen Resultate klimatischer Kuren bei 
Herzkranken: während der eine wie neu geboren aus einem Höhen- 
ort kommt, hat sich der andere bei aller Vorsicht dort eine 
lebensgefährliche Dilatation geholt; während es dem einen Kranken 
nicht kalt genug sein kann, fühlt sich der andere nur bei 
Wärme wohl. Auffällig ist auch die Beeinflussung durch Wetter- 
schwankungen. Wir haben nicht selten bei einem Krankenbestand 
von etwa 30 Patienten bei solchen Wetterstürzen (Gewitter, Föhn, 
Schneefall) mehr wie die Hälfte zur gleichen Zeit ausserhalb der 
eigentlich ungefähr zu erwartenden Zeit mit starken Herzgrössen- 
schwankungen und Störungen des Allgemeinbefindens beobachtet. 
In extremis lassen ja schon die Symptome der Bergkrankheit und 
die Erscheinungen in Luftballons bei übergrosser Höhe auf solche 


76 Dr. A. Smith, 


Gefässstörungen bei geringerer Belastung schliessen, sowie die Be- 
obachtungen, die man bei stark erhöhtem Druck gemacht hat. 
Immerhin scheinen hier auch noch nicht genügend studierte elektrische 
(statische) Erscheinungen mitzuwirken, welche noch eingehenderer 
Untersuchung warten. Baelz (Tokio) hat übrigens letzthin auch auf 
diesen Umstand aufmerksam gemacht. 


Verlauf und Prognose. 

Es erübrigen noch einige Worte über Verlauf und Prognose 
der Herzmuskelinsuffizienz, da deren Berücksichtigung einmal die 
Lösung der Frage bedingt, ob man Herzkranken sagen darf, ob sie 
herzkrank sind, und zweitens hier der einzige Punkt ist, wo man 
eine verschiedene Form der Herzerkrankung im anatomischen und 
ätiologischen Sinn heranziehen muss. 

Um zunächst die Prognose zu erwähnen, so giebt es abgesehen 
von gewissen chirurgischen Fällen, wohl keine Erkrankung, welche 
so sicher zum Tode führt, wenn sie sich selbst überlassen oder 
unrationell behandelt wird, wie die Herzmuskelschwäche — es giebt 
aber auch keine, welche mit solcher Sicherheit zu heilen ist, wenn 
gewisse Komplikationen, auf die ich gleich komme, ausgeschlossen 
sind. Fast jeder Tod an „Herzlähmung“ und „Herzschlag“ könnte ver- 
mieden werden, wenn der davon Betroffene rechtzeitig in geeigneter 
Weise untersucht und behandelt worden wäre. Hiernach löst sich 
die Frage leicht, ob man dem Kranken nach einwandsfreier Unter- 
suchung Mitteilung von seinem Zustand machen soll: ist der Kranke 
in der Lage und bereit, eine entsprechende Kur zu machen, so kann 
ich mir nur durch absoluteste Objektivität im Mitteilen der jedes- 
maligen Befunde seine unumgänglich notwendige Mitarbeiterschaft 
an seiner Wiederherstellung sichern. Kann der Kranke von vorn 
herein eine Kur nicht machen, so verschweige ich ihm den Zustand. 
Dasselbe sollen natürlich alle Ärzte thun, deren Untersuchungs- 
technik eine Entscheidung, ob schwere funktionelle Herzstörungen 
vorliegen oder nicht, nicht zu geben gestattet. 

Erschwerungen der Prognose liegen dann vor, wenn es sich 
um Herzmuskelstórungen handelt, welche im Verlauf allgemeiner 
Störungen auftreten, wie bei Kachexien (Tuberkulose, Carcinom), 
sowie bei echter Bright’scher Niere. Aber auch einige Störungen 


Uber den hentigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 77 
und Herztherapie. 

im Gefässsystem selbst raten zur Vorsicht in der Prognosenstellung, 
wenn auch bei vorsichtiger Behandlung bei fortwährender Berück- 
sichtigung der Herzfunktion viel erreicht werden kann. Es sind dies 
hauptsächlich die bei Herzklappenfehlern auftretenden Störungen, 
besonders die bei Tricuspidal- und Pulmonalklappeninsuffizienz, wo die 
Lungengefässe bald in Mitleidenschaft gezogen werden und es leicht zu 
Embolie und Lungenódem kommt, ferner Aortenstenose und Aneurysmen 
und endlich die allgemeinen und speziell die Coronargefässverkalkungen. 

Den Verlauf der Erkrankung vor Eintritt in die Behandlung 
schildern, hiesse gleichzeitig ein Handbuch der „Neurasthenie“ 
schreiben. Ich verweise auf die oben angeführten verschiedenen im 
Vordergrund des Krankheitsbildes stehenden Symptome. In den 
meisten Fällen fühlen die Patienten aber selber, dass sie herzkrank 
sind, und die ihnen bei verschiedenen Konsultationen bei Autoritäten 
nach oberflächlicher Untersuchung (eine Röntgendurchleuchtung würde 
meist sofort die Berechtigung der Klagen der Kranken zeigen!) 
gegebene Auskunft, dass ihr Herz vollständig gesund sei, erfüllt sie 
in der Regel mit tiefstem Misstrauen in die „Medizin“ und treibt sie 
den Naturheilkünstlern in die Hände, die zwar von der Krankheit 
auch nicht mehr verstehen, als der vorher konsultierte Professor, 
aber dem Kranken wenigstens recht geben und ihn psychisch besser 
behandeln, was für ihn entschieden schon von Vorteil ist. 

Findet man nun bei der Untersuchung eines solchen Kranken 
eine Herzstörung, so ist derselbe fast stets statt aufgeregt und 
ängstlich, beruhigt, wenn man ihm dies mitteilt, da dies seinen 
eigenen Wahrnehmungen entspricht und er jetzt hofft, dass auch 
eine entsprechende Behandlung ihm Hülfe bringen kann. 

Bei noch nicht veralteten Fällen, in denen eine Überanstrengung, 
eine fieberhafte Erkrankung, ein Schreck eine Herzerweiterung ge- 
schaffen hatte, die nicht mehr von selbst zurückging, ist in der Regel 
in einigen Wochen der Kranke wieder völlig hergestellt und kann 
mit einiger Vorsicht allen seinen Verrichtungen wieder nachgehen. 

Bei schwereren Fällen tritt zunächst auf die ersten Behand- 
lungen vermittels elektrischer Bäder hin nach einigen aufänglichen 
Schwankungen auch eine ungemeine Erleichterung ein; die Pa- 
tienten fühlen sich „wie neugeboren“. Diese Besserung hält bei — 
vorsichtiger Lebensweise etwa 4—6 Wochen an. Dann kommt 


78 Dr. A. Smith, 


es oft überraschend plötzlich, oft mehrere Tage vorher durch 
starkes Zusammenziehen des Herzens schon angedeutet und vorher- 
gesagt, zu manchmal die ursprüngliche Herzgrösse bei der Aufnahme 
noch übersteigenden Herzausdehnungen, denen ein Gefühl von Unlust, 
Reizbarkeit, Verstimmung sich bald zugesellt. Diese psychischen 
Begleiterscheinungen können den Charakter einer völligen Psychose 
zeigen, derart, dass es unmöglich ist, den Kranken zu beeinflussen; 
er reist ab, geht geschäftliche Verbindlichkeiten ein, von denen er 
nachher nichts mehr weiss, kurz, gerät in völlige Dämmerzustände. 
Nicht selten sehen wir auch Ohnmachten beim Einsetzen der Anfälle 
entstehen. Schliesslich im Laufe von 5—8 Monaten setzen in der 
Mehrzahl der Fälle nur noch kurzdauernde, leichte Erweiterungen 
ein, mit denen der Kranke leicht fertig wird. Ganz scheinen die- 
selben allerdings bei völlig entsprechendem Leben erst nach Jahren 
zu verschwinden. Woher diese Anfälle kommen, lässt sich schwer 
sagen. Künstlich können sie durch Überanstrengung und durch 
Alkoholgenuss herbeigeführt werden; es könnte demnach aus Analogie 
erschlossen werden, dass sich im Körper vielleicht ein ähnlich 
wirkendes Gift während des Stoffwechsels bilde, das bei einer gewissen 
Ansammlung und Konzentration sich gefässschädigend erweise. Bei 
einzelnen solchen Anfällen wurde sehr übelriechender Urin und 
Schweiss nach Ablauf beobachtet: einmal fand ich bei einem der- 
artigen Patienten, dass nach Ablauf eines jedesmal einige Wochen 
dauernden Anfalls die ungestärkte weisse Wäsche am Halse und 
anderen schwitzenden Stellen ziegelrot gefärbt war. Ich konnte 
diese Reaktion bei dem Kranken bis jetzt dreimal beobachten. Prof. 
von Bunge, den ich dieserhalb fragte, hielt es für mit unseren 
heutigen chemischen Untersuchungsmethoden aber nicht für möglich, 
die verantwortliche Substanz zu finden. Ebenso ist es schwer zu 
entscheiden, ob später, wenn die Anfälle nicht mehr wiederkehren, 
sich die Stoffe nicht mehr gebildet haben, oder ob das kräftigere 
Herz sie rechtzeitig ohne Beschwerden eliminiert, oder ob es über- 
haupt nicht mehr darauf reagiert. 

Schwieriger gestaltet sich der Verlauf bei den Fällen, in denen 
das Herzleiden eine vorhandene Störung nervöser Natur begleitet 
und erschwert, wo wahrscheinlich im Körper kreisende Giftstoffe 
gleichzeitig einen erweiternden Reiz auf das Herz ausüben und durch 


Uber den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 79 
und Herztherapie. 

ungeeignete Zusammensetzung der Nährflüssigkeit die Gehirnfunktion 
beeinträchtigen. Bei solchen Fällen kann bei Besserung der 
Kreislaufverhältnisse durch die Behandlung nach und nach sowohl 
körperlich als auch psychisch wesentliche Besserung erfolgen, die 
allerdings in mehreren beobachteten Fällen bei kurzem Aussetzen 
der Behandlung sich wieder verschlimmerte; oder es kann körperliche 
Besserung bei psychischem Gleichbleiben des Zustandes erfolgen, oder, 
es kann schliesslich, wie wir dies bei wenigen Depressivzuständen 
der zirkulären (manisch-depressiven) Psychose gesehen haben, Herz 
und Gemiitszustand trotz energischster Behandlung monatelang so 
gut wie unverändert bleiben, um dann in derselben Weise, wie wir 
dies auch ohne jede spezifische Behandlung geschehen sehen, ziemlich 
plötzlich in allgemeines Wohlbefinden überzugehen. 

Wenn wir von unseren hiesigen Beobachtungen ausgehen, so 
zeigt sich aber, dass der ganz überwiegende Teil der sog. Neuras- 
theniker reine Herzkranke sind und bei Behandlung der Herzstörung 
bei genauen Funktionsprüfungen des Organs leicht zu vollständiger 
Leistungsfáhigkeit zurückkehren. Lehrreich in dieser Beziehung war 
das öfter wiederholte Experiment, einem Kollegen durch Über- 
hitzung eine Herzerweiterung zu verursachen, die dann in den nächsten 
Tagen in erhöhter Reizbarkeit, leichter Ermüdung, Unlust zur Arbeit 
so lange ein Bild „neurasthenischer Beschwerden“ bot, bis durch ein 
elektrisches Bad die Herzerweiterung beseitigt wurde und sich der 
Kollege sofort wieder frisch fühlte — in derselben Weise, wie dies 
unsere Kranken auch äusserten. Selbstverständlich sind genügend 
Untersuchungen angestellt worden, um die Suggestion auszuschliessen, 
indem gegenteilige Suggestionen gegeben wurden. Der psychische 
Ausfall der Versuche. richtete sich nie nach den gegebenen Vor- 
stellungen, sondern entsprach ausnahmslos dem objektiven Herz- 
befund. 

Haben wir bisher beobachtet, dass die Grösse des Herzens für alle 
praktischen Verhältnisse als Maass für die Herz- und Gefässfunktion 
angesehen werden darf, derart, dass jede Vergrösserung (und Ver- 
kleinerung?) über eine gewisse, durch die physiologische Arbeit des 
Herzens gegebene Grenze hinaus eine Störung der Herzfunktion 
bedeutet, welche uns gleichzeitig Wegweiser und Warnungszeichen 
sein muss, so darf doch nicht übersehen werden, dass die Möglichkeit 


80 Dr. A. Smith, 


des Herzens, sich erweitern zu kónnen, oft genug lebensrettend 
wirken kann, wo anderweitig ein Ausgleich zwischen der Erschwerung 
des Ausflusses und dem nachdrängenden ungehinderten Einfluss des 
zirkulierenden Blutes nicht möglich wäre. Unsere ärztliche Aufgabe 
muss aber darauf gerichtet sein, nach Möglichkeit durch Einführung 
immer neuer Methoden, immer neuer Untersuchungen die Be- 
dingungen zu suchen, unter denen solche Erschwerungen zu Stande 
kommen, und diese durch hygienische Massnahmen zu verhindern. 


Schluss. 


Es ist erst ein verschwindend kleiner Teil einer grossen Auf- 
gabe, welcher durch die obigen Ausführungen berührt wird. Es 
bedarf demgemäss einer Entschuldigung, jetzt schon darüber zu 
berichten. Diese Entschuldigung ist aber darin gegeben, dass wir 
bei Anwendung der praktischen Ergebnisse in der Lage sind, 
zahlreichen Kranken nicht nur vorübergehend zu helfen, sondern 
sie geradezu vom Tode zu retten — und dem gegenüber kann es 
meines Erachtens nicht viel sagen, dass wir die Gründe dieses 
praktischen Vorgehens noch so ziemlich alle zu erforschen haben. 
Notwendig ist es aber, auch um den praktischen Werth der 
Untersuchungen immer zu vergrössern, dass möglichst vielseitig 
solche gemacht werden. Wir sehen bei jedem neuen Versuche, dass 
Voraussetzungen theoretischer Natur durch unerwartete Ausfälle der 
Reaktionen hinfällig werden, und dass wir noch weit von dem Ziele, 
über alle Veränderungen des Herzens Rechenschaft geben zu können, 
entfernt sind. 

Wir müssen uns noch klar werden, warum bei anscheinend 
völlig gleichen Versuchsverhältnissen die Reaktionen einmal aus- 
bleiben, das andere mal völlig verschieden von den ersten Resul- 
taten ausfallen. Bei genauerem Zusehen und Untersuchung der 
Einzelfaktoren wird aber schliesslich immer das Gesetzmässige ge- 
funden werden können. Allerdings muss — was durchaus nicht so 
selbstverständlich ist, wie es klingt — ein Forscher objektiv genug 
sein können, wenn er eine Thatsache findet, die nicht zu seinen 
alten Theorieen passt, zuzugeben, dass dann die Theorie, die ja 
immer nur heuristischen Wert haben darf, fallen muss — nicht die 
Thatsache. Ich will nicht einen gewissen Scepticismus verurteilen, 


Über den heutigen Stand der funktionellen Herzdiagnostik 81 
und Herztherapie. 

der nur fördernd wirken kann: aufs Schärfste zu verurteilen ist aber, 
wenn der Zweifel in eine Art wissenschaftlicher Katatonie ausartet, 
wie dies heute neuen Dingen gegenüber die Regel ist. Starre und 
Negativismus sind die Folterinstrumente der geistigen Inquisition der 
Kastenwissenschaft: auf die Dauer sind neue Bewegungen aber auch 
von der Inquisition gefördert, statt vernichtet worden. — 

Ich möchte mit einem Vergleiche schliessen. 

Eine vormals gesunde, dicht bevölkerte Gegend beginnt langsam 
im Laufe von Jahrhunderten immer mehr zu versumpfen. Die Be- 
völkerung hat die fortschreitende Verschlechterung der Verhältnisse 
in ihrer überaus langsamen Entwicklung kaum bemerkt, und die 
heutige Generation nimmt alle die Übelstände, Krankheiten, Elend, 
Not und Verbrechen als unvermeidliche, selbstverständliche Dinge 
hin, an denen zu rütteln aussichtslos wäre. Aber angeregt durch 
Reisen nach besseren Gegenden gründen einzelne Einwohner Gesell- 
schaften, um die Zustände zu ändern. Und zwar leitet diese zunächst 
der richtige Gedanke, den Sumpf zu erforschen. Und nun geht man 
an den Sumpf, entdeckt die interessantesten Sumpftiere und Sumpf- 
pflanzen, analysiert die sich bildenden Gase, stellt eine Reihe Faktoren 
fest, welche die Krankheiten mithervorrufen und fühlt sich schliesslich 
in allen diesen wissenschaftlichen Arbeiten so wohl, so belohnt, dass 
man jeden weiteren Gesichtspunkt vergessen hat. Und jede folgende 
Generation nimmt begeistert die Buddelei da auf, wo sie der Vor- 
gänger hat liegen lassen müssen. Die Museen des Landes sind voll 
von wissenschaftlichen Funden, die Bibliotheken füllen sich — und 
der Sumpf ist ein weiteres Jahrhundert hindurch grösser geworden 
und hat immer neue Erscheinungen zerstörender Natur hervorgebracht. 

Eines Tages kommen einige Fremde, sehen sich das Treiben kopf- 
schüttelnd an, und meinen, man solle lieber die Zuflüsse des Sumpfes 
abzugraben suchen und dem Sumpfe Abflüsse verschaffen, um ihn 
trocken zu legen und damit dem ganzen Sumpfelend ein Ende zu 
machen. 

Da erheben aber die Arbeiter im Sumpfe ein grosses Geschrei 
und versuchen die vorlauten Fremdlinge zu verjagen. „Was wollen 
denn die? Kennen die unseren Sumpf? Jahrhunderte haben wir 
darin gearbeitet, unsere grössten Gelehrten, unsere ersten Autoritäten 


haben ihre Berühmtheit dem Sumpfe zu verdanken, unsere Archive 
6 


92 H. Finkelstein, 

Die durch Geburtstraumen hervorgerufenen Krankheiten des Sáuglings. 
zuführen. Hier wirkt entweder directer Zangendruck oder, besonders 
bei plattem Becken, die Contusion durch Beckenvorsprünge oder heftiges 
Anpressen der Schulter an die Ohrgegend.!) Geyl?) leitet die Ent- 
stehung eines mit Missbildung der Ohrmuschel complicierten Falles 
von Compression durch amniotische Stränge her. Aber auch eine 
corticale Ursache (Oedem, Blutung) ist zuweilen in Betracht zu 
ziehen, besonders wenn die Spuren äusserer Gewalteinwirkung in der 
Peripherie fehlen, dagegen im Gebiete der Centralwindung zu finden 
sind. Eine Combination von Facialis- mit Hypoglossusláihmung *) macht 
dies noch plausibler. Endlich kann auch eine Verschiebung der die 
Schädelbasis zusammensetzenden Knochen eine Paralyse auf basaler 
Grundlage zeitigen. 

Die Lähmung ist zumeist einseitig, selten gedoppelt. Sie pflegt 
in wenigen Tagen bis zu 2 Wochen zu verschwinden. Indessen sind 
auch einige Fälle mitgeteilt, wo sie endgültig verblieb. (Duchenne, 
Henoch, Comby, Edgeworth, Seeligmüller.) Doppelseitige 
Ausbildung ergiebt eine ganz erheblich schlechtere Aussicht auf 
Wiederherstellung. Hier ist es schwer, zu entscheiden, ob eine 
irreparable traumatische Veränderung zu Grunde liegt oder ob es 
sich um ein Vorkommnis von infantilem Kernschwund oder 
Kernaplasie‘) handelt. Letzteres gewinnt an Wahrscheinlichkeit, 
wenn noch Zeichen von Augenmuskelbeteiligung vorhanden sind. 

Die Behandlung des Zustandes beginnt zweckmässig erst dann, 
wenn nach etwa 2 Wochen keine spontane Besserung sichtbar ist 
und besteht in Faradisation. Sonst wäre nur bei Lagophthalmus das 
Auge zu schützen und den Anzeigen zu genügen, welche durch Er- 
schwerung des Saugactes gegeben sind. 


1 Franke, Centralbl. f. Geb. u. Gyn. 1901. 20. 

?, Centralbl. £. Geburtsh. u. Gynakol. 1896. No. 24. 

*) Kehrer l. c. l 

4 Möbius, Münch. med. Wochenschr. 1892. Heubner, Charité-Ann. XXV. 
Cabannes, Rév. neurolog. VIII. No. 22. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W. Lttzowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


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Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
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und wohl auch bei anderen Fiebern. Ausgezeichnete, jetzt allgemein 

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August 1902. Berliner Klinik. Heft 170. 


Zur Behandlung der functionellen Neuresen bei Mitgliedern 


von Krankenkassen. 


Von 
Dr. Siegmund Auerbach in Frankfurt a. M. 





Es ist selbstverstándlich, dass alle Kranken ohne Unterschied 
des Standes von jedem humanen Arzte mit gleicher Gewissenhaftig- 
keit und lediglich nach den Regeln unserer Wissenschaft und Kunst 
behandelt werden. Und doch macht es einer der wichtigsten und 
zugleich schwierigsten Grundsätze ärztlichen Handelns, nämlich der 
zu individualisiren, erforderlich, bei vielen chronischen Erkrankungen 
den ganzen Behandlungsplan nach den socialen Verbältnissen der 
sich uns anvertrauenden Patienten aufzustellen. Derjenige Arzt, 
welcher sich in der täglichen Praxis nicht bald zu dieser Einsicht 
hindurchringt, wird nicht nur keinen Nutzen, sondern durch schiefe 
und unzweckmässige Vorschriften, sowie durch die Versäumniss kost- 
barer Zeit, recht grossen Schaden stiften. Zu jenen Krankheiten ge- 
hören, wie aus den folgenden Zeilen hervorgehen wird, in erster 
Linie die sogenannten functionellen Erkrankungen des Nervensystems. 
Von diesen sollen hier die am häufigsten vorkommenden, nämlich 
die Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie, die Basedow’sche Krankheit 
und der nervöse Kopfschmerz, Berücksichtigung finden. 

Die Behandlung dieser Leiden gehört schon bei bemittelten 
Kranken zu den schwierigsten Aufgaben, welche an einen umsich- 
tigen und sorgsamen Arzt herantreten können. Um wieviel mehr 
ist das der Fall bei Angehörigen von Krankenkassen und Armen- 
verbänden, die mit ihren beschränkten Mitteln auf dem billigsten 
und kürzesten Wege eine möglichst dauerhafte Wiederherstellung 
der Gesundheit und vor allem der Erwerbsfühigkeit ihrer Mitglieder 

1 


9 Dr. Kurt Brandenburg, 


mit jedem neuen Lungenbezirk, der von der tuberkulósen Infiltration 
ergriffen wird, die Aussicht auf Genesung in unverhältnismässigem 
Grade verschlechtert. 

Die frühzeitige Erkennung der Lungenschwindsucht ist eine 
Aufgabe, deren Lösung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
durch die Mittel geleistet werden muss und geleistet werden kann, 
welche die klinische Beobachtung und die klinischen Untersuchungs- 
methoden liefern. 

Der Schwerpunkt der Diagnostik der Spitzener- 
krankung liegt auf klinischem Gebiete. Ganz besonders 
gilt dieser Weg zur Lösung der Frage für die Thätigkeit des Arztes 
in der Sprechstunde und in der Praxis. 

In den folgenden Ausführungen sind aus der Fülle der allge- 
meinen und örtlichen Beobachtungen, die bei den Kranken mit 
beginnender Lungenphthise gemacht werden können und als wichtig 
angegeben werden, einzelne herausgehoben und zusammengestellt 
worden, welche uns wesentliche und brauchbare Gesichtspunkte für 
den Gang der Untersuchung zu liefern geeignet erscheinen. Eine 
kurze Schilderung der klinischen Methoden wurde gegeben, soweit 
sie in ihrer besonderen Verwendung für das vorliegende Ziel gewisse 
zweckmässige Änderungen erfahren, und soweit es gelingen wollte, 
praktische Methoden und Kunstgriffe durch einfache Beschreibung 
genügend verständlich und anschaulich zu machen. 

Auf der einen Seite sind die Schwierigkeiten, welche in vielen 
Fällen die Erkennung einer Spitzenerkrankung bereitet, auch für 
den erfahrenen und geübten Untersucher nicht geringe. Auf der 
anderen Seite lassen die eingreifenden Änderungen, die in der 
Lebenshaltung des Kranken durch die Diagnose notwendig werden. 
eine möglichste Klarstellung wünschenswert erscheinen. ‚So muss 
denn jedes Symptom und jedes Untersuchungsmittel, soweit es den 
Kranken nicht gefährdet, herangezogen werden, und der kleinste 
Baustein, der zum Aufbau der Diagnose dienen kann, darf nicht 
verschmäht werden. Und so wenig eindeutig und beweisend die 
einzelne Krankheitserscheinung, die einzelne Beobachtung ist, so 
überzeugend kann sie werden im Zusammenhalt und durch die Er- 
sänzung mit den übrigen Befunden und den Angaben des Kranken. 

Aus der Vorgeschichte ist zunächst eine eingehende Kenntnis 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 3 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 
erwünscht über die Frage, ob eine örtliche oder allgemeine Em- 
pfänglichkeit für dieEntwicklung von Lungenschwind- 
sucht in unserem Falle anzunehmen ist, mag die Empfänglichkeit 
eine ererbte oder eine im Laufe des Lebens erworbene sein. 

Bei manchen Kranken gewinnen wir aus der Familiengeschichte 
den Eindruck, dass eine Empfindlichkeit des Gewebes gegen- 
über dem Krankheitsgift sich als eine erbliche Eigenschaft 
bei den einzelnen Mitgliedern Generationen hindurch erhalten hat. 
Die Krankheitsanlage erscheint hier als eine örtliche Schwäche durch 
mangelhafte Anlage im Bau des Organteils. In diese Gruppe würden 
wir auch die Beschränkung in den Atembewegungen des oberen 
Brustumfanges einzureihen haben, welche bei jugendlichen Personen 
in Folge der Verknöcherung des ersten Rippenknorpels oder der 
Verbindung zwischen Handgriff und Körper des Schwertfortsatzes 
nach der Schilderung von Freund, Rothschild und anderen be- 
obachtet werden. Nach Turban lässt sich bei manchen Kranken 
die Vererbung eines locus minoris resistentiae annehmen in der Art, 
dass ein bestimmter Teil eines bestimmten Organs, und in den einzelnen 
Generationen immer derselbe Lungenlappen, gegenüber der tuberkulösen 
Invasion widerstandsunfähig ist. Unzweifelhaft werden nach 
Tuberkulose der Vorfahren vielfach bei den Nachkommen 
Zustände von Minderwertigkeit in der Form von Bildungs- 
fehlern an Körperorganen oder psychischen Degenerations- 
zuständen beobachtet. Solche dystrophische Abweichungen kann 
man sich bei der Tuberkulose ähnlich wie bei der Syphilis entstanden 
denken, durch die Wirkung von Giftstoffen, die im elterlichen Or- 
ganismus unter dem Einfluss der Tuberkulose erzeugt die Frucht oder 
den Keim schädigen. 

Die Nachforschungen über die familiäre und erbliche Belastung 
lässt sich gewöhnlich schwer trennen von der Frage, ob bei unserem 
Patienten die Gelegenheit zur Aufnahme von Krankheitskeimen in 
besonders auffälliger Weise gegeben war. Die erbliche familiäre 
Belastung kommt in Betracht als Vererbung der Dispo- 
sition, aber auch als eine grössere Gelegenheit zur 
Infektion. 

Die Angabe, dass einer der Eltern oder Geschwister lungen- 


schwindsüchtig ist oder gewesen ist, lässt eine Deutung nach beiden 
1 


4 Dr. Kurt Brandenburg, 


Richtungen zu, so dass die Entscheidung, ob Familiendisposition oder 
Familieninfektion scheinbar unmóglich ist. Man kann annehmen, dass mit 
einiger Sicherheit Tuberkulose bei den Grosseltern, Eltern oder Ge- 
schwistern bei etwa 35 pCt. der Lungenschwindsüchtigen nachweisbar ist. 

Die Erkundigung des praktisch wesentlichen Punktes in diesem 
Verhältnis lässt sich vielleicht besser in der Form der Frage an den 
Kranken zusammenfassen, ob er längere Zeit hindurch mit 
schwindsüchtigen Personen zusammen gelebt, gewohnt, 
in dem gleichen Raume geschlafen oder gearbeitet hat. 

Die Infektionsmöglichkeit ist, abgesehen von den genannten 
besonders gefährdenden Umständen für jeden Menschen so ungeheuer 
gross, dass sich fast in der Leiche jedes älteren Erwachsenen Ge- 
websschädigungen durch Eindringen tuberkulöser Keime bei sorgfäl- 
tigem Suchen nachweisen lassen. Diese Thatsache zwingt zu der 
Annahme, dass es meist noch besonderer Bedingungen bedarf, welche 
die Tuberkelbazillen befähigen, die krankhaften Veränderungen in 
weiterer Ausdehnung zu erzeugen. So dürfte dort, wo in der ur- 
sprünglichen Anlage des Einzelnen von vornherein eine Minderwertig- 
keit besteht, schon eine geringere schwächende äussere Einwirkung 
genügen zur Entwicklung der Krankheit. Die verschiedensten 
schwächenden Reize können eine vorhandene Krank- 
heitsanlage auslösen oder eine Empfinglichtkeit 
schaffen, wirtschaftliches Elend, Hunger, Not ebensowohl wie 
Erkältungen und schwächende Krankheiten. 

Für die Entwicklung von Tuberkulose ist für das kindliche 
Alter das Überstehen von Masern und von Keuchhusten, im 
späteren Alter wiederholtes Befallensein von hartnäckigen 
Bronchialkatarrhen, Lungenentzündungen, Brustfell- 
entzündungen und Influenza von Bedeutung. 

Bei Frauen werden oft rasch aufeinander folgende Entbindun- 
gen, übermässig langes Stillen angeschuldigt, bei Männern 
besonders Berufsschädlichkeiten. Einatmung reizender Dämpfe 
und Staubarten werden nach der Übersicht von Engelmann von 
50 pCt. der Heilstättenpfleglinge angegeben. Hierher gehören ferner 
die Schädigung durch schnellen und grossen Temperaturwechsel bei 
der Arbeit, anhaltendes Sprechen in schlechter Luft und sitzende 
Lebensweise in gebückter Körperhaltung. 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 5 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

Gerade aus diesem Punkte in der Vorgeschichte des Kranken 
ergiebt sich des öfteren zwanglos die Anschauung, dass die Tuber- 
kulose zwar eine übertragbare Krankheit, aber in ihrer Aus- 
breitung wesentlich abhängig ist von wirtschaftlichen Zu- 
ständen, und dadurch wird für eine nicht kleine Gruppe von 
Schwindsüchtigen auf die Besserung der wirtschaftlichen 
und gewerblichen Übelstände als die wesentliche Grund- 
lage und Vorbedingung für eine erfolgreiche ärztliche 
Behandlung hingewiesen. 

Die wirtschaftliche Minderwertigkeit giebt wohl auch das 
vermittelnde Glied und die gemeinsame Unterlage für gewisse Angaben 
der Statistik, nach denen Ehelose leichter befallen werden als Ver- 
heiratete, und nach denen durch Uebermass und Missbrauch 
alkoholischer Getränke oder eine frühere Infektion mit Lues 
die Entwicklung von Lungenschwindsucht begünstigt wird, doch soll 
hierbei auch die schwächende Wirkung der Gifte nicht ge- 
leugnet werden wie die Schädigung jugendlicher Personen durch die 
Anämie, die sich im Gefolge von Lues entwickelt. Auch hat man 
seit langer Zeit beobachtet, dass die Opfer ererbter Syphilis 
oft an Skrofulose und Tuberkulose leiden und hat zur Erklärung 
angenommen, dass bei hereditär syphilitischen das schützende 
Epithel der Haut und der Schleimhäute unvollkommen entwickelt 
sei, so dass die Keime leichter eindringen könnten. Die Schäd- 
lichkeit des Alkohols macht sich in unserer Frage meist erst 
im späteren Lebensalter bemerkbar, und es wird berichtet, dass 
die Mehrzahl der Phthisiker, die zwischen dem vierzigzigsten und 
fünfzigsten Jahr des Lebens erlegen waren, notorische Trinker waren. 
Alkoholismus vermag die Entwicklung der Lungenschwindsucht in 
zweifacher Weise zu begünstigen, einmal durch eine direkte Schädi- 
gung des Organismus, und zweitens und häufiger in indirekter Weise 
dadurch, dass es die moralischen und materiellen Zustände des Indi- 
viduums verschlimmert. 

Auch ein Trauma muss unter Umständen als ein die Ent- 
stehung von Lungenschwindsucht begünstigendes Moment aufgefasst 
werden, insofern es eine bestehende Infektion zum Aufflackern und 
zur Verschlimmerung bringen kann und durch seine herabstimmende 
Wirkung auf das Gemüt die Empfänglichkeit für die Krankheit 


6 Dr. Kurt Brandenburg, 


steigert, ein Umstand, der bei der Bestimmung einer Unfallrente 
zuweilen berúcksichtigt werden muss. 

Es sei an die von vielen Klinikern vertretene Anschauung er- 
innert, nach welcher der Keim der Tuberkulose oft bereits in der 
Kindheit oder doch in einer beträchtlich früheren Lebens- 
periode in den Kórper eingedrungen und in dem Lymph- 
system abgelagert ist, als jener Zeitspanne entspricht, in 
der sich die tuberkulösen Veränderungen in den Lungen- 
spitzen vorzugsweise entwickeln und die meist in das 
zweite und dritte Jahrzehnt fällt. 

Ist es bei dem Kranken zur Entwicklung von Spitzentuberkulose 
gekommen, so sind die Symptome der beginnenden Krank- 
heit und die Veränderungen in dem Allgemeinbefinden oft 
so gering und so unbestimmt und geben so wenige örtliche 
Beziehungen auf den Heerd der Erkrankung, dass darin eine 
wirkliche Schwierigkeit in der Erkennung der Krankheit gegeben 
ist und eine nicht kleine Gefahr die beginnende Lungentuberkulose 
zu übersehen. Die Schwierigkeit ist abhängig von der Empfindlichkeit 
und der Art auf krankmachende Reize zu reagiren, die bei dem 
Einzelnen nach Anlage und Temperament verschieden ist und durch 
die erstaunliche Indolenz mancher Kranker noch vermehrt wird. 

Bei ihrem schleichenden Einsetzen und angesichts der Un- 
möglichkeit, Zeit und Quelle der Infektion mit einiger Sicherheit zu 
bestimmen, muss der Beginn der Lungenschwindsucht nach dem 
Einsetzen der ersten vom Patienten wahrgenommenen Empfindungen 
in recht unzureichender Weise gerechnet werden. 

Die Störungen des Allgemeinbefindens, die vielfach als die 
ersten Anzeichen der drohenden Gefahr und des feindlichen Angriffs 
von den Kranken angegeben werden, haben nichts besonders 
charakteristisches und beziehen sich auf die verminderte Leistungs- 
fähigkeit, leichtere Ermüdbarkeit bei der Arbeit, die dem 
Kranken anstrengender als früher erscheint und zu deren Durch- 
führung er jetzt besonderer Willensanstrengung benötigt. Auf- 
fälliges Ruhebedürfnis und Mattigkeit, dauernde Appetit- 
losigkeit, Abmagerung, Kopfschmerzen und Glieder- 
schmerzen werden in wechselnder Zusammenstellung 
angegeben. 


Die Auswahl der Kranken ftir die Lungenheilstätten und die frühzeitige 7 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

Das Seelenleben des Kranken auf der ersten Stufe der 
Lungenschwindsucht hat noch nicht die eigentümlichen Züge, die 
sich nach längerem Bestande entwickeln und äussert sich in ver- 
schiedener Weise je nach der Anlage der Intelligenz und des Tempe- 
raments. Besonders bei jüngeren Personen im Anfange der Er- 
krankung fällt vielfach eine intellektuelle Erregtheit, eine über- 
triebene Geschäftigkeit auf, die in einem gewissen Gegensatz steht 
zu dem blassen und mageren Aussehen. Die moralischen Ver- 
änderungen in dieser Frist machen sich bemerkbar durch Reizbar- 
keit, Verdriesslichkeit und wohl auch einem gewissen selbst- 
süchtigen Hang zur augenblicklichen Befriedigung der Wünsche 
ohne Berücksichtigung der Folgen. Bei dem Zurücktreten der 
seelischen Hemmungen werden angeborene und erworbene Defekte 
übertrieben. Auch im Beginne der Lungenschwindsucht fällt bis- 
weilen die Kritiklosigkeit in den Beobachtungen des Kranken über 
die eigene Krankheit auf, dessen Denken nicht geregelt erscheint, 
sobald es sich auf den eigenen Zustand bezieht, so dass offenbare 
Lungenerscheinungen als vorübergehende Störungen andrer Organe 
oder als vorübergehende Indisposition gedeutet werden. 

Fast jeder Phthisiker hat nervöse Störungen oder 
wenigstens krankhafte Erscheinungen, bei denen die Vermittelung des 
Nervensystems eine vornehmliche und wichtige Rolle spielen. 

Hierher gehören gewisse Sympathikus- und Vagus-Symp- 
tome. Als ein seltenes Vorkommnis wird die Erweiterung der 
Pupille auf der erkrankten Seite beobachtet und als Irritation des 
Sympathikus gedeutet. In diesem Zusammenhange werden aufgefasst 
werden müssen die Klagen über Herzklopfen und die Ver- 
änderlichkeit der Herzthätigkeit ohne wesentliche Ursache 
oder bei geringfügiger Veranlassung und die häufig dauernde Be- 
schleunigung des Pulses. 

Besonderheiten in der Innervation der Hautgefässe machen 
sich zuweilen in einer leichten Cyanose auch bei beginnender 
Phthise und vielfach in einer auffallend blassen und zarten 
Farbe der Hautdecken bemerkbar, ohne dass hierbei gleich- 
zeitig eine anämische Blutbeschaffenheit nachweisbar ist. Die blasse 
Hautfarbe kann eine einfache Anämie oder Chlorose vortäuschen. 
Besonders bei jungen Mädchen entwickelt sich während des ersten 


8 Dr. Kurt Brandenburg, 


Krankheitsverlaufs ein Bild, das an Chlorose erinnert mit den 
Klagen über Mattigkeit, Herzklopfen und Verdauungsstörungen. Doch 
die Bestimmung des Körpergewichtes zeigt bei unseren 
Kranken die fortschreitende Abmagerung an, auch sind die 
Menstruationsstörungen meist gering und die anämischen Geräusche 
weniger ausgesprochen. Die Blutveränderungen geben keine brauch- 
baren Unterscheidungsmerkmale, doch soll im Gegensatz zur Chlorose 
der arterielle Blutdruck öfter niedrig gefunden worden sein. 

Die Neigung zu Schweissen weist nicht selten bereits auf 
leichte Fieberbewegungen oder doch wenigstens gesteigerte 
Wärmebildung hin. Auch die Klage über schlechten, unruhigen 
und unterbrochenen Schlaf des Nachts, der Morgens nicht 
das Gefühl des Gestärktseins, sondern eine Abgespanntheit hinterlässt, 
wird in der gleichen Weise gedeutet werden müssen. Man sollte bei 
blassen Mädchen mit grossem Schlafbedürfnis und langem 
und ungestörtem Nachtschlaf eher an Chlorose, und bei 
mangelhaftem und gestörtem Schlaf eher an Phthise denken. 

Die Kranken in der Frühperiode sind oft ausgezeichnet durch 
die Schwankungen in ihrer Körperwärme, doch ist die 
Labilität der Temperatur nicht so eigentümlich für diesen Zustand, 
dass sie nicht auch oft bei neuropathischen, bei blutarmen und bei 
fettleibigen Leuten angetroffen würde. Auffällig niedrige 
Morgentemperaturen sind auf Lungenschwindsucht immerhin ver- 
dächtig, ebenso häufige und anhaltende Erhöhungen der 
Körperwärme um mehr als einen Grad nach geringen 
Körperanstrengungen, nach einem Spaziergang, nach den Haupt- 
mahlzeiten oder auch vor dem Auftreten der Menses. 

Auch die Störungen an den Verdauungsorganen werden 
uns vielfach in einem nervösen Zusammenhange gedacht verständlich, 
und für die verminderte Appetenz, für die Störung des wichtigen 
Regulators unseres Nahrungsbedürfnisses, des Appetites, 
für den Widerwillen gegen gewisse Nahrungsmittel, für die Uebelkeit 
und das Erbrechen, für Magenschmerzen, die unabhänging sind von 
der Art der Speisen und von der Nahrungsaufnahme überhaupt 
lassen sich objektiv nachweisbare Veränderungen ebenso wenig aus 
findig machen, wie für die Neigung zu Durchfällen oder zu Verstopfung. 

Von den krankhaften Erscheinungen, welche auf die Atmungs- 


Die Auswahl der Kranken, für die Lungenheilstátten und die frühzeitige 9 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

organe hinweisen und von unseren Kranken vielfach erst auf 
besondere Nachforschungen hin angegeben werden, sind von einiger 
Wichtigkeit das Gefühl von Druck auf der Brust, Seiten- 
stechen auf einer Seite oder zwischen den Schultern, 
Kurzatmigkeit nach geringeren Körperanstrengungen, 
und oft nur geringer, kaum beachteter Husten mit keinem oder 
spärlichem meist schleimigem, weisslichem oder grauem zähem Auswurf. 
Häufig sind Schnupfen, Behinderung der Nasenatmung und Neigung 
zu Bronchialkatarrhen unter den Angaben des Kranken, aber viel 
eher führt den Kranken zum Arzt eine länger anhaltende Heiserkeit, 
die der gewöhnlichen Behandlung nicht weichen will und ganz 
besonders das Auftreten von Blut im Auswurf. Hämoptoe 
in wechselndem, aber meist geringem Grade und gewöhnlieh wiederholt 
auftretend, wird zum Mindesten von einem Drittel der Kranken mit 
beginnender Lungenschwindsucht als ein früh auftretendes Zeichen 
angegeben und ist dem Kranken häufig ein in seinen Folgen wohl- 
thätiges Alarmsignal. Es macht ihn zuerst auf sein Leiden in 
nachdrücklieher Weise aufmerksam und gefügig gegenüber der ein- 
greifenden Änderung in der Lebensführung, die für eine erfolgreiche 
Behandlung die Grundlage ist. 

Der Husten bei der beginnenden Lungentuberkulose 
tritt nach der Schilderung vieler Kranker vorwiegend am Abend 
beim Niederlegen auf und fördert zumeist keinen Auswurf. Der 
vorzugsweise morgendliche Husten scheint im ganzen mehr einer 
späteren Krankheitsperiode anzugehören. Man hat das Husten abends 
beim Schlafenlegen erklärt aus den Änderungen in der Blut- und 
Luftzirkulation des Lungengewebes bei dem Übergang aus der auf- 
rechten in die liegende Körperhaltung. Das Anwachsen der aus- 
dehnenden Kraft in den Blutgefässen und die Verminderung des 
Luftgehaltes des Lungenparenchyms in Folge des Niederlegens schafft 
eine Gleichgewichtsstörung, die von den Gesunden leicht überwunden, 
aber von den Lungenschwindsüchtigen als Völle und Druck störend 
empfunden wird und den Husten auslöst. 

Bei nervösen blassen Individuen ohne Lungenveränderungen, 
wie des öfteren bei bleichsüchtigen Mädchen, tritt der Husten vor- 
wiegend am Tage und meist in der Form des Reflexhustens auf. 

Veränderungen am Rachen und Kehlkopf fehlen auf 


10 Dr. Kurt Brandenburg, 


der ersten Krankheitsstufe selten gänzlich. Oft werden 
ältere chronische entzündliche Zustände an der Schleimhaut der 
hinteren Rachenwand, Verdickungen, schleimige Beläge, follikuläre 
Schwellungen gefunden. Im Gegensatz zu der blassen Gaumen- 
schleimhaut fällt zuweilen eine scharf umschriebene Rötung längs 
der Gaumenbögen auf. 

In manchen Fällen ist eine geringe, aber hartnäckige und an- 
haltende Heiserkeit das erste von dem Kranken bemerkte Symptom 
seiner Krankheit. Bei der Betrachtung des Kehlkopfs ist der Ein- 
druck zunächst der einer einfachen chronischen Laryngitis, doch 
sind einige diagnostische Merkmale bereits im Anfange recht be- 
achtenswert und das ist die vorwiegende Einseitigkeit und 
Begrenztheit der Veränderungen. Die Entzündung ist in den 
ausgesprochenen Fällen überwiegend einseitig und nur das eine 
Stimmband, gewöhnlicher ein wahres, ist gerötet und verdickt. 
Die Beweglichkeit der Stimmbänder und ihre Spannung ist zuweilen 
etwas herabgesetzt. Die auf die Hinterwand des Kehlkopfs, 
auf die regio interarythenoidea beschränkten Vorgänge stellen sich 
nicht selten als hahnenkammartige fungöse Erhabenheiten dar, und 
werden besonders bei tiefer Einatmung gut sichtbar, in anderen 
Fällen mehr als gleichartige Verdickungen der ganzen Vorderfläche 
der hinteren Kehlkopfswand, während der übrige Kehlkopf an- 
scheinend nicht verändert ist. Die Kranken kommen sich vollkommen 
gesund vor und klagen nur die Empfindung eines drückenden 
Hindernisses im Halse und keinerlei Beschwerde, die auf eine 
Lungenerkrankung weist. Wenn auch ähnlich aussehende, an eine 
tuberkulöse Infiltration der Hinterwand erinnernde Veränderungen 
auch bei lungengesunden Leuten hie und da angetroffen werden, 
so hat uns der Befund doch in vielen Fällen den Anlass zu einer 
Untersuchung der Lungenspitzen gegeben und damit zur Er- 
kennung einer beginnenden Infiltration der Lungenspitzen geführt. 

Es sei noch eines selteneren Befundes gedacht, der eine ge- 
wisse Bedeutung als Frühsymptom beanspruchen darf, das ist das 
Auftreten von Eiweiss im Urin bei den Kranken zu einer 
Zeit, wo Lungenerscheinungen noch gar nicht oder in 
sanz geringem Masse nachweisbar sind. Wer auf diese 
prämonitorische Albuminurie achtet, wird von Zeit zu Zeit jugend- 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 11 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

lichen Schwindsüchtigen im Beginne ihres Leidens begegnen, bei 
denen zuweilen schon seit mehreren Jahren dauernd oder vorüber- 
gehend kleine Mengen Eiweiss im Urin gefunden worden sind, ohne 
dass sich bei diesen Leuten im übrigen weder nach der Menge von 
Eiweiss und der täglichen Urinmenge noch nach dem Zustande des 
Gefässsystems eines der klinischen Glieder der Nephritis entwickelt 
hätte Es sind diese Beobachtungen durchaus nicht so selten, als 
dass man sich in dem gegebenen Fall nicht daran erinnern sollte, 
dass eine mässige Eiweissausscheidung im Urin bei blassen 
jugendlichen Personen und ohne erkennbare Veranlassung wie 
vorausgegangene stärkere Muskelanstrengungen oder Anginaerkran- 
kungen ein verdächtiges Zeichen ist und zur genauen Unter- 
suchung der Lungenspitzen auffordert. 

Wir beginnen die Untersuchung unseres Kranken, der bis zum 
Gürtel entkleidet vor uns steht, mit der Inspektion und Pal- 
pation, und richten die Aufmerksamkeit bei der Betrachtung nach 
zwei Richtungen hin. Wir sammeln eine Reihe von Einzel- 
beobachtungen, die wenn auch für sich allein vieldeutig doch im 
Zusammenhange für die ‚Erkennung der Krankheit nutzbar sind, 
und ferner suchen wir nach Abweichungen, die geeignet sein 
könnten, die Gewinnung und Deutung der Ergebnisse der Perkussion 
und Auskultation zu verändern. 

Der allgemeine Ernährungszustand, der Fett- und Muskel- 
bestand giebt einen Anhalt für die Beurteilung der derzeitigen Stoff- 
wechselbilanz und der Hilfskräfte des -Organismus. Ungleich- 
mässigkeit in der Entwickelung der Muskeln über beiden 
Schultern, die sich im Gefolge einer längeren einseitigen Belastung 
einer Seite bei gewissen Berufen einzustellen pflegen, müssen in 
Rücksicht auf die vergleichende Perkussion der beiden Lungen 
ebenso beachtet werden, wie Verkrümmungen der Wirbel- 
säule nach einer Seite, wodurch die an den Wirbeln aufgehängten 
Rippen und damit auch die beiden Thoraxhälften unsymmetrisch 
verzogen und verbildet werden. Es wird übrigens angegeben, dass 
bei Phthisikern sich häufiger starke Kopfbehaarung und rotes Bart- 
und Achsel-Haar finden soll. Die Neigung zur Schweissbildung 
fällt an der Haut besonders in der Achselhöhle auf und im Zu- 
sammenhange damit steht der häufige Befund von Pityriasis versicolor. 


12 Dr. Kurt Brandenburg, 


Die Lymphdrüsenvergrösserungen am Halse und am Nacken 
verdienen eine gewisse Beachtung, wenn sie auch keinen Hinweis 
auf die vorzugsweise erkrankte Spitze liefern. 

Abweichungen und Ernährungsstörungen an den tieferen Gewebs- 
teilen, den Knochen und Muskeln, entwickeln sich erst nach längerer 
Krankheitsdauer, wie die kolbigen Verdickungen der Endphalangen, 
die Trommelschlägelfinger und der im Verhältnis zur Länge 
auffällig schmale und flache Brustkorb mit weiten Zwischen- 
rippenräumen, vorspringenden Brustbeinwinkel, vertieften Schlüssel- 
beingruben und abstehenden Schulterblättern. 

Schon auf der ersten Stufe der Krankheit, bevor es zu einer 
grösseren Lungeninfiltration und ohne dass es zu Verwachsungen 
und Schwarten am Brustfell gekommen ist, bestehen vielfach bereits 
Ungleichheiten in der Ausdehnung des Brustkorbs auf 
beiden Seiten während der Atmung. Bei der gewöhnlichen 
ruhigen Atmung pflegt in der Häufigkeit, Regelmässigkeit und Tiefe 
meist keine Besonderheit aufzufallen. Aber die Betrachtung während 
einer tiefen Einatmung vorzüglich beim Blick von oben und hinten 
auf den Brustumfang des vor uns sitzenden Kranken zeigt nicht selten 
ein Zurückbleiben der einen Seite in ihren oberen Teilen, 
welche sich bei der weiteren Untersuchung als die erkrankte erweist. 
Die Veränderungen in der Lungenspitze sind aber nach den An- 
gaben der Perkussion und Auskultation zuweilen vielfach so geringe, 
dass sie für die Erklärung der Ungleichheit in der Atmung durch 
mechanische Behinderung nicht ausreichen, sondern eher eine wohl 
unwillkürliche Schonung der kranken Seite und dadurch eine ver- 
ringerte Aktion der Atemmuskeln wahrscheinlich machen. 

DiePerkussion der Lungenspitzen ist wohl der schwierigste 
Teil der gesamten Perkussionslehre und setzt in besonderer Weise 
eine Einarbeitung in die für dieses begrenzte und doch so wichtige 
Feld notwendigen kleinen Kunstgriffe voraus, die für die Überwindung 
der nicht geringen Schwierigkeiten erforderlich sind. Bei geeigneter 
Methodik gelingt es auch kleinere Heerde in den Spitzen mit ge- 
nügender Deutlichkeit nachzuweisen. Naturgemäss muss erst in 
einer gewissen Ausdehnung das lufthaltige Lungenge- 
webe durch dichtere Massen ersetzt werden, bis die 
neugebildeten physikalischen Verhältnisse den Klopf- 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 13 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 
schall so stark verändern, dass das Ohr den Unterschied 
bemerkt. Oestreich berichtet, dass es ihm gelungen sei, bei der 
Perkussion von Leichen noch einen einzelnen Heerd von Kirsch- 
grösse in der Spitze deutlich zu erkennen und Heerde von der 
Grösse eines Kirschkernes bis einer Erbse, wenn mehrere Heerde 
dieser Grösse in einer Spitze gleichzeitig waren. Durch möglichste 
Kontrolle der eigenen Ergebnisse, durch wiederholte Perkussion an 
einem Falle, durch Sektionen, die über die Grenzen unseres Könnens 
belehren, muss jeder einzelne suchen, die Feinheit seines Tastgefühls 
und die Schärfe seines Ohres auszubilden und durch Übung die 
von den Vätern ererbte Methodik zu erwerben, um sie zu besitzen 

Es dürfte sich für die Perkussion der Lungenspitzen empfehlen, 
sich von Hammer und Plessimeter unabhängig zu machen, deren 
Gebrauch durch die besonderen örtlichen Verhältnisse in den Ober- 
schlüsselbein- und Obergrätengruben erschwert wird. Uebrigens dürfte es 
kaum gelingen, diese Methode zu der gleichen Feinheit in der Dar- 
stellung von Schallunterschieden auszubilden, wie dies bei der 
leisen Fingerperkussion möglich ist. Die Fingerperkussion 
gewährt zu dem noch den Vorteil, den Tastsinn, das Gefühl des 
Widerstandes und der verminderten elastischen Schwingungsfähigkeit 
beim tastenden Klopfen über den erkrankten Teilen, als wertvolles 
Erkennungsmittel auszunutzen und so zuweilen Verdichtungsheerde 
in der einen Spitze durch das vermehrte Resistenzgefühl deutlicher 
zur Wahrnehmung zu bringen als durch die leichte Dämpfung des 
Perkussionsschalles. 

Besonders bei einer doppelseitigen Spitzevinfiltration ist das 
Fehlen des eigentümlichen elastischen Eindruckes, den das tastende 
Klopfen über gesunden Lungenspitzen giebt und ein bemerkbares 
Gefühl des Widerstandes beim Perkussieren manchmal nicht ohne 
Wert für die Erkennung des Zustandes. 

Bei der Perkussion der Lungenspitzen ist es von Wichtigkeit, 
den Kranken in die Rumpfhaltung und Schulterstellung zu bringen, 
bei der die Schallunterschiede am besten zu erhalten sind. Die 
Körperhaltung pflegt am ungezwungensten und die Ent- 
spannung der Muskeln am vollständigsten zu sein beim 
aufrechten Stehen in zwangloser Haltung. Mancher wird es 
vorziehen, den frei auf dem Stuhle sitzenden Patienten in 


14 Dr. Kurt Brandenburg, 


die geeignete und bequeme Haltung fiir die Untersuchung zu bringen. 
Bei der Perkussion der hinteren oberen Partien werden die 
Schultern etwas nach vorn und unten gedreht und der 
Kopf des Kranken ein wenig nach vorn gebeugt, um dieRücken- 
und Schulternmuskeln möglichst zu erschlaffen und die hintere 
Fläche der Spitzen möglichst zugänglich für die Schallerschütterung 
zu machen. Dadurch gelingt es bis zu einem gewissen Grade, die 
Schwierigkeit zu überwinden, die bei starker oder bei ungleich- 
mässiger Entwicklung des Muskelpolsters am Schultergürtel für die 
Perkussion dieser wichtigen Stelle entstehen. Nachdem durch die 
Bestimmung der Lungenlebergrenze eine Auskunft über den 
Zwerchfellstand erhalten ist, wird durch die Feststellung der hinteren 
unteren Lungengrenzen die Vorfrage erledigt, ob die Pleura- 
säcke frei sind und die unteren Lungenlappen hellen gleichen 
Schall geben und frei von Veränderungen sind. Kleine Ergüsse der 
Pleura machen sich am frühesten bemerkbar durch eine Dämpfung in 
dem Winkel neben der Wirbelsäule Rückstände älterer Pleuraerkran- 
kungen, Schwartenbildungen oder Lungeninfiltrate an dem Unterlappen 
verändern die physikalischen Verhältnisse der Lungenspitze, ihren 
Luftgehalt und die Gewebsspannung und damit ihren Klopfschall. 

Die diagnostische Verwertung der Lungenspitzenperkussion be- 
ruht auf den Umstand, dass der Schall über den oberen Teilen der 
Oberlappen vorn und hinten bei gleichmässigem Körperbau und 
gleichmässiger Körperhaltung fast ganz gleich klingt, wenn das Lungen- 
gewebe frei von krankhaften Veränderungen ist. Die physikalische 
Diagnose der beginnenden Lungenschwindsucht stützt sich 
auf die Thatsache, dass in der Mehrzahl der Fälle die Ent- 
wicklung der tuberkulösen.Gewebsveränderungen einsetzt 
an den obersten Teilen des einen Oberlappens, in der 
einen Lungenspitze und zunächst in ihrem hinteren Quer- 
schnitt. 

Die Erklärung für das bevorzugte Befallenwerden der 
Spitzen suchen viele darin, dass die Krankheitserreger auf dem 
Wege der Staubeinatmung oder durch Tröpfcheninfektion in die 
Luftwege geraten und sich an denjenigen Orten niederschlagen, 
an denen der Luftwechsel am wenigsten ausgiebig ist, und die Be- 
dingungen für ihr Haften auf der Schleimhaut und für ihre An- 


. Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 15 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

siedelung und Vermehrung im Gewebe dıe günstigsten sind. Dass 

die Lungenspitzen in der Ausgiebigkeit der Lüftung bei der Atmung 

und in ihrer Ausdehnung und Blutversorgung gegenüber der 

übrigen Lunge benachtheiligt sind, dafür dürften Bowie Beobachtungen 

sprechen. 

Nach Birch-Hirschfeld beginnt die Lungentuberkulose in der 
Mehrzahl der Fälle als primäre Bronchialkuberkulose in den 
Bronchien 3. bis 5. Ordnung vorwiegend in der hinteren Hälfte einer 
Lungenspitze und im Verzweigungsgebiet des von ihm bronchus apicalis 
posterior genannten Astes; hier findet sich auch nicht selten eine 
Verkümmerung in der Entwickelung der Bronchialäste 
mit Abweichungen vom normalen Verlauf, die vielleicht in einer 
Beziehung steht zu der Schmorl’schen Furche, die sich in vielen 
Fällen findet, nämlich einer etwa 1 cm. breiten Einsenkung, die 
etwa 1—2 cm. unterhalb der höchsten Erhebung die Lungenspitze 
von hinten und oben, nach vorn und unten zu umgreift Die 
Furchenbildung entsteht durch das Vorspringen der ersten Rippe in 
die Thoraxkuppel. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie oft zu- 
sammenhängt mit der bei Phthisikern nicht seltenen frühzeitigen 
Verknöcherung des ersten Rippenknorpels und der dadurch 
verursachten Verkürzung des knöchernen Abschnittes und Ver- 
engerung des oberen Thoraxraumes, welchen Zuständen 
Freund eine Bedeutung zuschreibt, während Rothschild auf die 
Verknöcherung der Verbindung zwischen Handgriff und Körper des 
Brustbeins Wert legt. Durch derartige raumbeengende Ver- 
änderungen wird die respiratorische Leistungsfähigkeit 
der Lungenspitze geschädigt, die noch durch die steile und 
der trachea entgegengesetzte Verlaufsrichtung ihres bronchus geignete 
Bedingungen zur Absetzung der mit der eingeatmeten Luft zuge- 
führten Keime abgiebt. 

Die Vorstellung, dass die tuberkulöse Spitzenerkrankung auf 
dem einfachen Wege der Einatmung der Keime und der 
Ansiedelung dieser Keime an den geeigneten Stellen in den Luft- 
wegen zu Stande komnit, ist nicht ausreichend zur Erklärung 
mancher klinischen und anatomischen Beobachtungen. In 
vielen Fällen kann man sich der Auffassung von Volland nicht ver- 
schliessen, dass der Keim der Tuberkulose schon längere Zeit in: 


16 Dr. Kurt Brandenburg, 


Körper haust, bevor die Erkrankung durch unzweideutige Zeichen 
an den Lungenspitzen erkenubar wird, und dass der Keim häufig 
schon im Kindesalter aufgenommen wird und durch 1—2 Jahrzehnte 
verborgen liegen bleibt oder nur in einzelnen kurzen markierten 
Ausbrüchen bis um das beginnende Mannesalter sich bemerkbar macht. 
Dahin gehören Drüsenschwellungen und Drüsenvereiterungen 
am Halse, die auffällige Narben zurücklassen, öftere Rippenfell- 
entzündungen, anscheinend nach Erkältungen und gutartig verlaufend 
und Neigung zu Katarrhen. Solche Beobachtungen sprechen für die 
Auffassung von dem hämatogenen Ursprung der Lungen- 
spitzentuberkulose im Sinne von Aufrecht, Baumgarten 
und Ribbert. Beachtenswert ist jedenfalls die Angabe, dass bei den 
Autopsien von Lungentuberkulose, die sich offenbar erst seit kürzerer 
Zeit entwickelt hatte und als Nebenbefund angetroffen wurde, 
nicht selten käsige Heerde in den Bonchialdrüsen gefunden wurden, 
die ohne weiteres als wesentlich älter als der Lungenheerd an- 
gesprochen werden mussten. 

Die Tuberkulose der Lungenspitzen entwickelt sich in 
vielen Fällen zunächst als Bronchialschleimhauttuberkulose, 
wobei die letzten Bronchialverzweigungen und die Alveolargänge bevor- 
zugt zu sein scheinen, in anderen Fällen zuerst mit Knötchen- 
bildung im Lungengewebe selbst in Form interstitieller miliarer 
Tuberkel. Von den erstgebildeten Heerden in der Lunge verbreitet 
sich die tuberkulöse Erkrankung auf die Alveolen, die durch die 
käsige Pneumomie ausgefüllt werden und auf die Lymphkanäle und 
von der Bronchialwand auf das peribronchiale Gewebe, stets aber 
die Luftwege verengernd bis zur völligen Verlegung 
und den Luftgehalt des Gewebes vermindernd. 

Auch in dem frühen Stadium der Erkrankung werden 
neben den käsigen Veränderungen vor allem auch fibröse 
Prozesse und oft diese allein beobachtet, und die schiefrige 
Induration erscheint so fast als ein primärer Vorgang. 
Nehmen wir dazu, dass im Gebiet der erkrankten Spitze die Pleura- 
blätter gewöhnlich verwachsen und bis zur Bildung dickerer fibröser 
schwartiger Massen verändert sind, so folgt für uns aus den ge- 
schilderten Vorgängen das wichtige Ergebnis, dass im Früh- 
stadium der Lungentuberkulose der physikalische Zustand 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 17 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

des Gewebes in den Lungenspitzen nach zwei Richtungen 

hin verändert wird, die beide durch Perkussion nach- 

zuweisen sind, als Verdichtung und als Verkleinerung 

der Spitze. 

Je nach dem Grade, in dem der Luftgehalt des Gewebes 
auf der kranken Seite vermindert wird, erscheint der Schall 
dumpfer und leerer als auf der gesunden Seite, wo ein kleiner 
Heerd nicht nur an sich den Schall dämpft, sondern ihn auch dadurch 
verändert, dass er die Spannung des Gewebes in der Umgebung 
herabsetzt. Durch die Entwicklung der käsigen und fibrósen Heerde 
wird die Funktion des Lungenteiles gestört und die Ausdehnung 
und Luftfüllung bei der Einatmung beschränkt. Daher 
giebt die Vergleichung der funktionellen Leistung beider 
Spitzen untereinander mit Hilfe der Perkussion eine wesent- 
liche Erleichterung für die Erkennung des Zustandes, wie ich bereits ge- 
legentlich eines vor 2 Jahren gehaltenen Vortrages demonstrierte. Denn 
die Verschiedenheit des Luftgehaltes beider Spitzen tritt 
besonders bei der vergleichenden Perkussion in tiefer 
Einatmungsstellung des Brustkorbes scharf hervor. Man 
sollte die vergleichende Prüfung der Luftfüllung beider 
Spitzen auf der Höhe einer Einatmung umsoweniger 
unterlassen, als es durch diese Methode nicht selten 
gelingt, einen bei gewöhnlicher Atmung nur schwachen 
Schallunterschied überraschend scharf hervortreten 
zu lassen. 

Es mag hier erwähnt werden, dass in selteneren Fällen die 
Schalldifferenz über den Spitzen deutlicher bei der Perkussion 
während der Ausatmung wurde und der Schall über der kranken 
Spitze dabei nicht selten einen tympanitischen Beiklang erhielt, wie 
auch überhaupt im Frühstadium in manchen Fällen über der kranken 
Spitze der Schall leicht klanghaltiger und höher gefunden wird. 

Bei der Lungenspitzentuberkulose wird in den meisten Fällen 
der Schallunterschied über den Spitzen während einer tiefen Ein- 
atmung nicht unerheblich verstärkt, weil das Lungengewebe der 
erkrankten Spitze weniger mit Luft gefüllt wird als das der ge- 
sunden oder leichter erkrankten. Für diese Thatsache werden wir 


zunächst die anatomischen Veränderungen in der tuberkulös erkrankten 
9 


18 Dr. Kurt Brandenburg, 


Lunge verantwortlich machen, welche die Luftfüllung beschränken, 
wie die Verengerung und Verlegung der Bronchiolen, die Verkleine- 
rung der atmenden Fläche durch käsige Anfüllung der Alevolen 
und die Raumbeschränkung der Alveolen durch die Entwicklung 
interstitieller Heerde und schwieliger fibröser Veränderungen. Aber 
wir werden uns daran erinnern, dass in manchen Fällen im Beginne 
der Erkrankung der obere Theil des Brustkorbes auf der kranken Seite bei 
tiefer Atmung erheblich zuriickbleibt. Man erhält den Eindruck, 
als ob die erkrankte Spitze von dem Kranken ohne bewusste Absicht bei 
der Atmung geschont wird und die Muskeln des Schultergürtels, 
die als Hilfsmuskeln in Thätigkeit treten, ungenügend benutzt 
werden, besonders die Musculi scaleni, welche die ersten Rippen 
heben und durch deren Einstellung den Zwischenrippenmuskeln den 
festen Angriffspunkt geben und den durch die Bewegung des Zwerch- 
fells ausgeübten Zugkräften das Gegengewicht halten. Interessant 
ist in dieser Hinsicht das Verhalten des Schalles über den Lungen- 
spitzen während der tiefen Atmung bei Kranken mit progressiver 
Muskelatrophie und Schwund der Schultermuskeln. Hier 
wird nämlich der Schall über beiden Spitzen auf der Höhe 
einer tiefen Einatmung leer und dumpf. Dieser merkwürdige 
Umstand erklärt sich offenbar dadurch, dass die antagonistische Thätig- 
keit der Erweiterer des oberen Brustkorbes ausfällt und durch den Zug 
des Zwerchfelles die Lungen in ihren unteren Teilen erweitert und ver- 
zogen werden, während sich der Luftgehalt der Spitzen vermindert. 
Bei unseren Fällen von beginnender Phthise, in denen die Hilfs- 
muskeln auf der kranken Seite ungenügend benutzt werden und der 
Luftgehalt bei tiefer Atmung eine geringere Zunahme zeigt als auf 
der gesunden Seite, dürfte man sich vielleicht auch an den ge- 
schilderten Vorgang bei der Muskelatrophie erinnern. 

Der Nachweis einer Schallverschiedenheit über 
beiden Spitzen in der Obergrátengrube und in der 
Oberschlüsselbeingrube, einer Schalldifferenz, die auf 
der Höhe einer tiefen Einatmung zunimmt, ist die eine 
‚Aufgabe, die von der Perkussion geleistet werden muss. 

Die andere Aufgabe, der die Perkussion suchen muss gerecht 
zu werden, ist der Nachweis einer Verkleinerung des Ge- 
bietes des hellen Schalles über der kranken Lungenspitze: 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstátten und die frühzeitige 19 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

Auf die Wichtigkeit einer genauen perkutorischen Um- 
grenzung der Lungenspitzen für die Frühdiagnose der Lungen- 
schwindsucht hat Krönig wiederholt und nachdrücklich hingewiesen. 

Sucht man den hellen Schall, den man auf der Schulter über 
den Lungenspitzen erhält, perkutorisch abzugrenzen und aufzuzeichnen, 
so entsteht bekanntlich das Bild eines breiten Bandes, das auf dem 
höchsten Punkte am schmalsten, in der oberen Gräten- und Schlüssel- 
beingrube sich verbreiternd in den hellen Lungenschall übergeht, 
als Projektionsbild der kuppelfórmigen Lungenspitze auf die Haut- 
decke. Die Grenzen dieser breiten über die Schultern laufenden 
Bänder liegen annähernd in gleicher Höhe und symmetrisch auf 
beiden Seiten in ein wenig nach aussen concaven Linien und treten 
bei leiser, tastender Perkussion hinlänglich scharf gegen den leeren 
Schall der Umgebung heraus. Auch bei dickem Muskelpolster gelingt 
es, über dem besonders wichtigen hinteren Umfange scharfe Grenzen 
zu erhalten, wenn bei aufrechtem Stehen des Untersuchten die 
Schultern nach unten und vorn gedreht werden, und wenn man zu 
gleichmässiger und ausgiebiger Atmung auffordert. 

Man überzeugt sich unschwer, dass bei tuberkulöser Erkrankung 
der einen Spitze ihre inneren oder äusseren Schallgrenzen nicht so 
scharf zu perkutieren sind wie auf der anderen Seite, und dass sie 
nach einwärts verzogen erscheinen, so dass der bandartige helle 
Schallbezirk verschmälert erscheint. Durch diesen Gang 
der Untersuchung gelingt es, die Verkleinerung der Lungenspitze 
in übersichtlicher Weise darzustellen. 

Gewöhnlich macht sich der tiefere Stand der oberen 
Lungengrenzen, besonders an der inneren Begrenzungs- 
linie, also in der Gegend am Ansatz und zur Seite des Nackens, am 
deutlichsten bemerkbar, doch erscheint in anderen Fällen mehr die 
äussere Grenze eingeschränkt, zumal in dem äusseren Drittel der 
Obergrätengrube. Auch ergiebt sich in diesen Fällen gewöhnlich, 
dass eine tiefe Finatmung die Grenzen nicht wesentlich 
verschiebt, während sich über der gesunden Spitze das bandartige 
heile Schallfeld auf der inneren und äusseren Seite dabei deutlich 
und ausgiebig verbreitert. 

Die anatomische Betrachtung lehrte uns, auch in der ersten 
Entwickelung der Lungentuberkulose, die Neigung zu bindegewebigen 

os 


20 l Dr. Kurt Brandenburg, 


Verdichtungen und Schrumpfungen, die bei den chronisch werlau- 
fenden Fällen vorwiegend angetroffen werden und bei den acuter sich 
entwickelnden neben den käsigen Heerden nicht vermisst werden 
und gewissermassen eine Heilungstendenz des Prozesses anzeigen. 

Die Folge dieser Vorgänge ist eine Schrumpfung der Spitze, 
welche in einer Verkleinerung des Gebietes des hellen Lungen- 
schalles ihren perkutorischen Ausdruck findet, wobei nicht nur die 
pleuritischen Verwachsungen und Verdickungen und die peripher 
gelegenen Lungenheerde sich geltend machen, sondern auch mehr 
central gelegene Heerde durch narbige Einziehungen wohl im Stande 
sind, das Volumen der Spitze zu verkleinern. 

Es muss als ein seltenes Vorkommnis bezeichnet 
werden, dass Lungenspitzen, die nach den ausgeführten 
beiden Richtungen hin perkutorisch geprüft wurden 
und keine Abweichungen in ihrem Verhalten zeigten, 
beider Auskultation Unterschiedein der Atmung hatten, 
die durch ihre Einseitigkeit, ihre Dauerund ihre Be- 
schränktheit, auf die Spitze als verdächtig auf Tuber- 
 kulose angesprochen werden mussten, unter Ausschluss 
von acuten Infektionen oder Influenza ähnlichen 
Zuständen. Ofter begegnete uns das umgekehrte Verhalten, 
dass die Perkussion Veränderungen leichterer Art an einer Spitze 
wahrscheinlich machte, und dass die Auskultation keine besonderen 
Verschiedenbeiten und krankhafte Änderungen des Atemgeräusches 
entdecken liess. 

Andererseits verfügen wir über Fälle, wo die klinischen Er- 
scheinungen und die Klagen und Beschwerden der Kranken den 
Verdacht auf eine beginnende Lungentuberkulose erweckten, und 
wo bei der Perkussion bei gewöhnlicher und bei tiefer Atmung 
ein Schallunterschied über den Spitzen nicht gefunden werden konnte 
und die oberen Grenzen einen gleichmässigen übereinstimmenden Ver- 
lauf zeigten und die Auskultation in allen Teilen ein deutliches weiches 
vesikuläres Einatmungsgeräusch hören liess. Bei diesen Kranken 
nahmen wir zunächst von einer so eingreifenden Behandlung wie 
die Überführung in eine Lungenheilstätte Abstand, und die längere 
Beobachtung gab uns Recht und überzeugte uns und den Kranken 
von der Grundlosigkeit unserer Befürchtungen. Derartige Fälle pflegen 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 21 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 
in der Sprechstunde und in der Poliklinik heut zu Tage nicht ganz 
selten zu sein, da durch die lebhafte Diskussion der Heilstättenfrage 
in weiteren Kreisen des Volkes eine besondere Aufmerksamkeit der 
Lungentuberlose geschenkt wird und sogar eine gewisse Überängst- 
lichkeit vor dieser Krankheit erzeugt worden ist. 

Bei der Auskultation der Lungenspitzen ist es oft schwer 
eine klare und überzeugende Vorstellung von dem 
Atemgeräusch zu gewinnen, weil bei vielen Kranken der 
Luftwechsel auch bei Mitwirkung der Hilfsmuskeln in den Spitzen 
wenig ausgiebig ist, und zuweilen das Verständnis für die Aufgabe, 
gleichmässige, zweckentsprechende und nicht übertrieben heftige und 
geräuschvolle Atembewegungen auszuführen, in auffallender Weise 
mangelt. Es gelingt leichter ein brauchbares Atemgeräusch zu er- 
halten, wenn der Kranke während der Auskultation auf- 
recht steht, als wenn er auf dem Stuhl sitzt, oder gar wenn er 
sich im Bette befindet. Der Mensch hat beim aufrechten zwang- 
losen Stehen die Muskeln des Stammes und die Hilfsmuskeln der 
Atmung am vollkommensten in seiner Gewalt und das gegen- 
seitige Zusammenspiel des Zwerchfell und der Heber und Erweiterer 
des Brustkorbes, der Ausgleich der Druckschwankungen in der Brust- 
und in der Bauchhöhle geht glatter und gleichmässiger, ohne 
Hemmungen und ohne Absätze vor sich. Man kann sich vielfach 
beim vergleichenden Auskultieren im Sitzen und im Stehen hier- 
von überzeugen. Andererseits aber ist für den Arzt, der sich des 
einfachen Stethoskops bedient, die Untersuchung des auf dem Stuhle 
freisitzenden Kranken bequemer. 

Dem alten Hörrohr geben wir bei der Untersuchung der 
Lungenspitzen den Vorzug vor den neueren zur Auskultation 
empfohlenen Instrumenten, dem binauricularen Stethoskop und dem 
Bazzi-Bianchi’schen Phonendoskop, die uns bei zweifelhaften und 
schwierig zu deutenden Geräuschen, welche bei den beginnenden 
Spitzenerkrankungen so häufig sind, nicht die genügende Klarheit 
gaben. Doch wollen wir nicht bestreiten, dass eine gewisse Ge- 
wöhnung hierbei eine Rolle spielen mag. Jeder wird am besten 
mit dem Instrument arbeiten, das ihm vertraut ist, und das er be- 
herrscht. Wir haben den Eindruck, dass es mit den neueren In- 
strumenten nicht gelingt, über den Lungenspitzen die Abweichungen 


22 Dr. Kurt Brandenburg, 


des Atemgeráusches mit der gleichen Feinheit zu unterscheiden wie 
mit dem einfachen Hörrohr und täuschende Nebengeráusche mit der 
wünschenswerten Sicherheit auszuschliessen. 

Auch bei der Auskultation ist für die Beantwortung 
unsrer Fragen am ausgiebigsten das Feld über der hinteren 
Lungenspitze und das Gebiet der Obergrátengrube, wobei die 
Untersuchung bei der perkutorisch anscheinend gesunden Spitze zu 
beginnen hat. Danach werden die symmetrischen Stellen über 
den Schlüsselbeingruben untersucht. Man hat. in diesem Stadium 
Rasseln in den untersten Lungenteilen ringsum .am Brustkorb be- 
obachtet und als Grenzkatarrhe beschrieben. Doch pflegt für die 
unkomplizierte Lungentuberkulose in dem Frühstadium gerade das 
Fehlen pathologischer Geräusche über den übrigen Lungenteilen 
und besonders über den Unterlappen das gewöhnliche und charakte- 
ristische Verhalten zu sein. 

In erster Linie wertvoll ist der Nachweis einer Veränderung 
des Atemgeräusches über der einen Spitze. Das Geräusch 
bei der Einatmung ist zuweilen deutlich abgeschwächt 
und undeutlicher als über der anderen, und neben einem 
schwächeren Einatmungsgeräusch fällt ein hauchendes und ver- 
längertes Geräusch während der Ausatmung auf. Oder 
es findet sich ein unreines oder ein rauhes und verschärftes Ein- 
atmungsgeräusch für sich allein oder begleitet von einem deutlich 
rauhen, zuweilen durch seine Klangfarbe dem bronchialen sich 
näherndem Ausatmungsgeráusch. Es kommen hier im Frühstadium 
die verschiedensten Geräuschänderungen in der Atmung in den an- 
gedeuteten Richtungen in wechselnder Zusammenstellung und Stärke 
vor, doch ist das wesentliche immer der Nachweis einer Ver- 
schiedenheit über beiden Spitzen und die Abweichung von dem 
über der hellschallenden Spitze hörbaren reinen weichen vesikulären 
Schlürfen während der Inspiration. Schwieriger ist die Erkennung 
einer Atmungsänderung, wenn beide Spitzen erkrankt sind und hier 
kann nur eine auffällige Verschiedenheit von dem uns ungefähr ge- 
läufigen normalen Atemgeräusch zur Diagnose führen. Wir dürfen 
nicht vergessen, dass das Atemgeräusch über den Spitzen bei ver- 
schiedenen zweifellos gesunden Leuten, innerhalb weiter Grenzen, 
zwar immer als weiches inspiratorisches Schlürfen, aber verschieden 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstátten und die frühzeitige 23 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. ; 

laut und lang gehört wird, und bald von gar keinem, bald von 

einem leicht hauchenden Geräusch bei der Ausatmung begleitet wird. 

In den meisten Fällen gelingt es durch die Auskultation 
während der gleichmässig tiefenund etwas beschleunigten 
Atmung zur Klarheit über das Atmengeräusch der Spitzen zu kommen, in 
anderen Fällen fördert besser ein kurzes rasches energisches Atmen 
oder die Aufforderung an den Kranken so zu atmen, als wenn er 
durch eine Körperanstrengung ausser Atem gekommen wäre. Bei 
manchen Leuten ist das Atmen über den Spitzen so schwach und 
undeutlich, dass -es nur nach kurzem Aufhusten bei dem folgenden 
tiefen Atemzuge gelingt, eine Vorstellung von den Atemgeräuschen 
zu gewinnen. Die Bedeutung eines einigermassen sicheren 
Zeichens einer Lungentuberkulose gewinnt das über 
der einenSpitze deutlichnachgewiesene krankhaft ver- 
änderte Atemgeräusch vorzüglich dann, wenn es au 
der gleichen Stelle dauernd bei wiederholter Unter- 
suchung des Kranken nachgewiesen wird und sich 
gleichzeitig perkutorische Veränderungen regelmässig 
an dieser Spitze finden. 

Eine ruckweise und stossartige saccadierte Atmung wird häufig 
bei lungengesunden neuropathisch veranlagten und aufgeregten Mädchen 
und besonders bei Frauen mit schlaffen Bauchdecken angetroffen, 
und dadurch dessen pathognomonische Bedeutung vermindert. 
Übrigens trifft man es bei der Auskultation der Kranken im Sitzen 
häufiger als beim Stehen. 

Besonders bedeutsam ist für die Diagnose einer Spitzenstoss- 
erkrankung der Nachweis von Nebengeräuschen, die neben dem 
Atmengeräusch auf eine Spitze beschränkt gehört werden und für 
deren Entstehung Sekretmassen in den Bronchialästen vorausgesetzt 
werden müssen, die durch den Luftstrom in Bewegung gesetzt werden. 

In dem Frühstadium der Lungentuberkulose werden sie meist 
als spärliches oder reichlicheres feines Rasseln gehört, ge- 
wöhnlich während der Einatmung.  Reichlicheres gröberes oder 
klingendes Rasseln gehört in der Regel einer späteren Periode an. 
Doch ebenso wie der Auswurf im Beginne der Krankheit 
entweder gering ist oder gänzlich fehlt, so werden auch 
Rasselgeräusche häufig vermisst oder treten nur bei den 


94 Dr. Kurt Brandenburg, 


zeitweise auftretenden stárkeren katarrhalischen Ver- 
schlimmerungen auf, wie sie im Verlaufe der Phthise 
wiihrend des ersten Stadiums vielfach beobachtet werden 
um oft bei. einiger Schonung und geeigneter Lebensweise 
in kürzerer Zeit sich zurückzubilden. Man ist daher vielfach 
nur auf die Feststellung des veränderten Atemgeräusches 
angewiesen und darf den unzweideutigen und wiederholt an gleicher 
Stelle erbrachten Nachweis eines solchen in dem Bereich einer perku- 
torisch erkannten Schalldämpfung als das háufigere und auch wichtigere 
Auskultationsergebniss auffassen. Auch ein einfacher Katarrh der 
Bronchien kann die gleichen Rasselgeräusche hervorbringen, wenn 
auch der Umstand beachtet werden muss, dass sich hartnäckige 
Katarrhe in den Spitzen vielfach auf dem Boden eines in 
langsamem Fortschreiten begriffenen tuberkulösen Pro- 
cesses anzusiedeln pflegen. Wem besonders an dem Nachweis von 
Rasselgeräuschen über dem tuberkulösen Heerde gelegen ist, der 
mag den Versuch machen, durch eine kleine Jodkaligabe einen 
katarrhalischen Zustand in dem afficierten Gewebe, Schleimhaut- 
schwellung und reichlichere Sekretion hervorzurufen. Diese Methode 
ist zur sicheren Feststellung eines tuberkulösen Spitzenheerdes und 
zur Erlangung von Lungenauswurf früher von Sticker und neuerdings 
wieder von Dieudonné empfohlen worden. 

Kommt der Kranke gerade in dem Zustande einer stärkeren 
katarrhalischen Reizung mit gröberen katarrhalischen Erscheinungen 
und Rasselgeräuschen an der Stelle seines Dämpfungsheerdes zur 
Untersuchung, so wird dadurch die auskultatorische Diagnose er- 
leichter, doch wird man sich hüten müssen vor der Täuschung 
durch jene hartnäckigen Spitzenkatarrhe nicht tuberkulöser Natur, 
wie sie bei den Influenzaepidemien beschrieben worden sind. 

Bei einigen Kranken wird bei tiefen und langsamen Atemzügen 
Rasseln vermisst, und bei kurzem, schnellen und kräftigen Atmen 
hört man deutlich auf der kranken Seite die Verschärfung des 
'Atmengeräusches und feines Rasseln. Bei anderen wird erst bei 
der Auskultation während und nach einem leichten 
kurzen Aufhusten einiges spärliches Rasseln wahrgenommen. 

In den nicht seltenen Fällen, in denen die Lungentuberkulose 
vorwiegend mit der Entwicklung von bindegewebigen narbigen Ver- 


Die Auswahl der Kranken fúr die Lungenheilstätten und die frühzeitige 25 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 
dichtungen unter Zurücktreten der käsigen Veränderungen einsetzt, 
ist der Untersucher vorzugsweise auf den Nachweis der Schall- 
dämpfung und die Veränderung des „Atemgeräusches angewiesen, 
ohne Rasseln jemals zu finden. 


Am geeignetsten für die Auskultation ist eine mässig vertiefte 
Atmung nach dem costoabdominalen Typus, bei der einerseits das 
Atemgeräusch deutlich genug erzeugt wird, und andererseits die 
Excursionen des Brustkorbes möglichst gering sind, so dass die 
störenden Nebengeräusche durch Muskelcontractionen und 
Gelenkverschiebungen vermieden werden. 


«Bei mageren und muskelkräftigen Leuten hört man nicht selten 
Geräusche, die Ähnlichkeit mit trockenem, feinem und 
mittlerem Rasseln haben. Aber sie sind nicht so innig mit dem Atem- 
geräusch und vornehmlich mit dem Einatmungsgeräusch verbunden, 
wie die wahren Rasselgeráusche. Auch sind sie gewöhnlich über 
beiden Lungenspitzen zu hören und verschwinden auch 
beim Anhalten des Atmens nicht vollständig. Durch 
Hustenstösse werden diese Geräusche nicht beeinflusst, dagegen durch 
Beruhigung der übermässigen Muskelbewegungen während der 
Atmung. Durch diese Eigentümlichkeiten lässt sich unschwer er- 
kennen, dass sie nicht aus den Lungen stammen, sondern dass 
ihre Entstehungsursache in den Muskelzusammenziehungen ge- 
sucht werden muss. Sie könnten bei schwierig zu untersuchenden 
Leuten Rasselgeräusche vortäuschen, wobei es dann freilich auffallen 
muss, dass sie neben einem reinen weichen vesikulären Atmen ge- 
hört werden, während man doch bei Kranken, bei denen feines Rasseln 
so reichlich in der Lungenspitze entsteht, ein verändertes rauhes, 
scharfes oder abgeschwächtes Atmen erwarten müsste. 


Es muss hervorgehoben werden, dass der Schwerpunkt der 
Frühdiagnose der Lungenschwindsucht, die Erkennung der 
Tuberkulose in dem ersten Stadium ihrer Entwickelung 
auf dem klinischen Gebiete gesucht werden muss. 


Besonders gilt dies für praktische ärztliche Thätigkeit. 


Man ist fast immer in der Lage aus der Vorgeschichte, aus 
den allgemeinen Krankheitszeichen und dem Untersuchungs- 
befund, nötigenfalls nach längerer Beobachtung und 


26 Dr. Kurt Brandenburg, 


wiederholter Untersuchung zur richtigen Entscheidung 
zu kommen über die Frage, ob ein Mensch Lungentuberkulose 
hat oder nicht, während die übrigen Wege der Diagnostik 
zu dieser Zeit der Erkrankung noch nicht gangbar sind 
oder doch entbehrlich erscheinen. 

Der Nachweis von Tuberkelbacillen im Auswurf 
eines Lungenkranken ist der sicherste Beweis für das 
Vorhandensein einer Lungentuberkulose. Aber für die 
Frühdiagnose und für die Erkennung einer beginnenden 
Erkrankung der Lungenspitzen ist dieser Weg nicht 
gangbar. Wer sich für die Feststellung der Diagnose und des 
Behandlungsplanes abhängig macht von dem Befund von Tuberkel- 
bacillen im Auswurf, wird gerade diejenigen Fälle von der Be- 
handlung ausschliessen, bei denen ein Erfolg durch geeignete Vor- 
schriften mit einiger Sicherheit angenommen werden darf. 

Ohne den physikalischen Nachweis eines Lungenheerdes in den 
Spitzen dürfte auch das Auffinden einiger säurefester Bacillen in 
dem Sputum nicht ohne Weiteres zu der Annahme einer Lungen- 
tuberkulose berechtigen. Bekannt ist das Vorkommen von Ba- 
cillen von ähnlichem färberischen Verhalten wie die Tuberkel- 
bacillen im Auswurf bei Lungengangrän und gewissen Formen vun 
Bronchitiden. Moeller hat in Tonsillenpfrépfen bei gesunden 
Individuen säurefeste Tuberkelbacillen ähnliche Stäbchen gefärbt, 
die sich bei der Nachprüfung aber nicht als Tuberkelbacillen heraus- 
stellten. Wo es gelingt, gleich im ersten Präparat des 
Auswurfs Tuberkelbacillen in Massen zu finden, giebt 
die physikalische Untersuchung gewöhnlich die Erschei- 
nungen ausgedehnter Infiltration und beginnenden Zer- 
falls in den Lungen. 

Man kann schätzungsweise annehmen, dass bei etwa der Hälfte 
bis einem Drittel der Fälle, bei denen auf Grund des Krankheits- 
bildes und der Perkussion und Auskultation eine tuberkulöse 
Spitzenerkrankung angenommen werden muss, ein aus tiefern Lungen- 
teilen stammender Auswurf gar nicht oder ganz spärlich entleert 
wird, in welchem auch verfeinerte Untersuchungsmethoden während 
einer längeren Zeit keine Bacillen finden lassen. 

Daher erscheint der Vorschlag zur Errichtung amtlicher 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstátten und die frühzeitige 27 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

Stellen für Sputumuntersuchung im Grunde verfehlt und 
geeignet, die Kranken dadurch zu schädigen, dass er gerade das ge- 
eignete Material der Behandlung nicht zuführt, und die Gefahr nahe legt, 
dass die Tuberkulösen mit ungeeignetem Auswurf, welche die besten Be- 
handlungserfolge geben, übersehen werden. Man wird sich erinnern, 
dass von den in die Heilstätten aufgenommenen Kranken mit phy- 
sikalisch-nachweisbaren Veränderungen an den Spitzen Tuberkelbacillen 
im Auswurf nur in etwas mehr als der Hälfte der Fälle, etwa in 
60 pCt. und in einigen Heilstätten bis 68 pCt. gefunden werden. 

Aber hier ist man mit besonderer Sorgfalt vorgegangen und hat 
versucht, geeigneten Lungenauswurf zu gewinnen durch gewisse 
Kunstgriffe, wie feuchte Einwicklungen der Brust über Nacht mit 
nasskalten Abreibungen am Morgen, oder durch Gaben von 5 g 
Jodkali innerhalb von 2 Tagen, und hat die Methodik der Unter- 
suchung verfeinert durch mehrtägiges Sammeln, Durchmischen und 
Zentrifugieren des Auswurfs und durch Impfversuche an geeigneten 
Tieren. 

Im vorgeschrittenen Stadium der Tuberkulose bei reichlichem 
eitrigen bazillenhaltigen Auswurf kann die Lungenschwindsucht ohne 
Schwierigkeit allein durch die physikalischen Methoden erkannt werden. 
Bei der grossen Menge jener Kranken im ersten Stadium der 
Lungenschwindsucht ist der Auswurf gewöhnlich nicht 
bazillenhaltig, und der Arzt in der Sprechstunde im 
wesentlichen auf die klinischen Zeichen und diephysi- 
kalischen Methoden angewiesen, welche bei hinlänglicher 
Übung und Erfahrung die Veränderungen in der Lungenspitze 
bereits mit ausreichender Genauigkeit erkennen lassen, schon längere 
Zeit, bevor die Krankheit jene vorgeschrittene Stufe des Gewebs- 
zerfalls erreicht hat, auf der mit einiger Regelmássigkeit und 
Sicherheit Bazillen im Auswurf entleert werden. 

Bei der Verwendung des alten Koch’schen Tuberkulin zur 
Feststellung der beginnenden Lungentuberkulose begegnet man ge- 
wissen Schwierigkeiten. Auch der Arzt in der ambulatorischen Praxis 
kann es erreichen, dass bei dem Kranken vor und während der 
Reaktionszeit regelmässige 2 stiindliche Temperaturmessungen Tags über 
in der Mundhöhle vorgenommen werden, um die meist in etwa 
12 Stunden nach der Injektion auftretende Temperatursteigerung, 


98 Dr. Kurt Brandenburg, 


die mindestens einen halben Grad betragen muse, nicht zu úbersehen. 
Der Kranke, muss nur einsichtig genug sein, und er und seine Umgebung 
auf die Wichtigkeit der Messungen aufmerksam gemacht werden. Weit 
schwieriger ist es, das Misstrauen des Kranken gegen ein Mittel 
zu überwinden, das nur unter der Voraussetzung beweiskräftig ist, dass 
es dem Kranken Unbehagen, Mattigkeit, Übelkeit, Kopf- 
schmerzen und Fieber macht, eine Schwierigkeit, die für den 
Arztundden Kranken in einer geschlossenen Anstalt naturgemäss weniger 
ins Gewicht fällt. Das Tuberkulin macht örtliche Symptome da- 
durch, dass es die tuberkulösen Heerde in einen Zustand entzünd- 
licher Reizung versetzt, die sich bei Lungenheerden als Brust- 
stiche, vermehrten Husten und Auswurf, durch das Auf- 
tretenoder die Vermehrung von Rasselgeräuschen über 
der erkrankten Spitze äussern. Nach den vielfachen An- 
wendungen des Tuberkulin von zuverlässigen Beobachtern scheint 
es jedoch sicher, dass, bei geeigneter Auswahl der Fälle und bei 
vorsichtiger Dosierung, die mit der Injektion von !/,, mg beginnt, 
die Gefahr, versteckte und abgeschlossene tuberkulöse Heerde zur 
Weiterentwicklung anzuregen, nicht zu fürchten ist. 

Auf den Nutzen, einen Lungenheerd durch die örtliche 
Reaktion als tuberkulösen zu erweisen, würde man freilich 
meistens gerne verzichten, da der perkutorische und auskultatorische 
Nachweis eines Verdichtungsheerdes in einer Spitze mit seinen 
Eigentümlichkeiten in Verbindung mit den übrigen klinischen Zeichen, 
der Kenntnis der Vorgeschichte und der Lebensbedingungen an sich 
schon zur Diagnose genügt, ohne eine künstliche örtliche Reizung 
der Stelle hervorzurufen. Man wird das Tuberkulin daher in der 
Praxis gewöhnlich nicht in Fällen anwenden, bei denen ein objek- 
tiver Befund, und sei er auch noch so gering, zu erheben ist, also 
niemals da, wo Schallverkürzung und Veränderungen beim Atmen 
zu finden sind. Fieber schliesst ja naturgemäss die Anwendung aus. 

Haben die physikalischen Untersuchungsmethoden den Nachweis 
eines Verdichtungsherdes in der Spitze nicht erbracht und tritt nach 
der Tuberkulinreaktion Fieber ohne eine gleichzeitige örtliche 
Reaktion ein, so beweist die Temperatursteigerung die Anwesenheit 
eines tuberkulösen Herdes Die Tuberkulinreaktion lehrt 
uns jedoch in diesem Falle nichts über den Sitz des 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 29 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

tuberkulösen Heerdes, der ebensowohl in einer Bron- 
chialdrüse wie sonst wo im Körper gesucht werden kann. 
Viel weniger dürften in der Praxis die Fehldiagnosen ins Gewicht 
fallen, die hier und da in der Literatur bei hochgradig hysterischen 
und neurasthenischen Kranken und bei Leuten mit frischer Syphilis 
berichtet werden. l 

Handelt es sich um die Frage, mit Sicherheit die Gegenwart 
eines tuberkulösen Heerdes im Körper auszuschliessen, so kommt dem 
negativen Ausfallder Tuberkulinreaktion eine ausschlaggebende 
Bedeutung zu. Für den Arzt in der praktischen Thätigkeit dürfte 
seine Verwendung, um das Frühstadium einer Lungentuberkulose zu 
erweisen, im allgemeinen eine beschränkte sein und sich vor- 
züglich bei denjenigen Fällen bewähren, wo durch besonders er- 
schwerende Umstände die physikalischen Methoden und eine längere 
und sorgfältige klinische Beobachtung im Stich lassen oder nicht durch- 
geführt werden können. Man kann in diagnostische Bedenken und Zweifel 
kommen bei Kranken mit erheblichen Verkrümmungen und Miss- 
staltungen an der Wirbelsäule und am Brustkorb, mit alten ge- 
schrumpften Exsudaten und ausgedehnten schwartigen Verwachsungen 
im Brustfellraum, bei ungewöhnlich lokalisierten, schwierig zu deuten- 
den Heerden, bei der Steinhauerlunge und bei verbreiteten nicht 
örtlich auf die typischen Stellen beschränkten Verdichtungen und 
katarrhalischen Erscheinungen und Bronchiektasien. Aber auch 
hier wird der Arzt das Tuberkulin nur unter der Voraussetzung 
anwenden, dass in diesen Fällen auch die Untersuchung des Aus- 
wurfs keine Aufklärung gegeben hat und der Nachweis von Tuberkel- 
bacillen versagt hat. In einem zweifelhaften Fall, dessen Auf- 
klärung notwendig geworden ist, ist schliesslich jedes der zu Gebote 
stehenden Mittel recht, soweit es die Erkenntnis zu fördern ver- 
mag, und der Arzt ist verpflichtet, es heranzuziehen, wenn es ohne 
Gefahr für den Kranken geschehen kann. 

Die Aufgabe des Arztes ist es, diejenigen Kranken aus der 
Masse herauszugreifen, bei denen die Tuberkulose ihren ersten An- 
griff begonnen hat. Die Voraussetzung einer erfolgreichen 
Behandlungistdiemöglichst frühzeitigeErkennung der 
tuberkulösen Lungenerkrankung; aber die Behandlung 
selbst müsste folgerichtig zunächst an denjenigen 


30 Dr. Kurt Brandenburg, 


Punkten einzusetzen haben, aus denen heraus die Ent- 
wicklung der Krankheit begonnen hat. Dazu gehört es 
vor allem, den Kranken aus den Verhältnissen zu entfernen, in 
denen die Tuberkulose zum Ausbruch gekommen ist, und daher die 
Schädigungen durch das Alltags- und Berufsleben in erster Linie 
und zur rechten Zeit und in durchgreifender Weise auszuschalten. 


Die Tuberkulose sucht sich ihre Opfer nicht nur zum grösseren 
Teil unter der sozial ungünstiger gestellten Bevölkerung, sondern 
sie wird auch den Befallenen gerade hier am verderblichsten und 
lässt sich die Beute nicht so leicht wieder entreissen. Und an 
diesem verhängnisvollen Festhalten dürfte auch die Heilstätten- 
behandlung bisher eine wesentliche Wandlung nicht herbeigeführt 
haben, und die Nachuntersuchungen der vor drei bis fünf Jahren 
aus der Heilstättenbehandlung Entlassenen sind geeignet, allzu hohe 
Erwartungen herabzustimmen. Man schätzt, dass von den in die 
Anstalten Aufgenommenen etwa 70 pCt, gebessert und erwerbsfáhig 
entlassen werden, wobei wir übrigens nicht vergessen dürfen, dass 
nicht alle Kranke in erwerbsunfähigem Zustande eingetreten sind. 


Als einen vollen wirtschaftlichen Erfolg, in dem Sinne, dass die 
der Invalidenversicherung entstandenen Kosten dadurch gedeckt 
werden, würde zu bezeichnen sein, wenn etwa 60 pCt. der Ent- 
lassenen vier bis fünf Jahre hindurch wieder arbeiten und erwerben. 
Dieser Erfolg wird nicht erreicht. Von sämtlichen Kranken, welche 
der Behandlung unterworfen wurden, waren nach 6 Monaten nicht 
ganz */, der Entlassenen noch erwerbsfähig, vom Ende des zweiten 
Jahres ab überwog bereits der Prozentsatz der Erwerbsunfähigen 
oder Gestorbenen, und nach 31/, bis 4 Jahren waren 4/, der 
Behandelten gestorben oder gänzlich erwerbsunfähig. 


Der für die Invalidenversicherung Ausschlag gebende Massstab, 
der Grad der Erwerbsfähigkeit, beweist wenig für die Besserung im 
klinischen Sinne, da die Beobachtung lehrt, dass Schwindsüchtige 
oft auch durch ein vorgeschrittenes Stadium der Krankheit besonders 
bei Hausarbeit in der Erwerbsfähigkeit erstaunlich wenig beschränkt 
worden, und so müssen wir uns denn wohl auch das auffallende 
statistische Ergebnis erklären, dass von den aus der Behandlung als 
erwerbsunfähig entlassenen Kranken nach Ablauf von 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 31 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 
zwei Jahren noch 20 pCt. vollständig oder teilweise er- 
werbsfähig waren. 

Durch die erwähnten statistischen Angaben, die im wesentlichen 
den Zusammenstellungen von Engelmann entnommen sind, wird 
ein gewisser Zweifel erweckt, ob durch eine mehrmonatliche Heil- 
stättenbehandlung der Verlauf der Phthise, bei der wirtschaftlich 
schlechter gestellten Bevölkerung wesentlich und nachhaltig be- 
einflusst wird. Es scheinen hiernach Massregeln not- 
wendig, welche die in den Heilstätten erzielten Erfolge 
auf eine längere Zeit hindurch sichern. 

Hierzu werden wir die geeignete sorgfältige Auswahl der 
Kranken für die Lungenheilstätten zu rechnen haben. In 
dieser Beziehung wäre eines Vorschlages von Brecke zu gedenken, 
der, wenn er sich als praktisch durchführbar erweisen sollte, gewisse 
Vorteile verspricht. Brecke empfindet es als einen Übelstand, dass 
in den meisten Fällen an ein Heilverfahren nicht eher gedacht wird, 
als bis der Kranke sich selbst krank meldet, und schlägt vor, dass 
in den einzelnen Arbeitsbetrieben der Arzt in regel- 
mässigen Zwischenräumen alle Angestellten untersucht, 
die auf Tuberkulose Verdächtigen weiter beobachtet und nötigenfalls 
die Einleitung des Heilverfahrens veranlasst. 

Bei der Auswahl der Kranken für die Lungenheil- 
stätten ist als derleitende Gesichtspunkt festzuhalten, 
aus der Zahl der Schwindsüchtigen nur die Kranken 
herauszugreifen, bei denen die begründete Erwartung 
besteht, dass die erschütterte oder verlorene Erwerbs- 
fähigkeit sich durch eine Freiluftbehandlung von meh- 
reren Monaten wiedergewinnen und festigen lässt. 

Betrachten wir zunächst unter dem Gesichtspunkte der 
Heilstättenauswahl die Stellung des Arztesin seiner 
praktischen Thätigkeit zur Frühdiagnose und zur 
Erkennung der Tuberkulose der Lungen überhaupt. Aus 
den vorangegangenen Ausführungen lässt sich unschwer unser Stand- 
punkt ableiten, dass der Arzt fast immer in der Lage ist, 
aus der Vorgeschichte des Kranken, aus den klinischen 
Symptomen und vor allem aus dem physikalischen 
Untersuchungsbefund zur richtigen Entscheidung zu 


39 Dr. Kurt Brandenburg, 


kommen, ob der Untersuchte eine Lungentuberkulose 
hat oder nicht. Ist der Arzt im Zweifel über den Befund und 
seine Deutung, so wird er nötigenfalls durch eine längere Beobachtung 
und wiederholte Untersuchung der Lungen suchen, zu einer sicheren 
Vorstellung zu gelangen. Nach unserer Erfahrung müssen wir uns 
zu der Auffassung bekennen, dass die Fälle, bei denen man 
mit den geschilderten Mitteln eine Erkrankung nicht 
feststellen kann, der Aufnahme in eine Lungenheil- 
anstalt nicht zugeführt werden sollen. Diese Leute be- 
dürfen nicht der Anstaltsbehandiung und gehören nicht in eine 
Lungenheilstátte. 

Auf der anderen Seite ist die Móglichkeit vorhanden, dass 
hierbei auch mal Jemand mit einer abgelaufenen Spitzenerkrankung 
oder mit einem nicht tuberkulósen Spitzenkatarrh, wie er bei Influenza 
vorkommt, in eine Lungenheilstätte hinein gerät. Die Möglichkeit 
muss theoretisch zugegeben werden, wenn sie auch praktisch sicher- 
lich nicht häufig sein dürfte. Einen Schaden würde man hierdurch 
kaum anrichten, da die Gefahr der Ansteckung in zweckmässig an- 
gelegten und sauber gehaltenen Heilstätten mit ihrem überwiegenden 
Bestand an Leichterkrankten für unseren Kranken nicht grösser 
sein dürfte als in den. städtischen Behausungen, in den Arbeiter- 
vierteln oder in den öffentlichen Lokalen und den Verkehrsmitteln. 
Das Zusammenschlafen in einem Schlafzimmer mit einem Tuberkel- 
bacillen auswerfenden Kranken möchte ihm freilich besser erspart 
bleiben. 

Wie nutzbringend auch die Anstaltsbehandlung an 
sich ist, so eignet sie sich doch nicht für alle Individuen. 
Einmal ist alles Schematisieren in der Heilkunst von übel, und wie 
es Individuen giebt, die bestimmte Arzneimittel oder ein bestimmtes 
Klima nicht vertragen können, so giebt es auch Schwind- 
süchtige, denen die Freiluftbehandlung und die Art, wie 
sie in den Anstalten zur Anwendung kommt, nicht zu- 
träglich ist. 

Es giebt Kranke, denen allein die Vorstellung, in einer ge- 
schlossenen Anstalt und unter Beschränkung ihres Selbstverfügungs- 
rechtes leben zu müssen, unerträglich ist. Die Eintönigkeit des 
Lebens und die Unthätigkeit führt bei manchen Naturen zu Lange- 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 33 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

weile, Missstimmung, Gereiztheit, zu Aerger und Streit mit den 
Kameraden. Den Einen beunruhigt der Gedanke, mit so vielen 
Schwindsüchtigen gemeinsam leben, schlafen und essen zu müssen, 
den Anderen bringt die Trennung von der Familie und von ihrer 
gewohnten Umgebung Heimweh und das niederdrückende Gefühl 
des Einsam- und Verlassen-Seins. Jenen beunruhigt der Gedanke 
an die Angehörigen, die in Not sind und seines Beistandes entbehren, 
oder peinigt der Gedanke an sein Geschäft. Da leidet Stimmung, 
Appetit und Schlaf, und so jemanden wider seinen Willen in eine 
Anstalt zu zwingen, heisst eine der Hauptbedingungen für die 
Besserung das psychische Moment gröblich verkennen und den 
Wert von geistiger Ruhe, des Gefiihles von Freude und Hoffnung 
unterschätzen. 

Diese Ueberlegungen, dass die Heilstättenbehandlung, wie jeder 
andere ärztliche Eingriff, den körperlichen und geistigen 
Zuständen des einzelnen Menschen als Individuum ent- 
sprechen muss, wenn sie Nutzen schaffen soll, bedeutet zunächst 
schon eine der Grenzen, die bei der Auswahl der Kranken gezogen 
werden müssen. 

Ein zweiter Punkt, der eine Einschränkung fordert, ist die Rück- 
sicht auf den Anstaltsbetrieb. Bei der grossen Krankenzahl 
ist eine strenge Isolirung der Kranken nicht möglich und wegen 
des erziehlichen, anregenden und fördernden Einflusses des geregelten 
Zusammenlebens auch gar nicht erwünscht. 

Der Kranke im vorgeschrittenen Stadium, der reichlich Bazillen 
auswirft, kann trotz sorgsamer Anstaltshygiene und Desinfektion 
seine Kameraden gefährden. Er stellt besondere Ansprüche an das 
Pflegepersonal und an die Raumbenutzung, denen oft nur unvoll- 
kommen genügt werden kann. Sein Zustand ist geeignet, die hoffnungs- 
freudige Stimmung seiner Gefährten herabzustimmen und sie zu 
beunruhigen. 

Die dritte und wesentlichste Beschränkung liegt in dem 
Stadium der Lungenerkrankung bei dem einzelnen Kranken. 
Es sind alle Kranke von der Behandlung auszuschliessen, bei 
denen eine länger dauernde Erwerbsfähigkeit voraussichtlich nicht 
erreicht werden kann. 


Für die Beurteilung der Besserungsfähigkeit ist die Beobachtung 
3 


34 Dr. Kurt Brandenburg, 


des Allgemeinzustandes und die physikalische Unter- 
suchung massgebend. 

Als Massstab fúr die Ausdehnung und Stárke der Erkrankung 
legen wir zweckmássig die gewöhnlich benutzte Einteilung des 
Lungenbefundes in drei Stadien zu Grunde. 

Das Stadium I umfasst die leichten Erkrankungen mit 
Infiltration einer Spitze oder zweier Spitzen in dem geringen Grade 
und mit den Symptomen, wie sie im vorhergehenden ausführlich 
als bezeichnend für die beginnende Lungentuberkulose geschildert 
wurden. Dieses Stadium liefert die geeigneten Kandidaten für die 
Freiluftbehandlung, und seine rechtzeitige Erkennung muss in allen 
Fällen nach Möglichkeit angestrebt werden. 

In das Stadium II gehören die mittelschweren Fälle von 
den ausgesprochenen Infiltrationen in beiden Spitzen bis zu der 
Dämpfung über einem ganzen Oberlappen, also bis zu dem unteren 
Rand der dritten Rippe. Die Dämpfung ist deutlicher und aus- 
gedehnter und das Atemgeräusch erheblicher verändert als in dem 
ersten Stadium. Man hört neben den verschiedenen Änderungen 
des Zellenatmens häufig bronchiales Ausatmungsgeräusch, und 
das Rasseln ist reichlicher und gröber und feuchter geworden und 
wird auch unterhalb des Schlüsselbeins gehört. Die Fälle 
dieser Kategorie können unter bedingten Umständen zugelassen 
werden, falls das Allgemeinbefinden gut, die Körperkonstitution 
kräftig und die Körpertemperatur normal ist. Leichte, günstig zu 
beurteilende Kehlkopferkrankungen, seichte Geschwüre und mássige 
Schleimhautinfiltrate geben ebenso wie leichte Fieberbewegungen 
keine Gegenanzeige. Was die Frage der Auswahl für das Hoch- 
gebirge betrifft, so muss man wohl nach der Ansicht von Brecke 
im allgemeinen die Grenzen in Bezug auf Kehlkopf, Herz und 
Nieren hier etwas enger ziehen als in der Ebene. 

Unbedingt auszuschliessen sind die Fälle, die über 
Stadium II hinausgehen und unter Stadium III zusammengefasst 
werden. So sind ungeeignet die Kranken, bei denen die 
Dämpfung auf beiden Seiten die zweite Rippe überschreitet, 
also die Infiltration beider Oberlappen anzeigt und bei 
denen die auskultatorischen Erscheinungen der Erweichung und 
ausgedehnten Verdichtung gehört werden, wie lautes bronchiales 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstätten und die frühzeitige 35 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

Atmen in der Ausdehnung eines ganzen Lappens und 
reichliches, grobes, feuchtes und klingendes Rasseln. 
Ganz ungeeignet sind die Lungentuberkulosen mit deut- 
lichen Höhenbildungen, mitklanghaltigem Schall und 
Schallwechsel, mit amphorischem Atmen und metalli- 
schen Phänomenen, und mit Heerden auch im Unterlappen. 
Hierher gehören auch die gleichzeitigen tuberkulösen Er- 
krankungen in anderen Organen, wie an den Knochen, im 
Darmtraktus und tiefe Verschwärungen des Kehlkopfes, starke Ei- 
weissausscheidung im Urin und Lymphdrüsenvereiterungen, oder 
Herzstörungen. 

Es kommt übrigens nicht so selten vor, dass man sich über 
die Ausdehnung und die Stärke der Erkrankung bei der 
ersten Untersuchung eine zu ungünstige Vorstellung macht. 
Ein guter Allgemeinzustand fordert zur Vorsicht in der Beurteilung auf. 

Von manchen Leuten, die anfänglich ungeeignet 
zur Aufnahme erschienen, erhält man bei einer wieder- 
holten Untersuchung nach mehrwöchiger Schonung 
und guter Ernährung zuweilen ein wesentlich 
günstigeres Bild. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, 
dass vielfach in dem Gebiete und in der Umgebung der tuberkulösen 
Lungenheerde entzündliche Reizungen einfach katarrhalischer oder 
doch gutartiger Natur unter ungünstigen Lebensbedingungen sich 
entwickeln und festsetzen. Derartige Zustände sind in hohem Grade 
einer Beeinflussung und Rückbildung zugänglich. 

Main schütze also Kranke, die zunächst nicht recht 
geeignetfür die Aufnahme erscheinen, aber doch einen 
leidlichen Ernährungszustand haben, einige Zeit hin- 
durch vor der schädlichen Einwirkung ihres häus- 
lichen und Berufslebens. Für diese Aufgabe scheint 
zuweilen angezeigt der Aufenthalt in Erholungsstätten für 
Tuberkulöse, als Vorbereitung und Ergänzung der Aufnahmen 
in die Heilanstalten. 

Bei Kranken mit beginnender Spitzentuberkulose 
erzielt man günstige Erfolge, wenn man den Leuten längeren 
Landaufenthalt in günstigen Verhältnissen oder die Verpflegung 


in geeigneten Erholungsstätten verschafft, in denen sie sich den 
gx 


36 Dr. Kurt Brandenburg, 


Tag über in guter Luft und bei kräftiger Verpflegung aufhalten und 
abends nach Hause zurückfahren. Bei vielen gewissenhaften Kranken 
mit leidlichen häuslichen Zuständen ersetzt der Aufenthalt in 
den Erholungsstätten bis zu einem gewissen Grade die 
Behandlungin den geschlossenen Anstalten bei geringerem 
Opfer an Geld, Zeit und Entsagungen, wenn man die Kranken nicht 
nur während der Behandlung, sondern dauernd für die Folgezeit aus 
dem Berufe entfernt, dessen Anforderungen, wie sich durch ihre Er- 
krankung ergeben hatte, sie nicht gewachsen waren, und sie veran- 
lasst, sich andere Berufe zu wählen. 

Die durchgreifende und dauernde Veränderung der 
Lebensverhältnisse ist es auch, die für die Heilstätten- 
behandlung von ausschlaggebender Bedeutung ist, und 
aus dessen Vernachlässigung die kurze Dauer der Besse- 
rung und der bisherige bedauerliche Misserfolg in diesem 
Punkte erklärt werden muss. 

Wir dürfen uns der Erkenntnis nicht verschliessen, dass die 
Erreichung eines Dauererfolges durch die vorübergehende 
Heilstättenbehandlung nur erreicht werden kann bei einer 
durchgreifenden Änderung der Lebensverhältnisse der 
Leute, die Einschränkung ihrer gewerblichen Schädigungen auf das 
unvermeidlich e Mass und die Steigerung ihrer Widerstandskraft 
gegen die Schädlichkeiten des Erwerbslebens durch gesunde Woh- 
nungen, gesunde Lebensgewohnheiten und ausreichende Ernährung. 

Die Fürsorge kann sich nach den verschiedensten Rich- 
tungen im einzelnen in erfolgreicher Weise ausdehnen und den 
Gesunden, den Disponirten und leicht Erkrankten auch dadurch 
schützen, dass die vorgeschrittenen Tuberkulösen, die besonders 
geeignet sind, Ansteckungskeime massenhaft zu verbreiten, aus 
ihrer näheren und dauernden Berührung von den Arbeitsplätzen und 
besonders von den Wohnungen entferntund in geeigneten Spitälern 
untergebracht und dadurch unschädlich gemacht werden. 

Die Lungentuberkulose wird wirksamer als durch die Waffen 
aus dem engeren Arsenal der Arzeneistoffe, bekämpft durch die 
Mittel, die dem Gebiete der allgemeinen, der klimatischen und diä- 
tetischen Therapie und der wirtschaftlichen Fürsorge entnommen 
werden. Der Thätigkeit des Arztes ist die Aufgabe vorbehalten, bei 


Die Auswahl der Kranken für die Lungenheilstátten und die frühzeitige 37 
Erkennung der Lungentuberkulose in der ärztlichen Praxis. 

den Befallenen die Krankheit in ihrer ersten Entwicklung zu er- 
kennen, und dazu befähigt ihn die klinische Beobachtung und die 
Beherrschung der physikalischen Methoden in den meisten Fällen 
in zureichender Weise, und auf diesem Wege können die heilenden 
und bessernden Mittel dem Kranken noch so frühzeitig zugänglich 
gemacht werden, dass sein Leben ‘und sein Erwerben ihm auf Jahre 
hinaus geschützt wird. l 


Zuschriften und Zusendungen für die , Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W., Lützowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


26 Dr. Siegmund Auerbach, Zur Behandlung der functionellen Neurosen bei 
Mitgliedern von Krankenkassen. 

Er ist höchst wahrscheinlich rheumatischer Natur und zeichnet sich 
dadurch aus, dass er fast stets im Hinterkopf beginnt und nach 
Schläfen und Stirn ausstrahlt. In den schon länger bestehenden 
Fällen ist er permanent, nimmt bei Rückenlage zu und kann zu 
furchtbarer, die Lebensfreude raubender Heftigkeit anwachsen, welche 
auch bei Nacht nicht nachlässt. Man findet bei solchen Kranken 
am Ansatz der an der Linea semicircularis des Occiput inserirenden 
Muskeln, sowie im Verlauf derselben am Halse und Nacken, oft 
auch in der Schwarte der Parietalregionen hirsekorn-, linsen- bis 
bohnengrosse, meist flache, zuweilen aber auch prominente Knötchen, 
welche stets sehr druckempfindlich sind. Dieselben Individuen 
klagen oft auch über Schmerzen im Rücken und in den Armen, 
wo man ähnliche Einlagerungen in der Haut und Fascie fühlen 
kann. Charakteristisch ist die aussergewöhnliche Empfindlichkeit 
gegen Wind, Kälte und Feuchtigkeit und das ganz eminente Vor- 
wiegen des weiblichen Geschlechtes (ob zu den Ursachen vielleicht 
das mangelhafte Trocknen des Kopfes nach dem Haarwaschen ge- 
hört?). Diesen Personen thut Wärme stets gut gegen ihren Scammers 
ein kalter Umschlag ist unerträglich. 

Die Therapie besteht in systematischer Anwendung von Wärme 
(im Beginn: den ganzen Tag, dann 2><3 Stunden lang) in Form 
des Thermophors oder der Leinsamenumschläge und in Massage. 
Da ich die Behandlung dieser, unseres Erachtens wichtigen und noch 
nicht genügend berücksichtigten Form des Kopfschmerzes ein anderes 
Mal ausführlich zu erörtern und mit Krankengeschichten zu -belegen 
beabsichtige, so sei hier bloss erwähnt, dass die Massage bei diesen 
Fällen wegen der Schwierigkeit ihrer Ausführung, wenn irgend 
möglich, nur der Arzt in die Hand nehmen sollte. Im acuten Be- 
ginn ist neben dieser Behandlung Natr. salicyl. oder Aspirin in den 
bei dem acuten Gelenkrheumatismus üblichen Dosen anzuwenden. — 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W., Ltitzowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 

















Ángust 1902. Berliner Klinik. Heft 170. 


Zur Behandlung der functionellen Neuresen bei Mitgliedern 


von Krankenkassen. 


Von 
Dr. Siegmund Auerbach in Frankfurt a. M. 





Es ist selbstverständlich, dass alle Kranken ohne Unterschied 
des Standes von jedem humanen Arzte mit gleicher Gewissenhaftig- 
keit und lediglich nach den Regeln unserer Wissenschaft und Kunst 
behandelt werden. Und doch macht es einer der wichtigsten und 
zugleich schwierigsten Grundsätze ärztlichen Handelns, nämlich der 
zu individualisiren, erforderlich, bei vielen chronischen Erkrankungen 
den ganzen Behandlungsplan nach den socialen Verhältnissen der 
sich uns anvertrauenden Patienten aufzustellen. Derjenige Arzt, 
welcher sich in der täglichen Praxis nicht bald zu dieser Einsicht 
hindurchringt, wird nicht nur keinen Nutzen, sondern durch schiefe 
und unzweckmässige Vorschriften, sowie durch die Versäumniss kost- 
barer Zeit, recht grossen Schaden stiften. Zu jenen Krankheiten ge- 
hören, wie aus den folgenden Zeilen hervorgehen wird, in erster 
Linie die sogenannten functionellen Erkrankungen des Nervensystems. 
Von diesen sollen hier die am häufigsten vorkommenden, nämlich 
die Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie, die Basedow’sche Krankheit 
und der nervöse Kopfschmerz, Berücksichtigung finden. 

Die Behandlung dieser Leiden gehört schon bei bemittelten 
Kranken zu den schwierigsten Aufgaben, welche an einen umsich- 
tigen und sorgsamen Arzt herantreten können. Um wieviel mehr 
ist das der Fall bei Angehörigen von Krankenkassen und Armen- 
verbänden, die mit ihren beschränkten Mitteln auf dem billigsten 
und kürzesten Wege eine möglichst dauerhafte Wiederherstellung 
der Gesundheit und vor allem der Erwerbsfähigkeit ihrer Mitglieder 

1 


9 l Dr. Kurt Mendel, 


werden daselbst die Krankheitsbilder geschildert, auf die Stellung 
der Kranken der Gesellschaft gegenüber aber nirgends näher ein- 
gegangen. 

So heisst es von Saul (I. Samuelis Kap. 16, Vers 23): „wenn 
nun der Geist Gottes über Saul kam, so nahm David die Harfe und 
spielte mit seiner Hand; so erquickte sich Saul und ward besser 
mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.“ Saul, welcher übrigens 
Selbstmord beging (I. Samuelis, Kap. 31, Vers 4), hat wahrscheinlich 
an Melancholie gelitten, ebenso Nebucadnezar, von welchem Daniel, 
Kap. 4, Vers 30, berichtet wird: „und er ward von den Leuten ver- 
stossen und ass Gras wie Ochsen und sein Leib lag unter dem Tau 
des Himmels und ward nass, bis sein Haar wuchs so gross als 
Adlerfedern, und seine Nägel wie Vogelklauen wurden. Nach dieser 
Zeit (sc. 7 Jahre) hob ich, Nebucadnezar, meine Augen auf gen 
Himmel und kam wieder zur Vernunft.“ — 

Der rasende Ajax, welchen Sophokles in seiner Tragödie ver- 
herrlicht hat, sowie der von den Eumeniden verfolgte, umherirrende 
Orestes sind die bekanntesten Beispiele von Psychosen in der 
‚griechischen Mythologie. 

In Anbetracht der religiös-mystischen Auffassung der Krank- 
heiten im grauen Altertume kann es nicht wunder nehmen, dass 
die Pflege und Behandlung der Kranken, speciell auch der Irren, 
von Priestern geleitet wurde und dass zur Herbeiführung der Heilung 
übernatürliche Mittel, Opfer und Gebete angewandt worden sind: die 
Priester waren die Aerzte und unter den Priestern wiederum bildete 
sich eine ganz besondere Kaste, diejenige der Asklepiaden, aus, 
welche die ärztliche Praxis besorgte. Aus dieser Gruppe ging im 
5. Jahrhundert vor Chr. Hippokrates, der Vater der Medizin 
(460—377 v. Chr.), hervor. Derselbe befreite die Heilkunde von 
allen religiösen und philosophischen Speculationen, erwarb sich seine 
Kenntnisse und seine staunenswerte Vielseitigkeit durch scharfe Be- 
obachtung der Natur und rettete speciell die Irrenheilkunde aus den 
Händen der Magier; weit davon entfernt, irgend welche übernatürliche 
Einflüsse für die geistigen Störungen verantwortlich zu machen, 
fasste er dieselben vielmehr als Erkrankungen des Gehirns auf und 
stellte die Geisteskranken und die körperlich Kranken auf eine Stufe. 
Seine Therapie gleicht auffallend der auch heute bei Psychosen an- 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 3 


gewandten und bestand vorzüglich in Diätregelung, möglichster Ruhe, 
kalten Uebergiessungen und Waschungen, bei eintretendem Schwach- 
sinn in gymnastischen Uebungen. 

Somit trat durch Hippokrates an Stelle der religiösen Auf- 
fassung der Psychosen eine wissenschaftliche, praktische und humane 
Beurteilung, welche mit der unsrigen im allgemeinen übereinstimmt. 
Ein solcher Geist musste nicht nur auf seine Zeitgenossen einen 
ungeheuren Einfluss ausüben, sondern auch, zumal dessen Träger 
in zahlreichen Schriften seine Beobachtungen niederlegte, dauernd 
die ärztliche Kunst und Praxis der Folgezeit beeinflussen. 

Und in der That lehnen sich an ihn sämtliche späteren Forscher 
auf dem Gebiete der Psychiatrie an; seine Lehren und Anschauungen 
drangen dann auch hinüber ins Römerreich und hier war es zu- 
nächst Asklepiades (1. Jahrh. v. Chr.), welcher die griechische 
Medicin in Rom einbiirgerte. Von ihm wird berichtet, dass er zur 
Beruhigung von Geisteskranken die Musik anwandte, dass er bei 
starker Unruhe auch zu Zwangsmitteln griff, auch scheint er zuerst 
sich der hypnotischen Suggestion bedient zu haben, indem er bei 
aufgeregten Kranken durch Reibungen Schlaf zu erzielen versuchte. 

Nach Asklepiades handelten auch die späteren Gelehrten 
völlig in hippokratischem Geiste: und zwar Celsus (um Chr. Geburt) 
Aretaeus (1. Jahrh. n. Chr), Galen (2. Jahrh. n. Chr.) und 
Aurelianus (Anfang des 5. Jahrh.). Während sich aber diese 
Ärzte der practischen Seite der Irrenheilkunde zuwandten, gaben 
sich Socrates, Plato und Aristoteles mehr theoretischen Be- 
trachtungen hin und sahen die Psychiatrie mit dem Auge des 
Philosophen an. 

Bei allen diesen Forschern finden wir jedoch nur sehr Spär- 
liches, was speciell auf die sociale Stellung der Geisteskranken in 
jenen Zeiten Bezug hat; wohl können wir indessen aus ihren An- 
schauungen über das Wesen der Psychosen und aus ihren Auf- 
zeichnungen über die bei denselben angewandte Behandlungsweise 
erschliessen, dass die Geisteskranken keinerlei Roheiten, auch 
keinerlei Spott seitens des Volkes ausgesetzt waren, dass sie sich 
vielmehr des Schutzes und der Fürsorge ihrer Mitmenschen in 
hohem Grade zu erfreuen hatten. 


Zu gleichem Urteil gelangt man auch, wenn man die auf Geistes- 
]* 


4 Dr. Kurt Mendel, 


kranke bezüglichen Stellen des corpus juris nachschlägt, welch’ letzteres 
bekanntlich zur Zeit des Justinianus (527—567 n. Chr.) zusammen- 
gestellt wurde. Man erkennt hierbei, dass sich der Rechtsbegriff 
des Irreseins in dem Zivilgesetze seit jenen Zeiten auffallend wenig 
geändert hat und dass die römische Verfassung sich in humanster 
‚Weise der Geisteskranken annimmt. Das Corpus juris berücksichtigt 
in den Fragen des Privatrechtes besonders das Moment der Gemein- 
gefährlichkeit und unterscheidet von diesem Gesichtspunkte aus die 
Rasenden (furiosi) von den Schwachsinnigen (dementes) und den 
Blódsinnigen (mente capti). So wird z. B. betreffs der Vormund- 
schaft bestimmt, dass der „Rasende“ unter die Vormundschaft seiner 
nächsten Verwandten gehöre, dass aber bei anderen Geisteskranken 
der „Curator“ nicht der nächsten Familie anzugehören braucht; letzterer 
hat sowohl für die Verwaltung des Vermögens als auch für die 
Wiederherstellung des Geisteskranken Sorge zu tragen. 

Auch vor dem Strafgesetze wird ein Unterschied zwischen den 
„homines sanae mentis“ und den „homines non sanae mentis“ gemacht, 
speziell werden die „furiosi“ von der Bestrafung ausgeschlossen: „In- 
fans vel furiosus, si hominem occiderint, lege Cornelia non tenentur, 
quum alterum innocentia consilii tuetur, alterum fati infelicitas 
excusat“. (Corpus jur. lex 12). 

So blieb denn der Irre zumeist in der Obhut seiner Familie 
und erhielt daselbst liebevolle Pflege; dank der Geräumigkeit der 
damaligen Wohnstätten mit den sie umgebenden Gärten und Land- 
wirtschaften, sowie dank dem schon oben erwähnten Umstande 
dass die Geisteskranken von Belästigungen seitens ihrer Mitmenschen 
völlig verschont blieben, wurde der Mangel an Irrenanstalten weniger 
schwer empfunden als dies gegenwärtig der Fall wäre. Bei den 
Griechen bestand übrigens in vorchristlicher Zeit eine Art Familien- 
pflege, indem viele Geisteskranke nach Antikyra in Phokis am 
Korinthischen Meerbusen pilgerten und daselbst wahrscheinlich bei 
dort ansässigen Familien aufgenommen wurden. In der Umgebung 
dieser Stadt wuchs nämlich der Helleborus, der den Griechen als 
bestes Heilmittel gegen Wahnsinn und Schwachsinn galt, in besonderer 
Güte. Daher die Redensart ,naviget Anticyras! bei Bezeichnung 
geisteskranker Personen. 

Allmählich schwand die Kultur der Griechen und Römer, und 


‚Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 5 


mit ihr ging die humane Auffassung von den Geisteskrankheiten, 
die Vorstellung, dass Geisteskranke auch Kranke seien, verloren. 
Man fiel wieder zurück in die Ideeen der vorhippokratischen Zeit, 
wo der Priester die Funktionen des Arztes verrichtete. Ja noch 
schlimmer! Der Glaube wurde zum Aberglauben und an Stelle 
wissenschaftlicher Erkenntnis traten die Vermutungen von über- 
natürlichen Einflüssen: Teufel und Dämonen sollten im Körper der 
Irren ihren Wohnsitz haben und mussten hinausgetrieben werden 
aus dem Innern der ,Besessenen und Hexen durch Gebete, Be- 
schwörungen, Folter und Qualen. Diese rohen und inhumanen An- 
schauungen des Mittelalters brachten die Irrenpflege zu völligem 
Verfall; was man durch Naturgesetze nicht zu erklären oder zu 
verstehen vermochte, wurde als durch übernatürliche Einwirkungen 
hervorgerufen angesehen; die Heilversuche wurden in Form von 
Geisterbeschwörungen und Exorcismen ausgeführt und brachten so 
den unglücklichen Kranken unsägliche geistige und körperliche 
Qualen. Der unbequemen und besonders der fremden Geisteskranken 
suchte man sich aber dadurch zu entledigen, dass man sie aus der 
Stadt entfernte, über die Grenze schaffte und so ihre Rückkehr 
unmöglich machte. Oder man sperrte sie in Keller, Gefängnisse, 
Stadttürme oder in die „Dorenkiste“ ein und suchte so die Gesunden 
vor ihnen zu schützen. Ueberhaupt trug die Verwaltung nur so 
weit Sorge für die Geisteskranken, als es die Sicherheit der Mit- 
menschen erforderte und überliess im übrigen die Irrenpflege als 
reine Privatsache völlig den Angehörigen. Mussten die Kranken 
behördlicherseits überwacht und unterhalten werden, so hatten die 
Begüterten die Pflegekosten selbst zu tragen, Unbemittelte wurden 
auf öffentliche Kosten verpflegt. Wollte man den Kranken daheim 
unterbringen, so musste ein sicherer Verschlag im Hause gebaut 
werden, welcher dann regelmässig amtlich revidiert wurde. Unge- 
fährliche Kranke liess man jedoch frei umherlaufen und bezeichnete 
sie als „Narren“ oder „Thoren“. Eine rühmliche Ausnahme machte 
nur Spanien, wo, dank der arabischen Kultur und unter dem Einflusse 
der muhamedanischen Weltanschauung, für die Geisteskranken, welche 
als schuldlose Opfer des Geschickes galten, schon im 15. Jahrhundert 
Irrenanstalten erbaut wurden (so in Valencia 1409, Sevilla 1436 etc.), 
in denen die Kranken mit Milde und Schonung behandelt wurden. 


6 Dr. Kurt Mendel, 


Die Neuzeit begann, die Reformation griff in das Kulturleben 
der Völker mächtig ein, die grossen Erfindungen des 15. und 16. 
Jahrhunderts förderten Kunst und Wissenschaft und verhalfen ihnen 
zu neuem Aufblühen, durch die überseeischen Entdeckungen wurde 
die Weltanschauung erweitert, aber alles blieb ohne Einfluss auf 
den Aberglauben der Menschheit. Die Zahl der Hexenprozesse 
nahm nur stetig zu. Erst im Anfang des 18. Jahrhunderts, als der 
Einfluss des Mittelalters völlig überwunden war, wurden diese 
Prozesse seltener und erst in dieser Epoche kehrte man wieder all- 
mählich zur Anschauung zurück, dass die Geisteskrankheiten — 
Hirnstörungen seien. Und doch dauerte es noch geraume Zeit, bis 
es wieder gelang, den natürlichen Krankheitsursachen und einer 
rationellen Behandlung Geltung zu verschaffen. Zunächst wurden 
noch chemische und physikalische Theorieen, Ansichten über ver- 
dorbene Säfte, abnorme Blutbeschaffenheit herangezogen, um die 
krankhafte Gehirnthätigkeit zu erklären. Dann traten an ihre Stelle 
die philosophischen Hypothesen von Christian Wolf und Immanuel 
Kant, welch’ letzterer den Geisteskranken nicht vom Arzte, sondern 
vom Philosophen beobachtet und behandelt wissen wollte (s. Kant's 
Anthropologie $ 49); vom theoretischen Standpunkte aus unterschied 
man die Krankheiten der Seele, des Gemüts, der Vorstellungen und 
des Willens; doch wurden auf diese Weise die Ärzte wenigstens 
dazu getrieben, genauere Beobachtungen betreffs des Geisteslebens 
Gesunder und Kranker anzustellen. 

Eine humanere, geordnetere Pflege hebt aber erst mit der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, mit jener Zeit, da in England 
die erste Anstalt zum Zwecke der Heilung Geisteskranker, das 
St. Lucashospital, errichtet wurde. Am Ende desselben Jahrhunderts 
sowie im Beginn des 19. folgten dann auch andere Staaten diesem 
Beispiele. 

Als den Geburtstag der modernen Irrenpflege bezeichnet man 
aber mit Recht jenen Tag — es war der 24. Mai 1798 —, an 
welchem Pinel 49 Geisteskranken ihre Ketten abgenommen haben 
soll. Pinel hatte schon lange — und zu gleicher Zeit wie er auch 
Chiarugi in Florenz — darauf hingewiesen, dass die Irren nicht 
wie wilde Tiere oder Verbrecher behandelt werden dürften, dass 
Ketten und Fesseln in die Käfige und Gefängnisse, nicht in die 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 7 


Krankenhäuser gehörten. Mehr und mehr nahmen die Ärzte die 
Behandlung der Geisteskranken in die Hand, aus den Zuchthäusern 
wurden die Irren herausgenommen, in eigene Irrenanstalten gebracht 
und letztere unter die Leitung eines Arztes gestellt. Als Gebäude 
dienten hauptsächlich unbenutzte Schlösser und aufgehobene Klöster. 
So wurde im Jahre 1811 das Schloss Sonnenstein bei Pirna, das 
vorher als Staatsgefängnis gedient hatte, in eine Irrenanstalt ver- 
wandelt. Eine Übergangsperiode zwischen dem Mittelalter und 
dieser Zeit der freieren Anschauungen von den Geisteskrankheiten 
bildete jene moralisierende Richtung, welche auf der Ansicht basierte, 
dass die Krankheiten eine Folge der Sünde seien. Diese Lehre, 
welche im Anfange des 19. Jahrhunderts besonders von dem Arzt 
und Philosophen Heinroth vertreten wurde und die darauf beruhende 
psychische Therapie der Psychosen hatte viel Bedenkliches und 
erinnerte wieder stark an die Zeiten der Hexenverfolgungen; die 
Auffassung, dass die Geisteskrankheiten durch die Sündhaftigkeit der 
Erkrankten verschuldet seien, musste die Beziehungen letzterer zu 
ihrer Familie, den ganzen Verkehr mit ihnen und ihr Verhältnis 
zum Recht in ungünstigstem Sinne beeinflussen. Zum Glück war 
diesen Theorieen kein langes Leben beschieden, sie beherrschten die 
Irrenpflege nur kurze Zeit, wirkten aber noch lange nach und lassen 
auch gegenwärtig noch ihre üblen Nachwirkungen erkennen. Mit 
der Gründung der grossen geschlossenen Anstalten fällt zusammen 
die Zeit der Zwangsmittel: die „Drehscheibe“, der englische „Sarg“, 
das „Tretrad“, die „Zwangsstühle‘“ bildeten das Inventar der meisten 
grösseren Irrenanstalten, die berüchtigte „Zwangsjacke“ fehlte in 
keiner. 

So sehen wir, dass erst Jahre und Jahrzehnte nach der denk- 
würdigen That Pinel’s vergehen, ehe dessen menschenfreundliche 
Ideeen in seinem Sinne zur Wirkung gelangten. Es war noch ein 
Mann nötig, welcher das von Pinel vorgezeichnete System ergänzte, 
vervollstäudigte und praktisch begründete. Dieser Wohlthäter der 
Irren fand sich in Conolly, dem Direktor der Irrenanstalt zu 
Hanwell in England, welcher zeigte, dass man ohne Einschüchterungs- 
versuche und ohne Zwangsmittel, mit milderen Behandlungsformen 
bei Geisteskranken viel weiter komme und der das System der 
zwangsfreien Behandlung, das No-restraint, einführte. Dieses System 


8 Dr. Kurt Mendel, 


bürgerte sich in England so schnell ein, dass dessen Begründer im 
Jahre 1856, gleichsam als ein Wahrzeichen einer neuen Aera, be- 
richten konnte, dass in 24 englischen Irrenhäusern mit mehr als 
10000 Insassen der mechanische Zwang so gut wie abgeschafft sei. 

In Deutschland ging man bedächtiger vor, und hier war es be- 
sonders das Verdienst von Ludwig Meyer und Griesinger, die 
Marterwerkzeuge aus den Anstalten verbannt und das No-restraint- 
System zur strengen Durchführung gebracht zu haben. 

Einen weiteren Fortschritt in der Irrenpflege bedeutet die Ein- 
führung landwirtschaftlicher Beschäftigung für die Geisteskranken 
sowie die Wiederbelebung familiärer Verpflegung An letztere 
knüpft sich der Name des belgischen Dorfes Gheel, jenes einstigen 
Wallfahrtsortes, wo seit vielen Jahrhunderten 800—1000 Irre unter- 
gebracht sind, welche von den Bewohnern des ‘Ortes und der um- 
liegenden Gehöfte gegen Entschädigung gepflegt werden. 
| Dieser Flecken diente als Muster den übrigen auftauchenden 
Dörfern, welche sich der Familienpflege der Geisteskranken an- 
nahmen (Ellen bei Bremen, Ilten in Hannover etc). Von den ent- 
stehenden landwirtschaftlichen Kolonieen ist als besonders segens- 
reiche Einrichtung die Kolonie Alt-Scherbitz in der Provinz Sachsen 
zu verzeichnen. 

So war denn auch allmählich in Deutschland das No-restraint- 
System eingeführt worden. Was aber sollte man mit jenen Irren 
machen, deren Erregung früher mittelst der Zwangsjacke oder der 
übrigen Zwangsmittel niedergeschlagen worden war? Neben gefähr- 
lichen Arzneien wie Ipecacuanha, Tartarus stibiatus, Hyoscin und 
dem Heere der Narcotica wurde zur Beruhigung der unruhigen 
Geisteskranken zunächst (speziell in den 60er Jahren) das Isolier- 
zimmer, die Tobzelle, die „Gummizelle“ angewandt und hierdurch 
häufig nicht nur das Leiden verschlimmert, sondern auch der Sorg- 
losigkeit und Faulheit des Pflegepersonals Vorschub geleistet. 

So macht man denn in unsern Tagen auch gegen diese Isolie- 
rung der Geisteskranken Front. Für dieselbe trat die Bettbehandlung 
ein, in Deutschland besonders empfohlen von Griesinger, Scholz, 
Paetz, Meyer, Neisser, Kräpelin, Kalmus, Bresler u. a., in 
Frankreich hauptsächlich von Magnan. 

Vor mehr denn 2000 Jahren war es um die Irrenpflege nicht 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 9 


schlecht bestellt; ein langer, unheilvoller Verfall war dieser Zeit ge- 
folgt, und erst im Laufe der letzten 100 Jahre errang in schwerem 
langwierigem Kampfe die Wissenschaft den Sieg tiber die aber- 
gläubigen, rohen Anschauungen der Vorzeit, die Erkenntnis der 
Zeichen der einzelnen Krankheiten den Sieg über die dunklen und 
mystischen Vorstellungen von den krankhaften Processen im Orga- 
nismus. 

Auf diese Weise aber wurde nicht nur die Behandlung, welche 
den Irren zu Teil wurde, eine humanere und mildere, sondern auch 
die sociale Stellung, welche denselben zukam, eine völlig andere. 
Früher seiner Narrheiten wegen verhöhnt und verspottet, als vom 
Teufel besessen gemieden oder wegen seiner Sündhaftigkeit wie 
ein Sträfling verachtet, steht der Geisteskranke jetzt in der mensch- 
lichen Gesellschaft da als ein wahrhaft Kranker, der unserer Für- 
sorge und Pflege in höchstem Grade bedürftig ist, dem der Staat 
seinen Schutz in vollstem Maasse angedeihen lassen muss, vor dessen 
Unthaten allerdings auch andererseits die Gesellschaft geschützt 
werden soll. Im Gegensatz zu fast sämtlichen Kulturstaaten entbehrt 
zwar Deutschland noch immer eines eigentlichen Irrengesetzes. In 
erfreulichster Weise haben sich aber gerade hier wieder in letzter 
Zeit Psychiater und Rechtsgelehrte enger aneinander geschlossen, 
um gemeinsam die Stellung zu beraten, welche der Geisteskranke vor 
dem Gesetze einnehmen soll, um von ihm und seinen Angehörigen 
Schaden und Nachteil abzuwenden und um ihn zu schützen vor der 
Strafe für ein Vergehen, für welches er nicht verantwortlich gemacht 
werden kann. 

Der Arzt wird sein Augenmerk auf die Herbeiführung der 
Gesundheit durch zweckmässige Behandlung richten müssen, der 
Jurist wird die Rechte des Kranken in dessen Eigenschaft als 
Staatsbürger zu vertreten und hierbei im speciellen Falle die seitens 
des Arztes ihm gegebenen Ratschläge und Anweisungen zu berück- 
sichtigen haben, der Staat im allgemeinen hat aber die Pflicht, 
einerseits das Recht der Irren auf Pflege und Schutz anzuerkennen, 
andererseits jedoch den Schaden, den sie der Gesellschaft zufügen, 
zu mindern und, unter Zuziehung von Psychiatern, darauf hinzu- 
wirken, dass im Volke eine weitere Verbreitung der Psychosen 
möglichst hintangehalten werde. 


10 Dr. Kurt Mendel, 


Dank den humanen Anschauungen der Jetztzeit über die Geistes- 
krankheiten und dank dem Fortschreiten der wissenschaftlichen 
Erkenntnis ist der Schaden, welchen die Irren von ihren Mit- 
menschen aus erleiden, in der Gegenwart bedeutend geringer ge- 
worden als in früheren Jahrhunderten und hat an Häufigkeit seines 
Auftretens eingebiisst. Gesetze, ministerielle Verordnungen, com- 
munale Fürsorge und private Wohlthätigkeit haben sich der 
Geisteskranken angenommen und trachten deren Loos so erträglich 
wie möglich zu gestalten, und manches Gute in dieser Beziehung 
ist noch im Werden. Der hauptsächlichste Nachteil, der dem Irren 
noch erwächst, wird dadurch herbeigeführt, dass die Krankheit 
seitens des Laienpublikums oder auch seitens der Ärzte nicht er- 
kannt wird, der in Wahrheit Geisteskranke für geistig gesund ge- 
halten und demnach auch wie der normale Mensch behandelt und 
beurteilt wird. In sehr vielen Fällen bietet allerdings die Beurteilung, 
ob jemand noch als normal oder schon als geistig krank zu erachten 
ist, selbst dem Arzte und speziell dem Psychiater nicht unerhebliche 
Schwierigkeiten: die Grenzen zwischen geistiger Krankheit und 
Gesundheit sind unscharf gezogen, das Geniale und Intelligente kann 
über das Irresein hinwegtáuschen; mancher, der dem Laien als 
hochbegabtes Genie imponiert, besteht nicht die Prüfung auf Voll- 
kommenheit vor den Augen des Psychiaters; dazu kommt ferner, dass 
einzelne Geisteskranke — und zwar insbesondere Paranoiker — ihre 
Wahnideeen in geschicktester Weise verheimlichen und verschweigen, 
und dass erst nach länger fortgesetzter Beobachtung das in Ent- 
wicklung begriffene Wahnsystem durchleuchtet. 

So geschah es denn häufig und geschieht es auch — wenngleich 
bedeutend seltener als früher — jetzt, dass infolge des Verkennens 
der geistigen Abnormität ein Irrer für ein Verbrechen Strafe er- 
‚leidet, für welches ihm von Rechtswegen der Schutz des $ 51 des 
Strafgesetzbuches zustehen sollte: 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 11 


„eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit 
der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit 
oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine 
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.‘ 

In solchen Fällen ist dann ein ärztlicher Sachverständiger über- 
haupt nicht zugezogen worden, da der Richter wegen der Unauf- 
fälligkeit des Redens und Handelns des Beschuldigten gar nicht auf 
den Gedanken kam, dass der Thäter geistig abnorm sein könnte oder 
aber weil er zwar hieran dachte, ihm aber sein „gesunder Menschen- 
verstand“ und die Raffiniertheit, mit welcher die That ausgeführt 
war, darauf hinzuweisen schienen, dass der Angeklagte geistig durch- 
aus normal sein müsse. Auf diese Weise sind nach den Feststellungen 
des Dr. Garnier und Dr. Monard!) in Frankreich während der 
Jahre 1886 bis 1890 etwa 520 geisteskranke Personen gerichtlich 
als Verbrecher verurteilt worden. Über England berichtet die Ge- 
fängniskommission von 287 in den Jahren 1898/99 vorgekommenen 
Fällen von Geisteskrankheit in den dortigen Lokalgefängnissen und 
fügt hinzu, dass die Mehrzahl dieser Kranken schon bei Begehung 
der That geistesgestört gewesen ist. Betreffs Deutschlands konnte 
ich eine ähnliche Statistik nicht auffinden, bekannt sind aber auch 
hierselbst Fälle, in denen ein Justizverbrechen an Geisteskranken 


verübt worden ist und wo erst in der Strafanstalt — die veränderte 
Lebensweise daselbst mag erst die Psychose zum offenkundigen 
Ausbruch gebracht haben — die Geisteskrankheit erkannt wurde. 


Während es sich aber bisher um Geisteskranke handelte, welche 
eine Strafthat im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit vollführt haben, 
muss man andrerseits auch jene Fälle in Erwägung ziehen, in denen 
die That selbst zwar noch von einen geistig Gesunden begangen 
wurde, letzterer aber nach dem Vergehen in Geisteskrankheit ver- 
fallen ist. Wenn in einem solchen Falle trotzdem die zugedachte 
Strafe vollzogen würde, so würde nicht nur die Strafe selbst zumeist 
wirkungslos bleiben, sondern es würde dem Bestraften, der durch 
eine zweckentsprechende Behandlung eventuell noch gebessert oder 
geheilt worden wäre, ein weiterer Schaden an seiner Gesundheit zu- 
gefügt werden. 


1) citiert nach Scholz, Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine. Verl. von Carl 
Marhold 1902. 


12 Dr. Kurt Mendel, 


Auch dieser Eventualität tragen die Reichs-Justizgesetze Rechnung: 
Die Strafprozessordnung schützt die nach dem Vergehen geisteskrank 
Gewordenen vor der Bestrafung durch folgende Paragraphen: 


$ 485. An schwangeren cder geisteskranken Personen darf ein Todesurteil 


nicht vollstreckt werden. 
§ 487. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der 
Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt. 


Tritt eine Heilung des Leidens ein, so wird die zuerkannte 
Strafe an dem Verbrecher vollstreckt, allerdings kann auch dann 
immer noch, auf Grund des $ 488 der Strafprozessordnung, zwecks 
Abwendung einer durch die Haft zu befürchtenden Wiedererkrankung 
ein Strafaufschub bis zu 4 Monaten erwirkt werden. 

Somit sorgt eigentlich das Strafgesetzbuch respective die Straf- 
prozessordnung in genügender Weise!) dafür, dass die als geistig 
gestört Erkannten nicht verurteilt und, falls sie während Begehung 
der That noch zurechnungsfähig und deshalb verurteilt waren, während 
der Dauer ihres Leidens nicht bestraft werden. Wenn dennoch hie 
und da Geisteskranke durch das Urteil des Strafrichters unverdienten 
Schaden erleiden, so geschieht dies hauptsächlich deshalb, weil ihre 
Krankheit nicht erkannt worden ist, weil entweder ein Sachverstän- 
diger überhaupt nicht zugezogen worden ist oder letzterer vor dem 
Gerichte den Zustand des Angeklagten unrichtig beurteilte. 


Diesen beiden Fehlern abzuhelfen wird demnach zunächst die 
Aufgabe darstellen, deren Lösung einen noch grösseren Schutz den 
„verbrecherischen Geisteskranken“ sowie den „geisteskranken Ver- 
brechern“ vor ungerechtfertigter Bestrafung gewähren würde: eine 
Aufgabe, welche sowohl den Juristen resp. Laien wie auch den 
Mediziner angeht. Unter Richtern und Laien herrscht noch heute 
vielfach die von Coste und Regnault (1828) herstammende An- 
sicht, dass der „gesunde Menschenverstand“ in der Beurteilung der 
Geisteszustände mehr wert sei als das aus eingehendem und lang- 
wierigem Studium hervorgegangene Wissen und dass demnach die 
Zuziehung von Ärzten in foro unnötig sei. Ein gewisses Misstrauen 


1) Es mag hier noch daran erinnert sein, dass das Gesetz zwar eine „ver- 
minderte Zurechnungsfähigkeit‘“ nicht kennt, dass es aber stets möglich sein wird, 
für solche, bei denen die freie Willensbestimmung während der That nicht direkt 
ausgeschlossen war, die aber doch als geistig nicht normal zu bezeichnen sind, 
„mildernde Umstände“ zu erwirken. 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 13 


seitens der Richter und Laien gegen die Sachverständigen-Gutachten, 
welche nach ihrer Meinung alle Verbrecher als Anormale in ärzt- 
lichen Schutz nehmen wollen, besteht auch gegenwärtig. Noch im 
Jahre 1892 konnte in der „Kreuzzeitung‘“ ein von mehr als 100 
Männern, unter ihnen Ihering und Treitschke, unterzeichneter Auf- 
ruf erscheinen, in welchem verlangt wird, dass die Entscheidung 
über jede Entmündigung wegen Geisteskrankheit und über jede 
Internierung in einer Irrenanstalt in die Hand einer „Kommission 
unabhängiger Männer, die das Vertrauen ihrer Mitbürger geniessen“, 
gelegt werde. Auf den Versammlungen des psychiatrischen Vereins 
der Rheinprovinz in den Jahren 1892 und 93 wurde seitens Pelman 
und Nötel, auf der Jahressitzung des Vereins der deutschen Irren- 
ärzte zu Frankfurt a./M. im Jahre 1893 seitens Zinn und Pelman 
aufs entschiedenste gegen diesen Aufruf protestiert, und es wurden 
mehrere gegen denselben gerichtete Thesen einstimmig von den in 
Frankfurt versammelten Irrenärzten angenommen. 

Seit jener Zeit ist zwar eine entschiedene Besserung in der 
Bewertung ärztlicher Gutachten seitens des Richterstandes und 
Laienpublikums schon eingetreten; wenn dennoch das Misstrauen 
gegen die ärztlichen Sachverständigen noch häufig zu Tage tritt, so 
trägt daran der Umstand mit Schuld, dass dasselbe in der That in 
manchen Fällen nicht ungerechtfertigt ist; eine gediegenere Aus- 
bildung der Sachverständigen, speciell eine bessere Unterweisung 
derselben in der Psychiatrie (die Aufnahme der Psychiatrie in die 
Prüfungsordnung des Staatsexamens stellt den ersten Schritt zur 
Besserung dar) würde hierin entschieden Wandel schaffen, sie würde 
in Zukunft das Vorkommen mancher in den einzelnen Gutachten 
sich gegenwärtig noch häufig findender Widersprüche zwischen den 
Sachverständigen nicht aufkommen lassen, die einzelnen Fälle klarer 
und präciser zu analysieren helfen und auf solche Weise die Wert- 
schätzung des ärztlichen Gutachtens auch in den Augen der Richter 
erhöhen. Hierdurch würde nicht nur eine häufigere Zuziehung von 
Sachverständigen seitens des Richterstandes erzielt werden, sondern 
es würde gleichzeitig die Zahl derjenigen Fälle in Zukunft ver- 
mindert werden, in welchen der Geisteszustand des Angeklagten 
von dem Arzte nicht richtig beurteilt wird und ein nach $ 51 zu 
Exculpierender ungerechtfertigter Weise als zurechnungsfähig er- 


14 Dr. Kurt Mendel, 


achtet wird. Nächst der grösseren psychiatrischen Vorbildung 
würde zur Verbesserung der Sachverständigen-Leistungen eine sorg- 
fältigere und längere Beschäftigung des Gutachters mit dem Straf- 
falle entschieden von Nutzen sein, allerdings wird dies nicht nur 
wegen Zeitmangels, sondern auch wegen der unwürdigen Honorierung 
der Bemühungen des Sachverständigen bis auf Weiteres ein „pium 
desiderium“ bleiben. Das Gesetz selbst bietet ja dem Gutachter 
durch den $ 80 der Strafprocessordnung die Gelegenheit, möglichst 
viel Material zur Beurteilung zusammenzuführen: 


$ 80. Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung 
des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere 
Aufklärung verschafft werden. 

Zu demselben Zwecke kann ihm gestattet werden, die Akten einzusehen, der 
Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an dieselben 
unmittelbar Fragen zu stellen. 


Wenn dennoch Zweifel an dem Bestehen einer Geisteskrankheit 
oder an deren Wesen vorhanden sind, wenn — wie so häufig — 
erst eine längere Beobachtung entscheiden kann, ob Gesundheit, 
Krankheit, Simulation vorliegt, so steht dem Gutachter der $ 81 
der Strafprocessordnung zur Seite: 


$ 81. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des An- 
geschuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach Anhörung 
des Verteidigers anordnen, dass der Angeschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt 
gebracht und dort beobachtet werde. 

Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von 6 Wochen nicht übersteigen. 


Andrerseits ist aber auch von den Juristen ein besseres Ver- 
ständnis für die Psychiatrie als bisher zu verlangen. Oft hat der 
Sachverständige seine Schuldigkeit gethan, die Krankheit richtig er- 
kannt und er fordert die Exculpierung; die Erfüllung seiner Forderung 
scheitert aber an den falschen Anschauungen und Vorurteilen, in 
denen die Richter und Beamte befangen sind, die in dem Arzte 
einen Eindringling in ihre Rechte erblicken; für die Juristen sollte 
die „forensische Psychiatrie“ eine obligatorische Vorlesung während 
ihres Universitätsstudiums bilden. Nur so kann erlangt werden, 
dass der Richtende einsieht, wie schwierig oft für den Nicht- 
Psychiater die Beurteilung des Geisteszustandes einer Person ist, 
dass er fachmännische Gutachten würdigt und vor der Urteilsfällung 
noch immer die Frage in Erwägung zieht, ob denn wirklich der 
Angeschuldigte in geistig völlig normalem Zustande seine That be- 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ’? 15 


gangen hat oder ob nicht vielmehr in dem vorliegenden Falle eine 
gewisse Beziehung zwischen Geisteskrankheit ‘und Verbrechen be- 
steht. Waltet in dieser Frage irgend ein Zweifel ob, so hat der 
Richter die Pflicht, einen Sachverständigen zuzuziehen, denn er 
muss alles aufwenden, um nur denjenigen Verbrecher zu verurteilen, 
welcher in zurechnungsfähigem Zustande gehandelt hat. Um hierin 
völlig sicher zu gehen, müssten die Richter im Falle der Ablehnung 
eines ärztlichen Gutachtens ein Obergutachten von psychiatrischer 
Seite einfordern und so sich Klarheit über den Geisteszustand des 
Angeklagten zu verschaffen suchen, auch jedem Antrage der Ver- 
teidigung auf Zuziehung eines Sachverständigen stattgeben. 


Ebenso wie in strafrechtlicher Beziehung das Strafgesetzbuch 
und die Strafprozessordnung als mächtiger Schutz vor Schaden 
und ungerechter Behandlung dem Geisteskranken zur Seite steht, 
ebenso sucht in civilrechtlichen Angelegenheiten das Bürgerliche 
Gesetzbuch für den geistig Abnormen in weitgehendster Weise zu 
sorgen und ihn sowie die Seinen vor Schaden zu bewahren. Damit 
aber die betreffenden Bestimmungen in Anwendung kommen können, 
muss naturgemäss die geistige Erkrankung árztlicherseits erkannt 
und nachgewiesen sein. Eine Verkennung des Leidens und die 
Annahme geistiger Gesundheit da, wo Psychose in Wirklichkeit 
vorliegt, macht die betreffende Person des Schutzes seitens der 
Gesetze verlustig, während andrerseits mit peinlicher Sorgfalt 
darüber gewacht werden muss, dass kein geistig Gesunder — etwa 
auf Grund eines wissenschaftlich falschen Attestes und dement- 
sprechender Geschäftsunfähigkeits-Erklärung — in irgend einer Weise 
durch Intriguen seitens anderer geschädigt wird. Demnach ist auch 
hierbei eine genügende psychiatrische Vorbildung für den Arzt 
Erfordernis. Ist aber die psychische Abnormität der betreffenden 
Person erkannt, so kann das Civilrecht in vieler Beziehung eine 
Uebervorteilung des Kranken seitens anderer Personen vereiteln, 
so wie 2. dem eventuell schon geschädigten Kranken Ersatz für den 
Schaden verschaffen und 3. den Kranken selbst schützen, falls er, 
durch seinen krankhaften Zustand dazu verleitet, andere schädigt. 
Letzteres beides vermag das B.G.B. durch folgende Paragraphen: 


$ 827. (Dieser Paragraph berücksichtigt den Fall, dass der Geisteskranke 
der Schädigende, also das Subjekt ist): Wer im Zustande der Bewusstlosigkeit oder 


16 Dr. Kurt Mendel, 


in einem die freie Willensbestimmung ausschliessenden Zustande krankbafter 
Störung der Geistesthátigkeit einem Anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden 
nicht verantwortlich. 

$ 823. (In dieser Bestimmung ist der Kranke das Objekt, der Geschädigte.) 
Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, 
das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines Anderen widerrechtlich verletzt, ist 
dem Anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. — 


Der Uebervorteilung des Kranken seitens seiner gesunden Mit- 
menschen wird aber entgegengesteuert durch die Möglichkeit der 
Entmündigung, die Pflegschafts-Einsetzung und die Bestimmungen 
über die Geschäftsfähigkeit. 

Die Einschränkungen, welche speziell letztere Paragraphen dem 
Geisteskranken auferlegeu, gewähren demselben sowie seiner Familie 
einen grossen Schutz. Das B.G. B. erachtet das gesunde Individuum bis 
zum vollendeten siebenten Lebensjahre als völlig „geschäftsunfähig“ 
($ 104 Z. 1 B.G.B.), vom 7. bis zum vollendeten 21. Lebensjahr 
als „beschränkt geschäftsfähig“ (§ 106 B.G. B.), von dann an als „voll- 
jábrig" und „geschäftsfähig“. ($ 2 B. G. B.) Dem Kind unter 7 Jahren 
gleichgestellt ist laut $ 104 Z. 2 und 3 derjenige, welcher sich in einem 
die freie Willensbestimmung ausschliessenden Zustande krankhafter 
Störung der Geistesthätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner 
Natur nach ein vorübergehender ist, sowie der wegen Geisteskrankheit 
Entmündigte d. h. ($ 6 Z. 1) derjenige, welcher infolge von Geistes- 
krankheit seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag. Diese 
„Geschäftsunfähigen‘“ können weder aktiv ein Rechtsgeschäft vornehmen, 
noch passiv etwas durch eine Willenserklärung ihnen Zugedachtes 
empfangen, werden vielmehr in beiderlei Hinsicht von dem gesetz- 
lichen Vertreter völlig ersetzt und sind demnach in sozialer Hinsicht 


in höchstem Grade beschränkt, wie folgende Paragraphen darthun: 
§ 105. Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. Nichtig 
ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Bewusstlosigkeit oder vor- 
übergehender Störung der Geistesthätigkeit abgegeben wird. 
$ 131. Wird die Willenserklärung einem Geschäftsunfähigen gegenüber ab- 
gegeben, so wird sie nicht wirksam, bevor sie dem gesetzlichen Vertreter zugeht. 


Besonders hervorgehoben sei hier bei der Frage der Geschäfts- 
unfähigkeit noch, dass der Geisteskranke nicht entmündigt zu sein 
braucht, um als geschäftsunfähig zu gelten, dass vielmehr — laut 
§ 104 Z. 2 — auch derjenige chronische Kranke zivilrechtlich geschützt 
ist, der zwar nach $ 6, 1 reif für die Entmündigung ist, bei dem 
aber das betr. Verfahren noch nicht eingeleitet ist. 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 17 


Dem gesunden Individuum zwischen dem 7. und 21. Lebens- 
jahre stellt das B.G.B. laut $ 114 gleich denjenigen, der wegen 
Geeistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, 
der durch Verschwendung oder infolge von Trunksucht sich oder 
seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt, der in Folge von 
Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder 
die Sicherheit Anderer gefährdet und schliesslich denjenigen, welcher 
nach $ 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist. 


$ 114. Wer wegen Geistesschwáche, wegen Verschwendung oder wegen 
Trunksucht entmündigt oder wer nach $ 1906 unter vorläufige Vormundschaft 
gestellt ist, steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, 
der das 7. Lebensjahr vollendet hat. 


Allen diesen „beschränkt Geschäftsfähigen“ gewährt das Gesetz 
das Recht, ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters selbständig 
ein Rechtsgeschäft abzuschliessen, welches ihnen einen rechtlichen 
Vorteil einbringt ($ 107); völlig unabhängig von jedermann, sowohl 
vom gesetzlichen Vertreter wie vom Vormundschaftsgericht, und da- 
her ganz frei wie ein Gesunder sind sie gemäss gewissen Einzel- 
bestimmungen des B.G.B. in folgenden Punkten: sie können die 
Ehelichkeit anfechten und anerkennen ($ 1595 und 1598), können 
als Vater resp. Mutter die Einwilligung zur Eingehung der Ehe der 
Kinder geben ($ 1307), für bestimmte Fälle die Ehe anfechten 
(§ 1336; s. auch $ 1331), ihre Zustimmung erklären zu der durch 
den anderen Ehegatten getroffenen letztwilligen Verfügung über das 
Recht eines Abkömmlings ($ 1516), einen Erbvertrag anfechten und 
aufheben (§§ 2282 und 2290), den Rücktritt vom Erbvertrag erklären 
($ 2296) und den Erbverzicht annehmen ($ 2347); ferner darf die 
in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Mutter des Kindes oder Frau 
des Vaters ihre Einwilligung zur Ehelichkeitserklärung des Kindes 
erteilen ($ 1729) und schliesslich kann der beschränkt Geschäfts- 
fähige seine Einwilligung dazu geben, an Kindesstatt angenommen 
zu werden ($ 1748). In allen übrigen Rechtsgeschäften bedürfen 
sie hingegen der Einwilligung des Vormundes, und, bei besonders 
wichtigen Geschäften, derjenigen des Vormundschaftsgerichts (§§ 1437, 
1729, 1751, 2275). Von dieser Genehmigung hängt dann überhaupt 
erst die Wirksamkeit des Vertrags ab ($ 108). Ausdrücklich aus- 
geschlossen ist der wegen Geistesschwäche Entmündigte nach $ 
1780 von der Führung der Vormundschaft, nach $ 1865 von der 

2 


18 Dr. Kurt Mendel, 


Mitgliedschaft des Familienrats und nach $ 2229 Abs. 3 von der 
Errichtung eines Testaments. 

Die geschilderte Einschränkung der Geschäftsfähigkeit bewahrt 
den Geistesschwachen vor Uebervorteilung seitens anderer Personen, 
welche, die Einsichtslosigkeit des Kranken benutzend, letzteren aus- 
beuten wollen, schützt ihn demnach gegen eigene Unkenntnis; andrer- 
seits räumen aber neben den vorher erwähnten Paragraphen ($ 107 
etc.) die §§ 112 und 113 dem beschränkt Geschäftsfähigen noch 
immerhin eine gewisse und genügende Freiheit und Selbständigkeit 
ein, ersterer Paragraph, indem er ihm gestattet, mit Genehmigung 
des Vormundschaftsgerichts ein Erwerbsgeschäft zu betreiben, $ 113, 
indem er ihm erlaubt, mit Ermächtigung des gesetzlichen Vertreters 
— die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts ist hierbei nicht 


nötig — in Dienst oder in Arbeit zu treten: 


§ 112. Ermächtigt der gesetzliche Vertreter mit Genehmigung des Vor- 
mundschaftsgerichts den Minderjährigen zum selbständigen Betrieb eines Erwerbs- 
geschäfts, so ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt ge- 
schäftsfähig, welche der Geschäftsbetrieb mit sich bringt. Ausgenommen sind 
Rechtsgeschäfte, zu denen der Vertreter der Genehmigung des Vormundschafts- 
gerichts bedarf. 

Die Ermächtigung kann von dem Vertreter nur mit Genehmigung des Vor- 
mundschaftsgerichts zurückgenommen werden. 

$ 113. Ermächtigt der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen in Dienst 
oder in Arbeit zu treten, so ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte un- 
beschränkt geschäftsfähig, welche die Eingehung oder Aufhebung eines Dienst- 
oder Arbeitsverhältnisses der gestatteten Art oder die Erfüllung der sich aus 
einem solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtungen betreffen. Ausgenommen 
sind Verträge, zu denen der Vertreter der Genehmigung des Vormundschafts- 
gerichts bedarf. 

Die Ermächtigung kann von dem Vertreter zurückgenommen oder einge- 
schränkt werden. 

Ist der gesetzliche Vertreter ein Vormund, so kann die Ermächtigung, wenn 
sie von ihm verweigert wird, auf Antrag des Minderjährigen durch das Vor- 
nıundschaftsgericht ersetzt werden. Das Vormundschaftsgericht bat die Ermächtigung 
zu ersetzen, wenn sie im Interesse des Mündels liegt. 

Die für einen einzelnen Fall erteilte Ermächtigung gilt im Zweifel als all- 
gemeine Ermächtigung zur Eingehung von Verhältnissen derselben Art. 


In gleicher Weise wie die Bestimmungen über die Geschäfts- 
fähigkeit dienen auch diejenigen über die Vormundschaft und die 
Pflegschaft privaten Interessen und suchen die betreffenden Kranken 
vor materiellem Schaden zu bewahren unter gleichzeitiger möglichst 
weitgehender Rücksichtnahme auf die Selbständigkeit und Handlungs- 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 19 


freiheit des Erkrankten. Letztere ist bei der Pflegschaft schon da- 
durch gewährleistet, dass der unter Pflegschaft Stehende geschäfts- 
fähig bleibt und nur einzelne seiner Angelegenheiten oder einen 
bestimmten Kreis derselben dem Pfleger zur Besorgung übergiebt. 
Auch darf die Pflegschaft nur mit Zustimmung des „geistig Ge- 
brechlichen“ errichtet werden und nicht länger währen, als der 
Betreffende selbst es verlangt. 
Die diesbezüglichen Paragraphen des B.G.B. lauten: 


8 1910, 2. Vermag ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, 
infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne seiner Angelegenheiten 
oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögens- 
angelegenheiten, nicht zu besorgen, so kann er für diese Angelegenheiten einen 
Pfleger erhalten. 

Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des Gebrechlichen angeordnet 
werden, es sei denn, dass eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist. 

$ 1920. Eine nach $ 1910 angeordnete Pflegschaft ist von dem Vormund- 
schaftsgericht aufzuheben, wenn der Pflegebefohlene die Aufhebung verlangt. 


Die Pflegschaft kann naturgemäss nur in einer verhältnismässig 
geringen Anzahl von Fällen geistiger Erkrankung in Betracht kommen. 
Schon alle jene Geisteskrauken fallen für dieselbe fort, denen es an 
Krankheitseinsicht mangelt, da dieselben kaum ihre Zustimmung zur 
Pflegschaft geben werden, wie es das Gesetz verlangt. 


Bedeutend häufiger als die Pflegschaft kommt die Vormundschaft 
in Frage. Dieselbe stellt einen um vieles stärkeren Eingriff in die 
persönlichen Rechte dar; übernimmt doch der Vormund die Fürsorge 
für die Angelegenheiten des zu Entmündigenden im Ganzen, 
während für den unter Pflegschaft zu Stellenden die Besorgung nur 
einzelner seiner Angelegenheiten dem Pfleger übertragen wird. 

Zur Herbeiführung einer Entmündigung bedarf es eines An- 
trages, für dessen Entscheidung meist eine geraume Zeit notwendig 
ist. Um für diesen Zeitraum von dem zu Entmündigenden Schaden 
und Geldverlust abzuwenden (R.G.E. Bd. 38 No. 40), ist die „vor- 
läufige Vormundschaft“ durch folgende Paragraphen ins B.G.B. ein- 
geführt worden: 


$ 1906. Ein Volljähriger, dessen Entmündigung beantragt ist, kann unter 
vorläufige Vormundschaft gestellt werden, wenn das Vormundschaftsgericht es zur 
Abwendung einer erheblichen Gefährdung der Person oder des Vermögens des 
Volljährigen für erforderlich erachtet. 
$ 1908. Die vorläufige Vormundschaft endigt mit der Rücknahme oder der 
rechtskräftigen Abweisung des Antrags auf Entmündigung. 
2* 


20 Dr. Kurt Mendel, 


Erfolgt die Entmiindigung, so endigt die vorläufige Vormundschaft, wenn auf 
Grund der Entmündigung ein Vormund bestellt wird. 

Die vorläufige Vormundschaft ist von dem Vormundschaftsgericht aufzuheben, 
wenn der Mündel des vorläufigen vormundschaftlichen Schutzes nicht mehr be- 
dürftig ist. 


8 114. Wer... nach $ 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, 
steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der das 
7. Lebensjahr vollendet hat. 


Nach $ 115, 2 sind die von oder gegenüber dem Entmündigten vorgenom- 
menen Rechtsgeschäfte wirksam, wenn im Falle einer vorläufigen Vormundschaft 
der Antrag auf Entmündigung zurückgenommen oder rechtskräftig abgewiesen oder 
der die Entmündigung aussprechende Beschluss in Folge einer Anfechtungsklage 
aufgehoben wird. 

Die Entmündigung selbst ist durch folgende Hauptparagraphen 
geregelt: 

8 5 Entmündigt kann werden: 

1. wer in Folge von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegen- 
heiten nicht zu besorgen vermag; 
2. wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Not- 
standes aussetzt; 
3. wer in Folge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen 
vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt 
oder die Sicherheit anderer gefährdet. 


Wie ersichtlich, sorgt dieser Paragraph nicht nur für die Wohl- 
fahrt des fürsorgebedürftigen Kranken, sondern sucht gleichzeitig 
die Familie und auch die Gesellschaft im allgemeinen vor dem von 
ihm aus drohenden Schaden zu schützen. 


Damit auch hier niemand in ungerechtfertigter Weise in seiner 
Geschäftsfreiheit beeinträchtigt wird, hat das Gesetz die Pflicht 
möglichst genügend Garantieen zu gewährleisten, um die Entmündi- 
gung eines Geistesgesunden unmöglich zu machen. In diesem Sinne 
bestimmt $ 654 der C.P.O., dass der zu Entmündigende persönlich 
und unter Zuziehung eines oder mehrerer Sachverständigen zu ver- 
nehmen ist und $ 655, dass die Entmündigung nicht ausgesprochen 
werden darf, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverstän- 
dige über den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat. 
Auch steht laut $ 664 dem Entmündigten selbst das Recht zur Klage 
gegen den die Entmündigung aussprechenden Beschluss zu. 

In allen zweifelhaften Fällen aber, d. h. überall da, wo eine 
sichere Entscheidung nicht getroffen werden kann, ob der Geistes- 
zustand die Besorgung der eigenen Angelegenheiten noch zulässt 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 91 


oder nicht, kann — entsprechend dem $ 81 der Strafprozessordnung 
(s. S. 14) -— auch in Sachen der Entmündigung laut $ 656 der C. P. O. 


eine Anstaltsbeobachtung beantragt werden. 


$ 656 C.P.O. Mit Zustimmung des Antragstellers kann das Gericht anordnen, 
dass der zu Entmündigende auf die Dauer von höchstens 6 Wochen in eine Heil- 
anstalt gebracht werde, wenn dies nach ärztlichem Gutachten zur Feststellung des 
Geisteszustandes geboten erscheint und ohne Nachteil für den Geisteszustand des 
zu Entmündigenden ausführbar ist. 


Das Gesetz berücksichtigt an mehreren Stellen speziell letzteren 
Punkt, indem es z. B. auch im $ 654, 3 der C. P.O. bestimmt, dass die 
persönliche Vernehmung unterbleiben darf, wenn sie nicht ohne Nachteil 
für den Gesundheitszustand des zu Entmündigenden ausführbar ist. 

Angenommen nunmehr, die Krankheit des zu Entmündigenden 
sei von Seiten der Sachverständigen als eine derartige befunden 
worden, dass die Voraussetzungen für den $6 des B.G.B. gegeben 
sind, so besteht dadurch nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch noch 
nicht die Notwendigkeit, den Kranken zu entmündigen, wie dies 
im Code civil und im Landrecht vorgeschrieben war. Gegenwärtig 
kann in Anbetracht des Wortlauts des $ 6 („Entmündigt kann 
werden“ u. s. w.) niemand gezwungen werden, den Antrag auf Ver- 
hängung der Entmündigung zu stellen, auf diese Weise wird z. B. 
dem Staatsanwalt erlassen, einem mittellosen, schon lange in einer 
Anstalt Internierten gegenüber die Entmündigung zu beantragen 
und so werden manchem Kranken die für ihn nicht unerheblichen 
Kosten, Anstrengungen und Aufregungen des immerhin umständ- 
lichen Entmündigungsverfahrens erspart, ein Vorteil, auf welchen 
besonders Ernst Schultze in Bonn aufmerksam gemacht hat (s. „Die 
für die gerichtliche Psychiatrie wichtigsten Bestimmungen des 
Bürgerlichen Gesetzbuches.* Sammlung zwangloser Abhandlungen 
aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten, Bd. III, 
H. 1 und Hoche’s Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie.) 

Welches die Consequenzen einer Entmündigung — Geschäfts- 
unfähigkeit für den Geisteskranken, beschränkte Geschäftsfähigkeit | 
für den Geistesschwachen und Trunksüchtigen — sind, ist bereits oben 
bei Besprechung der Geschäftsfähigkeit des näheren ausgeführt 
worden, hier sei nur noch auf einige allgemeine Gesichtspunkte be- 
züglich des Zweckes, welchen die Entmündigung in socialer Hinsicht 
befolgt, hingewiesen. Derselbe ist, soweit der zu Entmündigende 


99 Dr. Kurt Mendel, 


selbst, nicht die Gesellschaft im allgemeinen in Frage kommt, ein 
doppelter: erstens soll die Entmündigungserklärung den Kranken 
und seine Familie vor jeglichem Nachteil, der ihm bei Besorgung 
seiner Angelegenheiten, speciell seiner Vermögensverhältnisse, er- 
wachsen kann, schützen, zweitens soll sie ihm jedoch gleichzeitig 
Freiheit und Selbständigkeit lassen in allen jenen Angelegenheiten, 
welche der Entmündigte ungeachtet seiner Krankheit zu erledigen 
imstande ist. Je schwerer die Erkrankung ist, um so mehr muss 
er naturgemäss geschützt, um so mehr in seiner Geschäftsfähigkeit 
beschränkt werden. Vor dem Gesetze heisst er alsdann „geistes- 
krank“. Ist hingegen die Krankheit eine leichtere, lässt sie dem 
Erkrankten noch genügend Einsicht, um einige seiner Angelegen- 
heiten zu überschauen und zu regeln, so ist er im Sinne des Ge- 
setzes „geistesschwach“ und seine Geschäftsfähigkeit zum Teil noch 
erhalten. Dass diese Definitionen von „geisteskrank“ und ,,geistes- 
schwach“ in psychiatrischem Sinne unhaltbar sind, liegt auf der 
Hand. Es bestehen eben nur quantitative Unterschiede zwischen 
beiden Bezeichnungen, sie stellen für die gesamten psychiatrischen 
Fälle 2 verschiedene Grade von Erkrankung vor, etwa vergleichbar 
der „Imbecillität“ und ,Idiotie“ als leichteren resp. schwereren Grad 
für die gesamten Fälle von angeborenem Schwachsinn. So hat auch 
das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 15. Februar 1902 
folgendes als richtig erkannt: „Der Unterschied beider Begriffe 
(Geisteskrankheit und Geistesschwäche) ist ... nur in dem Grade 
der geistigen Anomalie zu finden, und zwar nach der Richtung, 
ob die krankhafte Störung der Geistesthätigkeit dem Erkrankten voll- 
ständig die Fähigheit nimmt, die Gesammtheit seiner Angelegenheiten 
zu besorgen, oder ob sie ihm wenigstens noch diejenigen Fähigkeiten 
lässt, welche bei einem Minderjährigen von 7—21 Jahren in der 
Besorgung seiner Angelegenheiten vorausgesetzt werden können.“ .. . 
„Fehlt es nun aber hiernach an jedem zuverlässigen Merkmale eines 
wesentlichen Unterschiedes zwischen Geisteskrankheit und Geistes- 
schwäche, so ergiebt sich mit Sicherheit doch so viel, dass jene 
die schwerere und diese die leichtere Form ist“ Da es 
keinem Zweifel unterliegen kann, in welchem Sinne hier der Gesetz- 
geber die Ausdrücke ,,geisteskrank“ und „geistesschwach“, die an 
sich überaus schlecht gewählt sind, gebraucht hat, da ferner eine 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 23 


gewisse Allgemeinheit der Ausdrucksweise bei diesen Bestimmungen, 
welche von Fall zu Fall auf ihre Anwendbarkeit hin geprüft werden 
müssen, entschieden am Platze ist, so mag die Fassung des Gesetzes, 
trotz ihrer Incorrectheit in rein medicinischem Sinne, bestehen bleiben. 
Zu tadeln bleibt aber immerhin die Form, in welcher der wegen 
„Geistesschwäche“ erfolgte Entmündigungsbeschluss dem Kranken 
mitgeteilt werden muss, zumal durch dieselbe — und speziell schon 
durch das Lesen des auf ihn angewandten Terminus „geistesschwach“ 
— der zu Entmündigende sich verletzt fühlen und gesundheitlich 
Schaden erleiden kann. 

Es ist Pflicht des Staates, wo ein Kranker in Folge des durch 
seine Krankheit bedingten Mangels an Einsicht und Verständnis 
Gefahr läuft, sozial geschädigt zu werden, helfend einzuspringen und 
dem Schutzbedürftigen einen Vormund zu gewähren, welcher in der 
Abmachung der Rechtsgeschäfte die Interessen des Kranken und 
seiner Familie wahrzunehmen hat: der Idiot, der verblödete Hebe- 
phrene, der durch seine Selbstbeschuldigungsgedanken zu unver- 
nünftigem Handeln getriebene Melancholiker, der demente oder 
agitierte Paralytiker, der zu übereiltem Thun und Geldausgaben 
geneigte Manische, der Paranoiker, welcher in seinen Handlungen 
unter dem Einflusse von Grössen- oder Verfolgungsideeen und von 
Hallucinationen steht — sie alle bedürfen, um in ihren Interessen 
nicht geschädigt zu werden, der civilrechtlichen Beschützung, welche 
ev. auch ohne ihre eigene Einwilligung einsetzen muss. 

In ‘gleicher Weise muss der Staat dem Trinker, welcher seine 
Brutalität der Frau und den Kindern gegenüber auslässt, infolge 
Verbrauchs des erworbenen Verdienstes für sein Alkoholbedürfnis 
die Ernährung und Erziehung seiner Kinder vernachlässigt und ins- 
besondere sich selbst immer mehr dem geistigen und körperlichen 
Ruin zutreibt, die Möglichkeit zu schaden und selbst Schaden zu 
erleiden nehmen. Das Gesetz sucht dies dadurch zu erreichen, dass 
es ihn entmündigt, einen Vertreter für die Wahrnehmung seiner 
Interessen stellt, es hat aber überdies die Macht, in wirksamster 
Weise eine Besserung und Heilung des Erkrankten einzuleiten. 

Der Trinker kann, in seinen häuslichen Verhältnissen belassen, 
nicht gebessert werden, für ihn ist eine Überweisung in eine Irren- 
anstalt resp. in eine Trinkerheilanstalt eine conditio sine qua non 


94 Dr. Kurt Mendel, 


für seine Heilung. Eine solche Internierung ist aber durch die 
Entmündigungserklärung ermöglicht; auch dann, wenn er noch keine 
gemeingefáhrliche Handlung begangen hat, kann der entmindigte 
Trunksüchtige zwangsweise von seinem Vormunde in eine Anstalt 
untergebracht werden. Auf diese Weise wird entschieden in Zukunft 
mancher Alkoholiker nicht nur von weiterem gesundheitlichem, söcialem 
und pecuniärem Schaden bewahrt bleiben, sondern auch der Heilung 
zugeführt und seiner Familie wiedergegeben werden können. Als- 
dann ist eine Aufhebung der Entmündigung natürlich leicht zu 
bewerkstelligen. 


8 6, letzter Absatz. „Die Entmündigung ist wieder aufzuheben, wenn der 
Grund der Entmiindigung wegfällt.“ 


Somit lässt sich das Gesetz in seinem Trunksuchts-Entmündigungs- 
paragraphen nicht nur den rechtlichen Schutz des Trinkers angelegen 
sein, es giebt gleichzeitig auch die Möglichkeit, therapeutisch einzu- 
greifen und sucht dem Alkoholismus entgegenzukämpfen. Es steht 
zu hoffen, dass die kleinen Fehler, welche den Bestimmungen zwecks 
Entmündigung Trunksüchtiger noch anhaften, wie z. B. der, dass 
der Entmündigungsantrag nicht vom Staatsanwalt gestellt werden 
kann, auch die Nicht- Anwendbarkeit dieser Bestimmungen auf 
Morphinisten oder Cocainisten, mit der Zeit eine Verbesserung er- 
fahren werden; dann werden gerade diese Paragraphen als eine der 
schönsten Errungenschaften des neuen Gesetzes dastehen. 

Straf- und Civilrecht haben sich — wie wir in Vorstehendem 
gesehen haben — in zahlreichen Bestimmungen der Geisteskranken 
angenommen, um von ihnen nach Möglichkeit jedweden Schaden 
abzuwenden, welcher dem Irren aus seinem Kranksein erwachsen 
kann. Neben diesen Gesetzesparagraphen bestehen aber noch eine 
Reihe von Verordnungen, Erlassen und Institutionen, welche dazu 
bestimmt sind, die Geisteskranken zu schützen sowie ihre soziale 
Stellung zu bessern und welche in einem ev. einmal festzulegenden 
Irrengesetze mit Aufnahme finden müssten. 


Von überaus grosser Wichtigkeit sind zunächst diejenigen Be- 
stimmungen, welche sich mit den geistig abnormen Kindern be- 
schäftigen. Vermag doch einerseits die Verkennung oder Ausser- 
achtlassung geistiger Minderwertigkeit eines Individuums während 
dessen frühster Kindheit und erster Schulzeit nicht wieder gut zu 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 95 


machenden Schaden anzurichten, andrerseits aber eine zur Zeit ein- 
geleitete zweckmässige Erziehung von günstigster Bedeutung für das 
ganze Leben der betreffenden Person zu sein und aus manchem, 
der sonst für die Gesellschaft unbrauchbar und ihr zur Last geworden 
wäre, ein nützliches Glied derselben zu gestalten oder ihn wenigstens 
so weit zu bringen, dass er in seiner späteren Lebensstellung für 
sich selbständig zu sorgen imstande ist. 

Indem von diesen Gesichtspunkten aus der Staat bezw. die ein- 
zelnen Gemeinden für die schwachsinnigen Kinder sorgen, wird nicht 
nur im Interesse der letzteren ein gutes Werk gethan, insofern der 
in ihnen noch steckende gesunde und gute Kern herausgeschält wird, 
sie vor Verspottung und häuslicher Misshandlung geschützt werden, 
ihre soziale Stellung verbessert wird, sondern es wird gleichzeitig 
auch das Interesse der Allgemeinheit wahrgenommen, indem durch 
zweckentsprechende Erziehung, durch Entfernung der kranken Kinder 
aus dem sie schädigenden Milieu (Verbrecherfamilie etc.) manche 
kriminelle Handlung verhütet und die Zahl der Gewohnheitsver- 
brecher und Vagabunden entschieden vermindert wird; diese Vor- 
teile wiegen die Last der für die Gemeinde allerdings sehr grossen 
Kosten, welche ein gut eingerichtetes Fürsorgesystem für die schwach- 
sinnigen Kinder erheischt, völlig auf, zumal da gleichzeitig dank 
dieser Fürsorge und der durch sie herbeigeführten Zurechtweisung 
vieler erwerbsbeschränkter und arbeitsscheuer Personen den Armen- 
Verbänden manche Geldausgabe erspart bleibt. 

Die Fälle, in welchen ein geistig abnormes Kind, ohne selbst 
Schaden zu nehmen, in der eigenen Familie verbleiben kann, sind 
sehr selten. Es ist hierzu nicht nur ein hoher Wohlstand nötig, 
welcher den Eltern gestattet, dem Kinde die notwendige Überwachung, 
eine pädagogisch geleitete Erziehung, eine gute körperliche Pflege 
angedeihen zu lassen, sondern es ist auch gleichzeitig Erfordernis, 
dass in der Familie selbst nach jeder Richtung hin dem Kinde ein 
gutes Vorbild gegeben wird. Aber selbst wenn diese Forderungen 
erfüllt sind, so kann doch noch — und zwar im Interesse der 
anderen, gesunden Kinder der Familie — die Entfernung des kranken 
Kindes als durchaus geboten erscheinen. Dann kommen, falls nicht 
Pensionen bei Lehrern etc. genügen, jene Anstalten in Betracht, in 
welchen zahlungsfähige Schwachsinnige Aufnahme finden und von 


26 Dr. Kurt Mendel, 


denen in Deutschland die Trüper’sche Anstalt bei Jena sich mit 
Recht eines besonders guten Rufes erfreut. 

Wie steht es aber im allgemeinen mit dem imbecillen Kinde 
zu der Zeit, wo die Schulpflichtbestimmungen seine Einschulung 
fordern ? Dasselbe wird in die Schule gesandt, dort aufgenommen, 
bleibt aber bald hinter den Schulgenossen zurück, wird von letzteren 
eventuell noch verlacht und verspottet, vom Lehrer aber wegen 
„Faulheit“, „Unaufmerksamkeit“, „schlechten Betragens“ etc. bestraft 
und schliesslich, da doch alle ihm zugewandte Mühe umsonst ist, 
völlig vernachlässigt. Heimgekehrt empfängt es dann von den Eltern 
noch Prügel wegen der Misserfolge in der Schule, es wird auf diese 
Weise mehr und mehr verbittert, aber niemand kommt auf den Ge- 
danken, dass es sich um ein krankes Individuum handeln könne, 
vielmehr gelten solche Kinder überall als missratene Taugenichtse, 
die dann auch in der That schliesslich, sorgfältiger Ausbildung ent- 
behrend, zu unverbesserlichen Vagabunden und Gewohnheitsver- 
brechern werden. 

Hier Wandel zu schaffen, hier schützend für die unglücklichen 
Stiefkinder der menschlichen Gesellschaft einzutreten ist die Institution 
der Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder, ferner das Fürsorge- 
erziehungsgesetz und die Anstaltserziehung berufen. Letztere hat 
da einzutreten, wo es sich um stärkere Grade von Schwachsinn und 
um Kinder handelt, welche in den Hilfsschulen mit den Kameraden 
nicht weiter kommen; die Anstalt hätte demnach die Hilfsschule 
von denjenigen Elementen zu entlasten, welche ihrer allzu geringen 
Begabung wegen den Unterricht und die Weiterentwicklung der 
übrigen nur stören und aufhalten würden. Der Zögling wird aber 
ausserdem einer Idioten-Anstalt dann überwiesen werden müssen, 
wenn der Wohnsitz der Eltern — z. B. auf dem Lande oder in 
einer kleinen Stadt — nicht gestattet, das Kind einer Hilfsschule 
(welche doch immerhin nur in grösseren Bevölkerungs-Uentren bestehen 
kann) zuzusenden. 

Für Kinder, welche an häufigen epileptischen Anfällen leiden, 
wäre in ihrem Interesse sowie in demjenigen der Hilfsschulen die 
Ueberweisung an besondere Schulen oder Anstalten — wie solche 
ja bereits bestehen — das Zweckmässigste. 

Im Interesse der Schüler einer Hilfsschule liegt es ausserdem, 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 27 


dass auch solche Elemente ausgeschaltet werden, welche ihrer 
moralischen Defecte wegen einen verderblichen Einfluss auf die 
Kameraden ausüben, die Disciplin der Schule zu untergraben und 
manchen Mitschüler durch ihr böses Beispiel vom Wege der Moral 
zu perversen Neigungen hin abzulenken imstande sind. Für solche 
dem Verbrechertum zutreibende Zöglinge ist das Gesetz über die 
Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 in Kraft getreten. 
Durch dasselbe sollen jugendliche Verwahrloste (bis zum 18. Jahre), 
für welche erfahrungsgemäss nach geschehenem Verbrechen straf- 
rechtliche Maassnahmen zumeist wirkungslos, ja sogar oft verderblich 
sind, auf den rechten Weg zurückgeführt werden; eine planmässige 
Erziehung soll für dieselben einsetzen, sobald sich bei ihnen die 
Spuren der Verwahrlosung zeigen, und es soll nicht erst abgewartet 
werden, bis die Strafthat vollführt ist. 

Zur Stellung des Antrages auf Fürsorgeerziehung beim Vor- 
mundschaftsgericht sind berechtigt und verpflichtet der Landrat, in 
Stadtkreisen der Gemeinde-Vorstand und der Vorsteher der Polizei- 
Behörde; die Kommunal-Verbände müssen dann die ihnen über- 
wiesenen Minderjährigen entweder in Erziehungs- bezw. Besserungs- 
Anstalten oder in geeigneten Familien, sowie in öffentlichen, kirch- 
lichen oder privaten Anstalten unterbringen und, wenn nötig, auch 
ein angemessenes Unterkommen bei der Beendigung der Fürsorge- 
Erziehung sichern. 

Es haben sich bereits jetzt eine erfreulich grosse Anzahl guter 
und für den betreffenden Zweck geeigneter Familien gefunden, 
denen man Zöglinge mit ruhigem Gewissen zur Überwachung und 
Erziehung anvertrauen kann. Daneben müssen natürlich auch die 
Anstalten vielen fürsorgebedürftigen Kindern wie bisher die 
geeignete Unterkunft gewähren. So wurden laut Verwaltungs- 
berichtes des Provinzialausschusses der Provinz Brandenburg vom 
25. Januar 1902 in den ersten 9 Monaten der Geltung des Für- 
sorgeerziehungs-Gesetzes vom 2. Juli 1900 289 männliche und 205 
weibliche (zusammen 494) Zöglinge der Fürsorgeerziehung über- 
geben und zwar hiervon 414 Zöglinge in Anstalten, 75 in Familien 
und 5 in Lehre untergebracht. Von diesen 494 rechtskräftig 
gewordenen Beschlüssen gründeten sich auf Nr. 1 in § 1 d. G. — 
Vernachlässigung durch die Eltern — 185; auf Nr. 2 — Ver- 


298 Dr. Kurt Mendel, 


gehungen der Zóglinge — 95; und auf Nr. 3 — Gefahr vólligen 
sittlichen Verderbens — 214. 

Auf solche Weise reinigt die Fürsorgeerziehungs-Einrichtung 
die Hilfsschulen von den moralisch-minderwertigen Elementen, die 
Idioten-Anstalt dieselben von den auf allzu niedriger Geistesstufe 
Stehenden, die Hilfsschule selbst entlastet ihrerseits die Volksschule 
von den den Unterricht der Normalen hemmenden Schwachbefähigten, 
jede für sich sucht aber die bürgerliche Stellung des ihr Anver- 
trauten nach Möglichkeit zu bessern. 

Die Zahl der Hilfsschulen ist noch keine grosse — i. J. 1901 
hatten ca. 90 deutsche Städte solche —; ein schon jetzt sich bemerk- 
bar machender Fehler ist der, dass die betreffenden Kinder nur für 
einige Stunden des Tages daselbst beaufsichtigt werden, dass sie 
also den Rest des Tages nach wie vor den schädlichen häuslichen 
Einflüssen ausgesetzt sind und dass das in der Schule mühsam Auf- 
gebaute daheim wieder zerstört wird. Mit Recht schlägt deshalb 
L. Laquer vor (, Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder“ 
J. F. Bergmann. Wiesbaden 1901), der Hilfsschule Internate anzu- 
fügen, in denen die Zöglinge gespeist und auch nachmittags 
beschäftigt werden. Von grosser Bedeutung ist die Auswahl geeigneter 
Lehrer resp. Lehrerinnen und die Pflege des Körpers durch Turn- 
unterricht, Gartenarbeit etc. 

Der Segen, welchen die Hilfsschulen den Imbecillen bringen: 
zeigt sich am besten in einer Statistik von Görke, nach welcher 72°/, 
der Schüler der Hilfsschulen nach ihrem Abgang aus denselben 
völlig, 19°/, teilweise erwerbsfähig geworden sind. 

Die Hilfsklassen, welche in vielen Volksschulen als Parallel- 
klassen bestehen, bedeuten nichts als Nachhilfestunden und haben 
eigentlich einen Zweck nur für solche Zöglinge, welche infolge 
körperlichen Krankseins häufig die Schule versäumen müssen oder 
deren Begabung hinter derjenigen der Normal-Schüler nur um ein 
Geringes zurückbleibt; für direkt geistig Abnorme und insbesondere 
Imbecille kommen dieselben, als nicht genügend wirksam, kaum 
in Betracht. 

Von grösster Wichtigkeit nicht nur für die Institution der 
Hilfsschulen, sondern auch ganz allgemein für die Wohlfahrt der 
Schwachsinnigen ist der Schularzt, welchem es obliegt, die geistige 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 29 
Minderwertigkeit zur Zeit zu erkennen und die eventuelle Ein- 
schulung des Individuums in eine Hilfsschule, resp. in eine Fürsorge- 
erziehungs- oder Idiotenanstalt zu veranlassen. Ist doch gerade die 
frühzeitige Erkennung der geistigen Abnormität das Wesentlichste 
bei der Bekämpfung individueller geistiger Schäden und zur Ver- 
hütung sozialer Missstände! Unterstützt muss der Arzt in seinen 
Untersuchungen werden durch den Lehrer, welcher ja hinreichend 
Gelegenheit hat, seine Schüler auf ihren Geisteszustand hin zu 
studieren, den Schwachsinnigen vom Normalbefähigten zu sondern 
und sogar oft gerade dank seinen Beobachtungen erst den Anstoss 
dazu geben wird, dem auffälligen Schüler vom psychiatrischen 
Standpunkte aus eine grössere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. 

Ist ein Imbeciller auf Grund ärztlicher Weisung einer Hilfs- 
schule übergeben, so hat hier eine weitere gründliche Beobachtung 
des Zöglings von Seiten des Arztes stattzufinden, ja dieselbe ist 
fernerhin auch auf diejenige Zeit noch auszudehnen, wo der Schwach- 
befähigte bereits die Hilfsschule verlassen hat, so dass schliesslich 
das ganze Leben desselben in Form eines Krankenjournals oder 
Führungsbuches jederzeit — z. B. bei eventueller gerichtlicher Ver- 
handlung oder bei der Einstellung zum Militär — vorgelegt werden 
kann. 

Die Sorge für passende Stellung, für gute Familien-Unterkunft, 
eine eventuell zu gewährende pekuniäre Unterstützung sind für das 
weitere Loos und die spätere soziale Stellung der aus der Hilfs- 
schule Entlassenen von eminenter Bedeutung und sollten den Ob- 
liegenheiten der Verwaltungen der Hilfsschulen oder denjenigen 
anderer Wohlfahrtsinstitute hinzugefügt werden. 

Gleichfalls wie in der Schule kommen auch in der Dienstzeit 
beim Militär bezüglich der Frage des dem Geisteskranken zu ge- 
währenden Schutzes in erster Reihe die von Geburt an Schwach- 
sinnigen in Betracht. Fassen wir auch hier dieselben näher ins 
Auge, so bemerken wir häufig folgenden Gang der Dinge: der 
Schwachsinnige stellt sich beim Militär, in Anbetracht des für jeden 
einzelnen nur kurz bemessenen Zeitraums der Untersuchung, ferner 
in Erwägung des Umstandes, dass sich letztere hauptsächlich auf 
körperliche Fehler beziehen muss, wird der Schwachsinn — selbst 
wenn derselbe höheren Grades ist — oft nicht erkannt, das be- 


30 Dr. Kurt Mendel, 


treffende Individuum eingestellt. Zunächst geht auch alles ganz gut; 
unter der strengen Disziplin, die sich im Anfang mehr auf körper- 
liche Übungen beschränkt, kommt der Schwachsinn zuerst garnicht 
zur Äusserung, bald aber erkennen die Kameraden schon, dass der 
Betreffende „nicht ganz richtig ist“, sie beginnen ihn zu necken und 
anzuführen, erschweren ihm auf diese Weise den schon an und für sich 
anstrengenden Dienst; eventuell geschieht es dann auch, dass wegen 
einer kleinen Dienstvernachlässigung seitens des Geistesschwachen 
die übrigen mitleiden, nachexercieren müssen etc.; das Verhältnis 
zu den Kameraden wird dadurch ein gehässiges; hinzu kommen 
dann von Seiten der unzufriedenen Vorgesetzten Strafen, welche 
schärfer und schärfer werden, ohne in irgend einer Weise zu 
fruchten. Schliesslich kommt es zu den viel besprochenen Militär- 
misshandlungen, dieselben betreffen zumeist schwachsinnige Leute, 
über deren psychische Schwäche die Offiziere und Unteroffiziere 
nicht unterrichtet waren. Der Hang zur Unwahrheit, der zu falschen 
Anklagen gegen die Mitsoldaten und Vorgesetzten führt, die In- 
toleranz gegen Alkohol, Verstösse gegen die Subordination füllen die 
Liste mit stets neuen Strafen, welche den Kranken nur verstockter 
werden lassen, Depression und Heimweh verursachen, ihn ev. fahnen- 
flüchtig machen und auch nicht selten in dem Verkannten den Plan 
reifen lassen, seinem Leben ein Ende zu geben. Die Zahl der 
Selbstmorde in der Armee ist noch eine sehr grosse — im deutschen 
Heere kommen auf 1000 Soldaten pro Jahr 0,633 Selbstmorde — 
viele derselben werden von schwachsinnigen Rekruten begangen. 

In anderen Fällen bildet der militärische Dienst mit seinen 
Strapazen, mit der völligen Veränderung der ganzen Lebensweise, 
dem schweren Zwange, welchem sich jeder willenlos unterwerfen 
muss, den geistigen Anstrengungen (Furcht vor Strafe, stets scharf 
angespannte Aufmerksamkeit etc.), den Gefahren in gesundheitlicher 
Beziehung (Alkohol, Lues, Trauma, Insolation, Infektionskrankheiten) 
das auslösende Moment, welches bei dem geistig Minderwertigen 
oder psychopathisch Belasteten eine bis dahin schlummernde Psychose 
zum Ausbruch bringt. Die Form der Geisteskrankheit gehört hierbei 
zumeist der Melancholie oder der Dementia praecox Kräpelins an. 
Auch hier zieht sich der Erkrankte häufig zunächst Verweise und 
Strafen zu, weil seine psychische Abnormität von den Vorgesetzten 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 31 


als Ungeschicklichkeit, Unaufmerksamkeit etc. aufgefasst wird, bis 
dann Erregungszustände, Wutausbrüche, Stuporzustände u. ähnl. das 
Bestehen einer Psychose auch dem Laien klarlegen. 

Als nicht selten vorkommend und oft zur Verkennung und un- 
gerechter Bestrafung Anlass gebend sei noch des epileptischen Irre- 
seins gedacht, welches sich in Achtungsverletzung, Zerstörungswut, 
Gewaltthätigkeiten, im Fortbleiben vom Dienste, Fahnenflucht und 
in den sog. „fugues“ kundgiebt und schon manchen Erkrankten bei 
seinen Vorgesetzten in den Verdacht der Simulation gelangen liess. 

Wenn wir hier die Schattenseiten des militärischen Dienstes für 
diejenigen, welche eine Anlage zu psychischen Störungen haben, ge- 
zeigt haben, so bleibe auf der anderen Seite nicht unerwähnt, dass 
gerade bei manchem psychopathisch Minderwertigen die strenge 
Disciplin des militärischen Dienstes, die Ablenkung von quälenden, 
sich mit dem eigenen „Ich“ beschäftigenden Gedanken, die durch 
die Arbeit herbeigeführte Esslust, das erhöhte Schlafbedürfnis, das 
Zusammenleben mit den Altersgenossen, die allgemeine Kräftigung 
des Körpers eine ungemein günstige, ja häufig direct heilende 
Wirkung ausüben. 

Was kann aber geschehen, um die Schäden zu mildern, welche 
das Militär den psychisch Kranken verursacht, um die Stellung der 
letzteren im Heere zu verbessern? Um diese Frage zu beantworten, 
muss man sich darüber klar sein, dass auch hierbei wiederum der 
grösste Nachtheil den Kranken aus der Verkennung ihres Krank- 
seins erwächst. 

Um dem abzuhelfen, ist zunächst eine sorgfältigere, auf den 
psychischen Zustand gerichtete Untersuchung bei der Einstellung 
notwendig. Dem untersuchenden Arzte wird hierbei seine Aufgabe 
wesentlich erleichtert werden, wenn sich in den Stammrollen kurze 
Notizen über die Vergangenheit des Einzustellenden vorfinden (be- 
treffs Belastung, Schulbesuchs, eventuell überstandener Geisteskrankheit, 
früheren Aufenthalts in einer Irrenanstalt etc.) Es würde z. B. für 
solche, welche eine Hilfsschule besucht haben, durch einen dies- 
bezüglichen Vermerk oder Einsendung des betreffenden Journals 
(wie ein solches oben bereits gefordert wurde) an die Militärbehörde 
dem Arzte ein guter Fingerzeig gegeben werden und ihn veranlassen, 
vor der Einstellung zu überlegen, ob der Rekrut zum Dienste über- 


39 Dr. Kurt Mendel, 


haupt heranzuziehen ist, eventuell aber nach erfolgter versuchsweiser 
Einstellung den Gemütszustand des Betreffenden sowie den Einfluss 
des Militärdienstes auf denselben genau zu controllieren. 

Um die Häufigkeit des Verkennens der Geistesschwäche oder 
Geisteskrankheit weiterhin einzuschränken, muss von den Militär- 
ärzten eine möglichst eingehende Kenntnis und praktische Ausbildung 
auf dem Gebiete der Pyschiatrie verlangt werden. Erst wenn dieses 
Erfordernis erfüllt ist, kann das psychisch Kranke vom Normalen, 
die Wahrheit von der Simulation gesondert, der geistig Abnorme 
— wenn auch nicht immer, so doch oft — schon bei seiner Aus- 
hebung ausgemustert und, falls sich die Psychose erst während der 
Dienstzeit zeigt, möglichst bald aus dem Dienst entfernt und zweck- 
mässig behandelt werden; auf diese Weise wird die beste Gewähr 
geleistet für ein Heer von leistungsfähigen, psychisch gesunden Soldaten. 

Den psychiatrisch ausgebildeten Militärärzten ist ganz besonders 
auch in den Kriegsgerichten bei der Beurteilung derer, die gesetz- 
widrige Handlungen begangen haben, ein Platz einzuräumen, damit 
eventuell die Unzurechnungsfähigkeit des Beschuldigten erkannt wird 
und letzterer alsdann straffrei ausgeht. 

Ist aber — und dies ist, wie gesagt, das Wichtigste — die 
psychische Abnormität erkannt, so findet bei der Einstellung 
entweder die Anlage 4b 14 der Heeres-Ordnung!) Anwendung (in 
diesen Fällen ist die geistige Beschränkung so stark, dass die militärische 
Ausbildung nicht möglich ist) oder aber es wird in leichteren Fällen, in 
denen das Individuum noch diensttauglich erscheint, der Militärarzt 
die Vorgesetzten des betreffenden Soldaten auf dessen geistige Ab- 
normität aufmerksam zu machen haben, auch selbst den Kranken 
weiterhin im Auge behalten müssen, damit bei eventuellen Dienst- 
vergehen oder vor dem militärischen Strafgerichte diese Minder- 
wertigkeit berücksichtigt werde. 

Hat sich die Psychose aber erst während der Dienstjahre heraus- 
gebildet, so gewähren folgende Bestimmungen der Dienstanweisung 


1) Unter Krankheiten und Gebrechen, welche zum Dienst im stehenden Heere 
und in der Ersatzreserve, im allgemeinen auch für den Landsturm, dauernd 
untauglich machen, sind in der H.-O. Anlage 4b 14 genannt: überstandene oder 
noch bestehende Geisteskrankheiten, sowie hoher Grad von geistiger Beschränktheit, 
der die militärische Ausbildung verhindern würde. 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 33 


dem Erkrankten den nötigen Schutz und zweckmässige Be- 
handlung: 


$ 70,1: Lazarettkranke Soldaten, welche an einer Geisteskrankheit leiden, 
sind in eine Irrenheilanstalt zu überführen, wenn 
a) der Zustand des Kranken gemeingefährlich ist, oder in den Lazaretten 
Einrichtungen zur Durchführung der erforderlichen, besonderen Auf- 
sicht fehlen, 


b) durch eine Verzögerung der Aufnahme in die Irrenheilanstalt das Heil- 
verfahren beeinträchtigt werden würde, 

c) es sich bei einem der Täuschung oder Krankheitsvorschützung Ver- 
dächtigen darum handelt, über das Vorhandensein einer Geisteskrankheit 
Gewissheit zu erhalten. 


Ferner soll nach $ 70,5 die Entlassung geisteskranker Mann- 
schaften als dienstunbrauchbar bezw. invalide so schnell als möglich 
in die Wege geleitet werden. 

Beachtenswert sind in Ergänzung bezw. zur Abänderung dieser 
Paragraphen diejenigen Vorschläge, welche Ewald Stier bezüglich 
geisteskranker oder auf Geisteskrankheit verdächtiger Soldaten macht. 
Derselbe giebt als allgemeine Grundlage für die betreffenden Be- 
stimmungen folgendes an (vgl. Stier: Ueber Verhütung und Be- 
handlung von Geisteskrankheiten in der Armee. Hamburg 1902. S. 33): 

„Soldaten, welche an einer Geisteskrankoit leiden, sind in eine 
Irrenanstalt zu überführen. Diese Überführung ist im Interesse 
der Heilung des Kranken und um ihn und andere vor Schädigungen 
zu schützen, möglichst zu beschleunigen, und zwar um so mehr, je 
weniger die Einrichtungen des Lazareths eine geeignete Pflege und 
Behandlung ermöglichen. 

An Stelle der Überführung in eine Irrenanstalt ist der Be- 
treffende der (einem psychiatrisch ausgebildeten Sanitätsoffizier zu 
unterstellenden) Nervenabteilung desKorpslazarethszu überweisen, wenn 

a) der Verdacht besteht, dass es sich um Vortäuschung von 
Krankheitserscheinungen handelt; 

b) wenn durch Benehmen und Handlungen des Betreffenden 
der Verdacht auf das Bestehen einer geistigen oder nervösen (z. B. 
Epilepsie, Hysterie) Erkrankung oder eines krankhaften Schwach- 
sinnes erweckt wird, und dem Truppenarzt eine endgiltige Ent- 
scheidung darüber nicht möglich erscheint; 

c) in allen Fällen von Vergehen und Verbrechen, in denen 
der allgemeine Geisteszustand oder der Geisteszustand zur Zeit 

3 


34 Dr. Kurt Mendel, 


der Begehung der That den Verdacht auf krankhafte Stórung 
erweckt.“ 

Eine Unterweisung der Offiziere in gewissen psychiatrischen 
Anschauungen, wie solche von einigen Autoren z. B. von Schäfer 
(„Ein Wort zum Schutz geisteskranker Soldaten, Stuttgart 1892“) 
verlangt wird, ist in praxi nicht durchführbar, immerhin kann aber 
gelegentlich in den in Offizierkorps gehaltenen Vorträgen, sowie den 
Unteroffizieren gegenüber auf dem Wege der Instruktion darauf 
hingewiesen werden, dass bei den Soldaten nicht selten pathologische 
Zustände vorkommen, welche bei der Ausübung des Dienstes, 
speziell aber bei Verstössen gegen die Disziplin Berücksichtigung 
erheischen. 

In prophylaktischer Beziehung d. h. zum Zwecke der Verhütung 
des Ausbruchs der Krankheit während der Militärzeit bei zur Psychose 
Disponierten werden der Kampf gegen den gerade beim Militär so 
verbreiteten Alkoholmissbrauch, die rechtzeitige Erkennung und 
gewissenhafte Behandlung der Syphilis sowie die Vorschriften der 
Hygiene ganz besonders in Frage kommen. — 

Wir haben bereis früher gesehehen, wie das Gesetz sich nach 
2 Richtungen hin des Geisteskranken annimmt, es sucht einerseits ihn 
vor Schaden zu schützen, indem es die Rechte des Kranken ein- 
schränkt, andererseits aber bei aller Einschränkung doch demselben 
eine möglichst grosse Selbständigkeit zu bewahren, ihm seine Freiheit 
so weit zu lassen, als es mit seinem Vorteile verträglich erscheint 
und ihm Gelegenheit zu geben, soviel als möglich durch eigene 
Arbeit zu verdienen. 

Dieser Gesichtspunkt der möglichsten Freiheitsbelassung ist aber 
nicht nur im Gesetze überall berücksichtigt, er zeigt sich besonders 
auch in der ganzen Art der jetzigen Pflege und Behandlung der 
geistig Erkrankten. Während in früheren Zeiten die Internierung 
eines Individuums in einer Irrenanstalt einer völligen Freiheitsbe- 
raubung gleichkam , haben jetzt die Anstalten mehr und mehr von 
ihren Schrecken verloren; durch Abschaffung der Zwangsmittel, 
Einführung der landwirtschaftlichen Beschäftigung und des open- 
door-Systems gewähren sie den Insassen ein arbeitsames, behag- 
liches Leben und zerstreuen nach und nach das Vorurteil der Menge 
von der „Einsperrung in den Tollhäusern“. 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 35 


Dass trotz alledem noch eine gewisse, mehr oder minder grosse 
Freiheitseinschränkung den in eine geschlossene Anstalt Aufgenom- 
menen trifft und treffen muss und dass auch gegenwärtig noch ein 
gawisses Odium auf demjenigen lastet, der sich in einer Anstalt 
befindet oder befand, kann niemand leugnen. Aus diesem Grunde 
ist es — gerade mit Rücksicht auf die soziale Stellung des Er- 
krankten — geboten, nur diejenigen Fälle einer geschlossenen An- 
stalt zu überweisen, welche durchaus nicht im eigenen Hause oder 
in einer offenen Anstalt gepflegt werden können. 

Dass Kranke, welche gemeingefährlich sind, zum Schutze ihrer 
Mitmenschen einer Irrenanstalt überwiesen werden müssen, ist selbst- 
verständlich. Viele harmlose Geisteskranke erleiden aber ungemein 
grosse wirtschaftliche Nachteile dadurch, dass die Umgebung erfährt 
dass sie in einer Irrenanstalt interniert sind. Wo solche nachteiligen 
Folgen zu erwarten stehen, muss ganz besonders gründlich die Frage 
erwogen werden, ob nicht doch eine Behandlung daheim oder eine 
solche in einer Nervenanstalt möglich sei, zumal dann, wenn es sich 
um eine heilbare Psychose handelt. 

Wenn wir im Anschluss hieran die Bestimmungen betreffs 
Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken sowie über die Ein- 
richtung, Leitung und Überwachung der Irrenanstalten kurz be- 
sprechen, so geschieht dies, weil gerade diese Verordnungen dem 
Schutze der persönlichen Freiheit der Geisteskranken dienen sollen. 
Sie bezwecken, dass — ausgenommen diejenigen, welche in straf- 
rechtlichem Interesse ($ 81 der Str.-Proz.-Ordn.) beobachtet werden 
sollen — nur wirklich Geisteskranke und zwar nur solche, denen 
ein Anstalts-Aufenthalt nötig oder vor denen die menschliche Ge- 
sellschaft zu schützen ist, in einer Anstalt aufgenommen werden 
dass sie während ihres dortigen Aufenthaltes in hygienischer und 
therapeutischer Beziehung gut aufgehoben sind, sich daselbst mög- 
lichst grosser Freiheit erfreuen und nicht über die Dauer der Not- 
wendigkeit hinaus in der Anstalt zurückgehalten werden. Vorweg 
bemerkt sei, dass bisher in Preussen nicht ein einziger Fall fest- 
gestellt worden ist, in welchem ein Geistesgesunder widerrechtlich 
in einer Irrenanstalt festgehalten worden ist; trotz aller gegenteiliger 
Behauptungen, trotz aller gegen die Psychiater gerichteten Schmäh- 
schriften kann mit Bestimmtheit erklärt werden, dass die Festhaltung 

ye 


36 Dr. Kurt Mendel, 


eines Geistesgesunden bisher in keinem einzigen Falle erwiesen ist.!) 
Wohl ist es — wenn auch selten — vorgekommen, dass ein Nicht- 
Geisteskranker auf Grund eines irrtümlichen, sich auf das Ergebnis 
einmaliger Untersuchung stützenden ärztlichen Zeugnisses einer Irren- 
Anstalt überwiesen worden ist, (z. B. geschieht dies zuweilen bei 
Typhuskranken); eine widerrechtliche Festhaltung wäre jedoch 
eigentlich nur als Folge von Fahrlässigkeit oder strafbaren Eigen- 
nutzes des Anstaltsdirektors denkbar. Diese beiden Momente kommen 
jedoch in öffentlichen Anstalten kaum in Betracht, wo den Direk- 
toren oder Ärzten ein materieller Vorteil aus dem Aufenthalte des 
betr. Individuums in der Anstalt nicht erwächst, wo auch die grosse 
Zahl der Mitärzte, Angestellten, Verwandten, Mitkranken eine dau- 
ernde Kontrolle und Überwachung darstellt, auch dem betr. Indivi- 
duum selbst genügende Gelegenheit geboten ist, gegen widerrechtliche 
Festhaltung zu protestieren. Auch für die Privat-Anstalten sind 
die Vorschriften gegenwärtig so scharf, dass schon ein grosses Kom- 
plott zwischen Physikus, Anstaltsdirektor, Assistenzärzten, Personal etc. 
in Scene gesetzt werden müsste, damit Unregelmässigkeiten längere 
Zeit hindurch unentdeckt bleiben könnten. 

Die neuesten, die Aufnahme, Ueberwachung und Entlassung 
der Geisteskranken regelnden Bestimmungen finden sich in der An- 
weisung über Unterbringung in Privatanstalten für Geisteskranke, 
Epileptische und Idioten vom 26. März 1901 zusammengestellt, 
welche Anweisung an Stelle derjenigen vom 20. September 1895 
und der Ergänzung vom 24. April 1896 trat. 

Aus diesen Bestimmungen seien hier, als uns gegenwärtig 
interessierend, nur diejenigen herausgegriffen, welche den Schutz 
Gesunder vor widerrechtlicher Freiheitsberaubung bezwecken sowie 
die, welche dem Kranken selbst innerhalb der Anstalt Schutz 
gewähren sollen. 

Zur Aufnahme in eine Privatanstalt erforderlich ist ein von 
dem Kreisarzt (Gerichtsarzt) oder dem ärztlichen Leiter einer öffent- 


1) So ist erst kürzlich wieder in der Reichstagssitzung vom 1. Februar 1902 
seitens des Staatssekretärs des Innern Dr. Graf von Posadowsky festgestellt 
worden, dass in zwei i. J. 1889 im Reichstage von Dr. Lenzmann vorgebrachten 
Fällen die amtliche Untersuchung die Annahme einer widerrechtlichen Internierung 
völlig widerlegt hat. 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 37 


lichen Anstalt fiir Geisteskranke oder einer psychiatrischen Uni- 
versitätsklinik ausgestelltes Zeugnis, welches zu enthalten hat ($ 2) 
Veranlassung und Zweck seiner Ausstellung, Zeit und Ort der Unter- 
suchung, insbesondere das Datum der letzten Untersuchung, die dem 
Untersuchenden gemachten Mitteilungen einerseits und seine eigenen 
Wahrnehmungen andrerseits. Das Zeugnis muss die Krankheits- 
zeichen genau angeben und begründen, weshalb der Kranke der 
Aufnahine in die Anstalt bedarf. In dringenden Fällen ($ 4) kann 
die vorläufige Aufnahme auf Grund eines Zeugnisses eines jeden 
approbierten Arztes erfolgen. Der vorläufig Aufgenommene muss 
jedoch innerhalb 24 Stunden dem Kreisarzte angemeldet werden und 
letzterer hat binnen 3 Tagen nach Empfang der Anzeige den Kranken 
zu untersuchen und ein Zeugnis darüber auszustellen, ob die Auf- 
nahme zulässig ist oder nicht. In zweifelhaften Fällen ist die Unter- 
suchung in kurzen Fristen zu wiederholen. Ein Kranker, dessen 
Aufnahme nicht für zulässig erklärt wird, ist alsbald zu ent- 
lassen. 

Durch diese Bestimmungen ist in jeder Beziehung eine hin- 
reichend genügende Garantie dafür gegeben, dass wirklich nur 
Geisteskranke in einer Anstalt zurückbehalten werden. Mit Freuden 
ist auch zu begrüssen, dass folgender Passus der Anweisung vom 
20. September 1895 in der neuen Anordnung vom Jahre 1901 eine 
Verbesserung erfahren hat: „Das Zeugnis (zur Aufnahme in die 
Anstalt) soll sich darüber aussprechen, an welcher Form geistiger 
Störung der Kranke leidet.“ Bei dem gegenwärtigen Stande der 
Psychiatrie, wo noch über so zahlreiche Begriffe Unklarheit und 
Verwirrung herrscht, wo jeder Psychiater seine eigene Sprache 
spricht, seine eigenen Krankheitsbezeichnungen hat — ich nenne 
nur Worte wie Melancholie, Dementia präcox, ,,Katatonie“, „Zwangs- 
vorstellungen“, „Wahnideeen“, über welche immer noch keine Einigung 
bezüglich ihrer Bedeutung erzielt worden ist — bei einem solchen 
Stande der Psychiatrie erscheint auch die Auskunft darüber, an 
welcher „Form geistiger Störung“ der betr. Kranke leidet, d. h. mit 
anderen Worten die Diagnosenbezeichnung wertlos, wenn nicht gleich- 
zeitig genauer dazu angegeben wird, was der Zeugnisaufsteller unter 
dem Wort. seiner Diagnose versteht. In dieser Beziehung bedeutet 
die Anweisung vom 26. März 1901, in der es heisst: „Das Zeugnis 


38 Dr. Kurt Mendel, 


muss die Krankheitszeichen genau angeben“, eine entschiedene Ver- 
besserung. 

Angenommen nunmehr, das in Frage stehende Individuum sei 
als geisteskrank und als anstaltsbedürftig befunden worden, so ist 
es häufig aus vielen Gründen, hauptsächlich sozialer Natur, 
geboten, die Aufnahme in die Irrenanstalt so geheim und discret 
als möglich zu behandeln. Während nach dem $ 8 der früheren 
Anweisung binnen 24 Stunden eine vollständige „beglaubigte Ab- 
schrift der Aufnahmezeugnisse und der Überweisungspapiere“ der 
für die Anstalt zuständigen Polizeibehörde zukommen musste, heisst 
es in dem $ 7 der jetzigen Ordnung: „Die Aufnahme eines Kranken 
ist binnen 24 Stunden der für die Anstalt zuständigen Ortspolizei- 
behörde vertraulich anzuzeigen. Ist die Aufnahme ohne Mitwirkung 
der Polizeibehörde des Wohnorts erfolgt, so ist ausserdem dieser 
Behörde binnen derselben Frist vertrauliche Anzeige zu machen. 
Diese Anzeigen sollen enthalten: den Vor- und Zunamen, den Ge- 
burtstag, den Familienstand, den Beruf und den letzten Wohnsitz 
des Kranken, den Aufnahmetag, den Namen seines etwaigen gesetz- 
licben Vertreters, sowie die Angabe, auf wessen Veranlassung die 
Aufnahme erfolgt ist. Abschrift der Stelle des Zeugnisses, in welcher 
die Notwendigkeit der Aufnahme bescheinigt wird, und der Unter- 
schrift des Arztes ist beizufügen.“ 

Trotzdem durch diese Neuerung schon eine Besserung und eine 
Minderung der den Anstaltsleiter drückenden Schreiblast herbeigeführt 
ist, erscheint auch die jetzige Vorschrift noch unzweckmässig und 
unnötig. Durch vólliges Fortschaffen der Anzeigepflicht einer Auf- 
nahme seitens des Anstaltsdirektors an die zuständige Polizeibehörde 
würde nicht nur verhindert werden, dass jede Internierung sofort 
eine — meist unerwünschte — Publicität erfährt, sondern es könnte 
dadurch gleichzeitig viel unnützes Schreibwerk vermieden werden. 
Es würde vollauf genügen, wenn von jeder Neuaufnahme nur der 
Kreisarzt in Kenntnis gesetzt wird, wie dies nach $ 7, letzter Absatz, 
der neuesten Anweisung nun auch für den Fall der Übernahme 
eines Kranken aus einer anderen öffentlichen oder privaten Anstalt 
sowie nach demselben Paragraphen für den Fall der Aufnahme eines 
wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigten Kranken 
Vorschrift geworden ist. Da — diesen Bestimmungen gemäss ($ 1, 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 39 


§ 4 und $ 7 der Anweisung) — der Kreisarzt von jeglicher Auf- 
nahme eines Geisteskranken Meldung erhalten muss, so wiirde hier- 
mit, noch dazu in einheitlicher Weise, der Meldepflicht durchaus 
genügt sein; die Geschäftsstube des Kreisarztes würde so die Centrale 
darstellen für sämtliche Aufnahme-Anzeigen. Die Meldung bei der 
Polizei könnte aber alsdann — zum Nutzen der Anstaltsleiter und 
der Internierten — völlig fortfallen. 

Dadurch, dass — laut $ 19 der Anweisung vom 26. März 1901 — 
die Anstalten den allgemeinen gesundheitspolizeilichen Vorschriften 
über die baulichen und technischen Einrichtungen von Kranken- 
anstalten unterliegen, ist für die Insassen derselben vom hygienischen 
Standpunkte aus genügend gesorgt. Weitere Bestimmungen be- 
zwecken, dass die den Anstalten anvertrauten Kranken sich in 
möglichst guten und sachverständigen Händen befinden, sachgemäss 
und — so weit dies möglich — ohne Zwangsmittel behandelt werden 
und regeln zu diesem Zwecke die Leitung der Anstalten, Rechte 
und Pflichten des Ärztepersonals sowie die Kontrolle über die An- 
stalten und die Entlassung der Kranken in folgender Weise: (s. $ 19) 
Anstaltsleiter muss ein in der Psychatrie bewanderter Arzt sein, der 
durch längere (etwa zweijährige) Thätigkeit an einer grösseren öffent- 
lichen nicht nur für Unheilbare bestimmten Anstalt oder an einer 
psychiatrischen Universitätsklinik sich die nötigen Kenntnisse ver- 
schafft hat, er bedarf der Genehmigung des Regierungs-Präsidenten, 
welch’ letztere zurückgenommen werden kann, wenn die Unrichtigkeit 
der Nachweise dargethan wird, auf Grund deren sie erteilt worden 
ist, oder wenn aus Handlungen oder Unterlassungen des Arztes sich 
dessen Unzuverlässigkeit in Bezug auf die ihm übertragene Thätig- 
keit ergiebt. | 

Uebersteigt die Zahl der Geisteskranken 100 oder der Epileptiker 
200, so soll in der Regel ein zweiter Arzt angestellt werden und in 
der Anstalt wohnen; sind mehr als 300 Geisteskranke oder mehr 
als 600 Epileptische in Behandlung, so kann für je 100 Geistes- 
kranke und je 200 Epileptische die Anstellung eines weiteren Arztes 
„angeordnet werden. Ä 

Der leitende Arzt hat die Bestimmungen über die gesamte 
Thätigkeit des Pflegepersonals, soweit es sich um die Krankenpflege 
handelt, er regelt für die einzelnen Kranken die erforderliche Kost 


40 Dr. Kurt Mendel, 


und Verpflegung, ordnet resp. genehmigt die Isolierung sowie etwaige 
mechanische Beschränkung eines Kranken, über deren Grund und 
Dauer Buch zu führen ist, beantwortet alle Anfragen von Behörden. 
Verwandten und gesetzlichen Vertretern, soweit die Anfragen sich 
auf den Zustand der Kranken, ihre Behandlung, Beschäftigung, Aus- 
sichten auf Genesung oder Entlassung beziehen, ferner darf ohne 
Zustimmung des leitenden Arztes keine Verlegung, keine Änderung 
in Kost und Beschäftigung der Kranken, in Verteilung oder Dienst- 
ordnung des Pflegepersonals erfolgen. Für jeden Kranken músser 
Personalakten mit ärztlicherseits geführter fortlaufender Kranken- 
geschichte vorhanden sein. 

Bezüglich des Pflegepersonals, dessen Tüchtigkeit und Zuver- 
lässigkeit bekannter Weise von eminenter Bedeutung für die ganze 
Pflege und Behandlung der Internierten ist, besteht die Bestimmung. 
dass vor Einstellung desselben der leitende Arzt über dessen Brauch- 
barkeit für den Krankendienst sich schriftlich äussern soll (8 20), 
auch die nötige Ausbildung in der Krankenpflege zu beachten hat. 
Gelangt die von dem leitenden Arzt für notwendig erachtete Ent- 
fernung eines Pflegers nicht zur Ausführung, so ist durch den Kreis- 
arzt an den Regierungs-Präsidenten zu berichten. Die Verteilung 
des Pflegepersonals auf die einzelnen Abteilungen, Räume, Gärten 
u. 8. w., die Festsetzung ihrer Dienstzeit, der Nachtwachen, Er- 
holungsgelegenheiten soll — wie bereits kurz erwähnt — nur unter 
Zustimmung des leitenden Arztes geschehen, für jedes Mitglied des 
Pflegerpersonals ist nach $ 21, ein Aktenstück mit Namen, Alter, 
Dienststellung, Datum des Eintritts und ärztlicher Äusserung über 
dessen Brauchbarkeit anzulegen. Das Vorleben des Pflegerpersonals 
ist, soweit erforderlich, durch Anfragen festzustellen. 

Zwecks Besichtigung der Privatanstalt kommt der Kreisarzt 
oder dessen Vertreter unvermutet alljährlich zweimal, einmal im 
Sommer, einmal im Winter, die von den Ministern der Medicinal- 
Angelegenheiten und des Innern eingesetzte Besuchscommission 
einmal jährlich ($ 24). Bei jeder Besichtigung sind die Ärzte der 
Anstalt zur Anwesenheit und Erteilung von Auskunft verpflichtet. 

Der Kreisarzt oder dessen Vertreter hat ($ 25) über jede Be 
sichtigung dem Regierungs-Präsidenten zu berichten. Bei besonders 
ungünstigen Ausfällen der Besichtigung hat dies alsbald zu ge- 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 41 


schehen, die Besuchs-Kommission hat zur Abstellung vorgefundener 
Ubelstánde die geeigneten Maassnahmen vorzuschlagen und Er- 
wägungen von allgemeinem Interesse zur Kenntnis des Regierungs- 
Präsidenten zu bringen. 

Die Entlassung eines Kranken muss erfolgen ($ 10): 

1) wenn der Kranke geheilt ist; 

2) wenn er soweit gebessert ist, dass er der Behandlung in 
der Anstalt nicht mehr bedürftig erscheint; 

3) wenn die Entmündigung des Kranken durch rechtskräftigen 
gerichtlichen Beschluss abgelehnt oder wenn die ausgesprochene 
Entmündigung auf Grund durchgeführter Anfechtungsklage oder 
durch rechtskräftigen gerichtlichen Beschluss wieder aufgehoben ist; 

4) wenn der gesetzliche Vertreter des Kranken die Entlassung 
fordert. 

Beantragt ein volljähriger Kranker, der weder entmündigt noch 
unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, schriftlich seine Ent- 
lassung, so hat der Vorstand der Anstalt, wenn er dem Antrage 
nicht stattgeben will, den Antrag unter Darlegung der für die Ab- 
lehnung massgebenden Gründe unverzüglich dem für die Stellung 
des Entmündigungsantrags zuständigen Ersten Staatsanwalte mitzu- 
teilen. 

§ 11. War die Aufnahme veranlasst a) von einer Polizeibe- 
hörde aus sicherheitspolizeilichen Gründen oder b) von einer Justiz- 
behörde, oder von einer Polizei- oder kommunalen Behörde unter 
Aufrechthaltung einer gegen den Kranken stattfindenden Unter- 
suchungs-, Straf- oder Korrektionshaft, so ist zur Entlassung die 
vorgängige Zustimmung derjenigen Behörde erforderlich, welche die 
Aufnahme veranlasst hat. 

$ 12. Soll ein Kranker, welcher als für sich oder für andere 
gefährlich oder als für die öffentliche Ordnung störend anzusehen 
ist, entlassen werden, so ist unter Vorlegung einer Äusserung des 
leitenden Arztes über den Zustand des Kranken die Zustimmung 
der Ortspolizeibehórde des künftigen Aufenthaltsortes einzuholen. 

$ 13. Beurlaubungen dürfen nur mit Zustimmung des leiten- 
den Arztes der Anstalt stattfinden. — 

Überschauen wir jetzt noch ein Mal die soeben angeführten 
Bestimmungen, und zwar mit kritischem Auge, so ist einerseits wohl 


49 Dr. Kurt Mendel, 


anzuerkennen, dass vieles in vóllig zufriedenstellender Weise ge- 
regelt ist. Die Formalitäten bei der Aufnahme Geisteskranker, 
welche früher sehr vielseitig waren und die Unterbringung der 
Irren in die Anstalt oft stark verzögerten, sind gegenwärtig so weit 
herabgemindert worden, dass die Aufnahme in eine Irrenanstalt 
nicht mehr viel Umständliches bietet, hierdurch kann sowohl die 
Ausführung manches Selbstmordes und manches Verbrechens noch 
rechtzeitig verhindert werden, als auch die Zahl der Heilungen ver- 
mehrt werden, denn je früher und schneller ein Erkrankter seiner 
Umgebung entrückt und einer sachgemässen Behandlung übergeben 
wird, desto grösser ist für ihn die Aussicht auf seine Genesung. 

Dass trotz dieser Aufnahmeerleichterung doch andererseits durch 
die bestehenden Bestimmungen genügend Garantie dafür gegeben 
ist, dass Geistesgesunde nicht widerrechtlich ihrer Freiheit beraubt 
werden, ist bereits oben erwähnt. 

Ein weiteres Moment, welches früher bezüglich der Anstalts- 
überweisung häufig eine unheilsame und den Kranken schädigende 
Verzögerung herbeiführte, war die Scheu vor allem, was „Anstalt“ 
hiess. Wenn diese Scheu und das Misstrauen, speziell gegen Privat- 
irrenanstalten, in letzter Zeit abgenommen hat und weiterhin in Ab- 
nahme begriffen ist, so trägt hierzu nicht zum geringsten Teile die 
Beruhigung bei, welche die Festlegung der Vorschriften betreffs 
Leitung, Einrichtung und Kontrolle der Anstalten dem Publikum 
gewährt. Von dem Anstaltsleiter selbst wird aber diese Beaufsich- 
tigung seitens der Behörden nicht nur nicht als lästig empfunden, 
sondern vielmehr als bester Schutz gegen die häufigen Schmähungen 
und Anklagen, denen er ausgesetzt ist, willkommen geheissen. 

Dadurch, dass der Horror vor den Anstalten zum grossen Teile 
geschwunden ist, wird man sich eher dazu entschliessen, einen 
geisteskranken Verwandten einer Anstalt anzuvertrauen und ihm so 
den grossen Vorteil einer frühzeitigen zweckmässigen Pflege ge- 
währen können. Damit letztere in der That eine möglichst gute ist, 
stellt die Anweisung gewisse völlig berechtigte Anforderungen an 
den Anstaltsleiter sowie an das Anstaltspersonal. 

Grössere Freiheit gewährt die jetzige Anweisung gegenüber den 
früheren dem Geisteskranken insofern, als sein Urlaub jetzt bis zu 
6 Wochen und in Ausnahmefällen bis zu 3 Monaten dauern darf, 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 43 


während früher eine Beurlaubung auf höchstens 2 Wochen erfolgen 
konnte. 

Verlangt der Kranke oder sein gesetzlicher Vertreter die Ent- 
lassung aus der Anstalt, so kommt der oben zitierte $ 10, 4 seinen 
Interessen und Wünschen in genügender Weise entgegen. 

Übrigens kann — trotz des Verlangens der Familie oder des 
Rechtsbeistandes, den Kranken zu entlassen — der Internierte in 
der Anstalt zwangsweise zurückbehalten werden, wenn er für sich 
selbst oder seine Umgebung gefährlich oder für die öffentliche 
Schicklichkeit anstössig ist. In solchen Fällen muss laut $ 12 der 
Anweisung vor der Entlassung unter Vorlegung einer Äusserung 
des leitenden Arztes über den Zustand des Kranken die Zustimmung 
der Ortspolizeibehörde des künftigen Aufenthaltsorts eingeholt werden. 
Für die öffentlichen Anstalten gilt laut Erlasses des Ministers der 
Medizinal-Angelegenheiten und des Innern vom 15. Juni 1901 die 
Bestimmung, dass in derartigen Fällen die Entlassung erst dann 
erfolgen darf, wenn dem Landrat, in Stadtkreisen der Ortspolizei- 
behörde des künftigen Aufenthaltsorts und, wenn dieser ausserhalb 
Preussens liegt, der gleichen für den Ort der Anstalt zuständigen 
Behörde unter Mitteilung des Materials zur Beurteilung des Kranken, 
insbesondere eines eingehenden ärztlichen Gutachtens, die beabsich- 
tigte Entlassung mitgeteilt und von der betr. Behörde eine diesbe- 
zügliche Rückäusserung eingetroffen ist. 

Neben dem vielen Guten und Richtigen, welches die Bestim- 
mungen vom März 1901 speziell zum persönlichen Schutze der geistig 
Erkrankten enthalten, fordert nur relativ weniges zur Bemängelung 
und zur Abänderung heraus. Hiervon ist bereits oben erwähnt die 
Vorschrift betreffs der Anzeigepflicht einer Aufnahme an die Polizei- 
behörde, welche Vorschrift dem Geisteskranken Schaden zufügen kann. 

Mit Recht wird ferner verlangt (vgl. Psychiatrische Wochen- 
schrift Nr. 4. 1901), dass die Entlassung eines Kranken, auch wenn 
die Polizeibehörde aus sicherheitspolizeilichen Gründen oder eine 
Justizbehörde seine Aufnahme veranlasst hatte, unter allen 
Umständen erfolgen muss, sobald derselbe geheilt ($ 10,1) oder 
soweit gebessert ist, dass er der Behandlung in der Anstalt nicht 
mehr bedürftig erscheint. ($ 10,2.) Unter dieser Voraussetzung 
dürfte — entgegen der Bestimmung des $ 11 — keine Behörde 


44 Dr. Kurt Mendel, 


das Recht haben, Bestimmungen über die Entlassung zu treffen; 
die Einforderung der „Zustimmung“ irgend einer Behörde ist für 
solche Fälle durchaus unnötig, denn ein ,,Geheilter“ oder „Nicht- 
Anstaltsbediirftiger“ muss unbedingt entlassen werden, wenn man sich 
nicht einer widerrechtlichen Freiheitsberaubung schuldig machen 
will. Allerdings ist zu empfehlen, dass bei solchen Kranken, bei 
welchen aus polizeilichen oder juristischen Gründen die Aufnahme 
in eine Anstalt erfolgt war, diejenige Behörde, welche die Inter- 
nierung veranlasste, auch eine rechtzeitige Mitteilung von der Ent- 
lassung erhält, damit sie des weiteren den Entlassenen im Auge 
behalten und kontrollieren kann. Andrerseits soll es aber wohl 
die Aufgabe des $ 11 in seiner gegenwärtigen Form — ebenso wie 
diejenige des $ 12 (s. oben) — sein, es zu ermöglichen, dass 
gefährliche oder verdächtige Individuen — auch gegen ihre und ihrer 
Familie oder des Rechtsbeistandes Verlangen — in der Anstalt 
zwangsweise zurückbehalten werden können, sofern eben die 
Heilung noch nicht erfolgt ist und eine Gefährdung für den Kranken 
oder für andere noch besteht. Es braucht bezüglich solcher Kranker 
die betreffende Behörde nur ihre Zustimmung — ev. auf Grund 
einer Aeusserung des leitenden Arztes — zu verweigern, und der 
Kranke bleibt interniert. Nach dieser — sozusagen negativen — 
Richtung hin dient der $ 11 entschieden dem öffentlichen Interesse, 
und für solche Fälle ist derselbe auch gutzuheissen, letzterer wäre 
jedoch in obigem Sinne (dass nämlich nicht die „Zustimmung“ der 
betr. Behörde, sondern nur eine Mitteilung an dieselbe über die 
bevorstehende Entlassung erforderlich ist) umzuändern, sofern es 
sich um einen geheilten oder soweit gebesserten Kranken handelt, 
dass er der Anstaltsbehandlung nicht mehr bedarf. Mit anderen 
Worten: 

Erscheint nach Ansicht des Anstaltsleiters die Entlassung eines 
behördlicherseits eingelieferten Kranken im öffentlichen Interesse 
noch nicht erwünscht, so muss es ersterem mit Hilfe der §§ 11 und 12 
möglich sein, die weitere Internierung durchzusetzen (die betreffende 
Behörde brauchte zu diesem Zwecke nur die Zustimmung zur Ent- 
lassung zu verweigern); ist aber ein Kranker geheilt oder nicht 
mehr anstaltsbedürftig, so muss er nach $ 10, gleichgültig ob ein 
Verwandter, eine Behörde oder sonst jemand die Aufnahme ver- 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 45 


anlasst hat, entlassen werden; $$ 11 und 12 kommen in letzterem 
Falle überhaupt nicht in Betracht, und es darf höchstens noch eine 
Meldung über die bevorstehende Entlassung an die betr. Behörde, 
die die Aufnahme veranlasst hatte, eingefordert werden, die Ein- 
holung einer „Zustimmung“ seitens dieser Behörde erscheint aber 
nicht gerechtfertigt. 

Zu verwerfen ist ferner der $ 10, 3, nach welchem die Ent- 
lassung erfolgen muss, wenn die Entmündigung des Kranken abge- 
lehnt oder die schon ausgesprochene Entmündigung wieder aufge- 
hoben ist. — Es kann eben ein Individuum sehr wohl noch anstalts- 
bedürftig sein, dabei aber doch völlig geschäftsfähig in juristischem 
Sinne Nehmen wir z. B. einen Melancholiker, der sich im Stadium 
der Besserung findet, bei welchem aber noch immer zeitweise Er- 
regungszustände auftreten, in denen die Gefahr der Selbstbeschädigung 
wieder besteht; derselbe kann sehr wohl im Stande sein, seine An- 
gelegenheiten aufs beste selbst zu besorgen und bedarf deshalb 
keineswegs der Entmündigung; wird er nun aber wegen Ablehnung 
des Entmündigungsantrages laut $ 10, 3 aus der Anstalt entlassen, 
so kann ihm gerade in diesem Stadium der Rekonvalescenz die 
Rückkehr in die früheren Verhältnisse von grösstem Nachteile sein 
und sein Leiden, das in der Anstalt bald in Genesung über- 
gegangen wäre, arg verschlimmern. Dieser Kranke muss gerade in 
seinem eigensten Interesse noch in der Anstalt verbleiben, er darf 
nicht entlassen werden, und der erwähnte Paragraph ist im Stande, 
das in der Anstalt für das betreffende Individuum Erreichte bald 
wieder zu zerstören. 

Wenn in $ 24, 2 gefordert wird, dass die von den Ministern 
der Medicinal-Angelegenheiten und des Innern eingesetzte Besuchs- 
Commission in der Regel einmal jährlich die Privatanstalt besichtigen 
soll, so kann darúber kein Zweifel bestehen, dass eine solche Con- 
trolle — weil zu selten vorgenommen — nicht viel Wert hat. Die 
in $ 24, 1 geforderte Revision durch den Kreisarzt oder dessen 
Vertreter, welche alljährlich 2 Mal stattfinden soll, ist auch keines- 
wegs ausreichend, zumal der Kreisarzt mit Arbeiten so überbürdet 
ist, dass eine solche Controlle nur kurze Zeit dauern und deshalb 
nicht genügend gründlich sein kann. Es bedarf vielmehr — wie 
E. Mendel vor der Ärztekammer für Brandenburg—Berlin aus- 


46 Dr. Kurt Mendel, 


führte (s. Berl. klin. Wochenschr. 1896 No. 1) — einer „Behörde, 
welche dauernd mit den betreffenden Irrenanstalten in Verbindung 
steht, welche je nach ihrem eigenen Ermessen, je nach ihrer eigenen 
Kenntnis der Sachlage in die Anstalt hineinkommt und revidiert.“ 

Erst wenn dies erreicht ist, erscheint die Kontrolle eine durch- 
aus genügende, wie sie im Interesse der Kranken und der Anstalts- 
leiter sowie zur Beruhigung des Publikums und zur Herabminderung 
der Furcht vor der Anstalt erfordert werden muss. 

Betont haben wir schliesslich schon vorher, von welch’ grosser 
Wichtigkeit für die ganze Ordnung und die Güte der Anstalt, speziell 
für das Wohl und die Behandlung der Internierten die Beschaffenheit 
des Personals ist. Die „Wärterfrage“ ist in der Jahresversammlung 
des Vereins der deutschen Irrenärzte zu Heidelberg am 18. u. 19. 
September 1896 (s. Zeitschrift für Psychiatrie Band 53) des näheren 
behandelt worden; es wurden daselbst folgende 4 Thesen angenommen: 

I. Es ist anzustreben, dass für die Behandlung Geisteskranker 
ein besonders ausgebildetes Personal genommen werde, das möglichst 
längere Zeit in Dienst bleibt. 

II. Jede Anstalt soll ihr Pflegepersonal möglichst selbst heran- 
bilden. Direktor und Aerzte der Anstalt sollen das Pflegepersonal 
in der Krankenpflege unterrichten. 

III. Es sind Einrichtungen zu treffen, durch welche die Zu- 
kunft des Pflegepersonals möglichst sicher gestellt wird. (Entsprechend 
hohes Anfangsgehalt, welches den landesüblichen Lohn wesentlich, 
wenigstens um ?/, übersteigt, und Steigerung des Gehaltes mit der 
Dienstzeit, Geldprämien nach längerer Dienstzeit, Pension, Wittwen- 
und Waisenversorgung, Ausdehnung des Unfallversicherungsgesetzes 
auf das Irrenwartpersonal.) 

IV. Es sind Einrichtungen zu treffen, durch welche die not- 
wendige Erholung und Schonung des Personals gewährleistet wird. 
(Genügende Anzahl im Verhältnisse zum Krankenstande. Regel- 
mässige dienstfreie Zeiten. Besondere Erholungsräume. Bestimmter 
Urlaubsanspruch mit Fortbezug des Gehaltes.) 

Wir sind noch weit davon entfernt, dass das in vorstehenden 
Thesen Geforderte in praxi erfüllt ist, und so stehen wir auch gegen- 
wärtig noch einem Pflegepersonal gegenüber, welches infolge seines 
häufigen Stellenwechsels, seiner geringen Qualität, der schlechten 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 47 


sozialen Stellung, des mässigen Bildungsgrades und der ungenügen- 
den materiellen Lage noch sehr viel zu wünschen übrig lässt. Be- 
sonders schlecht bestellt ist es mit der männlichen Irrenpflege; die 
unter männlichen Pflegern häufig anzutreffenden Fehler der Unzu- 
verlässigkeit, Unsauberkeit, Rohheit und besonders ihr Alkoholmiss- 
brauch haben in letzter Zeit einzelne Anstaltsdirektoren, so in Eckel- 
born (Westfalen), in Meerenberg, bei Dr. Scholinus-Pankow/Berlin, 
dazu geführt, der Anregung des Irrenarztes Friedrich Scholz in 
Bremen (s. „Ueber Reform der Irrenpflege“ Leipzig 1896) zu folgen 
und die männliche Pflege ganz oder zum grössten Teile durch 
weibliche zu ersetzen und zwar bisher anscheinend mit gutem 
Erfolge. 

Vorerst bleibt noch genügend zu thun, um den oben angeführten 
Thesen allgemeine Geltung zu verschaffen; und erst nachdem dies 
geschehen ist, wird man eine Besserung des Pflegepersonals in 
moralischer und socialer Beziehung erwarten können. 

Nur eins sei hier noch besonders hervorgehoben: die auf der 
Versammlung zu Heidelberg von Grashey und Siemens gemachte 
Forderung, dass sich die Irrenärzte „verpflichten, keinen Wärter und 
keine Wärterin in ihrer Anstalt anzustellen, welche schon in einer 
anderen Anstalt als solche angestellt gewesen sind,“ ist in praxi 
undurchführbar; wir sind demnach bei der Anstellung eines Wärters 
auf die Zeugnisse angewiesen, welche derselbe aus seinen früheren 
Stellen mitbringt. Sehr wenig ist uns aber hierbei gedient, wenn 
ein Pfleger uns einige von ihm selbst unter seinen Zeugnissen aus- 
gesuchte, befriedigend ausgefallene Berichte über ihn aus früheren 
Anstalten vorlegt, die schlechten aber verheimlicht oder solche nur 
deshalb garnicht besitzt, weil er dort, wo er ein solches zu erwarten 
hatte, auf die Ausstellung desselben verzichtete. Es wäre dringend 
zu wünschen, dass hierin Wandel geschaffen wird — und dies gilt 
für andere Krankenhäuser und Kliniken in gleichem Maasse — indem 
(ähnlich, aber noch strenger als bei Dienstboten) jeder Pfleger an- 
gewiesen wird, ein polizeilicherseits controlliertes Buch zu besitzen, 
in welchem die von der Polizei zu unterstempelnden Eintragungen 
über seine Tauglichkeit etc. bei jedem Stellungswechsel gemacht 
werden müssen, so dass bei Antritt eines neuen Postens dieses fort- 
laufend besorgte Führungsbuch vorgelegt werden kann. Auf diese 


48 Dr. Kurt Mendel, 


Weise wiirde man nicht nur einen neuen Pfleger, der gute Zeugnisse 
zeigt, mit ruhigem Gewissen engagieren kónnen, sondern es wiirden 
sich andrerseits viele schlechte Elemente von den besseren absondern 
und sich gezwungen fiihlen, dem Pflegerberuf, dessen Aufgaben sie 
nicht gewachsen sind, Valet zu sagen, da die schlechten Zeugnisse, 
welche ihr Führungsbuch aufweist, einem Neu-Engagement entgegen- 
stehen. — 

Die in Vorstehendem angeführten Bestimmungen beziehen sich 
fast ausschliesslich auf die Privat-Irrenanstalten, zumal dieselben zum 
grössten Teil der „Anweisung über Unterbringung in Privatanstalten“ 
vom 26. März 1901 entnommen sind. Es ist durchaus nicht einzu- 
sehen, warum nicht die gleichen Vorschriften wie für private so 
auch für öffentliche Irrenhäuser gelten sollen. Eine für beide 
Arten von Anstalten in gleicher Weise gültige gesetzliche Regelung 
ist mit aller Entschiedenheit anzustreben. — 

Der Schaden, der häufig dem Geisteskranken daraus erwuchs, 
dass der Beginn seiner Behandlung infolge der widrigen Formalitäten 
bei Aufnahme in eine Anstalt sowie infolge des allgemeinen Wider- 
willens gegen die Unterbringung in Irrenanstalten stark verzögert 
wurde, ist durch die erhöhte Leichtigkeit der Aufnahme in eine 
Anstalt sowie die eingetretene Beruhigung des Publikums herab- 
gemindert worden, in gleicher Weise ist im Laufe der Zeit die 
Anstaltsbehandlung selbst eine zweckmässigere und einsichtsvollere 
geworden dank den strengeren Bestimmungen betrefis Verwaltung 
der Anstalten durch psychiatrisch gebildete Ärzte und dank der 
gründlicheren Kenntnis der Psychiatrie im allgemeinen (eine 
Besserung verspricht hierin noch die Aufnahme der Psychiatrie in 
die Prüfungsordnung) sowie der hiermit verbundenen Erkenntnis 
der sachgemässesten Therapie. Eine dem Kranken nachteilige Ver- 
zögerung der Aufnahme hat jedoch auch gegenwärtig noch häufig 
darin ihren Grund, dass der Aufzunehmende wegen Überfüllung 
der öffentlichen Anstalt daselbst abgewiesen wird. Diese Uber- 
füllung macht sich besonders in den städtischen Irrenanstalten, z. B. 
in Berlin, geltend. So mussten, wie E. Mendel in der medicinischen 
Reform 1901 No. 27 ausführt, am 31. December 1900 1589 Geistes- 
kranke, für welche die Stadt Berlin zu sorgen hatte, wegen Platz- 
mangels in den öffentlichen Anstalten von Privatanstalten verpflegt 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 49 


werden und derselbe Autor rechnet aus, dass wenn die neue Irren- 
anstalt, welche Berlin in Buch baut uud die in ca. 4 Jahren er- 
öffnet werden wird, jetzt belegt werden könnte, dieselbe auch gegen- 
wärtig schon nicht mehr ausreichen würde, da die dort projectierten 
1600 Betten sofort sämtlich von den i. J. 1900 privat Unterge- 
brachten 1586 und den seitdem noch neu hinzugekommenen Geistes- 
kranken besetzt sein würden!!) 

Die Klage über die Überfüllung der öffentlichen Irrenanstalten 
wird aber nicht nur in Berlin laut, sondern ist eine allgemeine, 
und überall besteht das Bestreben, unheilbare Kranke an besondere 
Pflegeanstalten abzugeben, um so die Irrenanstalten selbst zu ent- 
lasten, und in letzteren Platz für neue Aufnahmen zu schaffen. 

So wie gegenwärtig die Dinge liegen, kann nur ein geringer Bruch- 
teil der vorhandenen Geisteskranken in einer Irrenanstalt untergebracht 
werden, nach statistischen Ausrechnungen erreicht die Zahl der ausser- 
halb von Anstalten sich findenden Irren in Deutschland etwa 70000. Viele 
von diesen befinden sich sicherlich in denkbar ungünstigsten Ver- 
hältnissen, sie fallen nicht nur den Angehörigen zur Last, weil sie 
selbst nichts oder wenig verdienen, noch dazu gewisser Pflege und 
Aufsicht bedürfen und somit Kosten verursachen, sie werden nicht 
nur nicht sachgemäss behandelt, sondern dienen vielmehr häufig als 
Zielscheibe des Spottes und der Hänseleien der ganzen Ortschaft, 
speciell seiner Jugend; sie sind aber auch gerade jene Elemente, 
seitens deren der Gesellschaft der grösste Schaden droht und welche 
deshalb um der Umgebung willen strengster Aufsicht bedürfen. 

Wie ist nun von Seiten der Behörden für diese ausserhalb der 
Irrenanstalten lebenden Geisteskranken gesorgt? Erinnert sei hier zu- 


‚ nächst an folgende Bestimmungen des Gesetzes vom 11. Juli 1891. 


$ 1. Jedem hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem zu seiner Unterstützung 
verpflichteten Armenverbande Obdach, der unentbehrlichste Lebensunterhalt, die 
erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle seines Ablebens ein ange- 
messenes Begräbnis zu gewähren. 


1) So verlangt auch Herr Prof. Moeli in jüngster Zeit in einem der Depu- 
tation für die städtische Irrenpflege erstatteten Gutachten den Bau zweier neuer 
Irrenanstalten. Der Gutachter führt den Nachweis, dass nach Fertigstellung der 
Anstalt in Buch nicht nur sämtliche Plätze belegt, sondern noch 700—800 Irre 
in Privatpflege sein werden. Diese würden dann den Stamm für die Belegschaft 
eines vierten, sofort in Angriff zu nehmenden Irrenhauses bilden, und während 
dies ausgeführt wird, müsse bereits an die fünfte derartige Anstalt gedacht werden. 

4 


50 Dr. Kurt Mendel, 


$ 31. Die Landarmenverbande — in Ostpreussen der Landarmenverband 
der Provinz — sind verpflichtet, für Bewahrung, Kur und Pflege der hilfsbe- 
dürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen und Blinden, soweit 
dieselben der Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen. 

Verpflichtet zur Aufnahme und Bewahrung, zur Gewährung der Kur und 
Pflege ist zunächst derjenige Landarmenverband, welchem der vorläufig unter- 
stützungspflichtige Ortsarmenverband angehört. 


Ausserdem kommt ein Runderlass an die Regierungspräsidenten 
vom 25. April 1898 in Betracht, welcher auf eine im Bezirke der 
Königlichen Regierung zu Düsseldorf von dem Regierungspräsidenten 
unterm 20. Oktober 1894 gegebene Verfügung aufmerksam macht, 
die darin befindlichen Anordnungen als bewährt und ausreichend 
bezeichnet und anheim giebt, eine gleiche Regelung für den Fall, 
dass ein Bedürfnis hierzu anerkannt werden sollte, in den übrigen 
Bezirken herbeizufiihren. 1) 

Diese Bekanntmachung vom 20. Oktober 1894 verlangt 

1) von jedem Bürgermeister alljährlich ein namentliches Ver- 
zeichniss aller in dem betreffenden Polizeibezirk befindlichen Geistes- 
kranken, Geistesschwachen und Blödsinnigen nach einem bestimmten 
Schema, sofern dieselben nicht in ausschliesslich zur Aufnahme 
solcher Personen dienenden Anstalten untergebracht sind. Dieses 
Verzeichnis ist am 1. Februar eines jeden Jahres an das Landrats- 
amt einzureichen. In dem beigefügten Schema ist sub 11 die 
Gemeingefährlichkeit, sub 12 die Art der Unterbringung und Ver- 
pflegung und sub 13 die Art der ärztlichen Behandlung rubriziert 
und es werden etwaige Vorschläge zur Abhülfe verlangt; 

2) vom Landrat eine Prüfung der sub 1) erwähnten Zusammen- 
stellungen unter Zuziehung des Kreisphysikus. Beim Obwalten 
irgend welcher Bedenken soll der Kreisphysikus die betreffenden 
geisteskranken etc. Personen nach Anordnung seitens des Regierungs- 
präsidenten untersuchen. „Wo besondere Uebelstände wahrgenommen 
werden und die Abstellung derselben in den bisherigen Verhältnissen 
nicht zu erreichen und sicher zu stellen ist, insbesondere auch, wo 
der Krankbeitszustand dies erfordert, hat die Unterbringung des be- 
treffenden Geisteskranken etc. in eine geeignete Anstalt zu erfolgen.“ 

3) vom Landrat einen alljährlich am 1. Juli zu erstattenden 


1) cf. Vierteljahresschrift für gerichtliches und öffentliches Sanitätswesen. 
XVI. Bd. 3. Folge. pag. 209. | 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 51 


Bericht an den Regierungs-Präsidenten unter Beifügung einer Ab- 
schrift der Verzeichnisse. 

Diese Verfügung wurde auf der XV. Hauptversammlung des 
Preussischen Medizinal-Beamten-Vereins zu Berlin im September 
1898 des näheren besprochen und die Versammlung nahm am 
Schluss der Debatte folgende von Oebbeke vorgeschlagene, von 
Leppmann ergänzte Resolution einstimmig an: 

„Sämmtliche Geisteskranke und Geistesschwache, die nicht in 
staatlich anerkannten Irrenanstalten behandelt oder verpflegt werden, 
auch die in der eigenen Familie verpflegten, unterstehen der polizei- 
lichen Anzeigepflicht und einer regelmässigen staatlichen Aufsicht 
durch den zuständigen Medizinalbeamten“. 

Irgend welche allgemein gültigen Vorschriften betreffs der 
ausserhalb von Irrenanstalten befindlichen Geisteskranken bestehen 
jedoch zur Zeit nicht; einige Regierungsbezirke besitzen wohl be- 
stimmte Verfügungen seitens ihres Regierungspräsidenten (so wurde 
im Jahre 1900 für den Regierungsbezirk Wiesbaden verfügt, dass 
fortan Geisteskranke, Geistesschwache und Idioten, die in Anstalten 
nicht untergebracht sind, der ständigen Aufsicht des Kreisphysikus 
unterliegen), in anderen ist es (wie oben erwähnt) durch den Mini- 
sterialerlass dem  Regierungsprisidenten anheimgegeben, die 
Düsseldorfer Bestimmungen einzuführen; schliesslich fehlen aber doch 
in den meisten Bezirken genaue Anweisungen, überall aber gesetz- 
liche Bestimmungen betreffs der Irren ausserhalb der Anstalten. 

Demnach sind wir gegenwärtig noch weit davon entfernt, dass 
alle ausserhalb von Irrenanstalten lebende Geisteskranke dem Staat 
bekannt gegeben werden. Infolge dessen ist auch der Schutz, den 
sie geniessen, sowie ihre Beaufsichtigung durchaus mangelhaft. Am 
besten steht es hierin noch mit denjenigen Kranken, welche sich in 
sog. „Familienpflege“ oder „familiärer Irrenpflege“ befinden. Der 
Zweck, welchem diese Einrichtung dienen soll, ist ein zweifacher. 
Erstens sollen hierdurch dem Kranken selbst mehr Freiheit und 
Selbständigkeit sowie die Annehmlichkeiten des Familienlebens und 
reichliche Arbeitsgelegenheit geboten werden, zweitens sollen aber 
durch dieses Verfahren die Irrenanstalten entlastet, ihre Räume für 
neue Aufnahmen freigelegt und so der Überfüllung der Anstalten 


entgegen gearbeitet werden. Besondere Verdienste um die Ausge- 
4* 


52 Dr. Kurt Mendel, 


staltung dieser Familienpflege haben sich in Deutschland Griesinger, 
Wahrendorff, Alt, Sander und Moeli erworben. Es bestehen 
gegenwärtig zwei Formen, unter denen die Familienpflege in Er- 
scheinung tritt; entweder es handelt sich um eine völlig selbständige 
Ansiedlung vieler Geisteskranker an einem Orte, dessen Bevölkerung 
die Pflege und Beaufsichtigung der Irren übernimmt, ohne dass 
irgend welche Beziehung zu einer Irrenanstalt oder Controlle seitens 
einer solchen besteht, oder es ist die Ansiedlung im Anschluss, in 
der Nähe und in gewisser Abhängigkeit von einer öffentlichen oder 
privaten Irrenanstalt gleichsam als Dépendance derselben entstanden. 
Der ehrwürdige Repräsentant der ersten Kategorie ist das bel- 
gische Dorf Gheel, dessen Beispiel Lierneux, Dun-sur-Auron und in 
Deutschland Ellen-Rockwinkel und in neuester Zeit Jerichow 
(Provinz Sachsen) gefolgt sind. Die hochinteressante Geschichte 
Gheel's, dessen Ruf als heilbringender Zufluchtsort für geistig Er- 
krankte bis in das Jahr 600 unserer Zeitrechnung zurückreicht, ist 
von Alt in seiner Abhandlung „Über familiäre Irrenpflege“ (Samm- 
lung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und 
Geisteskrankheiten. Marhold, Halle 1899) ausführlich wiedergegeben 
worden. An der Spitze der Kolonie Gheel steht gegenwärtig ein 
ärztlicher Direktor, der selbst jeden Kranken zwei Mal im Jahre 
sieht und welchem mehrere am Orte wohnende Ärzte beigegeben 
sind. Letztere besuchen jeden chronischen Geisteskranken einmal 
im Monat, die acuten und körperlichen Kranken je nach Bedarf und 
schreiben jede Visite in einem zu diesen Zwecke in jeglicher Pfleger- 
familie ausliegenden Buche ein. Genaue Reglements ordnen die 
Beköstigung und sorgen dafür, dass die Quartiere den Anforderungen 
der Hygiene möglichst genügen. Zwangsmittel kommen nur ganz 
ausnahmsweise zur Anwendung. Auch in wirtschaftlicher Beziehung 
rentiert sich die Irrenkolonie Gheel vollkommen. Die Organisation 
derselben ist eine gute, die Beaufsichtigung eine hinreichende, die 
Kranken selbst sind in bester Weise untergebracht und geniessen 
möglichst grosse Freiheit, ohne der Umgebung lästig zu fallen. 
Eine besondere, zur Bereisung und Besichtigung der grösseren 
Familienpflege-Kolonieen in Belgien (Gheel und Lierneux), in Frank- 
reich (Dun-sur-Auron) sowie in Deutschland (Bremen-Ilten) erwählte 
Kommission hat ihre auf dieser Reise gewonnenen Eindrücke und 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 53 


Schlussfolgerungen dem Provinzial-Ausschuss von Brandenburg in 
folgenden Sätzen zusammengefasst (Verwaltungsbericht des Provinzial- 
ausschusses No. 2 vom 25. Januar 1902): 

A. Die Familienpflege stelle ein System der freien Irrenbe- 
handlung dar, welches einem nicht unbeträchtlichen Teile der den 
Armenverbänden zur Last fallenden Kranken einen guten Ersatz für 
Anstaltspflege bietet. 

B. Zur Einrichtung einer guten Familienpflege, zur Erlangung 
guter Pflegerfamilien bedürfe es keiner Jahrhunderte langer Vorbe- 
reitung — wie immer von den Gegnern behauptet werde —, sondern 
es gelinge unter Anwendung erhöhter Sorgfalt in verhältnismässig 
kurzer Zeit (5—15 Jahre) solche zu schaffen. 

C. Die Einrichtung einer Familienpflege sei aber nur dann 
aussichtsvoll und überhaupt erlaubt, wenn sie vollkommen psychiatrisch 
organisiert wird. Die Heranziehung nicht psychiatrisch ausgebildeter 
Ärzte sei verwerflich. Insbesondere müsse der Leiter einer Familien- 
pflege und sein Vertreter ein vollkommen ausgebildeter Irrenarzt sein. 

D. Die Zentrale, von der aus die Familienpflege ins Leben 
gerufen werden solle, dürfe nicht gross sein, damit der Direktor von 
Verwaltungsgeschäften und Schreibereien möglichst verschont bleibe, 
um hinreichende Zeit zu behalten, sich mit den Pflegern und vor 
allem den Kranken gründlich zu beschäftigen. 

E. In eine Pflegerfamilie dürften in der Regel nicht mehr als 
2 Kranke und zwar desselben Geschlechts gleichzeitig gegeben werden, 
weil mehr Kranke das Familienleben schädigen würden, anstatt in 
ihm aufzugeben. 

F. Die Bezahlung der Pfleger dürfe nicht zu kärglich sein, 
es empfehle sich, mehrere Verpflegungssätze, die der Arzt im ein- 
zelnen Falle festsetze, einzurichten. Der an die Pfleger zu zahlende 
Satz werde aber 1 Mark pro Tag und Kopf nicht übersteigen. Die 
Gesamtkosten einschliesslich Verwaltung etc. würden die Summe von 
1,30 Mark pro Tag und Kopf nicht übersteigen. — 

Die andere Form der Familienpflege, wie sie z. B. in Dalldorf, 
Herzberge, Ilten, Merxhausen, Eichberg, Allenberg, Bunzlau, Göttingen 
geübt wird, besteht darin, dass man in der Umgebung einer schon 
bestehenden Irrenanstalt eine Anzahl von Kranken in geeigneten 
Familien (speziell solchen von früheren Anstaltswärtern [,„Wärterdorf“ 


54 Dr. Kurt Mendel, 


nach Alt]) unterbringt. Ein solcher Aufenthalt erscheint besonders 
geeignet als Übergangsstation und als Prüfstein für diejenigen Kranken, 
welche sich bis dahin in einer Irrenanstalt befanden, nunmehr aber 
bald ihrer Familie, der eigenen Selbständigkeit und dem praktischen 
Leben zurückgegeben werden können. Die Aufsicht über diese 
Kranken hat von der Anstalt aus zu erfolgen, die Ärzte der letzteren 
üben eine regelmässige Kontrolle über die Kranken und ihre Pfleger 
aus, und es würde somit die Beaufsichtigung eine völlig hinreichende 
sein. Ergiebt sich für einen Kranken die Familienpflege als unge- 
eignet, so wird man bei dieser Form jeder Zeit eine Zurückver- 
setzung in die Anstalt schnell bewerkstelligen können. Den meisten 
bekommt aber das Familienleben und die ihnen wiedergegebene 
Freiheit ganz vorzüglich, ihre Psyche wird in güustigster Weise 
dadurch beeinflusst, und so fordern denn die gegenwärtig bestehenden 
Pflegestellen durch ihre guten Resultate zur Einrichtung neuer auf. 
In Betracht kommt hierbei auch — wie bereits erwähnt — der 
Umstand, dass durch diese Familienpflege die überfüllten Anstalten 
in erheblichem Grade entlastet werden. Die Gesamtzahl der in 
Familienpflege untergebrachten Geisteskranken in Preussen betrug 
im Juli 1900 bereits 671 Köpfe, davon 418 Männer und 253 Frauen. 
Schliesslich sei erwähnt, dass auch in pecuniärer Hinsicht die Familien- 
pflege der Anstaltsbehandlung voraus ist, indem in ersterer der 
Kranke durchschnittlich pro Kopf und Tag 1 Mark, in unseren An- 
stalten hingegen 1,40—1,60 Mark kostet. 

Bei allen übrigen Verpflegungsformen, welche Geisteskranken, 
die nicht in Anstalten untergebracht sind, zu Gebote stehen, wird 
aber der Schutz, der dem Kranken zusteht, sowie die Aufsicht über 
denselben ungenügend sein, so lange es noch an allgemein gül- 
tigen Vorschriften über die gesetzliche Anzeigepflicht und be- 
hördliche Beaufsichtigung dieser Kranken fehlt Das Natürlichste 
ist es ja eigentlich, dass, falls eine Anstaltsbehandlung nicht not- 
wendig ist, die eigene Familie die Pflege des Erkrankten übernimmt, 
doch ist dies meist nur in wohlhabenderen Kreisen möglich, und 
auch in diesen stellen oft äussere Umstände (Rücksicht auf die ge- 
sunden Mitglieder der Familie etc.) dem weiteren Verbleiben des 
Kranken in der eigenen Familie grosse Schwierigkeiten entgegen. 
Dann kommt zunächst die nicht konzessionspflichtige Einzelpflege in 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 55 


einer fremden Familie in Betracht. Bei dieser völlig privaten 
Familienpflege (sei es in eigener, sei es in fremder Familie) ist die 
Aufsicht durchaus ungenügend, häufig wird das Vorhandensein einer 
geistigen Erkrankung völlig verheimlicht, die Kranken werden oft 
in pekuniärer Hinsicht geschädigt, und infolge jeglichen Mangels 
einer Kontrolle konımen gerade bei dieser Verpflegungsform Selbst- 
mord sowie jene Missstände von jahrelangen Einsperrungen in Kellern 
und in vor Schmutz starrenden Verliessen vor, von denen die 
Zeitungen berichten und deren eine erst kürzlich noch an einem 
Flecken in Frankreich aufgedeckt wurde. 

Etwas besser, aber auch noch durchaus ungenügend ist die 
Aufsicht in den sog. „Pensionaten für Gemütskranke“, welche wenigstens 
der Reichs-Gewerbeordnung unterstehen und demnach konzessions- 
pflichtig sind, welche aber nicht ärztlich geleitet werden, für welche 
auch ein ärztliches Attest zur Aufnahme nicht gefordert wird. In 
diesen Pensionaten sind häufig gerade solche Kranke untergebracht, 
deren Leiden noch im Beginn ist und bei geeigneter Anstalts- 
behandlung eine günstige Prognose abgeben würde, bei denen sich 
aber ohne diese Behandlung in der unzweckmässigen Umgebung 
die Psychose weiter entwickelt, bis sie dann schliesslich — zu spät — 
einer Anstalt übergeben werden müssen. 

Eine grosse Anzahl von Geisteskranken, welche einer Irren- 
anstalt nicht überwiesen sind, halten sich endlich in den allgemeinen 
Krankenhäusern, den Siechen- oder Armenhäusern oder in den Kreis- 
pflegeanstalten auf und geniessen hier zwar genügenden Schutz und 
hinreichende Beaufsichtigung, befinden sich aber an einem für sie 
völlig ungeeigneten Orte untergebracht. Das Zusammenleben von 
körperlich und geistig Kranken ist für beide Kategorieen durchaus 
unzweckmässig und nachteilig, das Pflegepersonal und meist auch 
das Aerztepersonal an den genannten Instituten — soweit letzteres 
überhaupt vorhanden (Siechen- und Armenháuser) — sind meist 
nicht geeignet für die Pflege der psychisch Kranken, überhaupt 
entspricht die Unterbringung von Irren in allgemeine Krankenhäuser, 
Siechen-, Armenhäuser oder in die Kreispflegeanstalten der ganzen 
Organisation dieser Einrichtungen nicht. 

Alles zusammengefasst, erscheint für die in Irrenanstalten nicht 
untergebrachten Geisteskranken als zweckmässigste Verpflegungsform 


56 Dr. Kurt Mendel. 


die sog. ,Familienpflege” (im engeren Sinne), sei es — wie in 
Gheel — als besondere, von einer Anstalt unabhängige Organisation, 
sei es im Anschluss an eine Irrenanstalt. In diesen Fällen hat der 
Arzt des „Irrendorfes“ resp. der Anstaltsarzt unter staatlicher Auf- 
sicht die Kontrolle auszuüben. Befindet sich jedoch der Erkrankte 
in gewöhnlicher Privatpflege (in eigener oder fremder Familie, von 
seinen Angehörigen oder vom Kreise aus [Kreisfamilienpflege] letzterer 
anvertraut), so ist auch dann zum Schutze und zur Beaufsichtigung 
desselben eine gesetzliche Anzeigepflicht erforderlich, auf Grund 
deren der Staat eine gewisse Aufsicht durch Vermittelung seiner 
amtlich Angestellten, insbesondere des Medizinalbeamten des betreffen- 
den Kreises, auszuüben vermag. Diese Anzeigepflicht und Beauf- 
sichtigung ist gegenwärtig noch nicht gesetzliche Bestimmung; bis 
dieselben gesetzlich festgelegt sein werden, wird man noch manchen 
Fall von Misshandlung eines Geisteskranken in einer Familie oder 
von Schaden, den ein frei umherlaufender Irrer angerichtet hat, dem 
Staate zum Vorwurf machen müssen. 

Wenn ich aus der Zahl der nicht in Anstalten befindlichen 
Geisteskranken hier noch diejenigen besonders herausgreife, welche 
in einer Anstalt waren, aus derselben aber entlassen sind, so geschieht 
dies, weil diese Kranken in der That der ihnen zuzuwendenden 
Fürsorge wegen eine ganz spezielle Berücksichtigung verdienen. 

Wird ein Individuum aus einer Irrenanstalt entlassen, so 
geschieht dies entweder, weil es geheilt oder weil sein Zustand ein 
derartiger geworden ist, dass eine weitere Anstaltsbehandlung nicht 
mehr notwendig erscheint. Letztere (meist sekundär dement 
gewordene) Personen bedürfen, da sie ohne Leitung und selbst- 
ständig ihr Leben zu führen nicht imstande sind, dauernder Unter- 
stützung, um ausserhalb der Anstalt sich und die ihren ernähren zu 
können. Ganz besonders kann aber die Zurückversetzung in das 
alte Milieu von grösstem Schaden für denjenigen sein, der als 
Reconvalescent oder als geheilt aus der Anstalt entlassen wird. Die 
daheim herrschenden ungünstigen Verhältnisse können denselben 
bald wieder so weit rückwärts bringen, dass die erneute Aufnahme 
in eine Anstalt notwendig wird. Ein Arbeitgeber wird schwerlich 
jemanden in seinen Dienst nehmen, von welchem er erfährt, dass 
derselbe in einer Irrenanstalt untergebracht war; allzu anstrengende 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 57 


kórperliche und insbesondere geistige Arbeit wird der Entlassene 
zunächst überhaupt nicht übernehmen dürfen; der Anblick der so 
lange ihres Ernährers beraubten und dadurch heruntergekommenen 
Familie wird ihn physisch stark mitnehmen, er wird leicht den Ver- 
lockungen des Alkohol erliegen, und die pekuniären Sorgen für sich 
und die Seinen werden in Kürze sein Nervensystem wiederum aus 
dem Gleichgewicht bringen und zerriitten. Auf diese Weise gehen 
bei vielen Tausenden die Segnungen, welche ihnen die Anstalts- 
behandlung gebracht hat, wieder verloren, weil sie die Hindernisse, 
die sich ihnen bei der Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft 
bieten, zu überwinden nicht imstande sind und deshalb wieder 
rückfällig werden. So allgemein aber überall die Wichtigkeit der 
Fürsorge für die aus der Irrenanstalt Entlassenen anerkannt wird, 
so schwierig ist die Lösung der Frage, in welcher Weise diese Für- 
sorge stattzufinden hat. Der Idealzustand wäre ja der, dass vor 
Entlassung eines jeden Kranken Erkundigungen daheim über die 
Familien- und Arbeitsverhältnisse eingezogen werden und dass dann, 
wenn dieselben nicht günstig liegen, der Staat oder die Gemeinde 
sich noch weiterhin des Entlassenen annimmt, ihn zunächst durch 
Geldmittel unterstützend, besonders aber ihm die Gelegenheit zu 
verdienstbringender Arbeit anweisend. Hierzu gehören nächst vor- 
züglich organisierten Institutionen Geldsummen, wie sie in solcher 
Höhe gegenwärtig für diesen Zweck aus den öffentlichen Mitteln 
unmöglich bewilligt werden können. Es ist demnach durchaus 
notwendig, dass zur Zeit der gewährte Staatszuschuss durch private 
Wohlthätigkeit unterstützt werde, wenn überhaupt etwas erreicht 
werden soll. 

Die öffentliche finanzielle Unterstützung zeigt sich haupt- 
sächlich in Form der Armenpflege. Abgesehen davon, dass sich 
bei vielen, besonders aber bei dem sog. „kleinen Bürgerstande“ eine 
grosse Abneigung gegen diese ihrem Stolze und ihrem Selbst- 
ständigkeitsgefühl widersprechende öffentliche Hilfeleistung vorfindet, 
kann diese Form der Fürsorge auch nur darin bestehen, dass dem 
betreffenden Entlassenen — und es gilt das in Folgendem Aus- 
geführte zum grössten Teile auch im allgemeinen für sämtliche 
ausserhalb der Irrenanstalten lebende Geisteskranke — eine Geld- 
unterstützung gewährt wird; die so überaus wichtige Arbeits- oder 


58 Dr. Kurt Mendel, 


Stellungsverschaffung ist von Seiten der Armenbehörde nicht zu 
verlangen. 

Hinzu kommt noch, dass zwischen Anstaltsleitung und Armen- 
Direction bezüglich der Pflegestellen sowie betreffs der Höhe des 
Pflegegeldes häufig Meinungsverschiedenheiten bestehen, dass durch 
die Notwendigkeit des Zusammenwirkens zweier Behörden (des An- 
staltscuratoriums und der Armendirection) anlässlich der Entlassung 
Hilfsbedürftiger aus der Anstalt Collisionen und unnützer Zeitverlust 
unvermeidlich sind und dass schliesslich die Mitglieder der Armen- 
Kommissionen zumeist nicht das rechte Verständnis für das Wesen 
der Geisteskranken und in dem Umgange mit denselben zeigen. 

Die Privatunterstützung vermag allerdings grösstenteils zunächst 
auch nur die Geldmittel herzuschaffen, ohne eine bestimmte Be- 
schäftigung für den Entlassenen zu erwirken, und zwar stehen hier- 
für wohlthätige Stiftungen sowie insbesondere die sog. Irrenhilfsvereine 
zur Verfügung. Gerade aber von letzteren steht bei geeigneter 
Organisation nicht nur zu erwarten, dass sie den bedürftigen aus der 
Anstalt Entlassenen baares Geld zur Unterstützung ihrer Familie 
und zur Ermöglichung einer gewissen Arbeitsschonzeit direct nach 
der Entlassung zuwenden, sondern es liegt ihnen auch ob, durch 
Vermittelung ihrer Vertrauensmänner Stellungen auf dem Arbeits- 
markte ausfindig zu machen, in denen die hierzu geeigneten Ent- 
lassenen eine lohnende, ihrer Gesundheit und ihren Financen zu- 
trägliche Beschäftigung erlaúgen. 

In Anbetracht der wichtigen Aufgaben, welche die Irrenhilfs- 
vereine nach dieser Richtung hin zu erfüllen haben, verlohnt es sich, 
kurze Zeit bei dieser Einrichtung zu verweilen. Dieselbe hat speciell 
in Deutschland grosse Verbreitung gefunden, und zwar sind unter 
diesen Hilfsvereinen besonders hervorzuheben derjenige für die 
Geisteskranken in Hessen, der brandenburgische, der Berliner, der 
schlesische, pfälzische, württembergische, derjenige in Sachsen, in der 
Rheinprovinz etc. etc. Die Aufgabe, welche sich diese Vereine zu- 
meist gestellt haben, besteht vornehmlich in der Fürsorge (Ver- 
schaffung geeigneter Unterkunft, von Arbeit etc.) für aus Heil- und 
Pflegeanstalten entlassene Geisteskranke, in Unterstützung der Familien 
Geisteskranker, speciell während des Anstaltsaufenthaltes des Er- 
krankten, sowie in Hebung der öffentlichen Irrenpflege und Be- 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken? 59 


kámpfung der im Volke haftenden Vorurteile gegen Geisteskrankheit 
und Irrenanstalten. Die Geldmittel der Vereine setzen sich aus den 
jährlichen Beiträgen ihrer Mitglieder, aus freiwilligen Spenden und 
Vermächtnissen, aus den Zinsen der Vereinsgelder und etwaigen 
Zuschüssen von Seiten des Staats oder der Gemeinde zusammen. 

An der Spitze eines jeden Vereins steht ein Vorstand (zumeist 
aus den Oberheamten einer Irrenanstalt bestehend). Aus der Zahl 
der Mitglieder werden die „Vertrauensmänner“ gewählt, zu deren 
Hauptaufgabe es gehört, über die Interessen der ausserhalb von 
Irrenanstalten lebenden Geisteskranken zu wachen, speciell auch die 
aus einer Anstalt Entlassenen weiterhin im Auge zu behalten. 
Lehrer, Beamte, Geistliche, Ärzte und andere Personen, welche das 
Vertrauen in der Gemeinde geniessen, sind für diesen Ehrenposten 
vornehmlich ausersehen, von ihrer Tüchtigkeit hängt hauptsächlich 
der Nutzen ab, welchen der Verein stiftet. Wenngleich die Pflichten 
dieser Vertrauensmänner keine leichten sind (sie haben z. B. unter 
anderem die unangenehme Aufgabe, die Beiträge der Mitglieder ein- 
zukassieren), so ist doch die Zahl derer, welche sich für dieses Amt 
gemeldet haben, bisher eine durchaus genügende gewesen. So- 
fern sie sich ihre Aufgabe angelegen sein lassen, können sie in der 
Sorge für die in fremden Familien verpflegten Geisteskranken letzteren 
grossen Segen bringen, sie können auch die in der eigenen 
Familie befindlichen in discreter Weise unter ihre Obhut nehmen, 
sich bei Auftauchen irgend eines Zweifels oder zur Einholung 
ärztlichen Rates mit dem Medizinalbeamten des Kreises in Verbindung 
setzen, den Bedürftigen materielle Unterstützung von Seiten des 
Hilfsvereins oder die Gelegenheit zu verdienstbringender Arbeit zu- 
kommen lassen u. v. a. So liegen die Verhältnisse gegenwärtig. 
Wir sehen, dass der privaten Wohlthätigkeit hierbei ein grosses 
Feld zu ihrer Bethätigung eingeräumt ist. 

So sehr man aber auch einerseits das uneigennützige Walten 
dieser Hilfsvereine und ihre bisherigen, grossen Erfolge lobend an- 
erkennen muss, so bleibt doch andrerseits an ihnen zu bemängeln, 
dass ihnen eine einheitliche Leitung, ein fest gefügtes System, eine 
Zentrale, fehlt: diese Vereine sind zwar bereits in vielen Provinzen, 
doch noch nicht allgemein eingeführt, sie berücksichtigen zwar zahl- 
reiche hilfsbedürftige Geisteskranke ausserhalb der Anstalten, doch 


60 Dr. Kurt Mendel, 


nicht alle, sie sind gänzlich auf die Privatwohlthitigkeit angewiesen. 
in ihren Mitteln sehr beschränkt, ungleich unter einander in materieller 
Beziehung, in Organisation und in der Zuverlässigkeit ihres 
Funktionierens, sie sind Glieder eines Körpers, dem das pulsierende 
Herz fehlt. i 

Um all’ diesen Übelständen abzuhelfen, bedarf es einer ein- 
heitlichen und zwar einer staatlichen Organisation: einer 
„Zentralbehörde für das Irrenwesen“ (Erlenmeyer) oder eines „Vereins 
für Irrenfürsorge“ (Max Fischer). „Eine derartige Zentralbehórde 
für das Irrenwesen“ — so schreibt Erlenmeyer (Unser Irrenwesen 
Verl. von J. F. Bergmann. Wiesbaden 1896) — „in deren Hand 
allein die einheitliche Leitung liegt, ist und bleibt der Angelpunkt 
einer jeden wirklich guten Reorganisation, und ohne diese Zentrali- 
sation der Staatsaufsicht bleibt jede noch so gut gemeinte Reform 
„Flickwerk und Stiickwerk“.“ 

Zur Verwirklichung dieser Idee fehlen nun gegenwärtig — wie 
oben bereits ausgeführt wurde — noch vor allen Dingen die Geld- 
mittel, so dass zur Zeit die Privatwohlthátigkeit noch einspringen 
muss und die „Centralbehörde“ nur ein Zukunftstraum ist. Die zu- 
nehmende Einsicht des ungeheuren Wertes, welchen eine solche 
Centrale in socialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Beziehung be- 
besitzen würde, lässt jedoch erhoffen, dass über kurz oder lang doch 
noch staatlicherseits die Geldmittel herbeizuschaffen sein werden, 
welche zur Begründung der geplanten Organisation erforderlich 
sind. Die Wege, welche letztere zu gehen hätte, sind ihr schon 
jetzt vorgeschrieben: nächst der Beaufsichtigung sämtlicher Irren- 
anstalten (der öffentlichen wie der privaten) hätte sie die Befugnis, 
allen ausserhalb von Irrenanstalten lebenden Geisteskranken, denen 
in eigener und fremder Familie, speciell auch den aus den An- 
stalten Entlassenen ihr Augenmerk zuzuwenden, letztere aus der 
Hand der Anstaltsdirektoren entgegen zu nehmen, sie in Arbeits- 
stellen einzuführen, sie mit Geld zu unterstützen, zu schützen und 
zu beaufsichtigen. 

Die gesetzliche Anzeigepflicht (mit Strafandrohung im 
Falle der Unterlassung dieser Anzeige) würde der Centralbehörde 
die Namen sämtlicher nicht in Anstalten untergebrachten Kranken 
zuweisen, sie selbst würde aber alsdann durch das Zusammenarbeiten 


Welchen Schutz bietet unsere Zeit den Geisteskranken ? 61 


ihrer Vertrauensmänner mit dem Bezirksarzte, mit der betr. Lokal- 
behórde, der Familie des Kranken u. s. w. imstande sein, jedem 
einzelnen Individuum Hilfe, Schutz und reichen Segen zu spenden. 

Ein gewisses Vorbild ist dieser Institution in der Familien- 
pflege Geisteskranker gegeben, wie sie bereits seit dem Jahre 1858 
in Schottland geübt wird. Letztere untersteht einer nach englischem 
Vorbild eingerichteten sachverständigen Behörde, dem Board of 
lunacy, welcher ausser der Überwachung der Irrenanstalten die 
Aufsicht und Fürsorge für alle nicht in Anstalten untergebrachte 
Kranke zur Pflicht gemacht ist und deren Wirkungskreis sich über 
das ganze Land erstreckt. 


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Wissenschaft zu Hildesheim am 17. Nov. 1896. 
— Grundzüge der Irrenpflege. Berlin 1897. Georg Reimer. 

Sommer. Kriminalpsychologie. Vgrein deutscher Irrenärzte zu Dresden. 1894. 

Stier, Ewald. Ueber Verhütung und Behandlung von Geisteskrankheiten in der 
Armee. Hamburg 1902. Gebr. Liideking. 43 8. 

Tippel. Welche Bedenken und Schwierigkeiten haben sich bei der Anwendung 
der ministeriellen Anweisung über die Aufnahme und Entlassung von 
Geisteskranken etc. ergeben? Zeitschr. f. Psych. Bd. LV. 

Unger. Irrengesetzgebung in Preussen. Berlin 1898. Siemenroth und Troschel. 

Werner. Uber die sog. psychische Contagion. Allg. Zeitschr. für Psych. 


Bd. XLIV. H. 4. 
Zinn. Zur Frage der Reform des Irrenwesens. Referat in dem Verein der 


deutschen Irrenärzte in der Sitzung vom 13. Sept. 1895 zu Hamburg. 
— Verwaltungsbericht des Provinzialausschusses der Provinz Brandenburg Nr. 2. 
Berlin, den 25. Januar 1902 (Referat). 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlang, Berlin W., Lützowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 





October 1902. Berliner Klinik. Heft 172. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch 
die Anlegung einer Leber-Gallengangsfistel’) 
Dr. M. ee 


consultierendem Chirurg am Israel. Gemeindehospital 
zu Frankfurt a. M. 





M.H. Am 18. April 1901 hielt ich auf dem 19. Congress für innere 
Medizin in Berlin und einige Wochen nachher an dieser Stelle einen 
Vortrag über eine neue von mir bei einem Leberkranken ausgeführte 
Operation, die in der Anlegung einer Leber-Gallengangsfistel be- 
stand. Als ich Ihnen über den Fall berichtete, war etwas mehr als ein Jahr 
seit der Operation verflossen; der Operierte hatte bereits seit 9 Monaten 
seine Tbätigkeit wieder in vollem Umfange aufgenommen, und ich 
konnte meinen Bericht mit folgenden Worten schliessen: „Bleibt 
auch die Frage offen, ob und welche Veränderungen das Leber- 
parenchym bereits erfahren hat, klinisch müssen wir den Operierten 
für geheilt erklären.“ Dass der Operierte selbst nicht weniger hoff- 
nungsfreudig in die Zukunft blickte, besagen die Anfangsworte eines 
in jenen Tagen aus Karlsbad an mich gerichteten Briefes, die fol- 
gendermassen lauteten: „Ich habe in diesen Tagen, wo so manches 
sich gejährt hat, oft und in aufrichtiger Dankbarkeit Ihrer gedacht. 
Waren Sie doch der Steuermann, der jetzt vor einem Jahre das ge- 
fährdete Schiff mit sicherer Hand durch die drohenden Klippen hin- 
durch dem Hafen zugeführt hat, wo es hoffentlich in Sicherheit bleiben 
wird.“ Diese Hoffnung sollte sich leider nicht erfüllen; ein Jahr 
nachher, also 2 Jahre nach der Operation, erlag der Operierte seinem 
Leberleiden. 

Zur Zeit des Vortrages und auch noch längere Zeit nachher 
hatte ich die Meinung vertreten, dass der Operierte an hypertrophischer 
Lebercirrhose erkrankt gewesen sei. Diese Meinung hatte ich auch 
zum Ausdruck gebracht in dem Thema meines Vortrages, welches 
lautete: „Ueber die operative¿Behandlung der hypertro- 

') Vortrag gehalten in der Sitzung des Aerztlichen Vereins zu Frankfurt a. M. 


am 18. August 1902. 
1 


9 Dr. M. Hirschberg, 


phischen Lebercirrhose.“!) Diese Diagnose wurde nicht verificiert. 
als Ursache des Todes fand sich Leberkrebs. Durch die Obductior 
erhielten wir allerdings keinen Aufschluss darüber, ob schon zu: 
Zeit der Operation oder vorher Krebswucherungen in der Leber 
Platz gegriffen hatten. Ich werde auf diese Frage noch zurückkommen. 
wenn ich die diagnostischen Schwierigkeiten erörtern werde, die der 
Fall bot und möchte jetzt nur in Kürze auseinandersetzen, welche 
diagnostischen Erwägungen mich bei meinem operativen Vorgehen 
geleitet hatten. Ich hatte seinerzeit die Operation nicht etwa auf 
Grund einer bestimmten oder wahrscheinlichen anatomischen 
Diagnose vorgenommen und habe dies in meinem Vortrage auch 
ausdrücklich betont; lediglich die Erkenntnis der Gefahr, in 
welcher der Kranke sich befand, gab mir das Messer in die 
Hand, und ich entschloss mich zur Operation erst, nachdem 
ich klar erkannt hatte, woher die Gefahr kam, als ich zur Ein- 
sicht gelangt war, dass sie von der starken und dauernden in- 
trahepatischen Gallenstauung drohte. Die von mir gestellte 
Diagnose: „hypertrophische Lebercirrhose“ war in letzter Instanz das 
Ergebnis postoperativer Erwägungen. Wenn sich im weiteren Ver- 
laufe herausgestellt hat, dass diese Erwägungen mir ein falsches Bild 
vorgetäuscht hatten, dass es nicht eine cirrhotische, sondern dass es 
eine Krebsleber war, an der ich die Operation vollzogen hatte, so 

erleidet durch diese Wahrnehmung der Wert des operativen 

Eingriffes keinerlei Einbusse. Auf die Würdigung dieses letzteren 

kam und kommt es mir aber in erster Linie an. Die Bedeutung 

der Operation tritt im Gegenteil noch schärfer zu Tage, wenn sie 

sich sogar bei der Krebsleber noch bewährt hat, denn diese Erfahrung 

erlaubt es uns, die Indicationsgrenzen der Operation viel weiter zu 

stecken, als ich es ursprünglich geahnt hatte. 

Nach diesen Vorbemerkungen wende ich mich zur Schilderung 
der nunmehr in ihrem ganzen Verlaufe vorliegenden Krankengeschichte, 
um an der Hand derselben die Entstehung, den Gang und die 
Leistungsfähigkeit der Operation zu erläutern. Beim ersten Ihnen 
schon bekannten Abschnitte werde ich nicht lange verweilen, sondern 
nur diejenigen Daten wiederholen, deren genauere Kenntnis mir für 


1) 8. Verhandlungen des 19. Congresses für Innere Medizin, Wiesbaden 
1901 S. 367. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 3 
einer Leber-Gallengangsfistel. 
die Herstellung der Verbindung mit dem ferneren Ihnen noch un- 
bekannten Schicksale des Patienten, sowie für das Verständnis der 
sich daran schliessenden Ausführungen notwendig erscheint. 

*) Herr N., ein kräftiger Mann von 51 Jahren, führte stets ein 
sehr geregeltes Leben, ist nach keiner Richtung hin erblich belastet, 
war nie luetisch und litt nie an Malaria. 

Vor 15 Jahren erkrankte er an einem hartnäckigen Magenkatarrh, 
der zu einem so erheblichen Gewichtsverluste führte, dass ich eine 
Zeit lang in Sorge war, es könne ein Magencarcinom dahinter stecken. 
Irgend eine Leber- oder Gallensteinerkrankung war damals nicht nach- 
zuweisen, trotzdem wegen der langen Dauer der Krankheit wiederholt 
Prüfungen in dieser Richtung vorgenommen waren. Unter vorsichtigem 
diätetischen Verhalten und bei Weglassung aller alkoholischen Ge- 
tränke besserte sich der Zustand allmählich, sodass nach etwa drei 
Monaten der Patient sein früheres Gewicht und seine Gesundheit 
wiedergewonnen hatte. Kurze Zeit nach der Genesung nahm Herr 
N., was mir ätiologisch erwähnenswert erscheint, seine alte Gewohn- 
heit wieder auf, Mittags '/, Liter Wein und Abends 1 bis 1!/, Liter 
leichtes Bier zu trinken. Das trieb er 10 Jahre lang ohne merkliche 
Schädigung der Gesundheit. Vor 5 Jahren erkrankte er von neuem 
an Magenkatarrh, diesmal jedoch mit deutlicher, wenn auch geringer 
Leberschwellung, mit leichtem Icterus und sowohl spontanen wie 
Druckschmerzen im Epigastrium, aber wieder ohne jedes Anzeichen 
von Gallensteinen. Der Anfall dauerte nur wenige Wochen, während 
welcher Zeit Herr N. seine Bureauthätigkeit ebensowenig aussetzte, 
wie bei seiner früheren Erkrankung. Der Rat, den Wein- und Bier- 
genuss einzuschränken, wurde schon wenige Wochen nach der Ge- 
nesung in den Wind geschlagen. 

In ähnlicher Weise wie vor 15 und 5 Jahren erkrankte Herr N. in 
den ersten Novembertagen des Jahres 1899. Als er mich etwa 14 
Tage nach Beginn der Erkrankung beriet, stellte ich fest, dass er 
leicht icterisch und dass der rechte Leberlappen merklich vergrössert 
und auf Druck mässig empfindlich war. Anfänglich ging der Patient 


*) Anmerkung: Für die Drucklegung des Vortrages habe ich von einer Ver- 
kürzung des ersten Teiles der Krankengeschichte im Interesse derjenigen Leser 
Abstand genommen, welche die Verhandlungen des 19ten Congresses für Innere 
Medicin nicht besitzen. 

1* 


4 Dr. M. Hirschberg, 


noch seinen Gescháften nach, erst als die Abendtemperaturen mit- 
unter über 38,0% stiegen, liess er sich bewegen, das Haus zu hüten. 
Das Krankheitsbild gestaltete sich in den ersten Monaten folgender- 
massen: Der Patient klagte über Übelkeit, er hatte viel Aufstossen, 
ass nur mit Unlust; gegen manche Speisen, besonders gegen Fleisch, 
hatte er geradezu einen Widerwillen, die Zunge war andauernd dick 
belegt. Der Stuhlgang, der auf ein Glas Neuenahrer Wasser täglich 
erfolgte, war anfäuglich normal gefärbt, wurde nach 14 Tagen aber 
hellgelb, etwa in der fünften Woche gänzlich acholisch und blieb 
mit zeitweiligen, bald kürzeren, bald längeren Unterbrechungen, un- 
gefärbt bis zu der nach 6 Monaten ausgeführten Operation. Die 
icterische Färbung der Haut und die icterische Beschaffenheit des 
Harns waren im Anfang bemerkbar, aber nicht stark ausgeprägt, 
dauerten nur mehrere Tage und erschienen während des ganzen 
Krankheitsverlaufes nur noch 5—6 Mal, aber jedesmal in leichtem 
Grade. Die Schwellung der Leber nahm stetig zu, insbesondere die 
des rechten Lappens; gleichen Schritt hielt damit auch die Schwel- 
lung der Milz. Schon vom Anbeginn der Erkrankung wurde Herr 
N. von ausserordentlich quälendem Husten ohne Auswurf heimge- 
sucht, für den die wiederholt und sorgfältigst untersuchten Hals- 
und Brustorgane keinerlei Anhalt boten. Dagegen bewies die Art 
des Auftretens, dass es sich um einen ausgesprochenen Leberhusten 
handelte. Jedesmal nämlich, wenn die Stühle gefärbt waren, wenn 
also Galle in den Darm floss, die Gallenansammlung in der Leber 
sich verminderte, schwand der Hustenreiz entweder ganz, oder er 
wurde erheblich schwächer. Sowie der Stuhl acholisch wurde, stellte 
sich der Husten wieder in der früheren Hartnäckigkeit ein. Der 
Kranke klagte viel über Eingenommenheit des Kopfes und befand 
sich bald in gereizter, bald in gedrückter, weinerlicher Stimmung. 
Sein Schlaf war sehr gestört. 

Die Krankheit hatte unter leichtem Fieber eingesetzt. Im An- 
fange stiegen die Temperaturen selten über 37,5°, hier und da ein- 
mal auf 38—39° Erst von Ende Dezember ab überstiegen sie all- 
abendlich 38°, während sie morgens meist normal waren. Weder 
Chinin noch Pbenacetin, sowohl in den Vor- wie in den Nachmittags- 
stunden gereicht, brachte die Abendtemperatur herunter; die Wirkung 
der Mittel äusserte sich lediglich in starken Nachtschweissen und sub- 


Die Behandlung schwerer Lebererkranktngen durch die Anlegung 5 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

normalen Morgenremissionen. Der von vornherein beschleunigte und 
in keinem Stadium der Krankheit, auch nicht bei bestehendem Icterus, 
verlangsamte Puls erreichte Mitte Januar eine aussergewöhnliche 
Frequenz, die in auffallendem Missverhältnisse stand zu der Höhe 
der Temperaturen. So hatte der Patient von Mitte bis gegen Ende 
Januar stets 120—140 Pulsschläge bei Morgentemperaturen von nur 
36,5—37,5 und bei Abendtemperaturen von 38,0—39. Die erhöhte 
Herzthätigkeit fand ferner ihren Ausdruck in besonders heftigen An- 
fällen von Tachycardie, die in längeren Zwischenräumen auftraten, 
mitunter nur wenige Stunden, mitunter jedoch, allmählich abklingend, 
1—2 Tage dauerten. Eisapplication auf die Herzgegend brachte am 
ehesten Beruhigung. Der Patient gab an, dass er in den letzten 
Jahren schon öfter einen leichten tachycardischen Anfall wahrge- 
nommen habe, was bezeichnend sein dürfte für die langsame Ent- 
wicklung des Leidens. Die Auscultation und Percussion des Herzens 
ergab im Übrigen durchaus normale Verhältnisse. 

In der geschilderten Weise schritt die Krankheit unter immer 
stärkerer Anschwellung der Leber und Milz unaufhaltsam voran. 
Anfangs März 1900, nach 4monatlichem Bestande des acuten Sta- 
diums, war das rechte Hypochondrium bei dem äusserst abgemagerten 
Kranken sichtlich ausgefüllt, die Oberbauchgegend vorgewölbt, die 
Dämpfung des rechten Leberlappens reichte von der Brustwarze bis fast 
zur Nabelhöhe; der linke Lappen war nur wenig geschwollen. Die 
Leberoberfläche fühlte sich glatt, nicht besonders hart an und war 
auf tiefen Druck mässig empfindlich. Die Milz war enorm ver- 
gróssert. Ascites war nicht nachweisbar. In der letzten Zeit hatten 
sich wiederholt leichte Schüttelfröste mit nachfolgender Temperatur- 
steigerung eingestellt; die Abmagerung nahm zu, die Kräfte schwanden 
in beängstigender Weise. Schon um diese Zeit beschäftigte mich 
der Gedanke an einen operativen Eingriff. Derselbe wurde in mir 
durch ein Zeichen angeregt, welches das Krankheitsbild in allen 
Phasen beherrschte Es war dies die intrahepatische Gallen- 
stauung. Jedesmal nämlich, wenn die Stühle gefärbt waren, wenn 
die Stauung also nachliess, hörte der quälende Hustenreiz auf, es 
sank die Temperatur, die Pulsfrequenz nahm ab, die Schwellung der 
Leber und der Milz ging zurück, das Allgemeinbefinden besserte 
sich wesentlich. Mit der Zunahme der Gallenstauung, die sich so- 


6 Dr: M. Hirschberg, 


fort zu erkennen gab durch die acholischen Stühle, trafen regel- 
mässig Verschlechterungen des Allgemeinbefindens, höheres Fieber, 
deutliche Vergrösserung der Leber und Milz zeitlich zusammen: 
kurz das Wohl und das Wehe des Kranken hing von diesem Wechsel- 
spiel ab. Je häufiger sich dasselbe aber wiederholte, um so mehr 
gewann ich die Überzeugung, dass diese Gallenretention der 
schädlichste Faktor in der Reihe der krankhaften Vorgänge war und 
dass uns daher zunächst die Aufgabe zufiel, die Stauung zu be- 
seitigen, wenn wir den Kranken am Leben erhalten wollten. Die 
Operation war bereits geplant, als im März 1900 unverhofft eine 
vorübergehende Besserung eintrat. Der Kranke wurde fast fieber- 
frei, sein Appetit hob sich, die Stühle wurden gefärbt, die Grenzen 
der Leber- und der Milzdämpfung gingen etwas zurück, und der 
Kranke konnte täglich mehrere Stunden ausser Bett verbringen. 
Aber die Freude war von kurzer Dauer. Gegen Mitte April nahm 
die Krankheit wieder eine höchst beunruhigende Wendung. Tem- 
peratur und Pulszahl stiegen und blieben continuierlich hoch; der 
Patient wurde wiederholt von Schüttelfrösten gepackt und litt an 
profusen Nachtschweissen; er hatte schwere Cerebralerscheinungen, 
er delirierte laut oder lag stundenlang somnolent da. Ende April bot 
er das Bild eines Mannes, der der raschen Auflösung nahe ist 
Gleichzeitig mit dieser Verschlimmerung hatte der bis dahin nur 
mässig vergrösserte, linke Leberlappen eine bedeutende Zunahme 
erfahren und war an einer umschriebenen Stelle sehr druckempfind- 
lich geworden. Dies liess sich dahin deuten, dass sich in der Tiefe 
ein Gallenabscess gebildet hatte. Wollte man den Kranken retten, 
so war jetzt rasches Eingreifen geboten. Nachdem Herr Geh.-Rat 
Riegel (Giessen) und Herr Professor von Noorden (Frankfurt) von 
denen der letztere den Kranken mit mir gemeinschaftlich behandelt 
hatte, in einer eingehenden Beratung ihr Einverständnis mit der 
von mir vorgeschlagenen Operation erklärt hatten, führte ich dieselbe 
am 2. Mai 1900 in folgender Weise aus: 

Ich legte den linken Leberlappen durch einen im linken Rectus- 
muskel vom Rippensaume bis über den Nabel geführten Bauch- 
schnitt bloss. Nach Beiseiteschiebung einer adhärierenden Netzschicht 
liess sich die Oberfläche des linken Lappens übersehen; sie erschien 
dunkler gefärbt, nicht granuliert, dagegen übersät mit zahllosen hanf- 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 7 

einer Leber-Gallengangsfistel. 
korn- bis erbsengrossen, gelblich grünen Flecken, die aller Wahr- 
scheinlichkeit nach erweiterten, bis zur Oberfläche der Leber reichen- 
den und mit Galle gefüllten Gallengängen entsprachen; ein gleiches 
Aussehen hatte die Oberfläche des Lobus quadratus und des rechten 
Lappens. Die Consistenz der Leber erschien nicht merklich verändert. 

Die tief hinten gelegene, schwer zu erreichende Gallenblase war 
nicht gespannt und nur mässig gefüllt; Concremente fühlte ich 
weder in ihr, noch in den grossen Gallengängen, soweit ich diese 
unter der enorm grossen Leber abtasten konnte; ebensowenig fand 
ich einen Tumor, der etwa den Gallenausführungsgang comprimierte. 

Angesichts dieses Befundes und mit Rücksicht auf den äusserst 
bedenklichen Schwächezustand des Kranken, sah ich von jedem zeit- 
raubenden oder schwierigen oder gar eine Eventration heischenden 
Eingriff ab und schritt sogleich zur Anlegung einer Leber-Gallen- 
gangsfistel: 

An der Stelle, die dem erwähnten Schmerzpunkte entsprach, 
stiess ich einen Troicart 6—-7 cm tief in den linken Leberlappen 
ein. Als einige Zeit nach Entfernung des Stilets aus der Canüle 
nichts ausfloss, zog ich sie heraus in der Absicht, einen dickeren 
Troicart in der Nähe einzustossen. Da floss aber aus der Stichstelle 
sofort so reichlich klare, dünne, schleimige, nicht riechende Galle von 
grüngelber Farbe aus, dass ich von der Anwendung eines dickeren 
Troicarts abstand und mich darauf beschränkte, den Punktionskanal 
mit einer langen, dünnen Kornzange bis auf Fingerumfang stumpf 
zu erweitern, nachdem ich die Bauchhöhle durch einen Wall von 
Dermatolgazebäuschen vor dem Einfliessen von Galle geschützt hatte. 
Jetzt quoll mit Blut gemischte Galle in dickem Strahle hervor. Als 
der Erguss nach etwa 10 Minuten sich vermindert hatte, nahm ich 
eine Untersuchung der Leberöffnung mit dem Finger vor. Ich konnte 
wohl leicht eindringen; das ziemlich brüchige Lebergewebe wich 
dem vordringenden Finger aus, aber den vermuteten Hohlraum, 
einen sogenannten Gallenabscess vermochte ich durch den tastenden 
Finger nicht festzustellen. Ich tamponierte hierauf den nur wenig 
blutenden Kanal mit mehreren nebeneinander eingelegten, schmalen, 
langen Dermatolgazestreifen, deren Enden ich zur Bauchdeckenwunde 
herausleitete. 

Die Operation schloss mit der Nahtvereinigung der Bauchdecken- 


8 Dr. M. Hirschberg, 


wunde, an deren oberem Ende eine kleine Öffnung für den Durch- 
tritt der Gazestreifen verblieb. 

Der Kranke ertrug den Eingriff über Erwarten gut. 

Der Verlauf nach der Operation gestaltete sich in folgender Weise: 
Der Puls wurde schon am zweiten Tage kräftiger und nahm an 
Frequenz ab. Die Temperatur schwankte in den ersten 2 Tagen 
zwischen 35,2% und 36°, stieg am dritten Tage bis 36,8% an, um 
nach Lockerung der Lebertampons sofort wieder unter 36° zu sinken; 
sie sprang dann wieder am 4. Tage von 36° auf 38,4%, sank nach 
weiterer Lockerung der Tampons, wobei sich etwas Galle entleerte, 
auf 37,4° herab, um dann am 5. Tage auf 38,8% zu steigen, der 
höchsten Temperatur überhaupt, die der Operierte noch hatte. Am 
fünften Tage, da ich annehmen durfte, dass das wandständige Peri- 
toneum der Bauchdeckenfistel mit der Leberoberfläche verwachsen 
sei, entfernte ich gänzlich die gelockerten Gazestreifen; es floss sofort 
hinterher stromweise Galle aus der Leberfistel und mit einem Schlage 
sank die Temperatur von 38,8° auf 37,2°, den nächsten Morgen sogar 
auf 35,9% um in den folgenden 8 Tagen 36° nicht mehr zu über- 
schreiten; der Puls blieb noch beschleunigt, aber nur zweimal stieg 
er auf 102 Schläge; im Übrigen schwankte die Pulszahl zwischen 
84 und 90. 

Die in den ersten Tagen noch häufigen Delirien hörten ebenso 
plötzlich am fünften Tage mit dem freien Ausflusse der Galle auf. Die 
namentlich in den letzten Wochen vor der Operation ausserordentlich 
häufige Tachycardie stellte sich nur noch einmal nach der Operation 
am 8. Tage ein, war viel schwächer und dauerte nur einige Stunden. 
Schon nach einigen Tagen reinigte sich die Zunge, die seit 6 
Monaten andauernd dick belegt war, ebenso hörte das lästige Auf- 
stossen auf und verlor sich das Gefühl von Druck und Völle im 
Epigastrium, der Appetit kehrte zurück, und der Kranke ass schon 
nach 8 Tagen Quantitäten wie ein Gesunder. Stuhl erfolgte täglich 
vom vierten Tage ab auf Neuenahrer Wasser. 

Der quälende Leberhusten, der mit kurzen Unterbrechungen 
Monate lang bestanden hatte, hörte schon in der ersten Woche auf, 
um nie wiederzukehren. Aus der Leberfistel floss sehr reichlich 
Galle aus, so dass die dicken, täglich 4—5 mal gewechselten Holz- 
wollverbände ständig durchnässt waren. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 9 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

Ein am zehnten Tage nach der Operation aus der Fistel auf- 
gefangenes Quantum Galle wurde dem Kgl. Institut fiir experimentelle 
Therapie zur Untersuchung übergeben. Es wurde ausschliesslich 
eine Sorte von Bacillen gefunden, welche in die Klasse des Bacillus 
lactis aörogenes gehört, eine Klasse, die dem Bacterium coli commune 
sehr nahe steht, aber ebenso häufig im normalen Darme vorkommt. 
Bezüglich der Pathogenität fielen die Untersuchungen negativ aus. 

Am 16. Tage nach der Operation erfolgte, nachdem 24 Stunden 
lang aus der mit einem Schorfe bedeckten Fistel keine Galle abge- 
flossen war, der erste etwas gelb gefärbte Stuhl; von da ab wechselte 
die Farbe des Stuhles, je nachdem Galle aus der schorfbedeckten 
Fistel floss oder in der Leber zurückgehalten wurde. In der dritten 
Woche liess der Gallenfluss erheblich nach und am 30. Tage war 
die Fistel definitiv geschlossen. Die Stühle nahmen jetzt eine 
dunklere Färbung an. 14 Tage nach der Operation verliess der 
Kranke das erste Mal das Bett; in der dritten Woche machte er 
schon kleine Spaziergänge. In 3 Wochen, seitdem er ausser Bett 
war, nahm er 14 Pfund zu. Der Monat Juni und Juli gehörten der 
weiteren Kräftigung und im August brauchte Herr N. eine Karls- 
bader Kur. In Karlsbad bekam er zum erstenmale einen intensiven 
Icterus, der ihm jedoch keinerlei Beschwerden machte und nur 8 
Tage anhielt. Als ich Ende September von einer Reise zurückkehrte, 
hatte Herr N. seine Thätigkeit bereits längere Zeit aufgenommen. 

Ich hatte damals folgenden Befund aufgenommen: Der Leberrand 
überragte den rechten Rippenrand um 2—3 cm und verlief nach links 
hinüber in einer fast horizontalen Linie; die Leberoberfläche fühlte 
sich glatt, nicht hart an und war nicht druckempfindlich. — All- 
mählich nahm die vordere Leberdämpfungsfigur eine von der Norm 
abweichende rhomboide Form an, der vordere Leberrand läuft jetzt 
von rechts oben nach links unten, die Leberoberfläche fühlt sich 
leicht wellig an. Die eigentümliche Formveränderung erkläre ich mir 
damit, dass nach der Entleerung der gestauten Galle die verkleinerte 
Leber nach links hinübergezogen wurde, wo der linke Leberlappen 
an den Bauchdecken fixiert ist. Die Milz war bei dem immerhin 
noch mageren Kranken fühlbar und erschien noch etwas vergrössert. 
Subjektiv ging es dem Kranken überaus gut, so lange er sich auf 
eine reichlich bemessene, aber leicht verdauliche Kost beschränkte. 


10 Dr. M. Hirschberg, 


Grobe Diátfehler haben sich einige Male durch das Erscheinen eines 
ein- oder mehrtägigen Icterus gerächt, der ohne weiteres Hinzuthun 
schwand. An Gewicht hatte Herr N. 25 Pfund zugenommen; er 
war seit September schaffenskräftig und schaffensfreudig. 

Mit diesen Worten schloss ich meinen im Mai 1901, also 
ein Jahr nach der Operation Ihnen gegebenen Krankenbericht. 
Herr N. erfreute sich noch 6—7 Monate weiter einer nur wenig 
gestörten Gesundheit und lag ohne Unterbrechung seinem Berufe 
ob. Dann aber trat in 3 bis 4 wöchentlichen Zwischenräumen wieder 
Gallenstauung ein, die sich zunächst durch acholischen Stuhl be- 
merkbar machte, alsbald gab es Unbehagen, epigastrische Schmerzen 
leichte Fieberbewegung; die Leber schwoll stärker an. Die Milz 
veränderte ihr Volumen nicht mehr merklich, blieb aber immer ver- 
grösser. Wenn auch ein dunkleres Hautcolorit hie und da wahr- 
genommen wurde, so kam es doch ebenso wenig zu einem stärkeren 
Haut- oder Harn-Icterus, wie in der Krankheitsphase vor der 
Operation. Die anfänglich mässigen und nur kurze Zeit währenden 
Schmerzen wurden mit der Zeit stärker und hielten länger an, 
wenn sie auch niemals den Charakter eigentlicher Coliken annahmen, 
aber der Kranke, der seine Thätigkeit nicht unterbrechen wollte, 
nahm beim Beginn solcher Attaquen seine Zuflucht zu Morphium- 
einspritzungen. 

Seit Anfang des Jahres 1902 wiederholten sich die Anfälle 
häufiger, hielten länger an, waren von stärkerem Fieber begleitet, 
schmerzhafter, und nachdem sie vorüber waren, trat nicht mehr wie 
früher eine Abschwellung der Leber ein, im Gegentheil nahm die 
Leber wieder dauernd an Volumen zu und wurde druckempfind- 
licher; die Leberoberfläche, die sich schon seit längerer Zeit uneben 
angefühlt hatte, liess jetzt deutlich einzelne knollige Erhabenheiten 
durch die dünnen Bauchdecken hindurch erkennen. Dabei magerte 
der Kranke trotz reichlicher Nahrungsaufnahme zusehends ab, seine 
Gesichtsfarbe wurde fahl, die Haut wurde welk. Die Stühle waren 
Wochen lang braun gefärbt, dann wieder einmal 1—2—3 Tage 
acholisch, immer sehr reichlich, bald breiig, bald dick geformt; ab 
und zu wurden kleine Blutbeimengungen beobachtet, für die sich 
bei wiederholter deshalb vorgenommener Mastdarmuntersuchung eine 
Ursache nicht auffinden liess. Jetzt konnte man sich über den 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 11 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

wahren Sachverhalt nicht mehr täuschen. Blieb auch manches im 
Krankheitsverlaufe dunkel, — wie das Fehlen des Icterus — so 
konnten wir uns doch nicht verhehlen, dass eine schwere Erkrankung 
der Leber vorlag, ja es wurde von Tag zu Tag wahrscheinlicher, 
dass es sich um Leberkrebs handelte. Im April d. J., als die 
Morphiuminjektionen nicht mehr die volle Wirkung entfalteten, 
begann der Kranke, der bis dahin hoffnungsfreudig in die Zukunft 
geblickt und bereits für den Monat Mai Zimmer in Karlsbad bestellt 
hatte, mutlos zu werden, und da ich einmal die Bemerkung hatte 
fallen lassen, dass man ja wieder eine Lebergallengangsfistel anlegen 
könnte, wenn die Beschwerden anhielten, hielt er mich beim Wort, 
er drängte zur Vornahme der Operation, und ich entschloss mich, 
nicht zum wenigsten zur Beruhigung des Kranken, seinem Drängen 
nachzugeben. 

Am 21. April d. J. — also fast 2 Jahre nach der ersten 
Operation — schritt ich das zweite Mal zur Anlegung einer Leber- 
gallengangsfistel. Ich eröffnete die Bauchhöhle in der alten Schnitt- 
narbe. Als ich nach Lösung einiger Verwachsungen die Leber 
blosgelegt hatte, trat ein erschreckendes Bild zu Tage: „Eine Riesen- 
leber, übersät mit zahllosen haselnuss- bis faustgrossen, die Ober- 
fläche überragenden, weisslich grauen Knoten, die kleineren wie 
Kerne wälscher Nüsse aussehend, viele confluierend, die meisten aber 
scharf abgegrenzt, das Lebergewebe fast erdrückend; nur hie und da 
waren kleine Flächen normal erscheinenden Lebergewebes sichtbar. 
Dieser Anblick wirkte auf die assistierenden und auf die der Operation 
beiwohnenden Collegen so entmutigend, dass sie dem Wunsche 
Ausdruck gaben, ich möchte von einem weiteren Vorgehen absehen 
und die Bauchhöhle wieder schliessen. Ich konnte es jedoch nicht 
über mich gewinnen, dies zu thun, ohne den Versuch unternommen 
zu haben, der gestauten Galle einen Weg nach aussen zu bahnen; 
ich erhoffte selbst bei dieser so weit vorgeschrittenen Entartung der 
Leber von der Entlastung noch eine wohlthätige Wirkung und wollte 
deshalb auf diese Procedur, welche schon einmal so überraschend 
günstig gewirkt hatte, nicht verzichten, zumal ich den Eingriff für 
gefahrlos hielt. 

An einer von Krebsknoten freien Stelle des linken Leberlappens, 
in der Gegend, in der während der letzten Wochen auch der Finger- 


12 Dr. M. Hirschberg, 


druck besonders schmerzhaft empfunden wurde, stiess ich einen 
im Durchmesser 1 cm dicken Troicart mit konischer Spitze etwa 10 
cm tief ein und stopfte nach Entfernung der Canüle den gebohrten Gang 
sofort mit Dermatolgazestreifen aus, deren freie Enden ich. zur 
Bauchwunde herausführte und welche nicht nur zur Stillung der 
geringen Blutung dienten, sondern als Drains liegen blieben. Der 
Bauchdeckenschnitt wurde bis auf eine kleine Stelle zum Durchtritt 
der Gazestreifen durch Nähte vereinigt. — Der Verlauf nach der 
Operation entsprach meinen Erwartungen, die allerdings nicht mehr 
sehr hoch gespannt waren. Ich erhoffte lediglich eine Erleichterung, 
einen behaglicheren Zustand für den in letzter Zeit schwer leidenden 
Kranken und diese Hoffnung erfüllte sich auch vollkommen. Schon 
vom 2. Tage ab, da etwas Galle durch den Gazedrain nach aussen 
sickerte, trat vollkommene Entfieberung ein, der lästige Druck im 
Epigastrium hörte auf, der Kranke befand sich in erstaunlicher 
Euphorie; allerdings bekam er Morphiuminjektionen, an die er seit 
mehreren Monaten gewöhnt war; aber während dieselben in den 
letzten Wochen vor der Operation sehr häufig versagt hatten, übten 
sie jetzt wieder in vollem Masse ihre schmerzstillende, wohlthuende 
Wirkung aus. Schon am 9. Tage nach der Operation konnte der Patient 
das Bett für einige Stunden verlassen und von der 3. Woche ab 
verbrachte er den grössten Theil des Tages ausser Bett. Den Fistel- 
kanal hielt ich offen durch Gazestreifen, die ich alle paar Tage frisch 
einführte; der Gallenausfluss aus der Fistel war nur gering, be- 
sonders im Vergleich mit dem sehr reichlichen Ausfluss nach der 
ersten Operation, dies aus dem einfachen Grunde, weil nur noch 
wenig secernierende Lebersubstanz vorhanden war, weil dieselbe von 
den massigen Krebswucherungen fast erdrückt war. Die Stühle 
waren dauernd gefärbt, die Nahrungsaufnahme viel reichlicher als 
vor der Operation. Trotz des leidlichen subjectiven Befindens schwoll 
die Leber immer mächtiger an und machte die Cachexie sichtbare 
Fortschritte; der beginnende Ascites sowie Beinoedeme, das fahle 
Colorit und die welke Beschaffenheit der Haut liessen erkennen, 
dass die Tage des Kranken gezählt waren. Am 28. Tage 
nach der Operation bekam er, als er rasch aus dem Bette stieg, 
um auf den Nachtstuhl zu gehen, einen schweren Ohnmachts- 
anfall, von dem er sich nur vorübergehend erholte, einige Stunden 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 13 
einer Leber-Gallengangsfistel. 
später verschied er an Herzlihmung. 6 Stunden nach dem Tode 
wurde von Herrn Dr. Herxheimer, Assistenten am hiesigen patho- 
logischen Institut des Herrn Prof. Weigert die Obduction vor- 
genommen und folgender Befund protokolliert: 

„Die Leber fällt sofort wegen der ausserordentlichen Grösse der 
beiden Lappen auf. — Breite der Leber 32 cm, Höhe des rechten 
Lappens 27 cm, Höhe des linken Lappens 22 cm. — Sie ist übersät 
mit mehr oder weniger runden, über die Oberfläche hervorragenden 
Knoten von grauweisslicher, zum Teil auch rötlicher Farbe, welche 
häufig in der Mitte eine Delle erkennen lassen. Die Knoten wechseln 
sehr in ihrer Grösse, von solchen von 1—2 cm Durchmesser bis zu 
einem wegen seiner besonderen (Grösse auffallenden, welcher in der 
Gegend der Gallenblase gelegen ist und etwa 15 cm Durchmesser 
hat; er zeigt eine deutliche Delle in seiner Mitte und erscheint hier 
auf dem Durchschnitt nekrotisch zerfallen. Der Rand der Knoten 
ist häufig kein glatter, sondern ein aus bogenförmigen Linien zu- 
sammengesetzter. Auch auf dem Durchschnitt ist die Leber von 
derartigen Knoten durchsetzt, so dass auch sehr wenig braune, grün- 
liche Lebersubstanz zwischen den Tumoren erhalten erscheint. Die 
Lymphdrüsen zwischen Magen und Pancreas sind sehr vergrössert, 
von grauer Farbe und gelben Einsprengungen nach der Mitte zu; 
in der Mitte selbst sind sie erweicht. Die Lymphdrüsen lassen sich 
vollständig vom Pancreas abtrennen, das auf dem Durchschnitt normale 
Structur zeigt. Nach Aufschneiden des Duodenum lässt sich in 
diesem die ziemlich weite Papilla Vateri unschwer erkennen. Von 
hier aus gelangt eine Sonde mit Leichtigkeit in den ductus chole- 
dochus. Nach dem Aufschneiden erscheint derselbe stark erweitert. 
Etwa an der Stelle der Vereinigung des ductus cysticus und hepaticus, 
aber noch im ductus choledochus liegt ein ziemlich glatter, oliven- 
förmiger dunkelbrauner Stein von etwa 3 cm Länge und 1 cm 
Breite. Derselbe ist nicht mit der Wand des choledochus verwachsen, 
sondern fällt sofort heraus. Dieser Stein war vor dem Aufschneiden 
des ductus durch Fühlen oder sonstwie nicht erkannt worden. Beim 
weiteren Sondieren gelangt man von hier in die beiden überaus 
weiten Hauptstämme des ductus hepaticus. Der Choledochus misst 
an der Stelle, wo der Stein liegt, 4 cm. Der Hauptstamm des ductus 
hepaticus misst 7 cm, der linke Hauptast 6 cm im Umfang, der 


14 Dr. M. Hirschberg, 


rechte 5 cm. Auch die Nebenäste der ductus hepatici sind ausser- 
ordentlich weit. Sondiert man nun in der Richtung nach der andern 
Seite, d. h. nach der Gallenblase zu, so gelangt man in den ductus 
cysticus, welcher sehr eng (kaum 1 cm Umfang) und nur an den 
korkzieherartigen Windungen zu erkennen ist. Durch denselben 
gelangt man aber nicht in eine Gallenblase, eine eigentliche 
Gallenblase ist überhaupt nicht auffindbar, vielmehr endigt der ductus 
cysticus blind. Die ganze Umgebung ist in Krebsmassen, insbesondere 
in jenen ersterwähnten Riesenknoten aufgegangen, in dem man aber 
noch hier und da Spuren grünlichen Lebergewebes erkennt. — 

In der Mittellinie des Körpers, in der Mitte zwischen Nabel 
und Symphyse besteht eine Hautfistel, durch die man direkt in die 
Leber gelangt. Sondiert man den hier bestehenden, nicht von 
einer glatten Wand austapezierten, sondern von Leber und Tumor- 
gewebe umgebenen Kanal, so gelangt man bis in den linken 
Hauptast des ductus hepaticus. Die Länge des Kanals von der 
Hautfistel bis zur Öffnung in dieser beträgt etwa 10cm. Die Milz 
ist ziemlich derb, gross, entbält jedoch keine Tumorknoten — Länge 
der Milz 161/, cm, Breite 11 cm, Höhe 5 cm. Im Rectum etwas 
über der Mitte sieht man von aussen eine leichte Einschnürung. 
Nach dem Aufschneiden zeigt die Schleimhaut hier eine ausgedehnte, 
polypenförmig flach vorspringende, über die Schleimhaut leicht über- 
hängende Tumormasse, welche sich um den grössten Umfang des 
Rectum zieht, an der freien Stelle ist normale Schleimhaut. Eine 
merkliche Stenose besteht an der Stelle nicht; die Tumormasse ist 
von graurötlicher Farbe, nicht zerfallen. — 

Herz von normaler Grösse, Anfangsteil der Aorta zeigt gelbe 
Flecke und Geschwüre der Intima, Klappen zart. 

Anatomische Diagnose: Rectum-Carcinom. Sehr ausge- 
dehnte metastatische Knoten in der Leber, Stein im Choledochus ; 
ausserordentliche Erweiterung des ductus hepaticus und der intrahepa- 
tischen Gallengänge. Verödung der Gallenblase. Hautleberfistel bis 
in den linken Hauptast des ductus hepaticus reichend. Milztumor.“ 


Die Obduction hat den Fall auch nicht ganz aufgeklärt. Wir 
haben wohl erfahren, dass der Kranke an Leberkrebs zu Grunde 
gegangen ist, damit ist aber noch keineswegs erwiesen, dass die 
Krankheit auch mit Leberkrebs begonnen hat. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 15 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

Ehe ich es versuche den Fall auf Grund der nunmehr in ihrem 
ganzen Verlaufe vorliegenden Krankengeschichte und des Obductions- 
befundes zu deuten, schulde ich Ihnen eine Erklärung darüber, wie 
ich dazu kam, die Diagnose „hypertrophische Lebercirrhose“ zu 
stellen. -— Diese Lebererkrankung kommt im Allgemeinen, besonders 
aber hier zu Lande bekanntlich sehr selten vor, zumal im Vergleich 
mit dem häufigen Vorkommen der atrophischen Lebercirrhose. Aber 
je seltener sie ist, um so mehr Reiz gewährt sie offenbar der For- 
schung, denn nicht nur pathologische Anatomen, sondern auch Bac- 
teriologen und Stoffwechselgelehrte sind fleissig an der Arbeit, das 
Wesen der Krankheit zu ermitteln. Leider sind wir von dem vor- 
gesteckten Ziel noch weit entfernt, das zeigt ein Blick in die be- 
treffende Litteratur der letzten Jahre. Wie wir einer einheitlichen 
Darstellung der anatomischen Veränderungen entraten, zu denen diese 
Erkrankung führt, so begegnen wir auch einer verschiedenen Auf- 
fassung von deren Pathogenese. Während bisher allgemein ange- 
nommen wurde, dass die Leber primär erkrankt und die Milz secundär, 
behauptet Gilbert!) im Anschluss an eine Beobachtung, dass die 
hypertrophische Lebercirrhose im anatomischen Sinne gar keine 
Krankheit sui generis sei. Der Milztumor, der diese Krankheit regel- 
mässig begleitet, beruht nach ihm gar nicht auf einer von der Leber 
ausgehenden Blutstauung, denn er hat indurative Veränderungen in 
der Milz festgestellt, die er für selbstständige Entartungen hält, welche 
erst secundär die Leberveränderung bewirken. — Eine wirksame 
Stütze findet diese Annahme Gilbert’s in Experimenten, die 
Chauffard und Castaigne?) anstellten. Sie führten feste Partikel 
in das Milzparenchym von Hunden ein, und diese gelangten in das 
Leberparenchym und setzten sich dort fest. Hiermit scheint der 
Beweis erbracht, dass Lebererkrankungen von der erkrankten Milz 
aus durch Vermittelung der Milzvene und Pfortader entstehen können. 
— Ein anderer Forscher, Ascoli, kommt bei der Untersuchung der 
verschiedenen Formen der Lebercirrhose zu dem Ergebnis, dass man 
mit anatomischen Untersuchungen allein nicht zu irgend welcher 
Klarheit gelangt, da die Befunde zu wenig eigenartig sind, da sie 


1) Gazette hebdomaire 1900. Band 47. No. 3. 
*) A. Chauffard et J. Castaigne. Lésion du foie d'origine splénique. 
Archives de Méd. expérim. XIII 3. p. 320. 


16 Dr. M. Hirschberg, 


zu sehr in einander übergehen. Mehr massgebend sind für ihn die 
Stoffwechselvorgänge, und eine Prüfung der Hanot’schen Cirrhose 
ergab, dass bei derselben eine Neigung zur Eiweissverschwendung zu 
Tage tritt; dieselbe findetihren Ausdruck in der Leichtigkeit, mit welcher 
bei mässiger und selbst bei reichlicher Calorieenzufuhr dauernde 
Stickstoffverluste auftreten.) Füge ich noch zum Schluss hinzu, 
dass viele, besonders französische Forscher annehmen, der Hanot- 
schen Cirrhose liege ein toxisch infectiöser Vorgang zu Grunde, 
dann habe ich Ihnen im Wesentlichen die Richtungen angedeutet, 
in denen sich die Arbeiten über die hypertrophische Lebercirrhose 
bewegen. 

Bei so weit auseinandergehenden Anschauungen müssen 
wir vorläufig die Diagnose ,,hypertrophische Cirrhose‘ ganz fallen 
lassen, oder wir können für dieselbe einzig und allein das klinische 
Bild verwerten, denn dieses hat sich unverändert erhalten, wie es 
uns aus den vortrefflichen Schilderungen von Todd aus dem Jahre 
18572) und von Hanot aus dem Jahre 18793) überkommen ist. 
Diesen Schilderungen entsprach aber in fast überzeugender Weise 
der klinische Verlauf unseres Krankheitsfalles, der sich kurz in 
folgende Sätze zusammenfassen lässt: 

1. entwickelte sich das Leiden sehr langsam, die ersten An- 

zeichen liessen sich Jahre lang zurückverfolgen, 
. fand eine stetig fortschreitende Vergrösserung der Leber und 
Hand in Hand damit eine Vergrösserung der Milz statt, 

3. beobachteten wir atypisches Fieber mit Schüttelfrösten und 
beschleunigte Herzthätigkeit bis zu tachycardischen Anfällen 
bei vollkommen gesundem Herzen, 

4. sehr starke Gallenretention, mit acholischen Stühlen, aber nur 
seltenem und gering ausgesprochenem Icterus, 

5. fehlte Ascites und fehlten Venenerweiterungen am Abdomen, 
selbst im weit vorgeschrittenen Stadium der Erkrankung. 

Diese Symptomengruppe deckt sich mit dem bekannten Bild der 
Hanot’schen Cirrhose, bis auf das Fehlen, resp. die schwache An- 
deutung des Icterus; aber abgesehen davon, dass wiederholt und von 


bo 


1) Deutsches Archiv fiir klin. Med. Band 71. p. 387. 
*) Medical Times and Gazette. 1857. p. 571. 
2) Archiv génér. de méd. 1879. Vol. I p. 87. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 17 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

namhaften Beobachtern Fälle ohne Icterus beschrieben sind, betont 
Hanot selbst, dass der Icterus, wenn auch ein häufiges, so doch‘ 
keineswegs ein constantes Zeichen der hypertrophischen Cirrhose 
ist.!) — Bestärkt wurde ich in der Annahme, dass diese Erkrankung 
der Leber vorlag, durch die Autopsie in vivo; denn bei der ersten 
Laparotomie war ausser einer enormen Vergrösserung der Leber und 
gelblichgrüner Sprenkelung ihrer Oberfläche nichts Abnormes an ihr 
wahrzunehmen. — 

Wir hatten auch nicht versäumt, vor und nach der Operation 
andere Erkrankungen der Leber in Erwägung zu ziehen, die diag- 
nostisch in Betracht kommen konnten. In erster Linie mussten wir 
mit der Möglichkeit einer Stauungscirrhose rechnen in Folge von 
Verschluss des ductus choledochus oder hepaticus. Abgesehen davon 
aber, dass niemals Steinsymptome beobachtet waren, mussten wir 
diese Annahme aus folgenden Gründen fallen lassen: Beim Ver- 
schluss des ductus choledochus steht der schwere, stetig zunehmende 
Icterus im Vordergrund der Erscheinungen, ferner tritt, wenn auch 
im Anfang die Leber sich vergrössert, nach einigen Monaten erst 
Stillstand in der Zunahme der Leber und dann sogar Verkleinerung 
ein, es fehlt das Fieber, die Pulszahl ist vermindert, hämorrhagische 
Diathese, Erbrechen und Durchfall, weiterhin Ascites und Anasarca 
kennzeichnen seine späteren Stadien, also ein Bild, das mit dem 
klinischen Bilde unseres Falles stark contrastiert. Was aber gar 
den beim Lebenden fast niemals diagnostizierten Verschluss des 
ductus hepaticus betrifft, so fand man bei den durch die Obduction 
aufgedeckten Fällen, dass, wo ein Ast des hepaticus längere Zeit ver- 
schlossen war, der betreffende Leberlappen ganz oder fast ganz ge- 
schwunden war. In unserem Falle fand das Gegenteil statt, beide 
Lappen vergrösserten sich stetig. — Man musste ferner an die 
Möglichkeit einer Stauungsleber denken, bedingt durch Herzer- 
weiterung, und dieses diagnostische Moment wurde auch von Rosen- 
stein in die Discussion geworfen.?) Abgesehen davon aber, dass 
trotz der häufigen und starken Tachycardie bei Lebzeiten niemals 


1) s. Etude sur une forme de Cirrhose hypertrophique du foie par Victor 
Hanot, Paris 1876. 
?) s. Verhandlungen des 19. Congresses für Innere Medicin. S. 380. Verlag 
von J. F. Bergmann, Wiesbaden. 1901. 
2 


18 Dr. M. Hirschberg, 


eine Veránderung am Herzen nachzuweisen war, wurde die normale 
Beschaffenheit des Herzens durch die Autopsie bestätigt. — Kamen 
somit diese differentiell diagnostisch am nächsten liegenden Affektionen 
nicht in Betracht, dann kann ich es mir wohl versagen, noch weiter 
abseits liegende Affektionen zu besprechen und will nunmehr eine 
Deutung des Falles versuchen, bei welcher der Obductionsbefund 
sich mit den klinischen Erscheinungen in Einklang bringen lässt: 
Wir dürfen nach Lage der Sache annehmen, dass die Ver- 
grösserung der Leber im Anfang der Erkrankung das Ergebnis einer 
intrahepatischen Gallenstauung war, die dadurch entstand, dass der 
frei im erweiterten ductus choledochus gelegene Stein wiederholt 
für längere Zeit den Ausführungsgang verlegte. Da die Gallenblase, 
das natürliche Reservoir für die Galle, offenbar wegen Verschlusses 
oder Enge des Cysticus keine. Galle aufnahm, musste diese sich 
im hepaticus und seinen Aesten stauen. Dass nur vorübergehend 
schwacher Icterus beobachtet wurde, spricht nicht gegen diese An- 
nahme; denn es können Steine von Wallnussgrósse den Choledochus 
verlegen, ohne Icterus zu verursachen.!) Es ist allerdings die 
Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass schon damals 
Krebswucherungen mit zur Vergrösserung der Leber beigetragen 
haben; dann müsste es sich aber um primären Leberkrebs gehandelt 
haben, denn es ist nach dem klinischen Verlaufe völlig ausgeschlossen 
dass der Mastdarmkrebs und der eventuell von ihm ausgehende 
secundáre Leberkrebs so alten Datums sein konnten. Indessen 
spricht schon der klinische Verlauf gegen die Annahme eines primären 
Leberkrebses, denn die Durchschnittsdauer des letzteren beträgt etwa 
6 Monate, während hier über 2'/, Jahre in Betracht kämen. Aber 
auch die Form und der anatomische Bau weisen uns darauf hin, 
dass von dem Mastdarmkrebs aus, der nicht sehr alten Datums zu 
sein schien, Krebsvirus auf dem Wege der Pfortader in die Leber 
gelangt ist. In der schon, sei es an Stauungs-, sei es an hypertrophischer 
Cirrhose erkrankten Leber hat die Krebsinfection einen günstigen 
Boden zur Entfaltung ihrer Wirkung gefunden. Wir wissen aus 
einer vortrefflichen Studie von Eggel?), dass der Cirrhose eine 
1) s. Kehr: ‚Die Verletzungen und chirurgischen Krankheiten der Leber“ 
im Handbuch der pract. Chirurgie von Bergmann, Bruns und Mikulicz. 1900. 


”) s. Eggel: „Ueber das primäre Carcinom der Leber‘ in Ziegler's Beiträgen 
zur pathologischen Anatomie. Band 30. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 19 

einer Leber-Gallengangsfistel. 
ätiologische Bedeutung für das Auftreten von Krebs zukommt, eine 
klinisch erwiesene Thatsache, die ibre Erklärung findet in der 
Theorie Ribbert’s über den Einfluss entzündlicher Vorgänge auf 
die Entwickelung epithelialer Neubildungen. Für einen secundären 
Krebs spricht nicht nur die enorme Vergrösserung der Leber und 
die so zahlreichen zerstreuten und ihrer Oberfläche aufsitzenden 
Knoten — ein für primären Leberkrebs ungewöhnliches Bild —, 
dafür spricht auch der gleiche anatomische Bau des Mastdarm- und 
Leberkrebses — Cylinderzellenkrebs mit Schleimbildung —. Dass 
der Mastdarmkrebs sich so wenig bemerkbar gemacht hat, kam da- 
her, dass jegliche Stenosenerscheinung fehlte Es ist nicht selten, dass 
erst die Section solche Mastdarmkrebse zu unserer Kenntnis bringt. 
Wir hätten dann noch ein Symptom unterzubringen, welches 
weder bei reiner Gallenstauung noch bei Krebs notwendigerweise 
vorkommt, das ist das fast ständige, in seiner Intensität sehr wechselnde, 
in der eısten Phase der Krankheit mit häufigen Schüttelfrösten ver- 
bundene Fieber. Ausnahmsweise kommt solches Fieber aber auch 
bei Krebs- und Gallenstauungscirrhose vor, ebensogut lässt sich das 
Fieber vereinbaren mit der Annahme, dass die ursprüngliche Er- 
krankung eine hypertrophische Lebercirrhose, oder endlich, dass die 
gestaute Galle infectiös war, dass es sich, worauf ich noch zurück- 
komme, um eine infectiöse Cholangitis mit oder ohne Cirrhose ge- 
handelt hatte. Welche von den genannten Affectionen im Beginn 
der Erkrankung vorlag, wird eine offene l’rage bleiben, eine Frage 
indes, deren Beantwortung für die Behandlung belanglos ist. Abergerade 
der Behandlung gelten meine folgenden Ausführungen, sie sollen 
die Bedeutung ins richtige Licht setzen, welche der Anlegung der 
Lebergallengangsfistel für eine Reihe von schweren Leberer- 

krankungen zukommt. | 
Die Vorgeschichte dieser Operation ist sehr kurz. Mit Absicht 
ist die Operation vorher niemals ausgeführt worden. Es findet sich 
nur in der Literatur der Bericht über einen Fall, in welchem in- 
folge eines diagnostischen Irrtums ein Hepaticusast von der Leber- 
oberfläche aus eröffnet worden war, ein Ereignis, welches erst bei 
der Sektion dieses unglücklich verlaufenen Falles erkannt wurde. 
Der Fall war folgender: Kocher !) hatte einen mit den Bauchdecken 


1) 8. Deutsche Medicin. Wochenschrift 1890. No. 13. 
gr 


20 Dr. M. Hirschberg, 


verwachsenen Tumor am unteren Rande der Leber behufs Entleerung 
von Gallensteinen eingeschnitten. Er glaubte die Gallenblase er- 
öffnet und aus ihr einen Stein entfernt zu haben; wie die Section 
jedoch ergab, hatte er den blasenförmig erweiterten ductus hepaticus 
für die Gallenblase gebalten und an die Bauchhaut angeheftet. 
Durch diese Anheftung war der ductus choledochus derart verlegt, 
dass die Galle ihn nicht mehr passieren konnte und sich in dem 
colossal erweiterten ductus hepaticus, sowie in den gewaltig er- 
weiterten Aesten desselben ansammelte. Die bis zur Dicke eines 
Federkiels erweiterten Aeste zogen sich bis an die Peripherie der 
Leber hin. Einer derselben grenzte an die mit dem Thermocauter 
angelegte Leberschnittfläche, und nach Abstossung des Brandschorfes 
waren aus ihr grosse Gallenmengen in die Bauchhóble geflossen. 
Es war hiermit die Thatsache festgestellt, dass aus einer Oeffnung 
in einem erweiterten Hepaticusaste die von der Leber abgesonderte 
Galle freien Austritt fand. 

Auf Grund dieser von Kocher mitgeteilten Beobachtung hatte 
Langenbuch, der leider so früh verstorbene, unermüdliche Förderer 
der Leberchirurgie, in seinem klassischen Werke der Operation ein 
kurzes Kapitel unter der Ueberschrift ,Hepatocholangiostomie* 
gewidmet.!) Sind die Erörterungen, die Langenbuch anstellt, auch 
lediglich theoretischer Natur, so macht es seinem Forschergeist doch 
alle Ehre, dass er bereits eine präcise Indication für die Operation 
aufgestellt und ihr eine gewisse Zukunft prophezeit hat. — Langen- 
buch fasst die Besprechung dieser Zukunftsoperation in die folgenden 
Sätze zusammen: „Als typische Operation hat sie noch keine rechte 
Vergangenheit, noch Gegenwart, vielleicht aber eine Zukunft, wenn 
auch eine bescheidene. Ich denke mir ihren Aufbau folgendermassen: 
„Die Indikation besteht in den Erscheinungen eines hartnäckigen 
Choledochalverschlusses; die Verhältnisse für eine Choledochotomie 
liegen äusserst ungünstig, auch die Gallenblase wie Cysticus er- 
scheinen unzugänglich, und es bleibt nur, um zunächst der Indicatio 
vitalis zu genügen, die direkte Eröffnung eines Lebergallenganges.“ 

Das war Alles, was die Literatur mir an die Hand gab, als ich 
den Entschluss fasste bei einem Kranken die in der Leber gestaute 


1) Deutsche Chirurgie, Lieferung 45 e, 2. Hälfte, Professor C. Langen- 
buch: Chirurgie der Leber- und Gallenblase. II. Teil $ 428. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 21 
j einer Leber-Gallengangsfistel. 

Galle durch einen Kanal nach aussen zu fördern, der das Leberge- 
webe durchdrang. Es leitete mich bei diesem Vorgehen die ana- 
tomische Thatsache, dass neben der Hauptverzweigung des ductus 
hepaticus eine Nebenverzweigung besteht, deren reiches Anastomosen- 
netz zwischen die Gallengänge der Hauptverzweigung eingeschaltet 
ist. Dadurch ist es möglich, besonders bei erweiterten Gallengängen, 
durch Drainage des einen Leberlappens auch die Galle aus dem an- 
deren abzuleiten. Es war ferner sowohl klinisch wie experimentell 
festgestellt, dass nach Beseitigung von selbst Monate langer Gallen- 
stauung noch dauernde Heilung eintreten kann. Diese Voraus- 
setzungen fanden ihre Bestätigung in dem Erfolg der Operation. 
Es gelang, die Galle aus der ganzen Leber abzuleiten, und die erhoffte 
Wirkung trat ein; der Patient genas dadurch von schwerer Erkrankung. 

Seitdem ist der Versuch, die in der Leber gestaute Galle durch 
eine kunstgerecht angelegte Lebergallengangsfistel nach aussen zu 
leiten, soweit ich die Literatur übersehe, nur noch einmal und zwar 
ebenfalls mit Erfolg von Rotter in Berlin unternommen worden. !) 
Es handelt sich in Rotter's Fall um einen Kranken mit Vergrösserung 
der Leber und starkem Icterus. Es fanden sich keine Gallensteine, 
ductus hepaticus und choledochus waren vollkommen frei. Die Di- 
agnose lautete auf Cholangitis mit Verschluss vieler kleiner Gallen- 
gänge. Rotter durchtrennte mit dem Pacquelin-Messer das Leber- 
parenchym in einer Tiefe von etwa 6 cm, wobei er einen grösseren 
Gallengang traf, aus dem Galle unter stärkerem Drucke quoll. Nach 
längerem Bestehenlassen der Lebergallengangsfistel genas der Kranke 
vollkommen. — 

Die Leistungsfähigkeit der Operation ist jetzt durch 3 Operati- 
onen an 2 Fällen erprobt, und ihre Berechtigung ist ausser Frage 
gestellt, da es erwiesen ist, dass eine in ihrer Funktion schwer ge- 
schädigte Leber durch das längere Offenhalten einer Lebergallen- 
gangsfistel wieder funktionsfähig werden, dass die Atrophie des Leber- 
parenchyms, die durch zu langdauernde Gallenstauung fast regel- 
mässig eintritt, aufgehalten werden kann. 

Es gilt jetzt festzustellen, in welchen Fällen von Leberer- 
krankungen die Operation anwendbar, beziehungsweise angezeigt sein 


1) 8. Scheuer: Casuistisches zur Chirurgie der Gallenwege in der Berliner 
Klin. Wochenschrift 1902 Nr. 7. 


22 Dr. M. Hirschberg, 


wird. Diese Frage lässt sich im Allgemeinen dahin beantworten, 
dass die Operation angezeigt ist in allen Fällen von Gallenstauung, 
die Platz greift in Verzweigungsgebiete des ductus hepaticus, also 
leberwärts von dessen Stamm. Im einzelnen kämen in Betracht: 
Hepaticus-Verstopfungen durch Carcinom oder Sarcom, Compressionen 
des Hepaticus durch nicht operierbare Tumoren, Obliterationen der- 
selben durch bindegewebige Wandverdickungen, Verstopfungen durch 
Ascariden, sowie congenitale Obliterationen. !) 

In erster Linieaber wird die Anlegungeiner Lebergallengangs- 
fistel ihre Anzeige finden bei denjenigen Erkrankungen der Leber, die 
mit infectiöser Cholangitis compliciert oder auf dem Boden einer solchen 
entstanden sind. Deshalb und weil gerade in der letzten Zeit die Forschung 
manchen Lichtstrahl in das dunkle Gebiet der Cholangitis geworfen hat, 
gestatten Sie mir, auf diese Erkrankung etwas ausführlicher einzugehen: 
— Die Cholangitis entsteht gewöhnlich durch Mikroben, die vom 
Darm her in die Gallengänge einwandern und in den letzteren ent- 
weder eine eiterige oder eine katarrhalische Entzündung hervorrufen. 
Was das Vorkommen derselben betrifft, so findet sie sich zunächst 
bei Abflusshindernissen in den Gallenwegen, besonders bei Con- 
crementen. Ist der Abfluss längere Zeit gestört, dann kommt es zur 
Erweiterung der Gallengánge. Nach längerem Bestande der Krank- 
heit nützt auch die Beseitigung des Hindernisses nicht mehr; die 
Mikroben -— zumeist Bacterium coli — bleiben in dem stagnieren- 
den Inhalt, auch wenn der freie Gallenfluss längst wiederhergestellt 
ist. Die Cholangitis kommt ferner vor als Complication oder Nach- 
krankheit bei Typhus, Dysenterie und andern Infectionskrankheiten, 
dann auch gelegentlich ohne nachweisbare Ursache, endlich aber 
tritt sie auf als Complication der Lebercirrhose. Die Rolle, 
welche ihr bei dieser Krankheit zukommt, ist erst vor Kurzem von 
Naunyn gebührend gewürdigt worden?). Es ist anzunehmen, dass 
die Energie des Gallenstromes in der cirrhotischen Leber nachlässt, 
dass die vom Darm eingewanderten Mikroben sich deshalb reich- 
licher entwickeln und dass es so zur infectiösen Cholangitis kommt. 


) 8. Couvoirsier: Casuistisch-statistische Beiträge zur Pathologie und 
Chirurgie der Gallenwege p. 41. Leipzig. Verlag von Vogel. 

?) S. Internationale Beiträge zur Inneren Medicin. Berlin 1902. Verlag 
von A. Hirschwald. Bd. 1. S. 459. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 23 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

Wo gleicherzeit Cholelithiasis bestand, war das Vorkommen 
von Cholangitis bei Cirrhose längst bekannt; Naunyn hat aber 
jüngst eine eigene und mehrere fremde Beobachtungen mitgeteilt, 
in denen ohne Intervention von Gallensteinen Cholangitis bei Leber- 
cirrhose festgestellt wurde und zwar sowohl bei atrophischer wie 
bei hypertrophischer. Mit der Kenntnis dieser Thatsache gewinnt die 
Behandlung der Cholangitis eine ganz besondere Bedeutung, denn 
es steht zu erwarten, dass wir bei frühzeitiger Erkenntnis derselben, 
lediglich durch die Behandlung dieser Complication auch die Leber- 
cirrhose günstig beeinflussen werden 1). Die Prognose der Cholan- 
gitis galt bisher für sehr schlecht, weil die Diagnose so ausser- 
ordentlich schwierig war. Riedel fertigte noch vor wenigen Jahren 
die Frage der Behandlung mit folgenden Worten ab: „Den Kranken. 
mit schwer inficiertem Gallengangsystem rettet kein Sterblicher 
mehr; er ist, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, sicher verloren. 
Zu wünschen wäre nur, so fährt Riedel fort, dass wir die Infection 
des Gallengangsystems rechtzeitig diagnosticieren könnten, dann 
überliessen wir diese Kranken gerne weiterer conservativer Behand- 
lung, da ihr Leben offenbar durch die Operation verkürzt wird, 
während es doch die Aufgabe des Arztes ist, das Leben der Kranken 
zu verlängern“). Nun dieser Wunsch Riedel’s scheint in Erfüllung 
zu gehen, Forschungen aus der neueren Zeit deuten darauf hin. 
Eine beachtenswerte Arbeit, welche sich mit der Verfeinerung der 
Diagnose beschäftigt, bringt der 8. Band der „Mitteilungen aus den 
Grenzgebieten“. Der Autor (Pick) beschäftigt sich damit, durch 
Feststellung der Leukocythenzahl auch ein Urteil über die Infecte 
der Gallengiinge zu gewinnen, so zwar, dass das Fehlen der Leuko- 
cytose in den fieberfreien Tagen und auch im Anfang der Erkran- 


') In: La Presse médicale 1900 No. 101 berichtet Lejars über einen 
Kranken, den er wegen der Erscheinungen einer Cyatitis calculosa operierte. 
Dabei stellte sich heraus, dass die Gallenwege vollkommen frei waren, dagegen 
eine hypertropische Cirrhose vorlag. Trotzdem machte Lejars eine Cholecysto- 
stomie in der Erwägung, dass eine längere Ableitung der Galle der Patientin nur 
dienlich sein könnte. Nach 3 Monaten konnte L. die Fistel schliessen und die 
Patientin entlassen (Auszug entnommen den Therapeut. Monatsheften Jahrg. XV 
April 1901). 

2) Riedel: Zur Debatte über die Gallensteinfrage in Düsseldorf etc. s. 
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie. Bd. IV. S. 590. 
Jena. Verlag von Fischer. 1899. 


24 Dr. M. Hirschberg, 


kung zur Differentialdiagnose gegenüber eiterigen Erkrankungen der 
Gallenwege dient. — Ferner hat Naunyn |]. c. darauf hingewiesen, 
dass die Schwierigkeiten der Diagnose verringert werden durch 
richtige Würdigung der klinischen Erscheinungen: „Wenn wir bei 
Kranken mit Lebercirrhose, bei denen Steinkrankheit ausgeschlossen 
werden kann, Fieber mit Schüttelfrösten beobachten, wenn das Fieber 
gelegentlich von sehr heftigen Schmerzanfällen in der Leber begleitet 
ist, so ist es wahrscheinlich, dass wir es mit einer Cholangitis 
zu thun haben, da das Fieber aus einer chronischen diffusen Hepa- 
titis als solcher nicht zu erklären ist.“ — Sie sehen also, m. H., dass 
wir der frühzeitigen Erkenntnis der Krankheit näher gerückt sind, 
aber nicht um sie conservativer Behandlung im Sinne Riedel’s zu 
überantworten, d. h. nicht um die Kranken ihrem Schicksal zu über- 
lassen, sondern um bei ihnen im Gegenteil möglichst früh chirurgisch 
zu intervenieren. Nichts kennzeichnet besser die Richtigkeit dieses 
Standpunktes als der Umstand, dass gerade innere Kliniker es 
sind, die der chirurgischen Inangriffnahme der Cholangitis und der 
Lebercirrhose das Wort reden. Seit Jahr und Tag betont Naunyn!) 
in Rede und Schrift die Notwendigkeit, bei Cholangitis zu operieren, 
und Rosenstein?) wirft die Frage der Operation in der Diskussion 
über meinen Vortrag auf dem 19. Kongress für innere Medicin mit 
folgenden Worten auf: „Wäre es nicht möglich, Nutzen zu schaffen 
in Fällen, — von hypertrophischer Lebereirrhose --- wo anatomisch 
nur das allererste Stadium der kleinzelligen Infiltration besteht, 
welches noch der Rückbildung fähig ist? — Noch schärfer betonen 
französische Forscher die Notwendigkeit eines chirurgischen Eingriffes. 
Das kommt daher, dass besonders in Frankreich sich die Anschauung 
Bahn gebrochen hat, dass alle Formen der Lebercirrhose das 
Endstadium eines entzündlichen Vorganges in der Leber darstellen, 
welcher seinen Ausgang von den Gallengängen nimmt, in denen 
wiederum eine Entzündung angefacht wird durch Mikroben, die vom 
Darm eingewandert sind. Gastou®) entwickelt sogar die Auffassung, 
dass in der Hanot’schen bypertrophischen Lebercirrhose der voll- 
kommenste Typus einer Leberinfection verwirklicht sei. Die Infection 


1) s. Verhandlungen des 19. Kongresses für innere Medicin. S. 378. 
n ibidem. S. 381. 
3) Gastou. Le foie infectieux, Thèse de Paris 1891. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 25 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

ist also das primum movens des cirrhotischen Prozesses. Im weiteren 
Verfolg dieser Auffassung wird ausgefúhrt, dass auch die hyper- 
trophisch erkrankten Drüsen im Leberhilus, dass die Hypertrophie 
der Milz, dass die Leukocytose und die Fieberanfälle bei der Hanot’ 
schen Lebercirrhose auf Infection zurückzuführen seien. Die primäre 
infectióse Cholangitis sei aber einer wirksamen chirurgischen Be- 
handlung zugängig, welche sich zum Ziele setzen müsse, die inficierte 
Galle temporär nach aussen zu leiten. Diese Lehre fand bei den 
französischen Chirurgen eine günstige Aufnahme, und Terrier 
operierte bereits im Jahre 1891 den ersten Fall von Cirrhose!). Ihm 
folgten in den nächsten Jahren Le Dentu, Michaux und Andere, 
so dass Bernard einschliesslich des oben angeführten Falles von 
Lejars, in seiner im vorigen Jahre erschienenen Thèse?) 13 Fälle 
von in Frankreich operierter Lebercirrhose zusammenstellen konnte. 
Die Ergebnisse erscheinen geradezu glänzend: 8 Fälle seien endgiltig 
geheilt, 3 gebessert, 1 negatives Resultat, 1 Todesfall. — Ich be- 
schränke mich auf die Wiedergabe der Bernard’schen Zusammen- 
stellung. Von einer eingehenden Analyse der Fälle sehe ich ab, weil 
die Berichte nicht ausführlich genug sind. Dass bei manchen derselben 
Zweifel an der Diagnose „Lebercirrhose‘ am Platze sind, geht aus der 
Discussion bervor, die über die einschlägige Frage in der Sitzung?) 
der Soci6t6 de Chirurgie vom 19. November 1900 in Paris stattfand. 


Die Operationsmethode bestand in allen 13 Fällen in der Anlegung 
einer Gallenblasenbauchdeckenfistel. In Deutschland war es 
bis vor kurzem nur Kehr, der dem Mahnruf Naunyn’s folgend, 
sein Verfahren der Hepaticusdrainage, mit dem er bei der Gallen- 
steinerkrankung so glänzende Erfolge erzielte, auch auf schwere 
Fälle von Cholangitis übertrug. Kehr suchte der sich bei seinen 
Operationen wiederholt aufdrängenden Indication zu entsprechen, den 
eiterigen Inhalt der Gallenwege durch Eröffnung und temporäre 
Drainage des ductus hepaticus nach aussen abzuleiten. 

Wir besitzen demnach 3 verschiedene Verfahren zur temporären 
Ableitung der Galle aus dem Leberinnern: 


1) Revue de Chirurgie. 1892. p. 577. 

2 Du Drainage des voies biliaires dans les cirrhoses du foie. par Emile 
Bernard. Paris 1901. 

5) s. la Presse médicale. 24. November 1900. 


26 Dr. M. Hirschberg, 


1. Die Anlegung einer. Gallenblasen-Bauchdeckenfistel. 

2. Die Drainage des Hepaticus. 

3. Die Anlegung einer Lebergallengangsfistel. 

Von einem Vergleich dieser Methoden, der sich auf Zahlenreihen 
stützt, müssen wir vorläufig absehen, weil für einen solchen die Anzabl 
der bisher ausgeführten Operationen viel zu gering ist. Wir 
können nur jede Methode für sich auf ihren Werth prüfen. 
Die Anlegung einer Gallenblasenbauchfistel ist eine seit vielen 
Jahren so geläufige Operation, dass mir ein näheres Eingehen auf die- 
selbe als Operation überflüssig erscheint. Man kann an ihr, wenn sie 
einen blos temporären chirurgischen Eingriff darstellen soll, aussetzen, 
dass die Fisteln sich erfahrungsgemäss oft schwierig schliessen und 
Nachoperationen erheischen. Zur Drainage der Lebergallengänge ist 
dieselbe auch nur dann geeignet, wenn der ductus cysticus weit 
genug und wenn der ductus hepaticus durchgängig ist, Vorbedin- 
gungen, die vor der Eröffnung der Bauchhöhle gar nicht, ja selbst 
nach der Eröffnung der Gallenblase oft recht schwer zu erkennen sind. 

Endlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass, wenn die 
Methode der Cystectomie in dem Masse weiter Anhänger findet, 
wie in den letzten Jahren, die Zahl der Kranken, deren Gallenblase 
entfernt wurde, in nicht ferner Zeit eine recht stattliche sein wird. 
Wenn Sie bedenken, dass in der „Versammlung deutscher Natur- 
forscher und Aerzte“, die im nächsten Monat in Karlsbad tagen wird, 
allein aus 2 Kliniken Bericht erstattet wird über 1160 in denselben 
ausgeführte Gallensteinoperationen, dann können Sie, meine Herren 
ungefähr ermessen, wie viele Gallenblasen alljährlich geopfert werden. 
— Und diese gallenblasenlosen Kranken werden es gerade sein, bei 
denen durch vorangegangene Steininsulte Cholangitis vorkommen wird. 

Die Hepaticusdrainage erfüllt ohne Zweifel in sicherer Weise 
die Forderung die Galle aus dem Leberinnern abzuleiten, aber sie 
ist ebenso zweifellos eine technisch schwierigere und vor allem eine 
gefährlichere Operation. Die Ergebnisse Kehr’s!) mit der Hepaticus- 
drainage bei der eiterigen Cholangitis stehen in einem betrübenden 
Gegensatz zu seinen glänzenden Erfolgen bei der Steinerkrankung. 
Schon aus dem Grunde wird die Hepaticusdrainage nur ausnahms- 
weise zur Entfernung der inficierten Galle aus den Lebergallen- 


1) Kehr: Beiträge zur Bauchchirurgie. Berlin 1901. Fischer's Buchhandlung. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 97 
einer Leber-Gallengangsfistel. 

gängen angewendet werden; sie wird hauptsächlich dann in Frage 
kommen, wenn sie ohnedies zur Entfernung von Concrementen aus 
dem Stamm oder aus den Hauptästen des hepaticus angezeigt ist. — 
Zudem findet die Operation, wie Kehr selbst hervorhebt, ihre Grenzen 
einmal an der Schwäche der Kranken, ferner da, wo die Infection 
auf die feineren Lebergallengänge übergegriffen hat, endlich ist sie 
nicht ausführbar bei schwerer Zugängigkeit des Choledochus, wenn 
dieser Gang z. B. in Verwachsungen eingebettet ist. 

Ich komme schliesslich zur Besprechung der Leber-Gallen- 
gangsfistel. Auf Seite 22 habe ich bereits ausgeführt, wie 
umfangreich ihr Anwendungsbereich ist; sie kann ihre Wirksanı- 
keit noch entfalten, wo die Gallenblasenbauchfistel versagt, wie 
bei engem Cysticus oder verschlossenem Hepaticus, ebenso, wo 
die Hepaticusdrainage nicht ausführbar ist, wie bei Unzugängig- 
keit des Choledochus oder bei Infection und Stauung der Galle in 
den feineren Gallenwegen. Ein vólliges Misslingen der Operation, 
wie es vorkommen kann beim Versuche, den Hepaticus zu drainieren, 
ist ausgeschlossen; denn wenn nach der Anbohrung der einen Leber- 
stelle keine Galle ausfliesst, stösst man den Troicart an einer anderen 
Stelle ein. Endlich muss man es als einen ganz besonderen Vor- 
zug der Operation betrachten, dass sie technisch einfach und bei 
richtig gehandhabter Aseptik durchaus gefahrlos ist, deshalb wird 
der kühnste Operateur froh sein, in der Anlegung einer Leber- 
Gallengangsfistel einen Ersatz für die schwierige, manchmal 
unausführbare Hepaticusdrainage zu besitzen. — Und um ihrer 
Einfachheit und Ungefährlichkeit willen darf man die Operation ge- 
trost bei unheilbaren Krankheiten unternehmen, wenn noch Aussicht 
vorhanden ist das Leben der Kranken zu verlängern und ihre Be- 
schwerden za lindern; deshalb nahm ich nicht Anstand sie noch 
einmal zu versuchen bei meinem Kranken, obschon ich bereits er- 
kannt hatte, dass die Leber krebsig entartet war; und ich hatte den 
Versuch nicht zu bereuen.. i 

Ich habe zum Schluss nur noch einiges úber die Ausfiihrung 
der Operation nachzutragen. Wie ich bereits bei der Beschreibung 
derselben erwähnt habe, hatte ich einzeitig operiert, sowohl das 
erste wie das zweite Mal, auch Rotter hat einzeitig operiert. 

Eigentlich ist es selbstverstándlich, dass wir schon aus diagnosti- 


28 Dr. M. Hirschberg, 


schen Rücksichten, vor allem um vor der Eröffnung der Leber deren 
Anhänge zu untersuchen, uns nicht des Vorteils einzeitiger Operation 
begeben sollten, zumal wir ja jetzt genugsam Erfahrungen über 
Leberoperationen besitzen, um zu wissen, dass die Gefahr der 
Blutung und der Peritonitis nicht zu fürchten ist. Wenn ich dennoch 
das einzeitige Operieren ausdrücklich empfehle, so geschieht es, weil 
Langenbuch, als er die Operation theoretisch aufbaute, verlangte, 
dass vor der Anlegung der Fistel die Leber in die äussere Wunde 
eingenäht wird, eine Forderung, die er heute wohl nicht mehr auf- 
recht halten würde — Die Technik selbst habe ich bereits Seite 6 
geschildert. Ob man sich eines mässig dicken Troicarts bedient 
und nachträglich stumpf erweitert, wie ich es bei der ersten Operation 
gethan, oder gleich eines sehr dicken Troicarts mit konischer (nicht 
pyramidenförmiger) Spitze, wie bei meiner 2. Operation, oder ob man 
mit dem Pacquelin-Messer in die Leber dringt, wie es Rotter ge- 
than, das sind Technicismen von untergeordneter Bedeutung, deren 
Wahl füglich jedem Operateur überlassen bleiben kann. Die 
Blutung ist unschwer zu beherrschen, und die Tamponade !) dürfte 
zu diesem Behufe vielleicht eher am Platze sein, als die Er- 
öffnung der Leber mit dem Pacquelinmesser; denn hat man die 
Blutung einmal mit Gazestreifen, die man liegen lässt, gestillt, 
dann ist eine Nachblutung bei deren Entfernung nicht mehr zu 
besorgen, vorausgesetzt, dass man die Tampons nicht gewaltsam, 
sondern erst dann entfernt, wenn sie sich gelockert haben. Bei der 
Abstossung der Pacquelin’schen Brandschorfe dagegen kann es 
immer noch zu einer unliebsamen, schwer zu stillenden Nachblutung 
kommen. Wann man die Drains endgültig entfernen, wann man 
der Schliessung der Fistel kein Hindernis in den Weg legen soll, 
das wird für jeden einzelnen Fall zu bestimmen sein. Man wird 
sich im Allgemeinen darnach richten, ob die Galle frei in den Darm 
fliesst, ob die Fistel wenig absondert und ob die Fieberbewegungen 
aufgehört haben. Die Lebergallengangsfistel hat, wie es scheint, die 
Neigung sich rasch zu schliessen; deshalb muss man mit der Ent- 


1) Das Verfahren, die Blutung aus Leberwunden durch Tamponade zu stillen, 
wurde schon im Jahre 1893 von E. von Bergmann als das zuverlässigste 
empfohlen. s. E. v. Bergmann, Zur Casuistik der Leber-Chirurgie, in den Ver- 
handlungen des 22. Kongresses der deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Seite 229. 


Die Behandlung schwerer Lebererkrankungen durch die Anlegung 29 
einer Leber-Gallengangsfistel. 
fernung der Drains nicht zu eilig sein. Auch durch diese Eigen- 
schaft ist sie der sich oft schwer schliessenden Gallenblasen-Bauch- 
fistel überlegen, und ihre Anlegung käme in erster Linie in Betracht, 
wenn es sich darum handelt, die Leber vorübergehend zu entlasten. 
Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Ich verband mit den- 
selben einen doppelten Zweck. Einmal lag es mir ob, Ihnen den 
weiteren Verlauf und den Schlussact der Krankheit vorzuführen, deren 
ersten Abschnitt Sie bereits kannten, zumal der Obductionsbefund den 
Schein erweckt, als hätte ich den Fall unter einer fremden Flagge hinaus- 
geschickt. Gegen diesen Vorwurf musste ich mich durch eine genaue 
Wiedergabe des Obductionsbefundes verwahren, und Sie haben aus 
demselben erfahren, dass der Fall auch durch die Autopsie nicht voll- 
kommen geklärt worden ist. Aber selbst wenn die Obduction mich 
ins Unrecht gesetzt hat, selbst wenn ich die Diagnose „hypertrophische 
Cirrhose“ preisgeben müsste, bleibt doch die Thatsache bestehen, 
dass das Leben des Schwerkranken, für den es eine andere Rettung 
nicht gab, durch den von mir ausgeführten operativen Eingriff um 
2 Jahre verlängert wurde. — Dieser Erfolg ist so bedeutsam, dass 
es mir ferner angebracht erschien, die Leistungsfähigkeit der Operation 
ins rechte Licht zu setzen, deren Wert auch Naunyn und Rosen- 
stein!) trotz ihres Widerspruches gegen die Diagnose voll und ganz an- 
erkannt haben. — Und Angesichts des Wandels, der sich neuerdings 
in der Auffassung über das Wesen nicht nur der hypertrophischen, 
sondern der Lebercirrhose überhaupt vollzieht, stehe ich nicht an, die 
Erwartung auszusprechen, dass in der Behandlung dieser Erkrankung 
der Anlegungder Lebergallengangsfistel eine wesentliche Rolle 
vorbehalten ist. 


1) 8. Diskussion zu dem Vortrage: „Die operative Behandlung der hyper- 
trophischen Lebereirrhose‘ in den Verhandlungen des 19. Kongresses für Innere 
Medizin, p. 378. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W., Lútzowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 





un le o 0. 


November 1902. Berliner Klinik. Heft 173. 


Ueber Nagelkrankheiten. 
Von 
Dr. Max Joseph in Berlin. 


(Nach einem im ärztlichen Fortbildungscursus im Winter 1901/02 
gehaltenen Vortrage.) 
(Mit 3 Abbildungen im Texte.) 





M. H.! Im Laufe dieses Curses habe ich bereits mehrfach Ge- 
legenheit genommen, Ihnen Patienten mit Erkrankungen der Nägel 
vorzustellen. In allen diesen Fällen habe ich mich bemüht, Ihnen 
die speciellen charakteristischen Merkmale der Krankheitsbilder zu 
erläutern. Indessen stets war unsere Diagnostik dadurch vereinfacht 
worden, dass wir bei genauerem Studium immer noch an dem Körper 
des Patienten Symptome vorfanden, aus welchen auf eine Allgemein- 
erkrankung geschlossen werden konnte, deren eine Theilerscheinung 
nur die Nagelaffection war. Ich erlaubte mir Ihnen einen Fall von 
Psoriasis der Nägel zu demonstriren bei einem Manne mit fast 
universeller Psoriasis. Sie sahen ein chronisches Nageleczem bei 
einer Frau, welche bereits seit Jahren an vielfach recidivirenden 
Eczemen der oberen Extremitäten litt. Ich stellte Ihnen einen Mann 
mit einer syphilitischen Paronychie vor, aus dessen Anamnese die 
syphilitische Infection deutlich hervorging und welcher auch heute 
noch Zeichen einer manifesten Lues darbot. In allen diesen Fällen, 
wird, wie überhaupt bei den Nagelerkrankungen, die Diagnostik 
wesentlich erleichtert durch irgendwelche am übrigen Körper be- 
findliche Symptome, welche auf eine Allgemeinerkrankung hinweisen. 

Nun giebt es aber eine Reihe von Nagelerkrankungen, welche 


gewissermassen selbständig auftreten, für sich allein bestehen bleiben, 
1 


2 Dr. Max Joseph, 


ohne dass man am Körper irgend ein deutlich hervortretendes Zeichen 
einer Allgemeinerkrankung vorfindet. In diesen Fällen ist natürlich 
die Diagnose ausserordentlich schwer. Gestatten Sie, dass ich Ihnen 
zunächst nach dieser Richtung über eine sehr merkwürdige Beobachtung 
berichte, welche ich vor einiger Zeit an einem unserer Collegen 
machen konnte. Die vorläufige Veröffentlichung derselben stellte ich 
J. Heller!) für seine ausgezeichnete Monographie über die Krank- 
heiten der Nägel, in welcher Sie alles Wissenswerthe in fast er- 
schöpfender vorzüglicher Weise zusammengestellt finden, zur Ver- 
fügung. 
Es handelt sich hier um einen Fall, welchen ich als 
Onychonecrosis 
bezeichnen möchte. 


Betroffen war ein 50 Jahre alter College, Vater von 3 Kindern. 
In der Familie hatte niemals irgendwelche hereditäre Veranlagung 
bestanden. Pat. ist seit 1875 Badearzt und behandelt fast aus- 
schliesslich Lungenkranke Seine Thätigkeit erstreckte sich von 
früh 6 bis Mittags 2 Uhr und von 4 bis 9. Meist hatte er zu 
auscultiren. Vor ungefähr 4 Jahren stellten sich bei dem im Uebrigen 
grossen, kräftigen Manne Herzbeschwerden ein, meist des Nachts: 
Herzklopfen, unregelmässiger Puls, Congestionen nach dem Kopfe, 
Schwindel, Uebelsein, starke Schweisse. Am Herzen konnte ausser 
grosser Schwäche in der Thätigkeit — Töne waren kaum zu hören 
— nichts abnormes gefunden werden. Pat. glaubte die Ursache 
dieser Störungen in dem Auscultiren beim Sitzen, Athemanhalten bei 
genauem Hören etc. suchen zu müssen. Er arbeitete seitdem stehend 
und hierdurch verloren sich die Herzbeschwerden im Verlaufe der 
beiden nächsten Jahre so völlig, dass sogar Bergsteigen im Winter 
keine Mühe und Anstrengung verursachte Als einzige zurück- 
bleibende Beschwerde von der anstrengenden sommerlichen Thätig- 
keit wurde bis heute ein brennend heisser Kopf beim Schlafengehen 
empfunden, infolgedessen auch der Schlaf sich stets erst spät ein- 
stellte. Vom October 1897 bis zum Frühjahr 1898 hatte sich Pat. 
geistig stark angestrengt und trat körperlich wie geistig übermüdet 
in den arbeitsreichen Sommer ein. 


1) Berlin, Hirschwald, 1900. S. 199. 


Ueber Nagelkrankheiten. 3 


Am 1. October 1898 ging Pat. nach seiner eigenen Krankheits- 
beschreibung bei gutem Befinden zu Bett. In der Nacht fuhr er 
plötzlich wegen heftiger Schmerzen am rechten Daumen aus dem 
Schlafe, es brannte unter dem Nagel wie Feuer. Er hob den Nagel 
stellenweise empor und schnitt ihn ab, es zeigte sich ein minimales 
Bläschen mit trüber Flüssigkeit gefüllt. Nach Eröffnung desselben 
wurden die Schmerzen etwas geringer. Am nächsten Tage zeigte 
sich bereits Caro luxurians am Nagelfalze. Die Entzündung schritt 
vom ulnaren Nagelfalze bis zum Nagelbett vor, es bestanden auch 
weiter starke Schmerzen, und es trat Eiterung ein. Zugleich erfolgte 
starke Schwellung und Röthung der Fingerkuppe Es wurde eine 
partielle Entfernung des Nagels dem Falze entlang vorgenommen, 
aber trotz protrahirter localer Bäder, Verbänden von Sublimat oder 
Bleisalbe bestanden immer noch starke Schmerzen, und es zeigte sich 
keine Neigung zur Heilung. 

Nach ungefähr 8 Tagen stellte sich beim Spazierengehen plötzlich 
ein heftiger stichartiger Schmerz im ulnaren Nagelfalze des linken 
Daumens ein, hier war eine kleine punktförmige cyanotische Ver- 
färbung zu sehen. Nach 24 Stunden war bereits eine Auftreibung 
des Nagelfalzes und der Fingerkuppe zu constatiren, es bestand in- 
tensive Röthung, Schwellung, punktförmige Eiterung aus verschiedenen 
Stellen des Falzes. Weder feuchte noch Salben-Verbände hinderten 
die Schmerzen und die Entzündung. 

Etwa 6 Tage später wiederholten sich dieselben Erscheinungen 
im ulnaren Nagelfalz des rechten Zeigefingers, und es trat derselbe 
Verlauf ein wie am linken Daumen. Während dieser ganzen Zeit 
befand sich Pat. in einer starken geistigen Depression und fühlte 
sich schlecht, hatte aber kein Fieber. Es bestand ein Gefühl von 
grosser Schwere in den Vorderarmen, ein Aufstützen oder Auflegen 
der Ellenbogen auf den Tisch war wegen grosser Empfindlichkeit 
kaum möglich. Auffällig war ganz besonders ein intermittirendes 
starkes Pulsiren und Andrängen des Blutes nach den Vorderarmen 
und Händen, wobei eine deutliche Schwellung der Vorderarme ohne 
Röthung, sowie der Hände und insbesondere der Fingerenden mit 
Schwellung und Röthung zu constatiren war. Derartige Congestions- 
attacken traten oft zwei- bis dreimal des Tages ein. Mit der zu- 


nehmenden Schwellung und Röthung der Fingerenden verschwanden 
1* 


4 Dr. Max Joseph, 


die Tastrosetten vóllig, die Haut wurde spiegelglatt, durch die durch- 
scheinende Oberhaut sah man aus der Tiefe eine honigwabenartige 
Structur heraufschimmern, meiner Ansicht nach wahrscheinlich von 
kleinen capilláren Blutungen herrtihrend. Diese honigwabenartige 
Zeichnung verschwand dann allmählich unter Trúb- und Dickerwerden 
des Epithels. Dasselbe platzte und stiess sich schollig ab, darunter 
lag dann zwar geróthete, aber scheinbar normale Haut. Hinzugefúgt 
sei hierbei, dass noch im September 1899 wiederholt spontan oder 
auch nach Druck unbestimmbare nervóse Schmerzen auftraten, nach 
denen neben dem wabenartigen Gefüge direct rothe Blutpunkte zu 
sehen waren. Es erfolgte dann immer Verdickung der Epidermis 
und Abstossung. 

Mittlerweile waren rechts und links Daumen und Zeigefinger, 
rechts auch der Mittelfinger entzündet und der Nagelfalz stellenweise 
eitrig, die Ringfinger und kleinen Finger an der radialen Seite nur 
unter Röthung und Schwellung erkrankt. Bei den Ringfingern 
wurde schliesslich das ganze Endglied roth und dick, bei den beiden 
kleinen Fingern erkrankten nur die inneren Seiten des Nagelfalzes 
als umschriebene dicke, rothe Polster. 

Pat. meinte die Erkrankung mit seiner häufigen und andauern- 
den Hirnhyperämie in Verbindung bringen zu müssen und trank 
deshalb Eger Salzquelle und liess sich Rücken und Beine mit kaltem 
Wasser frottiren. Nach 14tägigem Curgebrauch hörten die Congestions- 
attacken nach den Vorderarmen, welche sich durch 6 Wochen täglich 
und wiederholt eingestellt hatten, etwa Ende December völlig auf. 
Ermuthigt durch den Curerfolg wandte Pat. zur Beseitigung der 
Krankheitsreste Eisenmoor-Theilbäder bis zur Mitte des Ober- 
arms reichend an, ungefähr 36—37° C von 20 bis 30 Minuter 
langer Dauer. Im dritten Bade fühlte Pat. plötzlich drei kräftige 
rythmische, augenscheinlich mit dem Herzschlag zusammenfallende 
spastische Contractionen in den sämmtlichen Fingerspitzen, nicht der 
willkürlichen Muskeln, sondern der kleinen Blutgefässe, 

Dass bei einer so ausserordentlich seltsamen Empfindung etwas 
dauernd Schädliches passirt sein müsse, kam dem Pat. sofort zum 
Bewusstsein. Am nächsten Tage waren sämmtliche Fingernägel gelb- 
braun, in Farbe und Beschaffenheit den Nägeln alter Leichen 
gleichend. Der entzündliche Zustand der Finger wurde nicht gesteigert. 


Ueber Nagelkrankheiten. 5 


Im Verlaufe der nächsten Wochen bekamen die Nägel, meist am 
Nagelbett anfangend, schwarze Flecken, welche sich allmählich über 
den ganzen Nagel ausbreiteten. Nach und nach wurden sämmtliche 
Nägel total schwarz und stiessen sich allmählich ab. Die Nägel 
selbst wurden etwa viermal dicker als normal. Am freien Rande 
sah man zunächst den Rest glatten Nagels, darunter zwischen dem 
vorstehenden Rand des Nagels und dem Finger dicke hornige 
Schuppen, welche überall fest anhafteten. Im späteren Heilverlaufe 
trat an die Stelle der dicken Lage horniger Schuppen mehr die 
Beschaffenheit eines Schnittes durch einen Pferdehuf: unter dem 
freien Rande des Nagels, unter der glänzenden Oberfläche, eine 
gelbliche, leicht gebräunte, dicke, opake, gleichmässige, nicht mehr 
schuppige Schicht. Erst Anfang August 1899 schwand dieselbe, und 
es trat der freie Rand der Nägel in normaler Dicke vor den Finger. 

Als ich den Collegen am 31. III. 1900 wiedersah, waren die 
Nägel wieder sämmtlich in normaler Länge gewachsen, nur einige 
zeigten kleine schwarze in der Längsrichtung des Nagels verlaufende 
minimale Streifen und andere wieder kleine Tüpfelungen. Letztere 
möchte ich, um es gleich vorweg zu nehmen, auf die Weichheit des 
neugewachsenen Nagels beziehen, der schon bei leichtem wiederholt 
auf ihn einwirkenden Drucke nachgiebt, so dass selbst beim Knöpfen 
der Kleidungsstücke schon jene punktförmigen Impressionen hervor- 
gerufen werden. Uebrigens ist dies eine Eigenschaft, welche nichts 
etwa für unseren Process charakteristisches hat und welche wir 
später bei der Psoriasis unguium wiedertreffen werden. 

Es fragt sich nun, mit welchem krankhaften Processe haben 
wir es bei jenem eigenthümlichen, oben beschriebenen Vorgange der 
Nagelnecrose zu thun? Zunächst einmal glaube ich, dass die land- 
läufigen Nagelerkrankungen, wie Eczem und Psoriasis, auszuschliessen 
sind, da die obige Beschreibung einen völlig abweichenden Symptomen- 
complex erkennen lässt. Auch Lues kommt aus den gleichen Gründen 
nicht in Betracht, zumal hierin die Anamnese vollkommen negativ 
ist. Ebenso waren Lepra, centrale Nervenerkrankungen, insbesondere 
Syringomyelie auszuschliessen. 

Dagegen ist es nicht unwahrscheinlich, dass es sich um eine 
vasomotorische oder trophische Störung handelt und zwar speciell 
um einen der Raynaud’schen Erkrankung eigenthümlichen Symptomen- 


6 Dr. Max Joseph, 


complex, bei dem es sich allerdings nicht wie sonst um digitui mortui, 
sondern nur um ungues mortui gehandelt hat. Entsprechend dem 
bekannten sonstigen Symptomencomplex der Raynaud'schen Krank- 
heit bestanden auch in unserem Falle lebhafte neuralgische Schmerzen, 
die spontan und auf Berührung auftraten, während bei der Morvan- 
schen Erkrankung mehr die Analgesie als Begleiterscheinung von 
Panaritien mit dem schliesslichen Ausgang in knollige Verdickungen 
und Verkürzungen der Finger in den Vordergrund tritt. Dazu kommt, 
wie überhaupt bei der Raynaud’schen Erkrankung die plötzliche 
Entwickelung des Leidens. Auch wie sonst bei dieser Affection 
können in unserem Falle als veranlassendes Moment Gemüthsbe- 
wegungen angesprochen werden und disponirt scheinen, wie eben- 
falls in unserem Falle, besonders Menschen mit schwacher Herz- 
thätigkeit und unregelmässiger Blutcirculation zu sein. 

Sehen wir uns nun in der Literatur um, ob denn gleiche oder 
ähnliche Nagelerkrankungen bei dem Raynaud’schen Symptomen- 
complex beschrieben sind, so finden wir allerdings entsprechend der 
Seltenheit dieser Affection überhaupt nur wenige Notizen über. die 
Betheiligung der Nägel hierbei. Gewöhnlich wird in den Kranken- 
geschichten nichts über die Besonderheiten der Nägel angegeben 
Andere Male wird das verlangsamte Wachsthum der Nägel oder eine 
tiefe cyanotische Verfärbung der Nägel der afficirten Finger hierbei 
beschrieben z. B. von Clarke?) Auch Mantle’) berichtet, dass 
in vielen Fällen die Nägel nicht nur zerbrechlich und missgestaltet 
waren, sondern auch weisse oder dunklere Einsenkungen aufwiesen. 

Gewiss ist oftmals bei der Schwere des übrigen Krankheitsbildes 
auf die Nägel nicht geachtet worden. Ausserdem braucht es ja bei 
dem wirklichen Vorliegen einer Raynaud’schen Krankheit, sofern 
sie sich nur auf die Nägel beschränken würde, nicht gerade immer 
sofort zur Necrose zu kommen. Denn auch sonst pflegt ja bei der 
Raynaud’schen Krankheit nicht immer gerade dieser verhältniss- 
mässig schwere Endausgang einzutreten. So berichtet z. B. Monro*) 
in seiner ausgezeichneten Monographie, dass er in 1000 Fällen 50 mal 
Syncope, 94mal Asphyxie und nur 68mal eine Necrose der Gewebe 


2) The Quarterly Med. Journal. Edinburg. Juli 1897. 
3) The British Medical Journal. 9. Márz 1901. 
+) Raynaud's disease. Glasgow. 1899. 


Ueber Nagelkrankheiten. 7 


constatiren konnte. An einer anderen Stelle (S. 97) berichtet in der 
That dieser Autor auch von dem Verlust der Nagel bei dieser Er- 
krankung und fiigt hinzu, dass sie nach einer gewissen Zeit wieder 
erscheinen kónnen. Aber wenn auch die Nagel nicht abfallen, so 
kann doch ihr Wachsthum für eine beträchtliche Zeit aufgehalten 
werden, besonders während der Dauer der starken Schmerzen. 

Zweifelhaft kann es bleiben, ob die von Richardson‘) und 
Giovanni®) berichteten Fälle hierher gehören. Richardson be- 
richtet über eine eigenthümliche Nagelerkrankung dunkler Ätiologie, 
beginnend mit einem Gefühl von Prickeln und Erstarren der Finger- 
spitzen, schmutziger Verfärbung der Nägel, endend mit Zerklüftung, 
Zerblätterung von den Enden und vom freien Rande. Giovanni’s 
Patient zeigte eine bedeutende Schmerzempfindlichkeit in den Finger- 
spitzen, die Haut wurde blauroth, die Epidermis hatte sich verdickt, 
die des linken Zeigefingers stiess sich in grossen Lamellen ab, worauf 
in diesem Finger jeder Schmerz verschwand. Um den Nagel des 
Mittelfingers begann ein Eit®rungsprocess, dessen Secret sich unter 
dem Nagel Bahn brach. 

Sicher ist aber eine von M. Weiss’) vorliegende Beobachtung 
meinem oben berichteten Falle fast vollkommen analog. Denn hier 
stiessen sich bei den durch heftige neuralgische Schmerzen einge- 
leiteten Anfällen die rissig gewordenen und braun verfärbten Nägel 
ab. Auch Walsh?) stellte einen Fall von symmetrischer Erkrankung 
der Nägel bei einer 67jährigen Frau vor. Die Nägel beider Hände 
waren verdickt, kurz und verfárbt, es '` bestand eine Neigung zur 
Desquamation und Atrophie der Fingerspitzen. Ein oder zwei der 
kleinen Fingergelenke waren deformirt. Zugleich wurden die Finger 
cyanotisch. Walsh hielt die Erkrankung für eine Trophoneurose 
und bringt sie in Beziehung mit der Raynaud’schen Erkrankung. 
Heller (l. c.) erwähut als Parallelfall zu meinem oben mitgetheilten 
noch einen solchen von Acland?). Hier trat ziemlich schnell an 
allen Finger- und Zehennägeln, während in meinem Falle die Zehen- 


5) Clinical essays. London. 1862. 

e) Giorn. ital. delle mal. vener. e della pelle. 1885. 
3) Wiener Klinik. 1882. Heft 10 u. 1). 

8) Britisch Journal of Dermat. 1900. S. 141. 

*) Lancet. 1890. I. S. 652. 


8 Dr. Max Joseph, 


nigel intact waren, Verdickung des Nagelbettes und der Nagelwälle, 
subunguale Eiteransammlung, Veränderung der Structur der Nägel ein, 

Jedenfalls hoffe ich durch diese kurze Zusammenstellung Ihnen, 
m. H., gezeigt zu haben, dass es gewiss nicht unberechtigt ist, jenen 
von mir bei einem Collegen beobachteten Fall von Onychonecrosis 
unter das grosse Symptomenbild der Raynaud’schen Erkrankung 
einzureihen oder vielmehr als eine Theilerscheinung derselben zu 
betrachten. Vielleicht achtet der eine oder der andere von Ihnen, 
falls ihm jene seltene Erkrankung in seiner Praxis vorkommt, von 
nun an auch auf die Erkrankung der Nägel hierbei. 

In Paranthesi gewissermassen sei nur noch hinzugefügt, dass 
Pospelow 1%) als ein neues Zeichen der Raynaud’schen Erkrankung 
die Onychophagie betrachtet. 

Therapeutisch hatte nur das 10°/, Salicylseifenpflaster gute 
Dienste gethan. Einmal war hierdurch der Verband sauber und 
liess die Hände doch etwas gebrauchsfähig, dann aber beförderte 
er die Abstossung der alten Gebilde. “Ichthyol und Theervasogen 
leisteten nichts. Arsen wurde nicht vertragen. 


Alsdann m. H., bin ich heute in der Lage, Ihnen eine andere 
seltene Nagelerkrankung, wenigstens in einer Photographie, welche 
ich der ausserordentlichen Liebenswürdigkeit von Ohmann-Dumesnil 
in St. Louis verdanke, demonstriren zu können. Es ist dies ein 
bisher einzig dastehender Fall von 

Cornu unguale, 
welchen Ohmann-Dumesnil bereits in The Tri-State Medicinal 
Journal, St. Louis. Nov. 1896 und in den International Clinics, 
Vol. IV, second series, veröffentlicht hat. 

Es liegt hier das vollkommene Analogon zu dem Cornu cutaneum 
vor, wie es seine Entwicklung von der normalen Epidermis nimmt. 
Betroffen war ein 30jähriger Mann, dessen Nagelhörner in der Grösse, 
wie sie auf der Abbildung ersichtlich sind, von Geburt an bestanden 
haben sollen. Die Länge jedes dieser Hörner betrug etwa 4 Zoll 
(„four inches“). Alle diese Hörner zeigten eine ebenfalls auf der 
Photographie deutlich sichtbare Krümmung und waren fest an dem 


19) Medicinskoie Obosrenia. Juni. 1901. 


Ueber Nagelkrankheiten. 9 


Nagel fixirt, wenn auch ein wenig beweglich. Diese Hérner zeigten 
die gleiche gerippte, kannelirte Oberfliche, wie sie uns von den 
gewohnlichen Hauthórnern bekannt ist. 





Figur 1. 

Der Patient hatte bei gewóhnlichen Bewegungen keine Schmerzen, 

er konnte Steck- und Náhnadeln aufheben und sich seine Cigaretten 
rollen, sodass er also im Grossen und Ganzen nicht sehr stark be- 
lästigt war. Der Nagelfalz erstreckte sich über ein beträchtliches 
Stück der Hornoberfläche, und hieraus ist wohl der von Ohmann- 
Dumesnil gezogene Schluss berechtigt. dass es sich bei diesem 
Nagelhorn um eine reine Hyertrophie des Nagels handelt. Besonders 
interessant scheint mir nun, dass sich auch auf beiden Handtellern 


10 Dr. Max Joseph, 


und den Palmarflächen der Finger eine hornige Auflagerung in Form 
einer Tylositas befand, welche ebenfalls congenital war. Dieselbe 
Tylositas befand sich auch auf den Fusssohlen und den Plantarflächen 
der Zehen, sodass hier der Pat. beim Gehen lebhafte Beschwerden hatte. 

Was die Ursache anbetrifft, so glaubt Ohmann-Dumesnil, 
dass es sich um eine trophoneurotische Affection handle. Mir scheint 
aber, dass hier eine Ichthyosis hystrix vorliegt. Darauf weist der 
Zustand an den Handtellern und Fusssohlen hin. Auch Heller 
(S. 73) ist dieser Meinung, nur glaubt er, dass die Nagelaffection 
als Onychogryphosis aufzufassen ist. 

Dass in diesem Falle nur eine chirurgische Therapie am Platze 
sein kann, wird Ihnen selbstverständlich erscheinen. 

Im Uebrigen fand ich in einem anderen von mir in meinem 
Lehrbuche der Hautkrankheiten (4. Aufl., Leipzig, Thieme, 1902, S. 175) 
abgebildeten hochgradig ausgebildeten Falle von Ichthyosis hystrix 
die Fingernägel vollkommen normal. Dagegen waren an den miss- 
gestalteten mit starken Hornhautwucherungen und tiefen Rissen auf 
der ganzen Fusssohle und dem grössten Theile des Fussrückens ver- 
sehenen Füssen die Nägel stark deformirt. Während die eigentliche 
Nagelplatte vollkommen normal war, zeigte sich unter derselben eine 
der sonstigen Ichthyosis conforme starke Hyperkeratose unter der 
Nagelplatte. Aehnliche, wenn auch nicht so hochgradige Ver- 
änderungen, traf ich in mehreren Fällen von Ichthyosis simplex an. 
Auch hier waren die Fingernägel normal und unverändert, die Er- 
krankung bestand nur an den Zehennägeln. 


Da die Warzen gerade die Hände als häufigsten Praedilections- 
ort bevorzugen und die Infectiosität dieser Gebilde auf Grund zweifel- 
loser Experimentalergebnisse als sicher feststeht, obwohl wir deren 
infectióses Agens noch nicht kennen, so wird es uns auch nicht 
wundern, dass zuweilen die Warzen sich gerade unter dem freien 
Rande der Nägel, am Nagelsaum, entwickeln. 

In der That, m. H.! ist dieses Vorkommniss kein so sehr seltenes, 
und ich habe solche Beobachtungen häufig machen können. Ich 
erlaube mir Ihnen heute einen 25jährigen Kutscher vorzustellen, 
welcher an den Handrücken zahlreiche Verrucae vulgares hat und 
welcher auch an den meisten Fingernägeln unter dem freien Rande 


Ueber Nagelkrankheiten. 11 


der Nägel, theilweise ein Stück unter dieselben heruntergehend, eine 
Anzahl gewöhnlicher Warzen zeigt. Dieselben haben eine zerklüftete 
Oberfläche und sind lange nicht so erhaben wie die Warzen an den 
Handrücken, lassen aber doch deutlich ihren warzigen Character er- 
kennen. 

Aber nicht nur von dem Typus der gewöhnlichen Warzen, 
sondern auch von der Abart derselben, den Verrucae planae juveniles, 
sehen wir zuweilen Abimpfungen an jene Localisationsstellen gelangen. 

So zeige ich Ihnen hier ein junges 18jähriges Mädchen, welches 
bereits seit 2 Jahren zahlreiche Verrucae planae an der Stirn, den 
Unterarmen, in der Nähe des Handgelenkes und auf den Handrücken 
zeigt. Dieselben wurden zunächst von anderer Seite für Lichen 
ruber planus gehalten. Indessen kann bei genauerem Zusehen kein 
Zweifel sein, dass es sich hier um die typischen flachen jugendlichen 
Warzen handelt, wie ich sie Ihnen vor kurzem schon einmal bei 
einer anderen Patientin demonstrirt habe. Bei unserer Kranken 
sehen Sie nun, dass auch der Nagelsaum einiger Fingernägel beider 
Hände von diesen kleinen Gebilden afficirt ist. 

Weit seltener aber scheint die Localisation solcher Warzen- 
bildungen auf den Nagelwällen, 

Verrucae perionycheales 
zu sein. Heller hat als Erster (S. 104) einen solchen Fall bei 
einem 17jährigen Dienstmädchen beschrieben, während er in der 
Literatur keine ähnliche Beobachtung vorfinden konnte. | 

Ich bin nun heute in der Lage, Ihnen von einem gleichen Falle 
bei einem 26jährigen Collegen berichten zu können. Bei ihm be- 
gannen vor 6 Jahren an beiden Händen reichliche gewöhnliche 
Warzen aufzutreten. Beide Hände weisen eine überreiche Anzahl 
von Warzen auf, ganz besonders aber die Endphalangen aller Finger. 
Auf beiden Daumen, den Zeigefingern, dem dritten Finger rechts 
und dem vierten links treten diese etwa hanfkorngrossen warzigen 
Gebilde auf dem Nagelfalz, vorwiegend auf den Seitenfalzen hervor, 
während an dem Mittelfinger der rechten Hand, am Nagelsaum 
nebeneinander gereiht, kleinere und grössere Warzen ihren Sitz haben. 
An dem Nagelsaum des linken Mittelfingers ist die Epidermis stark 
verhornt, ohne indessen warzig umgebildet zu sein. Patient hat 
seine Nägel immer sehr stark abgeschnitten, weil sie ihm beim 


12 Dr. Max Joseph, 


Klavierspiel hinderlich waren. Er vermuthet, dass die Warzen der 
Mittelfinger infolge des Druckes der Tasten erzeugt seien. 

In allen solchen Fällen möchte ich Ihnen rathen, die Warzen 
mit dem scharfen Löffel zu entfernen. 


Wenden wir uns aber von diesen seltenen Vorgängen in der 
Onychopathologie zn den übrigen Nagelerkrankungen, wie sie uns in 
dem gewöhnlichen Verlaufe der Praxis beschäftigen, so gestatten 
Sie mir, zunächst Ihnen einige orientirende Worte über das Wesen 
der Nagelerkrankungen überhaupt vorauszuschicken. 

Wir unterscheiden im Allgemeinen zwischen primären und 
secundären Nagelerkrankungen. Da der Nagel zwar einzig von der 
Matrix gebildet wird, aber zwischen Nagelbett und Platte nach den 
Untersuchungen von Heynold doch ein organischer Zusammenhang 
besteht, so werden die Affectionen der Nagelplatte primär zu nennen 
sein, wenn die Matrix verändert ist. Eine Nagelbetterkrankung in- 
dessen, sowie eine Affection im periungualen oder subungualen Binde- 
gewebe resp. im Periost oder Knochen, wird eine secundäre Nagel- 
veränderung zur Folge haben. In den meisten Fällen können wir 
mit einiger Sicherheit angeben, ob ein krankhafter Process an der 
Matrix oder auf dem Nagelbett vorliegt. Krankhafte Defigurationen 
des Nagels, welche in der Richtung der wachsenden Nagelplatte ver- 
laufen und in derselben langsam, aber stetig ihren Ort verändern, 
deuten auf eine Störung in dem Gebiete der Nagelmatrix hin. De- 
figurationen dagegen, welche ihren Ort nicht verändern oder gar vom 
freien Nagelrande gegen die Lunula hin sich verbreiten, sind auf 
eine Nagelbettaffection zu beziehen. Selten kommen allerdings rück- 
läufige Affectionen vor, die auf eine Matrixerkrankung hindeuten. 
Schliesslich muss aber auch betont werden, dass in gewissen Fällen 
eine strenge Scheidung zwischen primärer und secundärer Nagel- 
erkrankung garnicht möglich ist. 

Nach diesen Vorbemerkungen gestatten Sie mir, dass ich Ihnen 
noch einige symptomatische Nagelerkrankungen demonstrire, zu- 


nächst eine 
Psoriasis unguium. 


Der 36 Jahre alte Beamte K. leidet seit ungefähr 26 Jahren an 
einer Psoriasis vulgaris totius corporis. Die Nagelerkrankung begann 


Ueber Nagelkrankheiten. 13 


sich vor ungefähr 10 Jahren einzustellen. Sie sehen jetzt, m. H.!, 
sämmtliche Nägel beider Hände an ihrem freien Rande bedeutend 
vom Nagelbett abgehoben. Diese Stellen haben eine schmutzig 
gelbliche Farbe, deren Begrenzungslinie mit vielfachen Zacken in 
eine zweite dunkelrothe Zone hineingreift. In dieser proximalen 
Zone sind an einigen Fingern kleine punktförmige wie Hämorrhagien 
aussehende Stellen zu finden, während an anderen sich die besonders 
von Schütz genauer beschriebenen punktförmigen Grübchen zeigen. 
Für letztere passt sehr gut der von Lailler i. J. 1877 gebrauchte 
Vergleich mit einem wurmstichigen Holzstück (citirt nach Heller, 
S. 139). Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir die dunkelroth aus- 
sehenden punktförmigen Stellen für den Beginn der Nagelpsoriasis, 
die Tüpfelungen der N agelplatte aber für ein späteres Stadium halten. 
So lassen sich diese Symptome aus der Analogie mit der anatomischen 
Entstehung der Psoriasis an den übrigen Körperstellen leicht erklären. 
Das primäre ist eine Erweiterung und Neubildung von Gefässen im 
Papillarkórper resp. in dem Leistensystem des Nagelbettes. Durch 
diesen verstärkten Zufluss von Ernährungsmaterial kommt es zu ver- 
mehrter Mitosenbildung in der Keimschicht des Papillarkörpers. Die 
Verhornung geht darnach so schnell vor sich, dass die Hornzellen 
nicht mehr ihre normale Festigkeit und Cohärenz behalten, sondern 
kernhaltig und dadurch weich bleiben. Hierdurch gelingt uns auf 
der gewöhnlichen Haut so leicht die Nagelprobe, d. h. wir können 
die parakeratotischen Psoriasisschuppen abheben und darunter zeigen 
sich dann die punktförmigen aus den kleinsten Capillaren stammenden 
Hämorrhagien. Bei dem Nagel führt diese Parakeratose und abnorme 
Weichheit dazu, dass nun jeder leichte Druck in der weichen Nagel- 
platte einen Eindruck hinterlässt. Die im Laufe des Tages so häufig 
auszuführenden kleinen Bewegungen, wie z. B. Zuknöpfen von Kleidern, 
‚hinterlassen alsdann nach einiger Zeit in der Nagelplatte jene oben 
beschriebenen tüpfelartige Grübchen. 

Bei unserem Patienten erreicht die Erkrankung bisweilen eine 
solche Höhe, dass der Nagel bis zur Hälfte seines Längsdurchmessers 
unterminirt, sich völlig frei hin- und herbewegen lässt. In dieser 
Zeit sei dann besonders das Nagelbett auch gegen den leisesten 
Druck sehr empfindlich. An den Nägeln der Zehen liess sich übrigens 
keine Anomalie nachweisen. 


14 Dr. Max Joseph, 


Therapeutisch habe ich in diesem Falle zunächst von jeder localen 
Therapie Abstand genommen und nur Arsen innerlich (Sol. Acidi 
arsenicosi 0,25:50,0, dreimal täglich 7 Tropfen, jeden Tag um einen 
Tropfen steigend) verordnet: Dasselbe wurde aber sehr schlecht ver- 
tragen, während die nun vorgenommenen Injectionen von Natrium 
arsenicosum (0,1:10,0) keine Intoxicationen nach sich zogen. Unter 
dieser Therapie besserte sich die Psoriasis bisweilen so bedeutend, 
dass, wie der sehr verlässliche Patient angiebt, die Nägel für ge- 
wisse Zeiten keinen Unterschied von den gesunden aufwiesen. 
Während der Unterbrechung der Behandlung aber, welche in Folge 
der Intoxicationserscheinungen nach innerlichem Arsengebrauch noth- 
wendig war, seien Recidive an den Nägeln aufgetreten, welche sich 
nicht zurückgebildet hätten, während die Psoriasis des übrigen Körpers 
stetig abnahm. Die allerdings noch jetzt, wenn auch in geringem 
Masse auftretenden Nachschübe erkennt Patient an dem Zunehmen 
der Nagelaffection. 

Ich wiirde Ihnen rathen, m. H.!, auf dieses letztere Symptom 
mehr als bisher zu achten. Sollte es sich bestätigen, dass natürlich 
nur in solchen chronisch sich dahinschleppenden Fällen die Ver- 
schlechterung der Nagelpsoriasis ein prämonitorisches Symptom für das 
Neuauftreten eines universellen Psoriasisschubes ist, so wäre damit 
der Therapie mancher Dienst erwiesen. In einem solchen Falle 
würde ich rathen, prophylactisch Jodipininjectionen vorzunehmen und 
zwar täglich oder jeden zweiten bis dritten Tag 20,0 der 25proc. 
Jodipinlösung, da ich von demselben gerade bei universeller Psoriasis 
einen günstigen Erfolg gesehen habe. Wie bekannt, hatte vor Jahren 
Haslund innerlich Jodkalium in grossen Dosen bei Psoriasis 
empfohlen. Dasselbe hat sich in der That auch für manche Fälle 
sehr gut bewährt. Es war aber immer schwierig, die Patienten zu 
dieser Cur zu bewegen, da sie natürlich vor dem Jodismus eine 
grosse Scheu hatten. Mit dem Jodipin haben wir nun ein be- 
quemes Mittel zur Hand, um Psoriatiker unter ständige Jodeinwirkung 
zu setzen. Das Jodipin wird subcutan oder intramusculär vor- 
züglich vertragen und verursacht keine Intoxication. 

Die locale Therapie bei der Nagelpsoriasis ist von keinem sehr 
grossen Erfolge begleitet und unterscheidet sich in Nichts von der 
sonst üblichen antipsoriatischen Therapie. 


Ueber Nagelkrankheiten. 15 


Weit öfter, entsprechend "der Häufigkeit der Eczeme überhaupt, 
kommt uns das 


Eczema unguium 
zur Beobachtung. 


Uns interessiren hier weniger die Nagelerkrankungen im Ver- 
laufe des acuten Eczems. Dagegen macht das chronische Eczem 
Anspruch auf grosse practische Bedeutung. Wir stimmen Leloir 
und Vidal!!) völlig bei, wenn sie 2 Arten betonen, in welchen die 
Nägel vom chronisch-eczematösen Process in Mitleidenschaft gezogen 
werden: 1) indem der eczematöse Process bis zur Nagelwurzel und 
bis zur subungualen Cutis vordringt, 2) durch reflectorische Er- 
nährungsstörungen, wie sie das chronische Eczem selbst während 
seiner langen Desquamationsperiode verursachen kann. Dringt in 
dem ersteren Falle das Eczem mit seinen acuten Schüben bis zu 
einem Nagel vor, oder beginnt an seiner Peripherie, so wird die 
periunguale Cutis geschwellt und schmerzhaft. Der Nagel ist druck- 
empfindlich und erscheint wie abgehoben. Der Kranke empfindet 
ausser Brennen und Jucken ein schmerzhaftes Gefühl des Ein- 
schnürens, wie wenn derselbe von einem sehr engen Handschuh- 
finger zusammengepresst würde. Die periunguale Cutis ist ódematós 
geschwellt und ein purulentes Exsudat, welches auf Druck deutlich 
hervortritt, ist daselbst vorhanden. Der Nagel ist trübe, manchmal 
gegen seine Wurzel bräunlich oder schwärzlich, als wenn eine sub- 
unguale Hämorrhagie stattgefunden hätte, nur in Ausnahmefällen 
aber wird der Nagel abgehoben und abgelöst. 


Ein schönes Beispiel hiervon demonstrire ich Ibnen heute an 
dem 34jährigen Flaschenspüler und Bierzapfer A. K. Seit etwa 
16 Jahren, wo Pat. als Kellnerlehrling Fenster putzen musste, litt 
er viel an „erfrorenen Händen“. Es hatten sich oft Frostbeulen, 
auch an den Füssen, gebildet, die bisweilen aufbrachen. Ebenso 
lange leidet er an starken Schweissen an Händen und Füssen von 
unangenehmem Geruch. Der Handschweiss macht sich bemerkbar, 
wenn Pat. unthätig ist, beim Spülen kommt es ihm nicht zum 


11) Symptomatologie und Histologie der Hautkrankheiten. Heft 3 S. 279. 
Hamburg, Vors. 8. XII. 1892. 


16 Dr. Max Joseph, 


Bewusstsein. Das Schwitzen belästigt ihn nur im Sommer, dabei 
schwillt die Hand oft so an, dass sie nicht geschlossen werden kann. 
Am meisten schwitzen Handteller und Finger. 

Vor 3/, Jahren begann die Dorsalseite der ersten Phalanx des 
rechten 4. Fingers am Nagelrande zu schwellen und gelb zu werden. 
Nach wenigen Tagen brach Eiter zwischen Nagel und Nagelfalz 
durch. Dann begann der Nagel zu difformiren, ohne abzufallen. 
Dasselbe wiederholte sich am rechten dritten Finger, sowie am linken 
zweiten und dritten Finger. Bis jetzt besteht der Zustand unver- 
ändert fort. Bei Druck auf den Nagelfalz entleert der Pat. morgens 
etwas Eiter. Das Leiden ist mit mehr oder weniger heftigem Stechen 
verbunden. 

Heute, m! Hl, constatiren Sie nun die Hände mässig cyanotisch, 
von normaler Temperatur, stark schweissig, besonders die Handteller 
und Finger. Rechts an der Schwimmhaut zwischen 3. und 4. Finger 
eine etwa bohnengrosse eczematöse Eruption, welche seit Jahren 
besteht und jugkt. 

An der rechten Hand finden Sie nun die Nägel am 1., 2. und 
5. Finger normal, am 3. und 4. Finger difformirt. Sie zeigen Höcker 
und tiefe Einbuchtungen und haften nur locker an der Matrix. Die 
Farbe der erkrankten Nägel ist schmutzig braun, die Nagelsubstanz 
ist nicht auffällig brüchig oder verdünnt. Die Oberfläche des ersten 
Fingergliedes scheint an den erkrankten Fingern geschwollen und 
etwas geröthet, besonders stark geröthet ist der Nagelfalz, bei starkem 
Drucke besteht nur leichte Empfindlichkeit. 

An der linken Hand sind in gleicher Weise der zweite und 
dritte Finger erkrankt. Hier ist die Matrix druckempfindlich, und 
an den Seitenrändern des Nagels besteht eine ausgeprägte Schmerz- 
haftigkeit. Streift man den Falz von den kranken Nägeln zurück, 
so lässt sich Eiter zwischen Nagelplatte und Nagelfalz auspressen. 

Abgesehen von diesen direkt oder reflectorisch fortgeleiteten 
Nageleczemen, bei denen wie in dem oben demonstrirten Falle die 
Diagnose ja wesentlich erleichtert wird dadurch, dass sich an der 
Hand des Patienten ein chronisch eczematöser Process vorfand und 
ausserdem noch eine gewerbliche Schädlichkeit für die Entstehung 
dieser Eczeme in Betracht kam, giebt es nun aber noch die viel- 
leicht viel wichtigeren localisirten Nageleczeme, wie sie 


Ueber Nagelkrankheiten. 17 


Heller (S. 126) mit Recht von den fortgeleiteten abtrennt. Hier- 
bei kann der Nagel die verschiedenartigsten Veränderungen erleiden. 
Er kann verdünnt oder verdickt sein, er kann stark deformirt 
werden, indem er Längs- oder Querfurchen, Grübchen oder Hervor- 
wölbungen zeigt, kurz hier kann das Nageleczem sich iu seiner 
Proteusart in den verschiedensten Veränderungen zeigen, die man 
sämmtlich nur auf erhebliche Nutritionsstörungen zurückführen kann. 

Die Diagnose ist in diesen Fällen natürlich nicht leicht, da 
keine der beschriebenen Veränderungen eine absolut pathognomonische 
Bedeutung beanspruchen darf. Indem wir aber die übrigen, hier in 
Betracht kommenden Nagelerkrankungea, vor allem Trichophytie 
und Psoriasis, ausschliessen, lässt sich doch meist die Krankheit richtig 
erkennen. 

So ist wohl in dem nächsten Falle die Diagnose eines locali- 
sirten Nageleczems doch zutreffend, trotzdem am Körper keinerlei 
Art von Eczem bestand. 

Es handelt sich auch hier merkwürdigerweise wieder um einen 
Flaschenspüler und Bierzapfer, den 29jährigen A. M. Derselbe soll 
als Kind scrophulös gewesen sein, hat vor einem Jahre eine 
Gonorrhoe gehabt, und war niemals syphilitisch inficirt Bei 
trockener Arbeit fühlt er bald starke Schweissbildung an den 
Händen, während er an den Füssen nicht darüber zu klagen hat. 
Vor 9 Monaten begann die vierte linke Endphalange sich zu röthen 
und anzuschwellen. Zwischen Nagelfalz und Nagelplatte liess sich 
Eiter ausdrücken. Dann schwärzte sich der Nagel und löste sich 
ab. Darauf bildete sich bald ein neuer, der am distalen Ende 
wieder abfiel, während er proximal erhalten blieb. Das distale 
Stück, etwa eine Hälfte umfassend, löst sich seitdem abwechselnd ab 
und bildet sich dann wieder von neuem. Dasselbe spielte sich seit- 
dem auch links am dritten Nagel, rechts am 5. sowie 2. Nagel ab. 
Jüngst erkrankte noch der vierte Nagel rechts. 

Sie sehen nun heute, m. H., die Oberfläche der erkrankten 
Endphalangen leicht geröthet und etwas geschwollen, auf Druck 
nur wenig empfindlich, die Haut ist trocken, Temperatur normal. 
Die Nägel des zweiten und dritten rechten, sowie des dritten und 
vierten linken Fingers zeigen das gleiche Bild. An der proximalen 


Hälfte sitzt ein stark verdickter Nagel. Distalwärts verdünnt er 
2 


18 Dr. Max Joseph, 


sich und haftet daselbst fest im Nagelbett Die distale Hälfte des 
Bettes ist frei zu Tage liegend, mit harter unempfindlicher Haut be- 
deckt. Der Nagel selbst ist höckerig und bräunlichgelb verfiirbt. 
Der rechte fünfte Nagel ist auch noch in seinem distalen Theil er- 
halten. Er schneidet aber scharf von dem übrigen Nagel in einem 
nach proximaler Seite offenen Halbkreise ab. Die distale Partie ist 
im Gegensatze zur übrigen regulär gestaltet. Zuletzt erkrankt ist 
der rechte vierte Nagel. Auch hier ist bereits proximalwärts Ver- 
dickung vorhanden. Die distale Partie wächst auffallend nach oben, 
und lässt einen breiten Raum zwischen sich und dem Nagelbett 
frei. Letzteres ist empfindlich. Die Seitenränder des Nagels liegen 
frei zu Tage, haften aber noch ziemlich fest. Eiter ist nirgends 
mehr sichtbar. Der erste, zweite und fünfte Nagel links, sowie der 
erste Nagel rechts sind normal. 

In diesen beiden Fällen war immer noch ein acutes Exacer- 
bationsstadium des chronisch eczematösen Processes zu verzeichnen, 
welches gewissermassen zur Erleichterung der Diagnose beitrug. 
Nun giebt es aber localisirte chronische Nageleczeme, die ohne jede 
Spur von derartigen Reactionserscheinungen verlaufen. Dahin ge- 
hört der nächste Fall, welchen ich Ihnen demonstrire: 

Der 42 Jahre alte Galvaniseur steht in ärztlicher Behandlung 
wegen eines complicirten Herzfehlers und einer ausgedehnten Acne 
necrotica des bebaarten Kopfes. Seit 5 Jahren leidet er an einer 
Nagelerkrankung. In seiner täglichen Beschäftigung hat er mit 
Cyankali, Arsenik und Säuren zu thun. 

Sie constatiren hier die Nägel sämmtlicher Finger beider Hände 
spröde und leicht brüchig, aber zum grössten Theil von normaler 
Dicke. Vom freien Rande der Nägel sieht man eine gelblichgraue 
Zone gegen den Nagelfalz sich ausbreiten. Ihre Ränder sind zackig 
und umgreifen häufig inselartige anscheinend gesunde Partieen des 
Nagelbettes. Diese Stellen sind vollkommen untermivirt, es findet 
also eine Ablösung der Nagelplatte von ihrem Bette statt. Die 
Contouren dieser gelblichen Zone heben sich scharf von dem nicht 
ergriffenen Nagelstück ab, das bräunlicher erscheint, als sonst die 
Farbe der Nägel zu sein pflegt. Die Lunula ist vorhanden und 
normal tingirt, das Eponychium ist weit vorgeschoben, die Längs- 
rillen der Nagelplatte sind unverändert. 


Ueber Nagelkrankheiten. 19 


Am Mittel- und Zeigefinger der linken Hand ist der Nagel in 
der Mittellinie stark verdickt und leistenartig emporgewölbt. Am 
freien Rande des Nagels zeigen sich besonders am dritten Finger zu 
beiden Seiten dieser starken Leiste kleine Einrisse, die nach Angabe 
des Patienten zunehmen und allmählich bis zur Lunula vordringen. 
Diese Einrisse sind in der gelblichen Zone vorhanden, gehen aber 
nicht auf die gesunden Stellen der Nagelplatte über. Der vierte 
Finger der linken Hand zeigt das letzte Stadium einer solchen Ver- 
nichtung der Nagelplatte. Es ist die frühere Leiste verloren ge- 
gangen und hat einem 2—3 mm breiten Graben Platz gemacht, der 
die beiden noch vorhandenen Nagelhälften von einander scheidet. 
Diese erheben sich gegen den Graben hin wallartig in die Höhe 
Das Ganze macht den Eindruck einer Narbe mit wallartig erhabenen 
Rändern. Die Zehennägel sind im wesentlichen als normal zu be- 
zeichnen. 

Aber auch in diesem Falle war die Diagnose, nachdem natürlich 
vielfache negative Untersuchungen auf Trichophytie angestellt waren, 
immer noch dadurch erleichtert, dass eine der gewerblichen Schädi- 
gungen vorlag, von welchen aus uns ja auch sonst auf der Haut die 
Entstehung von arteficiellen Eczemen häufig genug begegnet. Nun 
giebt es aber noch Fälle von localisirtem Nageleczem, wo selbst diese 
Ursache vollkommen fehlt. 

Einen solchen Fall bin ich ebenfalls in der Lage Ihnen heute 
vorzustellen. Bei diesem sonst gesunden 18jährigen Mädchen, welches 
keiner gewerblichen Beschäftigung nachgeht, sehen Sie auf sämmtlichen 
Fingernägeln je zwei bis fünf quergestellte Furchen mit geringer 
Vertiefung ausgebildet. Die Nägel fangen allmählich an rauh und 
brüchig zu werden, der vordere Rand bröckelt ab. So wurden fort- 
schreitend alle Fingernägel ergriffen. 

Mit diesen Beispielen glaube ich Ihnen, m. H.!, heute genügend 
Anhaltspunkte für die in Ihrer Praxis Ihnen begegnenden Nagel- 
eczeme gegeben zu haben. Gestatten Sie mir noch ein Wort über 
die Behandlung. In dem letzterwähnten Fall des jungen Mädchens 
erfolgte spontan in einigen Monaten eine vollständige Restitutio in 
integrum. Im Uebrigen schlage ich Ihnen eine sehr einfache Therapie 
vor. Ich lasse zunächst zur Erweichung der erkrankten Nagel- 


partieen Einwicklungen mit 10°/,igem Salicylseifenpflaster vornehmen 
oF 


20 Dr. Max Joseph, 


und alsdann Tag und Nacht folgende Theermischung auf die kranken 
Stellen aufpinseln: 
Rec. 
Liquor. carbonis deterg. angl. 10,0 
Zinci oxydati 


Amyli ana 20,0 
Glycerini 30,0 
Aq. dest. ad 100,0 


D. S. Zum Umschütteln. 

Die Flüssigkeit wird vor dem Gebrauch tüchtig umgeschüttelt. 
In dieser Anwendungsart erziele ich gute Erfolge. Noch vor kurzem 
sah ich in B. bei einem Officier, der schon vielfach anderweitig be- 
handelt war, von dieser Methode in einigen Monaten eine auffallende 
Besserung, an einzelnen Nägeln Heilung eintreten. 

Leider kann ich Ihnen von den übrigen symptomatischen Nagel- 
erkrankungen zur Zeit keinen Fall von Trichophytie oder Favus 
zeigen. Dieselben sind nicht sehr häufig, und ich muss mich darauf 
beschränken, Ihnen einige Mittheilungen über die characteristischen 
Eigenschaften dieser Nagelkrankheiten zu machen, wie ich sie in 
meinem Lehrbuche der Hautkrankheiten (4. Aufl., Leipzig, Thieme, 
1902, S. 317 und S. 332) beschrieben habe. 

Onychomycosis favosa. 

An den Nägeln der Hände, viel seltener an denen der Füsse 
finden sich dielben charakteristischen Veränderungen, wie an anderen 
Körperstellen, schwefelgelbe Einlagerungen in die Nagelsubstanz, 
welche schliesslich zur Destruction der Nägel führen. Zuweilen 
sind die Nägel aber auch diffus erkrankt, der ganze Nagel ist getrübt 
und briichig. Alsdann ist die Unterscheidung von den Nagelver- 
änderungen, welche wir bei andern chronischen Hauterkrankungen 
finden, sehr schwierig, wenn uns nicht der Pilzbefund die sichere 
Diagnose gestattet. Meist sind allerdings an andern Stellen, besonders 
am behaarten Kopfe, Favuseruptionen vorhanden, und dadurch wird 
die Diagnose erleichtert. Nur selten kommt ein primärer Favus 
der Nägel vor. Er wurde nach Robert Bernhardt (Wien. Klinik. 
9. Heft. September 1901) nur als Berufsleiden bei Epilatoren (z. B. 
Mahon in Paris litt daran) am Daumen und am Zeigefinger der rechten 
Hand beobachtet. Ausser der kosmetischen Verunstaltung verursacht 


Ueber Nagelkrankheiten. 21 


der Nagelfavus hóchstens ein leichtes Jucken, sonst macht er keine 
Beschwerden. 

Anatomisch zeigt sich auch hier wiederum, wie auch die 
neuesten Untersuchungen Fabry’s lehren, dass die Pilze nur in dem 
epithelialen Teile des Nagels sitzen, dagegen nie in die Cutis eindringen. 

Die Prognose ist immer günstig, obwohl der Nagelfavus ein 
sehr hartnäckiges Leiden. darstellt. Wenn der Process auch nach 
Marianelli (Sul favo delle unghie, Pisa 1892) zuweilen einmal 
spontan abheilen kann, so bedarf er doch meist einer gründlichen 
Behandlung. Man schneidet die kranken Partien ab, oder entfernt 
sie mit einer Nagelfeile und lässt dann entweder 10°/,iges Chry- 
sarobin-Traumaticin, 10°/,ige Pyrogallolsalbe oder 1°/,igen Sublimat- 
alkohol mehrmals täglich gebrauchen. Man befolgt einen ähnlichen 
Behandlungsmodus, wie ich Ihnen denselben für den behaarten Kopf 
geschildert habe, und nach einer behandlungsfreien Zeit sieht man 
wieder unter dem Mikroskope nach, ob noch Pilze da sind. Im be- 
jahenden Falle beginnt man von Neuem mit der Behandlung u. s. w. 

Verhältnissmässig häufiger, aber immer noch selten genug, kommt 
die Trichophytie der Nägel vor. 

Onychomycosis tonsurans. 

Hierbei findet man den Nagel zuerst an einzelnen Punkten, 
später im Ganzen, gelblich weiss verfärbt, aufgeblättert mit reichlichen 
Einrissen. Mitunter zeigen sich neben diesen Erscheinungen der 
Atrophie auch solche der Hypertrophie, sodass der ganze Nagel etwas 
verdickt, onychogryphotisch erscheint. Von manchen Seiten wird 
gerade in diagnostischer Hinsicht auf diese Verbindung von Atrophie 
und Hypertrophie bei der Onychomycosis trichophytina Gewicht ge- 
legt. Meist wird aber die Diagnose überhaupt erst durch den objectiven 
Nachlass, den Mycelien und der gerade hier besonders intensiven 
Vegetation von Gunidien des Trichophyton tonsurans gestellt werden. 
Die Diagnose wird erleichtert, wenn an irgend einer andern Stelle 
des Körpers schon Herpes tonsurans zu finden ist. 

Die Therapie unterscheidet sich in nichts von der beim 
Favus der Nägel angegebenen. Erwähnt sei nur noch, dass Sabou- 
raud Umschläge mit folgender Lösung (Jodi puri 1,0, Kalii jodati 2,0, 
Aqua destill. ad 1000,0) machen lässt. Ich sah in einem Falle 
Heilung durch Umschläge mit absolutem Alcohol eintreten. 


22 Dr. Max Joseph, 


Die syphilitischen Nagelerkrankungen in den Bereich unserer 
Betrachtungen zu ziehen, liegt heute nicht in meiner Absicht, da 
ich schon bei der Uebersicht über die Lehre von den venerischen 
Erkrankungen Ihnen die praktisch wichtigsten Thatsachen hierüber 
mitgetheilt habe. Nur möchte ich Ihnen heute noch einen Fall von 

Onychia sicca syphilitica 
vorstellen, der seit kurzer Zeit in meiner Beobachtung steht. 

Der jetzt 25 Jahre alte Patient von kräftiger Constitution stammt 
aus gesunder Familie und ist früher nie erheblich krank gewesen. 
Vor 7 Jahren inficirte sich der Kranke mit einem Ulcus durum auf 
dem dorsum penis. Es folgten Drüsenschwellungen des ganzen 
Körpers. Er machte bald darauf eine Inunctionscur von 25 Packeten 
grauer Salbe ä 5,0 durch. Im folgenden Jahre bemerkte er Papeln 
am Scrotum, und da er dies als ein Recidiv ansah, obwohl sonstige 
Erscheinungen nicht vorhanden waren, wiederholte er sogleich die 
Inunctionscur. In den folgenden drei Jahren machte er noch fünfmal 
eine Einreibungscur durch, obwohl keinerlei Erscheinungen auftraten, 
nur um sich „vollständig sicher zu heilen“, so dass er im Ganzen 
etwa 875,0 Unguent. cinereum verbraucht hat. Ausserdem hat er 
viele Flaschen Jodkali eingenommen, deren genaue Zahl er nicht 
angeben kann. 

Seit einigen Monaten bemerkte er nun eine Erkrankung seiner 
Fingernägel, indem auf der convexen Fläche des Nagels an der 
Lunula sich die Hornschicht in zahlreichen Schüppchen abblätterte. 
Sehr bald bildete sich eine subunguale Hyperkeratose, die sich vom 
freien Rande oft bis in die Mitte des Nagels hinein erstreckte, sie 
war unregelmässig, bildete Riffe und Erhabenheiten. Eine Folge 
dieser Verhornung war, dass der Nagel aus dem Nagelbett empor- 
gehoben wurde. Da ausserdem die Nagelplatte leicht brüchig wurde, 
so kam es oft vor, dass der Nagel, sobald er wenige Millimeter 
die Fingerspitze überragte, bei der geringsten Veranlassung abbrach 
und zwar soweit, wie der Nagel nicht auf verhornter Fläche auflag. 
Aus diesem Grunde schnitt Patient täglich die subungualen Horn- 
zellenansammlungen ab, um eine glatte Fläche herzustellen. Die 
Fingernägel erkrankten sämmtlich nacheinander, während die Nägel 
der Zehen normal blieben. 

Augenblicklich constatiren Sie, m. H., dass die convexe Partie 


Ueber Nagelkrankheiten. 23 


aller Nägel das Bild einer von vielen unregelmässigen Quer- und 
Längsfurchen durchzogenen Fläche darbietet, in der sich ausserdem 
noch eine Unmenge kleiner Löcher befinden, die wie mit einem 
Stichel herausgekratzt erscheinen. Hin und wieder sitzen auf dem 
Nagel lose Schüppchen auf. Die freie Fläche des Nagelbettes ist 
rauh, einer Schwielenbildung gleichend. Die Nägel sind heller als 
normal und glanzlos, einige von den erkrankten Nägeln erreichen 
nur etwa drei Viertel der normalen Länge. Am Körper sind keine 
sonstigen Zeichen der constitutionellen Lues mehr zu finden. 

Mir scheint es zweifellos, dass es sich hier um eine syphilitische 
Nagelerkrankung handelt. Ich werde eine locale und allgemeine 
specifische Behandlung einleiten, um zu sehen, wie: weit sich der 
Process zuriickbildet. Nach Heller (S. 163) ist diese Nageler- 
krankung sehr hartnäckig, in einem Fall Bäumlers’s dauerte sie 
8 Monate, in Heller’s Fällen 6 Monate und 1 Jahr. 

Alsdann, m. H., bin ich noch in der Lage, Ihnen ein selteneres 
Vorkommniss aus der Nagelpathologie heute zu demonstriren, eine 
subunguale Exostose. 

Betroffen ist hiervon ein 15jáhriger junger Mann, welcher seit 
einem halben Jahre an einer Geschwulst unter dem inneren Seiten- 
falze des rechten grossen Zehennagels leidet. Es fiel ihm ein Holz- 
klotz auf diese Stelle, die nach dem Unfall stark gequetscht wurde, 
ohne dass indess der Nagel abging. Seit 14 Tagen bemerkt der 
Patient eine Eiterung unter dem Nagelrande, erst hiernach wurde 
ihm die Geschwulst auffällig. Es stellten sich zugleich starke 
Schmerzen beim Gehen ein. 

Wie Sie nun, m. H., sehen, zeigt sich unter der medianen 
Nagelhälfte eine etwa kirschgrosse, harte, höckerige, gelbliche Er- 
habenheit, die an der Stelle, wo der freie Nagelrand herüberzieht, 
eine Oeffoung hat, aus welcher sich auf Druck dicker Eiter entleert. 
Die Geschwulst liegt zur kleineren Hälfte unter der Nagelplatte, 
die infolge von Bluterguss unter ihr eine braunbläuliche Verfärbung 
zeigt. Nach Entfernung des Nagels gelangt man auf eine starke 
subunguale Hornschicht, unter welcher die Geschwulst liegt. Die 
beiden von Herrn Collegen Frey ausgeführten und mir in freundlichster 
Weise zur Verfügung gestellten Zeichnungen in Fig. 2 geben die 
Lage des Tumors gut wieder. 


94 Dr. Max Joseph, 


Die Diagnose wurde besonders wegen der Härte auf eine 
Exostose gestellt und fand nach der Exstirpation durch die micro- 
scopische Untersuchung ihre Bestätigung. Auch von dem histologischen 


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Figur 2. 
Bilde giebt die in Figur 2 dargestellte Zeichnung eines senkrechten 
Durchschnittes eine gute Anschauung. Es fand sich in der Mitte 
spongiöses Gewebe mit Havers’schen Canälen, darüber Knorpel- 
substanz und am meisten noch aussen Bindegewebe. 

Dieser von Hrn. Collegen A. Rosenstein mir in liebens- 
wiirdigster Weise zur Veröffentlichung überlassene Fall entspricht 
in Bezug auf die traumatische Veranlassung fast völlig einer Be- 
obachtung Gillette's!?). Auch hier bestand die Exostose allerdings 
unter dem Zeigefingernagel nach einer etwa 1 Jahr zuvor erlittenen 


12) L'Union 1875. 





Ueber Nagelkrankheiten. 25 


Einklemmung eines Fingers. Dupuytren und Legoupil!®) glaubten, 
dass die Exostosen am häufigsten die Nagelphalanx der grossen Zehe 
betreffen und durch Stiefeldruck entstehen. Indess führten Lisfrane 
und Velpeau auch einige Fälle von Exostosen unter den Finger- 
nägeln an. Meist waren übrigens, wie in unserem Falle, jugendliche 
Individuen hiervon betroffen. Auch Heller (S. 108) citirt nach 
André, welcher übrigens, wie ich glaube, die erste Beschreibung 
einer solchen Exostose i. J. 1756 gab, dass in 9 Fällen das Durch- 
schnittsalter (15—24) 20 Jahre betrug und Frauen öfter erkranken 
sollen. Legoupil giebt ebenfalls an, dass in 10 Fällen die be- 
treffenden Individuen in einem jugendlichen Alter waren. Débron !#) 
glaubt sogar, dass die Exostosen nicht gar so selten vorkommen. 

Aus den histologischen Untersuchungen von Nicaise15), Leloir!®) 
u. a. ergiebt sich stets das übereinstimmende Bild, wie es auch in 
unserem Falle vorhanden war. Auf dichtes Bindegewebe folgen 
zuerst Knorpelzellen und dann nach dem Centrum zu Knochen- 
substanz. Nicaise unterscheidet zwei Arten, je nach dem die Exostose 
vom Periost oder vom Knochen selbst ausgeht. Ich möchte fast an- 
nehmen, dass ebenso wie in dem Falle von Gillette so auch in 
meiner Beobachtung es sich um eine periostale Exostose gehandelt 
hat und dieselbe oft das Product einer Periostitis ossificans trau- 
matica ist. 

Dass die Therapie dieser Exostosen nur eine chirurgische sein 
kann, versteht sich von selbst. 

Vielleicht interessirt Sie noch das Röntgenbild einer Exostosis 
sub ungue hallucis sin. bei einem 27jährigen Manne. In dem von 
Herrn Dr. Kronecker aufgenommenen und mir freundlichst zur 
Verfügung gestellten Röntgenbilde auf der nächsten Seite (Fig. 3) 
sehen Sie den Tumor, dessen Entfernung durch meinen Freund 
Dr. A. Rosenstein leicht gelang, sich sehr deutlich abheben. 

Zum Schluss, m. H.!, gestatten Sie mir noch, Ihnen eine 

Leukonychia totalis 
zu demonstriren, eine Erkrankung, welche zu den selteneren gehört 


18) Revue méd. chir. Juli 1850. 

14) Gaz. hebd. VII. 22. 1860. 

15) Gaz. de Paris. 18. 1875. 

16) Progrès med. IX. 25. S. 485. 1881. 


26 Dr. Max Joseph, 


und im wesentlichen erst in den letzten Jahren die allgemeinere 
Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. 





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Figur 3. 

Es ist dies ein 19jähriger junger Mann, welcher seit den ersten 
Lebensjahren an einer typischen Prurigo ferox leidet und bei welchem 
sich das jetzige Nagelleiden erst seit ungefähr einem Jahre aus- 
gebildet hat. Sie sehen nun die beiden Daumennägel noch von 
normaler Farbe, während alle übrigen Fingernägel schneeweiss ge- 
worden sind und dadurch ein sehr auffälliges Aussehen bekommen 
haben. Die Zehennägel sind völlig normal. Ueber die Entstehung 
giebt der Patient an, dass zuerst sich verschiedene kleine weisse, 
hell durchscheinende Streifen auszubilden begannen, welche später 
immer grösser wurden und allmählich zusammenflossen, bis die Nägel 
total weiss wurden. 


Ueber Nagelkrankheiten. 27 


Gleich wie bei den Haaren ein Ergrauen an umschriebenen 
Stellen eintritt, Poliosis circumscripta, so sieht man auch häufig an 
circumscripten Partieen der Nägel weisse Flecken auftreten. Man 
bezeichnet sie im Volksmunde als Nagelblüthen und sie gelten als 
Schönheitsfehler. Dass bei den Haaren wie bei den Nägeln diese 
weissen Stellen durch Lufteintritt entstehen, wird allgemein zugegeben. 
Diese Leukopathia unguium, für die mit Recht Heller (S. 87) die 
Bezeichnung Leukonychia punctata vorschlägt, ist sehr häufig 
bei vielen sonst gesunden Personen zu finden. 


Zuweilen aber treten diese weissen Punkte durch Grösserwerden 
und Confluiren der einzelnen Flecke in Form grösserer Streifen auf, 
welche von einer Seite zur anderen des Nagels ziehen und in 
mehreren parallel zu einander verlaufenden Linien dem Nagel ein 
eigenthümliches Aussehen verleihen. Wenn Heller erwähnt, dass 
für diese Leukonychia striata nur zwei Fälle in der Literatur 
bekannt sind, so glaube ich nicht, dass hieraus ein zutreffender 
Schluss auf das wirkliche Vorhandensein dieser eigenthümlichen 
Anomalie gezogen werden kann. Ich glaube, dass diese Affection 
in mehr oder weniger erheblicher Ausbreitung recht háutig vorkommt 
und dass diese Fälle nur nicht veröffentlicht sind, weil sie zu wenig 
Interesse boten. So sagt z. B. auch neuerdings Treves!”), dass er 
diese Leukonychia striata sehr häufig bei Geisteskranken, besonders 
solchen mit periodischer Manie angetroffen habe. Wenn er allerdings 
daraus einen ätiologischen Rückschluss zieht, so möchte ich dem 
entschieden widersprechen, da man diese Anomalie auch bei sehr 
vielen absolut gesunden Personen trifft. 


Dagegen ist die Leukonychia totalis allerdings selten und mit 
dem Ihnen eben demonstrirten sind in der Litteratur im Ganzen 
nur 7 Fälle bisher bekannt geworden. Abgesehen von dem Falle 
Morrison’s!®), welchen wir wohl besser als Leukonychia striata 
bezeichnen können, wurden 3 Jahre später von Giovannini!?) und 
U nna?) gleichzeitig je ein Fall von Leukonychia totalis beschrieben. 


— 


11) Giorn. dell’ Acad. de Med. di Torino. April 1900. 

18) Viertelj. f. Dermat. u. Syph. 1888. 

19) Internat. Atlas seltener Hautkrankheiten. Bd. VI. 1891. 
20) Internat. Atlas seltener Hautkrankheiten. Bd. VI. 1891. 


28 Dr. Max Joseph, 


Später haben dann Colombini?!) und ich??) je einen Fall ver- 
öffentlich. Dann habe ich noch einen Fall in der Berl. Dermat. 
Ges. am 14. Juni 1898 vorgestellt und ebenso haben Parkes-Weber 
und Krieg?®) einen solchen in der Dermat. Soc. of London demonstrirt. 
Auch von Wallace A. Briggs?!) sehe ich, dass ein Fall von 
Leucopathia unguium of nervous origin: coincideure of Dermatosis: 
non descript disease of nails beschrieben ist. Da ich mir aber die 
Originalarbeit nicht habe verschaffen können, so weiss ich nicht, ob 
dieser Fall auch zur Categorie der Leukonychia totalis gehört. 

Jedenfalls liegt schon, wie Sie m. H. sehen, ein schönes Beob- 
achtungsmaterial über diese Erkrankung vor. Das klinische Bild 
ist in allen das gleichartige und einfórmige. In langsamem Fort- 
schreiten werden die Nägel vollkommen weiss. Anatomisch können 
wir constatiren, dass das Wesen der Affection in einem abnormen 
Luftgehalt des Nagels zu suchen ist. Es ist also hier derselbe Vor- 
gang, eine pathologische Vermehrung des Luftgehaltes, der auch 
bei den Haaren eine weisse Verfärbung herbeifiihrt. Nur entsteht 
das Ergrauen der Haare noch daneben durch das Verschwinden 
des normalerweise in ihnen vorhandenen Pigmentes, während die 
Nägel niemals Pigment enthalten. 

In der That haben auch eine Reihe von Autoren das gleich- 
zeitige Vorkommen einer Leukonychia mit Alopecia areata be- 
schrieben. Einen besonders schönen Fall haben Darier und Le 
Sourd ?5) vorgestellt, auch Brocq und Sabouraud?*) haben solche 
Fälle gesehen. Eine Alopecia areata mit Leukonychia damonstrirte 
fir Abraham in der englischen Dermat. Ges. Pernet?”), und 
neuerdings hat besonders Audry?®) darüber einige Beobachtungen 
mitgetheilt. 

Ich habe bisher nur einmal Gelegenheit gehabt, eine Nagel- 
erkrankung bei Alopecia areata selbst zu beobachten. Es handelte 


21) Riforma med. 1894. No. 151. 

22) Stereosk. med. Atlas. 17 Lief. 1896. 

23) British. Journal of Dermat. März 1899. S. 120. 

2) Occidental Med. Times (San Francisco). 1 Febr. 1901. 

25) Annales de Dermat. et de Syph. 1898. S. 1009. i 
2) Annales de Dermat. et de Syph. 1898. S. 1012. 

27) Brit. Journ. of Dermat. 1900. 8. 100. 

28) Journ. des mal. cut. et syph. 1902. März. 


Ueber Nagelkrankheiten. 29 


sich um einen 11 jährigen Knaben mit totaler Alopecia areata maligna 
Derselbe war bis zu seinem sechsten Lebensjahre vollkommen 
gesund gewesen und hatte einen gutentwickelten Haarwuchs gezeigt 
Allmählich im Anschluss an einen Scharlach entwickelte sich etwa 
ein halbes Jahr danach ein circumscripter Haarausfall hinter den 
Ohren. Angeblich durch Anwendung eines Salbenstiftes sollen dann 
die übrigen Haare ausgegangen sein. Jedenfalls stellten sich sehr 
bald andere kahle Flecke ein, bis nach etwa 1!/, Jahren alle Haare 
nicht nur des Kopfes, sondern überhaupt des ganzen Körpers mit 
Einschluss der Flaumhaare ausgefallen waren. 

Hier fanden sich nun folgende Veränderungen nur an den 
Fingernágeln. Sämmtliche Nägel beider Hände zeigen zwar eine 
normale Färbung, aber ein vollkommen anormales Aussehen. Es 
finden sich eine grosse Anzahl kleiner nicht sehr tief sitzender 
ziemlich oberflächlicher Tüpfelungen, die in mancher Hinsicht eine 
gewisse Aehnlichkeit mit der Psoriasis zeigen. Zum Unterschiede 
von derselben haben die einzelnen Tüpfel keine röthliche Verfärbung 
in der Tiefe, sondern eine vollkommen normale Farbe. Während 
ferner bei der Psoriasis vulgaris diese Tüpfelungen gewöhnlich 
ziemlich gross sind und im Durchschnitt Stecknadelkopfgrösse er- 
reichen, waren sie hier viel kleiner etwa von der Grösse einer 
Stecknadelspitze. Während ferner bei der Psoriasis immer nur 
wenige derartige Tüpfelungen vorhanden sind, fand man hier eine 
Unzahl derselben, sodass fast kaum noch eine normale Stelle des 
Nagels sichtbar war. Nur an der Lunula waren noch normale Ver- 
hältnisse vorhanden, fast der ganze übrige Nagel war erkrankt. 
Hierdurch erhielt der ganze Nagel ein wurmstichiges Aussehen. 

Ob hier die Nagelerkrankung in der That auf die gleiche 
Ursache wie die Alopecia areata zurückgeführt werden muss oder 
nur eine zufällige Begleiterscheinung der Alopecia areata ist, möchte 
ich nach dieser einen Beobachtung noch dahingestellt sein lassen. 

Die letzte Ursache der Leukonychie ist für uns allerdings noch 
in Dunkel gehüllt. Jedenfalls hat der feinere Bau der Nagelzellen 
eine Veränderung erlitten, die das Eindringen von Luft gestattet. 
Auch Heller (S. 90) glaubt, dass die Annahme einer von der 
Matrix ausgehenden mangelhaften Bildung der Nagelzellen, die den 
Lufteintritt in und zwischen die Zellen ermöglicht, die ganze Affection 


~ 


30 Dr. Max Joseph, 


erklärt. Unna vermuthet, dass die einzelnen Nagelzellen weniger 
hart und trocken als im normalen Zustande wären. Beim Vorschieben 
schrumpften nun die älteren Zellen durch Wasserverlust und nach 
dem freien Rande entstände ein abnorm poröser Nagel, der sich von 
vorne her nach Massgabe der sich bildenden Hohlräume mit Luft 
füllt. Auch Escheverria?°) spricht davon, dass die abnorm weichen 
Nägel der Leukonychie grössere Zellen der Nagelplatte haben, welche 
die Färbemittel gegenüber Entfärbungsmitteln besser beibehalten als 
unter normalen Verhältnissen. Heidingsfeld*% konnte allerdings 
keine Luftinfiltration nachweisen. Er glaubt, dass die Nagelzellen 
während ihrer Entwickelung aus der Matrix die physiologische Ver- 
hornung nicht eingehen, sondern durch Traumen und andere patho- 
logische Einflüsse daran verhindert werden und daher eine lebhaftere 
Farbenanziehung besitzen als die umgebende, verschonte normale 
Nagelsubstanz. 

Bei meinen Patienten war von einer abnormen Weichheit und 
Porosität der Nagelsubstanz nichts zu constatiren. Bei meinem ersten 
veröffentlichten Falle von Leukonychia totalis bestand bei Beginn 
des Leidens eine Schmerzhaftigkeit der distalen Fingertheile, wodurch 
der Patient belästigt wurde. Heller legt auf dieses Symptom einiges 
Gewicht, da er auch nach einer Beobachtung Bielschowsky's daran 
denkt, dass trophisch-nervöse Störungen für die Aetiologie dieser 
Leukonychie in Betracht kommen. Den heute Ihnen, m. H., demon- 
strirten Fall könnte man vielleicht auch damit in Zusammenhang 
bringen, da die Prurigo auch von vielen als Neurose betrachtet wird. 
Mir scheint es aber zweifelhaft, ob in der That die Leukonychia 
totalis irgend einen ätiologischen Zusammenhang mit der Prurigo 
hat. Dann müsste man diese Nagelerkrankung häufiger bei Prurigo 
sehen. Mir ist aber davon nichts bekannt. Vielleicht achten Sie 
selbst später, m. H., auf ein derartiges Vorkommniss. 

Eine auffallende Erscheinung bei dieser Leukonychia totalis ist 
aber das frühzeitige Auftreten der Erkrankung. Der Patient Unna’s 
glaubte sogar, dass er die Affection mit zur Welt gebracht habe, da 
er sie schon als kleines Kind bemerkte. Das legt die Vermuthung 
nahe, dass es sich um eine angeborene Anomalie handelte. Auch 


22) Mon. f. prakt. Dermat. XX. 2. 1895. 
°°) Journ. of cutan. and genito-urin. dis. 1900. S. 490. 


Ueber Nagelkrankheiten. 31 


die erbliche Belastung scheint eine Rolle zu spielen. Dafiir spricht 
der Umstand, dass der Patient von Giovannini eine Syndactylie 
besass, welchen Bildungsfehler in genau derselben Weise auch die 
Mutter aufwies. Die Mutter des Unna'schen Patienten bekam sehr 
früh weisse Haare, während der Vater des Patienten von Colombini 
schon mit 30 Jahren circumscripte weisse Stellen in seinem schwarzen 
Haupthaare hatte. 

Diese Thatsachen gewinnen an Interesse dadurch, dass ich in 
einem Falle von Leukonychia totalis, den ich in der Berl. Dermat 
Ges. am 14. Juni 1898 vorstellte, eine Anomalie der Zähne demon- 
striren konnte. Wir finden demnach Abnormitäten an jenen Ge- 
bilden, die dem äusseren Keimblatte angehören, den Nägeln, Haaren 
und Zähnen. 

Eine Beseitigung dieser Affection ist uns nicht möglich. Man 
kann nur versuchen diesen Zustand gewissermassen durch Schminken 
zu übertünchen. Hierzu kann ich Ihnen ein Polirpulver empfehlen von 

Rec. 
Stannii oxydat. 10,0 
Carmini 0,1. 

Dasselbe wird mehrere Male täglich verrieben. So wird es 
Ihnen, m. H., leicht gelingen, diese weissen Nägel in das Bild der 
„rosenfingrigen Eos“ umzuwandeln. 

Mit dieser Leukonychia totalis verbunden, habe ich nun einmal 
eine Abnormität der Nägel vergesellschaftet gefunden, welche eben- 
falls vielleicht noch Ihr Interesse in Anspruch nehmen wird, eine 

Koilonychia.*!) 

Als Koilonychie (Heller), Löffelnägel, Spoonnails (Crocker) 
bezeichnet man einen Zustand, bei dem die Nágel eine abnorme 
Höhlung aufweisen. Während der normale geróthete Nagel seine 
Convexität nach oben aufweist, sind diese Nägel so missgestaltet, 
dass sie ihre Concavität nach oben und eine Convexität nach dem 
Nagelbette zu zeigen. 

In dem Falle Heller’s®?) war die schüsselförmige Vertiefung 


81) Das ist derselbe in der Berl. Dermat. Ges. am 14. Juni 1898 vorgestellte 
Fall, welchen dann später auf meine Veranlassung mein Assistent Forchheimer 
in meinem Dermat. Centbl. 2. Jahrg. No. 2. Nov. 1898 veröffentlicht hat. 

82) Dermat. Zeitschr. 1898. 


39 Dr. Max Joseph, 


so bedeutend, dass 8—10 aus einem Augentropfglas in diese 
„Schüsseln“ entleerten Tropfen Wasser auf dem Nagel oder vielmehr 
in dieser Nagelvertiefung liegen blieben. 

Heller glaubt eine Beziehung dieser Anomalie zum Eczema 
unguium annehmen zu müssen, wie sie in der That auch in einem 
Falle Rille’s bestand. In meiner Beobachtung war davon keine 
Rede Hier war aber eine nur an den Nagelfalzen vorhandene 
subunguale Hyperkeratosis vorhanden. Durch diese verdickten und 
aufgeworfenen Seitenränder wurde eine Wölbung der Nagelplatte 
bedingt, die nicht wie im normalen Zustande nach oben convex, 
sondern nach oben concav war. Auch der vordere Rand war etwas, 
aber nicht so stark aufgeworfen, sodass auch eine schwächere Con- 
cavität des Nagels in der Richtung von vorne nach hinten entstand. 
Schmerzen waren niemals vorhanden, und an den Nägeln der Zehen 
fand sich keine Spur der Erkrankung. 

Das von mir vorgestellte 17jährige Mädchen war hochgradig 
anämisch. Ich kann aber nicht annehmen, dass die mit der Koilonychie 
verbundene Leukonychie auf die allgemeine Anämie zurückzuführen 
sein soll. Denn dann müsste man doch bei Patienten mit perniciöser 
Anämie diese Leukonychie häufiger sehen. Davon ist mir aber 
nichts bekannt. 

Heller glaubt, dass sich höchstwahrscheinlich pathologische Ver- 
hornungsprocesse auf dem Nagelbett abspielen. Fehlen aber alle 
Zeichen von Eczemen und subungualer Hyperkeratose, so müsse 
man zur Erklärung (anämische?) Schrumpfungsprocesse in der Mitte 
des Nagelbettes annehmen. 

Neuerdings legt auf die subunguale an den Falzen vorhandene 
Hyperkeratose, welche übrigens in dem Falle Heller’s fehlte, Fröche?®®) 
ein grosses Gewicht. Da nach seiner Angabe die Nägel bei der 
Koilonychie stets dünn und flach sind, so wird eine Hyperkeratose, 
welche einerseits an den Nagelfalzen und andrerseits unter der 
Nagelplatte sitzt, leicht diese Missbildung hervorrufen. Er konnte 
drei Fälle beobachten, in welchen diese subunguale Hyperkeratose 
bestanden hatte. In dem einen Falle allerdings konnte Fröche sie 
selbst nicht mehr beobachten, aber der zuverlässige Kranke gab an, 


33) Annal. de Dermat. et de Syph. 1902. S. 322. 


-Ueber Nagelkrankheiten. :: 33 


dass sie: vor dem Auftreten der Koilonychie: bestanden : hatte und 
er selbst mit Leichtigkeit diese Hyperkeratose entfernen :konnte. In 
einer anderen Beobachtung wies eine Tochter und. die Mutter. der 
30jährigen Kranken ebenfalls eine Koilonychie auf, während alle 
drei Töchter auffällig dünne und flache Nägel hatten. Alle drei 
Kranke Fröche’s waren übrigens Frauen. 
- . Im’ Gegensatze zu Fréche theilt nun wieder der neueste Autor 
auf diesem Gebiete Ohmann-Dumesnil®*) vier Beobachtungen von 
Koilonychie mit, in welchen sämmtlich diese subunguale Hyperkeratose 
fehlte. Betroffen waren hier zwei Frauen und zwei. Männer. Für 
sie alle scheint der Verf. mehr zu der trophoneurotischen Entstehung 
dieser Affection zuzuneigen. Indessen ist uns natürlich auch durch 
dieses Wort der ganze Zusammenhang der Affection noch durchaus 
nicht klar. Dazu werden erst weitere Beobachtungen und vor allem 
vielleicht mikroskopische Untersuchungen erforderlich sein. - : 

©- Die therapeutischen Erfolge bei dieser Affection scheinen ganz 
verschiedene zu sein. Heller konnte in einem Falle durch Ein- 
wicklungen der Nägel mit Theer-Paraplast (Beiersdorff) völlige 
Heilung herbeiführen. Ich sah in meinem Falle, allerdings in nur 
kurzer Zeit der Beobachtung, keinen Erfolg von der Therapie. Da- 
gegen verzeichnete Ohmann-Dumesnil wieder in allen Fällen 
einen glänzenden Erfolg, indem er ausser der Berücksichtigung der 
allyemeinen Therapie z. B. durch asiatische Pillen noch folgende 
Salbe zweimal täglich in die Nägel hineinreiben liess: 


Rec. 
Stanni oleat. 4,0. 
Lanolini puriss. 
Ungt. aquae rosae ana 17,0. 


So sehen wir, dass das letzte Wort über die Ursache dieser 
Koilonychie noch nicht gesprochen ist. In einigen Fällen scheint 
die subunguale Hyperkeratose das primäre Stadium zu bedeuten, 
auf. welche erst secundär die Koilonychie folgt.. In anderen Fällen 
aber feblt diese Hyperkeratose. Aber auch der Grund, wodurch 
diese nur an den Nägeln ausgeprägte Hyperkeratose entsteht, ist 
uns heute unbekannt. Fröche legt sich mit Recht die Frage vor, 


m in 


. + 
» ete 


24) The St. Louis Medical and Surgical Journal. Juni 1902. 
3 


34 Dr. Max Joseph, Ueber Nagelkrankheiten. 


weshalb bei der ‚Psoriasis zwar eine subunguale Hyperkeratose be- 
steht und doch keine Koilonychie zu Stande kommt. Möglich wäre 
es ja, dass die Hyperkeratose allein nicht genügt, um einen dicken und 
convexen Nagel. auszuhöhlen, sondern dass dazu ausser einem dünnen 
und flachen Nagel noch andere Momente Ba Bier uns bisher 
völlig unbekannt sind. 

Ich habe nicht ohne Absicht Ihnen, m. H., aueh über diese 
letzte, vielleicht praktisch nicht so wichtige Nagelaffection gesprochen. 
Ich glaube, dieselbe ist nur deshalb bisher nicht so häufig beschrieben, 
weil die allgemeine Praxis treibenden Aerzte darauf nicht in ge- 
nügendem Masse aufmerksam wurden. Crocker35 berichtete noch 
1899, dass ihm höchstens sechs bis acht Fälle bekannt geworden 
seien. Dazu tritt noch ausser dem oben angeführten ein von €. T. 
Hansen?‘) in der Dänischen Dermatologischen Gesellschaft vorge- 
stellter Fall bei einem 20jährigen Dienstmädchen. 

Meist aber kommen diese Patienten nicht der Nagelaffection 
wegen zum Arzte, sondern wegen irgend eines anderen Leidens und 
die Nagelaffection wird nur zufällig bemerkt. Vielleicht achten Sie 
selbst von nun an auch auf diese an und für sich unbedeutende 
Nagelerkrankung und tragen durch Veröffentlichung zahlreicher Be- 
obachtungen somit zum Ausbau unserer Wissenschaft bei. 


35) Brit. Journ. of Dermat. 1899. 8. 331. 
2 Dermat. Zeitschr. 1899. S. 527. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W., Lützowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 38, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 








Am 1. November verschied 


Herr Geheimrat Professor Dr. Hahn 


ohne vorhergehendes Krankenlager an einem Herz- 
leiden im Alter von 61 Jahren mitten in seiner 
emsigen Thätigkeit als Direktor des Kranken- 
hauses am Friedrichshain, als gesuchter Con- 
siliarius und Operateur, als Forscher und 
Lehrer. Seine Verdienste um die Menschheit 
und um die Chirurgie werden seinen Namen 
unvergessen machen. 

Eng verbunden ist der Name Hahn mit 
unserer Berliner Klinik, die er im Verein 
mit Professor Fürbringer im Jahre 1888 be- 


gründete und mehrere Jahre hindurch herausgab. 


Die »Berliner Klinik« wird ihren Begründer 
stets in ehrendem Andenken halten. 





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December 1902. perliner Xlinik. Heft 174. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der 
Herzleistung. 


Von 
Dr. Gräupner, Bad Nauheim; im Winter: San Remo. 


„Simplex veri sigillum.“ 

Die häufigste und wichtigste Aufgabe, die der Arzt bei der 
Beurtheilung von kranken und ebenso auch von gesunden Individuen 
zu erfüllen hat, besteht in der Berurtheilung der Herzleistung 
und Herzkraft. Bildet ja das Herz das Centrum des organischen 
Lebens, das erlöschen muss, sobald die Herzkraft nicht mehr aus- 
reicht, die Circulation zu unterhalten. — Daher bilden wir uns von 
vornherein — bei der Beurtheilung eines jeden Krankheitsprocesses, 
gleichgültig, welches Organ im besonderen erkrankt ist — ein Urtheil 
über die Grösse und Güte der Herzkraft; Auscultation und Per- 
cussion, ferner die klinische Beurtheilung der Pulsbeschaffenheit 
dienen diesem Ziel. Indessen reichen alle diese Untersuchungs- 
methoden, so werthvoll sich dieselben für die Beurtheilung des Einzel- 
falles erweisen mögen, nicht aus, um unter allen Bedingungen die 
wechselreichen Erscheinungsformen der „Herzinsufficienz“ richtig 
zu erkennen und zu beurtheilen. Dies wird uns zunächst verständlich 
wenn wir berücksichtigen, dass bei der Anwendung der üblichen physi- 
kalischen Untersuchungsmethoden nicht objectiv der absolute That- 
bestand d. h. die wirkliche Grösse und Leistungsfähigkeit des Herz- 
muskels festgestellt wird, sondern dass wir durch Auscultation und 
Percussion nur „relative“ und durch individuelle anatomische Be- 
dingungen complicirte Befunde erheben, deren Deutung erst ge- 


wonnen wird auf dem Wege der Uebung, Kritik und Erfahrung. 
1 


2 Dr. Gráupuer, 


Da nun diese Eigenschaften durchaus individuell bei dem eir- 
zelnen Untersucher ausgebildet sind, da ferner die anatomischen 
Lageverhältnisse des Herzmuskels im Brustkorb durchaus nicht con- 
stant sind (Verbiegung der Thoraxwände, Hoch- und Tiefstand de 
Zwerchfells, Verschieblichkeit des Herzmuskels je nach der Körper- 
lage), so kann die Grösse der Percussionsfigur des Herzens, die wi: 
auf der Oberfläche der Brustwand feststellen, zu Irrungen in der 
Deutung der Herzgrösse Anlass geben; vor solchen Irrungen wird 
uns auch die Orthodiagraphie nicht immer bewahren. Im Uebrigen 
kann uns die Grösse des Herzmuskels und deren Veränderung unter 
der Einwirkung gewisser therapeutischer Einwirkungen wohl über 
den individuellen Kräftezustand eines einzelnen Individuum belehren 
— von einer vergleichbaren Schätzung der Herzleistung bei 
verschiedenen Individuen kann doch hierbei nicht die Rede sein. 

Ebenso geht es uns häufig bei der Auffassung und Verwerthung 
des Auscultationsbefundes; so geistreich auch die Methode von 
Galli ist, welcher neuerdings aus der Beschaffenheit des 2. Pulmonal- 
tones gewisse Schlüsse bezüglich der Sufficienz der Herzleistung 
ziehen will, — dem Irrthum sind bei dieser Methode Thür und 
Thor geöffnet, ganz abgesehen davon, dass die theoretischen Voraus- 
setzungen Galli’s einer festen Basis entbehren. 

Die Unsicherheit in der Feststellung des sogenannten „objectiven 
Befundes“ erklärt es, dass die einzelnen Beobachter, von einer 
verschiedenen Auffassung desselben Befundes ausgehend, denselben 
Krankheitszustand und die Sufficienz des Herzens bei demselben 
Patienten verschieden beurtheilen: so kann es kommen, dass der 
eine Beurtheiler z. B. einen Dilatationszustand des Herzens findet, 
während ein anderer Untersucher nur von „Verschiebung und Ver- 
lagerung“ des Herzmuskels spricht!) Der eine Untersucher findet 
„unreine“ Herztöne und constatirt eine Accentuation des II. Aorten- 
resp. Pulmonaltones, während der weniger geübte Untersucher diese 
feineren Differenzen der Accentuation nicht heraushören kann und 
demnach von vornherein zu einer verschiedenen Beurtheilung des- 
selben Herzzustandes gelangt. 

Doch selbst wenn mehrere Untersucher absolut denselben Be- 


AAA A on 


1) Hoffmann. Deutsche med. Wochenschr. 1900. No. 19 am Schluss. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 3 


fund erheben, so ist auch damit keine einheitliche Beurtheilung der 
Herzkraft gewonnen, denn wir können weder aus der Grösse der 
Herzfigur noch aus der festgestellten Läsion des Klappenapparates 
irgend welche gleichmässigen Schlüsse ziehen bezüglich der Schädi- 
gung der Circulation. Bekanntlich kann bei dem einen Individuum 
eine offenbare Klappenläsion vorliegen und trotzdem bleibt das Herz 
im hohen Maasse leistungsfähig, während bei anderen Individuen 
ein Versagen der Herzkraft drohen kann, trotzdem es unmöglich er- 
scheint, auf dem Wege der üblichen physikalischen Untersuchung 
wesentliche anatomische Veränderungen am Herzmuskel zu erkennen. 
— Wenn wir nun auch bei solchen complicirten und schwer zu 
deutenden Herzmuskelerkrankungen auf dem Wege der allgemeinen 
klinischen Untersuchung (Leber-, Nieren- und Lungenbefund) ein 
gewisses Urtheil über die Sufficienz der Herzleistung erhalten, wenn 
wir insbesondere auf dem Wege der Anamnese orientirt werden, 
wie weit der Patient körperliche Anstrengungen irgend welcher Art 
erträgt, so wird man doch gestehen müssen, dass diese Art, die 
Herzmuskelkraft zu beurtheilen, unzureichend ist; es fehlt uns ja 
zunächst jede Vorstellung darüber, wie gross das Maass der körper- 
lichen Arbeit ist, welche zur Insufficienz der Herzleistung führt. 
Sicherer wird das Resultat unserer Funktionsprüfung des Herzens, 
wenn wir dem Patienten eine zu dosirende mechanische Arbeits- 
leistung auferlegen und festzustellen suchen, in welchem Verhältniss 
zur Grösse der Arbeitsleistung Athemnoth, Pulsbeschleunigung und 
Herzerregung ansteigen. In der That ist es ja allgemein üblich 
geworden, bei der Beurtheilung von Herzmuskelerkrankungen dem Pa- 
tienten eine zu controlirende Körperarbeit aufzuerlegen, den Patienten 
durch’s Zimmer laufen zu lassen, die Kniebeuge in bestimmter An- 
zahl ausführen, Treppen steigen zu lassen u. s. w., um zu consta- 
tiren, wie gross die Athemnoth und wie gross die Pulsbeschleunigung 
sich offenbart: an und für sich eine recht unvollkommene Methode, 
da uns jede Möglichkeit fehlt, den Grad der Dyspnoe zu schätzen, 
— doch bildet sie trotzdem, weil uns bessere Methoden fehlen, 
cine wichtige Ergänzung der üblichen klinischen Untersuchung, 
wie zuerst Rosenbach und später Martius, Krehl, Romberg, 
Sahli und andere Autoren betonten. 


Indessen muss es unsere Aufgabe sein, die functionelle Unter- 
1* 


t Dr. Gräupner, 


suchung des Herzens derart auszubilden, dass wir befáhigt sind, 
nicht nur die Herabsetzung der Herzleistung im Allgemeinen zu 
erkennen, sondern vor allem festzustellen, welches Maass der 
verringerten Leistungsfähigkeit des Herzmuskels in 
einem speciellen Falle vorhanden ist:— wir bedúrfen einer 
Methodik der Untersuchung, welche uns gestattet, das Maass der 
Schädigung der Herzkraft zu erkennen, und wir müssen befähigt 
sein, dass Maass der Herzleistung in einer correcten und ver- 
gleichbaren Form, d. h. in irgend einer mathematischen Fixirung 
darzustellen. — Das Ziel, das zu erreichen wir uns bemühen müssen, 
ist klar vorgezeichnet in folgenden Worten Krehl’s, welcher der 
vorliegenden Frage eine ausführliche Erörterung widmet: 

„Es ist dringend nothwendig, die Leistungsfähigkeit des Herz- 
muskels objectiv bestimmen zu können — genau in dem Maasse, 
wie wir das bei anderen Functionssystemen zu thun gewohnt sind. 
Wer von uns möchte Beurtheilung und Behandlung eines Diabetiker’s 
noch vornehmen, ohne dass er sein Vermögen, den Zucker zu zer- 
setzen, genau quantitativ untersucht? Auch hier sind wir keines- 
wegs am idealen Ende angelangt, aber es ist doch ein erheblicher 
Fortschritt im Sinne quantitativer Beurtheilung gewonnen und einen 
solchen erwünschen wir für die Beurtheilung der Herzfunction.“ 

Aehnlich wie Krehl betonen auch Romberg und Sahli, 
dass es nothwendig ist, ein quantitatives Maass der Herz- 
function aufzustellen, und alle Autoren weisen auf den einzig gang- 
baren Weg hin, den Scelettmuskeln und dadurch indirect dem 
Herzen eine dosirte Arbeitsleistung aufzuerlegen, um auf diesem 
Wege die Herzrelationen zunı Maasse der Muskelarbeit festzustellen; 
indessen betonte Krehl, der die vorhandene Litteratur (l. c.) zu- 
sammenfasst, dass ausserordentliche Schwierigkeiten vorhanden sind, 
solche Relationen aufzustellen und die Gesetzmässigkeit zu erkennen, 
welche zwischen dem Maasse der Arbeit und der Grösse der Herz- 
function vorhanden sein muss. „Wir befinden uns“, sagt Krehl, 
„bei dieser Methode noch ganz auf dem Wege, weit entfernt vom 
Ziel“. 

Diesem Ziele náher zu kommen, die Beziehungen zwischen 


°) Krehl (Nothnagel). Lehrbuch der Herzkrankheiten. pag. 47/48. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 5 


messbarer Muskelarbeit und entsprechender Funktionsveränderung 
des Herz- und Gefássapparates aufzustellen, den inneren Zusammen- 
hang zu erkennen, das war die Aufgabe von Untersuchungen, die 
schon vor 5 Jahren von mir begonnen wurden — zum gróssten Theil 
in der Privatpraxis — und die ich nunmehr zu einem vorläufigen Ab- 
schluss bringe. — Diese Untersuchungen haben nach mannigfachen 
Irrungen und Wandlungen nunmehr zu einem festen Ergebniss 
geführt; in der That ist es möglich geworden, bei jedem einzelnen 
Individuum, so lange keine wesentlichen Compensationsstórungen 
vorliegen, Grösse und Güte der Kreislaufsarbeit zu beur- 
theilen und zwar zunächst unabhängig von Auscultation und Per- 
cussion — wir untersuchen die Functionsveränderungen 
des Herz-Gefässapparates bei allmählig ansteigender 
und genau gemessener körperlicher Arbeit und sind be- 
fähigt, aus diesen Veränderungen einen vergleichbaren 
Rückschluss zu ziehen bezüglich der individuellen 
Grösse der Herzleistung. 

Wir bedienen uns zu diesem Zwecke einer besonderen Unter- 
suchungsmethodik; wir bestimmen den Functionszustand des Herzens 
und des Gefässapparates — nicht unmittelbar wie derselbe nach 
Absolvirung körperlicher Arbeit erscheint, sondern wir bestimmen 
denselben erst dann, sobald sich die durch die Arbeits- 
anstrengung hervorgerufene Herz-Gefässerregung beruhigt 
hat. Untersuchen wir Pulsfrequenz und Blutdruck unmittelbar 
nach der Arbeitsanstrengung, so werden wir gewöhnlich nur das 
Maass der Herzanstrengung kennen lernen, welches nothwendig ist, 
um die bei der Arbeit entstehenden Gefässwiderstände zu 
überwinden. Dagegen wird uns der Einblick verschlossen bleiben, ob 
die Arbeitsanstrengung zu einer Veränderung der Herzleistung, 
zu einer Erhöhung und Anpassung, oder zu einer Verminde- 
rung resp. ,Insufficienz" der Herzleistung geführt hat. Finden wir 
z. B., dass nach einer Arbeitsleistung von 100 mklg der Blutdruck 
unmittelbar ansteigt, so kann ja dieses Ansteigen des Blutdrucks 
in erster Linie durch Gefässerregung und Pulsbeschleunigung her- 
beigeführt sein, ohne dass in der That der Herzmuskel zu einer 
absoluten Mehrleistung befähigt zu sein braucht, — wir werden später 
solche Beispiele in Fülle kennen lernen, wo trotz Ansteigens des 


6 Dr. Gräupner, 


Blutdrucks offenbare Schwäche der Herzleistung vorliegt. Dagegen 
erweist sich die Blutdruckmessung ausserordentlich werthvoll für 
die Beurtheilung der Herzleistung, wenn wir dieselbe erst nach 
eingetretener Herzberuhigung verwerthen, — wir dürfen 
also bei Arbeitsversuchen, wenn wir etwaige Veränderungen des 
Blutdrucks feststellen wollen, denselben erst dann messen, wenn 
dieselbe Phase der Herzfrequenz zurückgekehrt ist und wenn sämmt- 
liche Gefässwiderstände, die während der Arbeitsanstrengung ein- 
treten müssen, ausgeglichen sind! Finden wir also, um ein 
Beispiel anzuführen, dass ein Individuum bei 70 Pulsen in der 
Minute einen Blutdruck von 10 Hg hat, und lassen wir dies Indi- 
viduum nunmehr 100 mklg arbeiten, so dürfen wir den Blutdruck 
nach der Arbeit erst dann messen, wenn die Herzfrequenz wieder 
auf 70 Schläge zurückgesunken! — Finden wir nunmehr im 
Zustand der Herzberuhigung, dass der Blutdruck auf 11 Hg an- 
gestiegen ist, so muss die Herzleistung in Folge der Arbeitsan- 
regung günstiger resp. grösser geworden sein; finden wir dagegen. 
dass der Blutdruck nach der Arbeit von 10 Hg auf 8 oder 7 oder 
6 gesunken ist, so ist das Herz relativ „insufficient“ geworden. 

Wie wollen wir denn beweisen, dass das Ansteigen des Blutdrucks 
wirklich der Index dafür ist, dass das Herz mehr leistet in der Zeit- 
einheit? Und wie wollen wir nachweisen, dass das Sinken des 
Blutdrucks auf eine Schwächung der Herzthätigkeit hinweist? 
Das können wir durch sogenannte ,,Contra-Versuche“ beweisen: wir 
lassen sofort dasselbe oder ein geringeres Arbeitsmaass von Neuem 
leisten und stellen nunmehr einwandsfrei fest, dass die Herzreactionen 
beim Contra-Versuch günstiger werden, wenn der Blutdruck an- 
gestiegen war; dagegen finden wir, dass die Herzreactionen sich 
weiter verschlechtern, wenn bereits beim ersten Arbeitsversuch der 
Blutdruck gefallen war. Solche Arbeitsversuche werden wir später 
in unserer Casuistik in grösserer Zahl vorführen. 

Diese einfachen Darlegungen deuten die Grundlagen meiner 
Methodik an, die Sufficienz des Herzens quantitativ zu bestimmen: 
wir steigern allmählich das Arbeitsmaass und stellen fest, bis zu 
welcher Höhe der Arbeitsleistung der Blutdruck gleich bleibt, steigt 
oder fällt. Wir müssen ferner feststellen, ob der Blutdruck im Zu- 
stand der Herzberuhigung gleichmässig hoch bleibt oder noch 


Die mechanische Priifung und Beurtheilung der Herzleistung. 7 


weiter sich verändert. — Alle Blutdruckmessungen werden von mir 
in der Horizontallage des zu Untersuchenden vorgenommen; die 
Horizontallage ist deshalb nöthig, weil der Akt des „Stebens“ mit 
Herzerregung und mit besonderen Gefässwiderständen für die Fort- 
bewegung der Blutmasse verknüpft ist; dies wird später ausführlich 
erörtert werden. 

Da wir nun bei demselben Individuum das Maass der Arbeit 
nach Belieben ansteigen lassen können, so werden wir die ver- 
schiedenen Veränderungen des Blutdrucks (des Gleichbleibens, An- 
steigens und Fallens) hervorrufen und zwar treten folgende ver- 
schiedene Möglichkeiten ein: 

a) Der Blutdruck bleibt gleich hoch trotz Ansteigens des Arbeits- 
maasses: Das Herz bleibt alsdann „sufficient“ für die Grösse des 
geleisteten Arbeitsmaasses. 

b) Der Blutdruck fängt an bei einer bestimmten Höhe des 
Arbeitsmaasses zu sinken: Das Herz wird demnach „insufficient“, 
Doch kommt es darauf an festzustellen, ob der ‚Blutdruck im Zu- 
stand der Herzberuhigung erniedrigt bleibt oder allmählich wieder 
zu steigen beginnt; sobald der Blutdruck zu steigen beginnt, erholt 
sich das Herz! 

c) Der Blutdruck steht unmittelbar im Zustand der Herz- 
beruhigung höher als der festgesetzten Norm entspricht, doch sinkt 
er allmählich zur Norm zurück: das ist der Vorgang der „Anpassung“, 
auf den wir später ausführlicher zu sprechen kommen. 

d) Der Blutdruck steht höher als der Norm entspricht, sinkt 
jedoch rapid herab und hat keine Tendenz zum Wiederansteigen: 
der Vorgang der „Ermüdung“. 

Da wir nun bei verschiedenen Personen dasselbe Maass der 
Arbeitsanstrengung verlangen können und die dabei auftretenden 
Blutdrucks-Veränderungen feststellen können, so erhalten wir auf 
diesem Wege bereits ein direct vergleichbares Maass der Herzfunction. 
Gleichzeitig bestimmen wir auch die Regulation der Pulsfrequenz 
und die Schnelligkeit, mit der diese Regulation erfolgt; wir werden 
dies später näher erläutern müssen. 


Bevor wir nun zur systematischen Entwickelung unserer Unter- 
suchungsmethodik schreiten, wollen wir hinweisen, dass die theoretischen 


8 Dr. Gräupner, 


Vorstellungen und Erklärungen, die wir behufs Deutung der einzelnen 
Vorgänge geben werden, als solche der weiteren Prüfung und Kritik 
unterliegen; die Thatsachen dagegen als solche sind rein beobachtet; 
darum bedeutet die hier kurz angedeutete Untersuchungsmethodik 
einen wesentlichen Gewinn für die Beurtheilung des gesunden und 
kranken Herzens, auch wenn die theoretischen Vorstellungen nicht 
immer zutreffen mögen. 

Die Durchführung der Methodik erfordert viel Zeit und Mühe — 
doch entschädigt uns für unsere Mühe der vertiefte Einblick in die 
Herz- und Gefässarbeit, den uns diese Methode erschliesst. — Vor 
allem ist festzuhalten: indem wir unsere Methode anwenden, be- 
handeln wir unsere Patienten mit Widerstandsgymnastik — 
die functionelle Prüfung des Herzens stellt sich dar als eine form- 
vollendete Widerstandsgymnastik; — indem wir das Herz unter- 
suchen, behandeln wir dasselbe physicalisch, und wir stellen fest, ob 
das Herz diese Behandlungsart ertrigt! Wenn man bisher zweifel- 
haft sein konnte, ob man unter bestimmten Bedingungen ein krankes 
Herz „üben“ oder „schonen“ sollte — auf diesem Wege der Functions- 
übung wird diese Frage sofort entschieden, denn wir dürfen das 
Herz nur dann functionell prüfen oder „üben“, wenn dabei die 
Herzreactionen günstiger werden i. e. wenn der Blutdruck gleich 
bleibt oder steigt! Dagegen ist die Fortsetzung der „Uebung‘‘ oder 
Functionsprüfung verboten, wenn bei einer bestimmten Höhe des 
Arbeitsanspruches die andauernde Blutdrucksenkung- „Ermüdung“ 
eintritt; man wird gern eingestehen, dass die Klarstellung aller dieser 
Fragen die Mühe aufwiegt, welche die Durchführung meiner Methodik, 
die Sufficienz des Herzens zu prüfen, verlangt. 


II. 

Wenn wir die Herzfunctionen und deren gesetzmässige Aenderung 
bei ansteigender Arbeitsleistung bei verschiedenen Individuen prüfen 
und mit einander vergleichen wollen, so müssen wir zunächst be- 
fähigt sein, absolut dieselbe mechanische Arbeitsleistung 
jeder Zeit verlangen zu können. — Wir müssen ferner befähigt sein, 
diese Arbeitsleistang nach Belieben steigern oder herabsetzen zu 
können, und diese Variation der Arbeitsleistung muss absolut exact 
erfolgen können, d. h. der mechanische Arbeitsgeber, den wir zu 


Die ınechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 9 


solchen Arbeitsversuchen benutzen, muss derart construirt sein, dass 
das von ihm verlangte Arbeitsmaass auch wirklich in exactester 
Form zu dosiren ist. 

So leicht durchfiihrbar diese Aufgabe rein technisch erscheinen 
kónnte, so gross sind in Wirklichkeit die Schwierigkeiten, welche 
die Durchfiihrung der Aufgabe erschweren. Diese Schwierigkeiten 
bestehen zunächst darin, dass die Grösse der Herz- und Gefässarbeit 
nicht nur abhängt von dem absoluten Maasse der zu leistenden 
äusseren Arbeit, sondern vor allem von der Form und Art, in 
welcher die verlangte Arbeit ausgeführt wird. Darum kommt es in 
erster Linie darauf an, dass dasselbe Arbeitsmaass stets von den- 
selben Muskelgruppen geleistet wird. 

2. Es hängt die Grösse der Herzerregung nicht nur vom Maasse 
der zu absolvirenden Arbeit ab, sondern auch von der individuellen 
Leistungsfähigkeit und von dem Kraftvermögen der arbeitenden 
Muskelgruppen. Durch Uebung und Anpassung kann zwar die 
Leistungsfähigkeit eines jeden Muskels innerhalb gewisser Grenzen 
gesteigert werden, doch setzen schwache und leicht ermüdbare 
Muskeln eine viel grössere Herzerregung, als wenn derselbe Arbeits- 
anspruch von relativ grossen und starken Muskelgruppen geleistet 
wird. Entsprechende Untersuchungsreihen und Arbeitsversuche mit 
verschiedenen Muskelgruppen, die von Herz und Grünbaum durch- 
geführt worden sind, haben diesen allgemeinen Erfahrungssatz objectiv 
bestätigt. — Aus diesem Grunde müssen wir, sobald wir die Relationen 
zwischen Muskelarbeit und Herzaction aufstellen und vergleichbare 
Werthe für verschiedene Individuen erhalten wollen, nur derartig 
grosse und umfangreiche Scelettmuskeln zur Arbeitsleistung heraus- 
wählen, die leicht zu trainiren sind. — Es darf auch die Höhe des 
Arbeitsmaasses nicht zur Ermüdung der arbeitenden Muskeln 
führen, denn der Vorgang der Ermüdung steigert bekannter Maassen 
sofort die Erregbarkeit des Herzens, sodass in Folge der Ermüdung 
der Scelettmuskeln die Herzfrequenz höher wird als dem Maasse der 
Arbeit entspricht. 

Die Grösse der Herzerregung hängt ferner davon ab, dass die 
äussere Arbeit gleichmässig, tempomässig mit gleichbleibender 
Energie und nicht „ruckweise“ geleistet wird. Drum müssen wir 
einen derartigen Arbeitsgeber wählen, welcher gestattet, dasselbe 


10 Dr. Gräupner, 


Arbeitsmaass in demselben Tempo und Rythmus (in derselben Zeit- 
einheit!) auszuführen. 

Wir müssen ferner betonen, dass die Relation der Herzerregung 
bei der Absolvirung eines gewissen Arbeitsmaasses auch davon ab- 
hängig ist, dass die Respiration während der Dauer der Arbeits- 
leistung regulär abläuft. Es darf nämlich weder die Art und 
Form der Arbeitsleistung, noch das Maass der körperlichen An- 
strengung zu einer Feststellung des Thorax oder der Bauchpresse 
führen; dies wird uns klar, wenn wir erwägen, dass jede Feststellung 
des Brustkastens oder der Bauchpresse naturgemäss die Circulation 
in den Lungengefässen erschwert; es werden durch die Feststellung 
des Thorax secundäre Gefässwiderstände im kleinen Kreis- 
lauf geschaffen, deren Ueberwindung mit besonderer Herzanstrengung 
verknüpft ist Wir erhalten also in diesem Falle das Maass der 
Herzanstrengung gegenüber den erschwerten Circulationsbedingungen 
im festgestellten Thorax. Da wir nun die individuelle Erschwerung 
der Circulation bei festgestelltem Thorax kaum irgendwie taxiren 
können, so wird bei solcher Art der Herzprüfung zwar im Allgemeinen 
erkannt, ob das Herz leistungsfähig ist — jedoch wird die gesuchte 
Relation zwischen dem Maasse der äusseren Arbeit und der Inten- 
sität der Herzerregung verkannt und verschoben. Darum müssen 
wir behufs Feststellung der individuellen Leistungsfähigkeit des 
Herzmuskels nur solche Arbeitsformen wählen, welche eo ipso den 
Ablauf der Respiration begünstigen und erleichtern; wir halten nun 
nach mannigfachen fruchtlosen Versuchen mit den verschiedensten 
Muskelgruppen am geeignetsten behufs Bestimmung der Herzleistung 
die Arbeitsform des Raddrehens, weil beim Raddrehen, wenn 
das Rad durch einen Hebel concentrisch bewegt wird, die Thorax- 
bewegungen rythmisch und mechanisch begünstigt werden; ferner 
kann das Tempo des Raddrehens leicht gleichmässig von verschiedenen 
Personen eingeübt werden. — Von allen diesen Erwägungen aus- 
gehend, benutzte ich ursprünglich für die auszuführenden Arbeits- 
versuche den bekannten Gärtner’schen Ergostaten, doch war es 
nicht möglich, constante Versuchsergebnisse zu erhalten; weder 
können wir vermittelst des Gärtner’schen Ergostaten das Maass der 
Arbeit exact dosiren, noch ist eine gleichmässig rythmische Bewegung 
möglich, da beim Aufwärtsführen des Arbeitshebels die Reibung un- 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 11 


endlich grósser ist als beim Senken des Hebels. Es sind demnach alle 
Bestimmungen mit dem Gártner'schen Ergostaten ungenau und un- 
zuverlásslich, auch wenn derselbe ausreichen mag, gróbere Versuchs- 
reihen durchzuführen, wie Mendelsohn und ich dies gethan haben!). 
Um so brauchbarer erweist sich für solche exacte Untersuchungszwecke 
der von Zuntz?) angegebene Arbeitsmesser (= Ergometer), bei 
welcher Apparatconstruction ebenfalls das Princip des Raddrehens 
verwerthet ist. Der Vorzug dieses Apparates besteht darin, dass eine 
genaue Dosirung des Arbeitsanspruches von 1 Kilo X 11, m = 
11/, mklg bis zu jeder beliebigen Höhe (cum grano salis!) möglich 
ist und dass vor allem während der Dauer der Arbeitsleistung die 
Arbeitsanstrengung gleichmässig vertheilt ist, sodass wir mit 
Hilfe dieses Apparates allen Anforderungen genügen können, die 
wir oben bezüglich der Form und Durchführung der Arbeitsleistung 
aufgestellt haben. In der That ermöglicht uns diese specielle Apparat- 
construction resp. das bei diesem Apparat vorhandene mechanische 
Princip der gleichmässigen Gestaltung der Arbeitsleistung 
nachzuweisen, dass beim herzgesunden Individuum die 
Herzfrequenz absolut proportional mit dem Maasse der 
Arbeit ansteigt, jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze (!). 
Dieser Satz ist wohl wiederholt früher ausgesprochen worden, sein 
Nachweis kann nur mit dieser eigenartigen Apparatconstruction leicht 
und bequem geführt werden, wie spätere Beispiele erweisen werden. 


Der Zuntz’che Brems-Ergometer. 


Dieser Arbeitsgeber wird im Wesentlichen von einem Rade 
gebildet, das in Kugelaxen drehbar auf einem festen Gestell montirt 
ist. Ueber der Radperipherie, deren Umfang 1!/, m beträgt, ?) 
schleift concentrisch und unmittelbar anpressend ein breites Metall- 
band, dessen Press- und Bremskraft durch ein beliebig zu variirendes 
Gewicht bestimmt wird. Belasten wir nun dies Bremsband, an 
welchem eine Wagschaale hängt, mit 1 Kilo und stellen demnach 


1) cf. Gräupner: Die Constitutionsbedingungen des Herzmuskels. D. A.Z. 1. Mai 
1901. cf. anch Mendelsohn: Die Erholung des Herzens. Congress Berlin. 1901. 

2 C. B. für Physiologie. 1898. 

5) In unserem casuistischen Theil haben wir daher bei Angabe der Arbeits- 
leistung stets noch die Anzahl der Umdrehungen mit 1'/, multiplicirt, 


12 Dr. Gräupner, 


die Schraubvorrichtuug, so wird bei jeder Radumdrehung 1 Kilo 
mal 1!/, m in der entsprechenden Zeiteinheit geleistet, und drehen 
wir das Rad 20 mal in demselben Tempo, so haben wir natürlich 
20><11/, mklg Arbeit geleistet. — Damit nun die Spannung resp. 
Bremsung des Metallbandes genau dem Brenisgewicht auf der Wag- 
schaale entspricht, so muss eine beständige Regulirung der Spann- 
kraft des Bremsbandes vorgesorgt sein und dies geschieht auf 
automatischem Wege vermittelst einer Vorrichtung, die vom Mechaniker 
Voigt?) ersonnen ist. Spannt nämlich das Metallband mehr als dem 
Bremsgewicht entspricht, so wird die Feder resp. das Band auto- 
matisch gelockert; wenn dagegen die Spannung des Metallbandes 
nachlässt, so wird dasselbe fester angezogen ; dadurch erst wird das 
Maass der Arbeitsanstrengung in jeder Phase der Radumdrehung 
resp. in jeder Phase der Hebelstellung gleichmässig vertheilt und 
regulirt. In dieser Gleichmässigkeit der Arbeitsleistung und in der 
exacten Dosirung der Arbeitsgrösse liegen Vorzüge des Instrumentes, 
die bisher von keiner anderen Apparatconstruction erreicht sind. — 
So gern wir bereit sind, alle Vorzüge gerade dieses Apparates anzu- 
erkennen, so müssen wir doch festhalten, dass ich denselben nur 
deshalb bei meiner Methode der Sufficienzbestimmung des Herzens 
verwerthete, weil keine andere und bequemere Apparatconstruction 
vorhanden war, — für die Zwecke der Sufficienzbestimmung wird 
meiner Anregung folgend ein neuer Apparat gebaut werden, der 
uns gestatten soll, die Methode der Sufficienzprüfung in bequemerer 
Form durchzuführen, als wie dies bisher vermittelst des Ergometer’s 
und der zeitraubenden Blutdruckbestimmungen mit dem Gärtner- 
schen Tonometer möglich ist. 


II. 
Regulation der Pulsfrequenz beim gleichmässigen 
Anwachsen der Arbeitsanstrengung. 

Vermittelst des Ergometer’s können wir nun prüfen, wie die 
Pulsfrequenz bei verschiedenen Individuen bei absolut gleicher 
Arbeitsleistung regulirt wird. Es wächst beim herzgesunden 
Menschen, jedoch nur bei diesem — die Pulsfrequenz mit der Höhe 
der Arbeit, jedoch auch nur innerhalb gewisser Grenzen, die bereits 
bei 100—150 mklg überschritten werden. — Im Uebrigen ist das 


*) Berlin, Neuenburger Str. 10. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 13 


Maass der Pulsfrequenz trotz gleicher Arbeitsleistung bei den 
einzelnen Individuen verschieden. Je schwächer uns das Individuum 
klinisch erscheint, desto grösser das Maass der Herzbeschleunigung. 
— Unter pathologischen Bedingungen ist das Verhalten der 
Pulsfrequenz beim gleichmissigen Ansteigen der Arbeitsleistung ver- 
schieden: Ist der Herzmuskel durch irgend welche myocarditische 
Herde, deren Ursprung kaum sicher in allen Fällen nachgewiesen 
werden kann, geschwächt, so wird jeder Arbeitsanspruch, so gering 
derselbe sein mag, mit grösserer Herzerregung beantwortet. Auch 
bei functionellen Tachycardien, vermuthlich weil diese durch 
einen latenten myocarditischen Process unterhalten werden, wie vor 
allem beim chronischen Alkoholismus, finden wir ein rasches An- 
steigen der Pulsfrequenz. 

Wenn dagegen Tachycardien durch psychische Erregung oder 
durch Kaffee-, Thee- und Nicotingenuss hervorgerufen sind, oder 
wenn eine Tachycardie reflectorischen Ursprungs ist, z. B. vom 
Uterus aus bedingt ist, so bleibt die Pulsfrequenz trotz ansteigen- 
der Arbeitsleistung zunächst unverändert oder verlangsamt sich sogar; 
es wirkt also die Arbeitsanstrengung eher regulirend ein; nur bei 
einer gewissen Höhe der Arbeitsanstrengung tritt in Folge des Arbeits- 
antriebes erst jenes Maass der Frequenzbeschleunigung ein, das 
vorher lediglich auf Grund der nervösen Erregung bereits in der 
Ruhe vorhanden war. Z. B. bewirken bei mir erst 100 mklg. Arbeit 
diejenige Pulsbeschleunigung, die ohne körperliche Arbeit lediglich 
durch den Genuss einer Cigarre bereits im Ruhezustand vorhanden 
sind. — In practischer Hinsicht heben wir noch einmal hervor, dass 
jede Tachycardie, die durch latente Myocarditis bedingt ist, sofort 
durch Arbeitsanstrengung noch gesteigert wird — im Gegensatz zu 
den rein nervösen Tachycardien. 

Sehr wichtig ist auch die Constatirung der Thatsache, dass das 
hypertrophische Herz, so lange keine gesteigerte Erregbarkeit 
(durch Toxine?) vorhanden ist, eine relativ verminderte Erregbarkeit 
zeigt gegenüber Arbeitsansprüchen von 10— 150 mklg. Wir werden 
das geringe Ansteigen der Pulsfrequenz bei vorhandener Herz- 
hypertrophie verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass 
der hypertrophische Herzmuskel bereits im Ruhezustand des Körpers 
für höhere Arbeitsleistung „eingestellt“ oder „angepasst“ ist. 


14 Dr. Graupner, 


So werthvoll bereits die blosse Pulsbestimmung bei ansteigender 
Arbeitsleistung sich erweist, so haben Pulsfrequenzbestimmungen 
doch erst dann rechten Werth für die Beurtheilung der Herzkraft, 
wenn solche Bestimmungen consequent nicht nur im „Stehen“, 
sondern auch im „Liegen“ nach jeder Arbeitsleistung vorgenommen 
werden — wir haben die Aufgabe, stets das Verhältniss der ,Steh-“ 
zur „Liege“zahl festzustellen, eine Forderung, die ich wiederholt ver- 
treten habet). Wir haben ferner die Aufgabe, wenn wir auf Grund 
messbarer Arbeitsleistung angeben wollen, wie gross die individuelle 
Herzleistung ist, zu bestimmen: wie rasch die Pulsfrequenz 
im Liegen nach jeder Arbeitsanstrengung absinkt, ob 
völlige Beruhigung im Liegen eintritt oder ob das Herz 
im Liegen erregt bleibt? 

Warum sollen wir alle diese Bestimmungen durchführen? Diese 
Nothwendigkeit lernen wir verstehen, wenn wir uns den klinisch 
bewiesenen Satz vergegenwärtigen, dass jedes Herz, so lange es 
leistungsfähig ist, im Liegen Verlangsamung zeigen 
muss. Dieser Satz ist zuerst von Schapiro 1882 klinisch ge- 
würdigt worden. Schapiro zeigte bei 300 gesunden Soldaten, dass 
im Liegen Pulsverlangsamung von 4—30 Schlägen eintrat; ferner 
wies Schapiro auch bei herzkranken Individuen nach, dass 
Verlangsamung im Liegen eintrat, so lange Sufficienz des Herzens 
vorhanden war; dass dagegen Pulsgleichheit oder Pulsvermehrung 
im Liegen eintrat, sobald Insufficienz der Herzleistung schon vor- 
handen war oder erst einzutreten drohte. — Spätere Autoren wie 
Minasein, Hasenfeld, vor allen Langowoy®), haben diese Be- 
obachtung von Neuem bestätigt; ich selbst habe die Richtigkeit 
dieses Satzes seit mehreren Jahren an Hunderten von Herzkranken 
nachgeprüft und immer bestätigt gefunden; nur muss man gewisse 
Beobachtungsfehler zu vermeiden wissen, die zunächst dadurch be- 
dingt sind, dass nervöse Erregungsmomente die Pulsfrequenz im 
Liegen steigern — trotz Sufticienz der Herzleistung. Um diesen 
Beobachtungsfehler zu vermeiden, empfehle ich, den zu untersuchen- 
den Patienten vor der Bestimmung der Pulsfrequenz im Liegen — 
körperlich arbeiten zu lassen — alsdann wirkt die Arbeit regulirend 


1) cf. Die Leistungsfähigkeit des Herzmuskels. D. m. Presse. 1901. Jan. 
2) Archiv für klinische Medizin. B. 68. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 15 


auf die Pulsfrequenz ein, da ja der Arbeitsantrieb, wenn der- 
selbe genügend hoch ist, stärker die Pulsfrequenz beeinflussen wird, 
als jede nervöse Erregung. 

Wenn nun die Thatsache richtig ist, dass bei vorhandener Herz- 
insufficienz im Liegen mehr Pulse vorhanden sind als im Stehen, 
so wird auch allemal dann, wenn eine Arbeitsanstrengung zur In- 
sufficienz der Herzleistung führt, die Pulsfrequenz im Liegen höher 
werden müssen als im Stehen. Nun ist es ja in Wirklichkeit aus- 
geschlossen, dass wir ein herzkrankes Individuum derartig mit Ar- 
beitsansprüchen belasten, dass es zur völligen Insufficienz der Herz- 
leistung kommt. Daher muss es uns schon genügen, bei geringeren 
Arbeitsansprüchen, die noch innerhalb der Sufficienzgrenze liegen, 
die Pulsfrequenz im Liegen zu bestimmen. In der That haben wir 
immer von Neuem gefunden, dass bei Schwächung der Herzleistung 
die Pulsfrequenz im Liegen relativ hoch bleibt und nur allmählig 
zurückgeht; es verzögert sich also der Beruhigungsvorgang, 
sobald die Höhe des Arbeitsanspruches zu einer Schwächung der 
Herzleistung führt. 

Die Schnelligkeit, mit der das Absinken der Pulsfrequenz im 
Liegen eintritt, ist zwar in erster Linie von ,Uebung“ abhängig — 
verzögert sich indessen der Beruhigungsvorgang trotz Uebung, so 
ist stets der zu begründende Verdacht vorhanden, dass die Höhe der 
Arbeitsanstrengung zur Schwächung der Herzthätigkeit geführt hat 
und dieser Verdacht wird zur Gewissheit, sobald wir constatiren, 
dass trotz der Beruhigung der Blutdruck gesunken bleibt (cf. 
pag. 6 u.7). Tritt dagegen nach Absolvirung eines gewissen Arbeits- 
anspruches sofort Beruhigung der Herzerregung ein, so deutet dies 
im Allgemeinen, — jedoch nur im Allgemeinen — darauf hin, dass 
das Herz „sufficient“ geblieben ist innerhalb der Höhe des Arbeits- 
anspruches. — Wir haben nun feststellen können, dass beim ge- 
sunden Arbeiter, der trainirt ist, die Herzberuhigung innerhalb 
einer Minute eintritt selbst nach Absolvirung von 1000 mklg. Es 
ist sehr leicht denkbar, dass noch grössere Arbeitsansprüche geleistet 
werden können, und dass die Herzberuhigung ebenso rasch eintritt, 
doch sind entsprechende Versuche von mir nicht durchgeführt worden. 
Dagegen konnte ich feststellen, dass minderkräftige Individuen 
bereits bei Arbeitsansprüchen von nur 200 mklg trotz Uebung eine 


16 Dr. Gräupner, 


Herzerregung zeigten, die über eine Minute dauerte und dass 
gleichzeitig der Blutdruck auch nach eingetretener Beruhigung ge- 
sunken blieb. Daraus folgt für uns die Aufgabe, bei der Sufficienz- 
bestimmung des Herzens stets anzugeben, wie lange es bei den 
einzelnen Individuen dauert, ehe der Herzmuskel nach einer 
gewissen Arbeitsanstrengung sich beruhigt. 

Die Schnelligkeit, mit der Beruhigung im Liegen eintritt, ist 
zunächst von der „Uebung“ abhängig, doch treten Uebung und „An- 
passung“ sofort ein, wenn derselbe Arbeitsanspruch von Neuem 
wiederholt wird. — Wenn daher trotz Wiederholung desselben Ar- 
beitsanspruches die Beruhigung sich verzögert, so lässt dies eben 
auf Herzinsufficienz schliessen, doch muss alsdann wiederum erst 
die Blutdruckmessung entscheiden, ob das Herz insufficient 
geworden. 

Uebung und Anpassung bewirken, dass die Gefässwiderstände, 
welche wäbrend der Arbeit im arteriellen System entstehen, und die 
nach absolvirter Arbeit das hydrostatische Gleichgewicht der Blut- 
säule verschoben halten, sich im Liegen rasch ausgleichen. 
Gewisse Nervenreize scheinen die Schnelligkeit des Ausgleiches zu 
begünstigen, doch kann erst, wie bereits angedeutet, die Blutdruck- 
messung entscheiden, ob trotz der Schnelligkeit der Beruhigung 
Sufficienz der Herzleistung vorhanden. 

Der Beruhigungsvorgang wird sich auch dann — unabhängig 
von der Einwirkung der Gefässwiderstände — verzögern, wenn der 
Herzmuskel selbst durch die Grösse der Arbeitsanstrengung über- 
dehnt worden ist; die Ueberdehnung kann nur dann eintreten, wenn 
der Herzmuskel bereits vorher durch irgend welche Vorgänge ge- 
schwächt war; das intacte Herz wird — das beweisen meine Arbeits- 
versuche — nie zur Ueberdehnung gebracht. Liegt der Verdacht 
auf Ueberdehnung des Herzmuskels vor, so haben wir auch die Puls- 
frequenz im Stehen zu bestimmen, denn das überdehnte Herz kann 
sofort Beruhigung im Liegen zeigen, während im Stehen hoch- 
gradige Beschleunigung eintritt. 

Alle diese Frequenzbestimmungen haben jedoch erst dann ent- 
scheidenden Werth, sobald gleichzeitig, wie wiederholt erwähnt, 
Blutdruckbestimmungen gemacht werden, nur muss der Blutdruck erst 
nach eingetretener Beruhigung gemessen werden, wie Eingangs 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 17 


bereits betont. Wer dagegen den Blutdruck unmittelbar nach einer 
Arbeitsanstrengung misst — und das haben wohl alle Autoren bis 
dahin gethan — der misst die Grösse der Herzanstrengung, wie 
sich solche zusammensetzt aus der Frequenzerhöhung und aus der 
Summe der arteriellen Gefisswiderstinde. Da nun die Gefässwider- 
stände je nach der Grösse und Form die Arbeitsanstrengung durch- 
aus wechseln und da man bisher nicht jene Regeln beobachtete, 
die bezüglich der Arbeitsform beachtet werden müssen (cf. S. 9 u. 10), 
so konnte man bisher keine einheitliche Regulation des Blutdrucks, 
wie dieselbe nach Arbeitsanstrengungen gefunden 
wird, aufstellen. Wohl weiss man, dass der Blutdruck im Allge- 
meinen bei Arbeitsleistung steigt, doch steht andererseits fest, dass 
gerade bei trainirten Individuen der Blutdruck während und nach 
der Arbeit sinkt. Einheitliche Anschauungen über die 
Regulation des Blutdrucks werden dagegen nur dann 
gewonnen, wenn man den Blutdruck im Liegen im Zu- 
stand der Herzberuhigung misst. Dies ist constant in allen 
Arbeitsversuchen von mir durchgeführt worden. 


Die Bedeutung der Blutdruckmessung für die 
-Beurtheilung der Funktionszustánde des Herzens. 


Wenn wir den Blutdruck nach den von uns aufgestellten Prin- 
cipien messen, so werden wir dadurch úber die vorhandenen Funk- 
tionszustände des Herzens: — über Sufficienz und Insufficienz der 
Herzleistung, über „Anpassung“, „Ermüdung“, „Erholung“ u. s. — 
unterrichtet; wir haben auf diese Verhältnisse ein wenig näher ein- 
zugehen. 

Wann dürfen wir von Sufficienz und Insufficienz der Herz- 
leistung sprechen? Bekanntlich sind die Begriffe: Sufficienz und 
Insufficienz von Basch eingeführt worden; derselbe spricht von 
Insufficienz der Herzleistung dann, wenn das Schlagvolumen des 
linken Herzens sinkt und das Blut daher im linken Vorhof staut. 
— Die Insufficienz des Herzens tritt nun ein, — primär: wenn 
das Myocard an und für sich geschwächt ist und daher die Con- 
tractionskraft des Herzens geringer wird; — die Iusufficienz ist 
secundär, wenn zwar das Myocard leistungsfähig ist, wenn jedoch 


trotzdem das Schlagvolumen sinkt, sobald nämlich der Blutdruck in 
2 


18 Dr. Gräupner, 


der Aorta eine gewisse Höhe überschreitet und dadurch secundär 
die Entleerung der linken Herzkammer hemmt. — Dieses Absinken 
der Schlagkraft des Herzens, wenn der Blutdruck eine gewisse Höhe 
überschreitet, ist sichergestellt, einmal durch Untersuchungen von 
Johanson und Tigerstedt und zweitens durch die Arbeiten von 
Basch und seiner Schüler Kauders und Grossmann.!) 

Dieser Zustand der secundären Insufficienz ist nun durchaus 
als ein physiologischer Vorgang aufzufassen, denn derselbe kann 
überwunden werden durch Einwirkung centraler sensibler Reize, 
welche, wie die Basch’sche Schule nachwies, die pressorische Kraft 
des Herzmuskels steigern — der Vorgang der Insufficienz hat zu- 
nächst auch mit „Ermüdung‘“ absolut nichts zu thun. Es kann hier 
nicht die Aufgabe sein, den Vorgang der Insufficienz, wie ihn die 
Basch’sche Schule auffasst, näher zu schildern; hier wollen wir 
nur betonen, dass auch unter der Einwirkung körperlicher 
Arbeit, welche ja ebenfalls den Blutdruck in der Aorta steigert, 
diese secundäre Insufficienz der Herzleistung eintritt und wir 
sprechen von Insufficienz der Herzleistung dann, wenn der Blutdruck 
— im Zustand der absoluten Herzberuhigung gemessen — gesunken 
ist und allmählig ansteigt. 

Dass in diesem Zustande der Blutdrucksenkung das Herz 
weniger leistungsfähig ist und dass seine volle Leistungsfähigkeit 
erst dann wiederkehrt, wenn der Blutdruck steigt, das beweisen 
unsere Contra-Versuche, die wir bald practisch vorführen werden. 

Die Insufficienz wird zur „Ermüdung“, wenn das Ansteigen 
des Blutdrucks sich verzögert und wenn der Blutdruck überhaupt 
nicht innerhalb der nächsten Minuten zur Norm ansteigt — ich 
glaube auch folgendes Verhalten des Blutdrucks, welches für „In- 
sufficienz“ characteristisch ist, als allgemein gültig hinstellen zu 
können: — Ist Insufficienz der Herzleistung unter dem Einfluss körper- 
licher Arbeit eingetreten, so hebt sich alsbald im Zustand der Körper- 
ruhe der Blutdruck zur Norm und überschreitet dieselbe für kurze 
Zeit; ist dagegen „Ermüdung“ vorhanden, so erreicht der Blutdruck 
nicht mehr die Norm, — jedenfalls ist für keinen Fall von einem 
Ueberschreiten der Norm die Rede. — Alle diese Sätze können 
aus den Resultaten meiner Arbeitsversuche herausgelesen werden. 


1) cf. Basch: Arteriosklerose. (Hirschwald. 1902.) 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 19 


- Sehr háufig konnten wir constatiren, dass nach Beendigung 
eines Arbeitsversuches der Blutdruck im Zustand der Herzberuhigung 
höher stand als vor dem Arbeitsversuch und zwar steigt der Blut- 
druck desto hóher an, je grósser die Arbeit war, — bis zu einer 
gewissen Höhe des Arbeitsmaasses. — Der Contra-Versuch beweist 
nun, dass der Herzmuskel desto günstiger arbeitet, je höher der 
Blutdruck stand! (sc. im Liegen — im Zustand der Herzberuhigung). 

Ich betrachte nun dies Ansteigen des Blutdrucks im Zu- 
stand der Herzberuhigung als den Ausdruck der „Anpassungs- 
fähigkeit“ des Herzens — je anpassungsfähiger das Herz, desto 
höher der Blutdruck! Nach meiner Auffassung besteht die An- 
passungsfähigkeit des Herzens darin, dass die Herzhöhlen sich 
activ erweitern und ein grósseres Schlagvolumen fassen; diese 
active Erweiterungsfähigkeit, auf deren Bedeutung sowohl 
v. Basch und Romberg hingewiesen haben, da speciell bei vor- 
handener Aorteninsufficienz das klinische Verhalten des Herzmuskels 
desto günstiger ist, je erweiterungsfähiger die Herzhöhlen, wird 
durch „Uebung“ und Training ausgebildet; — auch dies beweisen 
die Arbeitsversuche — 

Das Anpassungsvermögen ist nun bei den einzelnen Individuen 
verschieden ausgebildet; herzgesunde Individuen besitzen unter Um- 
ständen nur ein geringes Anpassungsvermógen; andrerseits können 
Herzkranke, vorausgesetzt, dass das Myocard intakt ist, eine er- 
staunenswerthe Anpassungsfähigkeit besitzen; wir werden solche 
Beispiele kennen lernen. 

Bei manchen Individuen findet man, dass nach absolvirter 
Arbeit der Blutdruck im Zustand der Herzberuhigung relativ über 
der Norm steht, jedoch rapid abstürzt und niedrig bleibt. -— Es 
ist wohl einleuchtend, dass wir dies Verhalten nur im Sinne von 
„Ermüdung“ deuten dürfen. 


Bei der Durchführung von Arbeitsversuchen und Blutdrucks- 
bestimmungen macht es gewisse Schwierigkeiten, die normale 
Blutdruckshöhe festzustellen. — Wir sind nicht berechtigt, als 
Norm diejenige Blutdruckshöhe zu bezeichnen, die wir im Liegen 
vor Beginn der Arbeitsversuche finden, denn es ist klar, dass die 


mannigfachsten somatischen und psychischen Einflüsse den Blutdruck 
OF 


20 Dr. Gräupner, 


vor dem Beginn der Arbeitsversuche beeinflussen. Erst nach der 
Durchführung des zweiten resp. dritten Arbeitsversuches, nachdem 
der Patient auch den sogenannten „Erwartungseffekt“ überwunden 
hat, stellt der Normaldruck sich ein und zwar mit absoluter Constanz, 
wie meine Arbeitsversuche beweisen. — 

Dass der Normaldruck im Laufe einer Nauheimer Kur oder 
schon unter dem Einfluss des Training, das ja an und für sich 
mit meiner Methode der Sufficienzbestimmung verbunden ist, steigen 
muss, ist wohl natürlich. Interessant ist festzuhalten, dass z. B. 
Raucher unter dem Einfluss des Nicotin einen höheren Druck zeigen, 
als ihnen zugehörig. — Unter dem Einfluss der körperlichen Arbeit 
regulirt sich alsbald der Blutdruck. 


Die mechanische Prüfung des Herzmuskels bei gesunden 
und bei herzkranken Individuen. 
(Casuistik.) 

In den folgenden Versuchsreihen bedeuten die Zahlen über dem Bruchstrich, 
dass die Bestimmungen der Pulsfrequenz (P) und des Blutdrucks (BD) im Stehen 
vorgenommen sind. Dagegen bedeuten die Zahlen unter dem Bruchstrich, dass 
P und BD im Liegen bestimmt wurden. Ferner bedeutet a,, a, a, U. 8. w., 
dass die Arbeitsversuche hintereinander an demselben Vormittage durchgeführt 
worden, dagegen bezeichnet a, b, c u. s. w., dass die Versuche an verschiedenen 
Tagen gemacht worden sind. 

Die Zeitdauer der „Beruhigung“ bezeichnen wir mit _ =1 Minute ____ 
= 2 Minuten — Die eingeklammerten Zahlen bedeuten den Blutdruck! *) 

I. Masseur H. 30 J. alt, gesund, ein wenig blass. 


Ergometer. 
a 75 P en 84—72 
72 (BD=101/,). la MEI. 73—69 (91/,), 
N 
a. 74 75—72 
Pa 91 RE, 
ag. 75 : 78—72 
a 41 en 
Na 


Anmerkung: Unter dem Einfluss der körperlichen Arbeit tritt „Anpassung“ 
und Uebung des Herzens ein, welche zu einer Drucksteigerung von 12'/, führt. 
2. Dasselbe Individuum nach einer anstrengenden Nachtwache. 
b, 72 90—84 
=o 021%. === s 
72—66 (91/,) oss 72—66 (erst 2 Minuten nach 
eingetretener Beruhigung BD=10.) 


1) Der Blutdruck wurde stets mit Gártner's Tonometer gemessen. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 91 


ba 84 1 90—84 
66 (10) ka 71—66 (8—10 in 3 Min.) 
bz 84 i 96—84 
72 (10) a: 66 (BD=6! in fünf Min. —9.) 


Anmerkung: Offenbar hat die Nachtwache zu einer Schwächung der Herz- 
thätigkeit geführt, denn wir finden in den Contraversuchen b, und b,, dass „In- 
sufficienz“ vorhanden bei einer geringen Arbeitsleistung. 


3. Dasselbe Individuum an einem dritten Tage, nachdem es 
ausgeruht. 


Ergometer. 
Cy. 5 (9%,) 50x21). as sofort (101/,) 
Co. je (10%, 50>4!/,. on sofort (11—101/,) 
“2 wii 75><41/,. = (BD von 12 absinkend 


auf 7; — ansteigend auf 101/, in 5 Min.) 


Anmerkung: Wir ersehen aus c, und c,, dass die Sufficienzgrenze tiber- 
schritten wird bei einer Arbeitsleistung von 75x4'/,. 


4. Dasselbe Individuum an einem 4. Tage. 


y Ergometer. 
l a (91/,) 25>21/z. nern (101/3—10.) 
d,. a ees 50x41), Eee 
A ao) 75>41/,. + (8—12—101/, 2 Min.) 


Anmerkung: Wir ersehen aus d,, dass 75><4'/, die Sufficienz überschreitet, 
doch erholt sich das Herz sofort! Man betrachte den Unterschied zwischen d, u. c,. 


5. Dasselbe Individuum mit steigendem Training. 


2 75>4!/,. ae A 
y B “FE D-10000 

6. a 25><41/,. RR (BD=10"/,—124/,—111/) 
“ayy St Beos 


29 Dr. Gräupner, 


II. Dr. G., 41 J. alt, gesund, doch etwas fettleibig und Raucher. 


Ergometer. 
"oyp A e 
“ae PY an 


a, 108 132—108 
ar 1 0 91 e A en o 
84 (10) en 108—90 (BD 7; erst nach 15 Mi- 


nuten 81/,, also die Erholung noch nicht eingetreten, dementsprechend 
ergeben die Contra-Versuche a,, a, und a,). 


as. 108 y  126-—108 
90 (81/,) Das 108—90 (nach 2 Min. 8!). 
as. 108 132—108 
= sisse = os 
90 (8!) Ors 96 (N (BD erst nach 2 Min. 6, 
nach 15 Min. 8!) 
aj. 108 zoo 120—108 
96 (8!) a: 94 (nach 2 Min. 8!/, dauernd). 


b) Zweite Versuchsreihe nach einer schlaflosen Nacht. 


by. 96 5021. 2% 
96 (8!/,) ea 90 (nach 1 Min. 8!/,). 
b,. 96 132—120 
— 50x4! == 
90 (81/3) a. 90 (6!/,! nach 20 Min. S!). 
c) Versuch nach entsprechender Nachtruhe. 
e, 120 120—90 
— DOXA! -— ; 
sa (9) Uh 78 (nach 2 Min. 81/,). 
Cə. 90 R 123— 90 
a 1F 1 . aa ; 
78 (81/,) a 105—78 (nach 5 Min. 81/,). 
d) Versuch mit steigendem Training. 
d. 99 120—102 
a U. -— : : 
90 (101) 506e T9990 (8—101/, in 3 Min.). 
dy. 100 y 126—102 
-90 (101/,) BO 793-90 (8—101/, in 2 Min.). 


III. L., 38 J., gesund und „geübt“. 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 93 


90—84 

62 (81/,). 
96—84 
78—62 (10—8!/,). 
Ne”, 


108—87 
78—66 (nach 3 Min. 8!/,). 


102—90 

72 (81/5). 
95 — 90 
72 (81/3). 
100—90 
78—72 (8!/,). 
118—90 


a, 84 
Pai F 1 
60 (8) 50><41/5. 
ay. 84 
60 (81/,) 100><41/,. 
Bs. 84 5 1 
60 (8%,). 15041. 
IV. H., 46 J., gesund und „geübt“. 
aj. 90 1 
72 (91/,) 25><21/,. 
az. 90 1 
aa AA 
as. 30 1 
72 (8/,) 25>x<31/,. 
ay. 90 5 1 
aa) en 


72 (8%). 


Wir führen nun die Functionspriifung des Herzens bei einem 
jungen Schlosser (24 J. alt) vor, welcher sich für gesund (!) hält, 
während die objective Untersuchung ergiebt: Verbreiterung der Herz- 
dämpfung nach r. um 2 (!) cm; erster Herzton an der Spitze unrein, 


zweiter Pulmonalton nicht betont. 


Die functionelle Untersuchung erweist nun in diesem Falle, dass 
die Sufficienz des Herzens sehr gering ist. — Die Dauerbeobachtung 
derartiger Patienten dürfte wichtige Aufschlüsse bringen. 


V. a. 


Ay. 


An 


Cy. 


a (72/,) 50><21/. 
E (BD—6) 50x<21/,. 
einem späteren Tag: 
= (8Y,) 50x1!/,. 
i a (6) 50><21/,. 


einem dritten Tage: 
84 
69—66(71/,) 


50>21/,. 


94—-84 
78—66 (nach 1 Min. 6). 


108 (1) —96 


78—72 (4! nach 10 Min. 6!). 


108—96 
84 (4!/,, nach 10 Min. 6!). 


115—90 
84 (41/3, nach 10 Min. 7!) 


90—84 
72—66 (81/,)). 


24 Dr. Gräupner, 


cy. 84 yy  102—84 
66 (81)  50%<4 ly 73—66 (BD = 6!/,, nach 5 Min. 7!). 


Im Uebrigen stellt sich nunmehr im Liegen ein deutliches systo- 
lisches Geräusch ein! 

Im Gegensatz zu diesem Schlosser steht ein 40jähriger Kranken- 
fahrer (VI), welcher ebenfalls gesund sein will und in der That sehr 
rüstig aussieht; auch bei diesem ergiebt die Untersuchung des 
Herzens folgenden Befund: 

„Verbreiterung des Herzmuskels nach rechts und links um je 
1 cm; Herzspitzenstoss deutlich hebend ausserhalb der Mammillar- 
linie 2. Aortenton nicht betont; alle Herztöne rein, demnach das 
Bild einer reinen Hypertrophie (Alkoholismus?).“ Wie ausserordent- 
lich leistungsfähig gerade dieses Herz (auf Grund seiner Hypertrophie 
oder trotz derselben?) ist, ergiebt folgende Untersuchungsreihe: 


VI a. 90 50 >< 21/,. 2o 
84 (81/3) k <> i 
"aa PX = de 
ag. > (8%,) 75 >< 4!/,. Ka (9—81/,). 
By. = 150 x 41). = (10—8!/,!). 


Anmerkung. a, beweist, dass 900 mklg geleistet werden kónnen, ohne dass 
die Sufficienz tiberschritten ist. 


Im Anschluss priifen wir die Sufficienz eines anderen Individuum, 
bei dem eine ausgeprägte Hypertrophie des Herzens und beginnende 
Nierenschrumpfung vorhanden ist. 

VII. H. 39 Jahre, ehemaliger Feldwebel, ein Hüne von Gestalt, 
klagt über schmerzhafte Empfindungen in der Herzgegend. Alkoho- 
lismus zugestanden. 

Obj.: Hypertrophia cordis; 2. Aortenton stark betont; Spuren 
von Eiweiss. 

. 90 105—92 

io aay Me 10) 

Nu 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 95 


az. 90 5 o1y 120—96 
90 (15) 25 >< ae gg (17). 
N 
az. 90 y, 124—96 
84 (17) Bl 96—84 BD (18—14}/,). 


Anmerkung: Der hohe Blutdruck weist hin, dass periphere Gefässwider- 
stände (Angiospasmus) vorhanden sein müssen. Die Erregbarkeit des Herzens 
sehr gesteigert, wie stets bei Alkoholismus. Das Cor ist zunächst noch „an- 
passungsfähig“. 

Das hypertrophische Herz wird so lange leistungsfähig sein, so 
lange seine Ernährung sich ungehemmt vollzieht. Wenn dagegen 
die Art. coron. verkalken, so muss die Leistungsfähigkeit des Herzens 
herabgehen und unsere Methode der Sufficienzbestimmung muss uns 
erkennen lassen, ob das Herz leistungsfähig ist oder nicht, und ob 
der Verdacht auf beginnende Coronarverkalkung berechtigt is. Wir 
zeigen nun, wie verschieden gross die Sufficienz des Herzens bei ver- 
schiedenen Patienten ist, bei denen wir klinisch dieselbe Diagnose 
der „beginnenden Verkalkung“ stellen. 

Patient No. VIII, ca. 60 Jahre alt, klagt subjectiv über heftige 
Anfälle von durchschiessenden Schmerzen, welche als Angina pectoris 
gedeutet wurden. Objectiv finden wir: geringe Hypertrophie des 
linken Herzens, Accentuation des II. Aortentones: 

Die functionelle Untersuchung des Herzens ergiebt nun eine 
ausserordentliche Leistungsfähigkeit des Herzens, weshalb ich die 
Diagnose: Angina pectoris auf Grund von Conorarverkalkung für 
unberechtigt halte. Der Ausfall der Functionsprüfung weicht gänz- 
lich ab von jenen Befunden, die wir sonst bei echter Angina pectoris 
erheben. 





8,. 72 90—75 

— 11/,. 

72 (11) VÍ 7973 (111). 

N 

a). 75 y 96—75 

72 (111/,) 25 >< 2! 5979 (121/,), 
Am náchsten Tage: 
b,. 72 90—75 
72 26 >< Vis gm (111/,). 
b,. 72 25 >< 2), 96—75 


72 90—70 (121/, andauernd!) 


26 Dr. Gräupner, 


Am dritten Tage: 


c, 84 cy 93—84 
78 (141/,) he $074 (15). 
Cy. 85 ‚, 108—84 
75 (15) 25X 8'e 84778 (151—141). 
A 
c4. 84 y 108—84 
75 (15) 25X te org (161, —141/,), 
c, 84 y 160—84 
75 (141/,) 09> Ee 0773 (4—6—12—141, 


~ innerhalb 10 Minuten). 


Anmerkung: Wie c, und c, schlagend beweisen, tritt Insufficienz erst ein 
bei 50 X 4'/, mklg. Ist dagegen echte Angina pectoris vorhanden, so stellt sich 
»Insufficienz' schon bei 20—75 mklg ein, wie folgende Fille beweisen: 


Patient No. IX, ca. 65 Jahre alt, untersetzte volle Figur, 
klagt über sägende Schmerzen in der Herzgegend, ausstrahlende 
Schmerzen im linken Arm; er hat das Gefühl, nicht „durchathmen“ 
zu können. 

Obj. Bef.: Vergrösserung des Herzens nach rechts und links um 
je 1 cm; die Gegend unter dem Manubr. sterni gedämpft. An der 
Herzspitze ein leichtes schlürfendes systol. Geräusch. 2. Aortenton 
betont. Pulsus tardus. 


m. BT os ay seis, LOS 


72 (9) 90—72 (81/,—9). 
ay. 75 y 96—90 

73 (9) PRIX 97 (1—8). 
Ay 75 ‚,  105—90 

72 (a) 721%) 10072 (6—7). 


SE, 


Ein ähnliches Resultat der Functionsprüfung des Herzens er- 
halten wir bei Fall X. 

Patient, 67 Jahre alt, leidet seit 2 Jahren an Asthma cardiale. 
Patient kann nicht recht ,durchathmen“, muss öfters stehen bleiben 
und hatte vor 1 Jahre einen schweren Anfall von Herzschwäche. 
Die objective Untersuchung ergiebt: 

Geringe Hypertrophie des Herzens nach rechts und links; erster 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 97 


Herzton an der Spitze und am Aortenostium unrein, die zweiten 
Töne sind wenig betont. 60 Pulse in der Minute. 
a. 72 66 
72 (BD 111/,) 10 >< 1, X 11/,. 66 (121/,), 
. 66 72 

Ñ 66 (121/,) RK 1 re (81/, n. 5 Min. 11!/,). 

Dass durch arteriosklerotische Vorgänge, wenn dieselben an 
den Coronar-Arterien Platz greifen und auch den Klappenapparat 
betheiligen, die Sufficienz des Herzens auch bei jüngeren Leuten 
herabgesetzt wird, beweist folgender Fall (No. 12): 

Patient, 36 J. alt, seit mehreren Jahren Schmerzen im |. Arm 
und Athembeschwerden bei stärkerer Anstrengung; früher Lues, doch 
kein Gelenkrheumatismus. Objectiv: Herzdämpfung !/, cm über den 
r. Sternalrand reichend! Erster Herzton an der Spitze geräuschartig, 
2. Pulmonalton betont; geringe Druckempfindlichkeit des plexus 
supraclavic. 2. Aortenton betont. 


a, 78 25 x Y, >< 1Y, 78 





72 (101/,) 66 (81/3). 
on y "SER er (101/,) 
by. = (13) 25 >< 1x 1. sana (121. 
__99 
"Ran BP EE ap 
á 3 (131/,) ee — (12 absinkend 


auf 6! andauernd). 


Anmerkung: Trotz des Ansteigens des Blutdrucks in b, zeigt b,, dass die 
Sufficienz des Herzens bereits bei 25 X 4 erschöpft ist und Ermüdung eintritt. 


Interessant und belehrend ist das Resultat unserer Functions- 
prüfung bei einem 65jährigen Herrn, der nur über geringe subjective 
Beschwerden zu klagen hatte. 

No. 13. Objectiv: geringe Hypertrophie des cor nach rechts 
und links. 2. Aortenton betont. 

a. 72 (17,5) y 78 
72. (13,5.) re | SY (BD = 18,5.) 
Ay. 2 21 18 : (19) 
re 78—76. (19,6.) 





98 Dr. Gräupner, 


Qs. i 84 (17,5) 
25 >< Be Soma. (T75). 


a, (als Contra-Versuch) 
90 
, A 
Aueh; 70—72. (nach 3 Min. 15.—ı 


Wie mit fortschreitender Besserung das Verhalten des Blut- 
drucks sich in günstiger Richtung verändert, wie leistungsfähig 
unsere hierorts in Bad Nauheim geübte Behandlung ist, beweist 


folgende Krankengeschichte: | 
No. 14. Patient, ca. 60 J. alt, zum dritten Mal in Nauheim, 


litt vor 3 Jahren an heftigen, durchschiessenden Schmerzen, musste 
alle 3 Minuten stehen bleiben wegen eines in der Tiefe der Brust 
auftretenden Schmerzgefühles. 

Objectiv: Verbreiterung des Herzens nach r. 1 cm über den 
r. Sternalrand; linke Herzgrenze nicht bestimmbar; — leichtes sy- 
stolisches Geräusch an der Herzspitze — 2. Aortenton ein wenig 
betont. Unter dem Einfluss körperlicher Arbeit trat sofort eine 
Dämpfung unter dem Manubr. sterni ein. 

Das Befinden dieses Patienten war unter dem Einfluss zweier 
Nauheimer Kuren wesentlich gebessert worden, sodass Patient 


schmerzfrei geworden war. 
Wir fanden bei diesem Patienten bei seinem letzten Aufenthalt 


— nach 8 Tagen 
a. 94—92 y 108 
84—82 (101/,) 5 ><? h 34 (BD 10 — 8). 
Contra- Versuch. 
a. 90 yy 120 (!— 100) 
84 (8) 25 >< D Sr G7) 


also beweist a, das Vorhandensein offenbarer Insufficienz. 


Dagegen nach 3 Wochen: 


b. 78 (101/,) i y 96—78 
72 ( 81/3) nei 72 (101/, andauernd.) 
b}. 78 i 96—76. 
72 (101/,) De 72 (12—10 andauernd.) 


Herzmuskelschwiche kann natúrlich auch dann vorhanden 


Die mechanische Priifung und Beurtheilung der Herzleistung. 29 


sein, wenn die übliche physikalische Untersuchung gar keinen Be- 
fund ergiebt. | 
No. 15. Patient, 45 J. alt, Tabes, klagt über Kurzathmigkeit beim 
Gehen! Körpergewicht ca. 90 Kilo. 
Die objective Untersuchung ergiebt: Abschwächung der Herz- 
tóne (cor adiposum!). 
a. 108 o 11 120—108 
96 (9) + X 2 < Le 08 96 (BD—8.) 
az. 108 on ə 17  117—108 
96 (8) > < 2 >< Te 702796 (nach 2 Min. 8) 
as. 108 ‘ ,, 130—108 
96 25 >< 3 >< 1 097796 (nach 3 Min. 6-8.) 





16. Wir fiihren nunmebr ein Beispiel von relativer Herzmuskel- 
insufficienz nach einem Eisenbahnunfall an; Patient ist mehrfach 
von anderer Seite als gesund erklárt worden. 

Ich finde bei der objectiven Untersuchung: Erster Herzton an 
der Herzspitze unrein, zweiter schwach betont; Herzgrenzen an- 
scheinend normal. 

Die functionelle Prüfung ergiebt nun folgendes Resultat, aus 
dem hervorgeht, dass offenbar eine Insufficienz der Herzleistung (be- 
dingt durch Myocarditis?) vorliegt. 


a. 90 120 

bes e 

66 (10) 72 ><3><1% 707 ( (10). 
de 25 >< 4 1!,. ek rR 


120—102 (8, anhaltend). 


Controlluntersuchung nach 3 Wochen: 


b. 85 100—85 
goers 1 eae 
70 (81) ext 9070 (nach 4 Min. 81/,). 


Anmerkung: Eine Arbeit von 24 X 4'/, ist für einen Locomotivführer sehr 
gering und trotzdem dauert es 4 Minuten, ehe Erholung eintritt. 


Wir wenden uns nunmehr der Functionsprüfung der Herz- 
fehler zu. — Bekanntlich hat die klinische Erfahrung der letzten 
Jahre erwiesen, dass der Herzfehler desto weniger Symptome macht, 
je leistungsfähiger das Myocard. In der That zeigt nun unsere Me- 
thode, dass wir ganz gewaltige Unterschiede der Herzkraft finden 
bei den einzelnen Patienten. 


30 Dr. Griiupner, 


Zunächst ein Fall von schwerer Mitralstenoge. 

17. Frau von 30 J. hat in einem Alter von 12 Jahren im Anschluss 
an Diphterieinfection einen schweren Herzfehler acquirirt, der zur 
Athemnoth beim Treppensteigen, beim Laufen etc. führt; Compen- 
sationsstörungen bisher nicht eingetreten. 

Objectiv: Erster Herzton paukend, 2. deutlich gespalten, 2. Pneu- 
monalton nicht betont; Herzdämpfung 2 cm nach r. über die rechte 
Sternallinie reichend | 


a. 72 (8) 96—72 
Ta a a E e 
60 (8) en 90—72 (6! andauernd!) 
a,. Contraversuch. 
12 96—72 
—- 10><1><1!/,,  ——= ; 
72 (6) e 9073 (nach 5 Minuten 5—6) 


Anmerkung: Anscheinend eine hochgradige Verengung des Mitralostium. 


Was dagegen die Nauheimer Kur in geeigneten Fillen nutzen 
kann, wie mit dem Fortschreiten der Kur die Sufficienz des Herzens 
sich hebt, das kann nunmehr einwandsfrei mit Hülfe meiner 
Methode nachgewiesen werden. Folgende Krankheitsgeschichte soll 
dies illustriren: 

H., Techniker, 24 J. alt, hat in den vergangenen beiden Wintern 
Gelenkrheumatismus durchgemacht und eine typische Mitralinsufficienz 
acquirirt. 

Object. Bef.: An der Herzspitze lautes systolisches Geräusch, 
2. Ton etwas klappend, 2. Pneumonalton betont; rechte Herzgrenze 
bis zum r. Sternalrand reichend! — 

Der objective Befund hat sich im Laufe der Kur kaum wesent- 
lich geändert, doch beweist die Functionsprüfung, dass die Sufficienz 
des Herzens im Laufe der Kur immer höher ansteigt. 


Ergometer. 
4. Aug. a. 72 (61/,) 96— 80 
SER SER Is 2 1 la. AAA 
72 (71/,) Sit 797), 
ay. 80 Ñ 108—96 
in 25><2><11/,. ———— 
72 (8) al. 7 (81/,). 
S. Aug. b. 76 90—80 


25><2>< 11/5. 


72 (101/3) 72 (111/,—101/7). 


Die mechanische Priifung und Beurtheilung der Herzleistung. 31 


14. Aug. c. 90 104—80 
Bae 5 11/.. En 
84 (101/,) ne 84—72 (101/,). 
Sat 
72 (101/,) er ie 72 (112, —11). 


Sehr wichtig ist der Nachweis, dass auch solche Patienten, 
deren Herzfehler vollständig compensirt ist und die gar keine Be- 
schwerden haben, von der Durchführung der Nauheimer Kur einen 
wesentlichen Nutzen haben und dass dieser Nutzen nunmehr objectiv 
nachgewiesen werden kann. 

19. Patient, 36 J. alt, blühend aussehend, zum 4. Mal in Nauheim. 

Objectiver Befund: Leichtes praesystolisches Geräusch an der 
Herzspitze; erster Ton paukend, zweiter kaum betont, auch der 
zweite Pulmonalton kaum betont. Rechte Herzgrenze an der Mitte 
des Brustbeins stehend. — 

Patient hat seit Jahren keine Störungen von Seiten des Herzens, 
doch spannt er in jedem Sommer hier aus. 


Am Beginn: 
a. 80 90—80 
S 1 Ra ae 
73 (9) URL $973 (BD 8). 


; 90—75 
ae 25 >< 11/ >< 2. 


72 (8) 84—72 (91/,—10—8). 

az. 80 5 i 96—78 
72 (8) 7 <1 X< 3. 35—72 (101/,—8). 

Bei der Entlassung: 

b,. 76 85—76 
al 95 YA Mi 
72 (101/,) a 76—70 sofort (121/,—101/,). 

S” 


Ebenso beweist der folgende typische Krankheitsfall, wie ob- 
jectiv mit dem Fortschreiten der Kur die Leistungsfähigkeit des 
Herzens zunimmt. 

20. Patient (45 J.) ist im Frühlinge 1901 an Influenza und Herz- 
muskelentzündung unter Betheiligung der Klappen erkrankt. 

Objectiver Befund 1901: Verbreiterung der Herzdämpfung 
nach rechts um 2 cm. Am ganzen Herzen ein starkes systolisches 
Blasen und Reiben hörbar; die zweiten Töne nicht accentuirt. Unter 


32 Dr. Gräupner, 


dem Einfluss der Kur im Jahre 1901 eine geringe Besserung des 
objectiven Befundes und Aufbesserung des Allgemeinbefindens. 
Objectiver Befund 1902: Die Herzdämpfung steht am rechten 
Sternalrand; der Charakter des Geräusches unverändert, doch trat 
im Laufe der Kur der schabende Beiklang (pericardiale Verwachsung) 
immer mehr zurück. 
Die Functionsprüfung ergiebt uns folgende Resultate: 


a. 74 90 
a 1! 1. — : 
72 (81/,) = ee 72 (nach 2 Minuten S). 
Nach acht Tagen: 
b. 74 90 
— 20 >< 2 >< 11. == 
66 (11) RU 73—66 (sofort 11). 
A, 
am Schluss! 
C. 96 105—90 
PORO y Y Md ae 
90—72 (101/,) E N e aa (sofort 111). 
ec. 90 R 105—84 
A 2 DU. re 
72 (11) er 84—66 (sofort 12!). 


Interessant sind auch die Feststellungen der Functionsprúfung 
bei einem corpulenten Herrn (J.-No. 40. Dr. Lennhof). Derselbe 
kommt seit mehreren Jahren nach Bad Nauheim. Objectiv wurde 
friiher eine Verbreiterung des r. Herzrandes bis zur r. Sternallinie 
gefunden. Der erste Herzton an der Spitze war dumpf, hellte sich 
jedoch im Laufe der Jahre wesentlich auf. Der zweite Herzton 
weder an der Herzspitze noch an der ar. pulmonalis klappend. 


21. a. 69 i 75 
66 (12) IK UN eo (12) 
N” 


b. 69 75 
ba 25 x< 1x 1 2 
RU GE (gn 

b, 75 | 75 
2 Berl, 2 
o rer ee (10). 

e, 66 66—63 
ght APRA 95 2 11 —_—__— 

60 88 (114) 2 ><? >< 1 1) 

c, 63 78—66 


25<4x1!/». 


60 (11%, 66—60 (10—111/, nach 10 Min.) 





Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 33 


Wir führen nunmehr die Krankengeschichte eines Herrn vor, 
welcher, Ausgangs der 40er stehend, an beginnender Arteriosklerose 


am Aortenbulbus leidet. 


Am Aortenostium ein systol. und diasto- 


lisches Blasen; — die Herzspitze 1 cm ausserhalb der Maxillarlinie 


stehend! 


Der Character des diastolischen Blasens hat sich im Laufe 


des letzten Jahres entschieden geändert, da nunmehr der II. Aorten- 


ton accentuirt klingt. 


22. a. 5 (10) 25<1>1!/,. (10). 
KEP 25<2x1!/,. 5 (10). 
a 25<1x1!/,. e 
as 25><2><11/,. = (12—10). 
A 252 11/5. op (12—12). 


Schliesslich wollen wir die Functionsuntersuchung des Herzens 
bei 2 Patienten vorführen, bei denen die übliche klinische Unter- 
suchung uns die Diagnose: Myocarditis stellen lässt. 

23. Patient 40 J. alt, vor 10 Jahren luetisch afficirt, hat seit 3 
Jahren Beschwerden von Athemnoth und Herzklopfen, doch hat er 
seinen Beruf stets ausführen können. 

Objectiv: Kaum nachweisbare Vergrösserung der Herzdämpfung, 
doch völlige Irregularität der Herzcontractionen: rasch folgende 
systolische Stösse — von ungleichen Intervallen unterbrochen. Puls 
gänzlich ináqualis. 





a. 96 108—96 
pee 9 1 ar 
612) FU Se q3) 
ay. 96 E 1, 120—96 
96 (13) a 110—90 (141/,). 
ay. 96 128-—98 
a 9 a 2 SEE 0 
do (141) Fl 155496 (12—10—10). 


Anmerkung: Wir finden zu unserer Ueberraschung, dass dieses cor erst bei 
25><4><1'/, insufficient wird, — doch hatten sich bisher auch klinisch nur wenig 
Symptome der Insufficienz geltend gemacht. — Vielleicht dürfen wir vermuthen, 
dass das Myocard im wesentlichen intact ist, und dass die Arythmie nicht 
myogenen Ursprungs ist. 

3 


34 Dr. Graupner, 


24. 36jähriger Mann, starker Raucher, klagte über Spannungs- 
gefühle in der Brust. 

Die objective Untersuchung ergiebt: Verbreiterung des Herzens 
nach r. bis über die Mitte des sternum; reine Herztöne, doch der 
Rythmus gestört; bald Dreitact bald Viertact; 


im Beginne der Kur: 


a,. 94 (?) AR i 120 (?) 
90 (10) 25><1><1"/- 31090 (111/,). 
ay. 92 de 120 (?) 
90 (111/,) Proz 110—90 (111, —12—11),). 
In der Mitte der Kur: 
b. 100 120 (?)—108 
a 9 1 Ei, Sr CAP 
100 (10) te go —108 (101/,). 
Nu 
b,. 108 ? ? 
100 (101/,) 40><2><1!/ 170108 (9—101/,). 
sr 
Am Schluss: 
Ej. <99 1 120—90 
yy MEAR 90 (141/,—121/,). 
Schlussbetrachtung. 


Wer sich die Mühe genommen, die einzelnen kurz scizzirten 
Erkrankungsfälle und das Resultat der Funktionsprüfung mit ein- 
ander zu vergleichen, dürfte wohl mit mir übereinstimmen, dass wir 
anscheinend dem Ziele näher gekommen sind, die Grösse der Herz- 
leistung „quantitativ“ abzuschátzen. Doch wird es wohl des Zu- 
sammenwirkens vereinter Kräfte bedürfen, ehe noch alle theoretischen 
und praktischen Fragen gelöst sind, die sich bei der Funktionsprüfung 
ergeben. -- Mir musste es genügen, an dieser Stelle nur allgemeine 
Umrisse zu zeichnen; darum verzichte ich auf manche Detailfrage 
einzugehen, z. B. auf die Frage: warum treten Differenzen des Blut- 
drucks im Stehen und im Liegen bei einzelnen Patienten ein, da 
ja bei völlig intacter Sufficienz des Herzens bei trainirten Indivi- 
duen der Blutdruck in allen Körperlagen gleich ist trotz der vor- 
handenen Pulsdifferenzen? oder Warum tritt bei Insufficienz des 


Die mechanische Prüfung und Beurtheilung der Herzleistung. 35 


Herzens so häufig Pulsvermehrung im Liegen ein? und ähnliche 
Fragen. — 

Anscheinend ist die Funktionsprüfung des Herzens auch be- 
stimmt, bei gesunden Individuen wie z. B. bei Lebensversicherungs- 
candidaten, bei Rekruten, Sportsleuten etc. eine Rolle zu spielen; nur 
werden wir berücksichtigen, dass die Durchführung der von mir 
aufgestellten Untersuchungsmethoden unendlich viel Zeit und Mühe 
erfordert; es wird eine dankbare Aufgabe sein, das Instrumentarium 
derart zu vervollkommnen, dass die Bestimmung der individuellen 
Sufficienz sich einfacher gestaltet; ich glaube, dies dadurch erreichen 
zu können, dass ein Verfahren ausgebildet wird, welches gestattet, die 
Blutdruckshöhe automatisch in jedem Zeitmoment verzeichnen zu 
lassen. 

Zum Schluss sei noch auf die diagnostische Bedeutung der 
Funktionsprüfung hingewiesen. Wir haben schon in unserer Casuistik 
angedeutet, dass uns die Funktionsprüfung innerhalb gewisser 
Grenzen gestattet, nachzuweisen, dass die Coronararterien nicht 
verengt sein können, dass Arythmien nicht myogener Natur sind 
cf. Fall 8 und 23. Eine besondere Rolle dürfte die Functions- 
prüfung noch in jener Hinsicht spielen, dass wir nunmehr den 
Beginn von Herzmuskelerkrankungen frühzeitiger erkennen können, 
wie dies Rosenbach ursprünglich vorausgesehen hatte und wie 
dies auch von Ackert neuerdings hervorgehoben wurde, cf. unsere 
Fälle 15 und 16. 


San Remo, den 12. November 1902. 


Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden an die 
Verlagsbuchhandlung, Berlin W., Lttzowstr. 10 oder die Redaktion, 
Alexanderstr. 33, erbeten. 


Verantwortlich: Dr. Rosen in Berlin. 
Verlag: Fischer’s medicinische Buchhandlung in Berlin. 
Druck von Albert Koenig in Guben. 


N 


2044 103 042 9