u —— TE U ——⏑ —
Union Deutsche Uerlagsgesellschaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig.
Berausgegeben unter Milmirkung von
Dr. Bufchbaum, Philipp Brunner, Dr. jur.
Dillovo, Frau Dr. B. Engelken, Rektor
Rarl Erbe, Karl Gamer, Alban von
Bahn, Prof.Dr. W. Beh, Max Besdörffer,
2. Büttig, Frau Dr. Eliza Ichenhäufer,
Juſtizrat Dr. T. Rielmeyer u. v. a.
Achte, vielfach vermehrte und umgenr:
beitete Auflage. Mit 54 Slnftrations=
tafeln. In modernem Einband 5 Mark.
Schatzkästlein aes guten Rats.
Sin fteben ftarken, ſchnell fich folgenden Auf-
lagen ijt dad „Schatzkäſtlein“ in zahlreiche
Familien eingedrungen und hat fi überall
al3 braudbares Hausbud bewährt. Da nun
aud die fiebente Auflage dem Ende zuging,
fühlten wir die Pfliht, das Bud von Fadı-
männern von Grund aus neu bearbeiten zu
lajien. Die achte Auflage jteht jomit in
jeder Hinficht auf der Höhe der Zeit und hat
zudem ſehr erhebliche ſchätzenswerte Erwei—
terungen erfahren. Insbeſondere hat das neue
deutſche Bürgerliche Geſetzbuch — —
Berückſichtigung gefunden. — Welcher Beruf
past fur did? Wie hilft man dem Zuden der
Gasflamme ab? Darf man den Gelüjten eines
Fiebernden nadgeben? Wie wird ein Tijc)
gededt? Wie adrejfiert man einen Brief an
nn
Schatz |
x» des guten Rats |
=
— —
den Rektor einer Univerſität? Wie heilt man einen kranken Hund? Welche Obſtſorten
gedeihen bei uns am beſten? Wer grüßt zuerſt? Wie legſt du dein erſpartes Geld an?
Wie macht man ein Teſtament? Bei ſolchen und tauſend ähnlichen Fragen des täglichen
Lebens ſuche im „Schatzkäſtlein“ eine Antwort und-du wirſt fie finden.
Übersicht der Hauptabschnitte.
Unſer Haud. Von Prof. Ferd. Luth—
mer, Architekt, Direktor der Kunft-
gewerbefchule in Frankfurt a. M.
Die Gefundheit. Von Prof. Dr....
Auf der Jagd und Reife. Von Nep.
von Nußbaum, + Lönigl. bayr.
Seneralitabsargt.
Die Haushaltung.
Die Führung des Haushalt.
Frau Dr. H. Engelten.
Die Hausmtttelapothefe. VBonDr.Otto
Dammer.
Rechteund Pflichten der Dienſtherrſchaft
und der Dienftboten aus der foztalen
Gefeggebung. Von Karl Gamer.
Am Schreibtifch. |
Bon Rektor Karl Erbe.
Die Tiere ald unjere Hausfreunde.
Bon Prof. Dr. W. Heß.
Der Haudgarten, Bon D. Hüttig,
Gartendireftor, neu bearbeitet von
Mar Hesdörffer.
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Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen.
Die gute Lebendart.
Bon Johanna von Sydow.
Erziehung und Berufswahl.
Über Erziehung. Von Oberſtudien—
rat Dr. Dillmann.
Männerberufe. Won Dr. jur. Dilloo,
die auf Öfterreich - Ungarn bezug-
nehmende Bearbeitung von Ober:
lehrer Philipp Brunner.
Srauenberufe. Won Frau Dr. Eliza
Schenhäufer.
Geld und Unlage von Geld.
Bon Georg Obſt, Bankooriteher.
Die Verficherung. Bon Dr. PBL Höck⸗
— ie bearbeitet von Dr. Bufch-
baum. |
Unſer Redt.
Von Zufttzrat Dr. 2. Kielmeyer.
Spiele. Neu bearbeitet von Alban
von Hahn.
ibliotbek der «
Unterhaltung
und des Wissens
Zu der Novellette „Auf sinkendem Wrack“ von Ulr. Myers.
Originalzeichnung von Adolf Wald.
($. 70)
Bivtiothek
Unterhaltung » =
e «und des Wissens
mit Original-Beiträgen
der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten
sowie zahlreichen Jllustrationen
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Jahrgang 1904 — Dreizehnter Band
Stuttgart a Berlin a Leipzig
Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Kinton Deutfche
Derlagggefelltassft
in Srurtgart
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ARK 1160 -|
Inbalts- Verzeichnis.
t Seite
Um die Beute. Kriminalroman von Reinhold Ortmann
(Fortsetzung und Schluss) . . . er 7
Auf sinkendem Wrack. Novellette von Ur. Myers I:
mit Jllustrationen von Adolt Wald.
Im Schatten des heiligen Berges. Eine Wanderung durch
das Athosgebiet. Von W. Belmuthb . .. ....79
mit 8 Jllustrationen.
Mamsellchen. Eine beitere Geschichte von Alwin Römer 95
Die Ameisenkönigin. Neues aus dem Leben der Ameisen.
Boch’ Dans Pelersen 1a 4... 3 anal ae
Mit 7 Jilustrationen.
Erkenne dich selbst! Aus dem Seelenleben einer Frau.
Von Anna Vogel v. Spielberg . . . 267
Im MNordseebade. Zeitgemässe Winke und Ratschläge.
Uon Lothar Brenkendorff . » >» 2: 2 2 1192
mit 12 Jllustrationen.
Mannigfaltiges:
Diebbels. .Mikroskob = : : 210
Neue Erfindungen:
I. Kleiderhalter „Praktish“ . . . 2 202.20..213
mit 3 Jllustrationen.
II. Zigarrenhalter am Bierglas A RATEN Sr RATEN
Mit Jllustration.
Die Kahlköpfigkeit bei Frauen . . . 2 2115
Wie Mendelssohn zu seiner Frau kam . . » . . 219
6 Inhalts⸗Verzeichnis.
DDr DD DD Dr Dee DE De ⏑ Dr ⏑ Dr Der
Neues vom Mont Pele
mit Jllustration.
Das Vorgefühl der Tiere
Seltsame Telephongespräch .
Ein königlicher Hauswirt .
Warum weinen wir beim Lachen?
Ein absonderliches Grabdenkmal
mit Jllustration.
Das Caillenmass einer modernen Uenus .
Die Geschichte eines Vorwelttieres .
Bier wird nicht geklopft
Der Kopfschmerz der Schnellesser .
Der Geschichtskenner
Damenjockeis .
Der erste Steckbrief .
Ein höflicher König .
Seite
221
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226
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232
233
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239
240
Um die Beute.
Kriminalroman von Reinhold Ortmann.
Tr
(Fortsetzung und Schluss.) (Nachdruck verboten.)
Sechzebhntes Kapitel.
gaß Wendriner ſich ſein in zäher Beharrlichkeit
A erbeutetes koſtbares Geheimnis nicht gut—
— willig entreißen laſſen würde, war für Bruno
) = Hartmann von vornherein eine unumftöß-
liche Tatjache, mit der er bei jeinen weiteren Schritten
rechnen mußte. Er hatte wohl zunächſt an den Ber:
juch einer Verſtändigung gedacht, aber er hatte dieſe
Abficht bald wieder aufgegeben, meil jie wenig Erfolg
verhieß und weil er damit wahrjcheinlich zwecklos alles
aufs Spiel gejeßt hätte.
Seine Entſchlüſſe jtanden fejt, als er fich am Morgen
nach Grevenbergs Abreije zur Fahrt nach Brandenftein
anjchickte. Er hatte Hanna nur auf wenige Minuten
gefprochen, aber ihr Benehmen hatte ihm noch mehr
al3 die gejtrige Unterredung die Überzeugung erweckt,
daß fie ihm die volle Wahrheit gejagt habe.
Mit dem erjten Zuge legte er die kurze Fahrt zu:
rüd, und als er auf dem Brandenfteiner Bahnbofe
8 Um die Beute.
Dre DEI Der DrE Dr De ED
zwei durch ihre Müsenfchilder Tenntliche Lohndiener
gerwahrte, ging er ohne meiteres auf fie zu, um fich
zu erlundigen, ob ihm einer von ihnen Auskunft über
einen gejtern in [päter Abendftunde angelommenen Frem—
den geben Tönne, deſſen Ausfehen er mit einigen
Worten befchrieb.
Der eine der Befragten zucte die Achfeln, der andere
aber erflärte mit aller Beſtimmtheit, daß er einen ält»
lichen Herrn, auf den die Beichreibung genau paßte,
in den „Silbernen Löwen“ geführt babe.
Hartmann nahm ihn beifeite und drüdte ihm einen
Taler in die Hand. „Es handelt ſich um eine fcherz-
hafte Überrafchung, die ich mit diefem Herrn im Sinne
habe,” fagte er. „Darum möchte ich noch einige Aus:
fünfte von Ihnen haben. Aber Sie dürfen mich nicht
verraten. Wenn Sie bi3 morgen früh reinen Mund
halten, können Sie ſich auf ein weiteres anjtändiges
Trinkgeld Rechnung machen.”
Der Mann war natürlich fofort zur Beantwortung
aller Fragen bereit, und Hartmann erfuhr, daß Wend-
riner, der fich unter dem Namen Müller in das
Fremdenbuch des Gafthofes eingefchrieben hatte, gejtern
gleich nach feiner Ankunft fchlafen gegangen fei, fich
aber vor einer halben Stunde von dem Hausdiener
den Weg nad) dem Kirchhof hatte befchreiben Laffen,
weil er dort das Grab eines nahen Verwandten auf:
ſuchen wollte.
Nun zögerte Hartmann nicht mehr, fich in da3
nämliche Hotel zu begeben, denn er brauchte ja nicht
zu fürchten, daB er Wendriner jebt begegnen würde.
Man wies ihm ein Zimmer im erjten Stockwerk an,
von deſſen Fenſtern aus er den Eingang des Haufes
bequem beobachten konnte Er verließ dieſen Poften
denn auch nicht mehr, bis er Wendriner zurücktehren
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 9
Te um U m) U m] I un U m) en | U
fab Er börte, wie jener die Treppe beraufitieg und
fich in ein dem feinigen faft gegenüberliegendes Zimmer
begab. Nun war er feiner Sache volllommen ficher und
zauderte nicht länger, feinen Operationsplan zur Aus—
führung zu bringen. Behutfam verließ er fein Zimmer
und das Haus. Nicht bei einem der Hotelbedienfteten,
fondern bei irgend einem Paſſanten, den er auf Der
Straße anbhielt, erfundigte er fich nach) dem Wege zum
Friedhofe, der in ziemlicher Entfernung an der Grenze
des ftädtifchen Weichbildes lag.
Der recht ausgedehnte Begräbnisplag mar von einer
niedrigen Mauer, an melche fich die Mehrzahl der Erb-
begräbniffe anlehnte, umgeben. Seine Anlage mußte
in eine beträchtliche Vergangenheit zurüdreichen, denn
er war mit fehr alten Bäumen bejtanden und glich
eher einem mohlgepflegten Bart als einer Begräbnis:
ftätte. Wohl eine Stunde lang wanderte Hartmann
zwifchen den Hügelreihen umher, aber es gab da der
verfallenen Gräber und der unleferlichen Denkmals—
infchriften jo viele, daß er nicht den geringiten Anhalt
für die Lage der jo ſeltſam gewählten Schagfammer
gewann. Darauf hatte er ſich indejjen von vornherein
wenig Hoffnung gemacht, und nicht darum war e3 ihm
- zu tun, Heinrich Wendriner zuvorzulommen, fondern
darum, ihn zu überrajchen.
Er kehrte denn auch nicht in den Gaſthof zurüd,
fondern verbrachte den Reſt des Tages in verjchiedenen
an dem Wege zum Friedhof gelegenen Wirtfchaften,
von deren Fenjtern aus er jeden beobachten konnte, der
ich zu dem Begräbnisplat begab.
Wie er es nicht anders erwartet hatte, befand ſich
Heinrich Wendriner nicht unter diefen wenigen Kirch—
bofbejuchern. Schon Hanna hatte ja vorausgefagt,
daß ihr Vater lediglich die Dunkelheit der Nacht zur
10 Um die Beute.
DD DE DAAD ⏑ ED Dre De De Dr Dre Dr DrrEId Ede
Ausführung feines Vorhabens benugen könne, da ex
nur dann vor läftigen Beobachtern ficher war.
Erjt als der Abend hereinbrach, kehrte Hartmann
darum zu der um dieſe Zeit von jedem gemiedenen
Aubeftätte der Toten zurüd. Er fand die in der
Dauer angebrachte Gittertür bereits verfchloffen. Aber
nachdem er fich überzeugt hatte, daß kein menjchliches
Weſen in der Nähe fei, überitieg er ohne Mühe die
niedrige Mauer und wählte jich zwiſchen zwei fapellen-
artigen Gruftbauten einen Verſteck, der ihm geftattete,
den nach der Stadt führenden Weg zu überbliden, fo-
weit die Finfternis der Nacht es eben zuließ.
In der faft inmitten des Friedhofes gelegenen
Wohnung des Totengräbers brannte noch Licht, und
von Zeit zu Zeit wurde von dorther das Gelläff eines
Hundes vernehmlich. Diefe Nähe belebter Weſen war
einigermaßen jtörend, aber fie war es ja für Wend—
riner in demfelben Maße als für feinen Verfolger,
und der auf einen Diebſtahl Ausgehende hatte eine
Überrumpelung jedenfalls ungleich mehr zu fürchten ala
fein Beobachter. i
MWahrfcheinlich geſchah es denn auch mit Rüdficht
auf daS bewohnte Totengräberhaus, daB Wendriner
erſt gegen Mitternacht, wo er die Inſaſſen im feften
Schlafe glauben konnte, an der Gitterpforte erjchien.
Auch er verjuchte vergeblich, fie zu öffnen, und auch
er mußte fich entjchließen, den Weg über die Mauer
zu nehmen. Er hatte jich für fein unbeimliches nächtliches
Merk anfcheinend mit Überfchuhen aus Gummi oder Filz
ausgerüjtet, denn volllommen lautlos hufchte er zwiſchen
den Gräbern dahin. Sn einer Entfernung, die er in
Anbetracht der durch die Bäume noch vermehrten
Dunkelheit nicht zu ängftlich abzumefjen brauchte, folgte
ihm Bruno Hartmann nad. Ein paarmal, wenn mit
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 11
Dr Dr-E DD ED DD ED DA DE DDr DDr DE Dr ED eD
leifem Rnaden ein Zweig unter feinem Schritt zerbrach,
oder wenn fein Fuß ein paar dürre Blätter raſchelnd
beifeite fchob, fürchtete er, daß der andere aufmerkjam
werden könnte, aber Wendriner war offenbar jo ganz
von dem Gedanken an fein Vorhaben beherrjcht, Daß er
der geringfügigen Geräufche nicht achtet. Er mußte
fich bei feinem Morgenbefuch gut orientiert haben, denn
er blieb nicht ein einziges Mal in ungemifjem Zaudern
ftehen. Der Teil des Friedhofes, dem er fich zumandte,
war jedenfalls der ältefte, denn das Strauchwerk auf
und neben den Gräbern war bier jtellenmeife zu einer
beinahe undurchdringlichen Mauer verwachjen.
Hartmann mußte feine jcharfen Sinne auf das
äußerfte anftrengen, um den Berfolgten nicht aus dem
Geficht zu verlieren und fich Doch nicht durch zu Tühne
Annäherung zu verraten. Aber e3 gejchah in feiner
Laufbahn nicht zum erſten Male, daß er fich jo auf
den Spuren eine3 menschlichen Wildes befand, und er
bewies die VBorficht und Kaltblütigfeit eines Indianers.
ALS er gemwahrte, daß Wendriner neben einem halb
eingefuntenen Grabhügel jtehen blieb, ducte er ſich auf
der Stelle nieder, wo er fich eben befand, faum um ein
Dutzend Schritte von dem anderen entfernt. Tajtend
überzeugte er fich, daß fich ſowohl die Kleine eleftrifche
Tafchenlampe, die durch den Druck auf einen Knopf
zum Leuchten gebracht wurde, als der Turze, leder:
umfponnene Totjchläger, den er für den äußerſten Not:
fall zu fich gejtedt hatte, im Griffbereich jeiner Hände
befand. Dann barrte er lautlos der weiteren Entwick—
lung der Dinge.
MWendriner hatte offenbar feine Vorbereitungen eben:
falls nach bejtem Vermögen getroffen, aber er bejaß
doch nicht die nötige Umficht und Schulung. Sonſt
würde er vor allem wohl mit der kleinen Blendlaterne,
12 Um die Beute.
DDR DFED LED D DT ED EDDIE DEI DE DIDI EI
die er jet unter feinem Überrod zum Vorfchein brachte,
etwas vorfichtiger hantiert und fie nicht fo auf den
Hügel geftellt haben, daß ihr Lichtfchein wie der Schim-
mer eines großen Leuchtläfer weithin fichtbar fein
mußte. Auch hätte er fich vielleicht mit einem geeig-
neten Werkzeug verfehen, um den fchmeren Stein, unter
dem Paul Grevenbergs Schäte verborgen fein jollten,
bequem von der Stelle zu rüden. Nun war er dafür
lediglich auf die Kraft feiner Hände angemwiefen, und
e3 war augenfcheinlich, daß feine der Törperlichen Ar-
beit ungewohnten Muskeln diefer Aufgabe kaum ge-
wachfen waren. Deutlich hörte Hartmann das feuchende
Atmen feiner Bruft und die leifen Verwünfchungen,
welche die vergebliche Anjtrengung ihm erpreßte. Saft
war er in Verfuchung, aufzufpringen und ihm feine
Hilfe anzubieten, aber noch jchien ihm der geeignete
Zeitpunkt nicht gelommen, und er empfand fogar eine
Art von fatanifchem Vergnügen bei dem Gedanten an
die furchtbare Enttäufchung, die den gar zu Klugen
erwartete, wenn er fich in dem Augenblid, da er das
Biel feiner Wünfche erreicht glaubte, um die heiß er⸗
ſehnte Beute geprellt ſah.
Mochte er ſich immerhin noch ein wenig plagen,
denn weshalb ſollte er ihm die begonnene Arbeit er-
leichtern!
Minute auf Minute verrann. Ein Falter Nacht:
wind ftrich über den einjamen Kirchhof Hin und raufchte
unheimlich in den herbftlichen Baummipfeln. Gejpenftifch
weiß blinften in unficheren Umrifjfen die großen und
kleinen Grabfreuze in der FinjternisS auf. Lautlojen
Fluges hufchte eine Fledermaus dicht über dem Kopfe
Hartmanns durch die Luft, und der klagende Schrei
eines Käuzchens, der weither aus der Richtung des Toten:
gräberhaufes ertönte, ließ den furchtlofen Mann, der
— 4 mi.
Sriminalvoman von Reinhold Ortmann. 13
noch faum je in feinem Leben das Gefühl des Grauens
kennen gelernt hatte, unmillfürlich erſchauern.
Die Situation fing doch an, ihm unbehaglich zu
werden. Im Grunde war e3 ja auch Torheit, noch
länger zu warten. Da verriet ein dumpfes Auffchlagen,
daß es Wendriner endlich gelungen war, den ſchweren
Stein herabzumälzen. Er ftöhnte vor Erfchöpfung, und
als jein Kopf jett, da er fich auf den Hügel nieder:
beugte, in den Lichtlreis der Blendlaterne kam, fah
Hartmann, daß ihm die ſchweißverklebten Haare wirt
über die Stirn herabhingen, und daß feine Gefichtäzüge
grauenhaft verzerrt waren.
Mit beiden Händen begann er, da er offenbar noch
nichts von dem gehofiten Schaße zu erblicken vermochte,
das von dem zentnerfchweren Stein in jahrzehntelangem
Laften fejtgedrücdte Erdreich des Grabhügel3 zu durch-
mwübhlen, in feiner milden Gier nach dem erträumten
Reichtum blind und taub für die Schredniffe des Ortes
und für alles, was um ihn ber gefchehen niochte.
Seht war für Hartmann der Augenblid des Han:
delns gefommen. Er richtete fich aus feiner unbequemen,
gedudten Stellung auf, willens, mit einigen lautlofen
Schritten den Schatgräber zu erreichen. Aber fein Fuß
trauchelte unglüclichermweife über die Bruchftüde eines
am Boden vermodernden hölzernen Grabkreuzes, und er
fiel mit dumpfem Auffchlagen über einen der Hügel hin.
Ein Schrei, wie ihn nur die gräßlichite Todesangjt
einem Menſchen erpreſſen kann, kam von Wendriners
Lippen, aber er dachte trotzdem nicht daran, vor dieſer
furchtbaren Überrafchung die Flucht zu ergreifen. Wohl
ftand er für die Dauer einer Sekunde wie von Ent:
jeen gelähnit, dann aber — Hartmann hatte nur eben
Zeit gehabt, fich aufzurichten — ftürzte er fich wie ein
wildes Tier auf den gleichjam aus den Grabern empor:
14 Um die Beute.
gejtiegenen Feind, deſſen Geficht er in der Dunkelheit
nicht erkennen fonnte und den er in feiner unfinnigen
Aufregung vielleicht eher für ein gefpenftifches Wejen
als für einen lebendigen Menjchen hielt.
Hartmann konnte fo wenig jeine Tafchenlaterne in
Funktion jegen, als er fich feines Totjchlägers zur Ver:
teidigung zu bedienen vermochte, jo jäh und fo wuchtig
war der unerwartete Angriff erfolgt. Aber feine Geiftes-
gegenwart hatte ihn trogdem feinen Augenblid ver:
lafjen, und noch zur rechten Zeit hatte er das ſchwache
Auffcehimmern des blanken Biltolenlaufes in Wendriners
Hand gejehen. Wie mit eifernen Zangen umklammerten
feine Finger das Handgelent des Angreifers und drüdten
feinen Arm nach oben, und nicht um den Bruchteil
einer Selunde hätte er diefe energifche Abwehr ver:
zögern dürfen, denn im nämlichen Moment fchon er:
Erachte der Schuß, der ihm gegulten hatte, lang nach—
ballend in der tiefen nächtlichen Stille.
„Werfen Sie die Waffe fort — Gie find ja vers
rückt!“ zifchte Hartmann. „Ich tue Ihnen Doch nichts
zuleide.“
Aber der andere ſchien wirklich den Verſtand ver⸗
loren zu haben. Er ächzte und keuchte in raſender
Wut, indem er ſich mit dem Aufgebot ſeiner ganzen
Kraft von dem Griffe des ihm an Körperſtärke weit
Überlegenen zu befreien ſuchte. Er hatte Hartmann
offenbar noch immer nicht erkannt, und während diejer
fritiichen Augenblide, in denen er allen Ernjtes um
fein Leben fämpfen mußte, dachte diefer auch nicht
daran, feinen Namen zu nennen. Er mußte ja nicht,
ob er e3 noch mit einem zirechnungsfähigen Menfchen
oder mit einem Verrüdten zu tun babe, und in der
furchtbaren Anſpannung aller Nerven hörte er auch
das Rufen menfchlicher Stinmen, die vom Totengräber-
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 15
OIADADMDRD AD DID MED
hauſe her laut geworden waren, nicht früher, als bis
auf und nieder zudender Laternenfchein fehon bis auf
wenig mehr al3 hundert Schritte nahe gelommen mar.
Da nahm er noch einmal all feine Kraft zufammen,
und mit einem gewaltigen Stoße fehleuderte er den
anderen von fich, fo daß er ftrauchelte und zwiſchen
den Grabhügeln niederftürztee Mit einigen rajchen
Sätzen flüchtete er dann in das umgebende Picicht,
um menigftens einem fofortigen Zuſammenſtoß mit den
Herbeieilenden auszumeichen.
Die Hatten es nicht ſchwer gehabt, die Stelle zu
finden, wo der alarmierende Schuß gefallen fein mußte.
Das vötliche Leuchtläferlicht von Wendriners Blend—
laterne hatte ihnen den Weg gezeigt. Sie waren ihrer
drei, der grauhaarige Totengräber und zmei feiner Ge:
bilfen.. Auf das notdürftigjte bekleidet, jo wie fie aus
ihren Betten gejprungen waren, hatten fie fich auf-
gemacht, den vermeintlichen Selbftmörder zu Tuchen,
und fie zweifelten nicht, ihn in dem verftört ausfehen-
den Manne gefunden zu haben, der fi) da mühſam
vom Boden aufrichtete.
Hartmann war noch nahe genug, um zu hören, was
fie jprachen; aber bei dem Durcheinander aufgeregter
Stimmen vermochte er zunächit den Sinn ihrer Rede
nicht zu erfaflen. So viel jedoch wurde ihm bald Klar,
daß die Leute Heinrich MWendriner, der ſich wütend
gegen feine Feſtnahme fträubte, für einen VBerrüdten
hielten. Und in der Tat mußte er wenigſtens in diefem
Augenblid die Klarheit feines Verſtandes eingebüßt
haben, da er fortwährend nach dem Gelde fchrie, das
niemand gehöre al3 ihm, und da er unaufbörlich ver:
ficherte, jeden niederzufchießen, der fich dem Grabe
nähern würde.
Natürlich war fein Widerftreben diefer Übermacht
16 Um die Beute.
DDR DE DD DE DDr DDr Dr Dre Dre Dede
gegenüber eitel Torheit. Sie hatten ihn fehr bald wehr—
los gemacht, und der Totengräber fagte: „Wir werden
ihn in die Leichenkammer fperren, bi3 wir einen Gen-
darmen herbeigefchafft haben. Vorwärts alſo — und
laßt ihn unterwegs nicht entwifchen.“
Aber einer der Knechte zögerte noch, diefer Weifung
zu gehorchen. „Vielleicht ift aber doch was in dem
Hügel verſteckt,“ meinte er. „ES wär’ doch nicht das
erite Mal. So verrüdt ift der Kerl am Ende nidt,
daß nicht irgend etwas dahinter ftedte. Sehen Sie
nur, er bat den jchmeren Stein ganz allein umgemorfen
und ſchon ein ganz tüchtiges Loch gebuddelt. Wie wär's,
wenn wir den Hügel umfchaufelten? Die ganze Gräber:
reihe follte ja doch im nächften Frühling eingeebnet
werden.”
Es mochte für den Totengräber etwas Einleuchten-
des in der Rede des Burfchen fein.
„Schafft den Mann zunädjft in die Leichenkammer,“
meinte er nach kurzem Überlegen, „und dann fommt
mit Schaufeln zurüd. Wir können uns ja immerhin
überzeugen.”
Die Knechte verſchwanden mit ihrem Gefangenen,
der jetzt plößlich ganz apathifch gemorden mar und
mehr geichleppt als geführt werden mußte, in der
Duntelbeit. Bruno Hartmann aber ging mit fich zu
Rate, ob er fich dem am Grabe zurüdgebliebenen
Totengräber offenbaren follte oder nicht. ES konnte
ihm ja fchließlich nicht viel gefchehen, aber er ſagte fid)
doch, daß es faum möglich fein würde, diefen-Leuten
den Zuſammenhang der Dinge klar zu machen, und daß
er jedenfalls Gefahr lief, zunädhjft in Haft genommen
zu werden. Das aber wollte er unter allen Umjtänden
- vermeiden. Denn wenn Wendriner fich in der Stelle,
wo der Schaf verſteckt war, dennoch geirrt haben jollte,
Srimtnalroman von Reinhold Ortmann. 17
DD erde Dee ⏑ Der Dre D ne De Dre Dee Dre De —
oder wenn alles nur ein von Grevenberg im Ein:
verjtändnis mit Hanna erjonnener Betrug gemejen war,
fo war alles verloren, wenn er für einen oder mehrere
Tage in feiner Bewegungsfreiheit behindert wurde.
Deshalb hielt er es für geraten, in feinem Verfted
zu bleiben und fich mäuschenftill zu verhalten.
Er hatte feine ÜUrfache, es zu bereuen; denn ala
eine Stunde fpäter die mit ihren Werkzeugen zurück—⸗
gefehrten Gehilfen des Zotengräbers ihre Arbeit be:
endet hatten, ohne daß in dem forgfältig durchfuchten
Erdreich des HügelS irgend etwas von Geld oder Geldes
wert zum Vorfchein gelommen wäre, durfte er fich über:
zeugt halten, daß Wendriner das Opfer eines Irrtums
oder eines Betruges geworden mar.
Er wartete, bi die Leute mit ihren Laternen wieder
im Innern des Totengräberhaufes verſchwunden waren,
dann richtete er ſich auf und verließ auf demfelben
Wege, den er gefommen war, unbehelligt den Friedhof.
Siebzehntes Kapitel.
m Doltor Ruthardts Wartezimmer pflegten fich
fonft die Patienten nicht gerade zu drängen, aber als
Grevenberg am Morgen nach feiner Unterredung mit
dem Oberftleutnant das Haus betrat, dejjen Exrdgefchoß
der junge Arzt bewohnte, traf es fich Doch, daß Rut—
bardt eben mit einer zeitraubenden Unterfuchung be-
fchäftigt war, und daß der neue Ankömmling deshalb
von der Haushälterin aufgefordert wurde, fich ein
wenig zu gedulden.
Grevenberg jah heute erfchredend abgefpannt und
elend aus. Die müde Haltung, in der er auf feinem
Stuhle jaß, und die bläulichen Schatten unter feinen
Augen ließen vermuten, daß er in der Nacht nur wenig
1804. XII. 2
18 Um bie Beute.
UDrDrEDr ED DD DD DE ED AD ARD AED ED ED AED AED ED
Schlummer gefunden Habe, und von Zeit zu Zeit er:
fchütterte ein trodener, Eraftlofer Huften feine Bruft.
Trogdem mufterte er feine Umgebung mit gefpann-
tem Intereſſe, und nachdem er die fehr befcheidene Ein:
richtung des Wartezimmers bis in die Meinften Einzel:
beiten jtudiert hatte, ftand er auf und trat an das
Senfter, das nach der Hinterfeite des Hauſes hinaus:
ging und den Ausblid in einen Kleinen, fchon herbftlich
tahlen Garten gewährte.
Das Fenjter mochte wohl mannshoch über dem
ſchmalen Rafenftreifen liegen, der fich längs der Haus:
mauer dahinzog, aber die Latten eines Obſtſpaliers,
da3 den unteren Teil der Mauer bededte, hätten e3
einem leidlich gemandten Turner wohl nicht allzu ſchwer
gemadht, vom Garten au3 die Brüftung zu geminnen.
Paul Grevenberg laufchte nach dem anjtoßenden
Sprechzimmer hin, und da er aus dem Tonfall der
fonoren Männerftimme, die da drinnen laut wurde,
den Schluß 308, daß der Arzt noch immer mit der Be-
fragung feines Patienten bejchäftigt fei, öffnete er fo
geräufchlos als möglich einen der beiden Fenfterflügel.
Nun konnte er, fich Hinauslehnend, das Terrain da
draußen noch bejjer überbliden. Er ſah, daß fidh
zwifchen dem Garten und dem Nachbargrundftüd ein
nur durch niedrige Holagitter eingefriedigter Gang hin-
30g, der offenbar die Beftimmung hatte, ein weiter
rückwärts gelegenes, fchuppenartiges Gebäude mit der
Straße zu verbinden. Andere bemerkenswerte Ent:
dedungen waren nicht zu machen, man hätte denn Die
auf einem angrenzenden Hofe im Winde flatternde
Wäſche dahin rechnen wollen, oder eine Schar zanten:
der Spaten, die in lebhaftem Meinungsaustaufch
zwifchen den entlaubten Wipfeln einiger Obftbäume
bin und ber flogen.
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 19
DIDI DD ID DD ED ED AD ADD AD DD ——
Eben Hatte er das Feniter wieder gejchloffen, als
fih die Tür des Nebenzimmers auftat. Der Patient
Tam unter Dankſagungen heraus, und der Doktor, deſſen
jugendliches Ausfehen den Verlobten Marthas über-
raſchte, Iud den Fremden mit höflicher Handbewegung
zum Eintritt in das Sprechzimmer ein.
Grevenbergs erjter Blid fiel auf die Vaje neben
dem Schreibtifh. Das Blut ftieg ihm heiß zu Kopfe,
und es wurde ihm ſchwer, feine Augen von dem Runft:
werk loszureißen. Aber er wollte fich heute befjer be-
herrſchen, al3 e3 ihm geftern dem Oberftleutnant gegen:
über gelungen war, und auf des Doltord ruhige Frage
nach feinem Begehr begann er mit gutem Gefchid die
in den fchlaflofen Stunden diefer Nacht erfonnene Ko:
mödie zu fpielen.
Er nannte feinen Namen nicht und begnügte fich, |
zur Aufklärung über feine Perſon zu fagen, daß er nur
zu vorübergehendem Aufenthalt in Tiebenfelde fei. Ein
Unwohlſein, von dem er fchon feit einiger Zeit geplagt
werde, habe fich in den lebten Tagen derart gejteigert,
daß er ſich nun doch entjchließen müſſe, einen Arzt zu
fonfultieren. Er fürchte, daß mit feinem Herzen etwas
nicht in Ordnung fei, und bitte um eine gründliche
Unterfuchung.
Georg Ruthardt, der ihn während des Sprechens
fehr aufmerkſam beobachtet hatte, erjuchte ihn, feinen
Dberlörper zu entkleiden, und begann mit der Aus:
fultation. |
„Sie ſehen jchlecht genährt aus,” fagte er. „Es
fcheint, daß Sie Ihren Körper längere Zeit iiber Ge:
bühr angeftrengt haben.”
„sh war lange auf Reifen, Herr Doktor. Viel:
leicht habe ich mir da mehr zugemutet, als ich ertragen
fonnte. Aber es bat doch wohl nichts zu bedeuten.“
20 Um die Beute.
IRDARDDIEREDIRDI DEI DD DD ADD Dr Dee Dre
„Wir werden fehen,“ lautete die kurze Ermiderung,
und wenn nicht Grevenbergs Gedanken ausſchließlich
auf die Vaſe gerichtet geweſen wären, würde ihn der
ernite Klang diefer drei Worte wahrjcheinlich mit einiger
Beforgnis erfüllt haben.
Die Unterfuhung währte ziemlich lange, und er
mußte auf eine Reihe von Fragen Auskunft geben, wie
fie ihm ähnlich vor einigen Tagen auch der von feinem
bejorgten Gajtfreunde geholte Arzt vorgelegt hatte. Er
beantwortete fie ganz ehrlich, denn fein Geſundheits—
zuftand war ihm in diefem Augenblid jo gleichgültig,
daß es ihm durchaus nicht der Mühe wert ſchien, fich
irgendwie zu veritellen.
„Bitte — Sie können ſich wieder ankfleiden,” fagte
Ruthardt endlich, indem er das Stethoſlkop fortlegte.
„Ih werde Ihnen etwas Anregendes verfchreiben, aber
ich verhehle Ihnen nicht, daß Sie davon nur vorüber:
gehend Nuten haben werden. Ich empfehle Ihnen
dringend, fi) an Ihrem ftändigen Aufenthaltsort fo:
fort in andauernde ärztliche Behandlung zu geben.”
„Ab, Sie wollen mich doch nicht ängftlich machen,
Herr Doktor?” Lächelte Grevenberg. „Haben Sie denn
etwas Bedenkliches gefunden?”
„Ihre Zungen find angegriffen, und Ihr Herz ar-
beitet nicht fo, wie e3 ſollte. Sie müſſen jedenfalls
fehr vorfichtig leben, jede Aufregung, Anftrengung oder
Ausſchweifung vermeiden und für die Pflege Ihres
ſtark heruntergefommenen Körper alles tun, was nur
immer in Ihren Kräften ſteht.“
So eindringlich) auch das alles gejagt war, jo wenig
Eindrud machte es doch in diefem Moment auf den,
dem die Warnung galt. „ch merde mir’3 merken,
Herr Doktor,” jagte er leichthin.
Und dann, während er feine Krawatte fnüpfte, jtellte
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 21
rDrnDrRD DD AED ADDED Dre DD Dre Der Dre Dre Dre D
er fich vor die japanische VBaje.. „Was für ein herr-
liches Kunſtwerk Sie da beſitzen!“ plauderte er. „Biel:
leicht willen Sie nicht einmal, welchen Wert e3 für
einen Sammler folder Altertümer haben würde.”
„Doch, ich weiß es,’ warf Georg Ruthardt, der
eben mit der Abfaffung des Rezepts befchäftigt mar,
furz hin. „Man hat es mir wiederholt gejagt.“
„Sind Sie nie in Verjuchung geführt worden, die
Bafe zu verlaufen? Aber es verirrt fich wohl freilich
nur felten ein wirklicher Kenner hierher nach Lieben-
felde?“
„Das wäre mir auch ſehr gleichgültig. Denn die
Vaſe iſt nicht verkäuflich.“
„Sie ſollten das nicht mit ſolcher Beſtimmtheit aus⸗
ſprechen, verehrter Herr Doktor. Am Ende hat jedes
Ding in der Welt ſeinen Preis.“
„Ich wiederhole, daß die Vaſe nicht verkäuflich iſt.
— Darf ich Sie vielleicht um Ihren Namen bitten,
damit ich ihn auf dem Rezept vermerken kann?“
Der Fremde hatte dieſe Aufforderung offenbar über-
hört, Er war jegt ganz in die Betrachtung und Unter:
ſuchung de3 metallenen Kunſtwerkes vertieft.
„Wie meifterhaft das alles modelliert ift! Geradezu
dem Leben abgelaufcht. Dieſe Eidechje hier in dem
Aſtloch zum Beifpiel — ifi es nicht, als ob fie im
nächſten Augenblid davonhuſchen müßte?”
Als wolle ex das Tierchen ftreicheln, fuhr er mit
dem Finger in die winzige Öffnung, die der zierliche
Körper der Lacerte noch) freiließ, und als er in der
Tiefe der Höhlung eine Heine Bapierrolle fühlte, meitete
fih in einem triumphierenden Glüdögefühl feine Bruft.
Wenn dies Röllchen noch an feinem Plaße mar,
fo lag ficherlich auch alles andere mwohlgeborgen da,
wohin er es verſteckt hatte, und unter allen lebenden
23 Um die Beute.
DMDDEEDT DE DD ED ADD ED AD AD DAR DIDI
Menschen kannte nur er das Geheimnis diejer Loftbaren
Vaſe.
Mit der gut geſpielten Lebhaftigkeit eines Menſchen,
der plötzlich zu einem großen Entſchluß gelangt iſt,
wandlie ex ſich nach dem ungeduldig wartenden jungen
Arzte um.
„Ich will ganz aufrichtig fein, lieber Herr Doktor.
Ich felbjt bin zufällig ein leidenjchaftlicher Liebhaber
japanijchen Kunftgewerbes, und ich möchte Ihnen die
Vaſe ablaufen. Nein, nein — fagen Sie nichts! Es
fönnte Sie gereuen. Denn ich biete Ihnen nicht, was
andere Ihnen vielleicht geboten haben, denen es um
einen vorteilhaften Erwerb zu tun war. Ich habe
etwas Derartiges noch nicht in meiner Sammlung, und
der etwaige Marktwert des Stüdes ift darum für mich
nicht das Entjcheidende. Machen Eie mir Ihren Preis,
Herr Doktor, und machen Eie ihn, Jo hoch Sie wollen.
Nur fagen Sie mir nicht noch einmal, daß Ihnen die
Vaſe unverfäuflich fei.”
„Und doch Tann ich Ihnen nichts anderes jagen.
Sie werden fich nicht weiter bemühen, wenn ich Ihnen
mitteile, daß das Kunſtwerk ein Gefchent ijt, deſſen
Veräußerung mir jehon Rüdfichten der Pietät verbieten.”
„Run ja, es iſt etwas ſehr Schönes un die Pietät,
aber e3 ift auch etwas fehr Schönes um eine runde
Sunme Geldes. Wenn ich Shnen nun fechg-, nein,
zehntaujend Mark biete, Herr Doktor? — Ich bin Fein
Freund vom Feilſchen — jagen wir aljo von vorns
herein zehntaufend Mark.”
Georg war betroffen. Das aufdringliche Gebaren
des Mannes war ihm mit jeder Sekunde widermärtiger
geworden. Dies ungeheuerliche Angebot aber, das den
Wert der Vaje ficherlic” weit überftieg, ließ ihn ge:
radezu an der Gejundheit feines Berftandes zweifeln.
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 23
DD rd DDr Dre D DDr Dr DDr
„Sie täufchen fich offenbar in Ihrer Schätzung,“
fagte er. „Auch ohne die Gründe, die ich Ihnen bereits
nannte, würde ich mich zu einem derartigen Kandel
nicht verftehen.”
„Aber weshalb denn nicht, Here Doltor? Da e3
mein freier Wille ift, brauchen Sie fich doch Fein Ge:
willen daraus zu machen, wenn ich den Gegenstand
etwa zu teuer bezahle. Sie fennen offenbar die Leiden-
ſchaft eines eingefleifchten Sammler3 nicht und wiſſen
nicht, was e3 für ihn bedeutet, fich eine Seltenheit ent-
gehen laſſen zu müfjen, in die er fich einmal verliebt
bat. ch bin reich, und die Summe, die ich Ihnen
geboten habe, bedeutet für mich fo gut wie nichts. Pie
Vaſe aber bedeutet mir in dieſem Augenblick alles.
Alfo — Schlagen Sie ein?”
Ruthardt fehüttelte den Kopf. „Es ift unmöglich.
Laffen Sie uns nicht weiter davon reden.”
Grevenbergs Pulſe flogen mie im Sieber. „Nun
denn — fünfzehntaufend, Herr Doktor! Oder, wenn
Ihnen aud) das noch nicht genug ift, jo machen Sie mir
felber den ‘Breis, der Ihre Bedenklichleiten überwindet.”
Der junge Arzt wollte unmillig feine Verneinung
wiederholen. Da durchfuhr ihn ein Gedanke, der ihn
zaudern machte. Er wußte, der Oberjtleutnant von
der Heyde war nicht reich, und er würde einem An—
gebot, wie e3 hier von einem offenbar halb fpleenigen
Sammler gemacht wurde, vielleicht nicht widerjtanden
haben. Wenn er nın doch feine urfprüngliche Abficht
zur Ausführung brachte und die Vaſe ihrem Spender
zurüdgab, erwies er dem Vater Martha3 damit nicht
vielleicht einen Dienft, dem zuliebe er ſchließlich den Vor—
wurf einer Taktlofigkeit ruhig hinnehmen fonnte? Er
war darüber mit fich felber noch nicht ganz im reinen,
aber es war immerhin der Erwägung wert.
24 Um die Beute.
DIDI AD AD DI Dr DDR ED EI DE Dr eD
„Gut alſo,“ entgegnete er, „ich werde mir Ihr An:
erbieten überlegen. Da3 ift alles, was ich Iyhnen im
Augenblid antworten Tann. Sch verjpreche Ihnen
nichts, aber es findet fich möglicherweife Doch ein Weg
zur Erfüllung Ihrer Wünfche.”
Das war der erſte Hoffnungsfcehimmer, und er
leuchtete Grevenberg in einem Augenblid auf, wo er
fein Vorhaben faſt ſchon als gefcheitert angefehen hatte.
Vor Freude zitternd, fagte er: „Ich rechne darauf,
Herr Doktor. Aber ich bitte, machen Sie die Bedent-
zeit kurz. Sch Tann mich nicht lange bier aufhalten,
und ich wäre Ihnen darum jehr dankbar, wenn mir
die Sache noch heute ind reine bringen Tönnten.”
Ruthardt zog fich einen Notizblod heran. „ch
verfpreche Ihnen, wie gejagt, nichts. Aber jagen Gie
mir gefälligft, wo eine Benachrichtigung Sie erreichen
würde.“
„sh bin im Bahnhofshotel abgejtiegen.”
„Und Ihr Name?“
„Herbert Lyncker.“
Er Hatte der Notwendigkeit, fich zu nennen, nicht
länger ausmeichen fünnen, er hielt die für die Erfüllung
feiner Wünſche damit verbundene Gefahr auch nicht
für groß, denn er ahnte ja nichts von der Vertraut—
heit der perjönlichen Beziehungen zwiſchen dem Arzte
und dem Haufe des Oberſtleutnants.
Erit das jähe Auffahren des Doktors und der Aus:
drud höchſten Erftaunens auf feinem Geficht ließen ihn
erkennen, daß er eine fchlimme Unvorfichtigleit begangen
babe. |
„wunder heißen Sie? Herbert Lynder? Sie find
der Verlobte des Fräuleind von der Heyde?”
„Alerdings, Herr Vektor,” erwiderte Grevenberg
unficher, für den Moment noch völlig ratlos, wie er
Sriminalvoman von Reinhold Ortmann. 25
OAMDDD EDDIE DD DE DD ADD DE Dr
fich Ddiefer unerwarteten Wendung gegenüber zu ver:
halten habe. „Sebt Sie da3 fo fehr in Verwunderung?”
„Ja — ich verhehle es nicht. Sie denken Doch
wohl vorläufig nicht daran, Hochzeit zu machen?”
„Daran dachte ich freilich. Warum follte ich es
nicht dürfen?“
„Weil Sie damit eine Leichtfertigfeit begingen, eine
fteäfliche Torheit, wenn nicht etwas Schlimmeres. Gie
haben fich an mich als an den Arzt gewendet, und ich
glaube Ihnen unter diefen Umftänden volle Wahrheit
ſchuldig zu fein. Ihr Gefundheitszuftand ist fchlecht, mein
Herr, viel fchlechter, als ich e3 Ihnen vorhin andeuten
zu müfjen glaubte. Bei jehr vorfichtigem und ruhigem
Leben können Sie es vielleicht noch auf eine Anzahl
von Jahren bringen, im Fall einer Berheiratung aber
würde ich Ihnen nicht mehr als ſechs Monate zu prophe-
zeien wagen. ®
Grevenberg fuhr zuſammen. Aber es war vielleicht
noch mehr der Ton der Worte geweſen als ihr Inhalt,
der ihn erſchreckt hatte. Die plötzliche Erregung des
Doktors war ihm unbegreiflich, und ſie verurſachte ihm
gerade deshalb ein Gefühl peinigender Beklommenheit.
„Auch der erfahrenite Arzt Tann fich täuschen, Herr
Doktor,” fagte er zögernd. „Und dann — wenn e3
auch fo wäre — ich würde dann doch mwenigitens ſechs
Monate lang glüdlich gemejen fein.” |
Nuthardt war rot geworden, und unfähig, feinen
heiligen Zorn länger zurüdzubalten, brach er los: „An
das Verbrechen aber, das Sie damit gegen ein arglos
vertrauendes Mädchen begingen, denfen Sie nicht? ALS
Mann von Ehre müßten Sie nach dem, was ich Ihnen
gefagt babe und was Gie fich von jedem beliebigen
Arzt betätigen laſſen können, der jungen Dame ohne
weiteres ihr Wort zurückgeben. Denn auch fie hofft
26 Um die Beute.
DIDI TED D ADDED ED ED DD DDr ED Dr ID
darauf, glüdlich zu werden. An Ihrer Geite aber
würde fie nur dazu verurteilt fein, die Krankenpflegerin
zu jpielen.”
„Sie find nicht fehr rüdjichtsvoll, Herr Doktor!”
brachte Grevenberg mit zitternder Stimme hervor.
„Aber ich werde mit mir zu Nat gehen. Vielleicht
werde ich Ihre Mahnung befolgen. Aber nicht wahr
— auf unfer Gefchäft mit der Vaſe hat es feinen Ein-
fluß, daß Sie mich nun als den Verlobten des Frau:
leins von der Heyde kennen?”
„Da ich jet natürlich annehmen muß, daß Sie mir
Ihren KRaufvorfchlag im Auftrage des Herren Oberft-
leutnants gemacht, werde ich mic) noch heute mit Herrn
von der Heyde in Verbindung fegen, um ihn zur Zu:
rücknahme de3 mir gemachten Geſchenkes zu bejtimmen.“
So verlodend ihm auch für einen Moment die Aus:
ficht erjchien, die Vaſe wieder in den Belit feines fünf:
tigen Schmwiegervaterd gelangen zu ſehen, fo rajch er:
tannte Paul Grevenberg doch, daB er die Abficht des
Arztes nicht zur Ausführung gelangen laffen dürfe.
„Sie find im Irrtum,“ verficherte er eifrig. „Der
Dberftleutnant bat Feine Ahnung von meiner erft hier
entjtandenen Abficht, dieſes Stüd zu erwerben, und ich
wünſche dringend, daß er nichts von meinem Befuche
bei Ihnen erfährt. Ich rechne auf Ihre Diskretion
und appelliere ausdrüdli an Shre Pflicht der ärzt-
lichen Berufsverfchwiegenheit.”
„Eines folchen Appells bedarf es natürlich nicht.
Aber wenn ed, wie Sie jagen, nicht der Wunfch des
Herrn von der Heyde ift, die Vaſe wieder zu bejigen,
jo babe ich Ihnen über diefen Gegenftand nichts weiter
zu fagen. Das Runjtwerk ijt mir um leinen Preis feil,
und wenn id) jemals zu dem Entfchluß gelangen follte,
mich feiner auf andere Weije zu entäußern, jo würden
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 27
ö Re)
Sie unter allen Menfchen der legte fein, dem ich es
überließe.”
„Warum gerade ich, Herr Poltor? Was habe ich
getan, mir Ihre Abneigung zu verdienen?”
„Erlaſſen Sie e3 mir, Ihnen darauf zu antworten.
Erwägen Gie lieber, was ich Ihnen in Bezug auf
Ihre HeiratSabfichten ſagte. Da ich nicht das Necht
habe, Ihre Braut zu warnen, fühle ich mich zweifach
verpflichtet, Shnen zu wiederholen, daß dieje Heirat
ein Verbrechen wäre. — Und nun entjchuldigen Gie
mich wohl, meine Praxis ruft mich. Ihren Hut dürften
Sie im Wartezimmer gelaffen haben.” |
Grevenberg zauderte noch, zu gehen, aber die Art,
wie der Doktor ihm den Rüden kehrte, um ein Kleines
chirurgifches Beſteck, das er auf feinen Krankenbeſuchen
immer mit fich führte, aus dem Schranf zu nehmen,
mar ihm Beweis genug, daß er nichts mehr zu hoffen
babe.
Mit halblaut gemurmeltem Gruße ging er hinaus,
Wohl war e3 eine neue ſchwere Enttäufchung, die
er da erlitten hatte, aber fie drückte ihn doch nicht fo
danieder wie die gejlrige Überrafchung. Als er fich
zu dem Doltor begab, hatte er von vornherein nicht
mit Sicherheit auf ein Gelingen gerechnet, und er hatte
deshalb nicht verfäumt, fich durch ein möglichſt gründ-
liches Studium des Terrains auch über jenen anderen
Weg zu unterrichten, auf dem er, wenn es fonft feine
Möglichkeit mehr gab, jein Eigentum zu erlangen fuchen
mußte.
Nun war es an der Zeit, diefen Weg einzufchlagen.
Es war der gefährlichite, den er gehen konnte, aber es
mar der einzige, der ihm noch offen ftand. Der Hoff:
nung auf Martha Beſitz mußte er freilich entfagen,
wenn er fich dazu entjchloß. Darüber täufchte er fich nicht
28 Um die Beute.
A⏑⏑ DD DD re De DD ID
mehr. Aber die Tantalusqualen, die er ausgeftanden,
feitdem er feinen Schaß in fo greifbarer Nähe und Doch
fo unerreichbar fern wußte, hatten da3 Verlangen nach
diefem Schaß bis zur Stärke einer Xeidenfchaft gefteigert,
vor der im Augenblid alles andere zurüdtrat, jelbft
feine Liebe zu dem Mädchen, für das er zum Ber:
brecher geworden war. Das, mas ihm urfprünglich
nur ein Mittel zum Glüd hatte fein jollen, war jetzt
in feiner Borftellung das Glück felbft geworden. Auf
alles konnte er fchließlich verzichten, nur nicht auf dieſes
Geld, das er fich feiner Überzeugung nach härter und
mühfeliger erworben hatte, als je ein Vermögen ers
mworben worden war.
Geine Entſchlüſſe jtanden feft, und damit war eine
merkwürdige, faft zuverfichtliche Ruhe über ihn ge-
kommen.
Während er die Straße hinabging, an der das
Haus des Doktors lag, überzeugte er ſich, daß der
Gang, den er vorhin zwiſchen den beiden Gärten be-
merkt hatte, wirklich auf die Straße ausmündete und
weder durch ein Tor noch durch ein Gitter verſchloſſen
war. Man war offenbar nicht jehr ängitlich vor Dieben
bier in Liebenfelde.
Grevenberg Lehrte in fein Hotel zurüd und beftellte
die Rechnung, da er mit dem nächften Zuge abreifen
wolle. Dann jchrieb er einen Turzen Brief an den
Dberftleutnant, in welchem von der Notwendigkeit einer
plöglichen Abreife und von der Hoffnung die Rede
war, in einigen Tagen zurüdtehren zu fönnen. Er
mußte, daß man diefe Art der Benachrichtigung nicht
für eine Entfehuldigung gelten lafjen würde und daß
er den empfindlichen alten Herren durch folche Un-
gezogenbheit auf daS tiefjte verlegte, aber darum brauchte
er fich ja jebt feine Sorge mehr zu machen. Da oben
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 29
IRDADD ED ED REDE AED ED AD DD Dee Dee DDr
in der Blatanenftraße gab es für ihn nichts mehr zu
hoffen.
Ohne fich gegen den etwas neugierigen Hotelmirt
über fein Neifeziel oder über die Möglichkeit einer
Wiederkehr zu äußern, verließ er eine halbe Stunde
fpäter das Gafthaus und jchlug den Weg nach dem
“ nahegelegenen Bahnhofe ein.
Achtzehntes Kapitel.
Am zweiten Vormittag nach feiner Abreife kehrte
Hartmann in die Wendrinerfche Wohnung zurüd.
Hanna war es, die ihm auf fein Klingeln öffnete, wie
ſeither jedes Anfchlagen der Glode fie veranlaßt hatte,
an die Tür zu eilen.
Sie erſchrak, als fie ihn erkannte, und in ihrer erften
Beftürzung Eonnte fie nicht anderes herausbringen als:
„Sie find wieder da? — Wo ift mein Vater?”
„Darüber werde ich Ihnen Auskunft geben, Fräu—⸗
lein Wendriner,” fagte er jehr gemefjen, „wenn Sie
mir fofort eine Unterredung unter vier Augen ermög>
lichen wollen. Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu
Sprechen.”
Hanna zauderte, aber ihre Unentfchloffenheit war
nur von kurzer Dauer, denn fie war nicht feige.
„zaflen Sie uns in hr Zimmer gehen,” ermwiderte fie.
„Ich Ttehe zu Dienjten.” Und als fie dann allein mit-
einander waren, wiederholte fie ihre vorige Frage:
„Wo iſt mein Bater? Warum find Gie ohne ihn zu:
rückgekommen?“
„Ihr Vater befindet ſich als Polizeigefangener im
Kreiskrankenhauſe zu Brandenſtein. Nur dem Umſtand,
daß er ſeit ſeiner Einlieferung vernehmungsunfähig
war, daß er keinerlei Legitimationspapiere bei ſich führte
30 Um die Beute.
IIRD DIDI ED EEE EDER DEI DI DD EDDIE
und fich unter einem falfchen Namen in das Fremden:
buch des Hotel3 eingetragen hatte, haben Gie es zu:
zufchreiben, daß man Ihnen noch feine amtliche Nach:
richt davon zukommen ließ.”
Hanna lehnte totenbleich am Tifche, aber fie fette
feiner Nüdfichtslofigfeit eine trogige Selbftbeherrfchung
entgegen.
„Er ift alfo ſchwerkrank, trogdem er doch ganz ge:
fund war, al er uns verließ?”
„Die Arzte des Krankenhauſes fagen, e3 fei ein
Nervenchof, unter dem er zufammengebrochen ift. Auf
einen Zuftand furchtbarfter Aufregung folgte eine voll:
jtändige Apathie. Er ift anjcheinend bei Bemußtfein,
aber er zeigt leinerlei Syutereffe für das, was mit ihm
gefchieht, und antwortet auf feine der ihm vorgelegten
Fragen.”
„Es ift alfo genau Bazfelbe wie Damal3 nach dem
Zufammenbruch, als die Anklage wegen betrügerijchen
Bankrotts gegen ihn erhoben wurde. Damals Hatte
er e3 im Verlauf einer Woche überwunden.”
„Soviel ich gehört habe, ijt Die Prognoſe der Ärzte
diesmal weniger günftig. Man hegte zur Zeit meiner
Abreife ſehr ernite Beforgnijje um fein Leben.“
Noch immer veränderte fih in Hannas bleichem,
ftarrem Geſicht feine Linie. Als hätte fie feine legten
Worte gar nicht gehört, fragte fie weiter: „Sie fagen,
daß er als MBolizeigefangener im Krantenhaufe ift?
Warum da3? Er hat während feines kurzen Aufent-
halts in Brandenftein doch wohl kaum etwas Gtraf-
mwürdiges getan?”
„Er wurde überrajcht, als er zu nächtlicher Stunde
auf dem Kirchhofe einen Grabhügel zerjtörte.. Auf
Grabfehändung aber find ftrenge Strafen gefebt.”
Nun war Hanna doch in Gefahr, ihre Faljung zu
Kriminalroman von Reinhold Ortmann, Sl
DDr EDDIE DD ED ED DD EDDIE ED AD DDr
verlieren. Der kalte, dDurchdringende Blick dieſes er-
barmungslojfen Menfchen bohrte ſich wie ein Dolch:
meffer in ihre Seele, und für einen Moment mußte fie
ihre Augen mit der Hand bededen, um ihm zu ent»
gehen.
Hartınann wartete ein paar Sekunden lang; dann
fuhr er ohne die leifefte Regung des Mitleid fort:
„Es wundert mich, Fräulein Wendriner, daß Gie gar
teine Stage nach der Ausbeute meiner Brandenjteiner
Reife an mich zu richten haben. Intereſſiert es Sie
denn fo wenig, ob es Ihrem Vater und mir gelungen
ift, die verborgenen Schäße de3 Herrn Grevenberg zu
heben ?”
Sie antwortete ihm nicht.
Nach kurzem Warten fprad) er weiter: „Oder mußten
Sie vielleicht ſchon vorher, daß wir nichts finden wür⸗
den? gebt, da der Freund, für den Sie fich jo helden:
mütig geopfert haben, wohl ſchon in Sicherheit ift,
tönnten Sie es am Ende ruhig zugeftehen.”
Hanna ließ die Hand finten und fah ihn an. Ein
Ausdrud düfterer Entjchlofjenheit war auf ihrem Ge-
fiht. „Warum fpielen Sie mit mir mie die Rabe mit
der Maus? Wenn ich Sie betrog, hätte ich Ihnen
damit denn etwas anderes angetan als Sie mir? War
denn Ihre angebliche Freundfchaft für mic) von allem
Anbeginn etwas anderes als fehändlicher Betrug?”
„sh babe auch gar nicht die Abficht, Ihnen Bor:
würfe zu machen. Jeder nimmt feine Intereſſen wahr,
fo gut er fann — das iſt fein unzmweifelhajtes Recht,
und der Dümmere muß fich darein ergeben, wenn in
dieſem Intereſſenkampfe der Klügere den Sieg behält.
Bielleicht macht es Ihnen Vergnügen, Fräulein Wend-
riner, wenn ich Ihnen ausdrüclich zugeftehe, daß Sie
bis zu diefem Augenblick die Klügere geweſen find.“
32 Um die Beute.
ADDED DDr Dre De Dre De Dre Dre DDr Dr ED ⏑ —
Da lachte fie fehneidend auf. „Die Klügere? —
Mollen Sie mich verhöhnen? Die Klügere — ih? —
Die fich von einem Schurfen bintergehen ließ wie ein
ahnungsloſes Gänschen?“
Hartmann horchte auf. Der Ton, der da an ſein
Ohr geſchlagen war, klang wirklich echt. Aber er hatte
gelernt, diefem Mädchen gegenüber auf feiner Hut zu
fein. „Ein neuer Aufzug der Komödie alſo? Meinet-
wegen! — Uber wozu die Anftrengung? GEs ift nicht
mehr der Mühe wert, mich am Narrenfeil herumzufüh-
ren. Ich Habe ja aufgehört, einer der Mitwirkenden
in diefem Pofjenfpiel zu fein. Was jet noch zu tun
ift, wird die Polizei beforgen, und Sie müſſen Ihre
Künſte deshalb ſchon an einer anderen Stelle verfuchen.”
„D nein, mein Herr! Syn Diefer Sache ift es mit
meiner Runft und mit meinen Künften zu Ende. Ich
wünſchte aus tiefitem Herzen, die Kriminalpolizei wäre
geſchickter als Sie.”
„So ſicher alſo ſind Sie Ihrer Sache? So be—
ſtimmt wiſſen Sie, daß Ihr Freund ſich und ſeine
Beute glücklich aus dem Bereich aller Verfolgungen
gebracht hat?“ |
„Nichts weiß ich — gar nichts!” fchrie fie mit aus:
brechender Leidenfchaft. „Aber wenn e3 fo ift, wie Sie
fagen, fo hat er es dem glüdlichen Zufall zu danken,
daß man Narren und Dummköpfe zu feinen Wächtern
bejtellt hatte, und daß ein verblendetes Weib jich dazu
bergab, ihm als Brüde in die Freiheit zu dienen.”
Nun war er gewiß, daß fie ihm feine Komödie mehr
vorfpielte. Er änderte feinen Ton. „Sol ich Ihnen
glauben, Fräulein Wendriner? Auch Sie aljo hätte
diefer Grevenberg betrogen?“
„Nur mid) hat er betrogen — mich ganz allein!
Denn welche Verpflichtung hätte er gehabt, gegen meinen
Sriminalcoman von Reinhold Ortmann. 33
EDDIE Dr Dr Dre Dee Dr ED
Vater oder gegen Sie aufrichtig zu fein? — Gegen die
Bluthunde, die ihm auf den Ferſen waren, mochte ex fich
immerhin wehren mit allen Mitteln der Verſchlagen⸗
beit und der Lift. Mich aber durfte er nicht hinter:
gehen — mich nicht.”
„Sp jagen Sie mir alles, Fräulein Hanna! Biel-
leicht können wir doch noch einmal aufrichtige Bundes:
genofien werden.“
„Was fol ich Ihnen denn noch fagen, das Gie
nicht fchon erraten hätten? Ich Habe ihm zur Flucht
verholfen, mit Lug und Trug und mit der Hergabe
meiner legten Sparpfennige. Er follte jeine verjtedten
Schätze heben und follte entweder innerhalb vierund-
zwanzig Stunden zurüdltommen, mich zu holen, oder
mir den Ort angeben, an dem mir und zur gemein
famen meiteren Slucht vereinen würden. Ich vertraute
ihm, ich war troß meiner Erfahrungen einfältig genug,
feinen VBerfprechungen zu glauben.”
„Und er hat natürlich nach feiner Abreife nichts
mehr von fich hören laſſen? Sie hegen feine Hoff-
nung mehr, daß er fein Berjprechen dennoch einlöfen
könnte?“
„Nein, ſo wahnſinnig bin ich nicht. Jetzt könnte
er ja gar nicht mehr kommen, da er ſich ſagen muß, daß
mein Vater ihn ſicherlich nicht zum zweiten Male ent—⸗
wiſchen ließe, nachdem er mit diefer Kirchhofgefchichte
einmal daS Opfer eines Betruges geworden. Es mar
auch von vornherein gar nicht feine Abficht.“
„And Sie wollten fich ganz untätig verhalten? Gie
wollen es ruhig gefchehen laſſen, daß er die Früchte
feine Verrats genießt — vielleicht in der angenehmen
Geſellſchaft einer anderen?“
Hanna war zufammengefahren mie unter einem
Peitſchenhieb. So viel Temperament Hartmann ihr aud)
1904. XII. 3
34 Um die Beute.
ID DD DA DDr Dr KDD DDr DDr ED DDr
zutraute, dies dämoniſch wilde Funkeln in ihren Augen
machte ihn Doch betroffen.
„Sagen Sie mir, wo ich ihn finde, und er joll feines
Schurfenftreiches wahrhaftig nicht froh werden.“
„Er hat Ahnen fein Reifeziel nicht genannt?”
„Ich babe ihn nicht einmal danach gefragt. Wozu
auh? Wenn es feine Abficht war, mich zu Hinter:
gehen, würde er mir ja doch mit einer Lüge geantwortet
haben.”
„Bermutlich! Aber wie konnten Sie ihm aud) fo
blindlings vertrauen? Haben Sie fich denn gar nicht
bemüht, über feine Bläne etwas aus ihm herauszubringen,
ohne daß er es merkte?”
„Ich babe es wohl verfucht; aber er war klüger al3
ich. Ich weiß nichts — nichts.“
„Das ift allerdings fchlimm. Dann werde ich doch
wohl die Hoffnung auf meine Belohnung fahren laſſen
müffen, und Sie, mein unkluges Fräulein, werden um
Ihre Rache an dem Verräter kommen. Denn von der
Polizei haben wir jet, nachdem Grevenberg einen Vor⸗
fprung von drei Tagen gewonnen bat, aller Voraus:
ficht nach wenig zu erwarten, auch wenn fie den Tele:
graphen nach allen Richtungen der Windrofe fpielen läßt,
um die Spur des Herrn Herbert Lynder zu entdeden.”
Er mar niemals in üblerer Laune gemefen als in
diefem Augenblid, denn er mußte ja feiner eigenen
Leichtglaubigfeit einen nicht geringen Zeil der Schuld
beimefjen an dem Scheitern feiner Mijjion.
Da fagte Hanna, die mit finjterem Geficht und feit
zufammengepreßten Lippen vor ihm gejtanden, plößlich:
„arten Sie einen Augenblid. Sch will Ihnen etwas
zeigen, was ich in.feinem Zimmer gefunden habe. Da
Sie jo fcharfjinnig find, Fann e3 Ihnen möglichermweife
von Wichtigkeit fein.”
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 35
erDrkDeDrDereD öS Dre
Sie kehrte raſch zurüd und legte eine Anzahl Pa-
pierfegen vor ihn auf den Tifch.
„Er war feit einer Woche in unferem Haufe,” er:
zählte fie, „als ich ihn eines Tages beim Schreiben
eines Briefe überrafchte. Er hatte eben den lebten
Federzug der Adreffe getan und ſchob bei meinem Ein-
treten den Umfchlag jo haſtig unter die anderen auf
dem Tiſch Tiegenden Papiere, als hätte ex ein jehr
großes Intereſſe daran, ihn nicht fehen zu laffen. Da:
bei mag fi dann wohl die naffe Schrift ein wenig
verwifcht haben, fo daß er das Brieffuvert ſpäter nicht
mehr verwenden konnte. Sch fand es zerriffen in feinem
Papierkorb. Aber die Stüde waren fo Klein, daß ich
troß aller Bemühungen die Adrefje nicht mehr zufammen-
bringen konnte. Diefes bier waren die größten der
vorhandenen Fragmente. Uber auch fie haben mir un-
lösliche Rätſel aufgegeben.”
Während fie Sprach, Hatte fie die Bapierfchnigel fo
aufammengefügt, daß fie wieder die Wortfragmente:
„ulnant vo— yde— ebenfel—“ ergaben.
Wit gejpannter Aufmerkſamkeit war Hartmann
ihrem Beginnen gefolgt. „Dieſe Überreite können ung
allerdings möglicherweife von Bedeutung werden,” er:
Härte er. „Haben Sie die übrigen Schnigel des Um-
ſchlags nicht mehr in Ihrem Beſitz?“
Hanna mußte verneinen. „Ich Habe fie fort.
geworfen, da e3 doch unmöglich geweſen wäre, ſie in
einen Zuſammenhang zu bringen.“ |
„Das it fehr fchade. Wir müffen uns alfo mit
dem zu behelfen fuchen, was wir haben. Da fcheint
mir denn fo viel als ficher, daß unfer Freund mit einem
adligen Leutnant oder Oberleutnant oder Generalleut-
nant forrejpondiert hat. Wenn wir die PBerfönlichkeit
des Adreſſaten fefttellen können, fo gewinnen wir da=
36 Um die Beute.
— DDr
mit möglicherweiſe einen wichtigen Anhalt für die
Natur von Grevenbergs Plänen. Er hatte vor ſeiner
Beſtrafung die Manie, ſich unter falſchem Namen an
vornehme Leute heranzudrängen, und es ſcheint faſt,
daß er ſich jetzt mit einem dieſer alten Bekannten in Ver⸗
bindung zu ſetzen geſucht hat. Mit den drei Buchſtaben
„yde“ können wir allerdings nicht viel anfangen, denn
es gibt ficherlich Taufende von Namen, in die fie hin-
einpafjen würden. Die Ortsbezeichnung fcheint fehon
viel verheißungsvoller, obwohl ich mir feit fünf Minuten
vergebens den Kopf zerbreche, um eine Stadt ausfindig
zu machen, deren Name mit diejen Silben in Zuſammen⸗
hang zu bringen if. Nebenfelde — Lebenfelde —
Nebenfels — alle diefe Orte exiftieren nicht. Aber e3
dürfte Doch nicht unmöglich fein, den richtigen zu er:
mitteln. Sch merde es unverzüglich verjuchen. Gie
haben zu Grevenberg natürlich nichts von Syhrem Funde
geſprochen?“
Hanna verneinte, und mit dem Eifer, der jede feiner
Handlungen charakterifierte, machte fi) Hartmann un-
geſäumt an die weitere Verfolgung der Schwachen Fährte.
Er ging aus, und als er nach etwa drei Stunden zu-
rückkehrte, winkte er Hanna, die. ihm geöffnet hatte,
noch einmal in fein Zimmer.
„Ich babe ein: Städteleriton und die Karte genau
durchftudiert,” ſagte er. „Ich habe dabei gefunden,
daß e3 darin nur einen einzigen Ort gibt, der die be-
treffenden Buchftaben enthält. ES ijt das Städtchen
Liebenfelde, das glücklichermeife nur ein paar Meilen
von bier entfernt ift. Ich werde aljo nicht gar zu
viel koſtbare Zeit verlieren, wenn ich dahin fahre, um
an Ort und Stelle nach dem Adreſſaten des geheim-
nisvollen Briefes zu forfchen. Noch in diejer Stunde
gedenke ich abzureiien, und fobald ich etwas ermittelt
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 37
DDr Der Dre DDr Dee Dee .
babe, daS für unferen Zwed von Bedeutung tft, werde
ich Ihnen telegraphifche Nachricht geben.”
„Ich bitte Sie darum, und ich wünſche von ganzem
Herzen, daß Ihre Bemühungen von Erfolg fein möch-
ten. Aber Sie dürfen mir natürlich nicht hierher in
unfere Wohnung telegraphieren. Meine Mutter braucht
nicht zu wiffen. Richten Sie die Depefche alſo unter
den Anfangsbuchltaben meines Namens pojtlagernd an
das Haupttelegraphenamt. Sch werde morgen nach—
mittag dort Nachfrage halten.”
Er verſprach, fich nad ihrem Wunfche zu richten,
und ſchon nach einer PVierteljtunde war er auf dem
Wege zum Bahnbofe.
Als Hanna am nächſten Mittag auf dem Tele:
graphenamt erfchien, um ſich nach einer unter der
Chiffre H. W. eingelaufenen pojtlagernden Depeche zu
ertundigen, reichte ihr der Beamte ein, mie er jagte,
ſchon vor zwei Stunden eingegangenes Telegramm.
Mit bebenden Fingern löfte Hanna den Verfchluß und
las: „Spur gefunden. Kommen Sie fofort hierher, habe
Ihnen wichtige Mitteilungen zu machen. Hartmann.”
- Hanna wäre am liebiten gefahren, ohne zuvor noch
einmal nach Haufe zurückzukehren. Aber fie war fajt
ohne Mittel, und da fie jedenfall nicht mehr an dem:
felben Tage hätte zurüdtehren können, mußte fie fich
doch auch mit etwas Wäſche verjehen. Sie fuhr alfo
in die elterlihe Wohnung zurüd, wo noch immer teine
Nachricht von ihrem Vater eingetroffen war, erfann
unterwegs irgend ein Märchen von der Erkrankung
einer Freundin, die fie notwendig bejuchen müſſe, und
beftieg in einem Zuſtande fieberhafter Erwartung den
Abendzug, der fie nach Liebenfelde bringen follte.
38 Um die Beute.
DD RDD AD ADDED DD DD AD ED Dr Dr ED ED
Neunzebntes Kapitel.
„Der Herr Doltor möchten doch fogleich zum Ge⸗
meindevorjteber Tiebenomw nach Hausdorf fommen. Der
Mann ift von einem Pferde gefchlagen worden und
ſchwer verlegt. Seine Leute fürchten, daß es mit ihm
zu Ende geht.“
E3 mar gegen zehn Uhr Abends, als die Haus:
bälterin mit diefer Meldung in das Arbeitszimmer
Ruthardt3 trat. Er war fofort bereit, feine ärztliche
Pflicht zu erfüllen.
„Dan bat doch einen Wagen mitgefchielt?* fragte er.
Aber die Haushälterin verneinte. „Der Junge, der
die Botjchaft brachte, fagte, er ſei mit der gerade ab-
gehenden Poſt von Hausdorf hierher gefahren, weil da3
Anfpannen zu viel Zeit erfordert hätte.”
„Das war fehr töricht, denn nun werden wir Die-
felbe Zeit bier verlieren. Gehen Sie alfo, bitte, zum
Fuhrhalter Rarjtens und jagen Sie ihm, er folle mir
ſo fehnel als möglich die Halbehaife ſchicken. Syn:
zwifchen pade ich mir die Inſtrumente und das Ber:
bandzeug zufammen.”
E3 mochten faum mehr als zwanzig Minuten feit
dem Eintreffen der Meldung vergangen fein, als Dol-
tor Ruthardt die mit zwei Pferden bejpannte Chaife
bejtieg und in der Richtung nach Hausdorf abfuhr.
Es war ein dunkler, mondlojer Abend, und troß
der verhältnismäßig frühen Stunde herrfchte in den
Schlecht beleuchteten Straßen des Gtädtchens bereits
tiefe Stille. Ein Nachtwächter ging bald nach der Ab—
fahrt des Wagen3 an dem Haufe des Doktors vorüber.
Dann regte fich lange Zeit nichts mehr in der Um:
gebung de3 Kleinen, unanfehnlichen Gebäudes.
ALS aber die Uhr auf dem Turme der nahen Kirche
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 39
DD ee DIDI Dre Dre ED
zum Schlage der elften Stunde ausholte, löfte ſich aus
dem Dunfel eines dem Haufe gegenüberliegenden Tor:
wegs eine Männergeftalt, die lautlos über den Fahr—
damm huſchte.
Paul Grevenberg hatte auf ſeinem ſicheren Beobach⸗
tungspoſten ausgeharrt, bis ſich das letzte erleuchtete
Fenſter — das Fenſter eines Giebelzimmers — ver—
finſtert hatte und bis er annehmen konnte, daß alle
Bewohner des Hauſes im Schlummer lägen.
Nun verſchwand er in dem Gange, der zwiſchen
den beiden Gärten dahinführte, und ſchwang ſich ohne
ſonderliche Mühe über das niedere hölzerne Gitter zu
ſeiner Rechten. Als er vor einigen Tagen die Gelegen—
heit ausſpähte, hatte er die Fenſter im Erdgeſchoß auf—
merkſam genug gezählt, um zu wiſſen, welches von
ihnen das des Wartezimmers war. Noch eine Minute
lang blieb er wie in einer Anwandlung von Furcht oder
wie in einem letzten inneren Kampfe unter demſelben
ſtehen, dann begann er an den Latten des Spaliers
in die Höhe zu klettern, um die Brüſtung zu gewinnen.
Seine Glieder waren ungelenk, und ſeine Muskeln
ſchwach geworden während der langen Gefangenſchaft.
Was für einen Menſchen von normalen Kräften ein
leichtes geweſen wäre, bereitete ihm ziemliche An—
ſtrengung, und ſeine Bruſt keuchte, als es ihm endlich
gelungen war, ſich mit dem ganzen Gewicht ſeines
Körpers auf das breitausladende Geſims des Fenſters
hinaufzuziehen. |
Aber das Schmwerere ſtand ihm noch bevor. Er mußte
eine der Scheiben mit der mitgebrachten Schmierfeife
beftreichen und fie vorfichtig eindrüden, um dann non
innen den Fenjterriegel öffnen zu können Trotz aller
Behutfamleit ging es dabei nicht ohne ein leijes Klirren
ab, und als er den Arm durch die entjtandene Öffnung
40 Um die Beute.
IADADr DD RED ED EEE ADD AD DD DD
ſchob, rigte ihm ein vorjtehender Glasfplitter die Haut
Er jpürte den Schmerz faum, aber er fühlte, wie
ibm Blutstropfen über die Hand riejelten. Doch er
dachte nicht einmal daran, fie abzumifchen. Seine Zeit
war ja knapp genug bemefjen. In wenig mehr als
einer Stunde konnte der Doktor zurüd fein, denn er
hatte feine VBeranlafjung, fich in Hausdorf aufzuhalten,
nachdem er erfahren haben würde, daß er durch eine
falfche Meldung genarrt worden fei. Syn einer Stunde
alfo mußte er feinen Schaß gehoben und in Sicherheit
gebracht haben, oder alles war verloren.
Es dünkte ihn nicht zu ſchwer. Er hatte ja Beit
genug gehabt, alles reiflich zu überlegen und feine Vor:
bereitungen zu treffen. Er hatte ſowohl die unentbehr-
liche Heine Blendlaterne mitgebracht als die Sperr»
Hafen zum Öffnen verfchloffener Türen und eine Eleine
feine Stahlſäge, der nach der Verficherung des Ver—
käufers auch das härteſte Metall nicht widerftehen konnte.
Behutfam taftete er fich Durch das dunkle Warte-
zimmer und atmete erleichtert auf, als ein Drud auf
die Klinke ihn überzeugte, daß die Verbindungstür nicht
verjchlofjen war.
Nun jtand er der treuen Hüterin feines NReichtums
gegenüber. Er hatte von vornherein nicht daran ge:
dacht, die Vaſe zu ftehlen. Sie war viel zu ſchwer für
feine Kraft und viel zu groß, als daß er fie unauffällig
hätte fortjchaffen können. Da e3 aber eines ftunden-
langen Beitaufmwandes, einer ungewöhnlichen Gefchid-
lichkeit und mwahrjcheinlich auch bejfonders Tonftruierter
Inſtrumente bedurft hätte, um die Durch den engen
Vaſenhals gefchobenen Papierröllchen auf demjelben
Wege wieder herauszubefördern, jo blieb ihm nichts
anderes übrig al3 eine teilmeife Zerſtörung des KRunit-
werkes.
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 41
DD ED DD ED ED Dre Dre De De De Dre Dre Dede De
Mit Anftrengung hob er das jchwere Stüd von
dem PBoftament herab und legte es auf den Teppich).
Er war zu dem Schluß gekommen, daß e3 das Zweck—
mäßigjte fein würde, den Fuß der Vaſe abzufägen, und
ohne Zögern ging er ang Wert.
Aber die Arbeit vollzog fich bei weiten nicht fo
raſch, als er vorausgefegt Hatte, und das Knirſchen
der Säge verſetzte ihn überdies in tödliche Angjt vor
einer Entdedung. Der Schweiß rann ihm in großen.
Tropfen von der Stirn, und das Herz Elopfte ihm zum
Berfpringen. Aber er hielt trogdem feine Sekunde in
feiner Tätigkeit inne, und endlich war der entjtandene
Einfchnitt tief genug, daß er verfuchen fonnte, ihn durch
ein paar energifche Schläge mit den Meißel, den er
ebenfalls mitgebracht hatte, rafcher zu erweitern. Das
konnte allerdings nicht ohne Geräufch abgehen. Aber
es mar unvermeidlich, und die Erkenntnis, daß ihm
vielleicht nur noch ein kurzer Zeitraum gelaſſen jei,
erfüllte ihn mit dem Mute der Verzweiflung. Er jchlug
zu und verjuchte dann unter Aufmwendung feiner ganzen
Körperkraft, den halbgelöften Fuß der Vaſe jo weit zu-
rüdzubiegen, daß er mit der Sand in das bauchige In—
nere dringen fonnte. Nach einigen vergeblichen Verfuchen
gelang es ihm in der Tat. Er fühlte ein paar der felt
zufammengedrehten Papierrollen zwifchen feinen Fingern.
Freilich, alles würde er nicht reiten fönnen, darauf
hatte ex fich von vornherein gefaßt gemacht, denn von
den vierzehn Rollen, deren jede aus zehn Taufendmarf-
fcheinen bejtand, hatte er nur zwölf durch die obere
Öffnung in die Vaſe hinabgezwängt. Die beiden anderen
hatte ex durch das Aſtloch in den Hohlraum des Poſta—
ment3 gejchoben, und an ihre Rettung mar bei der
Kürze der Zeit und der Schmwierigleit der erforderlichen
Manipulationen felbjtverftändlich nicht zu denken.
42 Um die Beute.
DD Dr ED DD DD De Dee Dre DD
Aber was bedeutete ihm ein Verluſt von zwanzig⸗
taufend Markt, wenn er das Gechsfache in Sicherheit
brachte!
Die Summe war vollftändig vorhanden. Da nie:
mand das Geheimnis der Vafe erraten hatte, fehlte
feines der foftbaren Röllchen. Paul Grevenberg hielt
fih nicht damit auf, fie zu entfalten. So mie fie
waren, ſchob er fie in die Tafche feines Beinkleideg,
und dann, al3 alles geborgen war, richtete er fich aus
feiner Inieenden Stellung auf, um mie zu einer ftummen
Danklfagung die Arme gegen die Zimmerdede empor:
zureden.
Nun war er aljo doch nicht um den Preis feines
Opfers betrogen. Wenn ihm auch das Glück der Liebe
verjfagt blieb, das Glück des Reichtums wenigiten3
tonnte er für den Reſt feines Dafeins in vollen Zügen
genießen, denn er zmeifelte nicht mehr daran, daß
Doktor Ruthardt ihm über feinen Geſundheitszuſtand die
Wahrheit gefagt Hatte. Die Aufregungen der lebten
Tage mußten einen verhängnisvollen Fortichritt in dem
Leiden bewirkt haben, dejjen erjte Anzeichen er jchon
während jeiner Gefangenfchaft wahrgenommen hatte.
Er hatte fich nie fo hinfällig gefühlt wie gerade
heute. Auf feiner Bruft lag es wie eine ſchwere Laft,
die ihm zeitweilig faft das Atmen unmöglich machte, und
manchmal war es ihm, als ob fein Herz aufhören
wolle zu jchlagen.
Aber der Doktor hatte ihm ja auch gefagt, daß er
e3 bei ruhiger Lebensweife noch auf eine Anzahl von
Jahren bringen könnte. In der milden Luft Italiens
oder eines anderen füdlichen Himmelsftriches ließ fich
das Außerjte gewiß noch lange hinausſchieben, zumal
wenn er fich mit Hilfe feines Neichtums, der ihm in
der erſten überjchmenglichen Beſitzfreude fehier unermeß-
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 43
a en U mt nn er — I 7 I I ⏑ N Te I I ee)
lich dünkte, alle jene Bequentlichkeiten und Annehmlich-
teiten verjchaffen konnte, die danach angetan find, da3
Leben eines Menfchen zu verlängern, weil fie es ver:
ſchönen.
Freilich, noch war er nicht in Sicherheit. Aber ſeine
Beſorgniſſe in dieſer Hinſicht waren nicht zu groß.
Wohl zweifelte er nicht, daß der Verdacht, den Ein—
bruch verübt und die Vaſe beſchädigt zu haben, ſich
ſogleich auf ihn lenken würde, denn nur er konnte nach
des Doktors Meinung ein Intereſſe daran gehabt haben,
das koſtbare Gefäß zu zerſtören, deſſen Verkauf der
Beſitzer ihm ſo hartnäckig verweigert hatte, aber man
würde in ſeinem Beginnen nur die verrückte Rachſucht
eines in ſeinen Hoffnungen betrogenen Sammlers
ſehen, und es war nicht einmal ſehr wahrſcheinlich,
das Doktor Ruthardt überhaupt Anzeige erſtatten
würde. Im ſchlimmſten Falle konnte man den ver—
meinten Herbert Lyncker Doch nur wegen vorſätzlicher
Sachbejchädigung verfolgen, und er Hatte noch nie ge:
hört, daß wegen folchen Vergehen ein Stedbrief hinter
einem Flüchtigen erlaffen worden wäre. Schon am
nächlten Abend aber Tonnte er die Grenze paffiert haben,
und dann war er unter allen Umjtänden geborgen.
Er verlöfchte feine Blendlaterne und ſteckte fie gleich
dem Einbrechergerät in die Tajche, denn für den Rück—
weg bedurfte er de3 Lichtes nicht mehr. Behutfam
taftete ex fich durch das Vorzimmer zum Fenfter, und
nachdem er die Überzeugung gewonnen, daß fich draußen
nicht8 Bedrohliches regte, fehmang er fich auf die
Brüftung.
Der Sprung, den er wagen mußte, war faum mehr
als zwei Meter tief, ein Kinderspiel für einen halbwegs
gemwandten Menjchen. Und das Erdreich des Gartens
war überdics jo weich, daß er felbit bei einem Sturz
44 Um die Beute.
EDDIE EDDIE DD DDr ED DEI ED —
faum eine ernftliche Bejchädigung zu fürchten hatte.
Er zögerte denn auch nicht und fprang. Aber er mußte
wohl ausnehmend ungeſchickt auf die Füße gekommen
fein, denn die Erfehütterung, die er bis ins Gehirn
hinein verfpürte, war viel heftiger, als er es ermartet
hatte. Für einen Moment verjagte ihm der Atem,
und er fühlte einen furchtbaren, ftechenden Schmerz in
der Bruft. Trotzdem tat er ein paar rafche Schritte
auf das Gartengitter zu. Aber noch ehe er e3 erreicht
hatte, ftieg e3 ihm aus der Bruft herauf warm und
erftidend in die Kehle empor, und ein unmiderjtehlicher
Huftenreiz in Verbindung mit einem beängjtigenden
Schwindelanfall nötigte ihn, jtehen zu bleiben. Nur
eine Sekunde, dann wurde der frampfhafte Huften zu
einem gurgelnden Röcheln, er ſpürte eine widerlich ſüße
Mafje im Munde, und dann brach es unaufbaltfam
wie ein dunkler, fchaumiger Strom über feine Lippen.
„Blut!“ dachte er mit grenzenlofem Entjegen, „Blut!“
Und e3 war, als fchriee eine fürchterliche Stimme
ihm ins Ohr: „Was Hilft dir nun deine Beute? —
Jetzt bift du am Ende!”
Und doch war der Trieb zum Leben niemals ftärker
in ihm gemefen als in diefem jchredlichen Augenblick.
Geine Rniee fchlotterten, und feine Arme waren mie
gelähmt, aber er fchleppte fich troßdem, als er den An-
fall vorüber glaubte, bis an den Gartenzaun.
Da erſt brach er bewußtlos zufammen.
Zwanzigstes Kapitel.
Es war ſchon neun Uhr vorüber, ald Hanna auf
dem Xiebenfelder Bahnhof den Wagen verließ. Hart:
mann, der harrend auf dem Bahnjteig geitanden hatte,
trat grüßend auf fie zu.
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 45
RD ADD DD ADD EDDIE DDr DDr DDr eD
„sh babe Sie ſchon mit einem früheren Zuge er:
wartet, aber ich bin froh, daß Sie überhaupt gefommen
find. Es gibt bier nur ein einziges Hotel. Darf ich
Sie dahin geleiten, und wollen Sie mir geftatten, Ihre
Handtafche zu tragen?”
„Kein — laffen Sie nur; fie beläftigt mich nicht.
Aber ich bin fehr ungeduldig, Ihre Neuigkeiten zu
hören. Bitte, fpannen Sie mich nicht auf die Folter.”
Schon auf dem Wege mußte er auf ihr Drängen
mit feiner Erzählung beginnen.
„Die Sache ließ fich fehr viel einfacher an, als ich
e3 hatte vermuten können. Es gibt fein Militär in
diefem Neft, wohl aber ein paar penfionierte Offiziere,
und unter diefen konnte nur ein einziger Name für
mich in Betracht kommen, der Name des Oberftleut-
nants von der Heyde, der in der Platanenftraße eine
Billa bewohnt. Ich fchlug den altbewährten Weg ein,
mich an das Dienſtmädchen diefes fchon ziemlich be-
jahrten Herrn zu machen, und ich hatte das Glüd,
auf eine Küchenfee von ebenfo leicht entzündlichen als
mitteilfamem Herzen zu ftoßen. In weniger al3 einer
Stunde wußte ich alles, was fie überhaupt erzählen
tonnte. Aber ich bitte Sie, Fräulein Hanna, es nicht
mich entgelten zu laffen, wenn e3 eine beifpiellofe Ab—
jcheulichkeit ift, die ich Syhnen da enthüllen muß.“
„Ich ſagte Ahnen doch, daB Sie mich nicht durch
lange Einleitungen martern dürfen. Was hat Greven-
berg mit diefem Oberftleutnant zu fchaffen?”
„Er ift als angeblicher Brivatier Herbert Lynder
ſeit mehr als zwei Jahren der Verlobte feiner Tochter,
und er ijt richtig vor drei Tagen bier geweſen, um
feine Braut zu befuchen.”
Hanna war jtehen geblieben, als ob ihre Glieder .
ihr plößlich den Dienſt verfagten. „Der Schurke!“
46 Um die Beute. |
DD DDr Dr ED ED ED Deere Dre Dee Dre DD
jtieß fie in aifchenden RYauten hervor. „Und jett? Wo
iſt er jegt?“
„Darauf babe ich leider feine Antwort. Er iſt ſchon
am nächiten Tage wieder abgereift, und es fcheint, daß
auch die Bewohner der Billa über den Zeitpunkt feines
MWiederfommens nicht unterrichtet find. Wahrfcheinlich
hat er fich von hier aus aufgemacht, jeinen Schaß zu
heben, und wird fich exit wieder einfinden, wenn ihm
da3 gelungen ift. Ich halte e3 deshalb für das beite,
einfach auf feine Rückkehr zu warten.”
„Wir werden fehen, ob es das befte ift,* fagte
Hanna mit einem Ausdrud finfterer Entfchloffenbeit.
„Bor allem werde ich mit diefem Oberftleutnant und
mit jeiner Tochter reden.”
Davon wollte Hartmann nun zwar durchaus nichts
wiffen, weil es mit feinen Plänen nicht im Einklang
war, aber er hätte leichter einen Gtein durch bloßes
Zureden von der Stelle bewegen können, als es ihm
gelungen wäre, den Gtarrfinn diefes Mädchens zu
brechen. Vergebens verjuchte er fie zu überzeugen, daß
die vorgerüdte Abendftunde Feine ſchickliche Beſuchsſtunde
fei, und daß man fie in der Billa des Oberftleutnants
gar nicht mehr empfangen mwürde, fie fette all feinen
Argumenten immer nur dasfelbe unbeugfame: „Ich
will es,“ entgegen, und fie ließ fich faum Zeit, im Gaſt⸗
hofe etwas zu genießen. Schweren Herzens mußte fich
Hartmann entjchließen, fie bis zu der Billa hinauf zu
geleiten, die fie fich ohne Zweifel von irgend einem
anderen hätte zeigen laſſen, wenn er fich gemeigert haben
würde. Seine Hoffnung, daß man fie einfach abmeifen .
würde, erfüllte fich nicht. Nachdem er zehn Minuten
lang draußen am Gartengitter vergebens auf fie ge:
wartet hatte, fehlug er, wie fie ausdrüdlich gewünſcht
hatte, den Rückweg nach dem Gajthofe ein. — —
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 47
räDrkEDrE De —
Der Oberſtleutnant hatte allerdings Schwierigleiten
gemacht, die unbekannte Beſucherin zu einer ſo ſpäten
Stunde zu empfangen, aber die Ritterlichkeit des alten
Soldaten Hatte ihn doch ſchließlich bewogen, fie vor⸗
zulafien. Nach den erjten Worten allerdings, die jie
an ihn richtete, war er nahe daran gemefen, es zu
bereuen, denn er mußte ja glauben, eine Geiftestrante
vor fich zu haben.
„Ich komme, um Ihnen zu fagen, daß Sie in Be-
griff waren, Ihre Tochter einem bejtraften Diebe zur
Frau zu geben,” hatte fie ihm zitternd vor Aufregung
zugerufen. Schon ftredte er die Hand aus, um auf
den Knopf des Zelegraphen zu drüden, Hanna aber,
die feine Abficht erfannt hatte, fiel ihm in den Arm.
„Warten Sie noch einen Augenblid, mein Herr, ehe
Sie mich hinausweiſen laffen. Ich bin bereit, zu be-
weiſen, was ich fagte.”
Es mußte ihr in der Tat rajch gelungen fein, e3
zu bemeijen, denn der Oberitleutnant Plingelte nicht,
fondern öffnete, nachdem feine Unterredung mit der
Fremden faft eine Stunde gewährt hatte, die Tür des
Zimmers, in welchem er feine Tochter wußte, und er-
fuchte fie, hereinzufommen.
Geine Stimme hatte dabei einen jo ganz veränder:
ten, feltfjamen Klang, daß Martha ihn voll Beftürzung
fragte, wa3 denn gejchehen fei.
„Du wirſt e3 jogleich hören,” fagte er, fich ſchwer
in einen Seflel fallen laffend. „Laß dir’3 von der Dame
bier erzählen. Denn ich — ich bringe es nicht über
die Tippen.“
Wenn Hannas Herz voll graufamen Hafjes gegen
die Zerftörerin ihrer Hoffnungen war, fo mußte fie jegt
eine dämoniſche Genugtuung in der Möglichkeit finden,
ihr die ganze Schmach der: fchändlichen Intrige zu
48 Um die Beute,
DIDI ED Dr Dr eDee De Dre Dre Dre Dre Dre Dede dere
offenbaren, deren Opfer fie hatte werden follen. Gie
ſchonte das Mädchen nicht, obwohl fie annahm, daß
ihre Worte fie vernichten mußten. Nun, fie war ja
auch gefommen mit dem feften Entfjchluß, fich an dem
Anblic ihres Unglüds zu meiden. - |
Ihre Erwartungen gingen jedoch nicht ganz in Er-
füllung, denn Martha brach nicht in verzweifelte Klagen
über ihr Schidfal aus, fondern fie fanf neben ihrem
Vater auf die Kniee und umjchlang mit beiden Armen
zärtlich die Schultern des alten Mannes.
„D, Vater — mein lieber, lieber Vater — nimm
es dir nicht jo jehr zu Herzen! Wir haben doch von
alledem nicht3 gemußt. Niemand wird einen Vorwurf
gegen dich erheben, weil ein Unjeliger uns getäufcht hat.“
Hanna ſah, daß fich die Aufregung der beiden in
zärtlichen Tröftungsverjuchen Luft machen würde, und
fie war nicht in der Laune, die Zeugin einer rühren-
den Familienſzene zu fein. Deshalb wandte fie fich
mit furzem Gruße zum Geben.
Martha fprang auf, um fie zu geleiten. „Ich weiß
nicht, mein Fräulein, ob Ihre Abficht eine freundliche
war,” fagte fie mit zitternder Stimme, „aber wir find
Ihnen für Ihre Mitteilungen jedenfalls zu Dank ver»
pflichtet. Werden wir Sie morgen noch einmal fehen?”
„Weshalb das?” gab Hanna kalt zurüd. „Was
ich Ihnen zu jagen wußte, haben Sie gehört, und da
ich Ihnen glaube, daß Sie außer jtande find, mir den
gegenmärtigen Aufenthalt Ihres — Ihres Verlobten
anzugeben, jo können wir wohl gegenfeitig nicht3 mehr
voneinander erfahren, was eines Wiederjehend mert
wäre. — Bitte, bemühen Sie fich nicht! Ich finde
wohl irgend einen PDienjtboten, der mich binausläßt.”
Martha wagte e3 nicht, fie nach diefer beftimmten
Zurüdweifung noch weiter zu begleiten. Nie hatte ein
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 49
D>DrED DDr Dre DD DD Dre Dr
menfchliches Wefen ihr fo viele Furcht eingeflößt als
dies blaffe junge Weib, deſſen marmorjtarres, hartes
Geficht ihr fürchterlicher fehien als das Schredensantlit
einer Medufe.
Sie kehrte zu ihrem Vater zurüd und fand ihn mit
dunfelgerötetem Antlig mühſam nach Atem ringend.
Die Aufregung Hatte, wie es faft nach allen jtarten
Gemütsbemegungen geſchah, einen Anfall feines aſthma⸗
tifchen Leidens ausgeldft, und Martha lief angftvoll zur
Hausapothefe, um die Tropfen zu. holen, die ihm bei
leichteren Zufällen Linderung verfchafften.
| Es fchien, daß fie auch heute Wirkung Hatten, denn
nad einer Tleinen Weile wurde es bejjer, und die
fchredlichen Bellemmungen ließen nad. Aber jobald
er wieder zu Atem gelommen mar und zuſammen⸗
hängend jprechen konnte, erging fich der Oberjtleutnant
in erneuten Ausbrüchen des Zornes und der Berzmeif-
lung über die jchmähliche Rolle, die ihm feiner Auf:
faffung nach in diefer Standalgefchichte zugefallen war.
Er fah ſich im Geiſte ſchon öffentlich an den Pranger
geftelt und für alle Zukunft vettungslos fompromittiert.
Immer und inmer wieder nannte er fich voll grau-
famen, felbjtquälerijchen Hohnes den Spießgefellen eines
Verbrechers, einen Diebeshehler, dem die Jungen auf
der Straße nachrufen würden, daß er feinen Anteil
an der Beute bekommen babe.
Der vermeintliche Verluft feiner in einem langen,
rechtfchaffenen Leben als köſtlichſtes Beſitztum gehüteten
Ehre hatte ihn fo ins innerfte Herz getroffen, daß er
außer jtande war, in diefer Stunde irgendwelche Rüd-
ficht auf die Empfindungen feines unglüdlichen Kindes
zu nehmen. Martha mußte ihm ebenjomenig etwas
Tröftliches zu fagen, als fte fich gegen feine gerechten
und ungerechten Anklagen zu verteidigen vermochte. Leije
1004. XII. 4
50. Um die Beute.
DDr FED Dr Dre Der re Dre re Dre Dee Dr Dre Dr ED Dre
mweinend fniete fie neben ihm und ftreichelte nur immer
wieder jeine Hände. |
Die Dienftboten konnten nicht begreifen, warum der
Oberftleutnant und das Fräulein fich heute gar nicht
zur Ruhe begaben. Schließlih, da man ihrer nicht
mehr zu bedürfen fchien, zogen fie fich in ihre Kammer
zurüd, und die Mitternachtsftunde mochte wohl jchon
vorüber fein, als fie durch heftiges Klingeln aus dem
erften Schlummer geweckt wurden.
Das Hausmädchen war in wenigen Minuten an
der Tür des Wohnzimmers, als fie von ihrer faſſungs—
ofen jungen Herrin mit den in Verzweiflung hervor—
geftoßenen Worten empfangen wurde: „Mein Vater
ift krank — fterbenstrant! Laufen Sie jchnell zu Doktor
Ruthardt und beſchwören Sie ihn, auf der Stelle zu
tommen. Sagen Sie ihm, ich ließe ihn flehentlich darum
bitten.”
Das beftürzte Mädchen eilte, den Befehl auszuführen.
Aber mit einem Ausruf höchften Erſtaunens prallte fie
zurüd, als fie an der Gartenpforte auf den ftieß, den
fie hatte holen follen.
„Dan bat aljo fcehon nach Ihnen geſchickt, Herr
Doktor! Welch ein Glüd, daß Sie fo fchnell gekommen
find!“
„Niemand hat nach mir gefchicdt,” Lang es ihr merk—⸗
würdig ernft zurüd. „Aber was ift denn gefchehen?
Iſt jemand Frank?“ |
Das Mädchen machte jich in diefem Augenblid nicht
viel Gedanken darüber, was wohl den jungen Arzt ver-
anlaßt haben konnte, den Bewohnern der Villa mitten
in der Nacht uu3 eigenem Antrieb einen Befuch ab-
zuftatten. Sie wiederholte ihm, was fie ſoeben von
Martha über das Befinden des Oberftleutnants gehört
hatte.
Kriminalroman von Reinhold Ortınann. 51
m red ö —E— CC
Ohne weiter ein Wort zu verlieren, folgte Georg
Ruthardt ihr in das Haus.
Auch Martha ſtarrte ihn, durch die unerwartete
Cchnelligkeit feines Kommens aufs äußerſte überrajcht,
eine Sekunde lang wie eine Geiftererjcheinung an, aber
fie ließ fich ebenfomwenig Zeit zu fragen, als er fich Zeit
zu Erklärungen ließ. Seht war er wieder nur der zu
einem Kranken gerufene Arzt, und was auch in ihm
vorgehen mochte, er verbarg es hinter einer undurd)
dringlich ruhigen Miene und hinter jenem gleichmäßig
milden Wefen, das ihm troß feiner Jugend überall das
Vertrauen und die Xiebe feiner Patienten eingetragen.
Er fand Marthas Sorge durch den Zuſtand ihres
Vaters diesmal Hinlänglich erklärt, und eine Viertel:
ſtunde lang befürchtete ex felbjt den Eintritt einer Kata⸗
ftirophe. Aber noch einmal bannten die von ihm ans
gewandten Mittel die Gefahr. Die Eritidungsanfälle
verloren ihren unmittelbar bedrohlichen Charakter, Die
Bruft des alten Herrn begann fich wieder in gleich:
mäßigen Atemzügen zu heben, und mie immer, wenn
die Kriſis vorüber war, trat eine tiefe Erfchlaffung
und ein unmiderftehliches Schlafbedürfnis ein.
Ruthardt ordnete an, den Schlummernden in feinem
Lehnſtuhl zu belafjfen, und erklärte, daß er zur Be-
tubigung des gnädigen Fräuleins noch dableiben werde,
obwohl er ficher jei, daB eine Wiederholung des An:
fals im Verlaufe diefer Nacht nicht zu befürchten ftehe.
Er war in da3 Nebenzimmer getreten, durch dejjen
offene Tür er den fchlafenden Oberftleutnant beobachten
fonnte. Nach einer Fleinen Weile gefellte fi) Martha
zu ihm. Der Anblick ihres lieben, verweinten Geſichts
rührte ihn fo tief, daß er fich’3 nicht verfagen Tonnte,
tröftend ihre Hand zu ergreifen.
„allen Sie Mut, gnädiges Fräulein! Wenn es
52 Um die Beute.
DDr De Dee De Dre Dre Dre Dre — Dede DE DDr 0
diesmal auch fehlimmer mar als fonft — ich verfichere
Ihnen, es ift nach menfchlichem Ermeſſen alle Gefahr
vorüber.”
„Wenn e3 fo ift, fehulde ich nur Ihnen die Ers
haltung feines Leben. Aber wie konnte eS gefchehen,
daß Sie fchon zur Stelle waren falt in dem nämlichen
Augenblid, als ich das Mädchen fortſchickte, Sie zu
holen?”
„Ich war heraufgefommen, um Ihrem Herrn Vater
eine Mitteilung zu machen, die er, wie ich meinte, ohne
allen Beitverluft erhalten mußte,” ermwiderte Ruthardt
mit eigentümlich beflommener Stimme. „Daß ich To
gerade zur rechten Zeit erfchien, war nichts als ein
Zufall, an dem mir fein Verdienft gebührt.“
„Und diefe Mitteilung —?“
„Ich weiß in der Tat nicht, gnädiges Fräulein,
ob ich ein Hecht habe, ſie Ihnen vorzuenthalten. Und
doch — nad) den Aufregungen, die Sie erft joeben über:
ftanden —“
„Es ift alfo etwas Schlimmes? Wie könnte e3 auch
etwas anderes fein! Aber Sie brauchen fich darum
nicht zu bedenten. Nach allem, was ich heute abend
erleben mußte, gibt e8 nichts mehr, da3 mich noch
fehmerzlicher überrafchen könnte.“
„Vielleicht doch, Fräulein Martha,” fagte er voll
innigen Mitleids. „ES handelt fih um Ihren Ber:
lobten, um einen Unfall, der ihm zugeftoßen ift —
und — —“
„Um meinen Verlobten? — OD, nennen Sie ihn
nicht mehr jo! Ich bin mit niemand verlobt, denn
der Mann, dem Sie diefen Namen geben und dem ich
mich aus falfch verjtandener Dankbarkeit opfern wollte,
ift ein Betrüger, der uns binterging — ein gemeiner,
eben aus dem Gefängnis entlafjener Dieb!”
Kriminalroman von Reinhold Ortmann. 53
LIDRDERD ED ED ED DE Dr ED ED ED ED ED ED ED Dre Dee D
„Wie? Iſt es möglich?“
„Wir erfuhren e3 an diefem Abend aus dem Munde
einer Unglüdlichen, die er ebenfalls binterging.“
„Kun, dann darf ich Ahnen allerdings unbedenklich
die ganze Wahrheit jagen. Dieſer Herbert Lyncker
mar vor einigen Tagen bei mir, um mir ein abenteuer:
lich hohes Raufgebot auf die japanifche Vaſe zu machen,
die ich von Ihrem Vater zum Geſchenk erhielt. Er
mußte fich, wie Sie begreifen werden, unverrichteter
Sache entfernen. Syn Ddiefer Nacht nun, nachdem ich
durch den Ruf an ein nicht eriftierendes Krankenbett
aus meiner Wohnung fortgelodt worden war, ift er
wiedergelommen, um die Vaſe zu zertrümmern. Auf
dem NRüdzuge aber bat ihn das Verhängnis ereilt.
Als ich nach meiner Heimkehr die Spuren des Diebe
verfolgte, fand ich Ihren — fand ich jenen Herbert
Lyncker bewußtlos im Garten. Ein Blutfturz, der bei
feinem traurigen körperlichen Zustande ja früher oder
jpäter eintreten mußte, hatte ihn an der Vollendung
feiner Flucht gehindert. Das war e3, was ich Ihrem
Vater unverzüglich mitteilen zu müſſen glaubte. Der
Kranke liegt in meiner Wohnung, aber ich fürchte, er
wird den morgigen Tag nicht überleben.“
Martha hatte das Geficht in den Händen verborgen.
Aber als Ruthardt auf3 neue den Verſuch machte, ihr
tröftend zugufprechen, bob fie den Kopf empor und
ſah ihm mit feſtem Blid in die Augen.
„Kun jollen Sie alles willen, Herr Doktor — felbft
auf die Gefahr hin, daß Sie mir dann aud) den
legten Reſt Ihrer Achtung entziehen. Nein, vermehren
Sie ed mir nicht! Sie vor allen anderen Menfchen
haben ein Recht darauf, e3 zu erfahren.“
Da er fah, daß fein Widerftreben fie Fränfen würde,
ließ Ruthardt fie gewähren. Aber was ex erfuhr, war
54 Um die Beute.
Dede Dee
»
durchaus nicht dazu angetan, ſie um ſeine Achtung zu
bringen. Denn wenn ſie auch nicht mit klaren Worten
ausſprach, wieviel es ſie gekoſtet hatte, dieſem Manne, an
den ſie ſich mit unzerreißbaren Ketten gefeſſelt geglaubt,
ihr Verſprechen zu halten, ſo hätte er doch nicht das ſcharfe
Ohr des Liebenden haben müſſen, um es nicht als ein
beglückendes Geſtändnis laut genug zu vernehmen.
fiber der beſeligenden Gewißheit, von ihr geliebt
zu fein, vergaß er alles andere, er vergaß, daß das
angebetete Mädchen vielleicht morgen dem hämifchen
Gerede aller böfen Zungen preisgegeben jein würde, er
vergaß den Sterbenden in feinem Haufe und den Kranken
im Nebenzimmer — fein junges Blut mallte auf mie
in jauchzendem Frohloden über die Erfüllung einer
aus dem Grabe erjtandenen Hoffnung.
Ohne viele Erklärungen und Worte fchloß er die
mwiedergermonnene Geliebte in feine Arme.
„Nun bift du mein — mein! Und den möchte ich
fehen, der dich mir wieder entreißt!“
— | | — m mm — — — — —
In der Abenddämmerung des folgenden Tages
ſchloß Paul Grevenberg die Augen zum legten Schlum-
mer. Er hatte am Morgen den Wunfch ausgesprochen,
einen Geijtlichen zu fehen, und diefem, der bereitwillig
dem Rufe gefolgt. war, hatte er die ganze Gefchichte
feiner Verfehlung gebeichtet.
Mit dem falſchen Namen, den er fich an jenem
Ronzertabend aus bloßer Großmannsſucht dem Oberft:
leutnant gegenüber beigelegt, hatte e3 begonnen. Nach
feinen früheren Erfahrungen hatte er zwar nicht mehr
gewagt, fich für einen Ariſtokraten auszugeben; aber
er hatte den Namen eines Spiel- und Jugendgefährten
gewählt, von dem er mußte, daß er einer der an-
gejehenten Bremer Patrizierfamilien angehörte und daß
Sriminalroman von Reinhold Ortmann. 55
RDrEDr ED Dr ED Dre DAAD ED DI De Dre Dre Dr Dr Dre Dee
er fich feit Jahren in fernen Erdteilen befand. Bon
den einftigen Beziehungen des Oberftleutnants zu jener
Familie hatte er natürlich nicht3 geahnt; da er aber
au feige gemwejen war, jeine törichte Prablerei ein-
zugeftehen, war er Schritt für Schritt weitergedrängt
worden auf dem Wege der Lüge, bis er fich eines Tages,
faft ohne zu wiſſen, wie es gefchehen war, auf dem
Wege des Verbrechens befunden batte.
Sm Angeficht des Todes erklärte er feierlich, daß
Marthas Bitte wohl der legte Anftoß zu dem von ihm
begangenen Diebſtahl gemejen fei, daß er fich aber mit
einem derartigen Plane jchon feit langem getragen und
ihn ficherlid auch ohne feine Belanntfchaft mit den
von der Heydes früher oder ſpäter zur Ausführung
gebracht hätte. Der Gedanke, feine Beute in der japas
nifchen Bafe des Oberſtleutnants zu verjteden, ſei
lediglich eine Eingebung des Augenblid3 gemefen. Da
niemand feine Beziehungen zu dem alten Herrn Tannte,
und da diefer felbjt niemals auf den Gedanken ver-
fallen würde, der vermeintliche Bremer Patrizierfohn
könnte identifch fein mit dem Bankdieb Paul Greven-
berg, von dem er vielleicht in den Zeitungen lag, fo
tonnte das geftohlene Gut in der Tat kaum irgendwo
bejjer und ficherer aufgehoben fein als unter der Ob—
hut des ehemaligen Offizier, der nicht ahnte, welchen
Schatz er in jeinem Arbeitszimmer verwahrte. —
Das Bankhaus Henning war natürlich jofort tele:
graphiſch von dem Vorgefallenen benachrichtigt worden,
und noch an demfelben Abend traf einer der Teilhaber
in Liebenfelde ein. Er hatte eine längere Unterredung
mit Doktor Ruthardt und mit dem Geiftlichen, der
Grevenberg3 Geftändniffe entgegengenonmen, ehe er
fi) in Begleitung des Arztes zu der Villa des Oberſt—
leutnants hinauf begab.
56 Um die Beute.
ADDED DD re DreD nme DreDre DDr Dre Dre Dre Dre De DD
Was dort mit Herren von der Heyde gefprochen,
wurde in der Öffentlichkeit nie befannt, wie e3 über:
haupt nur ganz dunkle und unbejtimmte Gerüchte
waren, die aus Anlaß des geheimnisvollen Todesfall
in Doktor Ruthardts Haufe eine Zeitlang das Städt:
chen durchſchwirrten. Die guten Einwohner von Lieben:
- felde mochten endlich dahinter Tommen, daß fie die "
Wahrheit doch nicht ergründen würden, und als an
demfelben Tage, wo er — einige Mlonate nad) Greven-
bergs Tode — dem bejtohlenen Bankhaufe die lebte
Rate der von dem Diebe empfangenen dreikigtaufend
Mark zurückgezahlt, der Oberftleutnant von der Heyde
die Verlobung feiner Tochter Martha mit dem praf:
tifchen Arzt Doktor Georg Authardt im Wochenblatt
befannt machte, da erinnerte fich faum noch jemand an
die geheimnisvollen Vorgänge, über die man fich ein
paar Wochen lang die Köpfe zerbrochen hatte. —
Auch Bruno Hartmann, dem da3 Bankhaus Hen-
ning & &o. ohne eigentliche Verpflichtung die ihm für
die Herbeifchaffung des gejtohlenen Geldes ausgeſetzte
Belohnung gezahlt hatte, war mit Vergnügen auf die
ihm dafür auferlegte Bedingung der Verſchwiegenheit
eingegangen, und meder der nach feiner Entlafjung
aus dem Brandenfteiner Kreiskrankenhauſe langſam
binfiechende Heinrich Wendriner noch feine Tochter, die
einige Monate ſpäter als Erzieherin nach Südamerika
gegangen war, hatten eine Veranlafjung, der Welt die
Gefchichte des für fie jo unglüdlic) ausgegangenen
Kampfes um die Beute zu erzählen.
Ende.
PA)
Huf sinkendem Wrack.
Novellette von Ulr. Myers.
mit Jllustrationen 8 8
von Adolt Wald, (Nachdruck verboten.)
ie Bafjagiere drängten ſich um die ſchwarze
Tafel, an welche das „Etmal“ des Tages
geschrieben werden jollte. Es war Mittags
gegen halb ein Uhr, und der englijche Dampfer
„Briton“ ſchoß in eiliger Fahrt durch die faft fpiegel-
glatten Wogen des Atlantifchen Ozeans. Geit drei
Tagen war er von New York unterwegs, und das
Wetter war geradezu ideal ſchön gemejen.
Das ganze Schiff zitterte unter den Stößen der fich
mit höchjter Gejchwindigkeit drehenden Schraube. In
wenigen Minuten war der Navigationsoffizier mit feiner
Berechnung fertig. Set würde an die jchwarze Tafel
mit Kreide das „Etmal” gejchrieben, daS heißt Die
Zahl der Seemeilen angegeben werden, die das Schiff
in den le&ten vierundzwanzig Stunden durchmeijen hatte.
Der HZahlmeifter erjchien jelbjt heute und jchrieb
unter allgemeiner Spannung des aus Herren und
Damen bejtehenden Bublitums die Zahl 281 an die
ſchwarze Tafel.
Ein dreimaliges „Hipp, hipp, hurra!“ beantwortete
dieje Mitteilung.
58 Auf ſinkendem Wrad.
NDAMDDAD ED A DOT AT AD AD AD AD AD DET ED DD
„Wir machen es! Die Deutfchen befonımen es
nicht! — Wenn das Wetter fo gut bleibt, find mir
mehr als vierundzmwanzig Stunden früher in Liverpool,
als die Deutfchen antommen können, und dann haben
wir fie glänzend gefchlagen. — Ein Hurra für die eng»
lichen Schiffe, ein Hurra für die englifchen Geeleute
und Ingenieure!”
Dann rief eine laute Stimme: „Wer hat 281?
und ein alter Herr mit weißem Haupthaar und glatt:
raſiertem amerifanifchen Gejicht fchlug ein Notizbuch
nach und rief: „Miſſis Hawkins hat 281, fie hat ge-
wonnen.“
Novellette von Ulr. Myers. 59
EDIT DEE DD DD Dre DT ee De DD ed re
„Es ift eine alte Gefchichte,” fagte einer der jüngeren
Engländer zu der Tame, die neben ihm ftand, „daß
das Glück immer zu den reichen Leuten geht. Miſſis
Hawkins hat es wirklich nicht nötig, noch einen Gewinn
von ungefähr fünfzehn Pfund zu machen. . Sie ijt
Milionärin von Haufe aus und hat durch den Tod
ihres Gatten neue Millionen geerbt.“
„Sie fcheinen fich fehr für diefe Millionen zu inter:
eſſieren,“ bemerkte die junge Engländerin ſpitz zu ihrem
Nachbar. |
Diefer errötete und beeilte fich zu erklären: „Bab,
was ift für mich diefe Miffis Hamlins! Sie iſt eine
Deutfche, eine geborene Görner. Sie ftammt aus Ham⸗
burg und war an einen Ameritaner in Chicago ver:
heiratet. Einem Engländer gefällt nur eine Englän-
derin!”
Ein koketter Blid aus den Augen der jungen Dame
Iohnte die Bemerfung des galanten Landsmannes.
Der Rapitäan kam jebt über das Promenadended,
um nach der Rommandobrüde zu geben. Bon allen
Seiten näherten fich ihm die Herren und Damen der
eriten Kajüte, um ihn zu fragen, wie die Chancen der
MWettfahrt ftünden. Bisher waren die englijchen Ozean:
dampfer die größten und fchnelliten der Welt gemwejen.
Seit einigen Jahren aber hatten die Deutfchen e3 unter:
nommen, die englifchen transatlantifchen Dampfer zu
fchlagen, und jeßt, alfo im Jahre 1886, hatten fie bes
reits große Erfolge zu verzeichnen. Sie hatten Doppel-
fchrauben eingeführt, gegen welche fich damals noch die
alten Seeleute fträubten, und fie hatten die englijchen
Schiffe zuerft um Stunden, dann um Tage überholt.
Der Rapitän des „Briton” und der erite Mafchinijt
hatten fich nun einmal in den Kopf gelebt, diesmal
einen Rekord zu fehaffen, wie es ihn noch nie gegeben
60 Auf finfendem Wrad.
ID RDrE DD DE DE DD ED DD re De Dr ne De Dr:
hatte. Es galt den Kampf um die Ehre des Schiffes
und der Linie, denn eines der neueſten deutfchen Schiffe
war erſt achtzehn Stunden nach dem „Briton“ von
New Port abgefahren, und es wäre eine Schande für
die Engländer gemwejen, wenn daS deutjche Schiff fie
überholen würde.
Eine vielleicht dreißigjährige, elegant gelleidete und
recht hübfche Frau kam jet aus dem Damenjalon an
De und wurde glückwünſchend umringt.
„Sie haben die richtige Zahl getroffen, Miſſis Ham-
fing,” wurde ihr von allen Seiten zugerufen.
Der weißhaarige Amerikaner mit dem glattrafierten
Geficht überreichte der Dame fünfzehn ne „hr
Geminn,” fagte er.
„Bitte, werfen Sie ihn in die Büchfe für die Unter-
ftüßung der Schiffsbefagung,“ entgegnete gelangweilt
Frau Hamlins.
„Welche Zahl wollen Sie für morgen befegen?“
fragte der alte Herr.
„Bar feine,” antwortete nachläflig Frau Hawkins.
„Ich habe jeßt dreimal hintereinander gemonnen. Andere
Leute wollen auch einmal gewinnen. Ich werde morgen
nicht mitmwetten.“
Dann wandte fie ſich von der dichten Schar der
Paflagiere ab und ging langfam das Promenadended
hinunter nach dem Borderteil des Schiffes zu. Gie
machte erjt an der Schrante halt, welche das PBrome:
nadended der zweiten Kajüte von der erſten Kajüte
trennt, und ſchien ein wenig erjtaunt, als ein Herr,
der drüben auf der Seite der zweiten Kajüte jtand, fie
fehr ehrerbietig grüßte. Der Mann mar ihr gänzlich
unbelannt, doch fie dankte ihm mit einem leichten Neigen
des Kopfes und ging dann wieder ein Stüd zurüd bis
in die Nähe des Damenfalons. Hier ftrectte fie fich in
Novellette von Ulr. Myers. 61
——— ⏑ ⏑ ⏑ ⏑ Dre DD Dr D
halb liegender Stellung auf einen der Ruheſtühle aus,
welche die Paſſagiere mit an Bord zu bringen pflegen,
und griff nach dem Buch, das ſie vor einer Stunde
aus der Hand gelegt hatte. Es war eine Dorfgeſchichte
aus den bayeriſchen Alpen.
Eine Viertelſtunde lang las Frau Hawkins, dann
begann ſie aufzublicken und in immer länger werdenden
Zwiſchenräumen zu leſen. Ihre Augen ſchweiften über
das Buch hinweg und über die Baluſtrade des Pros
menadended3 hinaus über die unbegrenzte Fläche des
Dzeand. Tas interefjante Geficht der ſchönen Frau
fah zornig und erbittert zugleich aus. Gie legte das
Buch heftig aus der Hand, und als es zu Boden fiel,
fümmerte ſie fich nicht um dasſelbe.
Bor, Scham, Neid kämpften in ihr. Born über
ihr eigenes Dafein, Scham über ihre Vergangenheit,
Neid über das, was fie gelefen hatte. Wenn fie doc)
eine von dieſen Bauernmädchen geweſen wäre, Die
ihrem Herzen folgen durften, die glauben durften, was
ihnen von den Burfchen gejagt wurde, den fie liebten!
Was hätte fie darum gegeben, andere Eltern gehabt
zu haben, unter anderen Verhältniffen groß geworden
zu fein! Und doch Hatten jedenfalls ZTaufende und
Abertaujende fie beneidet, da fie al3 die Tochter des
reichen Reeders, als deſſen einziges Kind, geboren ıwar,
das in Glanz und Überfluß aufmuchs, dem feiner ihrer
Wünſche verjagt blieb, bi3 das Leben ihr überhaupt
nichts mehr bieten konnte. Wie hatten die Menfchen
alle fie beneidet — und doch, wie liebeleer war ihr
ganzes Leben gemwejen! Ihr Vater Hatte im Gejchäft
ſehr viel zu tun, fo daß er fi) um die Tochter nicht
fümmern fonnte, ihre Mutter war früh geftorben, und
fremde Leute erzogen das Kind. Diefe brachten ihr
einen lächerlichen Stolz bei, brachten fie zu der Über;
62 Auf finfendem Wrad.
DDr rede DDr Dr Dr ED ED - ⏑ Dre ED -eD-:D
zeugung, daß e3 nicht auf der Welt gebe, das fie nicht
haben, das fie nicht erreichen könne. Solange fie Kind
war, hatte fie fich wirklich für eines der bevorzugten
Weſen gehalten, denen fein Wunſch verſagt bleibt; als
fie aber herangemachfen war, entjtand die Sehnfucht
in ihr nach irgend einem Glüd, das fie erwartete und
das nicht Fam. Ihr Vater freute fich, als die Tochter
gejellichaftsfähig geworden war, denn ihre Schönheit
und ihr Geijt erregten Aufjehen, als fie in die Geſell-⸗
ſchaften der reichen Kaufleute fam. Zugleich aber warnte
er fie, daß fie vorfichtig fein folle in der Wahl eines
Gatten, weil jie ftet3 annehmen müffe, fie würde nicht
um ihretwillen, fondern um ihres Vermögens willen
geheiratet. Sie folle einen reichen Mann wählen, denn
bei dieſem wäre fie wenigſtens ficher, daß er fie nicht
allein um ihres Geldes millen nehme.
Da war der Amerilaner Hawkins nach Hamburg
gefommen, hatte in Gefchäftsangelegenbeiten mit ihren:
Bater verkehrt und hatte angefangen, fich un Doras
Hand zu bewerben. Börner war ganz damit einveritans
den gemejen, daß feine Tochter den Amerilaner heirate,
und da Hamkins fehr, fehr reich war, gab ihm Dora
ihr Jawort ohne jede Neigung, aber doch in der Hoff:
nung, daß diejer Mann fie um ihrer jelbjt willen nehme,
nicht um ihres Geldes willen. So viel Eitelkeit bejaß
fie natürlich, daB fie begehrenswert erjcheinen wollte
auch ohne ihr Geld.
Wie viele Enttäufcehungen und Demütigungen hatten
ihr aber die ſechs Jahre ihrer Ehe gebracht, die fie
drüben in Amerika verlebt hatte! Jetzt mar fie feit
zwei Jahren Witwe und kehrte nach der Heimat zurüd.
Sie mußte, fie fand dort niemand, der fie erwartete,
ihr Vater war geftorben, den brieflichen Verkehr mit
ihren Freundinnen hatte fie aufgegeben. Aber fie wollte
Novellette von Ulr. Myers. 63
DDr De DrDrED ⏑ ⏑ ⏑ DDr
trotzdem nach der alten Heimat zurück. Das eine Sehnen
wollte ſie wenigſtens ſtillen, das nach der heimiſchen
Scholle.
Sie hatte ein engliſches Schiff gewählt, weil fie ſich
rafch zur Abfahrt entfchloffen hatte; aber auch auf da3
Schiff Hatte fie der Fluch verfolgt, unter dem fie litt,
der Fluch des Neichtums. Irgend jemand hatte es
erzählt, daß fie reich, überaus reich fei, und eine Menge
von Mitgiftjägern machten ihr fofort den Hof, drängten
ſich ihr auf, beläjtigten fie. Glaubten denn diefe Herren
wirklich, daß fie nicht wußte, wem ihre Huldigungen
und ihre Annäherungen galten? Und hätten ihr diefe
geldgierigen Männer, die lüftern nach ihrem Vermögen
waren, ihre Liebe mit taufend Eiden gefchworen, fie
hätte ihnen nicht geglaubt, fie wußte, fie würde nie-
mand glauben, der ihr von zärtlichen Gefühlen jprach,
auch dann, wenn diefer Mann es ehrlich meinte. Sie
war mißtrauifch geworden, fie hatte den Glauben an
die Menfchen verloren und damit die Freude am Leben.
Wie beneidete fie aljo die Bauerndirne, von der fie
foeben gelejen hatte.
Bora ftand auf und ging wieder nach dem Pro-
menadended hinunter, nach dem Bug des Schiffes zu.
Über zwei ihrer Verehrer, die fich ihr in den Weg flell:
ten, jah fie hinweg, als wären fie durchſichtig, und die
Abgemwiejenen zogen fich befcheiden zurüd, um nicht den
Born der reichen Frau zu erregen. Als fie unten auf
dem Ded der zweiten Kajüte jtand, mußte fie fich plöß-
lich umſehen, fie fühlte, daß jemand fie anſtarrte. Es
war der Mann, der fie vorhin gegrüßt hatte. |
Berächtlich wollte fich Dora hinwegwenden, als ihr
der fonderbare Ausdrud im Blid des fremden Mannes
auffiel. Sie blieb jtehen und mujfterte ihn ruhig und
fühl. Der Mann war groß und kräftig, feinem Außeren
64 Auf finfendem Wrad.
DD D AD AD ED ED AED AD AD AD AD AD ED DD ne
nach ein Kaufmann. Er hatte duntelblondes Haar
und einen dunkelblonden Schnurrbart. Sein Gejficht
war nicht unſympathiſch, aber auch nicht befonders
ihön. Er jchien den Blick Doras für eine Ermutigung
zu halten, denn er näherte fich und 309g nochmals feinen
Hut.
„Woher kennen Sie mich?” fragte Dora Kurz.
Der Fremde lächelte. „Sch kenne Sie jeit länger
als einem Dugend fahren. Mein Name ijt Holbert,
Emil Holbert. Sie werden fich meiner vielleicht nicht
mehr erinnern.“
„Rein,“ antwortete Dora.
Novellette von Ulr. Myers. 65
EDDIE ED Dre ⏑ ⏑ Dre DD neD re DE Dre Dre DD ne
„Ich war im Haufe Ihres Vaters angeftellt und
tannte Sie jchon, als Sie noch ein junges Mädchen
waren und in die Gejellfchaft eingeführt wurden. ALS
hr Herr Vater damals den großen Ball gab, mar
ich mit eingeladen, und ich hatte damals die Ehre und
das Vergnügen, mehrmals mit Ihnen zu tanzen. Ich
wurde Ihnen auch vorgeftellt.”
Dora lächelte. „Das ift fehr lange her. Sie können
von mir faum verlangen, daß ich mich Ihrer noch ent:
ſinne.“
„Ich habe das auch nicht angenommen. Aber ich
habe Sie ſofort wiedererkannt, als ich Sie auf dem
Schiffe ſah.“
Dann war er alſo der alberne Menſch, der von
ihren Reichtümern erzählt hatte, und gewiß war durch
die Stewards und Stewardeſſen die Nachricht davon
aus der zweiten Kajüte in die erſte gekommen. Er
hatte wahrſcheinlich renommiert mit ſeiner Bekanntſchaft.
„Ich habe Sie auch wiederholt in Chicago geſehen,“
fuhr Holbert fort. „Ich habe dort mehrere Jahre eine
Stellung gehabt. Jetzt war ich zwei Jahre in New
Dort. Ich weiß, daß Ihr Herr Gemahl geſtorben iſt
— und nun müſſen wir uns hier auf dem Schiffe
treffen!“
Es lag etwas Kordiales in den Worten Holberts,
das Dora verletzte. „Sie kehren gewiß mit großen
Erfolgen nach Deutſchland zurück,“ meinte ſie ironiſch.
„Meine Erfolge find nur gering,” entgegnete Hol-
bert einfach, „ſoweit e3 fich um materielle Dinge han—
delt. Vermögen bringe ich nicht mit mir, aber ohne
Nuten ijt der Aufenthalt in Amerifa für mich nicht
gemwejen. Ich babe viel gelernt, was ich in Deutſch—
land zu verwerten hoffe.”
„sh wünſche Ihnen viel Glüd,“ fagte a und
1904. XIII.
66 Auf finfendem Wrad.
OK rE Der Deere Dre DD ee De DDr er DD eD
brad) dann das Gefpräc kurz ab, indem fie zu ihrem
Ruheplatz zurüdging.
Stetig und ununterbrochen macht das Schiff feinen
Meg. Unermüdlich dreht fich die Schraube, und vor
den Feuern der Schiffsmafchine ftehen die halbnackten,
von Schweiß triefenden Heizer, um den unerjättlichen
Schlund der Keffelfenerung mit Kohlen zu füllen. Man
fahrt mit äußerfter Kraft, und bis zum legten Kohlen: °
zieher ift man erfüllt von dem Gedanlen, früher als
das deutſche Schiff die englifche Küfte in Sicht zu be-
fommen. Auf Dec fteht die Wache, der Offizier von
Dienjt fpäht von der Kommandobrüde forgfältig in die
dunkle Nacht hinaus. Unter Ded ijt es ruhig. Die
Baffagiere fchlafen. Gegen elf Uhr ijt e3 auch im
Rauchſalon ftill geworden. Die fpielenden und trinten-
den Herren haben fich gleichfall3 zur Ruhe begeben.
Die Damen find ſchon längere Beit vorher in ihre
Kabinen gegangen.
Viermal Schlägt die Schiffsglode, der Matrofe ruft
zur Rommandobrüde dem Offizier die Meldung zu:
„Bier Glas!”
Das iſt zwei Uhr Nachts.
Der Offizier prüft den Rompaß. „Zwei Strich
mehr Süd!” ruft er dem Mann am Steuer zu.
„Zwei Strich mehr Süd!“ wiederholte der Mann
das Kommando, zum Zeichen, daß er es verjtanden
Dabe, und dreht daS kleine Rad.
Plöglich ertönt ein fürchterlicges Krachen. Der Offi—
ziev auf der Koinmandobrüde bricht fajt zuſammen und
halt fih nur mühſam am Geländer fell. Das Schiff
erzittert in feinen Grundfeſten, und ein gelleuder
Schreckensſchrei, fich vafch hintereinander wiederholend,
ertönt vom Deck und aus dem Innern des Schiffes.
Novellette von Ulr. Myers. 67
DD rd Dee DD
Mit gellenden Schlägen gibt die Schiffsglode das
Notjignal. Ä
„Schotten dicht! Schotten dicht!” tönt lant das
Kommando des wachhabenden Offizier, und die ae
leute geben es weiter.
Die Machine bat plößlich zu arbeiten aufgehört.
Halbbekleidete Paſſagiere erſcheinen ſchreckensbleich auf
Deck. Das Schiff legt ſich tief nach Steuerbord hinüber.
Die Pfeifen der Bootsleute ſchrillen über das Deck.
Der Kapitän kommt angeſtürmt und eilt auf die
Kommandobrücke.
„Klar zum Boote ausſetzen!“ ſchallt ſein Kommando.
Das Schiff ſinkt. In voller Fahrt iſt es mit einem
ſchwimmenden Eisberg zuſammengeſtoßen, der, von
Norden herkommend, den Pfad des Schiffes kreuzte.
Es war einer jener heimtückiſchen Eisberge, die nur
wenige Zoll über Waſſer ſichtbar ſind, aber tief unter
Waſſer gehen. Das Schiff iſt vorn vollſtändig aus—
einandergebrochen, die Maſchine demoliert, das Waſſer
dringt mächtig in das Schiff, das ſich mehr und mehr
nach rechts hinüberlegt und deſſen Spitze ſchon in das
Waſſer taucht.
Die gellende Stimme des Kapitäns bringt die Offi—
ziere und die Matroſen raſch zum Bewußtſein ihrer
Pflicht. Mächtige Blaufeuer flammen auf, Fackeln
werden angezündet. Die Kommandos der Offiziere und
Bootsleute übertönen die furchtbaren Schreckensſchreie
der vor Angſt faſt wahnſinnigen Paſſagiere. Aus tiefem
Schlafe ſind die nichtsahnenden Menſchen aufgeſchreckt
worden, um zu erfahren, daß das Schiff ſinke. Ahnungs⸗
los und friedlich lagen fie in ihren Kojen, und jeßt
heißt es das Leben retten, wenn folches überhaupt noch
zu reiten ift.
„Die Bacdbordboote zuerjt!” fehreit der Kapitän,
68 Auf finfendem Wrad.
DEI DE DE Dre Dr ED DE DE DE Dre Dre De DDr Dre ED
denn das Schiff neigt fich immer mehr nach Steuer:
bord und macht das Herablafjen der Boote nach der an-
deren Geite immer jchwieriger.
„Die Frauen und Kinder zuerft in die Boote! Es
fommen alle mit. &3 find genug Boote da. — Bringt
das fchreiende Weib dort fort, fie macht alle wahn:
finnig!* ruft der Rapitän, und die Stewardeſſen werfen
der unglüdlichen Frau, die in der Todesangft ganz von
Sinnen ijt, eine Dede über den Kopf, um ihr Schreien,
da3 die anderen Pafjagiere volllommen rafend macht,
zu erſticken.
Ein wildes Drängen entjteht an den Booten. Keine
Rückſicht gilt mehr, jelbft die Bande der VBerwandtfchaft
find gelöft, jeder fämpft um fein Leben. Das erjte
Boot wird zu Waſſer gelaffen und Tentert, weil ein
paar wahnfinnige Menjchen von De her nachfpringen.
Ein wildes Hilferufen beginnt um das gelenterte Boot,
aber niemand kann den Unglüdlichen zu Hilfe kommen.
In die Kommandoruje, in das Schreien der ver-
zmweifelten, von Todesangſt gejchüttelten Menſchen mijchte
fich da3 Zifchen des Dampfes, der aus allen Ventilen
entweicht, denn im lebten Augenblid haben die Ma-
jhiniiten, bevor fie den Raum im Schiff verlaffen, die
Hähne geöffnet, um eine Keffelexplofion zu verhüten.
Mit immer fehnelleren Schlägen mahnt die Schiffs:
glode zum Berlaffen des Schiffes. Die Bootsmann3-
maaten lafjen ihre Pfeifen ertönen, und aus dem
Inneren des Schiffes Tommen die legten Mannjchaften
herauf, melche die waſſerdichten Abteilungen, die fo:
genannten Schotten, gefchlojjen haben, jo gut es ging.
Auf Ded wird e3 dunkel. Die elektrifchen Yampen find
fämtlich ausgegangen, nur zwei trübe Pofitionslaternen
brennen rechts und links auf dem Schiffe, deſſen Vorder-
teil jetzt faſt vollſtändig in den Wellen verjchwindet.
\
Novellette von Ulr. Myers. 69
EDDIE DE DD ED ⏑ ⏑ ⏑ Did
Der Kapitän und die Offiziere ſchwingen fich in das
legte Boot, und bei Fadelfchein rudern die Kleinen Fahr:
zeuge fo eilig als möglich vom Schiffe fort, um nicht
in den todbringenden Wirbel hineingezogen zu werden,
wenn da3 Schiff verfinkt.
Weiter und weiter entfernen fich die Sadeln, bis
fie nur noch wie ro.e Punkte auf der FOREN er⸗
J—
An der Reling des Schiffes, welche den abfahren—
den Booten zugekehrt war, ſtand eine Frau, die zurück—
geblieben war — Dora Hamkins.
Sie war zeitig genug auf Deck erſchienen, um in
eines der Boote zu gelangen; aber ſie fühlte ſich an—
gewidert von dem wahnſinnigen Kampf der Menſchen
um ihr bißchen Leben.
Was lag ihr am Leben?
Außerdem war es ihr feſter Entſchluß, wenn fie je-
mals einen ſolchen Schiffbruch mitmachte, auf dem unter:
gehenden Schiffe zu bleiben. Ihr Gatte hatte viel mit
Schiffskapitänen verkehrt, und die alten Seeleute hatten
übereinftimmend verfichert, es fei viel vernünftiger, bei
einer folchen Rataftrophe auf dem Schiffe zu bleiben
und mit diefem unterzugehen, als fich den Schredniffen
einer Meerfahrt auf offenen Booten auszufegen. Beier
ein Ende mit Schreden, als Schreden ohne Ende.
Nein, ihr lag gar nichts am Leben. Dieſes Leben
war für fie ein verlorenes und hatte ihr nie etwas
geboten. Einmal muß jeder Menjch jterben; ob früher
oder jpäter, was fommt es darauf an.
Dora mußte fih an der Reling fejthalten, denn
das Schiff ſank vorn immer mehr und mehr, und fein
Held hob fi aus dem Waſſer heraus. Jetzt bildete
Ihon das Verdeck eine fchiefe Ebene, deren unterer
70 Auf ſinkendem Wrack.
DD DD DD DD ED DD EDDIE EDDIE DE Dre
Teil fi) im Waſſer befand. Hin und wieder drang
ein dumpfes Gludfen und Gurgeln aus dem GSchiffs-
inmern, wenn da3 Waller wieder in einen Raum ein-
gedrungen war, und die Zuft durch die Laden nach
oben entwich.
Ein Geräufch Hinter ihr veranlaßte Dora, fich um:
zufehen. Sie jah die Geltalt eines Mannes, und troß
des unficheren Scheins der Bofitionslaternen, in deren
Nähe fie jich befand, erkannte fie Emil Holbert.
Sprachlos jtarrt Dora den Mann an, der fie mit
eigentümlichen Blicken betrachtete.*)
„Unglüdlicher, Sie find zu jpät — — die
Boote. ſind fort!”
„Ich weiß es,“ ſagte Holbert, „denn ich ſah fie ab—
fahren. Ich bin abſichtlich zurückgeblieben.“
Dora lächelte. Alſo noch ein Menſch, der ſich nicht
vor dem Tode fürchtete.
„Sie wollten nicht die Schreckniſſe der Bootsfahrt
durchmachen und zogen ein raſches Ende vor?“
„Ich ſuchte Sie, und als ich ſah, daß Sie zurück—
blieben, ging ich nicht von Bord.“
„Um meinetwillen?“ fragte Dora erſtaunt.
„Um Shretwillen. Sch wollte mit Ihnen zufammen
sterben.”
„Cie find ein Narr!” jagte Dora entrüftet und
wendete fih von dem Menfchen ab, der ihr unheimlich
wurde.
„Fürchten Sie nichts,” rief Holbert, „ich werde Gie
nicht beläftigen. Aber im Augeficht des Todes und der
wenigen Minuten, die wir noch zu leben haben, mill
id) Ihnen jagen, weshalb ich zurücgeblieben bin, mes:
halb ich mit Ihnen zufammen fterben will, weshalb ich
*) Siche das Titelbild
Novellette von Ulr. Myers. 71
— EDDIE DD DI DD re
glüdlich bin in diefem Augenblid, glüdlicher als in den
legten Sahren meines Daſeins.“
Mieder tönte das entfegliche Gurgeln aus dem
Inneren des Schiffes. Eine der Schotten mußte unter
dem Andrang des Waſſers gebrochen fein. Das Schiff
jtellte fich noch fehräger, fo daß das Ded noch fteiler
wurde. Ein Beben und Hittern war durch das Schiff
gegangen, und Pora hatte fajt ihren Halt an der Re—⸗
ling verloren.
Mit einem Sprung ftand Holbert neben ihr und
hielt fie am Arme feft, damit fie ua in das Waſſer
binuntergleite.
„Sie ftehen vor dem Tod mie ich,” fagte Holbert;
„was gelten Ihre Millionen? Nichts. Sie find ebenjo
arm wie ich, denn Sie Haben nicht8 mehr al3 das
Leben, da3 in wenigen Minuten verloren fein wird.
est kann ich fprechen, jett Tann ich Ihnen jagen,
was ich ſeit Jahren in meinen Inneren zurüdgedämmt
habe. Als ich vor vielen fahren Sie als junges
Mädchen im Haufe Ihres Vaters Tennen lernte, als
Sie auf jenem Hausball mit mir tanzten und jo lieb
und freundlicd) zu mir waren, entftanden törichte Hoff:
nungen in meiner Bruft, die zur leidenjchaftlichen Liebe
geworden find. Ich durfte und konnte e8 nicht wagen,
mich Ihnen zu nähern, Ihnen jemals meine Liebe zu
geitehen. Aber die Hoffnung hielt mich aufrecht. Sie
waren noch fo jung, und ich glaubte an das Glüc des
Lebens. Dann kam der Amerilaner und heiratete Sie,
bevor noch irgend eine meiner Hoffnungen erfüllt war,
und die Verzweiflung padte mich. Aber fo jehr ich
mich aufbäumte gegen das Echidjal, ich konnte nichts
tun, ich mußte ftillfchmweigen und zujehen, wie ein anderer
Hann Eie, tie ich über alle Maßen liebte, als fein
Meib heimführte. Sie gingen über den Ozean, und id)
72 Auf fintendem Wrad.
DD D DD DD rer
folgte Ihnen, ich hielt e3 nicht aus in Europa. Sch ging
nach Chicago, um in Ihrer Nähe zu fein. Ich litt fürchter-
lich, wenn ich Sie am Arme Ihres Gatten jah, und doch
fand ich ein Glüd in der Entjfagung, fand ich ein Glüd
darin, daß ich in Ihrer Nähe fein Fonnte. — Ihr Gatte
ftarb, und Sie wurden reicher als je. Alle meine Hoff:
nungen waren fehlgefchlagen. Ich wußte e3, ich hörte es,
daß Ihr Herz verbittert war, daß Sie nicht mehr an die
Menfchen glaubten, daß Sie feinem Menjchen trauten,
und ich mußte, daB ich von Ihnen verlacht worden
wäre, wenn ich Ihnen je von Liebe gejprochen hätte.
Ich war unglüdlicher jeit der Zeit, da Sie Witwe
waren, aläin der Beit, in der Sie Ihrem Gatten an-
gehörten. Ich verließ Chicago und ging nach New
York, um die lebten verzweifelten Anftrengungen zu
machen, Reichtum zu erwerben und mit dem Reichtum
Sie, Dora. Es follte nicht fein. Meine Unternehmungen
find fehlgefchlagen. Ich beichloß nach Europa zurüd-
zufehren und hoffte, ich würde die Wunden, die mir
die Leidenjchaft für Sie gejchlagen hatte, zum Ver-
heilen bringen, wenn ich das Weltmeer zwifchen Sie
und mich brachte. Da wollte es das Schidjal, daß ich
Sie auf diefem Dampfer traf, und alles, was ich für
Gie empfunden Hatte, brach wieder durch. Ich hätte
troßdem gejchwiegen. Aber Gott ſei Dank, die Stunde
ift gefommen, in der ich zu Ihnen fprechen darf, die
Stunde des Todes. Sch preife diefe Stunde; fie hat
mir Glücjeligfeit gebracht und Ruhe für mein Herz,
das bald zu jchlagen aufhören wird.”
„And Sie denten nicht daran, daß Sie mir die legten
Minuten, die ich noch zu leben habe, verbittern, indem
Sie mih zum Mitfchuldigen an Ihrem freimilligen
Tode machen?“
„Sie — mitjchuldig?” fragte Holbert. „Wiefo? ch
Novellette von Ulr. Myers. 13
DDR EDDIE TED Dre Dre Dr Dre ED Deere
bin freiwillig bier geblieben. Sie trifft feine Schuld.
Wie können Sie ſich einen Vorwurf machen um einer
Sache willen, die ich freiwillig auf mich nahm?“
Dora jchwieg und ſah nach Oſten hinüber, wo ein
graner Strich am dunklen Horizont erfchien. „Wie
lange wird das Schiff noch brauchen, bis es ſinkt?“
fragte fie dann.
„Es Tann noch eine ganze Zeitlang dauern,“ ant-
wortete Holbert, „denn e3 ijt gelungen, fämtliche Schot«
ten im binteren Zeil des Schiffes zu fehließen. So—⸗
lange die Türen nicht brechen, welche die mwajferdichten
Abteilungen abjchließen, wird das Schiff ſchwimmen.
Das Tann jo lange dauern, bis ein Sturm fommt.“
Holbert Hatte eines der Taue durchfchnitten, die
noch in den Bootsdavits hingen. Er befeftigte das
Zauende jo an der Neling, daß es einen Halt bot für
Doras Hände Gr felbjt trat einen Schritt zur Geite
und hielt fih an dem Bootsrand feſt.
Der Horizont im Often rötete ſich. Feurige Strah—⸗
len fuhren am Himmel empor und erleuchteten dag
Firmament; der glühende Sonnenball ul aus den
Fluten empor.
Die beiden Schiffbrüchigen Tonnten jet ihre trau-
tige Lage überfehen. Um das Schiff herum trieben
Trümmer von Booten, Holzteilen und Floßſtücke, die
man der Inſtruktion gemäß in das Waſſer geworfen
hatte. Aber man ſah auch Zeichen von Ertrunfenen
treiben, die mit dem erſten Boot gefentert oder in der
Verzweiflung in das Waller gejprungen waren.
Set betrachten fich auch der Mann und das Weib,
die auf dem Wrad zurüdgeblieben waren. Sie prüfte
ihn mit falten, ruhigen Blicken, jeine Augen leuchteten
in eigentümlichem Glanz. Dora mußte ihre Augen
abwenden. Diejer Blid des Mannes, der fich da müh—
74 Auf finfenden Wrad.
DD rRDFr EI EEE Dre De DD re Dre D ⏑ Dede rede
jam am Bootskran fefthielt, hatte etwas Vorwurfs⸗
volles für ſie.
Ein dumpfes Krachen kam aus dem Schiff. Dann
tönte wieder ein Gurgeln, und eine Waſſerſäule drang
aus der Gegend, wo ſich die große Luke befunden hatte.
Das Schiff ſank ſofort tiefer. Wieder eine Schotten⸗
tür gefprungen.
Hätte nicht Holbert vorjichtshalber das Tauende
für Dora befeftigt, fo wäre diefe jet abgeglitten. So
aber ftand er wieder neben ihr, umfaßte ihre Gejtalt
und 309 fie höher hinauf, mobei da3 Tau gute Dienſte
leijtete.
„Wozu die Bemühung,* ſagte Dora, „das verlängert
doch nur das Ende. Laſſen Sie mich 103.”
„Nein, Sie jollen nicht fterben, Sie jollen wenig—
ſtens nicht abfichtlich jterben,” entgegnete Holbert. „Es
ift Zeit genug, wenn Gott es will. Nach menfchlichem
Ermeſſen haben wir feine Hoffnung, gerettet zu werden
oder tiberhaupt noch lange auf diefem Schiffe zu meilen.
Aber wir find e3 ung und unjerem Gottesglauben
fchuldig, auszuharren. Mag diefer Todestampf die
Sühne fein für das, was wir vielleicht im Leben ge-
fündigt haben, wenn auch unbewußt.“
Seine Worte wirkten auf Dora eigentümlich tröftend
und waren ihr dod) fehmerzlich. Sie fühlte, wie feine
Kräfte erlahmten; er mußte fich mit der rechten Hand
an dem angebundenen Ende des Taues feithalten und
mit der linfen umfchlang er fie. Sie legte ihren Arm
um feinen Hals, um fich an ihm feitzuhalten und ihm
die Laſt zu erleichtern.
Mieder jprang eine Schotte, und da3 Schiff neigte
ſich jetzt ſo bedenklich, daß das nächſte Springen einer
Schottentür die Kataſtrophe ſicher herbeiführen mußte.
„Es dauert nur noch wenige Minuten,“ murmelte
Novellette von Ulr. Myers. 75
REDE DT Dr DrKD DE DE DEI Dre Dre Dee Dee Deere. ED
Holbert, und Dora, deren Kopf an jeiner Bruft lag,
hörte das Schlagen feines Herzens.
„Sie haben mich immer geliebt?” fragte fie halb»
laut. „Ohne Hoffnung?“
„Stet3, immer, in jedem Augenblid der lebten
Jahre meine Lebens,” jagte Holbert und drüdte leiſe
die Geftalt Doras an jich.
„Sie waren jehr unglüdlich?*
„Ich war unglüdlich und doch glüdlich. Ich hoffte
immer noch, es würde eine Stunde fommen, in der ich
Ihnen jagen könnte, wie jehr ich Sie liebe. Und diefe
Stunde ift ja auch gekommen.“
„Warum haben Sie früher nie gefprochen, warum
haben Sie mir früher nie gejagt, was Gie für mich
empfinden?“
„Weil Sie mir nicht geglaubt hätten.”
„sch hätte Ihnen auch nicht geglaubt,” jagte Dora
und neigte ihren Kopf. Holbert fühlte ihre Gejtalt
zittern und hörte ihr Schluchzen.
Sie hatte an nicht mehr geglaubt, fie hatte nie-
mand mehr getraut. Und jebt kam ihr der Glaube,
jest — im Angeſichte des Todes.
Ein dumpfes Dröhnen drang aus dem Inneren des
Schiffes, eine Wafferfäule fprang auf, und dann über-
fchlug fih das Schiff, in die Tiefe ſinkend.
Beide Arme fchlang Dora um Holbert3 Hals.
Dann verjank fie mit ihm in dem Strudel des ſinken⸗
den Schiffes.
Mit der Kraft der Verzweiflung arbeitete Holbert
fih aus dem jtrudelnden Wafler heraus, das ihn zu—
erst nad) unten 309 und dann wieder hinaufitieß. Mit
feinen rechten Arm machte er Schwimmbewegungen,
mit feinem linfen Arm hielt ex die Geftalt der ohn—
76 Auf ſinkendem Wrack.
mächtigen Frau gefaßt. Mit übermächtiger Anſtrengung
hob er ſie über die Waſſerfläche. Ein Stück Floß, wie
es als Bodenbelag und zuſammengeklappt als Bank
auf dem Oberdeck jedes Schiffes ſteht, ſchwamm in ſeiner
Nähe. Es war eine Fläche von mehreren Quadrat—⸗
metern Latten, ähnlich einem Stüd Planfenzaun. Mit
zwei Stößen hatte Holbert das Floß ergriffen und hielt
e3 fejt. Sechsmal ſetzte er an, um mit faſt übermenfch-
licher Kraft den Körper Doras auf das Floß zu bringen;
immer wieder mißlang es ihm, bis feine Kräfte ihn
faft verlajjen hatten. Dann endlich brachte er den
Oberleib der ohnmächtigen Frauengeftalt auf das Floß,
und mit der legten Kraft jchob er ihren Unterlörper
nach. Dann ſchwamm er längere Zeit, fich an dem
treibenden Floß fejthaltend, weil er nicht mehr die
Kraft hatte, fich ſelbſt aufzuſchwingen.
Seine Kräfte verließen ihn. Aber er dachte nicht
an fich, jondern an die Frau, die er retten wollte.
Eine Hoffnung lebte jegt in dem um fein Leben Tämp-
fenden Wanne, nachdem er dem Strudel des finfenden
Schiffes entgangen war. Per deutjche Dampfer, dex
jedenfall alles aufbot, was in feinen Kräften ftand,
um den „Briton” einzuholen, mußte in der Nähe fein.
Wenn e3 nur gelang, ein paar Stunden fich auf dem
Floß zu halten, war Ausficht vorhanden, daß der
Dampfer vielleicht die Schiffbrüchigen fand. Er fuhr
jedenfall in demſelben Kurs wie der englifche; die
transatlantifchen Dampfer halten ja immer denfelben
Pfad über den Ozean ein, fchon aus dem Grunde, um
bei Unglüdsfällen einander zu helfen.
Ein heftiger Weftwind Hatte fich erhoben. Die
Wellen jchlugen über das Floß. Es war ein ver:
zweifelte® Ringen und Kämpfen, bis e3 Holbert gelang,
ein zmeites, kleineres Stück Floß, das im Wafler um-
Novellette von Ulr. Myers. 77
ù ⏑ DEAD AD ADD ED EDDIE DE DD
bertrieb, zu erreichen und fich mit dejjen Hilfe dann
auch auf das größere Floß zu ſchwingen. Hier fonnte
er fich zurechtfegen und den Kopf der ohnmächtigen
Frau auf feinen Schoß legen. Auf ſchwankenden Brettern
aß er da, jede unvorfichtige Bewegung Tonnte ihn mit:
famt dem ohnmächtigen Weibe wieder in die Flut
fchleudern. Aber wenn es auch fein Leben gefojtet
hätte, ev mußte ihren Kopf emporheben und mußte ihre
bleichen Lippen küſſen.
Sm Augenblid des Todes hatte jie ihn gefüßt, er
78 Auf finkendem Wrad.
DDr Dr ED De ED Dr eD
wollte diejfen Ruß erwidern. Die Sonne begann heiß
zu brennen. Hunger, Durft und Müdigkeit, die Ab-
jpannung nach der Aufregung machten fi) auch bei
Holbert bemerkbar. Das Waller und der Himmel über
ihm fchienen ihm in ein einziges graues Etwas zu ver-
ſchwimmen.
Das Stöhnen Doras, die wieder zur Beſinnung kam,
weckte ihn aus ſeiner Betäubung.
„sh will leben!“ flüſterte fie.
Mit zärtlichen Blicken betrachtete r Holbert.
„Ich will leben mit dir!“
wei Stunden jpäter fifchte der deutjche Dampfer
die Schiffbrüchigen auf. Er Hatte bereit3 die Boote
bes „Briton” mit den anderen Paſſagieren getroffen
und an Bord genommen und fuchte die Unglüdzitelle
genau ab.
Auf deutſchem Schiff fuhr Dora zur Heimat zurüd,
einem neuen Leben des Glüdes und der Liebe entgegen.
>
2
Im Schatten des beiligen
Berges.
Eine Wanderung durch das Athosgebiet.
Uon W. Helmuth.
mit s Mustrationen. ? Machdruck verboten.)
WW: alle fennen aus den Landkarten die charal-
teriftiiche Gejtalt der hHandförmigen Halbinfel Chal—
fidife, Die wie zur Abwehr drei ihrer Finger weit in das
Meer hinausftredt. Hagion Oros, Longos und Kaſ—
fandra find die Namen, welche die drei langen, jchmalen
Landzungen heute führen. Ein mächtiger Gebirgstegel,
der fich auf der erjtigenannten von ihnen erhebt, gibt
uns die Erklärung für ihre Bezeichnung als „heiliger
Berg”, und wir miljen, daß es das DVorgebirge Athos
iſt, welches da zu uns herüberwinkt.
Wir wiſſen es jcehon aus den Tagen ber, da man
uns zuerjt die Gejchichte der Perſerkriege erzählte.
Denn das Vorgebirge Athos mit jeinen mwildumbrande-
ten Klippen machte die Umfchiffung der Halbinjel Ehal:
kidike zu einem fo gefährlichen Wagnis, daß Xerres
nicht vor dem ungeheuren Unternehmen zurückſchreckte,
für jeine Kriegsflotte einen Kanal graben zu lajjen,
der ihr dieje Umjchiffung erjparte. |
HH . Im Schatten des Heiligen Berges.
⏑ De De Den De DD ⏑ xD
Die Spuren’ des gigantiichen Werkes find heute
faum noch wahrnehmbar. Aber der NReifende, der von
Caloniti her daB meite Gebiet de3 heiligen Berges
Athos betritt, fieht fich da in eine jo fremdartige, jelt-
fame und in fich abgefchlojfene Welt verjegt, als wäre
der Kanal des eroberungsfüchtigen Perſerkönigs bis in
die jüngfte Zeit hinein ein trennendes Hemmnis für
den Verkehr der hier anſäſſigen Menfchen mit den Be:
wohnern der übrigen Welt geweſen. Man jollte in
der Tat glauben, daß Verhältniſſe, wie fie fich bier
herausgebildet haben, nur auf einer einfamen Inſel
inmitten des weiten Ozeans entjtehen und fich erhalten
fönnten. Die Halbinfel trägt nämlich zwanzig, zum
Teil befeftigte Klöjter mit etma 7000 Mönchen und
Einfiedlern aus allen Nationen der griechifch-orthodoren
Kirche. Die Mönche leben als Handwerker, Winzer,
Acerbauer, Bienenzüchter u. ſ. mw. in Elöfterlicher Ver:
bindung und bilden eine Art von Republik unter einem
Vermaltungsrate, der heiligen Synode. Und was mir
von dem Leben der hier angefiedelten meltflüchtigen
Männer fehen, mutet uns in unjerer Zeit des Haftens
und Jagens, des Kämpfen: und Vorwärtsdrängens
beinahe an wie ein Märchen.
Auf einer Bodenfläche von 40 Kilometer Länge und
20 Kilometer Breite jeit Jahrhunderten fein mweibliches
Weſen — und dennoch feine Verminderung der Seelen:
zahl, fein Verfallen und Abfterben des vor langen
Beiten Gejchaffenen, feine Erfehütterung des ſeltſamſten
aller Gemeinmwefen, das diefe Taujende von Männern
nit feinen ungefchriebenen und doc) unantafibaren Ge-
fegen zuſammenhält!
Georg Eber3 entwirft von dem Leben am Berge
Athos folgendes ebenfo poetifche wie anfchauliche Bild:
Weder auf dem Lande, noch in der Athosjtadt Karyäs
1804 XII.
— |
— —
6
Das Kloster Watopädi.
82 Im Schatten des Heiligen Berges.
DD ADD DD AD ED ED DEI DDr EDDIE DREI TD
läßt fich ein Laut aus Frauenmunde, ein fröhlicher Auf
von den Lippen eines Kindes, ein Lied, das heitere
Mädchen fingen, eine Mahnung der Mutter oder der
Schrei eines Säuglings vernehmen. Auch fein Raſſeln
eine Wagens, Tein Knall einer Peitfche, fein Eriege-
tifcher Trommel-, Pfeifen: oder Trompetenklang läßt
fich bier hören, und wo man Männern im Geſpräche
zufammen begegnet, hört man fie jelten anders als ge:
laffen und mit gedämpfter Stimme reden. Die Leiden:
Schaft fol ja hier fchmeigen, und es fehlt das Weib und
fein da8 Herz und den Geijt, das Denken und Streben
des Mannes anfenernder Einfluß. Die fpärlich ver-
tretene Jugend teilt hier mit dem reife das nämliche
Streben. Der Zmanzigjährige geht gelaffen und wunfch-
108 dahin wie der Alte, und troß feiner feurigen Augen
und elaſtiſchen Gejtalt wird der Jüngling, der dort fo
kräftig die Hade ſchwingt, ———— das iſt „guter
Alter“, gerufen.
Keine Geburt, fein Zuzug auf Befehl eines Herr:
fcher3 und ebenjomwenig die Hoffnung auf Gewinn oder
günftigere Bedingungen für die Vermertung der Kraft
hält die Zahl diefes merkwürdigen, nur aus einem Ge-
fehlecht beftehenden Volkes jeit vielen Jahrhunderten
auf der nämlichen, in der legten Zeit ſogar wachjenden
Höhe. ES ift nur das gleiche Seelenbedürfnig, die
gleiche Sehnjucht, die fort und fort, und als folgten fie
einem zwingenden Gefege, die Taufende amı heiligen
Berge zufammenführt, und fie merden fich nicht ver-
mindern, folange noch der Auf, der durch die ganze
Welt des griechifchen Morgenlandes fchallt, offene Obren
findet.
„Auf dem Athos,” fo lautet er, „findeft du Waldes-
ichatten, Quellengerieſel, milde Lüfte, ungejtörte Rube,
und das höchſte der Güter, die Freiheit. Den Frieden
}
J
ea. —— Be. 3 Ma Bm
J
Aut!
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[4
. — —
———— — — — — — — — — —
N hi:
Eingang des Klosters Watopädi,
84 Sm Schatten de Heiligen Berges.
DD D DDr DDr ⏑ DE Dr Dre Dr ED ED ED —
mit fich felbft, den findet nur, wer die Welt übermun-
den ımb einen Giß in der Werkftätte aller Tugenden
auf dem Berge Athos gewonnen hat.“
Daß diefe Stätte des Friedens immer aufs neue
ihren munderbaren Neiz auf fo viele ruhebedürftige
Geelen ausübt, mag fich freilich zum guten Teil wohl
auch aus ihrer Iandfchaftlichen Schönheit erklären.
„Reichtum, Lebenskraft und Fülle des Pflanzen:
wuchſes,“ jagt Griefebach in feinem ausgezeichneten
Heijebericht, „wie man fie bier erblickt, müffen auch
den weniger Unterrichteten mit Bewunderung erfüllen.
Das Geſträuch ift bis 15 Fuß hoch und wäre undurch—
dringlich, hätte man nicht die Pfade künſtlich aus—
gejchnitten, Morten und Schattenblumen füllen alle
Räume, und die Lianen ranten in fo üppigem Triebe,
daß fie an vielen Orten, befonders bei den Wafferfällen
der eriten Einfentung, gleichfam ein Laubdach über
dem Kopf des Wanderer bilden, der voll Erftaunen
an den Einjiedeleien und zaubervollen Szenen dieſer
unbefannten "Bone vorüberzieht, biß der von üppigen
Kräutern und Farngebüfchen dichter durchwachſene Hoc):
wald mit riefigen Walnuß- und Kaftanienbäumen,
Steineichen und Zypreſſen in der IImgegend von Karyä3
die Seele mit neuem. Entzüden erfüllt.”
In drei verjchiedenen Niederlafjungsmeifen find die
7000 „guten Alten” über den fchmalen Streifen male:
rifchen Gebirgslandes verteilt. Die meiften leben in
den Klöjtern, Deren es zwanzig von verjchiedener Größe
gibt, andere wohnen in Sfiten oder dorfartigen An—
fiedlungen beieinander, und ein nicht unerheblicher
Bruchteil endlich bringt fein befchauliches Daſein in
fogenannten Zellen, das ift in einzeljtehenden Häujern
oder Hütten zu, die fich zumeilen in den mildejten und
abgelegenjten Gebirgstälern finden. Dieſe Einjiedler er:
ud. |.
Fo u ã
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Y hr —⸗—
Weihbrunnen und Uhrturm im Kloster Watopädi.
86 Am Schatten des Heiligen Berges.
DDr Dr ED ERDE ED EDDIE ED ED Dre Der Der Dee Dr
freuen fich der volliten Unabhängigkeit, fuchen aber in
ihrem eigenen Intereſſe zumeift Anfchluß an das nächſt⸗
gelegene Klofter, um die Kirche desjelben zu befuchen
und in Zagen von Krankheit und Not auf Beiltand
rechnen zu Dürfen.
Eines der größten und fehensmwerteften unter diefen
ift das Klofter Watopädi, das mit feiner verwirrenden
Menge von Gebäuden, Türmen und Kuppeln mehr
einer kleinen befeftigten Stadt als einer Zufluchtsftätte
ruhebedürftiger und friedenfuchender Seelen gleicht.
Aber man darf nicht vergeflen, daß die Athosklöfter
zu einer Beit entjtanden find, mo fich die Mönche gegen
Piraten und anderes räuberijches Volk zu wehren hatten,
und daß fie der ftarfen, zinnengekrönten Wachtürne
nicht wohl entraten konnten.
Heute, wo von Seeräubern nichts mehr zu fürchten
ift, dienen diefe Türme entweder zu Wohnzwecken oder
wegen ihrer befonders fejten Bauart zur Aufbewahrung
wertvoller Schäte, wie fie die Bücher und Handfchriften-
jammlungen der meiften Athosklöfter darftellen. Sollen
fich hier Doch im ganzen noch 11,000 bis 12,000 griechifche
Handfchriften befinden, und find Doch unter den Minia⸗
turen, welche diefe Handfchriften ſchmücken, , vielfach
wahre Perlen klöſterlicher Kunſt.
Bon ftrenger Mönchszucht ift in dem nach einer
gemiffermaßen republilanifchen Berfaffung geleiteten
Rlofter Watopädi faum die Rede. Jeder fromme Mann,
der fich feinen Schuge anvertraut, Tann darin ganz
nach feinem Gefallen leben, fich, wenn feine Mittel e3
geftatten, fogar feinen eigenen Koch oder Diener halten,
fofern er nur die gottesdienftlichen Übungen teilt und
die ftrengen Faftengejege innehält. Dieſe Unterwerfung
fegt indeffen eine nicht geringe Entfagungsfähigkeit
voraus, denn der Gottesdienft in den Kirchen eines
“ıppdorepmy 2201s0]M WI pn
Be ER
— —
— 9
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88 Im Schatten des heiligen Berge.
DDr Ir DrEDrE ⏑ DD DDr DD Dre Dee Dre
Athoskloſters währt mitunter ohne jede Unterbrechung
16, 17, ja jelbjt 24 Stunden, und die Fafttage, an
denen jelbjt der Genuß von Eiern, Ol und Fiſchen —
Tsleifch darf überhaupt nie genofjen werden — verboten
ift, füllen in ihrer Gefamtheit etwa acht Monate des
Jahres aus.
Gleich allen anderen Athosklöſtern hat auch Wato—
pädi nur ein einzige Eingangstor, über dem fich das
Bild der PBanagia, der heiligen Jungfrau, befindet.
Unbarmberzig weift der Pförtner hier jeden Unberufenen
zurüd; und der Neifende, der nicht von Saloniki oder
von Karyäs her mit den erforderlichen Legitimationen
verfehen ift, darf fich nicht die geringfte Hoffnung dar-
auf machen, Eintritt zu erlangen. Dem Zeichner unjerer
Bilder dagegen wurde die Bergünftigung zu teil, mehrere
Tage im Innern des Kloſters zu verbringen, und er
fand fomit nicht nur Zeit genug, mehrere bejonders
malerifche Bartien, zu denen auch der Uhrturm mit dem
in feinem griechischen Klofter fehlenden Weihbrunnen
zu rechnen ift, auf dem Skizzenblatt feitzubalten, jondern
er Tonnte auch allerlei interefiante Beobachtungen über
das Leben der frommen Brüder anjtellen. j
Befonders lebhaft ging es nach feinem Bericht um
die Mittagszeit in der gewaltigen Küche zu, mo Bruder
Alypios (zu deutfch etwa Kleinforge) die Nationen aus
einem ungeheuren, an eifernen Ketten von einem dreh—
baren Kran berabhängenden Kefjel verteilte. Denn es
fanden fich da jtet3 zahlreiche Skitenbewohner und Ein:
fiedler ein, denen die eigene Nahrung ausgegangen fein
mochte, und die ich nun bier ihren Napf mit Bohnen-
brei, Stodfifh, in Waller abgekochtem Gemüje oder
anderen Lederbijjen füllen laſſen wollten. Ohne Ent:
jhädigung aber. wurde niemand auch nur die kleinſte
Bortion verabfolgt; nur daR es eben nicht Elingende
—
Wachturm am Strand von St, Lawra
90 Km Schatten des heiligen Berges.
DON MDOADNDADADADADADADNDNADNDADND
Münze, fondern irgend eine von dem Hungrigen ver:
fertigte Arbeit war, in der die Bezahlung geleijtet
wurde. — |
Ein anderes bemerkenswertes Athostlofter ift das
Me 4 Be nm nennt
Eingang in das Kloster Lawra,
von St. Lawra, das, hoch oben auf einer Felfenklippe
de3 zerflüfteten Meeresitrandes gelegen, auf den erjten
Blick ſehr wenig von feiner frommen Beltimmung er:
fennen läßt. |
Der zinnengefrönte Wachturm hat bier ein be:
jonders drohendes und trugiges Ausjehen, weil er denn
J
ae 70
Schiffes im Bafen des Klosters Lawra,
insegnung eines
€
92 Hm Schatten des heiligen Berges.
DAAD RD DR AD AD AD ED AD re Dre Dre Dre Dee Dee De
auch in der Tat gar manche recht ernfthafte Fehde hat
bejtehen müffen. Wenn die Gefahr am höchſten ge-
jtiegen war, fuchten die bedrängten Mönche hinter feinen
cyklopifchen Mauern eine legte Zuflucht, nach dem Meere
bin durch den fchroff abfallenden, unerfteiglichen Selfen,
auf der anderen Seite aber durch einen tiefen Graben
gefchügt, der mit fchnell fließendem Waffer gefüllt werden
fonnte, und über den e3 feine andere Verbindung mit
dem Zurme gab als die durch die Zugbrüde.
Auf einem weiteren Bilde jehen wir daS nämliche
Klojter von der Tandfeite, und es fallen dem Befchauer
dabei die Wipfel zweier mächtigen Zpyreflen ins Auge,
die Das eigentliche Wahrzeichen dieſes alten Mönchs-
faftells bilden. Cie follen von dem Begründer des
Klofters, dem heiligen Athanafius aus Trapezunt, im
Sabre 963 gepflanzt worden fein, hätten aljo heute ein
Alter von nahezu taufend fahren. Grieſebach, der fie
genau unterfuchte, fand, daß der Umfang der einen
15 und der der anderen 12 Fuß betrage. Bei dem
befanntlich außerordentlich Iangfamen Wachstum der
Zypreſſen hegt der berühmte Botaniker nicht den min-
dejten Zweifel, daß die beiden Bäume wirklich das
ihnen von der Legende zugefchriebene Alter haben.
Unterhalb de3 Kloſterfelſens von St. Lawra befindet
fich ein Kleiner gefchügter Hafen, der den Schiffen der
Mönche Zuflucht gewährt, und in welchem fie vor jeder
neuen Fahrt nach orthodorem Ritus eingefegnet werden.
Wie e3 auf unferem Bilde dargejtellt ift, lieſt dabei
ein Priefter vor dem mit dem Muttergottesbilde ge—
ſchmückten Altarfchrein die üblichen Gebete ab, welche
das Schiff dem Schuge der Banagia empfehlen, und
andächtig laufcht die Bemannung des Schiffes jeinen
Worten. |
Das fchönjtgelegene aller Athosklöfter ijt daS des
Bon W. Helmuth. 93
MDADADAD AD AD ED AD AD ED AD ED AED AD AD AD AD ED
heiligen Paulus, Ajiu Bamlu, das, feinem Namen
zum Trotz, dem heiligen Georg und der Darbringung
Chrifti gewidmet ift. Nichts ift malerifcher, fagt Griefe-
bach, al3 der Anblick des Kloſters Bamlu, das man,
Ansicht des Klosters Ajiu Pawlu. Im Bintergrund die Vorberge des Athoskegels.
plöglich in die erſte bewäſſerte Taljchlucht einbiegend,
wie ein Schloß an die Felsmauer geklebt, vor fich fieht.
In dem Kirchlein auf dem Gipfel, dem höchjten und
Iuftigiten Gotteshaus der morgenländijchen Ehriften,
wird nur einmal im Jahre, am Tage der Verklärung
Chriſti, Gottesdienft gehalten. In dem herrlichen
94 Sıı Schatten des Heiligen Berges.
ID EDED ED ED Dre DD re D nme DreDnDrEDrE DDr Dede DD
Walde, der die Berghänge bedect, vereinigen fich faft
alle Laubholzarten des jünlichen Europa, und kaum
irgendwo auf unjerem Erdteil dürfte eine gleiche Yülle
und Üppigfeit der Vegetation anzutreffen fein. Mäch-
tiger vielleicht al3 an irgend einem anderen Punkte des
landjchaftlich jo veizuollen Athosgebietes mögen fich dem
fremden Wanderer hier jene Empfindungen aufdrängen,
die Ebers in die Worte zufammenfaßt: |
„Schön ift der Schauplaß, den fie fich ermählten;
denn den grünen Waldesjchatten auf den Bergen und
in den Tälern durchriefeln Triftallhelle Bäche; in er-
habener Herrlichleit überragt der Athosriefe die Berge
und Hügel, und an die felfigen Küflen jchmiegt fich
in köſtlicher Bläue oder brandet in fchäumendem Uns
geftüm das fchönfte der-Meere, das Mittelländifche.
Bon überaliher ift es fichtbar und lockt mit feinen
Dampfern und weißen Segeln in der Ferne wie mit
rufenden Stimmen. Aber, was fie heifchen, will bier
niemand verjtehen. Sein Rauſchen erwedt nur neue
Träume, fein wildes Braufen, wenn der Sturm e3
heulend aufregt und gifchtende Wogen an die Klippen
des Ufers peitfcht, veranlaßt die Klausner, nur höher
zu ſchätzen, was fie hier jo geduldig fuchen: Sicherheit,
Ruhe, Frieden.”
a
Mamsellchben.
Eine heitere Geschichte von Alwin Römer.
®
1. (Nachdruck verboten.)
uf den großen Wiefen bei Safpershagen im
gejegneten Lande der Obotriten herrjchte emfige
Tätigkeit. Die Sonne lag auf den frifchge-
mähten Schmwaden de3 langhalmigen Grafes
und ließ den würzigen Kräuterduft Doppelt jtarl daraus
emporfteigen. Sie lag auch auf den Köpfen der un-
ermüdlich die Senje ſchwingenden Mäher, die exit bis
an die Hälfte der weiten grünen Flächen mit ihrer
Arbeit herangelommen waren; fie Drang durch Die
weißen und bunten Kopftücher der fleißig vechenden
Mägde, die nur felten einmal die Harfe als Stüße in
den Arm nahmen, um fich eine kurze Raft zu gönnen;
fie feßte den Knechten jo tapfer zu, wie fie nur konnte,
um ihnen das Aufladen der zur Einfuhr fertigen, hoch:
aufgeftapelten Heuhaufen jo jauer wie möglich zu
machen; aber fie richtete mit all dieſer ausdauernden
Bosheit fo gut wie nichts aus. Die Leute fehmwigten
weidlich, jtöhnten auch wohl ab und zu, aber fie ließen
nicht nach in ihren Eifer, die Grummeternte jo weit
wie möglich zu fördern, obgleich anjcheinend Leine Men—
96 Mamfellchen.
DEI Dr Der Dr DDr Dr DD Dede Dr Dede
jchenfeele vorhanden war, die ihre Tätigkeit Fontrolliert
hätte.
Freilih, der Schein trügt wohl mitunter. Denn
plößlich, gerade als Jochen Sötebier fich Hinter den
einen der halbgefüllten Erntemagen gefchoben hatte, um
da zu prüfen, ob die Laft auch gut verteilt fei, nebenbei
aber auch den Inhalt feiner Branntmeinflafche einer
eingehenden Prüfung zu unterziehen, ftand eines der
‚bisher mit der Harfe tätig gemefenen weiblichen Wejen
neben ihm und rief den Verdutzten an: „He, Jochen,
iſt das Kaffee?“
Wie von einem Schlage getroffen, ſank ihm der
Arm herunter, aber doch nicht gleich ſo, daß das edle
Naß aus der Flaſche unnützerweiſe in das nebenbei
gefallene Heu gefloſſen wäre.
„Nä, Frölen!“ ſtotterte ee dann und ſteckte den
Pfropfen ſacht auf die Troſtbouteille, um ſie möglichſt
unbemerkt in der Hoſentaſche verſchwinden zu laſſen.
„Hat der Herr nicht ausdrücklich verboten, bei
der Arbeit Branntwein zu trinken?“ rief darauf das
„Frölen“.
„Ick harr ſo 'n bannigen Dorſcht, Frölen,“ ſagte
Jochen.
„Das hab' ich bh gemerkt,” entgeanete fie, „und
das zum dritten Male, mein lieber Jochen. — Her
mit der Buddel!”
Zögernd holte Jochen die Halbgeleerte wieder her:
vor und lieferte fie ab. !
„Deine Strafe fann dir mein Vater bejtimmen. Er
wird ja wohl noch herüberkommen,“ fchloß fie den
Heinen Zmifchenfall und trat dann wieder in die Reihe,
an ihren Pla zurüd.
Mit leiſem Grauen bemerkte Kochen eine Viertel-
jtunde jpäter einen Reiter am Horizont, der gerades—
Bon Alwin Römer. 97
eDreDD reden Dede eD
wegs auf die Wieſen zubielt. Es dauerte auch nicht
lange, jo war er heran.
„Dag, Kinnings!” fchrie er fehon von weitem und
ließ feinen Braunen langjfamer gehen. „Das geht ja
forfch vorwärts — alles, was wahr ift.“
Dabei reichte er feiner Tochter, die zu ihm heran
getreten war und dem Braunen den Hals Flopfte, die
Hand und jah ihr zärtlich in die Augen.
„Du ſiehſt, Papa,” fagte fie halblaut, aber mit un-
verfennbarer Freude in der Stimme, „daß dir ein heim=
tüdifcher Verwalter jet nicht mehr ſchaden kann. Sch
ftehe meinen Mann.“
„Das tuft du, min Deern!” erklärte er vergnügt.
Leiſer fuhr er dann fort: „Es fragt fidh bloß, ob ich
dich das nächſte Mal noch habe, wenn mir jo ’n Jeſu—
witer wieder mitten in der Ernte durch die Wicken
geht.“
„Wirſt Schon, Väterchen!” jagte fie beruhigend und
bligte ihn mit ihren blauen Schelmenaugen an.
„Das werd’ ich nicht,” behauptete er eigenfinnig.
„Will es auch gar nicht! Irgend einer kommt fchon,
der dich mir wegſtibitzt. Nur ein recht braver Kerl
foW’3 fein. Nicht jo 'n Windhund wie der Bodeneder,
der dir am Sonntag ja jchöne Augen gemacht bat bei
der Taufe in Köſterhuſen.“
„Hat er das?”
„Ad, tu nicht fo, Mädel! Du Deine es jelber ja
gut genug.”
„Ra, um den laß dir feine grauen Haare wachlen.
Der hat fchon Befcheid.”
„War er etwa hier auf Jaſpershagen, wo er weiß,
daß —“
„Nein. Aber geſchrieben hat er.“
„J kiek doch, jo 'n Slaukopp? — Na — hat
1904. XII.
93 Mamſellchen.
—
etwa Wilzendorf auch geſchrieben, min Deern?“ forſchte
der Alte.
„Nein. Er weiß wohl, daß es keinen Zweck hat,“
entgegnete ſie kurz.
„Is aber 'n forſcher Kerl und weiß zu wirtſchaften.“
„Mir gar zu forjch, Väterchen.“
‚Sm... und Fri v. Kladow?“
„Der ift mir wieder nicht forfch genug!’ lachte fie
übermütig.
„So? Segg mal, Deern, Tennjt du die Gefchichte
von dem fledrigen Fifchreiher, dem die Yale zu fett
und die Karpfen zu lütt und die Sleie zu weich un
die Barfe zu —”
„Badding, erzähl mir das Lieber 'n ander Mal!”
wehrte fie jich lachend.
„Nä, Deern, du mußt Farbe befennen, heute noch.
Fritz kommt und will wiſſen —“
„Was will er wiſſen?“
„Das wird er dich ſelber fragen.“
„Er ſoll es lieber bleiben laſſen,“ ſagte ſie ernſt.
„Und damit er nicht in Verlegenheit kommt, bleib' ich
die Nacht wieder auf Jaſpershagen, und du bringſt
ihm bei einer guten Flaſche Rüdesheimer bei, daß dein
Inſpektor auf Jaſpershagen nicht die Abſicht hat, nach
Groß⸗-Kladow überzuſiedeln, und er ſich deshalb beizeiten
wo anders umtun ſoll.“
„Hilde, das iſt verkehrt. Kladow iſt wirklich ein
guter Kerl.“
„Ich mag ihn ja auch ganz gern, Vater, aber nicht
zum Mann.“
„Fauler Kram! Solche Männer gibt's nicht, wie
du dir einen wünſcheſt. Oder es müßte direkt mal einer
vom Himmel herunterfallen,“ knurrte der Alte miß:
mutig. „Übrigens fteigt da drüben ein jchönes Wetter
Bon Alwin Römer. 99
EDTrEDDEEDEED ED ED D ED ED DDr er Dre DE DD reD
auf. Das gibt doch noch einen Kladderadatjch heute.
Paß auf, ob ich nicht recht habe.“
„Es fcheint fo,” fagte Fräulein Hilde und reckte prü-
fend das Näschen in die Luft. „Dann wird wohl heute
feiner mehr kommen.“
„Wer denn?”
„Einer vom Himmel! ... Wie ich ihn mir wünſche!“
lachte fie ausgelafjen. „Aber nun haben wir wahr:
baftig genug gejchwaßt, Väterchen. Jetzt mach, daB
du nach Wildenhorft fommft. Ich will hier jehen, was
wir noch unter Dach und Fach Friegen können, ehe e3
losgießt.“
„Und du kommſt wirklich nicht herüber heut abend?“
„Auf keinen Fall. Morgen früh um vier iſt die
Nacht vorbei. Da heißt's zeitig ſchlafen gehen,“ be⸗
ſchied ſie ihn.
„Na, denn adjüs ook, du Dickkopp!“ brummte er und
galoppierte davon.
„Gott ſei Dank!“ dachte Jochen Sötebier. —
Aus dem heißen, ſonnigen Frühſeptembertag war
inzwiſchen ein recht unangenehmer Geſelle geworden.
Ein heftiger Gewitterwind hatte im Handumdrehen ein
ganzes Geſchwader weißer Wolkenroſſe zuſammen⸗
gepeitſcht, die ſich grau und grauer färbten; immer
winziger wurden die Ausſchnitte dazwiſchen, durch die
der blaue Himmel noch herniederlugte; immer ſchmaler
die grellleuchtenden Ränder der wampigen Wolkenballen,
die an dieſen Ausſchnitten noch Strahlen der verdeckten
Sonnenſcheibe reflektierten. Nun verſchwand der letzte
blaue Fetzen droben, und ein drohendes Schiefergrau
überzog eintönig das ganze Firmament. Aber es fiel
noch kein Tropfen. Nur der Wind heulte in kurzen
Zwiſchenräumen wild auf und wirbelte die Heuhaufen
durcheinander, und von vornher verkündete ein ſchwaches
100 Mamfellchen.
——— DE DD DeDd re Dre DnEDrE Dr ED re
dumpfes Grollen, daß das Unmetter weiter jüdlich jchon
in vollem Gange fei.
An den Heumagen arbeitete man fieberhaft. Es
galt, die ziemlich vollgeladenen Fuhrwerlke wenigſtens
noch troden heimzubringen. Alles beteiligte fich bei
diefer Arbeit. Auch Hilde v. Reidersberg ſchwang
tapfer die Heugabel, als ob fie ihr Leben lang nichts
anderes getan babe, und ihr Zun war den Leuten ein
anfpornendes Beifpiel, das ihnen der durchgebrannte
Inſpektor niemals gegeben.
„Dat regent all,” ſagte plöglich die Stimme einer
Jungmagd.
„Ja, regnen deiht dat,“ antwortete darauf, ſich ver⸗
wundert an den Kopf faſſend, Jochen Sötebier, „äwer
Sand.“
„Büſt du däſig, Jochen?“ lachte ſeine Nachbarin.
„Wo kann denn dat Sand regnen?“ Und offenen
Mundes fandte fie einen prüfenden Blid in die Höhe.
Dabei aber befam fie wirklich eine Ladung feinen Sandes
in ihr heißes, ſchweißtriefendes Antlig, und jpudend
und fprudelnd ſchrie fie nun: „Pfui Düvel, dat iS doch
wahrhaftig Sand!”
Ein förmlicher Regen der weißen winzigen Körner
fegte jett bernieder, mitten unter die Arbeitenden, die
jprachlos über fol Naturwunder zum Himmel empor:
Tchauten, allerdings mit geſchloſſenen Lippen und die
Hand als Schuß über die Augen gelegt.
Auch Hilde war einen Augenblid lang verdußt ge:
mwejen. Aber ihre Heumagen waren ihr wichtiger als
unnüge Himmelöbetrachtungen.
„Vorwärts, Leute!” fagte fie. „Den Sand bringt
der Wind von irgendwo mit, wo fie ihn fcheffelmeife
haben. — Jochen, dein Fuder ift vol. Fahr zu!”
Doch Jochen hatte offenbar eine ftärfere Neigung
Bon Alwin Römer. 101
DD ID RD ED ED EDDIE DD De D ne Dre DD ee
zur Beobachtung feltfamer Naturerjcheinungen. Er
hing noch immer mit den Bliden an dem unbeimlichen
Gemitterhimmel, von dem fich der Sandregen wie aus
einem Trichter gejchüttet auf die Wieſe ergofjen Hatte.
Und jetzt warf er plöglich die Peitſche von fich, die er
fonft in der Hand gehalten und jchrie: „KRinnings,
lopt, wat ji lopen könnt! Da fällt de Wand dörch
de Wolfen, grad up uns tau!”
Mit Rieſenſätzen ſprang er blind über die Wieje
weg, über Heubaufen, Gräben und Strauchwerk fort,
ohne fich umzufehen, und die Mägde und Rechte
famt den Mähern taten’3 nach einem kurzen Aufblic
ihm fchreiend und freifchend nach. Nur ein paar der
Erfahreneren unter dem Schwarm blieben zurüd, traten
aber unmillfürlich näher an ihr „Frölen“ heran, ges
ſpannten Blickes das Ungetüm betrachtend, das fich mitten
durch die düſtere Wolkenwand durchgearbeitet hatte und
nun näher und näher fam.
„Dat iS ja wol ’n Luftballon,* fagte einer der
Tapferen, die bei Hilde ausgehalten hatten.
„Und was für einer,” entgegnete Hilde.
„Su kiek bloß, Kriſchan, da fin ook Minfchen in!“
rief ein zweiter.
„Nä, fo wat!”
Gleich darauf ftieß Hilde einen leifen Schrei aus,
denn der eine der Gondelinfaffen hatte ſich unvermutet
mit einem kühnen Rud über den Rand der Forbartigen
Gondel geſchwungen, hing einen Augenblid lang, die
Entfernung vom Erdboden mefjend, und fprang dann
fiher und gefchidt ab. Dabei kam er allerdings nicht
gleich auf feine Füße zu ftehen, fondern glitt in einen
der Lleinen Heubaufen, aus dem er fich jedoch fchnell
berausarbeitete und nun mit Gejten und Rufen um
Beiltand warb.
102 Mamſellchen.
—————————— —— —
Eine Minute ſpäter war das ganze Kontingent von
Jaſpershagen um ihn verſammelt, das aus einiger
Entfernung beobachtet hatte, wie der mörderifche „Mond“
Jochen Sötebiers fich als das Wunderwerk eines Luft:
ballons erwies, der auf pommerifcher Erde Gtation
machen wollte. Hurtig folgten fie den kurzen, klaren
Anmeifungen de3 Luftjchiffers, griffen nach den Schlepp-
feilen des in Ianggezogener jchräger Linie herunter:
taumelnden Fahrzeuges und zogen ſchließlich an dem
vielfältigen Strid: und Maſchenwerk das Ungetüm lang:
fam auf die gemähte Wiejenhälfteehinüber.
Während der Offizier, der aus der Gondel gefprungen
war, fi bemühte, jein Luftfchiff in tranfportfähigen
Zuftand zu bringen, wobei die Jaſpershagener fich zu-
nächft ein bißchen ungeſchickt anftellten, Troch aus dem
mächtigen Korbe noch ein zweiter Inſaſſe hervor, deſſen
bleiche Gefichtsfarbe in ein brennendes Rot umfchlug,
al3 irgend eine der drallen Dirnen, ihn beobachtend,
den anderen zurief: „Kiel doch, da wär’ jo noch ein’n
in! De hät ja woll de Tid verflapen!“
In da3 hierauf erjchallende Gelächter der Anechte
und Mägde Hang die Stimme des Dffiziers, der wohl
Führer des Ballon3 war und den anderen nur als
Baflagier mitgenommen hatte: „Na, Malwitz, find wir
nicht famos gelandet — was? Nun trinten Sie bloß
nen ordentlichen Schlud Feuerwaſſer, damit Sie Leib
und Geele wieder zufammenfriegen! Das erſte Mal
wird einem gewöhnlich 'n bißchen ſchwach. Aber mit
der Zeit legt fich daS.”
„D, mir ift ganz gut,” renommierte Malmib.
„Aber ein Kognak könnte vielleicht doch —“
„Kognak werden Sie von unferen braven Obotriten
faum erwarten dürfen, und die Slafche, die wir mit
hatten, muß un3 unterwegs jemand ausgetrunfen haben.
LEID
Bon Alwin Römer. 103
DIRDORDADADADAD KDD DD DEAD DD DI ED
Aber nen Kornſchnaps werden wir ſchon auftreiben,
dent’ ich. — He, Kinnings, bett denn kein'n von jü
'n lütten?“ rief der Offizier und machte mit der Hand
eine lippende Bewegung vor den Lippen.
Aber die SFafpershagener jchüttelten verlegen die
Köpfe und ſahen nach ihrem „Frölen”, die mit den Mäg-
den zufammen tapfer Hand angelegt hatte, um den
Ballon auf die Erde zu bringen und den beiden An
tömmlingen deshalb auch nicht weiter aufgefallen war,
obwohl fie ſtatt des KRopftuches einen breitrandigen
Strohhut aus grobem Geflecht trug.
Hilde ward ein wenig rot, als fie jet in die Rock
tafche griff und daraus Jochen Sötebiers konfiſzierte
„Zeoftbouteille” bervorholte.
„Hier,“ jagte fie, „wenn da3 genügt?”
„Ru ſüh doch, min Döchting,” lachte der Offizier
und fchaute dem hübjchen Mädchen Iuftig zwinkernd in
die blauen Augen, „drünkſt du fo wat 008?” Und nun
nahm er den Kork von der Flafche, tat einen tüchtigen
Zug und reichte fie darauf dem Kameraden. „Profit,
Malwitz!“ fagte ex, fich ein bißchen fehüttelnd. „Wenn
Ahnen der nicht ſchmeckt, haben Sie fein Herz im Leibe.
Das iſt ein Damenlikör allererfter Sorte.”
Natürlich kicherten die Jaſpershagener vergnügt, wie
fie ihr „Frölen“ jo in Berlegenheit jahen, und Hilde
wurde nicht wenig zornig. Aber ein recht Fräftiger Trumpf
zur Abwehr wollte ihr nicht gleich einfallen, obgleich fie
fonft jchlagfertig genug mar. So fehwieg fie. Es war
auch feine Zeit mehr, lange Wortgefechte zu beginnen. Ein
jäh aufleuchtender Blitz blendete ihnen allen die Augen
für einen Moment und erinnerte fie an das Wetter droben.
Und nun hörte fie im Geräufche de3 polternd einjegen-
den Donners die eben noch fo übermütige Stimme des
Luftſchiffers kurz und fcharf wieder Befehle erteilen.
104 Mamſellchen.
DDr ED FED ED ADD ADD DE Dre DDr Dre
„Als ob wir alle nur feinetwegen hier herausgefah⸗
ren wären!” dachte Hilde und mollte nach den Kut—
jehern rufen, um fie zur fehleunigen Abfahrt mit den
ganz und halb beladenen Wagen zu treiben.
Da jchallte die fonore Stimme noch einmal auf:
„Kinnings, noch eins: wo find wir hier eigentlich?“
„Dat hürt al tau Jaſpershagen,“ antwortete einer
der Knechte und bejchrieb einen Kreis mit der aus:
geſtreckten Hand.
„Weit von der Bahn?” erkundigte fich der Luft-
ſchiffer.
„Vier Stunn'.“
„Dunnerlichting! ... Ihr habt aber Doch 'nen Gaſt⸗
hof im Ort?“
„Nä.“
„Malwitz, ich glaube, wir werden dieſe Nacht in
einem Heuſtall logieren!“ rief er darauf launig ſeinem
noch immer geknickten Begleiter zu, ohne ſich jedoch
in der flinken Art ſeiner Tätigkeit zu unterbrechen.
„Sollte ſich nicht ein gaſtliches Gutshaus oder ſo
etwas finden?“ entgegnete der Angerufene kleinlaut.
„Sie ſcheinen ein großes Vertrauen in mein geliebtes
Pommern zu ſetzen!“ ſchallte es zurück. Dann flog ein
ſchneller Blick des Umſichtigen zufällig über die noch
ihrer Führer harrenden Heufuhren, und als ob er es
darauf angelegt hätte, Hilde ſpeziell zu reizen, rief er:
„Bringt mal einen der leeren Wagen hierher, und
dann ſchafft die anderen unter Dach! Oder ſoll das
alles erſt klaternaß werden? Iſt denn hier kein In⸗
ſpektor?“
Das ging ihr denn doch über den Spaß, und zornig
erwiderte fie: „Wir Bu längjt zu Haufe mit unjerem
Heu, wenn Sie nicht —
„Sp unangemeldet vom Himmel beruntergefallen
Bon Alwin Römer. 105
Dede Dre Dee Der Dre DDr S—
wären, wollen Sie ſagen?“ ergänzte er lachend, da ſie
zögernd nach Worten ſuchte. „Wie mir ſcheint, habe
- ich die Ehre, den Herrn Inſpektor, das Fräulein Guts⸗
mamfell und jo weiter in einer Berjon begrüßen zu dürfen?
ch bitte demütigft um Verzeihung wegen der eben ge:
übten, unüberlegten Kritit, denn ich möchte es um feinen
Preis der Welt mit Ihnen verderben — ſchon weil wir
heute abend auf Jaſpershagen zu Bett gehen wollen
— und nicht etwa hungrig wie unartig geweſene Kinder.
— Dürfen mir antlopfen nachher?”
Nun mußte fie doch lächeln. „Sie ſollen willlommen
fein,” jagte fie.
„Malwitz, danten Sie Ihrem Schöpfer und diefem
Engel bier: Sie kriegen ein Bett!” rief er dem Freunde
zu, um fich dann wieder an Hilde zu wenden: „Nein,
wirklich, ein richtiger Engel find Sie, Mamfellchen, mie
wir droben in den höheren Regionen feinen gefunden
haben. Hatten Sie nicht auch die Hausapothele vor-
bin bei fih? — DO, werden Gie nicht rot deswegen,
obgleich Sie das nur noch niedlicher macht. — Und
wenn Gie jet davonfahren, nehmen Sie meinen
Freund Malwig mit. Der arme Kerl darf mir nicht
krank werden. ... Bielen Dank fchon im voraus —
und auf Wiederjehen nachher!”
Das lebte fagte er fchon, als jeine Füße in einen
tleinen Trab verfallen waren, weil er gejehen hatte,
wie man mit dem Netzwerk in Verwirrung geriet.
Eine Minute ſpäter Inallten die Peitſchen und ächzten
die Räder. Es bedurfte weder des ermunternden Zus
rufs Jochen Sötebiers noch feiner Fuhrgenoffen, denn
von den fchnell aufeinander folgenden Bligen zur Eile
angefpornt, jagten die Pferde mit ihren Laften den
holprigen Weg auf Jaſpershagen zu, in der Hälfte
der fonft dafür benötigten Zeit. Noch ehe die ver-
106 Mamſellchen.
DD DIDI AD AD ADDED ED ⏑ ⏑ ⏑⏑⏑ ⏑⏑ ED ARD ED
einzelt berniederllatjchenden großen Tropfen fich in
prafjelnden „Strippenregen” germandelt hatten, waren
die Heufuhren glücdlic) unter den Schußdächern des
Gutshofes geborgen.
Egon v. Malwitz lag bald danad) in einem ſchönen,
weichen Bett auf Jaſpershagen und fühlte fi) darin
offenbar molliger al3 in der „Luftlutjche” feines Freun—⸗
des Wimbach, die er aus purem Übermut, mit einem
Schuß Langeweile vermifcht, auf dem Tempelhofer
Felde bei der Neich3hauptftadt am Vormittag bejtiegen
hatte.
Hilde v. Neidersberg ftand am Fenfter und ſah
finnend in das endlofe Geriefel hinaus. Der pflicht-
eifrige Hauptmann jamt den Leuten, die ihm helfen
mußten, Seiner Majeftät Luftballon „LXibelle” zu bergen,
wurden draußen auf der Wiefe ſicher pudelnaß.
Hilde mußte nicht recht, ob e5 Bedauern oder Schaden:
freude war, was ihr Herz bei diefem Gedanken ein Klein
wenig fchneller klopfen machte.
2
Das Gewitter hatte jich verzogen, fchneller noch, als
es gelommen war. Hauptmann Wimbachs Ballon ftand
längft im Schuppen von Jaſpershagen verpact, als
die erjten Schatten der Dämmerung ihr Goldneb über
die Fluren ſenkten, die nach dem erfrifchenden Regen
beinahe etwas Frühlingshaftes befommen hatten.
Nach einem Kleinen Imbiß, den ihm Hilde durch
eine der Mägde gejandt, hatte er fi) umgezogen und
war dann befchäftigt geweſen, feinen Bericht zu ver-
fafjen, den er mit einem Telegramm zufammen nad)
dem nächjten Boftamt fchaffen laffen wollte.
„Haben Sie einen Boten, Mamfelldjen?” fragte er
Hilde, die ihm auf der mächtigen Diele des einfach
Bon Alwin Römer. 107
gebauten Gutshaufes in den Weg lief. „Aber er muß
zuverläffig fein.“
Cie verfprach ihm, einen Ausbund von Gemiffen-
baftigleit zu fenden, und bat ihn zugleich, bei feinem
Freunde anzufragen, ob er zur Abendmahlzeit herunter:
tommen wolle.
Eine Biertelftunde fpäter ritt Klaus Wittenfand,
der bei den Ulanen in Demmin geftanden hatte, mit
den Poftjachen des Hauptmann in den leife hernieder:
fintenden duftllaren Abend hinaus, während aus den
Fenſtern des großen, felten benußten Eßzimmers im Erdge-
ſchoß des Gutshaufes fchon das Licht der Lampen blinlte.
Malwitz Hatte fich nach langem, vergeblichem Bu:
reden des Hauptmanns ermuntert und war wieder auf-
gejtanden, wiewohl er diefe Nötigung für eine geradezu
graufame Maßregel erklärte, da man bei Abmefenheit
jedes berrjchaftlichen Familiengliedes Feine Rüdfichten
zu nehmen brauche, er aljo ebenjogut im Bette hätte
jpeifen können. Aber Wimbach Hatte jchließlich mit
dem Hinweis auf die außergewöhnlich nette und hübfche
Gutsmamfell den Sieg dDavongetragen.
Nun faßen die beiden fich in dem altmodifch aus⸗
geftatteten, mäßig beleuchteten Riefenzimmer gegenüber,
lauter gute Dinge vor ſich, wie der ländliche Tijch fie
auch bei Überrumpelungen zu bieten im jtande ift, und
dennoch hatte bisher Feiner von ihnen fein Geded an-
gerührt. Sie warteten nämlich auf „Mamſellchen“, für
das fie aus eigener Machtvolllommenheit ein drittes
Geder Hatten auflegen laffen.
Aber „Mamfellchen” wollte fich nicht bliden lafjen,
troßdem fie fchon zmweimal nach ihr gefchidt Hatten,
und Malwitz, der Leutnant von den Gardedragonern in
feinem jchie® fißenden Jagdkoſtüm, Inurrte unmillig:
„Da haben Sie's, Wimbach! Ich bin wirklich wieder
108 Mamſellchen.
DDr De DDr Der D rer ee Dre Dez DrEDr Dee DD
der Dumme! Aber warum bin ich nicht Tonfequent
geweſen und liegen geblieben! So ’ne Eleine pommerjche
Gans hat ja doch feine Ahnung!”
„Sagen Sie das nicht, lieber Malwitz!“ meinte
lächelnd Wimbach, der jchon feit fünf Minuten immer
heißer mit einem köftlich duftenden gebratenen Hähnchen
liebäugelte. „Das Mädel ift nicht halb jo dumm, wie
Sie fih einbilden. Steht hier dem ganzen Kram vor,
feitdem der Inspektor durchgebrannt iſt. Mitten in
der Ernte! Ach nein, allen Reſpekt! Sie führt für
ihr Alter ein bervundernsmwertes Regiment.”
„Meinetwegen,“ brummte Malwitz und ftocherte
rücfichtslo8 an einer Platte mit allerhand Schinfen-,
Wurſt- und Oänfebruftfchnitten herum. „Aber da e3
mein Regiment nicht ift, da3 fie führt, jo —“
„Stil! Das wird fie fein!” flüfterte der Haupt:
mann und jah gejpannt nach der Tür. Nichtig, da
trat die Erwartete über die Schwelle. Sie hatte offen-
bar Zoilette gemacht, aber fich nicht etwa in ftädtijche
Kleidung geftedt. Ein dunkler Rod mit dem lande3-
üblichen Faltenreichtum ſchloß dicht über den Knöcheln
ab, und ein heller Schimmer zwiſchen dem fi) leife
wiegenden Saum und den koketten Halbſchuhen ver-
riet, daß die Füßchen in leuchtend weiße Strümpfe ges
ſchlüpft waren. Aus dem ftraff figenden Mieder Träu-
felte jich bi8 Dicht an den Hals ein ſchneeweißes, jauber
gebügeltes Hemd, das auch die Arme baufchig um:
tleidete. So oder ähnlich mochten die jungen Mädchen
der Umgegend wohl Sonntags zur Kirche wandern.
Aber ob e3 ihnen allen jo entzüdend zu Gefichte ftand
wie dem Mamfellchen, war entjchieden fraglih. Denn
fie ſah bezaubernd darin aus mit ihren frifchen Farben,
die mit den rotbädigen Äpfeln auf dem Geſims ringsum
wie um die Wette leuchteten.
Bon Alwin Römer. 109
DeEDrEDrED REDE D re Dee Dre Dee De Dee Dre De Der Dre De dr
„Das ift recht, meine liebe Landsmännin, daß Gie
fo Tommen,” fagte fröhlich der Hauptmann, der ein
Sohn der Kolberger Gegend war. „Nun wird es und
noch einmal jo gut ſchmecken.“
SZuvorlommend rüdte er ihr den Stuhl zurecht.
„sh glaube, Sie haben meinetwegen gemartet,”
bemerkte fie nach einem Blick über die Tafel und nahm
Plat. „Das ift aber gar nicht in der Ordnung.”
„sh bin fogar Sghretwegen nur noch einmal zum
Vorſchein gekommen heute,” erklärte in feiner Teden
Manier Malwitz, der von fo viel ländlicher Anmut
ganz bezaubert war.
„O wirklich, Herr Leutnant?” fragte fie, offenbar
freudig erftaunt über jo viel Artigleit. „Das ift aber
viel zu viel Ehre für mid. Wenn’s noch um unfere
Leutemamfell geweſen wäre! Pie könnte fchon eher
Anspruch darauf machen.“
„Weshalb denn?“
„Weil fie älter ift als ich.“ |
„Wie alt ift fie denn?” erkundigte ſich Wimbad)
lächelnd.
„sh glaube achtundvierzig,” gab fie nachdenklich.
treuherzig Auskunft und zudte nicht einmal mit der
Wimper dabei.
Der Leutnant gab einen Ton von fich mie eine
befonder8 gelungene Rakete, wenn fie auffteigt, und
fing dann unbändig an zu lachen.
„Aber was haben Sie denn?“ fragte fie fopffchüttelnd.
„Habe ich eine Dummheit gejagt?”
„Sie find entzüdend, Mamſellchen,“ rief er endlich.
„So eine alte, langmeilige Leutemamfell fol mich ver-
anlaſſen —“ Und er ließ die zweite Rakete fteigen,
um einen zweiten Lachanfall einzuleiten.
„O, Mamſell Rungen ift ſehr unterhaltfam,” ex:
110 Mamſellchen.
EDDIE DD ED ED DD De Dede Dre
klärte fie beinahe gefräntt. „Soll ich fie hereinbitten?
Gie glaubt zwar, fie paffe nicht recht zu Jhnen, aber —“
„Liebes Mamfellcden, man fol niemand in feinem
Glauben ſtören!“ unterbrach fie Malwitz abwehrend.
„Wenn Sie fchon jemand nötigen mollen, jo nötigen
Gie lieber uns beide bier zum Zugreifen.“
„sa, aber bitte, geniexren Gie ſich doch nicht,” ent-
gegnete fie und präfentierte die Schüfjel mit den Hühnern.
„Es iſt Doch alles da —“
„Und nicht etwa wie bei armen Leuten,” fetundierte
Malwitz.
Darauf gab ſich das Kleeblatt eine ganze Weile
den Genüſſen der Abendtafel hin, bis Wimbach fragte:
„Wie kommen Sie eigentlich in dieſen abgelegenen
Hansjochenwinkel, Mamſellchen? Sie ſprechen ja ein
unverfälſchtes Pommerſch, aber Ihre Wiege hat ſicher⸗
lich nicht in Jaſpershagen geſtanden.“
„Wie man jo herkommt,“ wich fie ihm unmerklich
aus. „Sie baben’3 heute früh ja auch noch nicht ge-
mußt, wie Sie von dem jchönen Berlin fortflogen, daß
Gie ſich heute abend in Jaſpershagen mit einem armen
pommerfchen Mamfellchen langweilen würden.”
„Aber wie können Sie fo etmas jagen! Es iſt ein-
fach himmliſch in diefem famofen pommerfchen Winkel.
Nee, nee, in allem Ernſt!“ entrüjtete ſich Malwig und
goB von. dem Wein, der auf der Tafel jtand, die
Gläfer voll. „Bah, Berlin — was ijt Berlin? Syafpers-
hagen foll leben! Brofit, Wimbach!“
„Profit!“ fagte der Hauptmann und nidte fröhlich
zu dem Mamſellchen hinüber. Da griff fie zögernd
nad) dem für fie beftimmten Glaje, führte es lächelnd
an die kirſchroten, fanft geſchwungenen Lippen und
nippte vorfichtig daran.
„Ad, bloß nicht zieren!” tadelte Malwitz, der fie
Bon Alwin Römer. 111
beobachtet hatte. „Ihr Damenlikör von Heute nach:
mittag war doch eine ganz andere Nummer.”
„Ach Gott, Herr Leutnant —“ fagte fie vorwurfs⸗
vol.
„Haben Sie fich nicht, Tleine Heuchlerin! Es iſt
ja nicht3 dabei. Oder denten Gie vielleicht, unjere
Gtadtdamen nehmen nicht auch mal fo 'ne Pleine Herz.
ftärlung? . Ach, da könnten Sie was erleben, ſag' ich
Ihnen!“
„Bitte, erzählen Sie doch ein bißchen davon. Was
für Damen find denn das?“ fragte Mamſellchen neu-
gierig.
„Ra natürlich — das möchten Sie wiſſen!“ achte
er vergnügt. „Aber das ift nichts für Kinder, mein
liebes Fräulein. Denn Berlin ift ein Sündenpfuhl, ein
gräßlicher Sündenpfuhl, von dem ein braves pommer-
[ches Mädchen am beiten gar nicht8 zu hören befommt.”
„Pommerſches Gänschen, denten Sie inmwendig.“
„D ... Mamfellhen, wie Tönnte ich...” beteuerte ex.
„Ra, na! Oder ift es wirklich fo furchtbar, was
Eie in dem fehlimmen Berlin ſchon alles erlebt haben?“
„Beobachtet haben, meinen Sie!” verfchanzte der
Leutnant fich vorfichtig.
„Ach fo, nur beobachtet?” fagte fie, und aus ihrer
Stimme klang eine deutliche Enttäufchung, die ihm eine
heimliche Freude bereitete.
„Sind fie nicht in der ganzen Welt egal, dieſe
nafchigen Dinger?” dachte ex ſchmunzelnd und ſah feine
Zeporellolifte jchon um eine neue reizvolle Eroberung
vermehrt. „Je mehr man auf dem Kerbholz bat, je
verrüdter find jie hinter einem her.”
Zaut aber jagte er auf ihre Frage: „Manches iſt
natürlich auch dabei erlebt; denn zum Gäulenbeiligen
hab’ ich vorläufig die Qualifitation noch nicht.”
112 Mamſellchen.
⏑ ⏑ ⏑ ⏑ ⏑ ⏑ ne De Dre Dre DDr Dr eD
Und dabei ſandte er ihr einen übermütigen Blick,
der nur dürftig verhehlte, wie er ſich ſeiner ſieghaften
Unwiderſtehlichkeit in dieſer Minute voll bewußt war.
„Ja, ſo ein Leutnant hat's doch zu gut!“ ſeufzte ſie
darauf herzbrechend.
Er lachte laut auf, ſo köſtlich berührte ihn dieſer
naive Neid. „Möchten Sie nicht gar mit mir tauſchen?“
erkundigte er ſich und zwirbelte ſelbſtgefällig an ſeinen
Habyſpitzen herum, die nicht gerade üppig geraten
waren.
„Sofort,” erklärte fie.
„Ra natürlich, Sie Kleine Unfchuld! Aber ich nicht
mit Ihnen, fo niedlich Sie auch find. Vielleicht auch
gerade deswegen. Ah ...!“
„Schmeicheln müfjen Sie nicht, Herr Leutnant!
Ihre Berliner Damen find ja doch alle viel hübfcher!*
mwehrte fie fich kokett, was ihn zu einer neuen kleinen
Attacke reizte.
„Bardon, Mamſellchen,“ erklärte er mit einem feuer-
gefährlichen Blicke, „das ift noch fehr die Frage. Mit
Ihren frifchen Farben und Ihrer famofen Figur würden
Sie an der Spree überall Furore machen. Ach, ich
wollte, ich Lönnte in Halenjee mal jo mit Ihnen da-
hinſchweben!“ Und mit etwas frähender Stimme begann
er zu fingen: „Schlöjjer, die im Monde liegen .. .”
„sn Halenjee?” fragte fie eritaunt. „Wo ift denn
Das?"
„Ah — das ift eine hochfeine Gegend in Berlin! ...
Nicht weit von Charlottenburg, ja! Da halten wir
manchmal unjere Bälle ab,” gab er Auskunft.
„Die Kaſinobälle?“ fragte fie treuherzig.
„Na natürlich, die Kafinobälle!” rief er lachend.
„Was denn fonjt?” Und dabei blinzelte er Wimbach
amüſiert zu.
Bon Alwin Römer. 113
Dnre DDr Dre Dre DDr De Dede Dede
„Aber davon müſſen Sie mir ganz entfchieden was
erzählen,” bat fie.
„Nee, nee, nich zu machen,” wehrte ex fich und
nahm eine ernjtbafte Miene an. „Das find Dienſt⸗
geheimnifje, was, Wimbach ?”
Wimbach nidte beftätigend. „Minnedienftgeheim>
niſſe,“ jagte er troden und vertiefte fich dann in die
Prüfung der aufgefahrenen Wurftforten.
„Und davon plaudern auch Sie nichts aus, Herr
Hauptmann?” fragte fie fchalkhaft.
„Der Mann redet überhaupt nicht, wenn er fo
ernſthaft bejchäftigt ift wie jetzt,“ fpöttelte Malwitz.
„Ich finde auch, daß Sie recht einfilbig find, Herr
Hauptmann. Gie follten mir wirklich ein bißchen von
Berlin erzählen. Ihr Freund bringt ja doch nicht
Gejcheites an den Tag,“ ermunterte fie.
„Mein liebes Fräulein,” jagte er darauf, „wein
unjer guter Malwitz das Wort hat, fommt ein anderer
nicht auf. Ich kenne auch Berlin nicht halb fo gut
wie er. Zumal von den Rafinobällen habe ich mich
ganz zurüdgezogen.”
„Er iſt nämlid ein Kleiner Philifter, der arme
Hauptmann,” unterbrach ihn Malwi lachend. „Aber
Cie haben ja noch immer nichts getrunfen, Mamfell:
chen? Nicht3 da — gemogelt wird nicht! Trinken
Sie mal au3 damit ich wieder einſchenken kann.“
„Ach nein, Herr Leutnant,” erklärte fie haftig und
hielt beide Hände über ihr Glas, „ich danfe wirklich
jehr, ich möchte lieber nichts mehr trinken. Ich glaube,
es befommt mir nicht.”
„Unſinn!“ polterte ev heraus. „Reden Sie mal
ein Machtwort als Alterspräfes, Wimbach! Gie glaubt,
es befommt ihr nicht. Hahahaha!“
Der Hauptmann warf erjt einen Blid auf das
1904. XIII. + 8
114 Mamſellchen.
⏑ ⏑ ⏑ ⏑ —⏑ Dre Dede De Dede
junge Mädchen, aus deſſen Händen er Nachmittags eine
halbgefüllte Branntweinflaſche in Empfang genommen
hatte, dann zuckte er die Achſeln und ſagte lächelnd:
„Haben Sie nicht ſelbſt vorhin den Grundſatz auf-
geſtellt, daß man niemand in ſeinem Glauben ſtören
ſolle?“
„Ach, das war doch etwas ganz anderes,“ rief Mal-
wit verdrießlich. „Aber ich merke fchon, daß ich mich
forrigieren muß in Beziehung auf Bhiliftertum: Gie
find nicht ein Lleiner, wie ich vorhin gutmütig, wie ich
nun mal bin, gejagt habe, Sie All ein ausgewachſener,
ein linker Flügelmann, ein —
„And alles bloß, weil ich Mamſellchen jo hübſcher
finde?” entgegnete der Hauptmann beluftigt. „Belter
Malwitz, ich liebe nun mal die Weiblichkeit, wenn fie
fich hold zeigt, mehr als vom Becher exaltiert. Bacchan-
tinnen find mir ein Greuel.“
Hilde war ein bißchen rot geworden bei diefer
Äußerung Wimbachs. Klang es nicht, als ob er fürchtete,
fie könne fich wirklich einen Raufch antrinken, wenn jie
dem Leutnant Befcheid täte? Einen Augenblid lang
zudte e3 ihr in den Fingerfpißen, nun erſt recht nach
dem Glaſe zu greifen und den Zutrunk des guten
ungen mit dem offenen, Iuftigen Wefen zu ermidern.
Aber dann fühlte fie, ohne hinzuſehen, wie die Augen
des ernjteren Mannes erwartungspoll auf ihr rubten.
Und diefe Augen hatten eine eigentümliche Kraft, der
fie fich vergeblich zu erwehren fuchte. Die troßige An-
mwandlung verflüchtigte fich unter diefem Blid, und fie
erklärte, fich zu Malwitz wendend: „Alfo es bleibt da-
bei: genötigt wird nicht!”
„Ratürlich, da Sie Beiltand gefunden haben, müffen
Sie fi) noch mehr zieren. Aber es ift ein Unfinn,“
redete fich der Leutnant in Eifer, „denn wer bei Tage
Bon Alwin Römer. 115
EDEDFEDLEEDE ED ED ED Fr ED ED ED ED EDDIE De D&D
einen fräftigen Korn nicht verjchmäht, der kann auch
Abends —“
„Fangen Gie fchon wieder von der dummen Flafche
an?“ unterbrady fie ihn, zornig werdend. „Die gehörte
ja gar nicht mir.”
„Ra natürlich!” Iachte er fpöttifh. „War nur aus
Verjehen in Ihre Tafche geraten! Na, Mamſellchen,
Schwamm drüber! Aber nun ftoßen Sie endlich hübſch
mit mir an; denn fo jung fommen mir auf feinen Fall
wieder zuſammen.“
„Wenn Sie mich fo abfertigen, erſt recht nicht,” er-
Härte fie entrüftet. „Eſſen Sie lieber einen Apfel, der
jtillt den Durft auch, aber fteigt nicht in den Kopf.”
„Na, fo was!” vief er ärgerlich lachend und leerte
dann übermütig fein Glas.
Wimbach nidte ihr Lächelnd zu und fagte: „Sie
haben da wundervolle Äpfel auf dem Wandſims jtehen.
Da3 ganze Zimmer duftete danach, al3 wir eintraten.”
„Sommermaränen!” bejtätigte fie ftolz. „Die jchönften
fuche ich immer heraus al3 Zimmerfchmud. Urväter⸗
fitte im Pommern. Aber das willen Sie gewiß felbit.”
Er bejtätigte es ihr, worauf fie fich erhob und eine
der rot leuchtenden Früchte vom Breit nahm. „Wer
bat Appetit von den Herren?“ fragte fie und ließ ihre
heiteren blauen Augen von einem zum anderen geben.
„Es ilt der fehönfte, den wir in diefem Jahre gepflüct
haben.”
„Na, da geben Sie ihn mir als VBerföhnungszeichen
und erſte Gunftbezeigung, Sräulein Paris!“ rief der
Leutnant launig.
Wimbach wollte fich bei diefem Wettbewerb nicht
ausfchließen. „Wenn Sie ihn aljo opfern wollen, fo —“
„Wieſo Fräulein Paris?” fragte fie jedoch zunächſt.
„Was Toll das heißen?”
116 Mamſellchen.
„Ja ſo,“ bemerkte Malwitz darauf, „Monſieur Paris
kennen Sie hier nicht? Iſt am Ende auch nicht zu
verlangen in Hinterpommern. Oder iſt das noch Vor⸗
pommern bier? — Na, alſo dieſer Glüdspilz kriegte
eines Tages mal Beſuch von drei wundervollen Frauen-
zimmern, die nebenbei auch noch Göttinnen waren, mas
bei wirklichen Schönheiten ja eigentlich felbftverjtänd:
lich ift. Die hatten nun einen beinahe ebenfo großen
Apfel wie diefen, um den fie fich in den Haaren lagen,
meil er für die Schönfte von ihnen beftimmt war. Der
liebe Paris aber follte nun entjcheiden, wer von ihnen
den größten Anjpruch darauf hätte.”
„Und wie entfchied er?” fragte fie, al3 er inne-
hielt.
„Natürlich ſah er fich die drei erſt hölliſch gemifjen-
haft an; dabei ließ fich jedoch der Schlauberger auch
noch von jeder etwas verfprechen, damit er ihn an die
Meiftbietende losſchlagen konnte. — Gerieben nicht?
— Die eine nun wollte ihm die Weisheit mit Löffeln
beibringen; von der anderen jollte er Serbien, Buls-
garien und die angrenzenden Raketenkiſten geſchenkt be-
fommen; die dritte endlich verjprach ihm eine gewiſſe
Frau Helena, geborene Leda, die aber fehon mit einem
Herrn Menelaus verheiratet war, zum Weibe. Das
war nämlich ein richtiger Ausbund von Schönbeit,
wenn auch nicht gerade von Tugend, was ja —
Gottes öfter vorkommen ſoll —“
„Na — und?“
„Er fiel auf Numero drei herein, der arme Kerl.“
„And Sie denken nun, wenn ich dieſen Apfel ver:
geben joll, muß ich gleichfalls jo unbefonnen handeln
wie diefer Paris?"
Malwig zudte die Achſeln. „Wenn ich ihn Triege,
dürfen Sie mir noch viel fehlimmere Sachen fagen,“
Bon Alwin Römer. 117
EDDIE ID LED re De Dee De Dr Dre Dre D rk DDr ddr —
bemerkte er dazu mit feiner liebensmwürdigen Unvers
frorenbeit.
„Eingebildet find Sie wirklich nicht, Malwitz!“ Tachte
etwas unjicher der Hauptmann.
„Ja aljo, was wird?” ermunterte fie Malmis.
„Darf ich es nicht wie Paris machen und mir erft
etwas verjprechen laſſen?“ fragte fie fehalkhaft.
„Sehr vernünftig gedacht! Alſo, was foll ich auf:
marfchieren lafjen, Mamſellchen?“ entgegnete der Tauge—
nichts. „Wollen Sie einen Stern vom Himmel her-
untergeholt haben? Oder möchten Sie lieber — eine
feine Billa im Berliner Tiergartenviertel?”
„Das exrjtere wird Ihnen wohl faum gelingen, wenn
Sie fich heute nachmittag auch als kühner Luftfchiffer
produziert haben, und Numero zwei heben Sie nur
lieber für Ihre Tünftige Frau Gemahlin als Morgen:
gabe auf. — Haben Sie etwas Reelleres, Herr Haupt:
mann?”
„sch gebe Ihnen die Bälfte ab, wenn Sie ihn mir
ſchenken,“ fcherzte diefer.
„Das ließe fich ſchon eher hören,” jagte fie finnend.
„Und ich mache Ihnen eine Liebeserklärung mit
allen Schitanen,” trumpfte übermütig Malwitz.
„Wollen Sie die. nicht lieber zu der Tleinen Villa
im Berliner Tiergartenviertel legen?” bemerkte fie
ironisch.
„D bitte, mein Herz bat vier Piecen. Für folch
kleines Mamjellchen ift da immer noch Platz,“ Iachte er
keck. „Alſo Eriege ich den Apfel — he?’
Sie war heftig errötet über feine letzte Antwort;
aber ftatt ihn zu rügen, horchte fie jet angefpannt in
die Nacht hinaus. Durch das offene Fenſter, das die
funtelnden Sterne am Haren Septemberhimmel fichtbar
werden ließ, wurde Huffchlag hörbar.
118 Mamſellchen.
rDrzDreDr Dre Dre
„Das ift Klaus Wittenfand, der von der Poſt zurüd-
kommt,“ fagte fie und eilte hinaus, dem Reiter ent-
gegen.
„Ra, Klaus,“ hörten die beiden fie Draußen rufen,
„tümmt de Herr nich?“
„Nä,“ antwortete Klaus, „bei kann nich. mer
bier is ’n Brief für Sei, Frölen.“
Das weitere verflang, weil der Knecht inzwifchen
abgejtiegen fein mochte und fein Pferd über den Hof
führte.
Endlich erſchien fie wieder, aber nicht mehr in der
freien, leichtbeweglichen Art, die fie fo entzüdend ges
fleidet. Ein Hauch von plößlicher Bellemmung jchien
ihr angeflogen zu fein. Sie zögerte leicht, ehe fie
das erite Wort ſprach, und man hörte ihr an, wie ihre
Stimme leife zitterte.
„Sie müſſen fchon entfcyuldigen, meine Herren, daß
ich Sie warten ließ. Ich hatte eine Überrafchung für
Sie. Klaus Wittenfand hatte Nachricht mit nach Wilden-
borft genommen zu Herrn v. Reidersberg, dem auch
Jaſpershagen gehört —“
„Herrn v. Reidersberg?“ fragte elektriſiert Malwitz.
„Das iſt doch die Möglichkeit!“
„Ich hatte geglaubt, er würde herüberkommen und
Sie begrüßen. Er kann aber nicht abkommen, wie er
ſchreibt. Sie möchten ihm die Ehre geben und ihn in
Wildenhorſt aufſuchen. Leider hat der Bote ihm nicht
mitgeteilt, daß er auch noch nach Zagenthin zur Poſt
mußte, und bringt nun dieſen Brief zu einer Zeit, wo
Sie kaum noch Neigung haben werden —“
„Reidersberg? ... Wildenhorſt? Und dieſe Klitſche
hier gehört ihm auch?“ rief Malwitz, der vor Neugier
zu vergehen ſchien. „Aber, Mamſellchen, warum haben
Sie denn das nicht früher verraten? Selbſtverſtändlich
DrEDrDr Dee DreeD
Bon Alwin Römer. 119
DDr DE Dr DDr ED ED AD ED DE Dre De eD
wären wir binübergezodelt. Sagen Sie jelbft, Wim-
bach, ilt das nicht ſchnurrig? Bei dieſem felben Reiders-
berg war ich vor vier Wochen zur Hühnerjagd ein-
geladen. Konnte leider nur feinen Urlaub Triegen.
ch Hätte wahrhaftig nicht übel Luft, noch den Verſuch
zu machen und —”
„Es iſt zehn Uhr, lieber Freund. Man wird Gie
faum noch erwarten.”
„Sol ich anjpannen laſſen?“ fragte Hilde.
„Auf keinen Fal! Morgen ift auch noch ein Tag,
und mer weiß, ob's drüben fo behaglich gemejen wäre
wie hier bei Ihnen, Mamſellchen. Jetzt erhebe ich das
Glas und bitte um Befcheid: Haben Gie aufrichtigen
Dank für die prächtige Aufnahme, die Sie ung gewährt
haben. Auf Ihr Wohl!“
Sie wurde rot, griff aber nach ihrem Weintelch und
ließ ihn gegen den feinen anklingen.
Malwitz kaute an feinem Schnurrbart, der in der
Aufregung ganz die Faſſon verloren hatte, ließ fich faum
herbei, bei dem Klingklang mitzutun und fragte endlich
nerods: „Hat Herr v. Neidersberg nicht eine Tochter
jo um die Zwanzig herum?”
Sie jah ihn prüfend an, ehe fie antwortete: „Aller:
dings, Herr Leutnant.”
„Ab, das ift des Pudels Kern?” achte Wimbad)
und ließ einen leifen Pfiff durch die Zähne ftrömen.
„Stattliche Erſcheinung — nicht?”
Hilde zucdte die Achjeln. „ES geht,” fagte fie, nicht
gerade wohlmollend.
„Aber ſonſt doch ſehr hübſch?“
Hilde zuckte die Achſeln noch Träftiger. „Das iſt
Geſchmackſache,“ erklärte fie dann. „Ich finde fie nicht
gerade hervorragend.”
„Läßt darauf fchließen, daß fie fogar fehr hübſch
120 Mamſellchen.
E⏑ ED Dre D re De Dre DDr Dre YdeeD
ift. Sie find eben ein bißchen neidisch, Mamfellchen!
— Uber nun fagen Sie mir noch eins, wenn Sie Be:
fcheid willen: ift fte fchon irgendwie mit jemand —
vielleicht heimlich oder jo ...?“
„Soviel ich weiß, nein.“
„Da3 ift mir die Hauptfache,“ erklärte Malmib.
„Und zu Haufe ift fie doch auch?“
„Heute abend werden Sie fie ficher nicht mehr zu
fehen bekommen drüben,” bejchied ihn Hilde, „aber
morgen ganz gewiß.”
„Meinen Sie? Hm...” murmelte er nachdenklich
und wandte fich dann in franzöfifcher Sprache an Wim-
bach: „Dieje Leine Baroneffe ift eine famoje Partie.”
„Hab' ich mir gleich gedacht,” entgegnete Wimbach
troden.
„Sie bat ungeheuer viel Moos.“
„Alſo auf zum Angriff!” meinte der Hauptmann
ironisch. |
„Sie haben gut lachen.”
„Uber ich lache ja gar nicht.”
„Ra, ich Tenne Sie, Liebiter, Sie haben da einen
Zug um den Mund —“
„Das bilden Sie fi nur ein, Malwitz.“
„Dann kommen Sie morgen aljo mit?“
„Das wird nicht gut gehen. Ich muß nach Berlin
zurüd, werde aber von dort aus an Ihren Jagdfreund
fchreiben. Meinetwegen brauchen Sie fich nicht etwa
zu genieren. Pie paar Stunden fahre ich jchon allein.“
„Sanz allein in dem mwadligen Luftballon?” fragte
erfchroden Hilde.
„Würde Sie das jehr ängftigen?” entgegnete er und
jtreifte ihr ©eftcht mit einem forſchenden Blid.
„sh denke es mir fchredlich, fo allein über die
Melt dahinzufliegen,“ erklärte fie.
Bon Alwin Römer. ’ 121
DL DrE DD ED TED DD AED De De De neDreD re Dre D ne
„Iſt aber nicht fo ſchlimm, Mamfellchen,” bemerkte
ex freundlich. „Immerhin Tonnen Sie fich beruhigen:
die Rückreiſe mache ich mit der Eifenbahn.”
„Dann müſſen Sie ja aber über Wildenhorft, und
dann wuerDen Sie auch Raft machen müſſen dort. Das
wird Ba —‘
Sie ftocte einen Augenblid. Beinahe hatte fie nd
verplappert.
„Was wird?” fragte er verwundert.
„Das wird partout nicht zu umgehen fein,“ zog fie
fich gewandt aus der Schlinge.
„sch wollte über Gülkow fahren,” jagte er. „Iſt
das nicht näher?”
„Keine Viertelſtunde,“ gab fie lebhaft zur Antwort.
„Aber ein abjcheulicher Feldweg, während Sie über
Wildenhorft Chauſſee haben.”
„Das ließe fich aljo überlegen,” fagte er nach:
denklich.
„Na, natürlich kommen Sie mit,“ rief Malwitz.
„Stoßen wir darauf an, Wimbach! Sie auch, Mam⸗
ſellchen!“
Und mit forcierter Luſtigkeit goß er die halbleeren
Gläfer wieder voll.
Aber Hilde hatte nicht die Abficht, den unter ganz
anderen VBorausfegungen begonnenen Abend weiter aus—
audehnen. „Ich muß den Herren jest „Gute Nacht“
mwünfchen,“ erklärte fie. „Die Pflicht ruft zu einer
legten Kontrolle — und dann iſt auch der Sandmann
fhon bei mir gemefen. Ich Ichide Ihnen den alten
Ehriftian, der Ihnen nachher hinaufleuchten Tann.
Schlafen Sie gut auf Jaſpershagen.“
„Wollen Sie uns wirklich wie die armen Waiſen⸗
finder bier figen laflen?” fragte der Leutnant. „Sie
haben ja doch auch den Apfel noch zu vergeben.”
122 Mamſellchen.
—⏑ ED De Dee —— ed
Aber fie hatte die Hand fchon auf den Türgriff
gelegt. „Morgen!” jagte fie lachend.
„Das halt’ ich nicht aus, Mamfellchen.”
„Wirklich nicht, Herr v. Malwitz?“ Uang es mit
leifjem Spott zu ihm berüber. |
„sh glaube, Sie kriegten e3 fertig, mich durchfallen
zu lafjen,“ ſagte er, aber in feinem Ton lag troßdem
nicht der Anflug des geringften Zweifels über feinen
Sieg. |
Und zwiſchen Tür und Angel jchon antwortete fie
ſchalkhaft: „Wenn Sie es glauben! ... Man foll ja
wohl niemand in feinem Glauben ftören. ... Gute
Nacht!”
Dann fchlug fie die Tür hinter fich zu.
„Ein fideler Käfer! Was, Wimbach?” meinte der
Leutnant und warf ihr eine Kußhand nad. „Aber
ich wollte doch, wir wären nad) Wildenhorft gefahren
heute. Na, peten wird fie wohl nicht gleich. Und
Schließlich: gefährlich war die Gejchichte doch auch Taum
bier. Nicht mal ’nen Ruß gekriegt hat man von dem
NRaderchen. Aber daran waren Gie fehuld, lieber
Freund. Wir wären viel vergnügter geworden, wenn
Sie nicht To ſtockſteif dageſeſſen hätten.”
„Ra — na!” fagte nachdenklih Wimbach.
Da erſchien der alte Chriftian auf der Bildfläche,
der fie nach oben geleiten follte.
3.
Am anderen Morgen, als Malwitz die Augen auf:
fchlug, lagen die Sonnenftrahlen nicht allzu jchräg mehr
im Bimmer. Er fonftatierte an feinem Chronometer,
daß es neun Uhr fei, reckte fich noch einmal herzhaft
und jprang dann aus dem aroßen Bett, um eine recht
forgfältige Zoilette vorzunehmen, denn daß er heute
Bon Alwin Römer. 123
öESS⏑⏑ ⏑ ⏑ — UV —
in Wildenhorſt möglicherweiſe eine ernſthafte Eroberung
machen wollte, hatte er nicht vergeſſen. Als er an
eines der Fenſter trat, die mit altmodiſchen Mullgar⸗
dinen nur notdürftig verhängt waren, wohl weil die ſeit
Jahren nicht gebrauchten Zugrouleaus geſtern nicht mehr
funktioniert hatten, erblickte er unten den Hauptmann
ſchon in voller Tätigkeit. Er hatte offenbar an ſeiner
„Libelle“ die Spuren der geſtrigen feuchten Landung
nach Möglichkeit entfernen laſſen und ließ die ver—
ſchiedenen Teile nun zum Tranſport auf Leiterwagen
packen. Da man augenſcheinlich noch eine ganze Weile
mit dieſer Arbeit zu tun hatte, fo konnte ſich Malwitz
zur Inſtandſetzung feines äußeren Menfchen genügend
Zeit nehmen, wa3 ihm jehr angenehm war, da er fehr
wohl mußte, wie viel junge Damen auf den erjten
Eindrud geben.
Aber ſchließlich, als auch feine Schnurrbartipigen
in ftrengfter Symmetrie wie ein paar dünne Gicheln
drohend feine leichtgebogene ftolze Erbnaje flankierten,
und er vom Spiegel jein Abgangszeugnis empfangen
hatte, ftieg er binab, frühftüdte haſtig, fragte nach
„Mamſellchen“, die fich jedoch nicht blicken ließ, und
fam dann endlich draußen auf dem Gutshof zum Vor-
Schein, juft als mit fröhlichem Zuruf und Hutſchwenken
Herr v. Neidersberg zum Tor hereintrabte.
„Wünfche wohl gefchlafen zu haben, meine Herren!“
rief er in feiner breiten, behaglichen Art und jprang
von Pferde, das fogleich einer der Knechte an dem
Zügel nahm. „Ich mar fehon einmal hier heute, in
aller Herrgottsfrühe, aber da rechnete ich gar nicht
darauf, Sie ſchon aufzufinden.“
Dann machte er fich mit dem Hauptmann bekannt,
den er mit jeinen gutmütigen blauen Augen ziemlich
neugierig. mufterte, und nun fehüttelte er auch Malwitz
124 Mamfellden.
OD AD ADD AD ADDED ED AD AD AED AD Dre
die Hand, dem „Ichneidigen Kerl, der feinem alten
NRegimentstameraden Malwig wie aus den Augen ges
ſchnitten“ ſei. Der alte Malwig und er hatten bei
den Pajewalter Küraſſieren zufammen gejtanden.
„Ich babe gehört, Sie wollen fich heimtückiſch mit
Ihrer Himmelsgondel da an uns in Wildenhorft vor;
beidrüden, Herr Hauptmann,” lachte er darauf und
jtrich fi) den fchon arg melierten Spitzbart zurecht.
„Aber daraus wird nichts! Es wird haltgemadıt
in Wildenhorft, darüber gibt’3 fein Parlamentieren.
Menn Sie morgen in Berlin fein müſſen, jo bringt
Sie der Nachtzug auch noch hin. Verladen lafjen können
Sie ja den Schwamm ſchon am Nachmittag, und an
einem zuverläffigen Menfchen foll es nicht fehlen, der
die Gejchichte bejorgt; aber Sie und der liebe Malwitz
ejfen bei mir Mittag und jtechen ein paar Slafchen
Rotſpon mit mir aus oder auch Rüdesheimer, der,
glaub’ ich, von gejtern abend noch Falt fteht. Ab:
gemacht! Ich müßte ſonſt wahrhaftig annehmen, Sie
hätten’8 mir übelgenommen, daß ich Sie geftern abend
bier habe fiten laſſen.“
„Aber ich bitte ſehr,“ erklärte der Hauptmann,
„wir waren hier vorzüglich aufgehoben.”
„Ra, dann aljo los. Ich will fofort für ung an-
jpannen lafjen. Mein Gaul bat nämlich auch genug
für heute vormittag.” Dabei bielt der Baron dem
Hauptmann die Hand hin.
Doch der zögerte noch immer.
„Aber Wimbach,“ bohrte nun auch Malmis, „Sie
fommen wirklich noch zur rechten Zeit.“
„Und meine Hilde würde es mir nie verzeihen,
wenn ich einen von Ihnen entmwifchen ließe. Gie freut
ih riefig, Sie in a) begrüßen zu dürfen,”
fügte der Baron hinzu.
Bon Alwin Römer. 125
DDr Dre Dede ⏑ ⏑ needed Dede
„Ganz auf meiner Seite, befter Herr Baron,“ be-
teuerte Malwitz, den Bart vorfichtig nachftreichend.
„So viel unverdienter Güte kann ich allerdings nicht
widerjtehen,“ lächelte Wimbach und jchlug ein.
ALS der Baron Jochen Sötebier rief, der den Jagd—⸗
wagen aus der Remiſe ſchaffen follte, wandte fich
Wimbach mit der Frage an den Knecht: „Sit hr
Frölen noch nicht zurück?“
„Nä,“ ſagte Jochen und grinfte über das ganze
Geficht, wohl weil er dieſe Frage in Gegenwart des
Barons für bedenklich hielt.
„Das tut mir aber leid,” entgegnete Winbach dar:
auf, fich zu Neidersberg wendend. „hr Mamfellhen,
das uns geitern fo famos aufgenommen bat, iſt den
ganzen Morgen noch nicht fichtbar geworden. Ich hätte
ihr gern adieu gejagt.”
„Werd's ihr beitellen, Herr Hauptmann,” fchmunzelte
Neidersberg und drohte mit dem Finger. „Sie werden
ihr doch den Kopf nicht verdreht haben?”
Der Hauptmann errötete leicht, was ihn innerlich
fehr ärgerte, zumal da er ein leifes ſpöttiſches Lächeln
darüber um Malwitz' Lippen huſchen ſah.
„Sie ift ein ganz eigenartiges Berjönchen, da3 mein
Intereſſe allerdings lebhaft in Anſpruch genommen
bat,” erflärte er und fah dem Leutnant dabei beinahe
drohend ins Gelicht.
„But, daß ©ie fie hier nicht mehr zu fehen kriegen,“
lachte Reidersberg. „Sie wären im ftande, fie mir
abjpenjtig zu machen und von Jaſpershagen zu ent:
führen.”
„Nee, das tät’ er nicht,” bemerkte Malwitz darauf.
„Dazu iſt er zu folide.”
Der Hauptmann zuckte die Achjeln. „Sprechen wir
von etwas anderem,” jagte er. „Aber bitte, vergejjen
126 Namfellden.
DIR ED ADDED ED FED ED ERD Dr ED Dr Dre Dre Dr-EDr- ED
Gie den Gruß nicht, und daB es mir ſehr leid getan
babe.“
„Sol beforgt werden, Herr Hauptmann,” verjprach
der Baron. „Und mas kann ich von Ihnen Binzus
fügen, lieber Malwitz?“
„Ra — mir tft fie ja nicht fo and Herz gemachjen
in den paar Stunden. Aber einen fehönen Dank jelbit-
verftändlich, wenn ich bitten darf,” erklärte der Leut-
nant diplomatifh. Er mollte fich die Ausfichten bei
einem Manne nicht verderben, der einmal ein ganz
famofer Schwiegervater zu werden verfprad).
Inzwiſchen war da3 leichte Gefährt Schon angejchirrt;
die Herren ftiegen auf, und Jochen Sötebier ließ luſtig
die Beitfche Inallen. Auf den Wagen zündete man
fi) eine Frühzigarre an und ließ die blauen Wölkchen
in die Löftliche, Elare Septemberluft fteigen, ohne dabei
eine befonder3 lebhafte Unterhaltung zu führen. Erft
al3 nach einer Stunde Fahrt eine langgeftredte Schloß:
anlage mit einem ausgedehnten Park dahinter fichtbar
wurde und der Baron erllärte: „Da liegt der alte
Kaſten,“ konnte ſich Malwitz nicht enthalten, feiner
Freude über diejfen ftolzen Herrenfi in enthujiaftifchen
Worten Ausdrud zu verleihen.
kochen Sötebier fuhr mit ziemlicher Gefchidlichkeit
über den rafengefchmücdten Vorplatz, in defjen Mitte
eine von Ajtern und Georginen umblühte Fontäne die
Strahlen der Morgenfonne in jprühende Farben zer-
teilte, und bog dann zur Rampe hinauf.
Der Baron übernahm fogleich die Führung feiner
Gäfte. In dem hohen, im Spätbarod gehaltenen Veſti—
bül, deſſen Wände mit Kapitalgemweihen von verfchie-
denen Jägergenerationen geſchmückt waren, wehte ein
falter Hauch, der auf ungemütliche Innenräume jchließen
ließ. Aber wie fie nun den Salon betraten, der in
Bon Alwin Römer. | 127
DD REDrED ED Dre D re Dr De Dr Der Dre Dre Deere
gut modernem Cinne eingerichtet war und alle die be-
haglichen Seffel und Lehnftühle aufwies, von denen
unfere Altvordern noch feine Ahnung Hatten, wirkte
dieſer Gegenſatz doppelt überrafchend.
„Ich bitte, mich einen Augenblick zu entjchuldigen,”
fagte der Baron verbindlich, „dort Liegen die neuejten
Zeitungen, fogar die Berliner Abendblätter von geitern.
Wenn Sie inzwifchen einen Blick hineinwerfen wollen?”
„För Svenska Hem? Iſt das auch ein Berliner
Abendblatt?” fragte lächelnd Malwis, der an den Tiſch
herangetreten war.
„Das iſt natürlich was Schmedifches, lieber Freund.
Meine Hilde hat fid) das abonniert. Ihre Mutter war
ja eine Schwedin,” erklärte NReidersberg und ging.
„Ra, wie finden Sie das hier, Wimbach?“ flüfterte
der Leutnant, als fich die Tür Hinter ihm gefchloffen
hatte. „Feudal, mas?”
Der Hauptinann zudte die Achjeln. „hr Baron
ift ein ganz prächtiger alter Herr. Aber trodem: ich
komme mir hier jo überflüffig vor. Jaſpershagen war
entjchieden gemütlicher,” jagte er laut.
"Da fchallte plöglich ein filbernes Lachen von der
Zür her, deren Portieren ich eben auseinander taten,
und eine ihnen beiden nicht unbelannte Stimme fagte:
„Das freut mich, Herr Hauptmann, daß Ihnen Jaſpers—
hagen jo gefällt.“ s
„Damfellchen!” rief er unmilllürlich und drehte fich
um, während Malwitz die Erfceheinung im Rahmen der-
moosgrünen PBortiere ganz entjeßt anftarıte.
„Buten Morgen, meine Herren!” grüßte Hilde
fröhlich und trat näher, den beiden ihre Hände ent»
gegenftredend. „Und herzlich willlommen auf Wilden:
horſt!“
Sie führten beide die ihnen gereichten Hände, die
128 Mamjelldden.
I N ra N Fl FT el Fl Pl nF m} 7 PN
heute viel fchlanfer und formenfchöner erfchienen, an
die Lippen. Aber fie blieben auch beide zunächſt ftumm.
„So hab’ ich Sie mir gedacht und mich Schon den
ganzen Morgen darauf gefreut,“ achte fie übermütig.
„Eigentlich hätt’ ich ja wieder als Pommerin zum Vor:
ſchein kommen müffen und die Iuftige Komödie noch
ein bißchen weiterfpielen. Aber Papa mollte nicht.
Papa fette fein Amtsvorjtehergefiht auf und verbot
e3. Hoffentlich mißfalle ich Ihnen jo nicht ganz und
gar, Herr Leutnant.“ |
„Ah... im Gegenteil!“ rief, endlich fich aufraffend,
Malwitz. „Ich ſchwärme fonft nicht für Reform, aber
diefes KRoftüm macht aus Saulus einen begeifterten
Paulus. Es Lleidet Sie geradezu phänomenal.“
„Finden Gie das auch, Herr Hauptmann?* fragte
fie mit einem fchelmifchen Geitenblid auf Wimbach.
„sh muß mich erjt noch von meiner Überrafchung
erholen, gnädigjte Baroneſſe,“ entgegnete er langſam.
„Diefe Metamorphoje fommt mir zu unerwartet.”
„Kann ich für mein Zeil eigentlich nicht behaupten,”
jchwindelte Ted der Leutnant. „Ich habe geſtern abend
ſchon jo was bemerkt, wollte aber der Sache nicht auf den
Grund gehen, um den hübfchen Spaß nicht zu ſtören.“
„Ach, wirklich?" fragte ſpöttiſch die kluge Hilde und
ſah ihm mit einem vieljagenden Blick dicht unter ihren
Brauen fort in die Augen.
Der Bli gefiel ihm nicht. Er dachte plößlich daran,
mas für dummes Zeug er geftern abend alles gefprochen
und wie er fich bei ihr nach ihr ſelbſt erkundigt hatte.
Verwünſcht! Und nun fam ihm ins Gedächtnis, daß
ihm auf Franzöfifch Wimbach gegenüber eine Bemerkung
über ihres Vaters Reichtum entjchlüpft war. Herrgott,
wenn fie daS verftanden Hatte! Aber eigentlich war
diefes Schlimmfte ja wohl nicht zu befürchten. Pie
Bon Alwin Römer. 129
ö DE AED ADD Dre De Dee Dre Dede Dede Dee
pommerjchen Edeldamen waren für gewöhnlich ja nichts
weniger als perfekte Franzöfinnen, wenn fie nicht in
Hoffreifen lebten. Und die Mutter mar eine Schwedin
gewejen. Gott fei Dank, eine Schwedin! Es hätte
ja fcehlieglich auch eine Franzöfin fein fönnen. Wenn
der Teufel fein Spiel treibt, paflieren noch fcheußlichere
Zufälle.
Der alte Baron, der jest zurüdtehrte, unterbrach
feine Gedanten. „Ab, da biſt du ja, Hilde!“ rief er
vergnügt. „Haft du dich ordentlich gemweidet an deinen
armen Opferlämmern, be? Uber warte mal, ich habe
dir noch ein paar Beltellungen auszurichten — nämlich
Herrn Hauptmann v. Wimbach hat es fehr leid getan,
dich nicht noch einmal gefehen zu haben in <Yafper3-
bagen, und er läßt dich durch mich hiermit herzlich
grüßen, während der Herr Leutnant, dem du leider
nicht jo ang Herz gemachjen bilt in den paar Stunden
— hahahaha, gut behalten, was, lieber Malwitz? —
‚dir wenigſtens einen fchönen Dank zuerkennt.“
„Das heißt —“ ftotterte der Leutnant in zunehmen:
der Verwirrung, „ganz fo... äh... war die Sache
denn doch nicht, Baronefje! ... Ich ... ich mußte
ja halb und halb, daß wir Sie hier wiederfinden
mußten, während mein Freund Wimbach allerdings ...
OB ...“
„Ich babe beftellt, was mir aufgetragen worden ift.
Gie find mein Zeuge, Herr Hauptmann!” rief Iachend
der Baron, der fich über die Verlegenheit des gemandten
Gardeleutnants herzlich amüfierte. „Stimmt’3 oder nicht ?”
„Bis auf den mir freundlicht verliehenen Adel jind
Sie unſeren Aufträgen ziemlich wortgetreu nachgekom—
men,” erklärte der Hauptmann mit einer leichten Wer:
beugung. „Hätte ich freilich gewußt, wer hinter diefem
anmutigen „Mamſellchen“ verborgen war, fo —“
23904. XIII. 9
130 Dramfellchen.
DD ED ED Fr RED RD ED RED AD ARD RD AED ADD ADDED re
„Ach, drechjeln Sie feine Nedensarten, lieber Herr
Hauptmann! ... Wir find bier in Pommern, wo man
ein fräftiges Wort verträgt.”
„sh glaube, ich bin geftern, zumal bei unferer
Landung draußen, ein bißchen fehr kräftig geweſen,“
entgegnete Wimbach lächelnd und die Baroneije mit
einem kurzen Blid ftreifend. „Wir hatten da ein Suter:
mezzo wegen einer Herzitärtung —“
„Ach ja, Jochen Sötebiers „Damenlikör“!“ unterbrach
ſie ihn errötend. „sch hatte dem Schlingel den Brannt-
mein Lonfifziert, weil er drauf und dran war, fich zu
betrinten. Und wie nun die beiden Herren auf die
Erde herunterfielen, und es Herrn v. Malwitz dabei ein
bißchen unheimlich zu werden jchien, fam die Flaſche
aus meiner Tafche zum Vorſchein und brachte mich in
den fürchterlichen Verdacht bei den Geftrengen, eine
Liebhaberin diefes „Damenlikörs“ zu fein! .... Es war
riefig drollig.*
„sh bitte zerknirſcht um Verzeihung, Baroneije,”
fagte Wimbach verlegen. „Aber Sie fprachen ein jo
wajchechtes Plattdütfch, daß ich wirklich glaubte...
na, und da bin ich dann wohl allerdings ein bißchen ...
ich fürchte fogar, ich habe Sie geduzt in der Fritifchen
Minute.”
„Ra natürlich haben Sie das,“ beftätigte mit etwas
Schadenfreude über Wimbach3 Bedrücktheit der Leutnant.
„Welch ein unglaubliches Verbrechen!” fpottete gut:
mütig Hilde und fügte, dem Hauptmann die Hand
reichend, hinzu: „Ich habe da wirklich nichts zu ver:
zeihen, bejter Herr Hauptmann. Im Gegenteil, Ihr
Humor hat mich entjchieden zu Dank verpflichtet; denn
auf dieſer drolligen Verwechſlung bat fich ja nachher
die ganze nachfolgende Komödie aufgebaut, die mir fo
viel Vergnügen bereitet bat.”
Bon Alwin Römer. 131
UDRD RD RD AD AD ED ED DE DD De IE Dre Der Dr eD
„Sie haben eine bezaubernde Art, Nachficht zu
üben, Baroneſſe,“ entgegnete warm werdend der Haupt:
mann und küßte ihr die Hand.
„Ja, jo viel Scharfblid haben Sie wirklich lange
nicht entwidelt, lieber Wimbach,“ fpöttelte Malwitz,
dem die Situation zwiſchen ‚den beiden ein leijes Un-
behagen ſchuf. „Geradezu koloſſale Leiftung geftern!
Kameraden werden fich fchedig lachen, wenn ich erzähle.”
„Da3 zeigt mal wieder Ihre ganze Unverfrorenheit,
Malwitz,“ achte ärgerlich der Hauptmann. „Ihr Blick
mar allerdings während unferer Landung ziemlich ſtarr
nach innen gerichtet. Aber das werden Gie natürlich
verſchweigen.“
„Und daß Sie ſpäter noch viel ärger gefoppt worden
ſind, ſtreiten Sie ſelbſtverſtändlich auch ab,“ miſchte
ſich Hilde ein, die das kleine Scharmützel ſehr beluſtigte.
„Ah ... ich Hatte Sie doch gleich durchſchaut, Ba-
roneſſe!“ behauptete der Schlingel Ted.
„Dafür waren Sie dann allerdings reichlich forſch,
Herr Leutnant,” erklärte fie.
„Gerade dadurch wollte ich Sie ja reizen, endlich
Farbe zu befennen,” parierte er.
„Sie verftehen es meifterhaft, fich herauszuminden,”
ladjte fie. „Aber — ich glaube Ihnen trotzdem nicht!“
„Dann muß ich alfo gleichfall3 zu Kreuze kriechen
und um Vergebung betteln?” meinte ex darauf in drolli-
ger Gefnidtbeit. „Nun ja, ich habe allerdings ein paar:
mal ziemlich derb deutſch gejprochen, aber —“
„Beruhigen Sie ſich nur, deutjch Tann ich eine ganze
Portion vertragen,” fehnitt fie ihm das Wort ab und
bat dann auf einen Wink ihres Vaters hin die Herren
zum Frübftüd.
Malwitz ließ feine Augen unruhig über ihr Antlig
gleiten. Es war ihm gemejen, al ob fie in ihrer
132 Mamſellchen.
AED AD ED re Dre De DD De Dre Dee Dre Dee
legten Antwort auf das „deutſch“ einen bejonderen
Ton gelegt hatte. Flüfterte ihm das nun bloß fein
Schuldgefühl mißtrauifch zu oder hatte fie wirklich
gejtern verftanden, was er in feinem Leichtfinn Unkluges
auf Franzöfifch gefchmagt hatte? Wenn er bloß hätte
dahinter fommen können!
An der Tafel hatte er feinen Pla neben ihr, wäh⸗
rend Wimbach ihr gegenüber ſaß. Man führte ein
ſehr lebhaftes und angeregtes Geſpräch, und Fräulein
Hilde mar dabei von einer fo bejtridenden Lieben3-
mwürdigfeit, daß ihm langfam mieder die Zuverficht
wuchs, noch alles zu gutem Ende lenten zu können.
Den Verſuch wollte er wenigſtens nicht unterlafjen.
Das war diefes entzüdende Gefchöpf, daS mit allen
Gaben Fortunas überfchüttet fchien, wahrhaftig wert. —
Als daher der Baron nach beendeter Tafel die
Havannas präfentierte und die Herren fragte, ob
fie fich die Bibliothek anfehen mollten, die ein paar
alte interejjante Werte über pommerfche Gefchichte ent:
hielt, die bei Tifche erwähnt worden waren, benußte
der Leutnant die Gelegenheit, fich ein Plauderviertel-
ftündchen mit der Baronefje zu fichern. Er ſchützte
plöglich gefommenes Kopfweh vor und wanderte mit
Hilde in den großen Park hinaus, aus dem die Eber-
efyen wie rote Korallen herüberleuchteten.
„Herrlicher Park, den Gie hier haben, zumal jetzt,“
begann er ftimmungsvoll und fügte nach einem leijen
elegifchen Seufzer Hinzu: „Das find Naturfreuden, die
wir in Berlin oft jehmerzlich entbehren.”
„sch Dachte, der Tiergarten wäre ein ganz jchöner
Erfaß,” entgegnete fie. „Und weiter draußen Schlachten:
fee, Wannfee, Grunewald, Halenjee —”
Das gab ihm wieder einen Stich, daß fie Halenjee
erwähnte.
Bon Alwin Römer. 133
DD EDER ED ED AD AD ED ED DD ED ED ED DD ED
„Halenjee lieben Sie doch befonders,“ jtichelte fie
nun auch noch. |
„Wegen der Kafinobälle?” lachte er gezwungen.
„sch glaube, Sie können mir meine übermütigen Scherze
von gejtern noch immer nicht vergeben.“
„Im Gegenteil. Ich mußte immer wieder lachen,
wenn ich daran denke. Sie waren ja zu komiſch in
Ihrer Schwerendterrolle.“
„sh freue mich, wenn es Sie amüfiert hat. Aber
ich hätte wohl den Wunſch, äh... daß Sie fich mit
der Zeit davon Überzeugen ließen, wie exrnft ich bi3-
weilen auch fein fann.“
„Können Sie das wirklich?”
„Aber, liebſte Baronejje, halten Sie mich denn
durchaus für einen Windbeutel?“
Sie ſah ihm einen Moment lang in die Augen.
Dann entgegnete fie gemeſſen: „Aufrichtig gejagt,
nein!”
„Bott ſei Dank!” atmete er auf, und gehobenerer
Stimmung voll erflärte er: „Und Sie werden es be-
ftätigt finden, wenn Sie mich näher kennen lernen,
Baronejje. Ihr Herr Vater hat mich eingeladen, meinen
Herbiturlaub bier al3 fein Jagdgaſt zu verbringen.
Ich Tomme aber nur, wenn ich weiß, daß ich Ihnen
nicht unangenehm bin.”
„Mir? Unangenehm?” unterbrach fie lächelnd feine
feuriger werdenden Erklärungen. „Aber nicht im ge:
ringiten! Ich Hoffe, wir werden uns herrlich amüs
fieren. Ich befomme nämlich auch Beſuch.“
„So?“ jagte ex gedehnt, al3 ob ihm Unheil ſchwane.
„Ein paar BPenjionsfreundinnen haben fich an-
gemeldet. Sehr jchöne Mädchen! Da merden Gie
wie der Fiſch im Wafjer in Wonne herumplätjchern
können.“
134 Mamſellchen.
Do} DLEDED DD ADD ADDED ee Dee DD
„Dazu brauchen die Benjionsfreundinnen wahrhaftig
nicht zu kommen,“ flüjterte er kühn.
„Richt verfchwören!” lachte fie. „Kommen Sie mit
in den Gartenſaal. Da habe ich da3 ganze Penſionat
auf einer Photographie. Sie werden jehen, daß e3
die ſchönſten auf dem Bilde find.”
Und ziemlich ſchnell fchritt fie ihm den Weg voran
zur Terrafje, um die Flügeltür zu dem licht gehaltenen,
offenbar al3 Mufilzimmer benugten Gartenſaal zu öffnen.
„Sehr bübfche junge Damen!” murmelte er, al3 er
die ziemlich große Photographie nun in der Hand hielt.
„Kann man nicht leugnen. Aber —”
„Bitte, entjcheiden Sie, welche die hübſcheſten von
allen find. Aber ehrlich!” |
„But,“ lachte er, „wenn ich die Anmefenden alfo
ausfchließen muß — daS wollen Sie doch mit Ihrem
aus übergroßer Befcheidenheit geborenen „ehrlich“ jagen
— fo gefallen mir die beiden Fräulein hier oben links
am beiten.“
„Und das find fie!” triumphierte Hilde. „Margot
und Alifon!”
Er jtußte wieder. Die Namen klangen nicht gerade
germanifh. Was für ein PBenfionat war denn das
gewefen, in dem diefer Reidersberg feine Tochter ge⸗
habt Hatte?
„sit diefes Leine Fräulein unten neben der Vor-
jteherin nicht eine von den Gelſower Heinersdorfs ?”
erkundigte er fich tajtend.
„O nein. Das ift eine kleine Melun aus Paris,
eine Tochter des Minifters. Ich weiß nicht, ob Sie —“
„Ah ... aus Paris?” jtammelte er bedrüdt. „Darf
man fragen ... äh ... wo gnädigfte Komtefje in Pen:
fion waren?“ |
„In Brüffel,” erklärte fie. „Rennen Sie Brüfjel?“
Bon Alwin Römer. 135
ID ADED EDDIE DDr DD ADDED ED ED DDr eD
„Was man in einer Woche jo kennen lernen kann.“
„Das ift natürlich) nicht viel,” bemerkte fie. „Ich
mar beinahe drei Jahre dort. Margot und Alifon find
gebirene Brüffelerinnen.”
„Wird mir natürlich ein Vergnügen fein, fie kennen
zu lernen,” erwiderte er mit einem Verſuch, recht er⸗
freut auszuſehen. Aber fein Geficht erfchien verzerrt,
und feine Stimme klang beifer. „Der Teufel fol fie
holen jamt dem ganzen Brüffeler Benjionat!” dachte
er wütend. „Konnte diefer alte Schafstopf feine Tochter
nicht ebenfogut nach Stralfund oder Schwerin fchiden?
— Wenn ich bloß erft in der Eifenbahn ſäße! Weiß der
KRudud, wo diefer Unmenſch, der Wimbadh, bleibt!”
„Wollen wir jet aud) in die Bibliothek gehen, Herr
v. Malwitz?“ fragte Hilde freundlich. |
„Ach ja, bitte, mein Kopffchmerz ift ziemlich fort,“
rief er erleichtert umd ließ fich zu den Herren führen.
Dort nahm er unbemerft Wimbach auf die Seite und
flüfterte ihm zu: „Wir müſſen fort, lieber Freund,
der Alte hat die Abficht, ung den Zug verpafjen zu
lajjen, um uns für den Abend hier zu behalten. Aber
das geht nicht.”
„Auf feinen Sal!” entgegnete der Hauptmann.
„Im übrigen — haben Sie Gnade gefunden, Malwitz?“
„Ra ob!” erklärte er jelbjtgefällig und warf einen
Geitenblid nach dem Niejentifh, an dem Hilde ftand.
„In vier Wochen fol ich wieder antreten. Weiß frei-
lich nicht, ob ich gut daran tue.“
„Glückspilz!“ murmelte der Hauptmann, und dabei
hatte er ein Gefühl, al3 würge ihn jemand an der Kehle.
Als fie Abfchied nahmen, wiederholte der Baron
feine Einladung au den Sohn jeines ugendfreundes
und fügte artig hinzu: „Auch Sie find ung jederzeit
herzlich willlommen, Herr Hauptmann. Ein großer
136 Dramfelldden.
Nimrod find Sie ja nicht, wie Sie mir verraten haben,
aber trogdem braucht man fich auf Wildenhorft nicht
tot zu gähnen. Es geht manchmal riefig Iuftig bei una
zu. Nicht wahr, Hilde?“
„Sie find ſehr gütig, Herr Baron.”
„Nein, nein, da3 war feine leere Redensart, bejter
Herr Hauptmann, kommen Sie wirklich. Das Geſcheiteſte
ist, Egon bringt Sie gleich mit, wenn er feinen Urlaub
antritt, und Sie abkommen können. Was, lieber Egon?”
„Aber jelbftverftändlich,” murmelte Malwitz.
„Dann kommt auch der große Apfel zur Verteilung,“
fagte lächelnd Hilde und fah dem Hauptmann mit
einem fröhlichen Blick in die Augen.
„Welcher Apfel?” fragte der Baron neugierig.
„Das wirft du dann fchon jehen,” wich fie ihm
lachend aus.
Nun reichten fie fich noch einmal die Hände, und
dann ließ Jochen Götebier die Gäule anziehen und
tutfchierte die Säfte von Wildenhorft flott in den ber-
niederdämmernden Abend hinaus.
4.
Natürlich erhielt der Hauptmann niemals eine Auf:
forderung von Malwitz, mit nach Wildenhorft zu fahren.
Es war ihm auch ganz lieb, denn es hätte ihm nur
Schmerzen bereitet, den überall jchnel in Frauengunft
Itehenden Leutnant tagtäglich an Hildes Geite beob-
achten zu müſſen. Daß dieſer fich die Zuneigung der
fchönen jungen Baronefje erobert hatte, bezmeifelte er
feinen Augenblid, jo wehe es ihm tat. Er wußte e3
aus Erfahrung, wie manchen Menſchen ein Glüd nach
dem anderen mühelos in den Schoß fällt, während
andere in Sehnfjucht und Unraft vergehen. Ein bitteres
Lächeln umzucdte ihm die Mundmwinfel, jo oft er daran
Bon Alwin Römer. 137
Deere De DD De Deere Dee De dr Dr eD
dachte. Hätte das holde Edelfräulein an jenem Abend
auf Jaſpershagen, wo fie ihnen noch als befcheidenes
Wirtſchaftsmamſellchen galt, das bißchen Franzöſiſch
gehört, in dem der luſtige Schmetterling für einen
Augenbli gezeigt Hatte, daß er zu feiner Werbung
nicht ohne gewiſſe praftifche Erkundigungen fehritt: der
Gieg wäre ihm wohl etwas ſchwerer geworden.
Er verlor ſich in taufend unfruchtbare Grübeleien,
jo oft er daran dachte. Dabei hatte er eine unein-
geftandene. Angſt vor Briefen mit Dreipfennigmarfen.
Mißtrauiſch nahm er fie ftet3 zur Hand, wenn der
Burfche fie brachte, und zögernd beſah er zunächſt den
Boftjtempel. Denn aus einem jolchen Umfchlag würde
er ja ficherlich einmal die qualvolle Nachricht von der
Verlobung der beiden herausholen.
Da erhielt er eines Mittags ein Stadttelegramm
vom Baron Reidersberg, in dem Ddiefer ihn bat, den
Abend mit ihm zu verbringen. Rendezvous: KRaifer-
feller, Friedrichjtraße. Antwort nach Monopolbotel.
Eine Weile ſchwankte er. Malwitz hatte ihn ftark ver:
nachläffigt in den beiden Monaten — Gott fei Dank,
denn er war ihm unjympathijch geworden jeit Jaſpers—⸗
hagen; aber e3 war zehn gegen eins zu wetten, daß er
dort mit ihm zufammentraf. Und womöglich war die
Baroneffe auch dabei. Aber diefer letzte Gedanke gab
für ihn den Ausſchlag. Er ſah fie dann wenigſtens
noch einmal wieder mit ihren fchalthaft bligenden blauen
Augen und dem feinen füßen Mund.
Als er gegen fechs Uhr da3 große, originell ein»
gerichtete Weinlofal betrat, fand er den alten Baron
noc gänzlich allein in einer laufchigen Nifche hinter
rotbeſchirmtem elektrifchen Licht bei einer Flafche Bor:
deaur. Wie e3 jchien, war er troß des roten Schimmers
über ihm und vor ihm nicht in der roſigſten Laune.
138 Mamfellchen.
⸗— a en 7 m) m TU m) UI I — et — FI)
„Ein Glüd, daß Sie menigjten3 kommen, liebjter
Herr Hauptmann,” rief er grollend. „Bon diefem Trob-
topf, dem Malwitz, ift mir ſoeben eine Abfage zu-
gegangen. Hat mein Telegramm erſt um fünf Ubr
vorgefunden, fchreibt er, und gibt deshalb gleich nach
bier Nachricht, daß er wegen Liebesmahl und Nachtdienft
leider nicht ablommen fann. Iſt das nicht auffällig?
Was? Dder glauben Sie den Schwindel?”
Dabei jchob er ziemlich heftig das Depejchenformular
zur Geite, um eines von den Rotweingläſern heranzus
ziehen und e3 dem Hauptmann zu füllen.
Diefer zudte die Achjeln und fagte lachend: „Es
fann doch ebenjogut wahr fein, Herr Baron, denn —*
„sch weiß, was ich weiß,” unterbrach ihn Neiders-
berg unwirſch. „Das ijt nur Hildes wegen. Die beiden
haben irgend einen Strubel miteinander gehabt, und
feiner will natürlich nachgeben, troßdem fie fich gegen
feitig jehr gern haben. — Wiſſen Cie vielleicht zufällig
etwas Nähere3?”
„Keine Silbe! Wir fehen und allerding3 auch felten
genug jebt.”
‚Sm... und ich glaubte, Sie fämen täglich zus
fammen!”
„Das läßt fich in dem großen Berlin gar nicht
durchführen. Dazu kam dann wohl fein Urlaub, von
dem er mir allerdings nicht einmal eine Karte gefandt
bat. Hat er tüchtig gejchojfen in Wildenhorft?”
„Er war ja gar nicht da. Als es fo weit war,
fchrieb er plöglih, daß er an den Rhein müſſe zu
irgend einer alten Zante. Das fiel mir allerdings auf,
aber machte mich noch nicht gerade mißtrauiſch. Alte
Tanten haben ja mitunter Schrullen, zumal wenn fie
öfter haben bluten müſſen für die Herren Neffen. Aber
als ich ihn mir heute hierher bejtellen will, macht mir
Bon Alwin Römer. 139
aD Deren Dre Dre eDr DD DD DD DD dDdreD
mein Töchterchen plößlich Oppofition. Sie will ihn nicht
jehen, weil — ja, weil fie eben nicht will. Sie ift
nämlich ein ebenſolcher Troßfopf wie er. BZmeifellos
bat es fie verdrofjen, daß er fich Damals für die Tante
entjchieden bat, wenn der Hafen nicht vielleicht noch
tiefer ſteckt. Vielleicht hat auch ein Mädchen das Recht,
empfindlicher zu fein in folchen Dingen. Na, jedenfalls
babe ich fie endlich Doch herumgefriegt, indem ich ihr vor⸗
[hlug, Sie auch einzuladen. Und nun —“
„Kommt der Strohmann und die Hauptperfon bleibt
aus,” ergänzte matt lächelnd der Hauptmann.
„Richt doch, Herr Hauptmann. Vom Gtrob:
mann Tann ganz und gar feine Rede fein,” rief ver:
legen mwerdend der Baron. „Ich ſchätze Sie wirklich.
Wäre ich ſonſt jo offen gegen Sie geweſen? Und hätten
wir beide nicht gemütlich miteinander trinfen und plau-
dern können, während die beiden Nader fich ausein:
ander fetten?”
„sch bin Ihnen auch gar nicht böfe, Herr Baron,“
entgeguete Wimbach und jtieß mit ihm an. „Aber
jagen Sie doch, wo ift denn nun Fräulein Hilde?*
„Sie muß jeden Augenblid da fein; fie macht nur
noch ein paar Einkäufe mit unjerem Bajtorsfohn, der
" bier in Berlin ftudiert. ... Sehen Gie, dort juchen
fie fchon nach ung,” rief Reidersberg und winkte. Unter
einem feden Chinchillabarett hervor ließ Hilde ihre
großen blauen Augen in dem lichtüberfluteten Lokale
umberwandern, bis fie endlich ihres Vaters lebhafte
Gebärden bemerkte. Ein anmutiges Lächeln glitt über
ihr Antlig, al3 ihr der Hauptmann grüßend entgegen:
trat. Mit einer impulfiven Bewegung jtredte fie ihn
die Hand hin und fchüttelte fie ihm fräftig, ehe er im
itande mar, fie an feine Lippen zu ziehen. Dann wurde
ihm Franz Barthel, der Sohn des Dorfpfarrers von
140 Mamſellchen.
ADDED Dre Dee DD red
Wildenhorft, vorgeftellt, ein fchüchternes Kerlchen, da3
wohl jein erſtes Semejter in Berlin abjolvieren mochte.
„Ra, KRinnings, habt ihr nun alles?“ erkundigte
fi) der Baron.
„a, Badding, bis auf den Spieltifch für den Herrn
Paſtor. Darüber find wir nicht fehlüffig geworden.
Der eine fcheint mir nicht recht praftifch, der Franz
am beiten gefält. Da mußt du entfcheiden. Wenn
du willſt, brauchen wir bloß au telephonieren, dann
ſchickt der Gefchäftsinhaber fie beide her,” erklärte Hilde,
indem fie fih aus dem warmen Belzjatett herausfchälte,
wobei ihr Wimbach half.
„Um Gottes willen!” jträubte fich Reidersberg ent-
jfegt über den legten Vorſchlag. „Die Berliner denten
fo ſchon immer, wir Bommern find die geborenen Dös⸗
töppe! Das könnte ein fchönes Hallo bier geben! —
Sit das Gefchäft weit von hier?“
„Keine fünfhundert Schritte.”
„Ra, Franz, dann werd’ ich alfo in den fauren
Apfel beißen und mich von dir hinführen laffen, damit
wir bei deinem Vater endlich an einen vernünftigen
Tiſch zu figen kommen, wenn wir dem unchriftlichen
Lajter des Skats frönen wollen. Komm, zeig mir
das Geſchäft.“
„Gern, Herr Baron. Aber ich darf wohl erſt Ab-
ichied von Hilde nehmen, denn ich kann nicht wieder
mit zurüd. Ich habe nachher leider Verpflichtungen,”
antwortete der Jüngling.
„Was Teufel! Haft du vielleicht auch ein Liebes-
mahl und hinterher Nachtdienft ?* inquirierte mißtrauifch
der Baron.
„Nein,“ ftotterte der gute Junge verlegen. „Ich
fol heute abend einen Vortrag halten im Verein der
Naturfreunde.“
Bon Alwin Römer. 141
EDDIE ee Dee
Dede Dee
„So — jo! Na, dann ftärfe dich wenigſtens mit.
einem Glas Rotwein, während ich in den Paletot Frieche.
— Nicht wahr, lieber Wimbach, Sie entfchuldigen mich
auf die paar Minuten und nehmen fo lange mit der
Hilde fürlieb?”
„Bitte jehr, Here Baron,“ entgegnete rot werdend
der Hauptmann, dem im Grunde feine Herzens nichts
lieber war, als ein Biertelftündchen mit dem ans
gebeteten Weſen vertraulich zufammenfigen zu können.
Franz Barthel machte eine etwas ungelente Ver—⸗
beugung, während Hilde ihm noch allerlei Aufträge
wegen der Verpadung gab. Dann waren fie plößlich
allein in dem laufchigen Wintel, beftrahlt von dem
roten Licht des Schirmes, da3 ihren Gefichtern einen
warmen Hauch gab, und fahen fich prüfend an.
„Was meinte eigentlich mein Papa mit dem Liebes:
mabl, da3 Franz Barthel haben jollte?” fragte Hilde
endlich, um dem Schweigen zwiſchen ihnen ein Ende
zu machen.
„Es bezog fich auf die Abjage des Herrn v. Mal:
wis,“ entgegnete Wimbach, wie aus einem Traume
auffchredend und reichte ihr das Telegramm, daS der
Baron zurückgelaſſen hatte.
Sie lachte leife auf. „Er kommt nicht,” fagte fie
dann, und eine merkbare Freude tönte durch ihre
Stimme. „Nun, das Hatte ich erwartet. Dafür wollen
wir beide nun fo recht nach Herzensluft von Jaſpers—
hagen plaudern und von Berlin und wovon Sie ſonſt
wollen.“
„Erzählen Sie mir erit, Baroneffe, warum Gie
jchmollen mit Malwitz. Ihr Herr Vater machte mir
eine Andeutung —“
„Aber eine verkehrte,” verjegte fie ruhig. „Denn
ich jchmolle durchaus nicht mit ihm, Herr Hauptmann.
142 Dramfellden.
ED DD RD Dee Dre De Dee Dre Dre Dre Dre Dre DD DD
Malmig ift mie höchſt gleichgültig, und nur Papa
bildet fich ein, daß wir miteinander Verjteden ſpielen.“
„Aber Ihr Herr Vater meinte doch, daß —“
„Ich mag ihm die ganze Wahrheit nicht jagen, des
alten Malmig wegen. Das würde ihm wehe tun.
Und die halbe glaubt er mir nicht.”
„Iſt fie denn jo jchlimm, die ganze Wahrheit?”
fragte er zaudernd.
Da ſchoß es wie Blitze aus ihren jchönen blauen
Augen, und ihre feinen Nafenflügel fingen an zu beben.
„Das fragen Sie mich, Herr Hauptmann? Nach
jenem Abend in Syajpershagen, wo mir einen Moment
lang in fein Inneres ſchauen fonnten und dort nichts
wie den nüchternjten Egoismus und die jämmerlichite
Eitelkeit fanden?” entjchlüpfte es ihr erregt.
Er bob feine Augen, in denen ein ſeltſames Leuch-
ten war, zu den ihren, ehe er erwiderte: „So haben
Sie alles gehört, was er Törichtes ſagte an jenem
Abend ?*
„Törichtes?“ nahm fie beinahe zornig das Wort
auf. „Warum nennen Sie töricht, was feiner Meinung
nach doc) Flug und felbftverjtändlich mar? Es ijt eben
eine Art Pflicht, als Seiner Majeftät Gardeleutnant
eine „gute Bartie” zu machen. Und Taufende erfahren
es nie, daß fie nur diefer Pflicht zuliebe von den Eltern
weg nach Berlin und an den Hof fommen. Aber wer
dahinter fommt, muß mitunter einen herben Elel emp:
finden. Ein Glüd für mic), daß ich ihn kennen lernte,
ehe e3 zu fpät war, und mich ſchützen konnte am anderen
Tage! Das aber danke ich indirekt Ihnen, Herr Haupt:
mann.”
„Sind Sie deffen fo ganz ficher, daß nicht bloß eine
übermütige NRenommierlaune ihm die häßliche Be:
merkung über die Lippen gejagt hat? Können Sie ihm
Bon Alwin Römer. 143
ö— EDT DT ED FE DE DE DD Dr ED ED ED rd —
nicht Doch noch verzeihen?” fragte er, fich zu Worten
zwingend, gegen die fein Herz rebellierte.
„Ich babe ihm längft verziehen,“ erklärte fie lächelnd,
„wenn man eimem Zalmiring überhaupt zu verzeihen
braucht, daß er nicht aus Dukatengold ift.”
„Sie können recht ſarkaſtiſch fein, Baronefje,” mur:
melte er und biß dann wieder nervös an feinen Tippen
herum.
„Aber nur fehr felten. Übrigens hat fich ja Ihr
Freund, wenn ich ihn jo nennen darf —“
„Wir find immer ganz gut miteinander ausgekom—
men, ohne uns freilich allzu oft zu ſehen,“ fchob er ein.
„Kaſtor und Pollux find wir nie gemefen.”
„Run, er hat fich ja längſt zu tröften gewußt.“
„Wieſo?“ fragte er erjtaunt.
„Sehr intim feheinen Sie wirklich nicht mit ihm zu
ſtehen, was ich übrigens jchon in Jaſpershagen gemerkt
habe, ſonſt wüßten Sie doch wohl, daß er fich nächſtens
mit Miß Alice Banjon verlobt.”
„AH... Sie fcherzen, Baroneſſe!“
„Wenigſtens hat es mich nicht etwa tragifch be-
rührt, als ich es dur Tante Berlau erfuhr heute
morgen,” fagte fie gleichmütig.
„So wußten Sie ja ganz ficher, daß er nicht kommen
würde heute abend?” .
„sh durfte wenigstens darauf rechnen.“
„Und meinten Sie num nicht vielleicht, daß — daß
auch ich abfagen würde?“ erfundigte er fich ftodend.
„Nein!“ erklärte fie ehrlich. „Und ich hätte es vecht
häßlich von Ihnen gefunden, wenn Gie es getan hätten.“
„Wahrhaftig?” fagte er, das Herz voll Tyauchzen.
„Ach Gott, Baronefje —“
„Was jeufzen Sie denn fo herzbrechend, Herr Haupt:
mann 2”
144 DMamfellden.
DD TED DD TED ED ED ED ED ED ED De De De ne DD
„Was ich jeufzte? ... DD... ih wollte... ich
wollte —“
„Was wollten Sie?”
„sh wollte, Sie wären das „Mamſellchen“ noch!”
rief er feurig.
„And was wäre dann?”
„Dann packte ich Sie in meinen Luftballon und
flöge mit Ihnen davon, irgendmwohin ... recht, recht
weit von bier.”
Sie glühte auf troß des roten Schirmes, der fie
beftrahlte, und da3 Herz klopfte ihr bis in den Hals
binauf. „Sie find ja ein ganz gefährlicher Menjch,
Herr Hauptmann,” wiſperte fie dann, ohne ihn an-
zuſehen.
„Fräulein Hilde, würden Sie ſich ſehr wehren?“
fragte er.
„Ich glaube: ja!“ antwortete ſie ſchalkhaft. „Mir
iſt ein Fahrſtuhl ſchon was Unheimliches.“
„Fräulein Hilde,“ murmelte er nach einer Pauſe,
„wenn ich nun nächſtens nach Jaſpershagen käme ...
und... und —“
„Da würde fich Bapa ganz bannig freuen,” unter-
brach fie ihn, ihre ins Unendliche wachſende Verlegen-
beit hinter dem Scherzwort verbergend.
„Und Gie ſelbſt?“
„Ich?“
„Würden Sie mir endlich einen gewiſſen Apfel
zuerkennen, der —“
„Sofort. Das heißt, wenn Sie Wort halten und
mir die Hälfte abgeben,“ verſuchte ſie, ihm nochmals
zu entſchlüpfen.
Aber jetzt hatte er die richtige Wendung. „Und
wenn nun dieſer Apfel ein Leben, ein langes Menſchen⸗
leben in Freud und Leid bedeutete — würden Sie ihn
”
Bon Alwin Römer. | 145
dann auch noch mit mir teilen?” forjchte er voll ver-
baltener Glut.
„Sie können furchtbar hartnädig fragen, Herr Haupt-
mann,” jagte fie beflommen und fah ihn zum erjten
Wale wieder an dabei, nur einen Herzjchlag lang.
Aber diejer Blick war ein loſer Verräter.
„Hilde!“ rief er in überflutender Glüdesfülle.
„Willſt du wirklich ?* |
„Mit taufend Freuden!” fagte fie ſchlicht, aber innig
und ah iR ION NEUEN ur die Hand.
‚Du jiebft ja ganz ſpitzbübiſch — aus, liebe
Hilde! Habt ihr euch wieder über „Damenlilör” unter⸗
halten?” fragte der Baron, der bald nach diefem heim-
lichen Verfpruch zurücdgelommen mar und jet prüfend
feine Augen von einem zum anderen gehen ließ.
„Rein, Vadding,“ lachte fie voll Übermut. „Davon
war leider nicht die Rede. Aber Heinz Wimbad) bat
mir verfprochen, un3 in Bälde zu befuchen auf Wilden:
hoxſt.“
„Das freut mich aufrichtig, Herr Hauptmann,” ent:
gegnete artig Neidersberg, der verdubt den Vornamen
jeines Gajtes aus Hildes Munde vernommen hatte.
„Auch wenn ich mit Höchit ernfthaften Abfichten
über Ihre Schwelle trete, Herr Baron?” fragte der
Hauptmann in ruhiger Seftigkeit.
„Aber Hilde!” rief der Baron nun völlig faſſungs—
[08. „Was bedeutet denn das? ch dachte doch,
DU — “
„Biſt du mir böſe darüber, Papa?“ fragte ſie weich
und ſah ihn mit ihrem zärtlichſten Kinderblick in die
Augen.
„Du weißt wohl, daß ich dir nicht böſe ſein kann,“
ſagte er, ſchmelzend unter dieſen ſonnigen Strahlen.
1804. XIII. 10
146 Mamſellchen.
— — — —— — — De De DD De Dede De DD ed
„ber das kommt mir wirklich fo ganz und gar un—
erwartet —" |
„Ach,“ fagte fie fchalfhaft, „und dabei haft du doc)
immer gejagt, daß für mich einmal einer vom Himmel
berunterfallen müßte, Vadding!“ |
„a, das habe ich. Aber dabei doch an ganz wen
anders gedacht.”
„And ich immer nur an ihn,“ entgegnete jie,. glüd-
lich zu Wimbach aufjchauend.
„Hm ... dann kommen Sie nur, lieber Haupt-
mann! ... Wann dürfen wir Sie denn erwarten?”
fragte Reidersberg, von einem fchlecht verhehlten Jubel—
ruf Hildes freudig bemegt. |
„Darf ich nächſten Sonntag?” fragte Wimbad)
itodend. |
„Aber gewiß. Bis dahin hat fie mich längjft breit
gefchlagen. Denn wenn ich nicht „ja” jage, wäre fie
im ftande, mit Ihnen im Luftballon davon zu gehen,”
lachte Reidersberg und rief den Kellner, um Sekt zu
beitellen.
Fr
Die Hmeisenkönigin.
Neues aus dem Leben der Ameisen.
Uon Bans Petersen.
mit 7 Mustrationen. r (Nachdruck verboten.)
(W: hätte nicht fchon an einem fchönen Sommertage
im Walde vor einem der wimmelnden Ameijen:
haufen gejtanden und ftaunend den Naturgejegen nach:
gefonnen, die all die vielen taufend Fleinen Tierchen
zwingen, mit dem gleichen Eifer die weißen Larven und
Puppen ihrer Brut aus der Tiefe des Neftes in höhere
Etagen zu tragen. Und dasjelbe Wimmeln, nur von
der Peripherie des Neſtes nach der Tiefe zu, mar zu
beobachten, wenn jich der Himmel trübte.
Die Erkenntnis, daß die Ameiſen jene erjte Mühe
aufwenden, um die Brut an die Sonne zu bringen,
die andere dagegen, um fie vor dem drohenden Regen
zu jchügen, reicht weit zurüd. Schon im Altertum
haben Naturforjcher dies gefchäftige Treiben in den
Ameijenfolonien beobachtet, und bei einigen griechifchen
Schriftjtellern findet ſich bereits die außerordentliche
Fürforge der Ameijen für das Wohlbefinden ihrer „Eier“
gerühmt.
Aber auch ſchon damals führte die Beobachtung zu
148 Die Ameijenkönigin.
a MT U N Ft FL FF IN Re
einer Streitfrage. Einzelne Autoren behaupteten näms
lich, daß der Gegenftand der gerühmten Fürforge der
Ameijen nicht ihre Eier wären, fondern Körner, die zu
ihren VBorräten gehörten und die fie MIEEL, um fie
vor Fäulnis zu fchügen.
Es wird fich ſchwerlich je entjcheiden laſſen, ob diefer
Streit auf einem Irrtum derjenigen berubte, die das
le&tere behaupteten. Vielleicht fannten die Alten wirk⸗
lih eine Ameijenart, die tatjächlich Getreidelörner in
unterirdifchen Borratsfammern aufſpeicherte. Dieſe
Möglichkeit müſſen wir annehmen, feit Charles Dar:
win jeinen Bericht über die „aderbautreibende Ameife“
in Teras veröffentlicht hat. Auf Grund von jahre:
langen Beobachtungen, die Dort der Naturforfcher Lin—
ſercom angeftellt hatte, berichtete Darwin an die Linnean
Society in London über diefe merkwürdige Ameifenart,
welche in kunſtvollen Anlagen unter einem freisrunden
Plage wohnt, den fie felbft mit einer beftimmten Sorte
Rorn bebaut. Um den Eingang zur Burg glätten die
Roloniften die Oberfläche in einem Kreife von acht bi3
zwölf Fuß im Durchmeſſer, jo daß dieſer Hof das
Anfehen eines jchönen Pflafters erhält. Rings im
Kreife bauen fie das Korn an und pflegen dasfelbe mit
fteter Sorgfalt, indem fie alle anderen Gräfer und
Kräuter abbeißen, die etwa dazwiſchen und in einer
Entfernung von einem bis zwei Fuß außen um den
Ackerkreis auffprießen. Auch Laffen fie Raum für
itrahlenförmig angeordnete Durchgänge, wie dies unfer
nebenftehendes Bild verdeutlicht. Das gebaute Gras
wächſt auf das üppigfte und gibt einen reichen Ertrag
kleiner weißer, fiefelharter Körner, die gemöhnlichem Reis
fehr ähnlich find. „Wenn das Korn reif it,“ fchreibt
Darwin wörtlich, „wird es forgfältig eingeerntet und
von den Arbeitern mitjamt der Spreu in die Korn:
Von Hans Peterjen. 149
DL ⏑ AD AD AD AD AD AD AD AD AD AD AD ADD AD ——
fammer getragen, wo es von der Spreu befreit und
weggepadt wird. Die Spreu wird über die Grenzen
des gepflafterten Hofes hinausgeworfen. Während
anhaltenden Regenwetters kommt e3 vor, daß die Vor:
räte naß werden und der Gefahr ausgefegt find, zu
Bof der ackerbautreibenden Ameise in Texas.
fproffen und zu verderben. In diefem Falle bringen
die Ameifen am erxjten jchönen Tage daS feuchte und
bejchädigte Korn heraus und fegen es der Sonne aus,
bis es trocden it, worauf fie alle gefunden Körner
wieder zurüctragen und wegpaden.“
Die Forſchung kennt jegt bereits über taufend Arten
von Ameifen, deren Lebensmweife fehr verfehieden tft,
150 Die Ameiſenkönigin.
RIIRDAD RD RD ED ED DD ED DD DD DD ed DD
und die Doch alle zu derfelben Inſektenfamilie aus der
Drdnung der „Hautflügler” gehören, al3 welche fie eng
verwandt mit den Bienen und Wefpen find. Gemein:
jame Merkmale ihres Baues find großer Ropf, Träftige
vorjtehende Oberliefer, gelniete Fühler und feitlich zu-
jammengedrüdter Thorar, der durch einen mit ein bis
zwei Knoten verjehenen Stiel mit dem Hinterleib ver:
bunden ift. Die Ameifen leben in Kolonien vereinigt, die
fich zu gemwiffen Zeiten aus dreierlei Ständen zufammen:
jeen, den geflügelten Männchen, den bis zur Mutter:
ſchaft geflügelten Weibchen und den Fleineren, ftet3 un:
geflügelten „Arbeitern“ (verfümmerten Weibchen). Bei
verschiedenen Arten, namentlich des Auslandes, kommt
noch eine zweite Form von Arbeitern mit ftark ver:
größertem Kopf und mächtigem Oberfiefer vor, die als
„Soldaten“ von der gewöhnlichen Form unterfchieden
werden. Die Weibchen und die Arbeiter (genauer „Ar:
beiterinnen“) befißen im Hinterleib eine Giftdrüfe, deren
Inhalt im mefentlichen aus Ameifenjäure befteht und
gegen den Gegner gefprist wird. Den Menfchen ift
aber diefes Gift nicht gefährlich; der Geruch wirkt fo-
gar erfrischend.
Faft alle Ameifenarten leben in Nejtern, die aus
vielfach gemwundenen Gängen und Kammern bejtehen,
unter und über der Erde, in Baumftämmen u. ſ. m.
angelegt und von der Nachlommenfchaft einer einzigen
weiblichen Ameiſe, der Ameiſenkönigin, oder einiger
weniger folcher Ameifen bevölkert werden. Von diefer
Nachkommenſchaft befteht die große Mehrzahl aus Ar:
beitern. Sie find es, die wir an der Außenjeite des
Neftes und außerhalb desjelben an der Arbeit jehen.
Der Ausbau und die Erhaltung des Neſtes ijt ihr Ge:
Ihäft. Ihnen fallt das Einholen der Nahrung für die
Männchen und Weibchen . und die heranmwachfenden
Bon Hans Peterjen. 151
ID ED ED ED .ED ID IND IND DAAD TD
Maden, Larven und Puppen zu, die fie auch füttern
und pflegen, während die Königinnen unermüdlich dem
Gierlegen obliegen. Arbeiter verrammeln Abends die
Meterhohes Waldameisennest.
Zugänge des Neftes und öffnen diejelben am Morgen.
Andere übernehmen die Bewachung der Zugänge wäh:
rend de3 Tages, indejjen die Kameraden auf Nahrung
ausziehen.
Wo zwei Formen von Arbeitern vorhanden find,
fallt den großlöpfigen „Soldaten“ die Nolle der Führer
152 Die Ameifenkönigin.
und Ordner auf den Gtreifzügen zu. Sie furagieren
neben dem Zug der Arbeiter her und zerfchroten größere
Beuteſtücke, um fie den Fleineren Pameraden mund-
gerecht zu machen. Kehren die fleißigen Einfammler
mit gefülltem Bormagen zurüd, fo füttern fie die Larven,
die Männchen und Weibchen, indem fie ihnen ein Tröpf:
chen des im Vormagen bereiteten Zuderfaftes in den
Mund flößen. Bei vielen Arten jchleppen die Arbeiter
auch mit großer Gefchiclichleit, und oft in Gruppen
mit vereinten Kräften, lebende und tote Kerfe, Käfer
und Raupen ins Neft, die dann die Männchen und
Weibchen und im Neſte bejchäftigten Arbeiter bis auf
die harte Haut und Schale aufzehren.
Die Hanptnahrung der Ameifen befteht aber aus
füßen Säften, welche die „Arbeiter“ Früchten und Blüten
aller Art, aber auch Tieren, vornehmlich der Blattlaus
(Aphnis) entnehmen, die aus den „Honigröhren” ihres
Hinterleibs den Nektar der Ameifen fpendet. Daher
find die Ameifen immer hinter den Aphniden ber. Gie
jtreicheln und klopfen fie janft mit den Fühlern, um
die Abfonderung des Saftes zu befördern. Doch nicht
nur deshalb Hat man die Blattläufe die „Milchkühe
der Ameifen” genannt; gemijje Ameiſenarten entführen
fogar dieſe Honigjpender in ihre Nefter, um fie wie
Stallfühe auszunugen. In heißen Ländern, wo e3
feine Blattläufe gibt, vertreten die ihnen verwandten
feinen Ziladen ihre Stelle.
Unfere Ameifen bedürfen im Winter feiner Nahrung,
da fie dann in Erftarrung verfallen. In füdlichen
Ländern, wo dies nicht der Fall ift, tragen dagegen die
Ameifen Wintervorräte in ihre Nefter ein, wie wir e3
bereit3 bei den „aderbautreibenden” fahen. Je wärmer
das Klima, um fo früher fangen fie an zu fammeln und
defto ſpäter im Herbſt hören fie auf.
X
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Be a
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Bau neuer Kolonien der amerikanischen Wiesenameise.
154 Die Ameifenkönigin.
m TI a? em) um) I 7 I um) I u) un) UF um I m I Fl m Pe)
Das Leben der Arbeitsameifen außerhalb des Nejtes
ift naturgemäß viel früher beobachtet und erforjcht
worden als daS Leben der Ameijengemeinjchaft im
Net ſelbſt. Es gibt die verjchiedenften Arten von
Ameifenneftern: Holznefter zum Beifpiel, deren Gänge
und Kammern in die Stämme Träftiner Bäume gehöhlt
find, und andere, die aus Holzſpänchen an Bäumen
durch einen klebrigen Stoff, den die PDrüjenameifen
beim Bauen abjondern, aufgemauert werden; Erdneiter,
die in die Erde gegraben und mit einem Erdhügel ver:
fehen oder unter einem ſchützenden Steine angelegt find,
und Nefter von zufammengejeßter Bauart, mie die
unferer Waldameije, die übrigens auch in Amerika
weite Verbreitung bat.
Da3 Äußere der Ameifenhaufen im Walde, die oft
eine Höhe von einem Meter und noch mehr erreichen,
ift jedem Leſer befannt. Dieſe Nejter beftehen aus
Blattteilchen, Fichten- und Kiefernadeln, Harzkrümchen,
Erdklümpchen, Holzſtückchen und haben unter der Boden:
fläche einen viel größeren Umfang als über der Erde.
Das Innere diefer Nejter enthält ein Gemirre von
kreuz und quer laufenden und fich vereinigenden Gängen
und Kleinen Höhlungen, von welchen nach allen Seiten
bin Haupt: und Nebenftraßen meit von dem Hügel
weg führen, die durch das umnunterbrochene Herbei—
Schaffen weiterer Pflanzentrünmer förmlich geglättet
find. Zeritört man einen folchen Hügel, jo fommen
Taufende von Arbeitern in dichten Gewimmel zum
Vorfchein, die entweder Puppen und Larven flüchten
oder fogleich mit der Wiederherjtellung de3 Baues be:
ginnen. Auch die Najenameijen führen vom Eingang
ihres Neſtes aus regelrechte Straßen nach verjchiedenen
Richtungen hin. In locderem fandigen Boden find die
Wände zwifchen den Gängen und Kammern weit dider
Bon Hans Peterjen. 155
ADDED AD AD AD AED AD AD I DD DD
al3 in fejtem Boden. Wird ein Neft übervälfert und
in feiner Ausdehnung zu groß, jo werden in der Nähe
Tochterfolonien angelegt. In Amerika gibt es Ameifen-
arten, welche die Straßen, die von ihren Nejtern aus—
Itrahlen, mit einer Dede überwölben, zumal diejenigen,
Prinzessinnen der ackerbautreibenden Ameise spielen vorm Neste.
welche das Hauptneſt mit den ZTochterlolonien ver:
binden.
Sp verfchieden aber auch die vielen Arten von
Ameifenneftern find, alle find fich darin gleich, daß fie
das Leben der Königin und ihrer Brut vor unferen
Mugen verbergen. Die erjten wijjenjchaftlichen Werte
über das merkwürdige Familienleben der jo hoch be=
156 Die Ameijenkönigin.
⏑⏑ De Dre Dee De Dre Dre Dre Dre Dre Der DerD
gabten Inſekten entjtanden vor hundert Jahren; Die
grundlegenden Schriften von Latreile und Huber
erfchienen 1802 und 1810. Der vergleichende Blid
auf das Leben im DBienenjtaat gejtattete lehrreiche
Schlüſſe. Aber erjt viel fpäter hat der GSchmeizer
Forel wirklich umfaljende Studien den Ameifen:
neftern und dem Leben in ihnen gewidmet, und auch
Tafchenberg, als er den Band „Inſekten“ von
Brehm „SUuftriertem Tierleben“ bearbeitete, hat
noch eingeftehen müſſen, daß die Art und Weiſe,
wie eine Mutterlolonie gegründet wird, noch nicht
völlig aufgehellt fei.
Da kam der englifche Naturforfcher Sir Sohn Lub—
bod auf die Idee, ſich Fünjtliche Ameijennejter in Glas
heritellen zu lafjen und in diefen unter genauer Berüd-
fihtigung der natürlichen Lebensbedürfnifje der Tier:
chen Meiſenkolonien künftlich Heranzuzüchten. Lubbocks
Buch „Ameifen, Bienen und Weſpen“, das 1883 auch
in deutjcher Sprache erfehien, war die Frucht diefer und
ähnlicher Studien, die er den Bienen und Welpen
widmete.
Als Schüler Lubbocks hat neuerdings der Ameri-
faner Mac Cook viele Umeifenarten von Nord:
amerifa ſowohl in der freien Natur wie in fünft-
lichen Neftern beobachtet, und ihm Hat die Wifjen:
Ihaft jest auch eine bejondere Abhandlung über Die
Ameijenkönigin zu danken, zu welcher die anjchau:
lichen Abbildungen gehören, die wir unferen Lefern'
vorführen.
Die Bezeichnung „Ameiſenkönigin“ ijt der viel älteren
Bezeichnung „Bienenkönigin” nachgebildet, mit Bezug
auf die Ähnlichkeit, die zwischen der Organifation eines
DBienenjtaates und dem eines Ameijenftaates befteht.
Bei den wegen ihres Honigs von alter3 her gejchägten
Bon Hans Peterjen. 157
ED DAD ADD AD ADDED DD DD DE DD
und gezüchteten Bienen ift e3 bekanntlich das Schidjal
jeder weiblichen Biene, die auf dem „Hochzeitszug“
Arbeiterinnen treiben Männchen und Weibchen zum Bochzeitsflug.
einmal von einem Männchen befruchtet ward, ihr Leben
lang Taufende von Bienen hervorzubringen als Mutter
eines großen Bienenvolles. Beinahe das ganze Jahr
158 Die Ameijenkönigin.
DD RD ED ED DE DrEDe Dre Dr ED ED DE Dre Dee DDr ED
hindurch legt fie nur Eier, aus denen gefchlecht3lofe
Arbeitsbienen entjtehen; dieſe fleißigen- Arbeiterinnen
haben Blütenhonig einzutragen, die Brut zu ernähren
und Wachs zu bereiten für den Bau der Zellen und
Waben. Nur im Frühjahr legt die Königin Eier für
eine Anzahl männlicher und für einige wenige weibliche
Bienen, von denen jede beftimmt ift, nach ihrem Hoc):
zeitäflug im Mai gleich ihrer Mutter Gründerin und
Königin eines neuen Bienenvolfes zu merden. Die
Fortpflanzung des Gefchlechts ift der Königin raſtlos
verfolgter Lebenszweck. Diefem Zmed dienen auch alle
Hilfeleiftungen der Arbeitsbienen. In Liebe und Ans
bänglichteit find fie ihrer Königin ergeben. Während
diefe unverdroffen von Zelle zu Zelle ein Ei nach dem
anderen legt, ift fie immer von Arbeitsbienen begleitet,
die ihr Nahrung reichen, fie mit den Fühlern jtreicheln,
mit der Zunge beleden und ihr jede mögliche Aufmerf-
ſamkeit bemweifen. Dagegen leben die Männchen (Drob:
nen) von Beginn an als Müßiggänger im Stod, mo:
bei fie verzehren, was die Arbeitsbienen eintragen, fo
lange bis eine Brinzefjin ausfchlüpft, welchen wichtigen
Prozeß ein tutender Ton begleitet, Er ift das Signal
für die Königin-Mutter zum Auszug. Mit einem großen
Teil der Arbeitsbienen verläßt fie den Korb, um aus:
zuſchwärmen und einen neuen Stud, den der Bienen⸗
züchter bereit gejtellt hat, zu bejiedeln. Auch jede der
neugeborenen Prinzejjinnen fliegt aus, jedoch begleitet
von den Männchen. Die Männchen, die fich ſchon an
den Tagen vorher im Fliegen übten, umfchmärmen die
Schöne, die ihrem dunklen Drang zum Hochzeitszug
folgt. Eines von ihnen gewinnt die Umſchwärmte, die
Baarung erfolgt und endigt mit dem Tode des Aus:
erwählten. Befruchtet für ihre ganze Lebenszeit, die
vier, auch Fünf Jahre währen kann, find die neuen
Bon Hand Peterjen. 159
DEI DD RD ED AD ED DD re De Dre Dre Dre Dee D DD
Königinnen nun im Stande, jährlich) 50,000 bis 60,000
Eier zu legen. Die Erjtgeborenen begründen das neue
Geschlecht in neuen Stöden, die jüngite ift Thaonfolgerin
in dem von ihrer Mutter verlafjfenen Stod. Hier haben
fic) auch die Männchen wieder eingejtellt, die am Hoch
zeitsfluge vergeblich teilnahmen. Sie lafjen jich meiter
füttern, bis es dem fleißigen Nachwuchs an Arbeits
bienen im Bau zu eng wird, und der Tag der „Drohnen-
Schlacht“ naht, zu der fich die Arbeitsbienen zur Ver:
nichtung der Müßiggänger verbünden. In Übermacdht
fallen fie über die faulen Drohnen ber, wobei, fie ihren
Stachel gebrauchen, ohne daß diefer abbricht, was ihren
Tod herbeiführen würde. Die Leichen werden hinaus
geſchafft. Die Natur, die bei der Hervorbringung der
Männchen zur Sicherung der Fortpflanzung jo vers
fchwenderifch war, räumt mit ihnen auf, nun der Nach:
wuchs gedeiht.
Ganz wie die Bienenkönigin bringt nun auch die
Ameijentönigin ein ganzes Boll hervor, von deſſen
Leben fie den Mittelpunft bildet. Auch fie fliegt als
Prinzejjin aus zum Hochzeitäflug, und die eine Bes
fruchtung feßt fie in Stand, ihr Leben lang — von
den Pauſen der minterlichen Erjtarrung abgejehen —
Tauſende und Abertauſende von Eiern zu legen. Big
in den Auguft werden von ihr nur Eier für Arbeits-
ameifen gelegt, und erjt dann bringt fie die größeren
Eier hervor, au welchen geflügelte Männchen und
Weibchen entitehen.
Auf Grund der Beobachtungen an unjeren heimifchen
Ameijenarten hat Tajchenberg in Brehms, Tierleben“ von
dieſem Hochzeitsflug eine ungemein lebensvolle Schil-
derung gegeben. Zunächſt wird es den Männchen, die
zu Lufttieren geboren find, in den unterirdifchen Räumen
zu eng, ſie luſtwandeln auf der Außenfläche des Haufens
mc: = a a —
160 Die Ameifenkönigin.
umher, bejteigen Gräjer und andere Pflanzen in der näch—
jten Nachbarfchaft und verraten große Unruhe. Zwiſchen
ihnen erjcheinen Arbeiter, faflen fie mit den Zangen
und fuchen fie in das Neft zurückzubringen. Diefe Aufs
regung währt einige Tage, dann aber bietet fich dem
Blide des Beobachterd ein überraſchendes Schaufpiel,
eine Hochzeit der Ameifen dar. Nichts Menjchliches
gibt einen Begriff von dem mirbelnden Aufbraufen,
von dem ntan nicht weiß, ob e3 Liebe, ob es Wut bes
deute. Zwiſchen dem Volle milder Brautpaare, melde
von nicht3 zu wilfen fcheinen, irren Ungeflügelte um-
her und greifen bejonders die an, welche ſich am meilten
vermwidelt haben, beißen fie, zerren fie jo ftart, daß man
meinen jollte, fie wollten fie vernichten. Das ift aber
nicht ihre Abficht, fie wollen fie vielmehr zum Gehor—
fam, zu fich ſelbſt zurüdbringen. ... Jetzt grenzt die
Wildheit an Raferei: in taumelndem Wirbel erheben
fih die Männchen, nach ihnen die Weibchen, und in
wechſelndem Auf: und Abfteigen gelangen fie zu be-
deutenden Höhen. Ein hoch gelegener Gegenjtand,. ein
Baumgipfel, eine Turmſpitze, ein Berggipfel dient dem
Zuge gewiſſermaßen als Flugziel. Die Ameijenjchmärme
an einem fchönen Auguftnachmittage, bejonders nach
einigen Regentagen, die von gemiljen Arten gebildet
werden, haben bisweilen die Menfchen in Furcht und
Schreden verfeßt, namentlich dann, wenn die Schmärme
einer größeren Landftrede fich zu fürmlichen Wollen
vereinigt und die Spitzen der Rirchtürme al3 vermeint-
liche Rauchwölkchen umfchwebt haben.
Auf die Frage: Wie fieht es während der Schwärnt-
zeit im Nefte aus und. was wird aus den Schwärmen?
hatte Tafchenberg vor 25 Jahren die folgende Antwort:
Bei den fchon einige Tage vor dem Schmärmen be-
merkbaren Bemühungen der Arbeiter, unter dem ge—
Bon Hans PBeterfei. 161
AD AD NDED ED IND AD MED AD ED ADD AED ADD ID
flügelten Volle Ruhe und Ordnung miederherzuftellen,
gelingt e3 doch, ein oder das andere Weibchen und
Männchen zurüdzubalten, welche fich in der nächiten
Nähe des Neftes paaren. Eines oder einige folcher
Meibehen find es, die fie in das Weit zurückbringen,
ihnen die Flügel abreißen, venjelben alle Fürjorge er:
Ameisenkönigin im Kreis ihrer Leibgarde.
meifen, fie belecden, füttern und in gleicher Weife be-
handeln, wie es die Bienen mit ihrer Königin tun.
rede Stammmutter jorgt nun durch Eierlegen für den
Fortbeftand des Neſtes. Die Schwärmer gelangen ent-
fernt vom Geburtsnejte wieder auf die Erde, Taujende
und Abertaufende werden eine Beute anderer Kerfe oder
jolcher Tiere höherer Ordnungen, welche Gejchmad an
ihnen finden, oder die Männchen fterben nach wenigen
Tagen planlojen Umherirrens eines natürlichen Todes,
1904. XII. 11
162 Die Ameifenkönigin.
Dr Dr Dre Dr DDr erde De
während die nicht verunglücdten Weibchen Gründerinnen
neuer Nefter werden, ficher auf verjchiedene Weife bei
den verfchiedenen Arten, auf welche aber, ift bisher
noch bei keiner durch unmittelbare Beobachtung felt-
geitellt worden.
Mac Cook, der in Texas die „acerbautreibende
Ameije” fehr genau beobachtete, ftellte feſt, daß bei
diefer Art die neugeborenen Prinzefjinnen in der Zeit
ihres Heranreifend bis zum Hochzeitäflug bei fchönem
Metter oft aus dem Nefte hervorkriechen und es ſich
in der Nähe des Eingangs im Sonnenfchein wohl fein
lafjen. Sie fpreizen ihre Flügel, reden ihre Glieder,
ſchwingen fi auf Grashalme, kurz, treiben allerlei
VBorübungen für den Hochzeitsflug. Auch) die jungen
männlichen Slügelträger fommen hervor, mifchen fich
unter die PBrinzefjinnen und Spielen harmlos mit
ihnen.
Ganz anders als ZTafchenberg ftellt Mac Cook das
- Berbalten der „Arbeiterinnen” des Neftes dar, wenn
die Stunde des Ausflugs naht. Während Tafchenberg
annahm, die Arbeiterinnen würden unmillig über das
Ausbrechen und Ausfcehmärmen der Männchen und
Weibchen und wären bemüht, fie daran gemwaltfam zu
hindern, ift es nach) Mac Cook ihr Beftreben, diefelben
zum Aufbruch zu nötigen. Wie die Abbildung auf
Geite 157 zeigt, find währenddefjen andere Arbeiterinnen
am Werk, Blätter zu pflüden und heranzufchleppen,
um nach dem Aufbruch der Geflügelten die Eingänge
des Neſtes damit zu verfchließen. Daß die Männchen
nach dem Hochzeitäfluge fterben müſſen, auch wenn fie
der Verfolgung durch andere Inſekten entgehen, beruht
auf ihrer Unfähigteit, jich jelbjt zu ernähren. Ihre
Kiefern find zu ſchwach dazu.
Die befruchtete Königin, die nicht den Weg in ein
Bon Hans Peterjen. 163
IDADAD DD DD ED DD EDIT DIDI ED DIDI
Einbringen einer Nlüchtigen Königin.
Neft findet, deffen Bewohner fie freudig aufnehmen,
fucht fich auf dem Terrain, auf das fie niederfiel, einen
geeigneten Pla zur Anlage eines Neftes. Zunächft
164 Die Anteifenlönigin.
entlleidet fie fich ihrer Flügel, die ihr für die meitere
Lebensaufgabe im Neft ja doch nur Hinderlich wären.
Durch Reiben und Stoßen entfernt fie diefelben. Dann
friecht fie in eine kleine Erdfpalte oder eine Falte in
der Ninde eines Baumes und legt hier einige Eier, die
fich zu Arbeitern entwideln. Dann gebt fie jelbjt auf
Nahrung aus und bringt Honigfaft heim zur Fütterung
ihrer Brut, forgt für Neinlichkeit im Neft und beginnt
den Nusbau desfelben. Sobald die erften Neſtlinge
entwidelt find, beginnen fie unter Anleitung der Mutter
diefer in all den genannten Gefchäften zu helfen. ®ie
Familie wählt, und fo müſſen es die Räume auch.
Bei der anhaltenden Fruchtbarkeit der Königin würde
der vorhandene Raum für das neue Gejchlecht oft nicht
ausreichen, wenn die vielen Feinde der Ameijen nicht
gleichzeitig für ihre Verminderung forgten. An feinem
Zage kommt die Zahl vollftändig wieder heim, die
am Morgen auf Nahrung und zum Furagieren aus—
309. Je mehr Berlufte aber der Haufe erleidet, um fo
eifriger wird die Königin in ihrem Trieb, für Erfaß
zu jorgen. Gie lebt bald nur noch der. Mutterjchaft,
alle anderen Arbeiten überläßt fie den Arbeitern. Das
bei ijt fie immer von einem Hofftaat umgeben. Dieje
Leibgardiften begleiten fie überallhin, und jobald ein
neues Ei aelegt it, nehmen einige aus der Schar e3
auf und bringen es in die Kammer, die der Aufzucht
der Larven und Puppen dient. In jeder Beziehung
zeigen fie fich der Königin dienjtbar und aufmerkjam.
Ihre gute Berpflegung wird durch jie ftreng geregelt.
Zugleich aber bewachen fie fte ftveng, und ihr Leben
inmitten des Hofftaates ift eigentlich eine glänzende
Gefangenjchaft.
In den Tünftlichen Neftern Qubbod3 ijt dieſes Ver—
hältnis aufs fchärfite beobachtet worden. Hat die
| Bon Hans Beterfen. 165
NODOMDAMDADTED EDDIE DD EDDIE DD ED ED - ED .ID
Königin einmal das Verlangen, einen Weg einzu—
ichlagen, der der Leibgarde nicht behagt, nähern
jich ihr fofort einige aus dem Kreis, die ihr mit fanf-
tem Nachdruck dur Stupfen mit den Fühlern und
Zupfen an den Beinen beibringen, wohin fie ihre
Pflicht ruft. Oft geht das nicht ohne Widerftand,
denn die Königin ift mehrfach fo groß und ftärker
wie eine Arbeitsameife; aber die Leibgarde geminnt
jchließlich immer.
In einem der Tünftlichen Ameifennefter Mac Cooks
gelang es einmal der Königin, ihren Wächtern zu ent:
fliehen. Sie gewann den Ausgang und konnte ſich eine
Meile ihrer Freiheit freuen. Doch gar bald holte die
Leibgarde fie ein. Alle Höflichkeit beifeite lafjend, faß-
ten die BZornigen die Entflohene. Vergeblich ſetzte fie
fich zur Wehr. Bei den Fühlern gepadt, wurde fie zum
Neſte zurüdgezogen. Den legten Alt diefer Szene zeigt
unjere Abbildung auf Seite 163.
Ein beneidensmwertes Leben führt die Ameiſenkönigin
in dem von ihr gegründeten Staate alfo nicht. Wohl
jteht fie an der Spite ihres Volkes, aber ihr Volk be-
herrſcht ſie. Wohl wird fie gepflegt und gehegt von
ihren Hofitaat, aber diefer regelt ihr Tun und Lafjen
nach den Intereſſen der Gefamtheit und den Gefegen
eines demofratifchen Gemeinmejens.
Ein Vorrecht aber hat die Ameifenklönigin vor ihrem
Volle, das der Langlebigkeit. Lubbock züchtete in einem
feiner Fünftlichen Nejter eine Königin, die fünfzehn
Jahre alt wurde. So alt werden freilich im Freien
die wenigſten, aber alle doch viel älter als die Ar—
beiter, von denen wenige das erjte Jahr überleben.
Das dankt die Königin der ficheren Hut, in der fie im
Nefte Lebt.
Nührend ift das Bild von der Trauer der Leib—
166 Die Ameifenkönigin.
EDDIE —⏑ —⏑ —⏑ DD -EDrED ED ED DD
garde um ihre geftorbene Königin, da3 Mac Eoof,
entwirft. Die tote Königin lag inmitten der größten
Kammer de3 künftlichen Neftes. Ihre Leibwächter um⸗
gaben fie rings und brachten ihre Gefühle zu lebhaften
Ausdrud. Durch Streicheln und zärtliche® Zupfen
fuchten fie die Tote aus dem vermeintlichen Schlafe zu
weden. Doc feine Antwort erfolgte. Die Mutter
ihres Volles war tot.
*
Erkenne dich selbst!
Hus dem Seelenleben einer Frau.
Uon Anna Vogel v. Spielberg.
x (Nachdruck verboten.)
ie hatte ihn gejehen, heute, nach langer, langer
Zeit, und nichts in ihrer Seele, fein Überrajchungs:
Schre und feine Wiederjfehensfreude, fein Beben und
fein Bangen Hatte fie daran gemahnt, daß er es
war, den fie einjt geliebt. So ruhig, al3 wäre er ein
völlig Fremder, hatte fie ihn begrüßt, al3 er nach halb—
jähriger Abmejenheit wieder gelommen war, fie zu be-
fuchen. Doch nein! Nicht fie, jondern ihren Gatten,
feinen Freund!
Den ganzen Abend war er geblieben. Pen ganzen
Abend hatte fie ihm gegenüber geſeſſen und nicht ohne
Teilnahme, doch meist ſchweigſam dem Geſpräche ge-
laufcht, in welches fich die beiden Gelehrten bald nad)
dem erjten Hin und Her über die Neije vertieften.
Er war endlich wieder gegangen. Sie aber blieb
noch und verjuchte, den Gatten in eine Unterhaltung
zu ziehen; der aber, von dem langen Gejpräche mit dem
Freunde ermüvet, zeigte feine Luft, auf ihr Geplauder
einzugehen. Anfangs jchweigfam und zerjtreut, jagte
168 Erkenne dich felbft!
er ſpäter ein paar entſchieden unliebenswürdige, wenn
auch nicht bösgemeinte Worte, dann kühl: „Gute Nacht!“
und ging nach ſeinem Schlafzimmer.
Verletzt zog auch ſie ſich zurück. Nun ſtand ſie da
in ihrem Erkerfenſter und blickte umflorten Auges in
den öffentlichen Park hinab.
Soeben tauchte groß, in rötlichgoldenem Scheine
der Vollmond am Horizont auf, und wunderſam, ge—
heimnisvoll rauſchten die dichtbelaubten Bäume in der
leichtbewegten Sommernachtluft. Ein ſüßes Gemiſch
von Jasmin⸗ und Roſenduft zog durch das offene Fenſter
herein, umkoſte ſchmeichelnd die bleichen Wangen der
jungen Frau und verwob ſich mit dem feinen Duft
ihrer dunklen Haare. Sie aber nahm nichts wahr.
Sie dachte an Menſchenglück und Liebesſeligkeit und
mußte darüber bitter lächeln. Sie wußte ja, daß nichts
ſo kuxz ſei als das Glück, nichts kürzer als das Liebes—
glück, am kürzeſten eines Mannes Liebe.
Hatte ſie dieſe ſchmerzliche Erfahrung nicht ſchon ge—
macht — zweimal gemacht? Hatte jener Mann, dem
ſie nun unlöslich verbunden war, nicht ſchon lange auf—
gehört, in ihr ſein Herzensglück zu ſehen? Und jener
andere, der einſt ſo unabſichtlich und unwiſſentlich in
ihr Geſchick hineingeſpielt, ihr ganzes Denken und
Empfinden an ſich geriſſen hatte, war nicht auch er,
der ſie mit ſtummer Glut geliebt, mit ſeiner Liebe längſt
zu Ende?
O Liebe! Vielbeſungene Liebe, die ewig währen
ſoll, wie es die Dichter ſo ſchön lügen! Was bleibt
von dir zurück als ein zerriſſenes Herz!
O daß ſie niemals, niemals Frau geworden wäre!
Daß ſie ein kaltes, leeres Herz beſeſſen hätte, nicht eines,
welches ſich nach heißer Liebe ſehnte und nach heiterem
Glücke dürſtete! War ſie als Mädchen deshalb ſo
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 169
DAAD DD Dr DD DDr DD DD
übermütig gemwefen, weil ihre jpäteren Jahre in bitterem
Weh vergehen follten? Mußten dem heiteren, anmut?:
vollen Mädchen deshalb alle Herzen zufliegen, weil fie
als Frau das einzige Herz, nach dem fie verlangte, ver:
lieren follte?
Er war ein ftolzer, ernfter Mann geweſen und hätte,
dem Alter nach, beinahe ihr Vater fein können, ihr
aber hatte er fich in grenzenlojer Liebe unterworfen.
Und jeßt, nach kaum fünf Jahren, war fie ihm nichts
als eine Laft, ein Gegenstand der Abneigung!
War diefes Bemwußtfein nicht erhebend? Konnte
fie nicht ftolz fein darauf, daß fie mit jenem Übermaß
der Liebe, das er ihr entgegengebracdht, fo bald fertig
geworden war? Wie hatte fie es denn nur angefangen,
woher die Kunſt gelernt, ich Herzen zu erobern, um
‚fie jo raſch wieder zu verlieren?
Sie ſann und grübelte in dumpfer Bitterfeit und
fam mit gleich bitterem Weh nur zu der Meinung,
daß fie ein Opfer wäre, doch nicht ein fehuldiges. Nein,
fie trug feine Schuld! Sie Hatte fich nur, tief gefränft
und tief erbittert über des Gatten NRüdfichtslofigkeit,
von ihm gewendet, und feine Sache wäre es gemejen,
fie, die jo maßlos Gedemütigte, die er in feiner Un—
gerechtigfeit für eine Unterlaffungsfünde der Natur
büßen ließ, wieder aufzurichten und zu verfühnen. Statt‘
deſſen aber fehien er zu erwarten, daß fie, die Be—
leidigte, ihn, den Beleidiger, noch demutsvoll um Ver:
zeihung bitte für die Torheit, daß fie die ganze Sache
fo ernft, jo tragifch aufgefaßt. ... Ha, ha, das war
zu köſtlich! —
Arme Frau! Bekehrſt du dich noch immer nicht zur
Einſicht, daß du allein im Unrecht biſt?
Sie war ein Weib mit gleich viel Gemüt und einem
ſehnſuchtsvollen Herzen, doch auch im Bann einer ge—
170 Erfenne dich ſelbſt!
ED ED DE De De ee Dre —
wiſſen Eitelkeit, beherrjcht von den findifchen Verlangen
jo vieler Frauen, ftetS gefchmeichelt und verwöhnt zu
werden, von allem verfchont zu bleiben, was den heiteren
Bleichmut der Seele ftören Fönnte, Aufgemachjen und
erzogen in den engen Grenzen bürgerlicher Mädchen:
bildung, konventioneller Gefellfchaftsregeln, war fie be:
fangen von dem böfen Wahne unverftändiger Frauen,
die Fran als „Meifterjtüd der Schöpfung” mülje dem
Manne immerdar ein Gegenjtand abgöttifcher Ber-
ehrung fein. Sie hatte al3 ein interefjantes, geiſtvolles
Mädchen gegolten und mar viel ummorben worden.
Ihre gejellfchaftlichen Erfolge hatten ihr Selbitgefühl
ins Maßlofe gejteigert. Sie mwähnte, ein volllonımenes
Gejchöpf zu fein — innerlich fomohl als äußerlich.
Das aber war nicht der Fall. Zwar ließ fih im Hin-
blick auf ihre feelijchen Eigenjchaften — bei ihren zmeis
undzwanzig Jahren — noch „etwas aus ihr machen”,
der Ernſt der Ehe mußte ihre heitere Dberflächlichkeit,
fomwie die eitle Anmaßung und ungebundene Vergnü—
gungsluft herabjtimmen, doch ihre Erjcheinung durfte
feinen und konnte nie Anſpruch auf wirkliche Schönheit
machen. Was fie ſchön machte, kam aus ihrem Innern.
Das war die anmutspolle Heiterkeit, das filberne Lachen
und der lebhafte, wißig jehillernde Geift. Damit blen-
dete, bezauberte fie — mehr vielleicht, als oft eine
Schönheit bezaubern Tann. Ihr ging’ — um nur ein
Beifpiel anzuführen — wie e3 jelbjt einem Goethe er:
gangen: die Anerlennung feines Ddichterifchen Genies
ließ ihn gleichgültig, doch feine ftümperhaften eich:
nungen wollte er als Meisterwerke anertannt, bewundert
willen. Sie glaubte ſchön zu fein und verbarg das
nicht. Alle Vorzüge, die fie in Wahrheit bejaß, hatte
fie — ohne fich darüber verlegt zn fühlen — beitreiten
lafjen, doch wehe dem, der es gewagt hätte, was fie
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 171
DDmDerEDre Der Dre Ders DderkD-eD
bloß in der Einbildung bejaß, zu bezweifeln: die Schön-
beit!
hr Gatte Hingegen war ein Mann vol ftolger,
rücjichtslofer Wahrbheitsliebe. Wie jeder Mann von
Bildung und Gejchmad, ftellte er hohe Anforderungen
an die Frau, die er gewählt. Streng und unerbittlich
gegen fich jelbjt, forderte er auch von anderen gleiche
Gelbitertenntnis, gleiche Selbjtbeherrfchung. So blieb
er, obſchon gelaffen und kühl in feinem Wefen, unnach-
fichtlich gegen alle jo oft Nochficht heifchenden Schwächen
der Frauen. Und follte er die feine auch erft für fich
erziehen müfjen, frei mußte fie werden von aller Rlein:
lichteit in ihren Denten und Empfinden, von aller
Lächerlichteit in ihrem Gebaren! Er war, wenn der
Afthetifer in ihm zu Worte Tanı, als folcher viel zu
gemifjenhaft, al$ daß er — bei aller Parteilichfeit für
feine Frau — ihr, wenn auch keineswegs häßliches
Geſicht ſchön oder auch nur wirklich hübſch finden
fonnte. Als fthetiter hätte er fie auch entjchieden
fchöner gewünſcht. Doch nicht gefchaffen, Unabänder:
liches zu bellagen und törichten Wünfchen nachzubängen,
gab er fich damit zufrieden, wie fie war. Nur als ex
entdedte, daß fie ihre vermeintliche Schönheit insgeheim
noch zu erhöhen ftrebte durch Schminke, Augenbrauen:
und Haarfärbemittel, Durch Brenneifen und dergleichen,
wurde er böfe. Sn aller Entfchiedenheit verbot er ihr
derartigen Unfug. Sn graufam trodener Wahrbeits-
liebe jeßte er, allerdings nicht ohne Übertreibung, weil
eben bejtrebt, ihr das Lächerliche und Sinnlofe ihrer
Bemühungen recht zu Gemüie zu führen, Hinzu, daß
fie, ohnedies nicht ſchön, durch ſolch aufdringliches
„Schönfeinwollen”, ganz abgejehen von der Schädlich-
teit einiger diejer Verfchönerungsmittel, fich nur zu einer
— Rarilatur mache.
an um? ZU ——
172 Erkenne did) felöft!
m ED DD ED ED AD AED REDE AD ED ED REDE DC —
„Ohnedies nicht ſchön!“ rief fie mit heiterem Spotte.
„Warſt du auch diefer fchmeichelhaften Anficht, als du
um mich warbft?”
„Gewiß!“ fagte er ehrlih. „Schön, in des Wortes
wahrem Sinne, habe ich dich nicht gefunden, jelbft in
den Zeiten meiner närrijcheften Verliebtheit nicht.”
„Warum Haft du nich dann zu deiner Frau ge-
macht?” fragte fie mit ungläubigem Staunen.
„Weil ich dich liebte.”
„Und liebft du mich noch?”
N
„Warum aber?”
„Warum, mein Kind? Als ich einft einer Frau,
durch ihre göttergleiche Schönheit Hingerifien, meine
Liebe geftand, fragte auch fie: „Warum lieben Gie
mich?" — „Weil Sie fo bHinreißend ſchön und fo be-
bezaubernd kokett find!" — „Sonſt nicht3?* fragte fie
enttäufcht. „Sonft nichts!” mar meine überzeugungs-
volle, ungefchminkte Antwort. Tych Liebte ja nicht fie,
jondern nur ihre Schönheit, die aber wurde furz dar-
auf von den Blattern zerſtört und — ich dachte nicht
mehr an fie. ... In dir aber liebe ich dich, nur dich!
Nicht deine Schönheit, denn du bift nicht ſchön. Und
wenn dein Geficht auch noch weniger hübjch werden
follte, lieben würde ich dich dennoch. Gib dich damit
zufrieden, Heine Törin, und zwinge mich nicht in alberner
Eitelkeit, dich zu belügen. Ich hätte früher allerdings
nicht. gedacht, daB ich, der „Schönheitsnarr”, eine
„Nichtſchönheit“ heiraten würde; aber da ich es getan,
ift’3 gut fo. Ich gäbe dich auch nicht für alle Schön-
heiten hin. Laß dir’3 daher genügen, daß du mehr bift
als jchön, daß du liebenswert bift, und wünfche auch
nicht länger, ſchön genannt zu fein, da du geliebt wirft.“
Anfangs gab fie ſich damit zufrieden, denn ſtolzer
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 173
fehten ihr der Triumph, troß ihres Nichtſchönſeins den
großen Schönheitsfchwärmer erobert zu haben. Aber
mit der Zeit genügte ihr dies noch nicht. Der Wert
der Frau befteht in Züchtigkeit und Schönheit. Beide
follen bewahrt, behütet werden. Marie unterjchäßte
nun die erjtere keineswegs, doch, ohne daß fie fich defjen
Har bewußt gemefen wäre, ftand ihr die letere höher.
So machte der nur leife eingefchlummerte Glaube an
ihre Schönheit bald wieder auf, wurde mächtiger als
je und noch verftärkt durch den törichten Wahn, der
Gatte wollte fie nicht ſchön nennen, um ihrer Eitelkeit
nicht neue Nahrung zu geben. Daß fie eitel märe,
leugnete fie fich gar nicht ab. Sie hielt dies bei einer
Frau von Gefchmad für begründet, ja für notwendig.
Rein Zweifel! Er wollte fie nur nicht ſchön nennen!
Nun aber verlangte fie leidenschaftlich, zu erfahren,
daß er jie ſchön finde. So oft fich die Gelegenheit
ergab, forjchte fie vorfichtig nach feinen wahren Ge-
danfen. Doch immer mar der Sinn feiner Rede:
„Nein, du bift nicht ſchön!“
Und als fie einmal, von Ungeduld erfaßt, alle Bor-
fiht und Selbſtbeherrſchung vergaß und ihr heftiges
Verlangen in ebenfo heftiger Weiſe äußerte, da wurde
er gewahr, daß er zu lange, allzu lange Geduld und
Nachficht gehabt. So mochte jie endlich die volle Wahr:
heit hören, um von ihrer „firen Idee“ geheilt zu werden.
Er dachte gut von ihr. Er hielt fie für ftark genug,
die Wahrheit zu ertragen, und war im Innern über:
zeugt, daß ihre Liebe ftärfer fei als ihre Eitelkeit.
MWenn nicht, wenn er fich in ihr täufchte, dann, aller-
dings, dann war fie nicht wert, daß er fie liebte.
Und fo feste er ihr in aller Ruhe, doch mit der
ſchonungsloſen Offenheit des unbefangenen Kritikers
auseinander, warum fie, im äfthetifchen Sinne, nicht
174 _ Erkenne dich ſelbſt!
DIDI REDDIT —⏑⏑⏑ ⏑ Dr DD
ſchön fei. Bor allem ihre Nafe — zwar griechifch,
doch unten zu breit; der Leine Mund zu wenig zart
gefchweift; die Wangen zu fehmal; die Stine zu fteil;
der Teint zu unrein und mit kleinen Sommerſproſſen;
die Augen, zwar ſchön in ihrem feurigen Glanz und
ihren beredten Ausdrud, doch mißfarbig, nicht braun,
nicht grau, nicht grün, ein fonderbares Gemifch diefer
drei Farben; und auch da3 dichte braune Haar von zu
wenig Glanz und Weichheit, um ſchön genannt zu
werden. Die Hände, weiß, klein und zart, Doch zu
mager und ohne edle Form.
Nein! Schön — das ſei ſie nicht! Durch ihr Ge⸗
ſicht und ihre Geſtalt konnte ſie nicht blenden, dazu
bedurfte es erſt ihres Frohſinns, ihres Benehmens, und
dieſe Eigenſchaften konnten ja in der Tat auch alle ihre
Schönheitsmängel vergeſſen laſſen!
Das alles war trotz des gewiß verſöhnenden Zu—
ſatzes fo hart, jo bitter, wie es nur die Wahrheit ſein
kann.
Sie Hatte ihm mit bangem Staunen gelauſcht und
feinen Worten — nicht geglaubt. Er übertrieb fo gerne,
um fie zu neden, fi an ihrem Ärger zu meiden, oder
auch, wenn e3 fich darum handelte, ihr irgend etwas,
das er nicht billigte, recht vermwerflich erjcheinen zu
laſſen. Auf folche Art Hatte er fie fchon von mehr
als einer Torbeit abgehalten, von mehr als einer Kleinen
Unart geheilt. Gewiß! Er Hatte wieder einmal jo
recht von Herzen übertrieben, um fie für ihre Neugierde
zu Strafen! Es mochte ja das eine oder das andere
an ihr nicht volllommen fein — aber, du lieber Himmel,
da konnte er auch lange fuchen, bi3 er auf eine „Boll
kommenheit“ fäme! Nein, fo viele Fehler, jo abſcheu—
liche Fehler habe fie nicht, Fönne fie nicht Haben! Dann
wäre fie ja geradezu eine Vogelfchesche! — Man dente
Von Anna Vogel v. Spielberg. 175
nur, fie, die einjt fo Bielummorbene, eine Bogelfcheuche!
Lächerlich! Hatte fie von früheren Anbetern nicht hun-
dertmal hören müſſen, daß ihr Geficht von klaſſiſchem
Schnitte fei, daß ihre Augen, wahre Nixenaugen, jeder:
mann rettungslos betörten, und daß ihr die paar
Sommerſproſſen geradezu entzüdend ftänden! Und er,
der Schönheitsfchmärmer, machte fie zu einer Qogel-
ſcheuche! Das war zum Zotlachen.
Damit befchwichtigte fie fih — für heute. Aber
feine Kritik bejchäftigte von nun ab raftlog ihren Geift.
Sie wollte prüfen, ob er wirklich ein verläßlicher Kri—⸗
tiler wäre. |
Und fie begann zu prüfen.
Sie: forfchte unermüdlich im Spiegel, fie verglich
fich in Gejellichaft mit anderen Frauen, mit anerfannt
ſchönen Frauen, jo lange, bis fie fich der Einficht nicht
verfchließen Tonnte, daß ihr Gatte im Rechte fei.
Nicht Schön! Nicht ſchön!
Das aber war das Bitterfte für fie, das Bitterfte
für jedes Weib, daS liebt und dem geliebten Manne
gefallen will. Und das war ihr verfagt! Piel bitterer,
viel härter, viel erbarmung3lofer traf es fie, als ſelbſt
Mighandlungen fie hätten treffen können. Ihr Herz
erlitt den Todesſtoß bei der Erkenntnis, daß fie nicht
im ftande fei, Gefallen zu erregen, dem geliebten Manne
durch ihren bloßen Anblid Genuß zu bereiten.
Soll aber nicht der Liebe Auge blind fein gegen
alle Schönheit3mängel im Antlig der Geliebten? Und
macht die Liebe, die fie bejeelt, nicht ihr Angejicht
durchgeiſtigt, fie zu einem idealen Schönheitsbilde?
Sehen müſſen, wie der feine Ajthetifer im ftillen jtets
Vergleiche anftellte zwijchen ihr und Frauen, die be-
wunderte Schönheiten waren, und dann in feinen Augen
lefen zu müſſen: „Schade, jammerfchade, daß du nicht
176 Erlenne dich ſelbſt!
ſchön bijt wie diefe hier!“ — Arme, verblendete Frau!
E3 kam ihr nicht in den Sinn, daß ihr Gatte Wich-
tigeres zu denken, Beſſeres zu tun hatte, al3 derlei
müßige Gedanken und Vergleiche anzuftellen. Sie aber
redete fich das immer wieder ein, verlor das Selbft-
bewußtfein und den inneren Halt, erfüllt von einer
jammervollen Überzeugung, er liebe fie nicht, könne fie
nicht lieben, und nur er mochte wiljen, wie ſchwer ihm
— dem Schönheitsdurftigen — täglich und ftündlich
der Anblid feiner „unfchönen“ Fran falle, wenn er aud)
Großmut und GSelbftverleugnung genug befaß, um ihr
das zu verbergen.
Sie meinte tage:, wochenlang, weinte viele bittere
Tränen — im Verborgenen, aber oft auch vor ihm.
Sie fühlte ſich fo hilflos in ihrem Sammer, daß fie
ihn nicht verbergen konnte, und darüber wieder jo zer:
wühlt von Scham, daß fie ſich am liebjten in tiefjte
Einfamteit geflüchtet hätte.
hm wurde das unangenehm. Er fand es zwar
ſehr begreiflich, daß fie für ihn ſchön fein wollte, er hätte
e3 fogar begreiflich gefunden, wenn fie es auch für die
Welt hätte fein wollen, allein daß dies ihre größte
Sorge war, diefe Bejchränttheit ihrer Auffaffung der
Liebe ärgerte ihn. Konnte fie ihm diefelbe durch nichts
anderes bemeifen, als nur durch ihr „für ihn fehön
fein wollen”? Warum nicht lieber durch die Frage:
„Bilt du mit mir als Hausfrau und Lebensgefährtin
zufrieden? Wenn nicht, was muß ich tun, um dich
zufrieden zu machen?” — Daß e3 fie mit Stolz er-
füllte, die Gattin eines Gelehrten, eines namhaften
Hochſchulprofeſſors zu fein, das zu verbergen gab fie ſich
feine Mühe, aber durfte fie deshalb nie den Gedanten -
auflommen lafjen, daß ein Mann in folcher Stellung auch
Sorgen — Schwere Sorgen jeder Art — haben könne?
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 177
DDr DEI De EDDIE De Dede Dre Dre Dr ED Dee De eD
Wußte fie nicht, daB Gattenliebe durch mehr als
bloßes Gefallen erhalten und genährt werden müjle?
War es ihr unbelannt, daß jeder Mann, gäbe er fich
auch noch fo ſtolz, oft Stunden arger Riedergefchlagen-
heit, böjen Zweifel an fich ſelbſt hat und daß da feines
Freundes Zuspruch jo beilfam ift wie der Troſt aus
Franenmund? Und hatte fie ihn je gebeten: „Sag, was
dich kümmert; ich will dich tröften, wenn ich dir fchon
nicht helfen kann?“ — Nichts von alledem! Gtet3 nur
diefelbe langmeilige, läppiſche Frage, ftet3 nur dasfelbe
törichte Verlangen, gelobt, verwöhnt, bewundert zu
werden. Das mußte ihn endlich erbittern.
Und es erbitterte ihn immer mehr. Das Haus, die
Gattin wurden ihm verleidet. Ermüdet und abgejpannt
von ſchwerer Geiltesarbeit, gedrückt von Sorgen aller
Art, fühlte er fich bald nur wohl, wenn jeine gejell-
Ichaftlichen Beziehungen ihn mit Frauen zufammen-
führten, die nicht bloß fehöner, ſondern auch liebens—
mwürdiger waren al3 die feine, und — mie er bemerfen
mußte — auch liebensmerter!
Das blieb ihr nicht lange verborgen. Krank im
Gemüte lebte Marie dahin in tiefiter, troftlofer Ver:
einfamung — fich jelbft zur Lait.
Da hatte ihr nun — nad) Jahren — das Schidjal
einen Mann aufs neue entgegengeführt, des Gatten
Freund, den fte einft als Mädchen angejchmwärmt und
von dem die Sage ging, er habe auffallende Erfolge
bei den Frauen. |
Und diefer Mann, bedeutend jünger als ihr Gatte,
ließ fie abermal3 zu dem verhängnispollen Wahne
fommen, fie wäre ſchön. Das hatten ihr, feit fie ver:
mählt, viele Schmeichler ſchon gefagt, nur der nicht, von
dem fie es einzig und allein Hatte hören wollen. Jene
1904. XIII, 12
178 Erkenne dich felbft!
DrEDRDERED ED DE DE Dr ED — — EDDIE DD
anderen aber — was waren das für Männer gemefen?
Phrafenhelden! Allein diefer da, de3 Gatten Freund,
ernft und gemeljen, war nichts weniger als ein Mann
banaler Galanterie und fonventioneller Zügen. Daher
erfchien ihr fein Urteil über fie glaubwürdig. ALS fie
zum erften Male aus feinem Munde gehört: „Sie find
in der Tat eine jchöne Frau!” — da mar es ihr bei-
nahe zum Weinen gemefen vor tiefer, freudiger Be:
wegung. Er fand fie aljo ſchön! Schön troß all dem
jtilen Elend, da3 fie durchlebt und deſſen Spuren auf
ihrem Antliß fichtbar waren, jener gleichjam verfteinerte
Ausdrud tiefiter Kränkung, herbſten Grames!
Er fand fie nicht nur ſchön, er liebte fie auch — Stumm,
aber ſehnſuchtskrank. So oft ihr Blid den feinen traf,
erfannte fie darin ein Etwas, welches bejagte, daß diejer
falte, blafierte Mann fich jtumm und till verzehrte .
in einer unbezähmbaren Leidenschaft, einem Etwas, das
bejagte, daß jetzt fo manches, das ihm früher wichtig
war, für ihn au Wert verloren habe, weil fie, nur fie
allein al feine Sinne und Gedanten bejchäftige.. Das
irre Feuer feines fonft ftahlharten Blides, das ſprach
von einer Seele, in die Verftörung eingezogen war und
— Zerſtörungsluſt. |
Unglüdlich und haltlos, wie jede von ihrem Gatten
vernachläffigte Frau, erfüllte fie diefe ftumme Liebe an:
fangs mit einer Art wehmütiger Genugtuung und trojt-
reicher Zuverficht, doch fpäter enıpfand fie feinen anderen
als den wilden Wunfch, von diefem ſeltſamen Mann
offenkundig geliebt zu werden.
Endlich aber kam die Zeit, wo fie e3 nicht mehr
wagte, fi) zu belügen, wo fie fich vol Scham und
Schreden eingejtand, daß, wenn er ſpräche, fie ihm
willen und befinnungslos verfallen wäre.
Sn Ddüfterer, gramerfüllter Einſamkeit raunte ihr
Bon Anna Vogel v. Spielberg. 179
DD ADDED DE DE DE DE DD Dre D Dre DD DreD
bejtändig etwas zu: Gei feine Törin! Lebe, folang
du jung bift! Leben aber heißt lieben und genießen....
Dein Mann genießt auch. Er genießt das Leben ohne
dich und ohne Gewiſſensbiſſe. Er läßt ſich's wohl fein,
dein Gemahl, wohl in dem Bewußtfein, er jei ein Mann
und diefen alles erlaubt, du aber Frau, und diejer jei
nicht3 erlaubt, nicht einmal das Recht zu Tlagen, daß
du von ihm vernachläffigt und verſchmäht bift. Und
du — du läſſeſt deiner lachen, al3 der bintangejegten,
der verſchmähten Frau!
Frau fein! Weißt du, was das heißt? Das heißt
das elendeite aller Lebeweſen fein und um fo elender,
je gewiſſenhafter fie it. Denn dann tft jie geboren
und gejchaffen nur zum Leiden und zum Entfagen —
entfleivet aller Rechte, gezwungen zu allen Pflichten!
Giehft du es nicht an dir? Und du empörſt dich nicht?
Das ift nicht Jugend — das iſt Feigheit! Zeig, daß
du Mut haft — Mut und Rraft! Nicht nur zum
Leiden — den haft du bewiejen — auch Mut zur Tat.
Haft du denn das Recht, den anderen, der nicht fchlechter
und geringer ift als dein Mann, der dich verfehmäht —
haft du das Recht, ihn elend zu machen? — —
Sie blidten beide oft falt, wie der Wahnfinn blicdt
— verjtört, zerfahren, überreizt von quälenden Ge—
danten. Und beiden war e3 oft, al3 fühlten fie das
Nahen jenes Furchtbaren, das Menfchengeift vernichtet
bis auf den Grund.
Einmal, al3 er von ihr ging, da blieb fie auf dem
Diwan figen und ſah ihm nach mit einem dunklen
Blide. Doch al3 die Tür hinter ihm ins Schloß fiel,
da riß fie eine unfichtbare Hand empor und zerrte fie
hinaus — ihm nach! Sm dritten Zimmer bolte fic
ihn ein, alS er foeben die Vorzimmertür öffnen wollte.
Mit Frampfhaften Drude legte fie die Hand auf feinen
180 Erfenne dich jelbjt!
— ö DD ED DD ED
Arm und fah ihn an mit flammendem, wenn aud
unausgefprochenem Gebieten: „Sprich! Dir gebührt’3,
zu ſprechen!“
hm war es, al3 träfe ihn ein Schlag aufs Herz,
der feinen ganzen Körper erfchütterte. Doch bald ge-
faßt, fragte er — ruhig, mie er meinte, ‚in Wahrheit
aber bebte feine Stimme und feine Lippen zucdten —
mühſam beherrfeht:. „Was haben Sie mir zu jagen?“
„Daß e3 mir unmöglich ift, noch länger ſolche Dualen
zu ertragen!” wollte fie hinausfchreien, doch, im Inner—⸗
jten erjchüttert, ließ fie die Arme fchlaff herabſinken
und fagte tonlos und gebrochen: „Leben Sie mohl!
Und — kommen Sie nicht wieder!”
Sie wandte fich dann und ging mit ſchweren Glie-
dern auf ihr Zimmer. Dort warf fie fi) auf die Kniee
und weinte in tiefſter Geelenqual.
Er .aber ging hinaus. In wildem Unmut warf er
die Tür ins Schloß, daß es dröhnte, und diefes Ge-
ränfch verjchlang den gedämpften, heiferen Zornesſchrei,
der feinen bleichen Lippen entfuhr.
Wenige Tage fpäter trat er eine Erholungsreife an.
Ihn trieb es fort, damit er — fern von ihr — fie ver:
geſſe. Dem Freunde war er dies fehuldig und fich
felbft, denn er war nicht der Mann, der eines Weibes
wegen die Pflichten gegen den Freund und gegen fich
felbft vergeſſen wollte.
Ohne Abfchied war er fort. In menigen Zeilen
nur hatte er den Freund von feiner Abreife benach:
richtigt und ihn gebeten, daß ex ihn bei feiner Frau ent—⸗
fehuldige, e3 fer ihm nicht möglich gemejen, fich perjün-
lich zu verabjchieden. Wie lange er fortbleiben werde,
hatte er nicht gefchrieben, hatte überhaupt nicht ges
jchrieben während all der Zeit, die er in fremden Län—
dern verbracht.
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 181
IDEE DrrE DE Dr ED ED ED ED DD ED ED ED ED EED ED ED
Nun weilte er wieder daheim, und heute hatte ihn
eine nicht zu bezähmende Sehnjucht zu dem Freunde
geführt. Zu ihm allein! Der Frau desjelben war er
mit ausgefuchter, Fühler Höflichkeit entgegengetreten.
Dem Freunde jedoch hatte er eine aufjallende Herzlich:
feit bewiefen, gerade fo, al3 wollte ex ihm heimlich ein
großes Unrecht, das er ihm allerdings nicht angetan,
Doch zugedacht hatte, abbitten. Er hatte beinahe nur
mit ihm gefprochen; doch wenn er bin und wieder —
um der Form zu genügen — an dejjen Gattin einige
Worte gerichtet und ihr dabei notgedrungen in3 Auge
geblictt, war das fo fremd, fo kalt gejchehen, jo ohne
jedes Intereſſe, ala fähe er fie zum erſten Male, als
wüßte er nicht einmal mehr, wie elend er Durch fie ge=
weſen. Sie war ihm fremd geworden, fremd und gleich»
gültig. Ä
Und auch bei ihr mar alle vorbei — vorbei!
Zu Ende war der böfe, wilde Traum, der fie viele
Monden lang gequält. Damals hatte fie von Tag zu
Tag feiner geharrt, gewartet bi3 zur völligen Erfchöp-
fung — damals Hatte fie im ftillen nach ihm gemeint,
nach ihm gerufen und ihm gezürnt, daß ihn die Sehn-
fucht nicht zurüdtrieb.
Doch unmerklich, aber ftetig hatte fie fich Daran ge-
mwöhnt, feinen Anblid zu entbehren. Stunden, Tage,
endlich auch Wochen waren vergangen, ohne daß fie
feiner gedacht, und dies auch immer ruhiger und frem-
der, bis ihr endlich jo zu Mute geworden, al3 hätte
fie da8 alles nur geträumt, als wäre es ein Fieber:
wahn geweſen. Da hatte fie fich auch gefragt: „Iſt's
wahr, daß ich ihn. je geliebt habe?“
Und heute — bei Tiſche — da hatte fie die beiden
Freunde insgeheim beobachtet und verglichen. Dabei
war ihr etwas Seltjames aufgefallen. Warum begriff
182 Erkenne dich felbit!
DDr Dre Dee Dre DreDr-eDreDreEDriDreD
fie nur fo leicht, daß fie den Gatten geliebt, warum
hingegen ſchien es ihr ganz unbegreiflich, daß fie feinen
Freund geliebt hatte? Was mar denn dieje3 dunkle,
unbemwußte Etwas, da3 fich hier wunderte, dort nicht?
Was war es auch, das fie hier — troß allem inneren
Groll, troß dem Bewußtjein, daß man ihr ein ſchweres
“ Unrecht zugefügt — die beiderjeitige Entfremdung fo
fchmerzlich fühlen ließ, während ihr die mit jenem anderen
beinahe als Erlöſung fchien? War das die fcheintot
eingejargte, doch nie gejtorbene Liebe zu dem Gatten?
Die wahre Liebe, die alles trägt und duldet, die feinen
Anfang und fein Ende hat? Wenn e3 das war, warum
fiel e3 ihr aber dann — bei allem inneren Drängen —
jo jchwer, den erjten Schritt zur Annäherung zu machen ?
Warum? Weil fie es nicht tun durfte, weil fie zu
tief beleidigt worden war!
So dachte fie in nächtlich jtiller Stunde meiter,
dachte an eine lange, bange, öde, trojtlos öde Yukunft,
an viele Taufende von Tagen, die einer wie der andere
verftreichen würden — fo langfam, fo entfeßlich lang—
fam — und feiner unter allen würde ihr ein wenn
auch noch jo kleines Glück zu bringen haben, wohl aber
würden alle von ihr ftet3 dasjelbe fordern: Erfüllung
ihrer Pflicht, ihrer Lleinlichen Verpflichtungen der Welt,
dem Haufe gegenüber! So würde Tag um Tag dahin:
ziehen im alten, faden, leeren Einerlei, und langſam,
aber ftetig und unaufbaltbar ihr Körper altern und
ihr Geift ermüden, bis ihre Lippen, die das Lachen,
das vom Herzen kommt, fehon längft verlernt, für alle
Zeit verfiummen und ihre fehnjuchtsmüden Augen fich
zum legten Scjlafe fchliegen würden. Nach einem
freudenarmen Taſein auf Erden — eine AnDentnue,
unfaßbare Emigteit!
Ein tiefer, tiefer Schauder vor dem Elend, da3
| Bon Anna Vogel v. Spielberg. 183
I Dr DD Dr Dre Dr ED DD DE DET
Menfchenleben heißt und Frauenlos, ergriff fie. Jetzt
ſterben können, fterben mit ihrem wunden, weltmüden
Herzen — ſterben im Frühling der Natur, beim wunder⸗
ſamen Zauberſcheine des vollen Nachtgeſtirns, jetzt dieſe
Welt verlaſſen dürfen, da ſie ſo ſchön war, ſo voll
Mondesglanz und Blumenduft — das wäre Glück!
Glück?
Hatte denn ſie im Leben einen Menſchen beglückt?
Hatte ſie es auch nur verſucht, zu beglücken?
Betroffen fuhr ſie empor. Wer hatte das geſagt?
Woher dieſe Stimme?
Mit entſetztem Staunen erkannte fie dieſelbe. Aber
war dem in der Tat ſo? Hatte ſie wirklich ſtets nur
das eigene Glück geſucht, ſtets nur an den eigenen
Schmerz gedacht und nie daran, daß nicht ſie allein
unglücklich wäre, daß vielmehr neben ihr — einſam,
glücklos und unbefriedigt — ein Weſen lebt, welches
gleichfalls Anſpruch habe auf Glück? Nur durch einige
Türen getrennt war dieſer Mann, dem ſie ſo unendlich
viel zu verdanken hatte, ehrenwerten Namen, angeſehene
Stellung und ſorgloſe Exiſtenz. Aber gedankenlos hatte
fie das alles hingenommen und ihm gelohnt mit alber-
nen Launen und törichten Troß!
Als wollte fie Schuß juchen vor dem Ankläger in
ihrem Innern, blidte fie hilflos, angfterfüllt zum Him—
mel. Vom nahen Kirchturm fchlug es Mitternacht,
und jeder dieſer dumpfen Echläge vermehrte ihre Angft,
erfüllte ihre Phantafie mit unheimlichen Vorftellungen.
Der volle Mond ftand im Zenith. Er jchien troß
feines intenjiven Silberfcheines jo blaß, fo fahl wie
daS blutloje Antliß einer Leiche, und neben feiner großen
Scheibe verblichen al die Kleinen Eterne, fo daß es
ichien, als leuchte er allein in der Unendlichkeit. So
Ihön er ihr gejchienen, bejonders als er, viel größer
184 Erfenne dich ſelbſt!
a un Fl 7 un? I me? I un FI um I me? U en? ⏑ me? m? u U ne T ml Ze 7 ef
noch, in vötlichgoldenem Scheine am Horizont auf-
geftiegen war — ein guter Freund, ein ZTröfter und
DVertrauter — fo fchredhaft und furchterregend ſchien
er ihr nun wie ein tiefbeleidigter, in feinem Zorn un:
erbittlich jtarrer Gott. Und Feine mitleidige Wolte Fam,
ihr ihn zu verhüllen!
Ein unheimliche Graufen befchlich fie — ein bei-
jpiellojes Angftgefühl. Wohin nur fliehen vor dieſem
Bilde verfteinerter Erbarmungslofigkeit? Wohin aus
diefem unheimlichen Raunen, wo ſich's in allen Winkeln
gejpenfterhaft zu regen fchien? Wohin aus diefer fchuß-
und troftlofen Bereinfamung?
Sie lief, von wahnfinniger Angft beflügelt, hinaus.
Sie lief durch alle Zimmer, riß endlich die legte Tür
auf und Stand nun, tief aufatmend, doch zitternd ftill.
Sie war in Sicherheit! Auch bier fehien hell der Mond
herein, doch fühlte fie fein Bangen mehr. Ste war
ja nicht allein.
Das Bett war unberührt. Doch auf dem Diwan
lag er, zu dem es fie beinahe unbewußt getrieben, jo
wie ein furchtbefangenes Kind zur Mutter flüchtet, meil
es fich bier befchüßt, geborgen weiß.
Bei dem Offnen der Tür war er aufgefahren.
„Warum fehläafjt du noch nicht?” fragte er heftig.
„Ich Tann nicht,” entgegnete fie eingejchüchtert.
Die Hände auf der Bruft gefaltet, ftand fie an der
Tür, als wagte jie es nicht, näher zu kommen.
„Du kannſt nicht fchlafen? — Sa, das lange Auf:
bleiben tut niemals gut — am wenigſten aufgeregten
PBerfonen!” fagte ex fchroff. „Merk dir's doch endlich
und geh von nun an früher zu Bett,“ ſetzte er ruhiger
hinzu, indem er fich wieder auf den Diman legte, in der
Meinung, fie werde jich nun entfernen. |
Sie aber rührte fich nicht vom Flecke. Ihre Augen
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 185
DD DDr ED ED Der DDr DDr ED ED
bafteten ftarr auf feinem vom Mond hell bejchienenen
Gefichte. Was fie da ſah, erjcehütterte fie. Bei Tage
war e3 ihr nicht aufgefallen, da hielten Arbeit, Pflicht
und Wille ihn aufrecht. Doch jest, im bleichen Lichte
der ftillen Mitternacht, fand fie ihn um viele Jahre
gealtert, fo blaß und fahl, jo abgefpannt und fchlaff,
beinahe verfallen jah er aus. Es fiel ihr plöglich
ſchwer aufs Herz, daß fie ihn nie gefragt: „Arbeiteſt
du nicht zu viel? Gönnſt du dir nicht zu wenig Ruhe?
Leideſt du nicht an deinem Gemüte oder an deinem
Körper?” BZermalmend Iegte fich ihr da3 Bemußtfein
ihrer Selbjtfucht auf die Bruft. DO, daß fie gar jo elend,
fo erbärmlich gewefen und immer nur an fich gedacht!
„Was willſt du eigentlich?” fragte er nach einer
Pauſe in müdem Tone.
„Nichts, Paul,” ermwiderte fie leife und ſtockend.
„Mir iſt's nur heute fo unheimlich in meinem Zimmer,
To bange —” Und Elagend, Halb unbemußt, febte fie
hinzu: „Ich bin zu viel allein.”
Die tränenmeiche Stimme, das Furchtſame und
Mehrlofe in dem Wefen der fonjt jo herben Frau rührte
ihn wider Willen. Dennoch fagte er achjelzudend:
„Wer bat es jo gewollt? übrigens — leg dich nur
zu Bett, das ilt das Klügfte, was du tun kannſt.“
Gleich einem ausgefcholtenen Kinde wandte fie fich
mit einem fchmerzlichen Blid ab. Sie fand nicht den
Mut, das Drängen ihres Herzens in Worte zu kleiden,
und e3 drängte fie, ihm etwas Angenehmes und Liebes
zu jagen, mehr als das — ihn um Berzeihung zu bitten.
Schon hatte fie die Hand auf den Drüder gelegt, um
jeiner Weifung nachzuloınmen, aber da brach es fich
Bahn, unaufhaltfam, aus tiefjter Seele. Sie lehnte
beide Arme an die Tür, grub ihr Geficht Hinein und
meinte bitterlich.
186 Erfenne dich felbit!
ö— ED DEI DD ED ED ne Dre re Dre
„Was fol das nun wieder?” rief er unmillig.
„Wenn du fchon fentimental fein mußt, fo fei es für
dich, mir fehlt der Sinn dafür!”
Sie meinte fort.
Endlich fprang er erzürnt auf und kam auf fie zu.
„Wenn ihr nur mwüßtet, wie widermärtig ung Männern
eure Tränen find! Sei ftill!" Er ftampfte dabei mit
dem Fuße.
Sie aber konnte fich nicht beruhigen. Symmer reicher
floffen ihre Tränen, immer heftiger fchluchzte fie. Ihr
Körper wand fich wie im Krampfe.
Er trat vollends zu ihr und führte fie zum Diman.
Dort ſank fie wie gebrochen nieder. Ex fehritt durch
da3 Zimmer und pfiff leife vor fi bin — bei ihm
das Zeichen äußerfier Erregtheit. Ein paarmal unter:
brach er fich, blicdte Hart und finjter auf das gequälte
Weib.
Endlich wurde fie rubig. Stil und ftumm lag fie
eine Weile da. Nur ihr Körper bebte unaufbörlich
unter der Nachwirkung der Schmerzenstränen: Dann
wollte fie fich aufrichten, doch kraftlos ſank fie zurüd.
„Ich Tann nicht!” ftammelte fie. „Ich bin jo ſchwach,
jo elend —“
Schon früher hatte es ihn gedrängt, durch fanftere
Worte ihre Tränen zu Stillen. Nun Efonnte er nicht
mehr au fich halten, wie ja der Mann überhaupt der
Frau gegenüber, bejonderd wenn er fie jo hilflos ſieht,
ftet3 weichmütig und verſöhnlich ift. Er ließ ſich auf
den: nächitftehenden Stuhle nieder und legte feine fühle
Hand auf Marien3 heiße Stirne.
„Was haft du von mir gewollt?” fragte er fanft.
„Warum bit du gefommen?*
„Das hab’ ich ja Schon gefagt,“ murmelte fie faft
unhörbar. „Ich hatte Furcht, ich fühlte mich jo elend
Bon Anna Vogel v. Spielberg. 187
um DIDI DD EDDIE DE DDr De Dre
und verlafjen, jo gottverlaffen —“ Ihre Stimme brach
in unnennbarem Web. |
„And deshalb kamſt du zu mir?“
„Ja,“ hauchte fie. „Und noch wegen etwas anderem.”
„Willſt du mir's jagen?”
Sie verbarg das Geficht in den beiden Händen.
„3% ſchäme mich!“
„Sp arg ift es?“ Das war der. mildlächelnde Ton
des "Verföhnten Vaters dem Kinde gegenüber, das Ein-
tehr hält.
Sie ſchwieg. Mit einem Male aber bob fie fich
empor und fah ihm ernft ins Auge. „Ich will dir's
fagen, Baul. ... Ich hielt heute Einkehr in mich felbft
und erkannte, daß ich verſtockt und ungerecht und voll
GSelbitfucht gemwejen bin. Doch wenn es möglich wäre,
wenn du —“ Gie jchlug die Augen nieder, weil fie
abermals von Tränen dunkel wurden.
„Wenn ich?” fragte er mit Intereſſe.
„Wenn du mir’3 möglich machteft, nein, wenn du
e3 mir erlauben mwollteft, daß ich an dir fo manches
gutmachen dürfte! — D Paul!” unterbrach fie fich
mit ſchmerzlicher Innigkeit. „Baul! Ob du es glaubft,
ob nicht, ich Liebe dich ja — 0, fo fehr — mehr als
mein Leben!” Und mit fliegenden Atem, mit zitternder
Stimme und zerriffenem Tone fuhr fie fort: „Ya, Baul,
ich liebe dich, mit jener Liebe, welche durch nichts getötet
werden kann, durch Fein von div mir zugefügtes Leid,
durch feine Kränkung, durch feinen Schmerz! Die Liebe
glüht und blüht dennoch fort, wenn jte auch feine andere
Nahrung Hat als Schmerzen, die im ftillen bluten,
doch ihrem Keime ewig neue Kraft zuführen. ... Und
nun,” fie ſprach es leife und mit zudenden Lippen, „nun
mach mit mir, was du mwillft.... Gutes hab’ ich nicht
verdient,” murmelte fie erjticht, aber — fei barmherzig!”
188 Erkenne dich felbft!
DD EDITED EDrEDrEDrED ED ED ED MID ED AED ED ED ED
Er war ſehr ernjt geworden und blieb eine Weile
ftil. „Und das, Marie, das alles ift dir heute Klar
geworden? Gerade heute?” fragte er dann leife, ohne
feine Bewegung zu verbergen.
„sa, Paul, heute!” entgegnete fie mit blutüberfüllten
Wangen. Sie fämpfte mit fich felbft. „Ich will dir
alles jagen, Paul!” ſetzte jie jtodend hinzu. „Ich habe
deinen Freund geliebt — oder zu lieben geglaubt —“
„Meinst du, ich hätt’ es nicht bemerkt?“ unterbrach
er fie milde. „Ich ſchwieg, weil ich meines Freundes
fiher war. Er ift feiner von jenen, die fich über alle
Bedenken hinwegſetzen. Die Frau gilt ihm zwar wenig,
aber der Mann, der Freund gilt ihm alles. Es gibt
Männer, die euch Frauen ehren wie ihresgleichen, aber
es gibt auch ſolche — und zu dieſen zählt mein Freund
— die in euch nur ein Spielzeug fehen, mit dem man
macht, was man will.“
„Und du? Zu welchen gehörſt du?” fragte fie be
Elommen.
„ge nachdem,” war feine Antwort. „Die Frau,
wie ich fie will, ift die Frau, die alles, was gut ift,
jein kann: jetzt ein liebes, heiteres, demutsvolles Kind,
das mich erfreut, erheitert, dann ein mitempfindendes,
felbftlofes Weib, das mich in böfen, kummervollen
Stunden erhebt und tröftet, endlich eine Eluge, ernite
Freundin, die mich verjteht, der ich vertrauen kann wie
einem Freunde, wie mir ſelbſt. Eine folche Frau achte
ich dem Manne gleich, ja vielleicht höher als ihn. Die
anderen aber, die Liebe nur fo lange fühlen können,
als ihre Eitelkeit nicht verlegt wird, Weiber, die jeder
Mann mit Schmeicheleien gewinnen Tann, die bloß
reizen, gefallen und genießen wollen — dieje find auch
mir nur das, mozu fie fich jelbjt machen: eine
Sache, die man wegwirft, wenn man ihrer ſatt ift.“
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 189
DDr DDr DDr Dre Dre ⏑ DDr Dre Der De De DereD
Marie blidte ſtarr vor fih hin. Was er gejagt
— hatte es nicht auf fie gepaßt?
Don einer heißen Schamempfindung übermältigt,
fıhlug fie die Hände vor das Geficht, und tonlos rang
es fich von ihren Lippen: „Zu diefen zählte auch ich,
denn Schmeicheleien betörten mich! Nach ihnen geizte
ih, für fie jchien ich dich verraten zu dürfen.” Eine
Weile brütete fie vor fich hin. Plöglich rief fie leiden-
fhaftlid aus: „Doch nein — nein! Ich habe dieſen
anderen nicht geliebt! Mein Herz nicht! Das Bing
an dir — an dir allein! Hätt' ich mich fonft im letzten
AHugenblid von dem Berfucher Losgeriffen? Nein, ich
gehöre nicht zu ihnen, glaub es mir, Paul!”
„Das weiß ich,” jagte er voll Überzeugung. „In
deinem Befige war ich auch glücklich — o, jo glüdlich
— folange du liebenswürdig und einfichtsvoll warft.
Da vermißte ich die Schönheit nicht. Doch als du das
Gegenteil murdeft, verſchwand mein Gefallen an dir.
Ihr Frauen wißt nicht, wie wenig ihr oft bedürft, um
zu gefallen, doch auch wie wenig nötig ift, daß ihr eud)
uns verleidet.”
„Du Haft mich wohl jehr gehaßt?“ fragte fie.
„Gehaßt, Kind? Nein, du wart mir nur unangenehm
geworden.” |
„Halt du die Abficht gehabt, dich von mir zu trennen,
Paul?”
„Manchmal hab’ ich wohl daran gedacht.”
„Und warum haft du e3 unterlajjen?“
„Barum? Weil du deine Pflichten als Hausfrau,
troß allem, was un3 trennte, genau erfüllteft, und dann
— ich weiß e3 felbit nicht, warum. Vielleicht deshalb,
weil ich dich vordem zu fehr geliebt, und die Erinne—
rung daran mir vermehrte, dich in die Lage einer ge-
fehiedenen Frau zu bringen, allen Stürmen und Fähr—
190 Erkenne dich felbjt!
DI DD DDr Dre DDr Dre DD De DD Dee DreD
nijfen des Lebens preisgegeben, verdächtigt von der
Melt, verfucht von Böſem.“
„Und Haft du nie gehofjt, gemwünfcht, e3 möge
zwifchen uns bejjer, ſchöner werden?“ fragte fie leife.
„Sehofft wohl nidyt, dazu war id) zu wenig Optis
mijt. Jedoch gewünſcht hab’ ich es oft — oft. Es iſt
doch bitter, zu mwiljen, daß man an ein Wefen gebunden
ift, mwelche8 uns fremd, ja feindfelig gegenüberfteht.
Man kann fich feiner auf gefeßlichenm Wege zwar ent-
ledigen, Doch die Erinnerung daran wird uns jtet3
verftimmen. Und — jage felbit — gibt es etwas
Schöneres als zwei verjühnte Feinde?“
„Du fragit noch?“ rief fie und fchlang die Arme
um feinen Hal3. |
Er 308 fie nicht an fih. Er hatte fie noch etwas
zu fragen.
Und er fragte mit verftohlenem Lächeln: „Wirjt du
mich wieder quälen mit deinen Fragen, ob du ſchön
bitte Wirt du Dich wieder von mir wenden, wenn
ich Div fage, du biſt's nicht?“
Beihämt im Innerſten verbarg fie ihr glühendes
Geficht an feiner Bruft und murmelte: „Mußt du fo
graufam fein, mic) mit diefer Frage an meine erbärm-
liche Kleinlichleit zu erinnern?“
„sa, Kind, das mußte fein!” erwiderte er.
„Mir aber bat es weh getan, Paul!”
„Glaubſt du, mir war es angenehm, wenn du mich
früher immer zwangſt, dir eine bittere Wahrheit zu
Tagen?“
Gie ſchwieg. Er hörte nur, wie ſchwer der Atem
fiy ihrer Bruft entrang. Er beugte fein Geficht zu
ihr hinab und fragte leife, unterdrüdt: „Kann ich jeßt
an dich glauben, wie ich früher an dich geglaubt?
Wirſt du mich nicht wieder enttäufchen?“ :
Bon Anna Bogel v. Spielberg. 191
DD Der ED Dr ED EI DDr Dre DDr
„Baul, o Paul!” flehte fie mit erſtickter Stimme.
„Schone mich!“
Er ſchlang leidenschaftlich fehnend feine Arme um
ihre Schultern und küßte mit heißen Lippen ihren Mund.
„Mein liebes Weib!’ flüfterte cr tiefbemwegt.
Da Fam es über fie, wie die Erjehütterung wohl
über einen kommen mag, der, auf Lebenszeit verurteilt,
lange Jahre ſchon eingekerkert, jeder Hoffnung bar,
wieder Menjch fein zu können, fich der Freiheit wieder:
gegeben flieht. Da fühlt er fich durchrüttelt von etwas
Furchtbarem, von dem er nicht zu jagen weiß, iſt's
Schmerz, iſt's Wonne, Leben oder Tod. ... Da fchlang -
fie die Hände um feine Schultern und jubelte und
Schluchzte in einem Atem: „Dein — dein mit jedem
Atemzuge!“
Im Dordseebade.
Zeitgemässe Winke und Ratschläge.
Uon Lothar Brenkendorf.
F
mit 12 Illustrationen. Machdruck verboten.)
Wen die langen, ſonnigen Sommertage kommen
und mit ihnen die Sehnſucht des Städters nach
einer Flucht an das Herz der Natur, jo erhebt ſich
alljährlich aufs neue der nie entjchiedene Streit zwiſchen
den Gebirgsjchwärmern, die nur im Dämmerjchatten
romantifcher Bergmälder oder in der bedrüdenden
Großartigkeit fchroffer Feljenfpigen die höchſte Offen:
barung wahrer Naturjchönheit zu erbliden vermögen,
und den Meeresenthufiaften, die mit der Überzeugung3-
feftigfeit von Fanatitern behaupten, daß der an Leib
und Seele erholungsbedürftige Stadtmenfch nur aus
dem falzigen Ddem der majeftätifchen See Genejung
und Erquickung trinten fönne. In der Regel find die
einen jo wenig zu überzeugen als die anderen,
Aber es läßt fich nicht leugnen, daß der tatjächliche
Erfolg gewöhnlich der leßteren Kategorie von Natur:
freunden recht zu geben jcheint. Wer aus einem See—
bade, zumal aus einem Nordfeebade, zurückkehrt, der
1904.
ATI.
|
|
N
\
Zur Ebbezeit.
194 Im Norvdjeebade.
ODE DD ⏑ ⏑ DA DD ADD ADD AD ADDED
bringt beinahe immer fräftigere Farben und Gejund-
beit jo offenfichtlich auf feinen Wangen mit, dem leuchtet
die gejteigerte oder wiedergejchentte Lebensfreude jo
bell aus den Augen, daß man bei feinem Anblid an
die alte Mär von dem Sungbrunnen erinnert wird,
dejjen wunderwirkende Flut den müde und hinfällig
— —
Yorlesung am Strande.
gewordenen menschlichen Körper von allen Gebrecjen
befreit.
Zwei KRurmittel find e3, deren Zuſammenwirken
dieje faſt immer augenfälligen Erfolge hervorbringt,
und fie jtehen dem Bejucher des Seebades in unerjchöpf:
licher Fülle zur Verfügung. Ihre Anwendung ift mit
teinerlei Unbequemlichfeit verbunden, und das eine von
ihnen, das nach der Anficht mancher ärztlichen Autorität
Bon Lothar Brentendorf. 195
DD AD DD DD ⏑ DAAD DD DD
jogar da3 bei weiten wichtigere ijt, wirkt ohne jedes Zu-
tun des Erholungsbedürftigen fortwährend auf ihn ein.
Diejes unjchägbare Rurmittel iſt die Luft, die wir
am Geejtrande atmen, deren mwürziger Hauch die un:
bedeckten Teile unferes Körpers bräunt und deren be-
i — — ir. *
en Se
Bohe Flut.
lebende, kräftigende Wirkung wir deutlich verjpüren,
wenn mir Gelegenheit haben, ihr für fürzere oder
längere Seit unjeren ganzen Leib unverhüllt preis
zugeben.
Für dieſe bejonderen anregenden und abhärtenden
Eigenfchaften der Seeluft, zumal an den Küften der
Nordjee und auf den diejer Küfte vorgelagerten Inſeln,
196 Im Nordſeebade.
⏑ ⏑ ⏑⏑ ⏑⏑ ⏑⏑⏑—C————— ED
läßt ſich leicht eine Erklärung finden. Sie wirkt auf
die menſchliche Haut und damit auf den geſamten
Organismus zunächſt als ein thermiſches Reizmittel,
indem ſie eine vermehrte Wärmeabgabe bedingt und
den Körper damit zu einer erhöhten Wärmeerzeugung,
alſo zu einer geſteigerten Lebenstätigkeit nötigt. Denn
die Luft über dem Meere und an ſeinen Geſtaden iſt
während der Sommermonate relativ kühl, infolge ihres
hohen Feuchtigkeitsgehalts ein ausgezeichneter Wärme—
leiter und überdies faſt immer ſo ſtark bewegt, daß die
„Durchlüftung“ zu einer ſehr energiſchen und ausgiebigen
wird. So gering auch ſcheinbar der Kraftaufwand ſein
mag, deſſen wir bedürfen, um einem kräftigen Seewinde
Widerſtand zu leiſten, von ſo weſentlichem Einfluß iſt
doch auch dieſer auf den Stoffwechſel innerhalb unſeres
Organismus.
Der von der atmoſphäriſchen Luft über dem Binnen-
lande nur felten erreichte hohe Feuchtigleitsgehalt der
Geeluft, ihre Sättigung mit fein verteiltem Salz
wirkt außerdem ungemein mwohltätig auf die Atmungs-
organe. Er befördert die Schleimabjonderung und
macht jeden Atemzug zu einer wirklichen Erguidung.
Batienten mit chronifchen Katarrhen der Luftmege, mit
Heufieber und Heufchnupfen, Keuchhuften und nicht zu
weit vorgejchrittener Lungentuberkuloſe verfpüren denn
auch zumeift am eheften die heilfame, lindernde Wir-
fung der Geeluft, und ihnen kann während der geeig-
neten Jahreszeit faum ein befjeres Rurmittel empfohlen
werden als der Aufenthalt am Meere.
Der Umftand, daß die Temperatur durchjchnittlich
eine relativ niedrige ift, bedeutet dabei, fofern der Kräfte:
verfall nicht Schon gar zu weit vorgefchritten ift, keine
Gefahr. Man braucht filh an der See nicht vor. Er:
fältungen zu fürchten, es wäre denn, daß man fie Durch
Jm Wellenschlag.
4de1dogogdaageygqatT 420
198 Im Norvdjeebade.
DD AD AD ID AD AD AD AD AD AD AD DD DD —
Leichtfertigteiten geradezu herausfordert, denn fogenannte
Erkältungen werden meift nur durch fchroffen Tempe:
raturmwechjel, wie.er in manchen Gebirgsgegenden zu den
häufigen Erſcheinungen gehört, hervorgebracht, und einer
der mejentlichiten Vorzüge des Seeklimas ift gerade
jeine Gleichmäßigfeit, die. nur geringe Wärmeſchwan—
Bon Lothar Brentendorf. 199
DMDADMDAD ED ED NDAD ID AD AD DAAD ADD DD
tungen und beinahe niemals jähe, unvermittelte Über-
gänge von hohen zu niedrigen Temperaturen aufzumeifen
bat.
Einer der wichtigften und nicht hoch genug zu ver:
Strandpartie bei Abend.
anjchlagenden Vorzüge der Seeluft aber iſt ihre außer:
ordentliche Reinheit — das gänzliche Fehlen aller jchaden-
bringenden Beimifchungen von Staub, Rauch und’ ge:
jundheitsfeindlichen Ausdünſtungen, die im Binnenlande,
und zwar Teineswegs nur im Bannkreis der großen
Städte, die Atmofphäre verunreinigen und vergiften.
Am meiften nähert fich die Seeluft einem Zujtande ab:
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Die Slı
202 Im Nordjechade.
— DDr Dee DD rede Dede Dekra eD
foluter Reinheit natürlid auf den durch breite Meeres:
flächen vom Feftlande getrennten Inſeln, und man
handelt fehr Elug, wenn man diefen bei der Wahl eines
Geebadeortes den Vorzug gibt.
Der zweite wichtige Faktor für die gefundbeitliche
Wirkung einer Seebadekur iſt das Waller. Was das
Meerwaſſer von dem der Flüffe und Binnenfeen unter:
jcheidet, ift in erfter Linie fein Salzgehalt, feine be-
ſtändige ſtarke Bewegung und feine nur verhältnis:
mäßig geringen Schwankungen unteriworfene gleichmäßige
Temperatur. Die erheblich energifchere Wirkung der
Nordjeebäder im Vergleich zu denen in der Oſtſee er-
Härt fich zum Teil aus dem mejentlich größeren Salz
gehalt des erjtigenannten Meeres, noch mehr vielleicht
aber aus dem zumeift viel ftärleren Wellenfchlage, der
als mechanijches Neizmittel auf die Haut des menjch-
lichen Körpers einwirkt und die Tätigkeit derjelben ge:
waltig erhöht. Namentlich da, wo ein flacher, fanft in
das Meer abfallender, jandiger Strand vorhanden ift,
der eine allzu fchwere Brandung verhindert, kommt der
MWellenfchlag in feinem Effelt auf den Organismus
einer gründlichen Mafjage gleich, ift aber zumeift noch
wertvoller und heilkräftiger als dieſe, weil er mit
chemifchen und thermifchen Wirkungen verbunden ijt,
die auch ihrerfeit3 mwefentlich zur Abhärtung und Kräf—
tigung der Nerven beitragen.
Die Wärmeabgabe des Körpers ijt Jelbft bei Fürzefter
Dauer des Bades eine fehr bedeutende, und fie muß
nach phyſiologiſchen Gejegen durch eine erhöhte Wärme:
erzeugung innerhalb des Körpers erjegt werden. Dies
gefchieht vor allem durch eine ausgiebigere Atmung,
durch einen ftärkeren Berbranch an Sauerftoff und eine
vermehrte Ausfcheidung von Kohlenſäure. Außerdem
aber wird durch den energifchen Hautreiz auch die Herz-
Bon Lothar Brenkendorf. 203
DD DAAD ADD RD AD DD ADD D DE re D
tätigfeit nicht unerheblich beeinflußt, und jeder kann
leicht an fich felber feitjtellen, daß unmittelbar nach
Wasserratten.
einem Falten Seebade jein Bulsjchlag langfamer, aber
träftiger iſt alS zuvor.
Bedeutet daS Baden in der See fomit einen viel
energijcheren Eingriff in die Funktionen des Geſamt—
organismus als das Baden in einem Fluſſe oder in
einem Binnengewäſſer, jo_ergibt ſich daraus zugleich
204 Im Norvdjeebade.
ED EDREDF EDDIE DD ED KDD DDr DD DDr DD
die Mahnung, bei der Anwendung eines jo wirkſamen
Mittel3 die gebührende Nüdficht auf die Befchaffenheit,
die Leiltungs- und Widerftandsfähigfeit diefes Organis—
mu3 zu nehmen. Wo ein organifches Leiden vorhanden
ift, follte vor dem Beginn der Seebadefur immer der
Nat eines Arztes eingeholt werden, und gewiſſe Rrant:
beitszuftände, wie ſchwere, unlompenfierbare Herzfehler,
Gehirn: und Rüdenmarksleiden, Neigung zu Blutungen
und dergleichen, würden bei einem Aufenthalt am Meere
eher eine Verſchlimmerung al3 eine Befjerung erfahren.
- Daß man Patienten mit aluten, fieberhaften Erkran—
tungen nicht an die See ſchicken darf, braucht als felbft-
verjtändlich' kaum noch befonder3 hervorgehoben zu
werden.
Aber auch der Erholungfuchende, dejjen Zuftand an
und für fich eine Seebadekur durchaus ratfam er:
feheinen läßt, follte ftetS eine gewiſſe Vorficht beob-
achten, wenn er nicht Gefahr laufen will, durch eigene
Schuld um den gehofften Erfolg zu fommen. Es ift
eine alte, in taufendfältiger Erfahrung bewährte Regel,
daB man unter feinen Umftänden gleich nach der An—
funft mit den Bädern beginnen fol. Gelbft robufte
und widerftandsfähige Perſonen werden gut tun, erft
am zweiten oder dritten Tage ihr erſtes kurzes Bad zu
nehmen. Schwächliche aber follten fich überhaupt erft
durch tagelange Gewöhnung an die Seeluft akklimati—
fieren und dem Strandbade ein oder mehrere warme
GSeebäder voraufgehen lafjen. Das Vermeilen im Waſſer
aber ſoll immer nur von kurzer Dauer fein. Wer feinem
Körper wirklich eine Wohltat erweiſen will, der dehne
felbft bei längerer Gemwöhnung das Seebad niemals
über einen Zeitraum von mehr als zehn Minuten aus.
Unangenehme nervöfe Erfcheinungen wie Mattigfeit,
Appetitverluft und Schlaflofigleit ftellen fich font jehr
Bon Lothar Brenkendorf. 205
IAIDAMDDDAD AD ED AED ED ID ADDED DE Dr ED - ED ED
leicht jtatt der erwarteten Kraftigung ein und find nur
jehwer wieder zu befeitigen. Auch empfiehlt es fich,
bie und da einen Tag mit dem Baden auszufegen, und
wir möchten uns durchaus der von dem erfahrenen Arzt
eines vielbejuchten deutjchen Nordjeebades vertretenen
Meinung anjchließen, daß drei bis fünf Seebäder in
Badekarren.
der Woche am erjprießlichiten für das allgemeine Wohl:
befinden find.
Wenn fich die normale Körperwärme und mit ihr
zugleich eine Empfindung gejteigerten Behagens nicht
unmittelbar nach dem Bade einjtellen, ift mit Sicher:
heit darauf zu fchließen, daß die Konftitution der
energifchen Reizwirkung nicht gewachſen ijt, und in
folchen Fällen kann nicht dringend genug vor weiteren
Berfuchen ohne die Einholung ärztlichen Rates gewarnt
werden.
206 Im Norvdfeebade.
LONMDmDmEDAD DD ED DE DD AD AD A DATA DD —
Im übrigen bedarf es für den Aufenthalt im See—
bade nicht allzuvieler Berhaltungsregeln.
Man vergönne fich einen möglichft ausgiebigen Schlaf
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„ANTRAGS ABGABEN EHE
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Nachmittagskaffee.
von wenigftens neun bis zehn Stunden, Halte fich am
Vormittag wie am Nachmittag ungefähr je drei Stunden
am Strande auf und wähle für daS Bad, jofern man
nicht durch die Nücjicht auf Ebbe und Flut an andere
Tagesſtunden gebunden ijt, die Zeit zwijchen dem erjien
Von Lothar Brenkendorf. 207
en FE en Pa? I m? I m) U m m) I m m? un?
und zweiten Frühſtück. Anftrengende körperliche Lei:
tungen, wie größere Fußtouren nach dem Muſter der
bei einem Gebirgsaufenthalt fo beliebten und zweck—
mäßigen Ausflüge find an der See bejjer zu unter:
Sandfestung.
laffen. Noch weniger aber witrde fich eine lebhafte
geiltige Tätigkeit empfehlen, und nur der wird auf eine
volle Wirkung jeiner Badefur am Meeresgejtade rechnen
dürfen, der fich vom erften bis zum legten Tage einer
möglichit volllommenen Ruhe, einem abjoluten Nicht3-
tun hinzugeben verſteht.
Daß die Malerin ohne Schaden für die Gejundheit
ihr Skizzenbuch, und der Liebhaberphotograph feinen
208 Im Novdfeebade.
RONDRD ADDED AD ADD AD ADD
Apparat mitbringen darf, ift felbjtverjtändlih. Wer
von einem jo unmiderjtehlichen Tätigkeitsdrange bejeelt
it, daß ihm der Genuß des von der brandenden See
dargebotenen majejtätifchen Schauſpiels oder allenfalls
die Lektüre eines guten Buches zur Ausfüllung feiner
Zeit nicht genügen, der möge getroft feine Zuflucht zu
—
Spiel mit den VWogenkämmen.
derartigen leichten und vergnüglichen Beichäftigungen
nehmen. Gine Handarbeit beim Nachmittagstaffee in
der Strandhalle mag allenfall3 erlaubt fein, zumal
wenn fie zehn hübfchen Fingerchen Gelegenheit gibt,
ihre Behendigfeit und Gejchielichleit zu zeigen. Sym
allgemeinen aber follten e3 die Erwachſenen im See—
bade der glüdlichen Jugend nachtun, für die der Aufent-
halt am Meeresgeftade immer einen wahrhaft paradie-
ſiſchen Zuftand bedeutet, und die das ſchwierige Broblen,
Bon Lothar Brentendorf. 209
DDr DDr Dre Dre Dre De DDr De ED De Dre ex
eine Reihe von Tagen im fchönften Nichtstun hinzu⸗
bringen, ftet3 auf3 bejte zu löjen weiß. |
Ob fo ein Häuflein übermütiger Großftadtkinder,
froh, dem fteinernen Hänferlabyrinth für eine Weile
entronnen zu fein, da3 Beispiel der Heinen einheimifchen
Waſſerratten nachahmt und fich die mit leifem Ziſchen
beranrollenden Wellen in Iuftigem Spiel um die nadten
Beinchen plätjchern läßt, ob es in tapferem Kampf
gegen die fteigende Flut die aus Sand gebaute Feitung
fo lange verteidigt, bis auch der Letzte und Mutigſte
die einftürzenden Wälle im Stich laſſen und jich fchleu:
nigft über die Zugbrüde retten muß — immer können
uns unfere feinen Buben und Mädel, denen hier Ge-
ſundheit und Lebensfreude jo hell aus den blanken Augen
ftrablen, als ein Vorbild dienen, wie auch wir uns im
Seebade verhalten jollten, um im vollen Maß zu finden,
was wir am Geftade de3 ewigen Meeres fuchten: Kräf—
tigung und lange nachwirkende Erquidung für Leib und
Seele.
9
1904. XIII. 14
= N—
ee I
MDannigfaltiges.
(Machdruck verboten.)
Dredbels Mikrofkop. — Nachdem im Jahre 1616 in
Holland das einfache, unvolllommene und nur wenig leiſtungs—
fähige Mikroflop erfunden worden war, verbejjerte bald
nachher zu Alkmaar der gelehrte Chemiker und Phyſiker
Kornelius Drebbel (+ 1634), ein jcharffinniger und erfindung$:
reicher Denker, den interejjanten und nüblichen Apparat,
indem er das „zufammengejegte Mikroſkop“ erfand, deſſen
vorzügliche Leijtungsfähigkeit jich alsbald als eine ganz er-
jtaunliche erwies. In einem Tropfen fauligen Wajjers
offenbarte e3 eine bis dahin unbekannte Welt von winzigen
lebenden Gejchöpfen. Drebbel zeigte bereitwilligjt Dies
Wunderbare feinen Freunden und anderen neugierigen oder
wißbegierigen Leuten in Alkmaar. Und auch noch fonjtige
mikroſkopiſche Wunder zeigte er; fo in einem erbjengroßen
Käſeſtückchen eine zahllofe Menge winziger Maden, die darin
jich ihres Daſeins erfreuten. z
Diejes letztere Experiment wäre ihm aber beinahe übel
befommen, denn Allmaar war von jeher ein großer Käſe—
jtapelplaß, wo die von den vielen Käſebauern Nordhollands
verfertigten vortrefflichen Kugelkäſe allmwöchentlich zu Marfte
gebracht und an die Großhändler und andere Auffäufer und
Berjender verfauft wurden. Ginige diefer Großhändler
begaben ſich zu Drebbel.
„Doktor,“ fagte ihr Wortführer, „ift eg wahr, daß Ihr,
Mannigfaltiges. 211
⏑ Dr ED Dre DDr Dre DD DD
wie behauptet wird, einen wunderfamen Apparat erfonnen
habt, wodurch nachgemwiejen wird, daß fich jelbjt in dem
allerfleinften Stückchen unferes weltberühmten Käjes eine
{hier zahllofe Menge Kleiner Maden befindet?”
„Das ift wahr,” verfegte der Gelehrte. „Wünfchen
vielleicht Die Herren, fich perjönlich von der Richtigkeit zu
überzeugen?“
„Das möchten wir wohl.“
Auf einem Nebentifche ftand des Gelehrten Frühſtück.
Er brödelte von einer Käfefchnitte ein winziges Stückchen
ab, ſchob es ins Mikroſkop und ließ dann die drei Be-
fucher, einen nach dem anderen, hineinjchauen.
Höchſt eritaunt, ja beftürzt wurden fie über das, was
fie erblicten. „Da3 ift Zauberei!" murmelten fie einander
zu. „Teufelswerk und böllifche Augenverblendung!“
„Nein, ihr Herren“, rief triumphierend Drebbel, „eine
wifjenjchaftliche Leijtung erjten Ranges ijt es, die mir zu
hohem Ruhm gereichen wird !“
„Doktor,“ ſprach bedächtig der Wortführer, „es wird
fchon allerlei Böſes gemunkelt über Euch, denn man glaubt,
das, was Ihr betreibt, gehe nicht mit rechten Dingen zu.
ch felbjt befürchte, daß Ihr mit folch häßlichem Erperi-
ment unfer altes, folide3 Käfegefchäft in ſchlimmen Verruf
und damit auch Die Stabt Alkmaar in3 Unglück bringen
werdet.”
„Das ift wohl faum zu beforgen.“
„Dte hohe Obrigkeit ſollte allen Ernjtes Euch dergleichen
Erperimente verbieten.”
„Dazu hätte fie fein Recht. Übrigens fchadet e3 dem
guten, abgelagerten alten Käfe gar nicht, daß er fo voller
mitroftopifch Eleiner Maden iſt. Es fcheint, daß er gerade
dadurch einen pilanteren Gejchmad erhält und noch appetit-
licher wird. Seht, ich verjpeife jest dieſe Käfefchnitte und
damit zugleich Hunderttaufend Maden, die darin find.“
„Das ilt Eure Meinung, Doktor; es ijt aber nicht die
unfere. Unfer gutes Käfegefchäft kann gar zu leicht Dadurch
ſchwere Einbuße erleiden. Hört deshalb unſeren gütlichen
212 Mannigfaltiges.
EDDIE EDDIE DD ED ED ED —
Vorſchlag: Zerfhlagt Euren verwünfchten Apparat und
verfertigt Leinen neuen wieder! Hundert Dulaten zahlen
wir Euch gern, wenn Ihr unferen Wunjch erfüllen wollt.“
„Ich follte auf meinen Erfinderruhm Verzicht leiften für
armjelige Hundert Dufaten?“ riefentrüftet Drebbel. „Nimmer:
mehr!“
„So nennt Euren Preis.”
„Richt für zehntaufend Dufaten! Die Tann ich mir
leicht. verdienen, denn ich habe auch noch andere wichtige
Erfindungen gemacht, die mir große Summen eintragen
. werden.“
„Doktor, laßt Euch warnen!” ſprach ernjt mahnend
wieder der Wortführer. „Was Ihr betreibt, kann gar leicht
als Teufelswerk ausgejchrieen werden. Bedenkt, in welcher
Zeit wir leben! Jahraus, jahrein werden Zauberer und
Heren, oft aus viel geringeren Urfachen, auf dem Scheiter-
haufen verbrannt. Das könnte leichtlich auch Euch wider:
fahren, wenn Ihr durch Eure eigene Schuld Die fämtlichen
Käfebauern in ganz Nordholland gegen Euch aufhetzt.“
Darin lag viel Wahres. Mit dem finfteren Aberglauben
jene3 Zeitalter war gewiß nicht zu feherzen.
Einen Augenbli wurde Drebbel jtußig, Dann aber rief
er mutig: „Wohlan, wenn e3 gefchieht, daß ich der Dumm—
heit der Menge unterliege, dann jterbe ich eben al3 Mär:
tyrer der Willenjchaft.”
„Das wäre aber doch eigentlich recht ſchade, * fagte ein
anderer von den drei Herren. „Gibt es denn. nicht andere
Dinge und Stoffe, die Ihr in Eurem Apparat unterfuchen
könntet?“
„O gewiß!“
„Es brauchen alſo nicht gerade Bröcklein von unſerem
Kugelkäſe zu ſein?“
„Das iſt durchaus nicht notwendig.“
„Run, fo nehmt die hundert Dukaten von uns an, ver⸗
ehrteſter Doktor, und laßt dafür fortan unſeren Käſe in
Ruhe, wenn es Euch doch nicht an anderen Objekten zu
mikroſkopiſchen Studienzwecken fehlt.”
Mannigfaltiges. 213
DD DD DD DD RD AD AD ADD De
Das fah denn der Gelehrte auch ein, und damit war die
fonderbare Verhandlung zu einem erfreulichen Ende gelangt.
Der Erfinder jtrich die Hundert Dufaten ein und unterjuchte
in der Folgezeit feinen Käfe mehr. J. O. Hanfen.
Neue Erfindungen: I. Kleiderhalter „Praktiſch“.
— Praktiſch nennt ſich der neue Kleiderhalter, welcher der
Firma Diefenthal & Co. in Osnabrüd- gefeglich geſchützt
Kleiderhalter „Praktisch.“
wurde, mit vollem Recht. Derſelbe unterjcheidet fich ſchon
in feinem Äußeren von den bisherigen im Handel er-
Ichienenen derartigen Gebrauchsgegenjtänden, weil der Er:
finder im Prinzip von ganz anderen Vorausfegungen bei
FIIR,
—
Kleiderhalter ausgezogen. Rleiderhalter eingeschoben.
der Konjtruftion ausgegangen ijt als die Verfertiger ſon—
jtiger Kleiderhalter.
Der einfache Apparat bringt die Kleidungsjtücde aus
dem Schranke in einer Weife heraus, daß jedes einzelne
Stück fofort greifbar wird, und das läſtige Suchen im
Schranfe aufhört; ein einziger Griff genügt, um den Kleider:
214 Mannigfaltiges.
ö ⏑ ED ED AED ID AD DD AD ADD ED
halter hervorzuziehen und die Garderobe der Luft auszu—
fegen oder bequem in Gebrauch zu nehmen.
In einem zweitürigen Kleiderjchranfe von gewöhnlicher
Breite und Tiefe, worin zwei Stück „Praktifch” angebracht
werden, find zwanzig Anzüge oder Kleider überfichtlich ge-
ordnet unterzubringen. Neue Schränke können bei Ber-
wendung dieſes neuen Kleiderhalters auch wejentlich Heiner
fein, und e3 Tann dadurch alfo viel Raum in der Wohnung
gejpart werden.
Der Kleiderhalter „Praktifch” Tann in jedem Schranfe
leicht angebracht werden, da derjelbe in drei verfchiedenen
Größen angefertigt wird; bei Bejtellung ijt nur die Tiefe
des Schranfes anzugeben. P. R.
II. Zigarrenhalter am Bierglas. — Beim Bier:
trinken am engen Stammtijch, beim Kartenfpielen u. |. w. iſt oft
Zigarrenhalter am Bierglas.
das Weglegen der Zigarre mit Unbequemlichkeiten verbunden,
und nicht jelten findet bei folchem Anlaß ein Herabfallen
Mannigfaltiges. 215
PX af DE ee u? u) Un ⏑ 20 um) U um) I um) I m m 7 nF UN N Re}
der Zigarre auf den Fußboden ftatt. Um diefem Übelftand
abzuhelfen, ijt ein an jedem Bierglas leicht anzubringender
BZigarrenhalter erfunden worden, wie ihn unfere Abbildung
zeigt. Der Halten zum Anhängen läßt fich dem Rand des
Glaſes anpaſſen; die Klappe zur Aufnahme der Zigarre ift
verfchiebbar, jo daß man für eine fejte Lage der Zigarre
forgen Tann. Wer fich für dieſe Erfindung intereffiert,
wende fich an das Patentanwaltsbureau Sad in Leipzig.
Die Saffköpfigkeit bei FJrauen. — Beim weiblichen
Geſchlecht tritt die Kahlköpfigkeit mindeſtens ebenfo häufig
auf wie bei dem männlichen. Von fachverjtändiger Seite
wird fogar behauptet, daß diefes Übel unter den Frauen
weit mehr verbreitet ift, als man vermutet, daß aber dag
weibliche Raffinement es bejjer verfteht, einen jolchen Schön-
heitsfehler zu verdeden und vor den Augen der Welt zu
verbergen.
Die Urfachen für den Haarmangel bei dem weiblichen Ge-
fchlecht find ganz andere al die beim Manne. Während
bei dem legteren allerhand äußerliche Einflüfje, ungenügende
Ausdünftung der Kopfhaut infolge der unzweckmäßigen
Kopfbedeckungen, jchroffe Temperaturmechfel, die meiſt durch
die Unfitte des Hutabzieheng beim Grüßen veranlaßt werben,
nervöfe Beeinfluffungen durch geiftige Überanftrengung,
Erkrankungen des Haarboden3 durch Übertragung von
Pilzen infolge von Benugung unfauberer Kämme, Bürften
und anderer Haarpflegeinjtrumente u. ſ. w., ind Treffen ge:
führt werden, jo find beim Weibe mehr Tonftitutionelle
Einwirkungen im Spiel, auf welche der fo häufig fich ein-
jtelende Haarſchwund zurüdzuführen ift.
Schon die ganze nervöſe Beanlagung des Weibes ift
dazu angetan, zu allerhand hyſteriſchen Anmwandlungen zu
führen, welche fich neben anderen Erjcheinungen durch die
verjchiedenartigiten Kopfſymptome, insbejondere durch chro—
niſche Kopfjchmerzen, verbunden mit Haarausfall, äußern.
Dazu Tommen noch die beim weiblichen Gefchlecht fich jo
häufig findenden allgemeinen Ernährungsftörungen, Blut-
armut, Bleichjucht und fonftige Mängel in der Blutzu-
216 Mannigfaltiges.
— D DD Dee DD ED De DD -EDe ed
fammenfegung, welche ebenfall3 ihre Rückwirkungen auf
den Ernährungszuftand de3 Haarbodens nicht verfehlen.
Ferner gibt es noch andere unvermeidlihe Vorkommniſſe
im weiblichen Zeben, unter denen gewaltige Ummälzungen
im Organismus fich abfpielen, wie zum Beifpiel dag Wochen:
bett mit feinen Borbedingungen und feinen Folgen und
ähnliche, welche außer für mancherlei andere pathologifche
Zuftände auch als Urjache für fich einjtellenden Haaraus-
fall gelten Tönnen.
Das find jedoch alles Momente, welche im Verhältnis
zu der ungemeinen Häufigkeit des Übels nicht fo ſchwer
ins Gewicht fallen. Die Haupturjache für den Haarſchwund
beim weiblichen Gejchlechte Liegt vielmehr in einer gewiſſen
Verwahrlofung, mit welcher über die Behandlung des meift
ſchwer zu dirigierenden Kopfhaares vielfach Hinweggegangen
wird, und in der daraus fich ergebenden Unfauberfeit und
mangelhaften Pflege der Kopfhaut. Es mag ja zugegeben
werden, daß bei dem meift ſtarken und üppigen Haarwuchs,
den das weibliche Gefchleht im allgemeinen aufzumeifen
hat, eine peinliche und ausgiebige Pflege de3 behaarten
Kopfes ungemein fcehwierig und mühfam ift. Das darf
aber nicht als Entfchuldigung gelten für die vielen Unter:
lafjungsfünden, die fich gerade in der Behandlung ihres
ſchönſten Schmudes die holde Weiblichkeit zu Schulden
fommen läßt.
Ebenfo wie jeder andere Körperteil feine regelmäßige
Reinigung und forgfame Pflege erfordert, um von gejund-
heitlichen Schädigungen verjchont zu bleiben, jo muß noch
in viel höherem Grade der behaarte Kopf einer peinlichen
Überwachung unterzogen werden, denn wenn e3 einen ge:
eigneten Aufftapelungsort für allerhand Schmuß, Staub,
Hautfchuppen, Mikroorganismen u. ſ. mw. gibt, jo ift e3
das Dichte, Frauenhaar. Bei feinem reichlichen Fett—
gehalt bleiben derartige Unreinlichkeiten bejonders feit in
ihm haften und machen aus den bisherigen jeidenmweichen
Strähnen mit der Zeit ein ſchwer entwirrbares, filziges
Gewebe. Anfolge der dadurch entftehenden Dichtigfeit und
Dannigfaltiges. 217
DD De ned Dre ED DrEDrED ED ED Dr ED DD
Undurchdringlichteit des Haare3 hat auch die Kopfhaut zu
leiden. Diefelbe wird in ihrer normalen Ausdünftung be-
hindert, die fich abjtoßenden Hautjchuppen und Talgdrüfen-
abjonderungen bleiben auf ihr haften und verftopfen die
Ausführungsgänge der Haarbälge. Die darin befindlichen
Haarwurzeln werden dadurch gewiſſermaßen erftickt, fie ers
franten, fterben ab und fallen aus. Wird in folchen Fällen
nicht beizeiten eingegriffen, fo wird ſich bald ein regel-
rechter Haarausfall einjtellen. Des Morgens beim Kämmen
werden ganze Büſchel Iosgelöfter Haare mit dem Ramme
entfernt, was anfänglich weniger beachtet wird, aber mit
dem immer mehr zunehmenden Dünnmwerden der Haarfülle
doch fchlieplich zu Bedenken Veranlaffung gibt. Die Frauen
fönnen e3 fich dann meift nicht erklären, worin dies auf-
fallende Ausgehen der Haare feinen Grund hat, bis fie
fchlieglich von fachverjtändiger Seite Darüber belehrt werden,
leider oft erft, wenn e3 zu fpät ift, um dem Übel noch mit
einigermaßen günjtigem Erfolge Einhalt zu tun.
Die Kahlköpfigkeit beim Weibe äußert fich in einer
anderen Weife, als dies beim männlichen Individuum
der Fall if. Während bein Manne der Haarausfall
mehr durch jcharf abgegrenzte, Table Flächen von größes
rer und geringerer PDimenfion gelennzeichnet ift, jo ijt
beim weiblichen Gefchlecht der Haarausfall mehr ein all:
gemeiner, über die ganze Kopfhaut fich erjtredender. Ein
an Haarſchwund Leidender Frauenkopf macht ungefähr den
Eindrud eines auf magerem Boden angelegten Getreide:
feldes, auf welchem in größeren Zmwifchenräumen nur hin
und wieder ein jpärlicher, krankhaft ausfehender Halm
emporwächjt, oder in einer anderen Form den eines Pelz-
jtücdes, in dem die Motten ihr Unmefen getrieben haben.
Die ſcharf umfchriebene Form des Haarſchwundes ift ja
allerdings auch bier und dort bei weiblichen Individuen
beobachtet worden, aber nur in vereinzelten Fällen.
Das Alter der weiblichen Wefen jpielt beim Auftreten
der Ropfhaarerkranfungen eine weniger nennenswerte Rolle.
Man findet das Übel ebenfo bei jugendlichen Individuen
218 Mannigfaltiges.
DDR EDDIE RED RD AD ADD AD DD RED ED AD ED DD
als bei Erwachſenen und Perfonen de3 höheren Alter2.
Nur find in den jüngeren Kahren, während fich der Drga-
nismus noch im Wachstum und in der Entwidlung bes
findet, die Ausfichten auf Wiedererfat günftiger als im
fpäteren Alter. In jedem Falle ift jedoch immer noch Hilfe
und Rettung möglich, wenn die Haarmwurzeln noch nicht
total erkrankt und abgeftorben find.
Das ganze Geheimnis der Kopfhaarpflege beim weib-
lichen Gefchlecht ift Sauberkeit, aber nicht nur in Bezug auf
die zu behandelnden Zeile ſelbſt, ſondern auch in Bezug auf
die Dazu zu verwendenden Inſtrumente. Kämme, Bürften
und ähnliche Utenſilien ſollen fich jtet3 in einer tadellojen
Verfaſſung befinden. Das Kopfhaar jelbit ift mehrmals
täglich, am beiten früh und Abends, mit Bürfte und Kamm
gehörig zu bearbeiten, Damit Staub und fonftige Unreinlich-
feiten daraus entfernt werden. Durch häufiges Bürjten
wird das Haar glänzend und weich und läßt fich dann mit
dem Kamm beſſer dDurchlämmen.
Das Haar fol man ftet3 in der Weife fämmen, Daß
man Ddasjelbe an den Spiten faßt und in der Richtung
von unten nach oben durcharbeitet. Auf diefe Weife wird
erſtens das Ausreißen von Haaren verhindert, zweiten?
ift die Manipulation auch weniger fchmerzhaft. Abends
vor dem Schlafengehen ift die Frifur ftet3 aufzulöfen, Das
Haar tüchtig durchzubürften, zu kämmen und zu einem
leichten Zopf zu flechten. Mit feſtgeſteckter Friſur zu
ichlafen, tft nicht zu empfehlen, weil dadurch die ein-
zelnen Haare zu ſehr angefpannt werden, und Schmerzen
auf der Kopfhaut entitehen.
Zur Sauberhaltung des behaarten Frauenfopfes genügen
jedoch nicht allein Kamm und Bürfte. Auch fleißige Wafchuns
gen des Haare und der Kopfhaut find ein unerläßliches
Bedürfnis. Mindeftens alle acht bis vierzehn Tage hat dies
zu gefchehen. Als einfachites, aber ſehr brauchbares Kopfs
waſchwaſſer ift eine Löfung von laumarmem Wafjer und
Mandelfeife (etwa ein Stüd Mandelfeife auf drei Liter
Waſſer), der ein paar Tropfen Perubalfam zugejegt find,
Mannigfaltiges. 219
DDr DDr ED re DD Deere DD DDr De
zu empfehlen, auch fann man eine dünne Ablochung von
Ramillentee, dem einige Tropfen Salmiafgeift zugefebt find,
verwenden. Bei den Wafchungen fommt e3 hauptjächlich
. darauf an, die Kopfhaut gehörig zu maffteren und nad)
gefchehener Abſpülung mit laumarmem Waſſer tüchtig zu
frottieren. Nach der Wafchung muß da3 Haar in einem
gut temperierten Zimmer oder mittel3 eines Trocdenappa-
vate3 gründlich getrodnet, gebürftet und durchgefämmt
werden. Sit da3 Haar von Natur jehr fetthaltig, fo reibe
man Haar und Kopfhaut noch mit einem der viel empfohlenen
altoholifchen Haarwäfler, Bay-Rum oder Eau de Quinine
nad; iſt es von Haufe aus troden, jo benuge man zum
Nachwaſchen ein fetthaltiges Kopfwaſſer, zum Beifpiel Philos
dermin oder Birkenwaſſer. Beim Trodnen des Haares
muß man darauf achten, daß diefer Prozeß nicht zu fchnell,
am allerwenigften durch ſtark überhitzte Trodenapparate
vor fich geht, weil infolge von zu hohen Wärmetemperaturen
das Haar leicht bricht. Auch empfiehlt es fich, Die Spiben
der Haare alle zwei bis drei Monate einmal jchneiden zu
laſſen, da fich das Haar fehr Häufig an denfelben jpaltet
und ausgeht.
Sind infolge von ſtarkem Haarausfall Erfabteile unbedingt
erforderlich, fo jollen diefelben nur aus leichten, poröfen
Stoffen hergeftellt werden, damit’ die Kopfhaut gehörig aus—
dünſten Tann, und eine vollitändige Erſtickung der bereit3
erkrankten Haarmwurzeln nicht jtattfindet. Unterlagen aus
Haar oder Waldmwolle find Direkt zu verwerfen, ebenfo bringt
da3 viele Brennen des Haared mehr Schaden als Nuten.
Den beiten Beweis, daß bei guter Pflege auch ein ſchönes
Haar zu erzielen und zu erhalten ift, liefern Die Englände:
rinnen, welche befanntlich in der Haarpflege auf der Höhe
ftehen und dafür auch über das ſchönſte Haar von allen
Frauen der Welt zu verfügen haben. Dr. med. Schütte.
Wie Mendelsfohn zu feiner Iran Ram. — Unter den
Badegäften Pyrmont befand fih im Sommer 1764 auch
Moſes Mendelsfohn, der vielgerühmte „Sokrates vom
Strande der Spree”. Zu feinen eifrigften Bemwunderern
220 Diannigfaltiges.
gehörte der reiche Hamburger Kaufmann Gaugenheim, der
gleich ihm Heilung in Pyrmont ſuchte und dort feine per:
fönliche Bekanntſchaft machte.
Eines Tages fagte der Hamburger zu feinem neuen
Freunde: „Wir alle haben Sie aufs wärmſte ing Herz ge-
gefchloffen. Mehr al3 alle übrigen aber verehrt Sie meine
Tochter. Es wäre die größte Freude ihres Lebens, Sie
perfönlich Tennen zu lernen. Erze'gen Sie un die Ehre,
uns in Hamburg zu befuchen. Sollte meine Tochter Ein:
drud auf Sie machen, fo könnte ich mir fein höheres Glück
denfen, al3 Sie zum Schwiegerfohn zu bekommen.”
So fhüchtern und zurüdhaltend der leider etwas ver:
wachjene Mendelsfohn war, jo gewann er es doch nad)
längerem Zögern über fich, der Einladung zu folgen. Er
reifte nach Hamburg, damals noch eine lange, beſchwerliche
Fahrt, und fuchte Saugenheim in feinem Kontor auf.
„Sehen Sie hinauf zu meiner Tochter,“ forderte der
angefehene Kaufherr nach) der wärmſten Begrüßung ihn auf.
„Sie wird über Ihren Beſuch entzüct fein.”
Mendelsjohn entjchloß fich Dazu. Die Unterhaltung mit
der jungen Dame gejtaltete fich jo anregend wie möglich.
Allein es entging dem großen Philofophen nicht, Daß das
junge Mädchen nach der erjten Begegnung e3 gefliffentlich
vermied, ihren berühmten und verehrten Gaſt anzufehen.
Am nächſten Tage ftattete dieſer wieder dem Vater in
feinem Kontor einen Beſuch ab. Um die Unterhaltung zu
eröffnen, fprach er mit Begeilterung von den angenehmen
Manieren und der Eugen Unterhaltung des Fräuleins.
Saugenheim ſchwieg längere Zeit. Endlich ermannte
er. fich zu der peinlichen Mitteilung, die er dem jungen
Gelehrten zu machen hatte: „Darf ih offen mit Ihnen
reden ?”
„Sch bitte Sie darum,” ermwiderte der Philofoph be—
tlommen und ahnungsvoll.
„Sie ind ein edelmütiger, einfichtiger Mann, Sie werden
e3 daher meinem Kinde nicht allzu übelnehmen, wenn e3
— wenn —“
Mannigfaltiges. 221
DDr DD DD DDr DDr DDr — —
„Wenn e3 fi mit meinem unglüdlichen Budel nicht
ausſöhnen kann?“
„So iſt es.“
„Ich ahnte es. Trotzdem bitte ich um die Erlaubnis,
mich von ihr verabſchieden zu dürfen.“
Er erhielt ſie und begab ſich wieder wie am Tage vorher
in die Wohnräume der Familie. Die Tochter des Hauſes
ſaß in einem erhöhten Erkerſitz am Fenſter und nähte.
Mendelsſohn ſetzte ſich ihr gegenüber, und wieder gerieten
ſie in ein feſſelndes Geſpräch. Allein ſie hielt die Augen
auf ihre Arbeit geſenkt, und er blickte beharrlich die Bäume
vor ihrem Fenſter an.
Im Laufe des Geſprächs warf die junge Dame die
Frage auf: „Glauben Sie, daß Ehen im Himmel geſchloſſen
werden?“
„Ohne jeden Zweifel,“ war ſeine eifrige Antwort. „Sie
kennen doch gewiß die ſchöne Auffaſſung, daß gleich bei
der Geburt eines Kindes im Himmel verkündigt wird:
Der ſoll die bekommen und die den. Mir iſt übrigens bei
der Gelegenheit etwas ſehr Merkwürdiges paſſiert.“
„Iſt's möglich? Was denn?“
„Es wurde auch mir eine Frau beſtimmt, aber mit dem
Zuſatz, ſie werde einen abſcheulichen Buckel bekommen.
„Gütiger Gott,“ rief ich aus, „ein verwachſenes Mädchen iſt
immer in Gefahr, ſcharf und bitter zu werden. Das Weib
muß ſchön fein, um liebenswürdig und geliebt zu fein.
Gib mir, o Gott, den Budel und laß dafür fie ſchön und
lieblich ſein!““
Noch Hatte er feinen Sat nicht beendigt, als ein Paar
Arme fich ungeftüm um feinen Hals fchlangen und ein
tränenüberjtrömtes, blühendes Geficht fich an ihn jchmiegte.
Sie wurden ein fehr glüdliche Paar. C. D—
Neues vom Mont Relé. — Die Ausbrüche des Mont
Pelé, die vor zwei Jahren über die Inſel Martinique fo
furchtbare Verhserungen brachten, hatten für den Gebirgs-
tod, dem der Bulfan angehört, eine eigentümliche Folge
gehabt. Auf dem alten Gipfel entftand ein neuer Tegel:
222 Mannigfaltiges.
— ⏑ ED —⏑ — ——— iD
förmiger von über tauſend Fuß Höhe. Der Leſer wird ſich
erinnern, daß bis zum erſten Ausbruch im Jahre 1902 den
alten Krater des Mont Pels ein kleiner See ausfüllte.
Dicht neben dem ausgetrodneten Becken dieſes Sees erhob
fich der neue, aus fefter Lavamaſſe beftehende Berggipfel
un Oftober 1902, fünf Monate nach der Hauptlataftrophe.
In jener Zeit war der Mont Bels faſt immer mit Wollen
bededt. Um die Mitte des Monats Lüftete fich der Wolten-
fhleier, und da entdedte Profeſſor Lacroir von feiner Beob-
achtungswarte auf Morne des Cadets aus eine über den
Dämpfen des immer noch tätigen Vulkans mächtig auf:
tragende Felfennadel. Vierzehn Tage jpäter wurde der Berg
wiederum auf kurze Zeit wolfenfrei, und die Mefjung der
neuen Spiße ergab, daß fie inzwifchen noch gewachſen war.
Das Wachstum ließ ſich bi? Ende November verfolgen,
während im Januar 1903 der Lavakegel ſich um mehrere
hundert Fuß verkleinerte. Als im März Profejjor E. O. Hovey
auf Martinique eintraf, um dag merkwürdige Phänomen
zu jtudieren, hatte die neue Spitze aber wieder die Höhe
von 5143 Fuß (1568 Meter) über dem Meeresfpiegel er-
reicht. Die Photographie, die wir nebenjtehend reprodu=
zieren, wurde am 25. März 1903 durch Profeſſor Hovey
im Beden des früheren Kraterjeeg aufgenommen. Wir
jehen darauf den alten Kratergipfel, den eine etwa
200 Fuß tiefe Kluft, aus welcher Rauch fteigt, von dem
neuen Gipfel trennt. Dieſer letztere erhob ſich Damals
1150 Fuß über den alten. - Nach Drei Seiten war er vom
“ alten Krater durch die Kluft getrennt. Der nordweitliche
Teil war durch die von den großen Ausbrüchen her zurüd-
gebliebene Lava ausgefüllt. Die Subjtanz des Sipfeld war
vulfanifche Felfenmaffe und gleichfam aus einem Guſſe,
fo daß ſich die Entftehung nur erklären ließ, wenn man
annahm, die Maſſe jei zwar glutflüjfig, aber fchon im Er:
itarren begriffen au8 dem Innern des Vulkans empor-
geitiegen, bis dann die Erjtarrung fich vollendete.
Das Innere diefes neuen Gipfels, den die Franzoſen „le
cöne“ (Kegel) benannten, ftand mit dem Innern des Vulkans in
Der „Löne* auf dem Mont Pelg,.
224 Dannigfaltiges.
Dr rED DD Dre DD re Dre Dre D ne Dre DD m re
direkter Verbindung; auch feiner Spite entjtrömte oft Rauch
und bisweilen auch glühende Lavamaſſe. Dieſe merkwürdige
vulfanifche Neubildung ift aber von feinem langen Beitand
geweſen. Ein deutfcher Forfcher, Dr. Georg Wegener, der
mit Profefjor Hovey auf dem Mont Pels zufammentraf, hat
neuerdings auf Grund von Hoveys Berichten mitgeteilt,
daß der „Coône“ wieder verfchmunden if. Schon im Mai
vorigen Jahres ftürzte die oberfte Mafje ab, wobei der ganze
Felskegel feurig erglühte. Durch die Abftürze hatte die von
Blöden bededte domförmige Wölbung allmählich den
Zmwifchenraum bi3 zu dem nordmeitlichen Kraterringmwall
ausgefüllt. Bis zum Juli wurde der Gipfel durch häufige
Abjtürze immer fpiger und fchmaler, biß wieder eine größere
Maſſe von etwa 50 Meter Höhe abftürzte. Diejer Prozeß
fegte fich bis zum 6. Augujt fort, wo ein neuer Abjturz
von 25 Meter erfolgte. 3.9.
Das Borgefühl der Tiere. — Es iſt eine merkwürdige
Tatfache, daß manches Tier ein gewiſſes Vorgefühl, eine
Ahnung von freudigen oder betrübenden Ereignijjen befitt,
die ihm bevoritehen. So berichtet Profeſſor Berty in feinem
Merk „Über das Seelenleben der Tiere“ unter anderem
folgenden Fall: „Der Kandidat G.'zog eine bejonders
fräftige und begabte Amſel auf, welche in einen halben
Jahre fajt alle Kirchenmelodien und andere Muſikſtückchen
pfeifen lernte und deshalb bald allgemein bewundert wurde.
G. ſchenkte den Bogel zuleßt feiner Schmweiter, einer etwa
drei Stunden von ihn wohnenden Pfarrersfrau So oft
nun der Bruder Diefe Verwandte ganz unerwartet bejuchte,
mußte dies die Amſel ſchon eine Biertelftunde vorher und
geriet in die Außerfte Unruhe, hörte mitten im Geſang
plößlich auf und lief wie rafend im Käfig umher, bis ©.
in daS Zimmer eintrat und den Vogel in gewohnter Weife
aus dem Käfig herausließ. Der Berfuch wurde mehr als
zwanzigmal wiederholt und immer mit demſelben Ers
folg.“
Der Vater des befannten Zoologen Edartshaufen, der
viel auf Reifen war, bejaß einen Eugen Pudel, der fich
Dannigfaltiges. 225.
DEI FED FED FED EDDIE ED ED EI DD re Dre DD ce
in der Abweſenheit feine® Herrn unaufhörlich traurig
zeigte und faum fo viel Nahrung zu fich nahm, um nur das
Leben zu erhalten. Sobald jedoch der Pudel mit Begierde
zu frefien begann und munter und luſtig herumfprang,
fonnte man ficher darauf rechnen, Daß der Herr felbft wider
Erwarten der Angehörigen denjelben Tag noch in der Hei-
mat eintreffen werde.
Ein noch merkwürdigeres Beifpiel von dem Ahnung?
gefühl der Tiere erzählt auch der „Bayerifche Landbote”
vom Jahre 1838. Im unterfräntifchen Dorfe Oberfinn bes
faß der Fleiſcher Röſch einen Eugen und zuverläfftigen Hund,
der jedoch bisweilen zu Haufe bleiben mußte, wenn fein
Herr auf den Biehhandel ging, und durchaus nicht3 merken
ließ in feinem Betragen, felbft wenn der Meifter mehrere
Tage lang ausblieb. Am 19. Dftober 1838 begab fi Nöfch
wieder auf den Handel; in der folgenden Nacht wurde der
zurüdgebliebene Hund Außerjt unruhig, winfelte und lief
aus der Stube, heulte dann kläglich und war auf feine
Meife zu beruhigen. Am folgenden Tage traf die Nachricht
ein, daß Röſch einige Stunden von der Heimat in dunkler
Nacht in ein Kellerloch gejtürzt und auf der Stelle ver:
fchieden war. Ber brave Hund empfand alfo im voraus
den harten Verluſt, der bevorjtand.
Der Lehrer B. in Graubünden erzählt in einem Schweizer
Journal folgendes, noch weit jeltfameres Beifpiel. Der
Bruder des Erzählers überwinterte feine fleine Rinder:
herde in einem Stalle nahe bei einer Schlucht, in welcher
er feine Kühe jeden Tag zur Tränke führte und in welche
auch bisweilen Lamwinen von dem Gebirgäfamm herab:
ftürzten. Eines Morgen3 jedoch waren die Kühe durchaus
nicht zu bemegen, diefe Schlucht zu betreten, und nad) ver-
geblichen Anftrengungen fah man fich genötigt, die Tiere
in den Stall zurüdzuführen. Kaum aber waren diefelben
angebunden, jo Donnerte eine mächtige Lawine in die
Schlucht herab und riß den Brunnenlaften, an dem man
die Kühe hatte tränfen wollen, mit in die Tiefe hinab.
Hätten fich die Kühe geduldig wie fonft zu ihrem Brunnen
1904. XIU. 16
226 Dannigfaltiges.
EIER DE DD ADD Dre Deere De
führen laffen, fo wären fie fämtlich neben ihrem Dem
erschlagen und begraben worden.
Wer tft im finnde, daS Geheimnis folcher Ahnungen zu
Iöjen? 2. Hafchert.
Seltfame Telephongefprähe. — Das Telephon iſt jchon
häufig zu eigentümlichen Gelegenheiten benußt worden;
aber den merkwürdigſten Gebrauch davon hat wohl ein zum
Tode verurteilter Mörder in Teras gemacht, der vor einigen
Wochen bat, den Gouverneur feines Staates anrufen und
auf diefem etwas ungewöhnlichen Wege um Begnadigung
bitten zu Dürfen. Der Gefangene wurde von feinem Wärter
vor das Telephon geführt, und der Gouverneur angeflingelt.
Der Mörder und der hohe Staatsbeamte waren nämlid)
in ihrer Jugend befannt gemwejen, waren zufammen zur
Schule gegangen, und da e3 in der Macht de3 Gouverneurs
lag, die Begnadigung auszufprechen, jo hatte der Mörder
wohl Ausficht, der Todesitrafe zu entgehen. Doch der
Gouverneur war zum Unglück für den Verurteilten auch
ein Freund des Ermordeten gewejen, und jo hatte er feine
Beranlafjung, der Gerechtigkeit ihren Lauf nicht zu lafjen.
Eine Viertelftunde lang unterhielten fich die beiden Männer
durch das Telephon, doch der Gouverneur war unerbittlich,
und fchließlich Tieß der Mörder das Hörrohr fallen und
fih wieder in feine Zelle führen. Am nächſten Tage wurde
er gehängt.
Km Suni 1903 wurde ein Mijter Fanzler, Angeftellter der
Glektrizitätsgefelfchaft zu Louifiana, von der Univerfität zu
Purdoe zum Ingenieur promoviert, nachdem er telephonifch
eine Prüfung zu bejtehen gehabt. Er wohnte in St. Louis,
während die Prüfung, die für den 8. Juni angejebt war,
in 2afayette, im Staate Indiana, ftattfand. Infolge
der Überfchwemmung, von der St. Louis um dieje Beit
heimgesucht wurde, war es ihm nicht möglich, den Prüfungs—
ort zu erreichen, und er war ſchon fajt verzweifelt, als ein
Freund ihn auf den Bedanten brachte, er jolle der Fakultät
doch den Vorſchlag machen, ihn telephonifch zu prüfen.
Gefagt, getan; er ließ fich mit einem der Profeſſoren ver»
Dannigfaltiges. 2327
ID AD DD ED ED ED DD ED ED ED re D re Dr- Dr eD
binden, erklärte, e8 wäre ihm unmöglich, infolge der Übers
ſchwemmung nad) Lafayette zu fommen, und jchlug dem
Eraminator den ihm von jeinem Freunde angegebenen
Ausweg vor. Man jagte ihm, er möchte einige Minuten
am Apparat bleiben, und während diejer Zeit hielten die
vier Eraminatoren eine furze Beratung ab. Fünf Minuten
Tpäter erklärte einer derfelben: „Wenn eine vertrauen
würdige Perſon bei Ihnen in dem Telephonraum bleibt
und eidlich bejtätigt, daß Sie Teine Bücher bei fich haben
und Shnen auch fonjt Feine Hilfsmittel zur Verfügung
ftehen, jo wollen wir Sie telephonifch prüfen.” — Fanzler
ließ, hocherfreut, einen Richter Tommen, der der Prüfung
. beimohnte und eidlich beftätigte, daß alles „mit richtigen
Dingen” zuging. Mehrere Stunden lang wurde der Eramis
nand mit Fragen überfchüttet, die er meiſtens jchnell und
richtig beantwortete. Schließlich wurde ihm mitgeteilt, Daß
die Prüfung bejtanden wäre, und mit einem Geufzer
der Erleichterung hing er das Hörrohr an und ging nach
Haufe. | j sn.
Ein Rönigfiher Sauswirt. — Ein hoher Miet3herr, mit
welchem feine Mieter jehr wohl zufrieden fein können, iſt
König Eduard VII. von England. Eine ganze Anzahl von
englifchen Schlöffern, die vom Adel des Landes bewohnt
werden, gehören nämlich eigentlich zum Befit des Königs,
wofür diefer alljährlich einen Mietsbetrag erhält, der meiſt
mehr originell als einträglich zu fein pflegt.
Manche diefer Verträge des betreffenden „Mieter3“ mit
der Krone gelten für ewige Zeiten, alle aber datieren ſchon
weit zurücd, weshalb der oft höchſt mwunderliche „Miets⸗
preis“ auch nach gutem alten Brauche entweder nur ſym⸗
boliſch oder ganz praftifch-reell gehalten ift. |
Zum Beifjpiel bat der Abmieter von Schloß Bud-
land in der Graffchaft Kent, der einen ewigen Mietö-
kontrakt befißt, eine ſehr originelle Miete zu bezahlen. Zur
Nüderinnerung an die einjtigen blutigen Wirren der eng-
liſchen Königsfamilien York und Lancafter, den Krieg der
roten und der weißen Roje (1453—1483), muß der Mieter
228 Diannigfaltiges.
nr rede ADD Dr ED ⏑ DD —⏑ ⏑ De
dem König alljährlich die erfte rote NRofe, die in den zum
Schloß gehörenden Gärten gepflüdt wird, überjenden.
Kriegerifcher gehalten ijt der fyınbolifche Mietspreis, den
jedes Jahr am 18. Juni, der Schlaht von Waterloo, der
Bewohner der Burg Stratfields3-Nfaye, der Herzog von
Wellington, dem König zu entrichten hat, nämlich ein Feines
Fähnchen in den franzöfiichen Farben.
Die gleiche „Miete” muß der Herzog von Marlborough,
der „ewige“ Mieter von Schloß Woodjtod, zahlen, und zwar
ftet3 am 2. Auguft, dem Jahrestag der Schladht von Blen-
heim, einem Dorf im bayerifchen Schwaben, wo 1704 im
fpanifchen Erbfolgelrieg fein berühmter Ahne, der große
Staatsmann und Feldherr Marlborough, die Sranzofen bes
fiegte. Die Fahne zeigt die blau-mweiße Farbe Bayern?.
Weniger poetifch, jedoch gehaltreicher ift der Miets⸗
preis des Bewohner? von Schloß Bonburg, welcher feinem
hohen Herrn Vermieter nach altem Brauch zum Dfterfefte
140 Hühner und 1800 Eier zu überfenden bat. EN.
Barum weinen wir beim Kachen? — Das Weinen ift
meist der Ausdrud des Schmerze3 und der Trauer. Gleich-
wohl Tann man häufig beobachten, daß ſich auch beim
Lachen die Augen mit Tränen füllen und einem herzhaft
und kräftig lachenden Menjchen die Tränen fogar über die
Wangen rollen. Worauf beruht diefer Vorgang?
Benor wir auf feine Erklärung näher eingehen, müſſen
wir uns erjt über die Umjtände, die bei der Tränens
entjtehung mitwirken, unterrichten. Abgefondert wird die
Tränenflüffigfeit von den Tränendrüfen, von denen je zwei,
eine größere und eine Eleinere, an dem nach den Schläfen
zu gerichteten Rand des oberen Augenhöhlenrandes liegen.
Die Tränendrüfen fondern nun beftändig ihre Flüffigkeit
ab, die zu 98 Prozent aus Waffer, fodann aus Kochfalz
und Spuren von Eiweiß, Schleim und Fett befteht, und
zwar alle 20 Minuten einen Tropfen. Dieſe Tränenflüjfig-
feit dient dazu, das Eintrocdnen und Trübewerden der
Hornhaut de3 Augapfels zu verhüten.
Die Tränenflüffigkeit tritt aus den Tränendrüfen durch
Mannigfaltiges. 229
IRDRDEEDEEDERE DD ERDE ED ED ee Dre Dr Dre Dee Dre Dr DeeD
ſechzehn feine Ausführungsgänge in der Nähe der Übergangs-
falte des oberen Xides über dem den Schläfen zugelehrten
Augenwinfel heraus. Durch den Schlag der Xider wird
fie über die vordere Fläche des Augapfels verbreitet und
allmählich nach den der Nafe zugewendeten Augenmintel
gedrängt. Somohl am oberen al3 auch am unteren Lid-
rand diefes inneren Augenwinkels liegen nun fogenannte
Tränenpünttchen, die die Öffnungen von zwei zarten Kar
nälchen darftellen, welche fich fpäter vereinigen und in den
Tränenfad einmünden, von dem ein häufiger Kanal nad
dem unteren Nafengang führt. Die für gewöhnlich abge:
fonderte Tränenflüffigfeit wird alfo von den Tränenpünft-
chen aufgefaugt und nach der Nafe abgeleitet.
Sit beim Weinen die Tränenabjonderung nur mäßig,
jo find die Tränenpünktchen noch im ftande, Die Tränen-
. flüffigfeit zur Nafe abzuleiten. Weinende find vielfach ge=
zwungen, ſich wiederholt die Nafe auszufchnauben, und da3
bat feinen anderen Grund, als daß die in die Nafenhöhle
eingedrungene Tränenflüfligkeit zur Entfernung drängt.
Wird nun aber bei heftigem Weinen die Tränenabfonderung
ſehr ftark, fo können die Tränenpünftchen die Tränenflüffig:
feit nicht fchnell genug abführen, fie fließt über den unteren
Lidrand hinweg und rollt nun al Tropfen über Die
Wangen.
Das Weinen wird bei traurigen Gemütserregungen durch)
nervöſe Einflüffe hervorgerufen. Das Verbindungsſtück
zwifchen Gehirn und Rückenmark bildet daS verlängerte
Mark oder das Kopfmark. E3 liegt noch in der Schädel:
fapfel. In ihm befinden fich Nervenferne, von denen dic
Bemwegungsnerven, die den Anſtoß zu den Bewegungen
der Gefichtämusfulatur und der Drüfen des Kopfes geben,
ausgehen. VBollzieht fich im Gehirn eine ſtärkere nervöfe
Erregung, fei fie durch Schred, Angſt, Traurigkeit oder
Schmerz veranlaßt, fo wirkt fie zurüd auf dieſe Nerven
ferne, die dann die Erregung durch Die Bewegungsfafern
nach den Gefichtsteilen fortleiten. Nun entfpringen von
diefen Nervenkernen auch feine Nervenfafern, die mit den
230 Mannigfaltiges.
— ⏑ ⏑ ⏑ ⏑⏑ DD DD Dre Dee
Tränendrüſen in Verbindung ſtehen. Auch durch ſie wird
die Gehirnerregung fortgepflanzt. Hierdurch werden die
Tränendrüſen ſozuſagen geöffnet, ſie entleeren ihren Inhalt,
und wir weinen dann infolge der Furcht, der Bekümmer—
ni3 oder der Schmerzempfindung.
Beim Weinen während des Lachens fommen aber ander3-
artige Berhältniffe in Betracht. Pie fröhliche Stimmung,
wie fie das Lachen begleitet, ruft im Gehirn nach vielen Er-
fahrungen und Beobachtungen nicht eine fo ftarfe Erregung
hervor, daß dieſe fich den Nervenkernen des Kopfmarks
fräftig genug mitteilte, um durch die bloße Fortleitung
des Reizes mittel$ der Bemwegungsfafern die Tränen:
drüfen zur Abfonderung der Tränenflüffigfeit zu veran-
laffen. Etwas mag allerdings die freudige Erregung auch
mitspielen, aber es muß doch ein neuer Antrieb hinzufoms
men. Die Nerventerne des Kopfmarks ſtehen nicht nur
mit Bewegungsnerven in Verbindung, jondern e3 laufen
von der GefichtSoberflähe auch Empfindungsnerven zu
ihnen hin. Nun wird aber bein Lachen befanntlich die
Geſichtsmuskulatur ſtark bewegt. Dieje Bewegung erregt
die Empfindungsnerven, die den Reiz zu Den Nervenkernen
des Kopfmarks fortleiten. Durch diefen neuen Anjtoß mwer-
den fie felbjt jo erregt, daß fie nun ihre eigene Erregung
felbjtändig durch jene feinen Bewegungsfafern, welche fich
von ihnen zu den Tränendrüfen binziehen, weitergeben
und die Drüfen in Tätigkeit verjegen. Dice Tränen perlen
uns jeßt über die Wangen mitten im Lachen.
Daß von außen kommende Reize in dieſer Weije auf
die Empfindungsnerven und Die damit verbundenen Nerven:
ferne, ſowie rückwirkend auf die Tränendrüfen einen tat-
fächlichen Einfluß ausüben, bemweifen anderweitige Beob—
achtungen. Bei Berührungen der Lidränder, bei jcharfem
Blicken in die Sonne, bei Reizungen der Nafenfchleimhaut
durch ſtark viechende Stoffe oder Berührungen tränen Die
Augen ebenfalls. E3 werden auch hier die betreffenden-
Empfindungsnerven erregt, die dann den empfangenen
Neiz zu den Nervenkernen des Kopfmarks fortpflanzen, von
Dannigfaitiges: 231
DDRD ADD AD AD AD AED AD AD AED AD ED DD ee
wo wiederum die Erregung Durch die feinen Bewegung?
fafern zu den Tränendrüfen Hinläuft und die Tränenabfon=
derung veranlaßt. Th. ©.
Ein abfonderfihes Graßdenkmal. — Brabdentmäler für
Hunde und für Pferde find ja, befonders in England und
Ir 18 ron?
old
— *
RL las, Bade.
Grabdenkmal eines Schweines.
Amerika, wo e3 fogar eigene Friedhöfe für diefe Tiere gibt,
nichts Seltenes. Doch hat man wohl faum von einem Grab-
denkmal für ein Schwein gehört, und doch ijt das Schwein,
das unter dem oben dargejtellten Grabjtein bei Mombafa
an der Küjte von Djtafrifa liegt, tief betrauert worden.
Die englifche Infchrift lautet in der Überfegung: „Zur Er—
innerung an Dennis, das Lieblingsfcehwein S. M. Schiff
232 NMannigfaltiges.
IMDEDERLI DI EI ⏑ EDDIE ED EDDIE
„Schwalbe“, welches jtarb am 10. Dezember 1895, achtzehn
Monate alt, tief betrauert.”
Um wirflih an die Wahrheit der beiden letzten Worte
zu glauben, muß man wiſſen, daß die Matrofen aller Länder
eine geradezu findifche Vorliebe für Tiere haben. Beſonders
find die Schweine, die man an Bord bringt, um fie fpäter
zu jchlachten, die Lieblinge der Matrofen, und die Leute
werden in der Eintönigfeit ihres Dienftes und des Aufents
halt3 auf hoher See nicht müde, ftundenlang mit den Tieren
zu jpielen. Das betreffende feine Schwein war durch irgend
einen Zufall auf einer Kreuzfahrt der „Schwalbe“ an Bord
gebracht worden und wurde hier derartig der Liebling der
Mannfchaften, daß fie Geld zufammenlegten, um e3 dem
Koh abzufaufen und fo fein Schlachten zu verhindern.
Wahrjcheinlich haben die Matrofen das Schwein aus lauter
Liebe zu Tode gefüttert, denn e3 wurde eines Tages krank
und ftarb, und jo groß war die Zuneigung der biederen
Seeleute zu dem toten Tiere, daß fie ihm an der Küſte ein
Grab gruben und einen Denkſtein errichteten. A. O. K.
Das Taillenmaß einer modernen Benus. — In Zulunft
wird feine Schneiderin eg mehr nötig haben, jich der Mühe
des Maßnehmens zu unterziehen, fobald die Kundin, für
die jie ein Kleid fertigen ſoll, normal gebaut ift. In dieſem
Fall ift ed nur erforderlich, da8 Daumenmaß der betreffen:
den Dame anzumerten, und dies gefchieht, indem man ein
Zentimetermaß um die Wurzel des bejagten Gliedes legt
und die Zahl, die gewöhnlich zwiſchen fieben und acht
fhwanfen wird, genau feitjtellt.e Nun kann die Kundin
ruhig ihres Weges gehen. Da3 Maß für eine normale,
nieht überfchlanfe Frauenfigur läßt fich nämlich genau nach
dem Umfange des unterftien PBaumengelents berechnen.
Mißt dieſes zum Beifpiel 7 Zentimeter, dann hat das Hand-
gelent einen Umfang von 14 Zentimeter, aljo das Dop—
pelte. Das Maß des Halfes beträgt wiederum noch einntal
fo viel wie das des Handgelenks, alfo 28 Zentimeter. Diefe
Zahl doppelt genommen ift nun dag genaue Maß für die
Zaille jeder ebenmäßig gebauten Frau, die fein Gewicht
PMannigfaltiges. 38
III DEI DEI DEI DD ED EDDIE DD
darauf legt, eine Wefpentaille zu befigen. Vorausgeſetzt,
daß die betreffende Schöne üppig ift, ohne Torpulent zu fein,
jtimmt Diedoppeltgerechnete Taillenweite, alſo 112 Zentimeter,
wieder für Bruft- und Hüftenumfang. Für eine fchlantere
Figur wird von 112 Zentimeter das Map des Handgelents
(14 Zentimeter) abgerechnet, bleiben aljo 98 Zentimeter.
Auch Ärmel und Nodlänge kann auf ähnliche Weife feſt—
gejtellt werden. |
Die Erfinderin diefer gar nicht fo üblen dee ift eine
tonangebende Parifer Schaufpielerin, die unlängjt bei einem
feinen Damenfchneider erſchien und ihm mit der Verfiche-
rung, daß fie eine volllommen ebenmäßige Figur bejite,
den Daumen ihrer Rechten binftredte. „Hier, Monfieur,
meſſen Sie!” rief die Schöne mit Pathos. „7 Zentimeter,
nieht wahr? Nun merken Sie fih: Zweimal um meinen
Daumen iſt einmal um mein Handgelenf, zweimal um mein
Handgelenk ijt einmal um meinen Hals, zweimal um meinen
Hals ift einmal um meine Taille und zweimal um meine
Taille ijt einmal um Bruft und Hüften. Wenn Sie fid)
danach richten, fit da Koſtüm tadello3.“
Damit war fie verfchwunden, und ihre Rechnung war
richtig. M. O.
Die Geſchichte eines BYormwelttieres. — Nachdem man
Thon längft den Ichthyoſaurus, Plefiofaurus und Teleofaurus
und andere wunderbare vorweltliche Meerdrachen und Kro-
fodile fannte, entdedte man in einem Steinbruch des Beter3-
berges bei Maaftricht im Jahre 1792 in einer Kreidejchicht
die Überrefte eine Neptil®, das zwar mit den genannten
Tieren eine gewiſſe Ähnlichkeit hatte, aber fich doch au
erheblich von ihnen unterfhied. Man hat dieſes Tier
jpäter Moſaſaurus genannt. Seine Länge betrug gegen
30 Meter, und es vereinigte in jeinem Bau Anklänge an
Meerdrachen mit denen an Schlangen und Krofodile.
Bei den in dem Steinbruch bei Maajftricht aufgefundenen
Reiten handelte es fich indeffen nur um den riefigen Schädel
diefes Ungeheuers. Als die Steinbrucharbeiter auf den im
Kalk eingefchlojjenen Schädel gejtoßen waren, erfuhr zuerft ein
234 Mannigfaltiges. '
⏑ ⏑ —⏑ Dre Dre De Dre Dre
Maaſtrichter Arzt, Dr. Hofmann, davon, der die Schädel-
knochen mit vieler Mühe und großen Kojten heben und
ausarbeiten ließ. Die Unterfuchung durch Fachleute zeigte
bald, daß man bier einen Fund vor fich hatte, der in die
Entwidlungsgefchichte der Tiere wichtige Einblicke gewährte.
Man bot daher dem Arzt für die Überlaffung des Schädels
eine beträchtliche Summe, aber diefer wollte fich nicht von
feinem wertvollen Beſitz trennen.
un gehörte aber der Steinbrukh einem Kanonikus
Godin, der, als er erfannt hatte, daß der Fund ein kleines
Vermögen darjtellte, Jofort auf ihn Anspruch erhob. Ver
Arzt aber weigerte fih, den Mofafaurusfchädel herauszu-
geben, indem er hervorhob, daß durch feine Bemühungen
und Beldaufmwendungen der Schädel überhaupt erjt zu Tage
gefördert und ohne ihn Höchftwahrfcheinlich zertrümmert
worden wäre. Es Tam zu einem Prozeß, der über Jahr
und Tag dauerte. Endlich wurde der Mofafaurus zum
rechtlichen Befit des Kanonikus Godin erklärt. Godin
wandte fi) nun an verfchiedene wijjenjchaftliche Snjtitute,
darunter auch nad) Paris, und bot den Schädel für einen
hohen Preis zum Verlauf an. Allein da die Forderung
allzu übertrieben war, fo fand ſich fein Käufer.
Bekanntlich entfpann ſich nad) dem Ausbruch der franzö—
ſiſchen Revolution eine Reihe von Kriegen zwiſchen Frank—
reich und den verbündeten monarchiſchen Mächten, und bei
dem Feldzug 1795 rüdten die Franzoſen unter dem General
Pichegru auch vor Maaftriht. Pichegru wußte um den
koſtbaren Mofafaurusjchädel. Bei dem Bombardement de3
Hauptforts von Maaftricht, St. Pierre, in defjen Nähe der
Kanonikus Godin wohnte, gab er daher den Befehl, das
Haus Godins zu fchonen.
Allein diefer war von der rüdfichtsvollen Aufmerkſamkeit
des General3 durchaus nicht erbaut, denn er argmöhnte,
und nicht mit Unrecht, man fei nur deshalb jo für Die
Überrefte beforgt, weil man fie ihm entreißen und dann
nach Paris führen wollte. Er Tieß daher den Schädel in
der Nacht heimlich verjteden. Auf dieſe Weife hoffte er,
Mannigfaltiges. 235
AD ADrEDrE Dr Dr Dr ED Dee De Dre Dr ED Dede —
auch nad) der Übergabe von Maaftricht im Befit feines
Kleinod3 zu bleiben.
Aber er follte fich verrechnet haben. AS die Franzofen
die Stadt eingenommen hatten, und zum Plabfommandanten
der General Freyeinet ernannt worden war, ließ Diefer
öffentlich befannt machen, daß er den zweiten Entdedern
des Moſaſaurus 600 Flaſchen Wein ſchenken werde. Das
wirkte unmwiderftehlih. Das Verſteck wurde verraten, und
Ihon am nächſten Morgen brachten zwölf Grenadiere den
Schädel zum General. Er wurde nun nad) Paris in den
Jardin des Plantes gefchafit, wo er von den Gelehrten
auf Das eingehendfte unterfucht und als einer der wich-
tigften und wertoolliten Gegenftände diefer Sammlungen
erklärt wurde. |
Aber hiermit iſt die Gefchichte dieſes Wormelttieres
immer noch nicht zu Ende. Denn im Jahre 1835 wurde
ihn der Ruhm der höchiten Seltenheit plößlich geraubt.
Man entdeckte nämlich in diefem Jahre im Annern der
Vereinigten Staaten Nordamerikas, in Kanfas, wahre Un
mengen von Mofafauren der verjchiedenjten Form, fo daß
man gegenwärtig über 50 Xrten von ihnen Tennt. In⸗
folgedefjen ijt fein Wert bedeutend geſunken. Th. S.
Hier wird nicht geklopft. — Ein Lehrer in einem bei
Berlin gelegenen Dorfe, an deſſen Haustür die liebe Schul—
jugend, um den Lehrer zu necken, gar zu gerne im Vorbei—
gehen klopfte, heftete, um dem Übel abzuhelfen, einen großen
Zettel an die Außenſeite der Tür, auf den er mit großen
Buchſtaben die Worte ſchrieb: „Hier wird nicht geklopft!“
Trotzdem klopfte es eines Abends wieder an die Tür,
und der Lehrer kam gerade noch recht, um in dem davon—
laufenden Übeltäter einen ſeiner Schüler zu erkennen. „Na,
warte, mein Junge!“ dachte er.
Am folgenden Tage herrſchte unter den Schülern große
Spannung ob der Dinge, die da kommen würden, und nur
einer, der Übeltäter ſelbſt, benahm ſich ſehr gefaßt. Der
Lehrer trat ein, jtellte fofort einen Stuhl in Bereitjchaft,
tief daS Opfer vor und erfuchte es, fich in der geeigneten
236 Dannigfaltiges.
ORDADADADADAD ADD AD ADDED ADDED
Richtung über den Stuhl zu legen. Der Knabe gehorchte
fofort; der Lehrer nahm den Rohritod zur Hand und hob
den Rod des Knaben auf, um mit der Erefution zu be-
ginnen. Aber, o Wunder, jtatt zu fchlagen, ließ er den Stod
finfen, und mit unterdrücdten Lachen wandte er fich zur Tür.
Warum? Aufdem Hojenboden des Knaben Elebte ein Zettel,
und auf diefem Zettel jtand in großen Buchjtaben gefchrie-
ben: „Hier wird nicht geflopft!“ C. T.
Der Kopfſchmerz der Schnelleſſer. — Die Klagen über
Kopfſchmerzen, die man einſt vorwiegend dem ſchönen Ge—
ſchlecht überließ, werden heutzutage auch bei der Männer:
welt immer häufiger, und namentlich find es Gejchäftsleute
und Gelehrte, die von diefem Übel heimgejucht werden.
Aber find fie nicht vielleicht ſelbſt ſchuld daran und Liegt
e3 nicht in ihrer eigenen Hand, Abhilfe zu Schaffen? Auf
diefe Frage, die Tauſende und Abertauſende unjerer
Lefer interejfieren muß, fol im nachfolgenden geantwortet
werden.
Die meiften Leute vergejjen, Daß jedes Drgan, jeder Zeil
unjeres Körpers feine Ruhe braucht, jo auch das Gehirn,
zumal heutzutage, wo es im allgemeinen weitaus mehr
Arbeit leijten muß, als ihm ehedem zugemutet wurde, und
Daher auch ausgiebigere Ruhepaujen braudt. Man plagt
e3 tüchtig mit allen möglichen Arbeiten am Tage, und jtatt
des Abends Ruhe für dasfelbe zu juchen, indem man dem
Körper eine leichte Erholung gibt und dadurch die Denk—
mafchinerie ein wenig ausfpannt, jo zum Beifpiel durch
längeren Spaziergang, Kegeljpiel oder irgend einen an—
gemefjenen, nicht übertriebenen Leibesſport, jest man fich
zum Kartenspiel nieder oder zum Schach oder zu aufregender
Lektüre und dergleichen Dingen mehr. Das Gehirn befommt
auf dieje Weije keine Ruhe, es wird überreizt, und Kopf
ſchmerzen ftellen fi) ein, Die nicht3 anderes als der Aus:
drud diefer Überreizung find und als Warnrufe der Natur
aufgefaßt werden follen.
Man hört oft die Klage: Sch kann vor lauter Kopffchmerz
nicht fchlafen. Das heißt nichts anderes, als daß Die
Mannigfaltiges. 237
DD Dre
Gehirnmafchinerie derart überanjtrengt ward, daß fi Er-
müdungsjtoffe zwifchen ihren Rädern — man erlaube dieſen
Vergleich! — angehäuft haben, die den Mechanismus in
Unordnung bringen und zu heftigen Sreimachungdverfuchen
antreiben.. LXebtere erfolgen natürlich unter dem Ausdrud
von Schmerzen. Ein Beweis für die Wahrheit dieſer
Ausführungen ift, daß die Kopfjchmerzen vergehen, fo»
bald man die Gefamtausfcheidungstätigfeit des Körpers
anregt, wobei dann aud die Ermüdungzitoffe des Ge:
hirns von dannen ziehen. Etliche Stunden Spaziergang
in guter Waldluft oder auf Bergeshöhen, ein wenig ge—
regelte Turnerei, ein warme3 Bad mit womöglich nach:
folgender Durchknetung des Körpers wirken zum Beifpiel
in diefem Sinne.
Eine andere Urfache der immer häufiger werdenden Kopf:
fchmerzenplage ift das haſtige Eſſen ohne nachfolgende
Verdauungsruhe. Die eingeführte Speife, nicht gut gefaut
und wenig dDurchfpeichelt, belajtet den Magen für längere
Zeit bei ſolchen Sünden an der Geſundheit, fie geht einen
höchſt langſamen Zerfegungsprozeß ein und entwidelt
Giftjtoffe, die in flüchtiger Form, gleich den Heizgafen im
Kamin, nach oben fteigen und das Gehirn reizen. Derlei
Leute haben üblen Geruch aus dem Munde, Tlagen be:
ftändig über Kopfſchmerzen und find in einem Reizzu—
ftande, der für ihre Umgebung oft höchſt unangenehm
fühlbar wird.
Daß die giftigen Ausdünftungen der fchleichenden Zer:
fegung in Magen und Därmen den Nerven und Deren
Zentralfis, dem Gehirn, Schaden bringen, läßt fich denten.
Viele Leute fühlen Dies auch felbit, indem fie von einem
fogenannten Magenkopfichmerz jprechen. Aber an jolchem
Mageniopfichmerz leiden viel mehr Menjchen, ald man
glaubt, und die große Menge follte deshalb etwas mehr
auf ihre Verdauungstätigkeit Jchauen und für gutes Kauen
und etwas Ruhe nach dem Ejjen forgen, denn wenn man
dem Magen feine Zeit läßt, jeinen Berrichtungen nach»
zulommen, und die Kräfte, welche die Verdauungsorgane
238 | Drannigfaltiges.
DD rEDerDrE DD Dre Dr De DD rede Dreier
berbeigerufen haben, um die erhaltenen Speifen energisch
zu verarbeiten, wieder ablenkt, jo muß die Verdauungs-
arbeit nur halb, jozufagen nebenher betrieben werden. Und
diefe „Pfufcherarbeit” rächt fih am ganzen Menfchen durch
Unbehagen, Magendrücden, üblen Geruch au3 dem Munde
und mehr oder minder heftigen Kopfſchmerz.
Sole Ablenkung der Verdauungsarbeit, wie wir fie
oben ins Auge faßten, wird aber durch die von fo vielen
Menjchen beliebte jofortige Tätigkeit nach dem Efjen hervor:
gerufen. Biele Menfchen werden eben auf dieſe Weife
ihres Lebens nie recht froh, fie leiden an allen möglichen
Beſchwerden, über deren Urſachen fie fich nicht ins Klare
fommen. Kleine Urfachen, große Wirkungen! Diefer Ausruf
gilt auch hier, und ein jtattlicher Bruchteil der Menjchheit
würde feiner Kopfſchmerzen und dejjen, was fonjt noch
drum und dran hängt, ledig werden, wenn er Ordnung in
feinem Körperhaushalt hielte und jedem Teile feines Leibeg,
vor allem aber dem VBerdauungsapparat, da3 Seine gäbe, was
ihm an Arbeit, was ihm an Ruhe zulommt. Ewald Paul.
Der Gefhihtskenner. — Napoleon I. jpielte gern Ge:
lehrten gegenüber den Gefchichtstenner, obgleich ihn fein
Gedächtnis in Namen und Daten oft recht bedenklich im
Stich ließ. Dieſe Schwäche gab einmal PVeranlafjung zu
einer drolligen Szene, als Ameilhon, ein Mitglied der
Parifer Akademie, der die befannte römiſche Gefchichte
Lebeaus fortfette, zur Audienz beim Kaifer befohlen war.
„Ah, Sie find Herr Ancillon?“ leitete Napoleon die
Unterredung ein.
„Sa, Sire, Ameilhon,” verbefjerte ihn der Gelehrte
mit lächelnder Zuftimmung.
„Richtig, Ameilhon! Und Sie haben die römifche u.
ſchichte Lebons fortgeſetzt?“
„Sa, Sire, Lebeaus römiſche Geſchichte,“ lautete die
zweite Korrektur.
„Jawohl — die römiſche Geſchichte Lebeaus — bis zur
Einnahme Konſtantinopels durch die Araber.“
„Ja, Sire, durch die Türken.“
Drannigfaltiges. 239
nn DT un I m) DT) I m? I ne? se? 2 e)
„Was jagte ich, Durch die Araber?! Selbjtverjtändlich
Durch die Türken,” verbefferte fich der Kaifer, „im Jahre
1449." | |
„sa, Sire, im Jahre 1458.”
„Wollte ich auch jagen, Herr Ameilhon — 1453,” be-
endete Napoleon die für ihn jo befchämend ausgefallene
Gefchichtsrepetition und entließ, fichtlich übelgelaunt, den
Afademiter. I m.
Damenjodeis. — Damen, die als Jockeis Pferderennen
mitritten, würden heutzutage großes Auffehen erregen, aber
no vor etwa hundert Jahren ſcheint diefe Tatjache in
England nicht befonders auffällig geweſen zu fein. Noch
zu Anfang des verflojjenen Jahrhunderts war es gar feine
Seltenheit, Damen der vornehmſten Gefelfchaft Englands
- Nennen reiten zu fehen. Dabei wurden die Damenjodeis
beim Abjchließen der Wetten den Herrenreitern nicht felten
vorgezogen, und nicht etwa aus Galanterie, denn dieſe hört
bei Wetten um große Summen auf NReunpläßen befannts
lich auf.
Es gab auch Rennen, die ausfchlieglich von Damen ges
ritten wurden. So wurde im Jahre 1725 bei den ſoge—
nannten Riponrennen von Damen um einen filbernen
Zafelauffat geritten.
Ein weiterer Bewei3 wird in Birftwith Hall, einem
alten Zandfig in der Nähe von Thirsk in der Graffchaft
VYorkſhire, noch heute gezeigt. Es ift eine altertümlich ge—
formte Teelanne, die von einer Dame der Familie bei
einem Wettrennen gewonnen wurde. Sie trägt die In—
ſchrift: „Brav geritten!“ W. St.
Der erſte SteRdrief, der befannt ijt, jtammt aus dem
Sabre 25 vor Chrifti Geburt und hat den folgenden
Wortlaut:
„Am 16. Tage diejes Jahres ift ein junger Sklave des
Ariftogenos, Sohn des Chryfippug, in Alexandrien entlaufen,
namens Hermon, ein geborener Syrer aus Bambyfe, uns
gefähr achtzehn Jahre alt, mittlerer Größe, bartlos, mit
geraden Beinen, im Kinn ein Grübchen, an der linken Seite
210 Dranntgfaltiges.
der Nafe eine linfenförmige Warze, eine Narbe über dem
linken Mundmwinfel, an der rechten Handwurzel mit bar-
barifhen Buchjtaben tätowiert. Er trägt einen Gürtel,
dejfen Inhalt drei Minen gemünzten Golde3, einen filbernen
Ning, auf dem eine Salbflafche und Schabeifen dargeltellt
find, auf dem Körper ein Schurzfell. Wer ihn zurüdbringt,
erhält zwei Talente und 3000 Drachmen; wer feinen Aufent-
halt verrät, wenn dieſer an einem heiligen Orte ijt, ein
Zalent und 2000 Brachmen, wenn bei einem zahlung3-
fähigen und gerichtlich belangbaren Manne, drei Talente
und 5000 Drachmen. Anzeige gütigft bei den Beamten der
Strategen zu erjtatten. Mit ihm entlaufen ift Bien, der
Sklave eines Hofbeamten erjter Klafje, unterſetzt, breit:
ſchulterig, mit kräftig entwidelten Beinen, Augen grünlich. Er
trug, als er entlief, eine Tunifa und einen Heinen Sklaven: '
mantel und ein Srauenköfferchen; er hat einen Wert von
jech3 Talenten und 5000 Drachmen. Wer ihn zurüdbringt,
erhält diefelbe Summe wie für den Obigen. Anzeige auch
über Diefen bei den Beamten der Strategen zu erjtatten.“
Ob die Entflohenen, troß der hohen Belohnung, ent⸗
wijcht find, verrät die alte Urkunde nicht. ER.
Ein Höfliher König. — Der Bertraute und Berater des
Königs Louis Philipp von Frankreich war ein Herr Dupin,
wiewohl er mit diefem nicht immer einerlei Meinung war.
Sein biederes Wejen und feine Anfpruchslofigfeit, die jich
fogar in feinem mehr als befcheidenen Anzuge ausſprach,
fagte dem einfachen Sinne des Königs zu.
Eine Tages während eines politifchen Gejpräches mit
dem Könige vergaß fich Dupin fo weit, in feiner gewohnten
Weiſe dem Könige zu fagen: „Sch jehe wohl, Majejtät, daß
wir uns nie verjtehen werden.“
„Ich habe mir Schon dasfelbe gedacht, Lieber Herr Dupin,”
entgegnete der König, „nur wagte \% nicht, es Ihnen zu
Tagen.” ©. T.
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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von
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[) as erif e 7 ahır " Eine Geicdicdte in ;
# + + Briefen # *
im neuen Saushalf, __ von R. Artaria.
2. Auflage. R
Geheftet Preis 3 Mark, elegant gebunden A Mark.
Es dürfte faum ein literariiches Gelegenheitsgefchenf fleineren Umfangs
geben, welches jungen Frauen und Bräuten willfommener fein fönnte, als das Buch
einer gemüt- und humorvollen frau über das erjte Jahr im Eheftand. „Das erjte
Jahr im neuen Haushalt” umfaßt die Erlebnifjfe eines jungen Paares in mittleren
Derhältniffen; alle Seiten der häuslichen Srauenpflichten werden bald humoriftifch,
bald ernſt in Briefen einer jung verheirateten frau an ihre freundin vorgeführt.
| Zeittragen SSSS) Von R. Artaria.
im Familienleben. era — 4 Mark
— Urteile der Preiie: —
Ein fympathifches und anregendes Buch, das im Gewande eines fpannenden °
Romans uns das Ehepaar aus dem früheren Buche derfelben Derfaflerin „Das
erfte Jahr im neuen Haushalt” fünfzehn Jahre fpäter wieder vorführt, und das
hauptfächlich die fchwierige Erziehungsfrage der heranwachfenden Kinder ins Auge
faßt. Artaria fennt das moderne £eben mit jeiner Ueberjchägung der Perfön:
lichfeit, feinem Jagen nach äußerem Schein und dem verderblichen Einfluß, den
namentlich letteres auf die Samilie ausübt, genau. Trotzdem ift nichts auf Ten:
denz zugejchnitten, fein Hinweis auf einen in der £uft jchwebenden Jdealismus,
Die treffliche Hausfrau Emmy und ihr Hugo, die Malerin Karoline, Thormann,
Baronin Reinach und Töchter nebft den zwifchen den Erwachjenen fich tummelnden
Kindern — alle find fie wirfliche Menjchen, die wir längft gefannt zu haben
meinen. Die Derfafferin will feine Direftive geben, fie will in ihrer befcheidenen
Art durch lebenswahre Bilder aus dem Gefelljchaftsleben zum Dergleich und Nach:
denfen anregen. Jhr Buch ift dabei auf einen Ton echter Menfchenliebe und
Pflichttreue geſtimmt, dem der zwanglofe Stil und ein feiner Humor zu befonderem
Dorzug gereichen, — ein Gejchenfwerf, nicht nur den rauen, fondern auch den
Samilienvätern zur gelegentlichen Lektüre zu empfehlen.
, „Jllustr. frauen-Zeitung.“
Ein Werf, dem wir die weitefte Derbreitung aus vollem Herzen wünfchen.
„Allgem. Moden-Zeitung.“
Ein vortreffliches Buch, einfach,. dabei doch fpannend und voll Lebens— |
wahrheit. „Leipziger Zeitung.“
Ein lehrreiches und unterhaltendes Buch (nicht nur für $rauen!), das
wir ungern aus der Hand legen. „Das Blatt der Hausfrau.“
— —— — — — ñ ñ7 s ñ —ñ — — — — — — — — —
Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen.
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INN
li
AU AN | IAINILDTII HARTEN |
ss Kolumbus-Eier. 5%
Eine Sammlung unterhaltender u, belehrender
phylikaliidter Spielereien.
Zwei einzeln käuflicte, in ficdı abgeichloiiene Bände.
Mit zahlreidien Textilluitrafionen. _
In elegantem Geichenkband. Preis des Bandes 4 Mark.
Die „Kolumbus-Eier“ haben eine iehr beifällige Aufnahme gefunden.
Wir liegen dem bereits in vierter Auflage erichienenen eriten Bande
einen zweiten Band folgen, der an Reicdthaltigkeit und Güte dem
eriten gleichkommt. Die in den Bänden enthaltenen amülanten
Experimente können ohne beiondere Vorbereitungen von jedermann
ausgeführt werden und bieten neben angenehmer Unterhaltung
mannigfahe Anregung zu nüßlihem Nachdenken.
Zu bezieben durch die meisten Buchhandlungen.
| Ill] ji
01 241 870 N